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317. Nacht

Dieser Fremde war ein berühmter Zauberer. Die
Geschichtsschreiber, welche diese Erzählung aufbewahrt haben, nennen ihn den
Afrikanischen Zauberer, und wir wollen ihn daher ebenso nennen, und zwar umso
lieber, da er wirklich aus Afrika, und erst seit zwei Tagen angelangt war.

Sei es nun, dass der Afrikanische Zauberer, der sich auf
Gesichtsbildungen verstand, in dem Gesicht Aladdins alles das gelesen hatte, was
zur Ausführung dessen, weshalb er diese weite Reise unternommen, erforderlich
war, oder mochte er einen andern Grund haben, genug, er erkundigte sich genau
nach seiner Familie und was er wäre. Als er sich über alles, was er nur
wünschte, unterrichtet hatte, näherte er sich dem jungen Menschen, zog ihn
einige Schritte von seinen Spielgesellen bei Seite, und fragte ihn: „Mein
Sohn, ist dein Vater nicht der Schneider Mustafa?“ – „Ja,“
erwiderte Aladdin, „aber er ist schon lange tot.“

Bei diesen Worten fiel der Afrikanische Zauberer dem
Aladdin um den Hals, umarmte ihn, und küsste ihn wiederholt mit Tränen in den
Augen und seufzend. Aladdin bemerkte seine Tränen, und fragte ihn, was denn die
Ursache derselben wäre. „Ach, mein Sohn!“, rief der Afrikanische
Zauberer, „wie könnte ich mich des Weinens enthalten? Ich bin dein Oheim
und dein Vater war mein geliebter Bruder. Ich bin schon mehrere Jahre lang auf
Reisen, und in dem Augenblick, wo ich hier anlange, in der Hoffnung, ihn
wieder zu sehen und ihn durch meine Rückkehr zu erfreuen, meldest du mir, dass er
tot ist. Ich kann dir versichern, es ist für mich ein empfindlicher Schmerz,
mich so desjenigen Trostes beraubt zu sehen, worauf ich mir Rechnung gemacht
hatte. Indessen, was einigermaßen meine Betrübnis mildert, ist, dass ich, so
weit ich mich noch zurückerinnern kann, seine Züge auf deinem Gesicht wieder
entdecke, und ich sehe, dass ich mich nicht getäuscht habe, indem ich mich an
dich gewendet.“ Er fragte Aladdin, indem er in seinen Geldbeutel
hineingriff, wo denn seine Mutter wohnte? Aladdin gab ihm sogleich Auskunft auf
seine Frage, und der Afrikanische Zauberer gab ihm in diesem Augenblick eine
Handvoll Kleingeld, indem er hinzufügte: „Mein Sohn, geh jetzt eilig zu
deiner Mutter, grüße sie von mir, und sage ihr, ich werde morgen, sofern es
mir die Zeit erlaubt, sie besuchen, um mir den Trost zu verschaffen, den Ort und
die Stelle zu sehen, wo mein guter Bruder so lange gelebt hat und wo er
gestorben ist.“

Sobald als der Afrikanische Zauberer seinen Neffen – den
er soeben erst dazu gemacht – verlassen hatte, lief Aladdin, höchst erfreut
über das Geld, welches sein Oheim ihm geschenkt, zu seiner Mutter, und sagte zu
ihr beim Eintreten: „Liebe Mutter, ich bitte dich, sage mir, ob ich noch
ein Oheim habe.“ – „Nein, mein Sohn,“ erwiderte die Mutter,
„du hast keinen Oheim, weder von Seiten deines verstorbenen Vaters, noch
von meiner Seite.“ – „Und doch,“ fuhr Aladdin fort, „habe
ich jetzt eben einen Mann gesprochen, der sich für meinen Oheim von
väterlicher Seite ausgibt, und mir versichert hat, er sei meines Vaters Bruder.
Um euch zu beweisen, dass ich die Wahrheit rede,“ fuhr er fort, indem er
das empfangene Geld zeigte, „da seht einmal, was er mir geschenkt hat. Er
hat mir auch aufgetragen, euch von ihm zu grüßen, und euch zu sagen, dass er
morgen, sofern es seine Zeit erlaubt, euch besuchen wird, um zugleich das Haus
zu sehen, worin mein Vater gelebt hat und gestorben ist.“ – „Mein
Sohn,“ erwiderte die Mutter, „es ist wahr, dein Vater hatte einen
Bruder, aber er ist schon längst tot. Ich habe nie von ihm gehört, dass er
noch einen anderen hätte.“ Weiter sprachen sie nichts über den
Afrikanischen Zauberer.

Den folgenden Tag redete der afrikanische Zauberer den
Aladdin noch einmal an, als dieser eben an einem anderen Ort der Stadt mit
anderen Kindern spielte. Er umarmte ihn, wie er den Tag zuvor getan, drückte
ihm zwei Goldstücke in die Hand, und sagte zu ihm: „Mein Sohn, trag dies
deiner Mutter hin, und sage ihr, ich werde sie diesen Abend besuchen, und sie
möge dafür zum Abendessen einkaufen, damit wir zusammen speisen können. Doch
zuvor bezeichne mir das Haus, wo sie wohnt.“ Er bezeichnete es ihm, und der
Afrikanische Zauberer ließ ihn gehen.

Aladdin brachte die beiden Goldstücke seiner Mutter.
Sobald er ihr erzählt hatte, was der Oheim zu tun Willens wäre, ging sie aus,
um das Geld zu verwenden, und kam mit reichlichen Speisevorräten zurück. Bei
den Nachbarn borgte sie das erforderliche Tischgeschirr, welches ihr fehlte, und
so brachte sie den ganzen Tag mit Anstalten zur Abendmahlzeit hin. Am Abend, als
alles fertig war, sagte sie zu Aladdin: „Mein Sohn, dein Oheim weiß
vielleicht nicht, wo unser Haus ist. Geh ihm daher entgegen, und führe ihn
hierher, wenn du ihn siehst.“

Obwohl Aladdin dem Afrikanischen Zauberer das Haus
bezeichnet hatte, so wollte er ihm doch sogleich entgegen gehen, als man an die
Tür klopfte. Aladdin öffnete, und erkannte sogleich den Afrikanischen
Zauberer, der mit Weinflaschen und Früchten von allerlei Gattungen für das
Abendbrot beladen herein trat.

Nachdem der Afrikanische Zauberer das, was er trug, dem
Aladdin übergeben hatte, begrüßte er die Mutter desselben und bat sie, ihm
die Stelle auf dem Sofa zu zeigen, wo sein Bruder Mustafa gewöhnlich gesessen
hatte. Sie zeigte sie ihm. Sogleich warf er sich nieder, küsste wiederholt
diese Stelle mit Tränen in den Augen, und rief: „Mein armer Bruder, wie
unglücklich bin ich, dass ich nicht zur rechten Zeit eingetroffen, um dich vor
deinem Tod noch einmal umarmen zu können!“ Ungeachtet die Mutter Aladdins
ihn darum bat, wollte er doch nicht auf diesen Platz sich setzen.
„Nein,“ sagte er, „ich werde mich wohl hüten. Aber erlaubt mir,
hier gegenüber zu sitzen, damit, wenn ich auch des Vergnügens beraubt bin, ihn
als Familienvater persönlich anwesend zu erblicken, ich mir doch wenigstens
einbilden kann, als säße er da.“ die Mutter Aladdins drang nun nicht
weiter in ihn, sondern ließ ihn Platz nehmen, wo er Lust hatte.

Als der Afrikanische Zauberer sich gesetzt hatte, fing er
an, sich mit Aladdins Mutter zu unterhalten. „Meine gute Schwester,“
sagte er zu ihr, „wundere dich nicht, dass du mich während der ganzen
Zeit, wo du mit meinem Bruder Mustafa seligen Andenkens verheiratet warst, nie
gesehen hast. Es ist gerade vierzig Jahre her, dass ich aus diesem Land, welches
mein und meines verstorbenen Bruders Vaterland ist, fortreiste. Seitdem habe ich
Reisen nach Indien, Persien, Arabien, Syrien und ägypten gemacht, habe mich in
den schönsten Städten dieser Länder aufgehalten, und bin dann nach Afrika
gegangen, wo ich einen etwas längeren Aufenthalt genommen. Da es indessen dem
Menschen von Natur angeboren ist, wie weit er auch von seiner Heimat entfernt
sein mag, doch nie das Andenken an dieselbe, an seine Eltern, Verwandten und
Jugendgespielen ganz zu vergessen, so ergriff auch mich am Ende ein so heißes
Verlangen, jetzt da ich noch Mut und Kräfte zu einer so weiten Reise in mir
fühlte, meine Heimat wieder zu sehen und meinen geliebten Bruder zu umarmen, das
ich auf der Stelle meine Vorbereitungen traf, und mich auf den Weg machte. Ich
sage dir nichts von der Länge Zeit, die ich dazu gebraucht, noch von den mir
aufgestoßenen Hindernissen, noch von den Beschwerden und Mühsalen, die ich
ausgestanden habe, um hierher zu gelangen, – ich will dir bloß sagen, das mich
auf allen meinen Reisen nichts so sehr geschmerzt und betrübt hat, als da ich
jetzt den Tod meines Bruders vernahm, den ich immer so lieb gehabt, und für den
ich eine wahrhaft brüderliche Zuneigung gehegt hatte. Ich bemerkte einige Züge
von ihm auf dem Gesicht meines Neffen, deines Sohnes, und dies machte, dass ich
ihn unter allen den übrigen Kindern, mit denen er zusammen war, herausfand. Er
wird dir vielleicht erzählt haben, welchen Eindruck die traurige Nachricht von
dem Tod meines Bruders auf mich gemacht hat. Indessen – Gott sei allwegs gelobt!
Ich tröste mich, dass ich ihn in deinem Sohn wieder gefunden habe, der mir seine
Gesichtszüge so lebendig vergegenwärtigt.“

Der Afrikanische Zauberer bemerkte, dass Aladdins Mutter
bei dem Andenken an ihren Mann, das ihren Schmerz erneuerte, gerührt wurde, und
lenkte daher das Gespräch auf etwas anderes. Er wandte sich zu Aladdin, und
fragte ihn, wie er hieße. „Ich heiße Aladdin,“ antwortete dieser.
„Nun, Aladdin,“ fuhr der Zauberer fort, „womit beschäftigst du
dich? Verstehst du irgend ein Gewerbe?“

Bei dieser Frage schlug Aladdin die Augen nieder und
geriet in Verlegenheit. Seine Mutter nahm indessen das Wort und sagte:
„Aladdin ist ein Faulenzer. Sein Vater tat bei seinen Lebzeiten alles
mögliche, um ihn sein Gewerbe zu lehren, konnte aber seinen Zweck nicht
erreichen. Jetzt, da dieser tot ist, mag ich ihm täglich sagen und vorreden,
was ich will, er treibt keine andere Lebensweise, als die eines Herumstreichers,
und bringt seine ganze Zeit, wie ihr gesehen habt, unter anderen Kindern mit
Spielen hin, ohne zu bedenken, dass er selber kein Kind mehr ist. Und wenn ihr
ihn heute nicht deshalb beschämt, und er sich diese Warnung nicht zu Nutze
macht, so verzweifle ich ganz, dass je aus ihm etwas Tüchtiges werde. Er weiß,
dass sein Vater kein Vermögen hinterlassen hat, und sieht selber, dass ich mit
meinem Baumwollespinnen den ganzen Tag über kaum so viel verdienen kann, dass
wir Brot haben. Was mich betrifft, so habe ich den Beschluss gefasst, ihm am
morgigen Tage meine Türe zu verschließen, und ihn fortzuschicken, um sich sein
Brot anderswo zu suchen.“

Als die Mutter Aladdins unter vielen Tränen so gesprochen
hatte, sagte der Afrikanische Zauberer zu Aladdin: „Das ist nicht gut, mein
lieber Neffe. Du musst darauf denken, dir selber fort zu helfen, und dir deinen
Lebensunterhalt zu erwerben. Es gibt ja so verschiedene Gewerbe in der Welt.
Sollte denn nicht eins darunter sein, wozu du vorzugsweise Lust und Neigung
hättest? Vielleicht gefällt dir bloß das deines Vaters nicht, und du würdest
dich eher zu einem andern bequemen. Verhehle mir nicht deine Gesinnungen
hierüber, ich will ja bloß dein Bestes.“ Da er sah, dass Aladdin nichts
antwortete, so fuhr er fort: „Hast du vielleicht überhaupt Abneigung gegen
die Erlernung irgend eines Gewerbes, und willst du als ein gebildeter Mann in
der Welt leben, so will ich dir einen laden, voll der reichsten Stoffe und des
feinsten Linnenzeuges, eingeben. Du kannst dich dann mit dem Verkauf dieser
Sachen befassen, mit dem Geld, welches du daraus löstest, andere Waren
einkaufen, und auf diese Weise ein anständiges Auskommen finden. Frage dich
selbst, und sage mir offen, was du denkst. Du wirst mich stets bereit finden,
mein Versprechen zu halten.“

Dieses Anerbieten schmeichelte dem Aladdin sehr, den jede
Handarbeit anekelte, und zwar umso mehr, da er bemerkt hatte, dass die Läden
dieser Art, wie ihm vorgeschlagen worden, immer sehr reinlich und stark besucht,
und dass die Kaufleute darin sehr gut gekleidet und sehr geachtet waren. Er
sagte daher zu dem Afrikanischen Zauberer, den er als seinen Oheim betrachtete,
dass seine Neigung mehr nach dieser Seite, als nach jeder andern, hingerichtet
wäre, und dass er ihm für die Wohltat, die er ihm zugedacht, sein ganzes Leben
hindurch verpflichtet sein würde. „Da dies Gewerbe dir gefällt,“
erwiderte der Afrikanische Zauberer, „so werde ich dich morgen mitnehmen,
und dich so reich und nett kleiden lassen, wie es sich für einen der ersten
Kaufleute dieser Stadt schickt, und übermorgen wollen wir darauf denken, für
dich einen Laden zu errichten, wie ich ihn im Sinn habe.“

Aladdins Mutter, die bis dahin gar nicht geglaubt hatte,
dass der Afrikanische Zauberer ein Bruder ihres Mannes wäre, zweifelte jetzt,
nach den Versprechungen, die er ihrem Sohn machte, keinen Augenblick mehr daran.
Sie dankte ihm für seine guten Absichten, und nachdem sie den Aladdin ermuntert
hatte, sich der Wohltaten, wozu ihm sein Oheim Hoffnung machte, würdig zu
zeigen, trug sie die Abendmahlzeit auf. Die Unterhaltung während des
Abendessens betraf noch immer denselben Gegenstand, bis endlich der Zauberer
bemerkte, dass die Nacht schon weit vorgerückt war. Worauf er von Mutter und
Sohn Abschied nahmen und sich entfernte.

Am folgenden Morgen früh unterließ der Afrikanische
Zauberer nicht, seinem Versprechen gemäß, zu Mustafas Witwe wiederzukommen. Er
nahm sodann Aladdin mit sich, und führte ihn zu einen großen Kaufmann, der
bloß ganz fertige Kleider von allen Gattungen der schönsten Stoffe für
Personen jedes Alters und Standes zu verkaufen hatte. Er ließ sich mehrere
zeigen, die der Größe Aladdins angemessen waren, und nachdem er die, welche
ihm am Besten gefielen, ausgesucht, und alle andern, die nicht so schön waren,
als er wünschte, wieder zurückgelegt hatte, sagte er zu Aladdin: „Lieber
Neffe, wähle dir unter allen diesen Kleidern dasjenige aus, welches dir am
besten gefällt.“ Aladdin, der über diese Freigebigkeit seines neues
Oheims ganz entzückt war, wählte eins aus. Der Zauberer kaufte es mit allem,
was dazu gehörte, und bezahlte es bar, ohne zu handeln.