Project Description

316. Nacht

Die Sultanin Scheherasade hatte bei Endigung der
Geschichte Abu Hassans dem Sultan Schachriar versprechen müssen, ihm den
folgenden Tag eine andere zu erzählen, die für ihn nicht minder unterhaltend
sein würde. Ihre Schwester Dinarsade unterließ daher nicht, sie noch vor Tage
zu erinnern, dass sie es versprochen, und das der Sultan sich zur Anhörung
derselben bereit gezeigt habe. Scheherasade erzählte daher sogleich, und ohne
auf sich lange warten zu lassen, folgende Geschichte.

Geschichte
von Aladdin, oder die Wunderlampe

In einer sehr großen und reichen Hauptstadt Chinas, deren
Name mir gegenwärtig entfallen ist, lebte ein Schneider, Namens Mustafa, der
außer seinem Gewerbe sich durch nichts weiter von andern Unterschied. Dieser
Schneider Mustafa war sehr arm, und seine Arbeit brachte ihm kaum so viel ein,
dass er, seine Frau und ein Sohn, den ihnen Gott geschenkt hatte, davon leben
konnte.

Die Erziehung dieses Sohnes, welcher Aladdin1)
hieß, war sehr vernachlässigt worden, und dies war denn schuld, dass er sich
sehr lasterhafte Neigungen angewöhnt hatte. Er war boshaft, halsstarrig und
gegen Vater und Mutter ungehorsam. Sobald er ein wenig herangewachsen war,
konnten ihn seine Eltern nicht mehr zu Hause halten. Er ging schon am frühen
Morgen aus, und brachte den ganzen Tag damit hin, dass er auf den Straßen und
öffentlichen Plätzen mit Gassenjungen spielte, die weit unter seinem Alter
waren.

Als er in die Jahre gekommen war, wo er ein Handwerk
erlernen sollte, nahm ihn sein Vater, der ihn kein anderes Gewerbe lernen lassen
konnte, als das seinige, in seine Bude, und fing an, ihn zu unterweisen, wie er
die Nadel führen sollte. Allein weder durch Güte, noch durch Furcht vor Strafe
vermochte der Vater die Flatterhaftigkeit seines Sohnes zu fesseln. Er vermochte
ihn nicht anzuhalten oder zu zwingen, dass er, wie er es wünschte, emsig und
anhaltend bei der Arbeit geblieben wäre. Sobald nur Mustafa den Rücken
wendete, schlüpfte Aladdin fort, und kam den ganzen Tag nicht wieder. Der Vater
züchtigte ihn. Allein Aladdin war nicht zu bessern, und Mustafa musste ihn
zuletzt, zu seinem großen Bedauern, seinem liederlichen Leben überlassen. Dies
machte ihm viel Herzeleid, und der Kummer darüber, dass er seinen Sohn nicht zu
seiner Pflicht zurückführen konnte, zog ihm eine schwere Krankheit zu, an
welcher er nach einigen Monaten starb.

Aladdins Mutter, welche sah, dass ihr Sohn niemals das
Gewerbe des Vaters erlernen würde, schloss den Laden, und machte all ihr
Handwerksgerät zu Geld, um sowohl davon, als auch von dem wenigen, was sie vom
Baumwollspinnen erwarb, mit ihrem Sohn leben zu können.

Aladdin, der jetzt nicht mehr durch die Furcht vor seinem
Vater in Schranken gehalten wurde, und der sich um seine Mutter so wenig
kümmerte, dass er dreist genug war, ihr bei den geringsten Vorstellungen, die
sie ihm machte, zu drehen, überließ sich nun ganz der Liederlichkeit. Er
suchte immer mehr junge Leute seines Alters auf und spielte mit ihnen ohne
Unterlass und leidenschaftlicher als jemals. Diese Lebensweise setzte er bis zu
einem Alter von fünfzehn Jahren fort, ohne zu irgend etwas Lust oder Neigung zu
verraten, und ohne zu überlegen, was aus ihm werden sollte. Einst spielte er so
nach seiner Gewohnheit mit einem Schwarm von Gassenjungen auf einem freien
Platz, als ein Fremder vorüberging, welcher stehen blieb und ihn ansah.


1)
Genauer A-la-ed-dyn, heißt im arabischen wörtlich: Erhebung der Religion, Adel
der Religion.