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30. Nacht

Dinarsade hatte nicht sobald bemerkt, dass es
Zeit wäre, die Sultanin zu wecken, als sie sie bat, zu erzählen, was sich im
Tränenpalast zugetragen hätte.

Als Schachriar dieselbe Neugier, wie
Dinarsade, bezeigt hatte, nahm die Sultanin das Wort, und setzte die Geschichte
des jungen bezauberten Fürsten fort:

„Herr, nachdem die Zauberin dem Könige,
ihrem Gemahl, die hundert Streiche mit dem Ochsenziemer gegeben hatte,
bekleidete sie ihn wieder mit dem groben Gewande aus Ziegenhaaren, und mit dem
brokatenen Rock darüber.

Sie ging hierauf zu dem Tränenpalast, und
indem sie hinein trat, erneuerte sie ihr Weinen, Schreien und Wehklagen; dann
nahte sie sich dem Bette, wo sie ihren Geliebten noch liegen wähnte, und rief
aus: „Welche Grausamkeit, auf solche Weise das Glück einer so zärtlichen
und leidenschaftlichen Geliebten, als ich, gestört zu haben! O du, der mir
vorwirft, dass ich zu unmenschlich bin, wenn ich dich die Wirkungen meines Zorns
empfingen lasse, grausamer Fürst, übertrifft deine Unmenschlichkeit nicht die
meiner Rache? Verräter! Indem du demjenigen, den ich anbete, nach dem Leben
trachtetest, hast du mir da nicht das meine geraubt? – „Ach!“ fügte
sie hinzu, indem sie ihre Worte an den Sultan richtete, zu dem Schwarzen zu
sprechen wähnend, „meine Sonne, mein Leben, willst du immerdar dieses
Stillschweigen beobachten? Bist du gesonnen, mich sterben zu lassen, ohne den
Trost, mir noch einmal zu sagen, dass du mich liebst? Meine Seele, sage mir
wenigstens ein Wort, ich beschwöre dich darum.“

Da stellte sich der Sultan, als ob er aus
einem tiefen Schlaf erwachte, und indem er die Sprache der Schwarzen nachahmte,
antwortete er der Königin mit ernster Stimme: „Es gibt keine andere Kraft
und Gewalt, als in Gott allein, welcher der Allmächtige ist.“

Bei diesen Worten, deren sie sich nicht
versah, tat die Zauberin einen lauten Schrei, im übermaß ihrer Freude:
„Mein teurer Herr,“ rief sie aus, „täusche ich mich nicht? Ist
es denn wahr, dass ich dich höre, und dass du zu mir redest?“ –
„Unglückliche,“ fuhr der Sultan fort, „bist du wohl würdig,
dass ich auf deine Reden antworte?“ – „Und warum,“ erwiderte die
Königin, „machst du mir diesen Vorwurf?“ – „Das Geschrei,“
versetzte er, „die Tränen und Seufzer deines Mannes, welchen du täglich
so unwürdig und grausam behandelst, verhindern mich Nacht und Tag am Schlafe.
Ich würde längst schon geheilt sein, und den Gebrauch der Sprache
wiedererlangt haben, wenn du ihn entzaubert hättest: dies ist die Ursache des
Stillschweigens, das ich beobachte und darüber du dich beklagst.“ –
„Wohlan,“ sagte die Zauberin, „um dich zu beruhigen, will ich
tun, was du gebietest: willst du, dass ich ihm seine vorige Gestalt
wiedergebe?“ – „Ja,“ antwortete der Sultan, „und beeile
dich, ihn in Freiheit zu setzen, damit ich nicht mehr durch sein Geschrei
belästigt werde.“

Die Zauberin ging sogleich aus dem
Tränenpalast. Sie nahm eine Schale voll Wasser, sprach darüber einige Worte
aus, welche es sieden machten, als wenn es auf dem Feuer gewesen wäre. Sie ging
darauf in den Saal, in welchem der junge König, ihr Gemahl, sich befand,
bespritzte ihn mit diesem Wasser, und sprach dazu:

„Wenn der Schöpfer aller Dinge dich so
gebildet hat, wie du gegenwärtig bist, oder wenn er auf dich zürnt, so
verwandle dich nicht; wenn du aber nur durch die Kraft meiner Bezauberung in
diesem Zustande bist, so nimm deine ursprüngliche Gestalt wieder an, und werde
wieder derjenige, der du zuvor warst.“

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als
der Fürst, in seinen vorigen Zustand hergestellt, frei aufstand, mit aller
Freude, die man sich vorstellen kann, und Gott dafür dankte. Die Zauberin nahm
wieder das Wort, und sprach zu ihm: „Geh, entferne dich aus diesem Schloss,
und komme nie wieder hierher, oder es kostet dich das Leben.“

Der junge König, der Notwendigkeit weichend,
entfernte sich von der Zauberin, ohne zu antworten, und begab sich an einen
abgelegenen Ort, wo er geduldig den Erfolg des Unternehmens erwartete, dessen
Ausführung der Sultan schon so glücklich begonnen hatte.

Unterdessen kehrte die Zauberin zurück in
den Tränenpalast, und beim Eintreten sagte sie, immer noch im Wahn, zu dem
Schwarzen zu sprechen: „Teurer Geliebter, ich habe getan, was du mir
geboten hast: nichts hindert dich nunmehr, aufzustehen, und mir so eine
Genugtuung zu geben, deren ich schon so lange Zeit beraubt bin.“

Der Sultan fuhr fort, die Sprache der
Schwarzen nachzuahmen, und antwortete ihr mit unwilligem Tone: „was du
jetzt getan hast, ist nicht hinreichend mich zu heilen; du hast nur einen Teil
des übels weggeschafft, es muss bis auf die Wurzel vertilgt werden.“ –
„Mein liebenswürdiger Schwarzer,“ fuhr sie fort, „was verstehst
du unter der Wurzel?“ – „Unglückliche,“ erwiderte der Sultan,
„verstehst du nicht, dass ich diese Stadt mit ihren Einwohnern und die vier
Schwarzen Inseln meine, welche du durch deine Verzauberungen zerstört hast?
Alltäglich um Mitternacht heben die Fische ihre Köpfe aus dem Teich empor, und
schreien um Rache gegen mich und dich. Das ist der wahre Grund der Verspätung
meiner Genesung. Geh eilends, alle diese Dinge in ihren vorigen Zustand
herzustellen; und bei deiner Rückkehr werde ich dir die Hand geben, und du
wirst mir helfen aufzustehen.“

Die Zauberin, erfüllt von der Hoffnung,
welche diese Worte ihr erregten, und entzückt vor Freude, rief aus: „Mein
Herz, meine Seele, du sollst alsbald deine Gesundheit wiederhaben, denn ich will
tun, was du mir gebietest.“

In der Tat ging sie augenblicklich hinaus,
und als sie an das Ufer des Teiches gekommen war, schöpfte sie ein wenig Wasser
in ihre Hand, und sprengte es darüber aus …“

Scheherasade sah bei dieser Stelle, dass es
Tag war, und wollte nicht weiter reden.

Dinarsade sprach zu der Sultanin: „Meine
Schwester, ich habe große Freude darüber, den jungen König der Schwarzen
Inseln entzaubert zu wissen; und ich sehe die Stadt und die Einwohner schon in
ihren vorigen Zustand hergestellt: aber ich bin voll Ungeduld, zu vernehmen, was
aus der Zauberin wird.“

„Habe noch ein wenig Geduld,“
antwortete die Sultanin; morgen sollst du die verlangte Genugtuung haben, wenn
der Sultan, mein Herr, darin einwilligt.“
Schachriar, der, wie schon gesagt ist, hierüber seinen Entschluss gefasst
hatte, stand auf, um an seine Geschäfte zu gehen.