Project Description

292. Nacht

In der folgenden Nacht begann die Sultanin Scheherasade,
nachdem sie von ihrer Schwester Dinarsade geweckt worden war, ihre Erzählung
folgendermaßen:

Geschichte
des erwachten Schläfers

Unter der Regierung des Kalifen Harun Arreschyd lebte zu
Bagdad ein sehr reicher Kaufmann, dessen Frau schon alt war. sie hatten einen
einzigen Sohn, Namens Abu Hassan, der etwa dreißig Jahre alt und in der
tiefsten Eingezogenheit aufgezogen war.

Der Kaufmann starb, und Abu Hassan nahm, als einziger
Erbe, die großen Reichtümer in Besitz, die sein Vater bei seinen Lebzeiten
durch große Sparsamkeit und durch seine Betriebsamkeit im Handel aufgehäuft
hatte. Der Sohn, der in seinen Ansichten und Neigungen ganz verschieden von
seinem Vater war, handelte auch ganz anders als dieser. Da dieser ihm nämlich
in seiner Jugend immer bloß so viel Geld gegeben hatte, als zu seinem
Lebensunterhalt gerade hinreichte, und er daher immer die jungen Leute seines
Alters beneidet hatte, denen es daran nicht fehlte, und die sich keine von den
Vergnügungen versagten, denen sich die Jugend so leicht hingibt, so beschloss
er, sich jetzt seinerseits durch einen Aufwand auszuzeichnen, der dem Vermögen,
das er soeben ererbt hatte, angemessen wäre. Zu diesem Zweck teilte er sein
Vermögen in zwei Hälften. Die eine verwendete er zum Ankauf von Landgütern
und von Häusern in der Stadt, die ihm so viel einbrachten, dass er davon sehr
bequem hätte leben Können. Allein er gelobte es sich, nie etwas von diesen
Einkünften anzurühren, sondern die von daher einlaufenden Summen jedes Mal
aufzuheben. Die andere Hälfte, die in einer bedeutenden Summe baren Geldes
bestand, bestimmte er zum wieder Einbringen aller der Zeit, die er unter dem
strengen Zwang, worin ihn sein Vater bis an seinen Tod gehalten, verloren zu
haben glaubte. Zugleich aber machte er es sich zum unverbrüchlichen Gesetz,
während dieses ausgelassenen Lebens, das er sich zu führen vorgenommen, nicht
das geringste über diese Summe auszugeben.

Diesen Plan zufolge versammelte er binnen weniger Tagen
einen Kreis von jungen Leuten seines Alters und Standes um sich, und dachte von
nun an bloß darauf, diesen die Zeit angenehm zu vertreiben. Zu diesem Zweck
begnügte er sich nicht, sie bei Tag und Nacht gut zu bewirten, und ihnen die
glänzendsten Gastmahle zu geben, wo die köstlichsten Speisen und die
ausgesuchtesten Weine in Fülle aufgetragen wurden, sondern er fügte dazu auch
noch musikalische Unterhaltung, indem er die besten Sänger und Sängerinnen
dazu einlud. Die junge Gesellschaft stimmte ihrerseits bisweilen, mit dem Glas
in der Hand, in die Musik ein, und alle zusammen schienen mit den sie
begleitenden Musikinstrumenten einen harmonischen Einklang zu bilden. Diese Gastmahl
endigten sich dann gewöhnlich mit Bällen, wozu die besten Tänzer und
Tänzerinnen aus ganz Bagdad gerufen wurden. Alle diese Belustigungen, die
täglich durch andere erneuert wurden, stürzten Abu Hassan in so ungeheure
Ausgaben, dass er einen so großen Aufwand nicht über ein Jahr fortsetzen
konnte. Die bedeutende Summe, die er für dieses verschwenderische Leben
bestimmt hatte, ging mit dem Jahr zugleich zu Ende. Sobald er nicht mehr offene
Tafel hielt, verschwanden auch seine bisherigen Freunde, und er konnte sie
nirgends mehr antreffen, wohin er auch immer gehen mochte. In der Tat flohen sie
vor ihm, wo sie ihn nur erblickten, und wenn er zufällig einem begegnete und
mit ihm reden wollte, so entschuldigte sich dieser stets mit allerlei
Ausflüchten.

Abu Hassan empfand das seltsame Betragen seiner Freunde,
die ihn nach so vielen Bezeigungen und Versicherungen von Freundschaft, die sie
ihm gegeben, jetzt auf eine so unwürdige und undankbare Weise verließen, weit
tiefer als den Verlust des ganzen Geldes, das er mit ihnen zu unzweckmäßig
vergeudet hatte. Traurig, nachdenkend, mit gesenktem Haupt und mit einem
Gesicht, das düstren Kummer verriet, trat er in das Zimmer seiner Mutter, und
setzte sich ziemlich fern von ihr an das Ende des Sofas.

„Was ist dir denn, mein Sohn?“, fragte ihn seine
Mutter, als sie ihn in diesem Zustand sah. „Warum bist du so verändert, so
niedergeschlagen, so gar nicht mehr dir ähnlich? Wenn du alles, was du auf der
Welt nur irgend hast, verloren hättest, so könntest du fast nicht anders
aussehen. Ich weiß von dem entsetzlichen Aufwand, den du gemacht hast, und
seitdem du dich ihm ganz hingegeben, magst du wohl nicht gar so viel Geld mehr
übrig haben. Du warst übrigens Herr deines Vermögens, und wenn ich nie gegen
deine unordentliche Lebensweise gesprochen habe, so geschah es darum, weil ich
wusste, mit welcher weisen Vorsicht du dir die Hälfte deines Reichtums
aufgehoben hast. Bei allem sehe ich nicht ab, was dich in eine so tiefe
Schwermut versenkt haben kann.“

Abu Hassan brach bei diesen Worten in Tränen aus, und
mitten unter Tränen und Schluchzen rief er: „Meine Mutter, endlich habe
ich durch eine sehr schmerzliche Erfahrung einsehen gelernt, wie unerträglich
die Armut ist. Ja, ich fühle es lebhaft, dass, so wie der Untergang der Sonne
uns den Glanz dieses Himmelskörpers entzieht, ebenso auch die Armut uns jeder
Freude beraubt. Sie macht, dass man alle die Lobsprüche und alles das Gute, das
man uns vor unserm Verfall sagte, gänzlich vergisst. Sie bringt uns dahin, dass
wir nicht mehr ausgehen können, ohne Furcht, bemerkt zu werden, und dass wir
die Nächte hindurch blutige Tränen vergießen. Mit einem Wort, wer arm ist,
wird selbst von seinen Verwandten und Freunden nur wie ein Fremder betrachtet.
Du weißt, meine Mutter,“ fuhr er fort, „wie ich seit Jahr und Tag
gegen meine Freunde gewesen bin. Ich habe sie immer so gut bewirtet, dass ich
dadurch fast meine Mittel erschöpft habe. Nun, da ich das nicht mehr so
fortsetzen kann, muss ich sehen, dass sie mich alle verlassen haben. Ich spreche
hier nur von dem Geld, welches ich für den Gebrauch, den ich davon gemacht, mir
bei Seite gelegt hatte, denn was das übrige betrifft, das ich angelegt habe, so
danke ich Gott dafür, dass er mir den Gedanken eingegeben, es mir aufzuheben,
unter der Bedingung und dem Gelübde, es nie zum Behelf einer so törichten
Verschwendung anzugreifen. Ich will dies Gelübde halten, und ich weiß schon,
welchen guten Gebrauch ich von dem, was mir so glücklicherweise übrig
geblieben, machen werde. Aber zuvor will ich noch eine Probe machen, wie weit
wohl meine Freunde, wofern sie anders diesen Namen verdienen, ihre Undankbarkeit
treiben werden. Ich will sie nacheinander besuchen, und wenn ich ihnen das
äußerste, das ich für sie getan, werde vorgestellt haben, will ich sie
bitten, unter sich eine Summe Geldes für mich zusammenzuschießen, wodurch ich
mir einigermaßen aus dem unglücklichen Zustand, worin ich mich ihnen zu Liebe
gestürzt, wieder aufhelfen könnte. Indessen will ich, wie gesagt, diesen
Schritt bloß tun, um zu sehen, ob ich in ihnen irgend eine Spur von Dankbarkeit
finden werde.“

„Mein Sohn,“ erwiderte Abu Hassans Mutter,
„ich mag dir nicht von der Ausführung deines Vorhabens abreden. Aber ich
kann dir im voraus sagen, das du dich in deiner Hoffnung täuschen wirst. Glaube
mir, was du auch immer tun magst, es bedarf dieser Probe gar nicht erst. Du
wirst nirgends Unterstützung finden, als in dem, was du dir selber aufgehoben
hast. Ich sehe wohl, dass du noch nicht diese Freunde kennst, die man unter
Leuten deines Standes gewöhnlich so nennt. Aber du wirst sie noch kennen
lernen. Gebe Gott, dass es auf die Weise geschehe, wie ich es wünsche, das
heißt, zu deinem Besten.“ – „Meine Mutter,“ antwortete Abu
Hassan, „ich bin von der Wahrheit dessen, was du mir sagst, überzeugt,
aber ich werde dieser Sache, die mich so nahe angeht, umso gewisser sein, wenn
ich mich persönlich von ihrer Niederträchtigkeit und Gefühllosigkeit
überzeugt habe.“

Abu Hassan ging nun sogleich fort, und nahm so gut die
Zeit wahr, dass er alle seine Freunde zu Hause traf. Er stellte ihnen die große
Not vor, in welcher er sich befände, und bat sie, ihm zu einer kräftigen
Unterstützung ihre Börse zu öffnen. Er machte sich sogar gegen einen jeden
von ihnen insbesondere anheischig, die Geldsummen, die sie ihm leihen würden,
wieder zurückzuzahlen, sobald nur seine Umstände sich gebessert haben würden,
ohne jedoch zu erwähnen, dass er hauptsächlich um ihretwillen so in der Klemme
sei, um sie desto mehr zur Großmut anzuspornen. Auch vergaß er nicht, sie mit
der frohen Hoffnung zu locken, dass er wohl noch dereinst das frohe Schmausen
mit ihnen wieder anfangen würde, das sie bei ihm früher genossen hätten.

Keiner von seinen Tafelfreunden ließ sich durch die
lebhaften Schilderungen rühren, wodurch der unglückliche Abu Hassan sie zu
bewegen suchte. Er erfuhr sogar die Kränkung, hören zu müssen, dass mehrere
derselben ihm rund heraus erklärten, dass sie ihn gar nicht kennen, und sich
gar nicht besinnen könnten, ihn je gesehen zu haben. Mit einem Herzen voll
Unwillen und Betrübnis kehrte er nach Hause zurück. „Ach, meine
Mutter,“ rief er aus, indem er in ihr Zimmer trat, „du hast wohl Recht
gehabt. Anstatt Freunde zu finden, habe ich bloß Treulose, Undankbare und
Schurken gefunden! Es ist jetzt aus, ich sage mich von ihnen los, und verspreche
dir, sie nie wieder zu sehen.“

Abu Hassan blieb fest bei seinem Entschluss. Er nahm zu
diesem Zweck die angemessensten Vorsichtsmaßregeln, um alle Gelegenheiten, wo
er demselben untreu werden könnte, zu vermeiden. Um nie mehr in diesen Fall zu
kommen, tat er den Schwur, dass er nie mehr in seinem Leben irgend jemand aus
Bagdad bei sich bewirten wollte. Hierauf zog er den Geldkasten, worin er seine
Einkünfte niedergelegt hatte, aus seinem Verwahrungsort hervor, und stellte ihn
an den Platz dessen, der soeben leer geworden war. Er beschloss, für seine
tägliche Ausgabe immer nur eine bestimmte Summe herauszunehmen, die
hinlänglich wäre, um eine einzige Person bei sich zu Abend zu bewirten. Doch
schwur er, dass diese Person nicht aus Bagdad sein dürfte, sondern ein Fremder
sein müsste, der an demselben Tag erst angekommen, und dass er ihn schon am
folgenden Morgen wieder entlassen wollte, nachdem er ihm eine einzige
Abendmahlzeit gereicht hätte.

Diesem Plan zufolge besorgte Hassan jeden Morgen den zu
dieser Mahlzeit nötigen Speisevorrat. Gegen Abend ging er jedes Mal und setzte
sich an das Ende der Brücke von Bagdad, und wenn er einen Fremden erblickte,
von welchem Stand oder Herkommen er auch immer sein mochte, so redete er ihn
höflich an und lud ihn sofort ein, ein Abendbrot und Nachtherberge für die
erste Nacht seines Hierseins bei ihm anzunehmen. Nachdem er ihn von dem, was er
sich bei seiner Gastfreundlichkeit zum Gesetz und zur Bedingung gemacht,
unterrichtet hatte, führte er ihn nach seiner Wohnung.

Die Mahlzeit, womit Abu Hassan seinen Gast bewirtete, war
nicht prächtig, doch konnte man damit sehr wohl zufrieden sein. Besonders
fehlte es dabei nicht an gutem Wein1).
Die Mahlzeit dauerte übrigens bis tief in die Nacht, und anstatt seinen Gast,
wie man sonst wohl zu tun pflegt, von Angelegenheiten das Staats, der Familie,
oder des Handels zu unterhalten, suchte er im Gegenteil bloß von
gleichgültigen, angenehmen und ergötzlichen Dingen zu reden. überhaupt war er
von Natur scherzhaft, unterhaltend und von guter Laune, und wovon auch immer die
Rede war, er wusste seinem Gespräch stets eine Wendung zu geben, die auch den
Traurigsten aufzuheitern vermochte.

Wenn Abu Hassan am folgenden Morgen seinen Gast entließ,
sagte er zu diesem: „Wohin du auch immer gehst, möge Gott dich vor jeder
Unannehmlichkeit bewahren! Als ich dich gestern Abend in mein Haus auf eine
Mahlzeit einlud, erzählte ich dir zugleich auch, welches Gesetz ich mir
auferlegt habe. Du wirst es daher nicht übel nehmen, wenn ich dir sage, dass
wir nie mehr miteinander trinken, ja dass wir uns sogar nie mehr wieder sehen
werden, weder bei mir, noch anderswo. Ich habe meine guten Gründe, um so zu
handeln. Gott geleite dich!“

Abu Hassan war in Befolgung dieser Regel sehr pünktlich.
Diese Fremden, welche er einmal bei sich aufgenommen, beachtete er nicht weiter,
und redete auch mit ihnen nicht mehr. Wenn er ihnen auf den Straßen oder
öffentlichen Plätzen begegnete, so tat er, als sähe er sie nicht, und drehte
sich wohl selbst hinweg, um zu vermeiden, das sie ihn nicht anredeten. Mit einem
Wort, er brach alle Gemeinschaft mit ihnen ab.

Er hatte diese Weise lange Zeit fortgesetzt, als eines
Tages kurz vor Sonnenuntergang, da er eben wieder auf seinem gewöhnlichen Platz
am Ende der Brücke saß, der Kalif Harun Arreschyd gegangen kam, aber so
verkleidet, dass er nicht zu erkennen war.

Obwohl dieser Herrscher sehr treue Diener und
gewissenhafte Rechtspflege hatte, so wollte er dennoch sich von allem
persönlich unterrichten, und durchstreifte sehr oft, wie wir bereits gesehen
haben, in allerlei Verkleidungen die Stadt Bagdad. Sogar die nächste Umgebung
der Stadt ließ er nicht unbeachtet, und er pflegte zu diesem Zweck am ersten
Tage eines jeden Monats auf die Heerstraßen hinauszugehen, die von den
verschiedenen Seiten her nach Bagdad führten. Diesen Tag, es war gerade der
Erste, erschien er als Kaufmann von Mussul verkleidet, der soeben an der andern
Seite der Brücke ans Land gestiegen war, und dem ein großer und starker Sklave
folgte.


1)
Obwohl der Koran den Wein verbietet, so machen sich doch viele Muselmänner kein
Gewissen daraus, dieses Gesetz des Propheten zu übertreten, und sogar mehrere
Sultane sind wegen ihrer Trunkliebe berüchtigt gewesen.