Project Description

291. Nacht

Die Prinzessin von Deryabar traf den König an der Türe
des Palastes, wo er sie erwartete und empfing. Er führte sie in das Zimmer der
Pirusé, wo ein höchst rührender Auftritt vorging. Die Gattin Chodadads
fühlte bei dem Anblick der Mutter ihres Gemahls ihre Betrübnis sich erneuen.
So wie sein Vater und seine Mutter die Gemahlin ihres Sohnes nicht ohne innige
Bewegung ansehen konnten. Sie warf sich dem König zu Füßen, badete sie mit
ihren Tränen und war von so heftigem Schmerz ergriffen, dass sie nicht Kraft
hatte, ein Wort hervorzubringen. Pirusé befand sich in einem nicht minder
beweinenswürdigen Zustand. Sie schien von ihrem Wehe ganz durchdrungen, und der
König, bewegt von diesem rührenden Anblick, überließ sich seiner eigenen
Wehmut. Diese drei Personen blieben einige Zeit in einem ebenso zärtlichen als
schmerzlichen Schweigen, während sie ihre Seufzer und Tränen miteinander
vermischten.

Endlich erholte sich die Prinzessin von Deryabar aus ihrer
Erstarrung, und erzählte das Abenteuer im Schloss und das Unglück Chodadads,
und bat hierauf um Gerechtigkeit für den Meuchelmord der Prinzen.

„Ja, meine Tochter,“ antwortete ihr der König,
„diese Undankbaren sollen sterben, aber zuvor müssen wir den Tod Chodadads
kund machen lassen, damit die Todesstrafe dieser Brüder meine Untertanen nicht
empört. übrigens, obwohl wir den Leichnam meines Sohnes nicht haben, wollen
wir jedoch nicht unterlassen, ihm die letzte Pflicht zu erweisen.“

Nach diesen Worten wandte er sich zu seinem Wesir, und
befahl ihm, auf der schönen Ebene, in deren Mitte die Stadt Harran steht, ein
Grabmal mit einer Kuppel aus weißem Marmor erbauen zu lassen. Unterdessen gab
er der Prinzessin von Deryabar, welche er als seine Schwiegertochter anerkannte,
eine prächtige Wohnung in seinem Palast.

Hassan ließ mit solcher Emsigkeit arbeiten, und stellte
so viele Werkleute dabei an, dass in wenigen Tagen das Kuppelgebäude vollendet
war. Unter der Kuppel wurde ein Grabmal errichtet, und darauf Chodadads
Standbild gesetzt. Sobald das Werk fertig war, befahl der König, Gebete
anzustellen, und bestimme einen Tag zu der Totenfeier seines Sohnes.

Als dieser Tag erschien, versammelten sich alle Einwohner
der Stadt Harran in der Ebene, um der Feierlichkeit beizuwohnen, welche auf
folgende Weise geschah:

Der König, in Begleitung des Großwesirs und der
vornehmsten Herren seines Hofes, zog nach dem Grabmal. Als er hier ankam, trat
er hinein, und setzte sich mit ihnen auf goldgeblümte Atlas-Teppiche. Hierauf
nahte sich eine zahlreiche Schar der Leibwache zu Pferde, mit gesenktem Haupt
und halbgeschlossenen Augen, dem Gebäude. Sie ritten zwei Mal mit tiefem
Schweigen rings umher, aber beim dritten Mal hielten sie an der Tür still, und
sprachen, einer nach dem andern, mit lauter Stimme folgende Worte aus:

„Oh Prinz, Sohn des Königs! Wenn wir durch die
Schärfe unsres Schwertes und durch menschliche Tapferkeit dein Missgeschick
irgend erleichtern könnten, so solltest du bald das Licht wieder schauen, aber
der König der Könige hat geboten, und der Engel des Todes hat gehorcht!“

Nach diesen Worten zogen sie sich zurück, um hundert
Greisen Platz zu machen, die alle mit langen weißen Bärten auf schwarzen
Maultieren ritten.

Dies waren Einsiedler, die ihr Leben lang sich in Höhlen
verborgen hielten, und sich niemals den Augen der Menschen zeigten, außer bei
den Leichenbegängnissen der Könige von Harran und der Prinzen ihres Hauses.
Diese ehrwürdigen Männer trugen auf ihrem Kopf jeder ein dickes Buch, welches
sie mit einer Hand festhielten. Sie machten dreimal die Runde um das Gebäude,
ohne etwas zu sagen. Hierauf hielten sie an der Türe still, und einer von ihnen
sprach folgende Worte aus:

„Oh Prinz! Was können wir für dich tun? Wenn man
durch das Gebet oder durch Wissenschaft dir das Leben wiedergeben könnte, so
würden wir unsere weißen Bärte an deinen Füßen reiben und Gebete hersagen:
Aber der König des Weltalls hat dich für immer hinweg genommen!“

Nachdem diese Greise also gesprochen hatten, entfernten
sie sich von dem Grabmal. Alsbald näherten sich fünfzig Fräulein von
vollkommener Schönheit: Sie ritten jede ein kleines weißes Pferd, waren ohne
Schleier, und trugen goldene Körbe voll Edelgesteine aller Art. Sie ritten auch
dreimal um das Gebäude, hielten dann an derselben Stelle, wie die vorigen, und
die jüngste von ihnen führte das Wort und sagte:

„Oh Prinz, einst so schön! Welche Hilfe kannst du
von uns erwarten? Könnten wir durch unsere Reize dich wieder beleben, so
wollten wir alle deine Sklavinnen sein, aber du bist nicht mehr empfindlich für
die Schönheit, und bedarfst unser nicht mehr!“

Als die jungen Mädchen sich entfernt hatten, stand der
König mit seinem Hofstaat auf, machte auch drei Mal die Runde um das Gebäude,
nahm dann selber das Wort und sprach:

„Oh mein lieber Sohn! Licht meiner Augen, ich habe
dich also für immer verloren!“

Er begleitete diese Worte mit Seufzern, benetzte das Grab
mit seinen Tränen, und die Hofleute folgten seinem Beispiel.

Hierauf verschloss man die Türe des Grabmals, und alle
kehrten nach der Stadt zurück. Am folgenden Morgen wurden in den Moscheen
öffentliche Gebete gehalten, und dieselben acht Tage hintereinander
fortgesetzt.

Am neunten Tage wollte der König die Prinzen, seine
Söhne, enthaupten lassen. Das ganze Volk war empört über ihre Missetat an dem
Prinzen Chodadad, ihrem Bruder, und schien mit Ungeduld ihre Bestrafung zu
erwarten. Man fing schon an, das Schafott zu errichten, aber man war genötigt,
die Hinrichtung auf einen andern Tag zu verschieben, weil plötzlich die
Botschaft kam, dass die benachbarten Fürsten, die früher schon den König von
Harran bekriegt hatten, mit zahlreicheren Heeren heranrückten, als vormals, und
dass sie sogar nicht mehr weit von der Stadt entfernt wären.

Man wusste zwar schon längst, dass sie sich zum Kriege
rüsteten, hatte sich aber über ihre Zurüstung nicht beunruhigt. Diese
Neuigkeit verbreitete eine allgemeine Bestürzung, und gab neuen Anlass,
Chodadads Tod zu bedauern, weil dieser Prinz sich in dem früheren Krieg gegen
eben diese Feinde ausgezeichnet hatte. „Ach!“, sagte man, „wenn
der hochherzige Chodadad noch lebte, so dürften wir in geringer Sorge vor
diesen Fürsten sein, die uns jetzt überfallen.“

Unterdessen hebt der König, anstatt sich der Furcht
hinzugeben, schleunigst Mannschaft aus, bildet ein ziemlich ansehnliches
Kriegsheer, und zu beherzt, um die Feinde hinter den Mauern zu erwarten, rückt
er aus und zieht ihnen entgegen. Als die Feinde durch ihren Vortrab vernahmen,
dass der König von Harran heranrückte, um ihnen die Spitze zu bieten, machten
sie in einer Ebene Halt, und stellten ihr Heer in Schlachtordnung: Er lässt zum
Angriff blasen, und greift sie mit großer Tapferkeit an: Man leistet ihm ebenso
Widerstand. Von beiden Seiten wird viel Blut vergossen, und der Sieg bleibt
lange schwankend. Endlich aber erklärt er sich für die Feinde des Königs von
Harran, welche in überlegener Anzahl ihn schon umringten, als man plötzlich in
der Ebene eine große Schar Reiter in schönster Ordnung gegen das Schlachtfeld
dahersprengen sah. Der Anblick dieser neuen Streiter machte beide Heere stutzig,
die nicht wussten, was sie davon denken sollten. Aber sie bleiben nicht lange in
der Ungewissheit: Diese Reiter fielen die Feinde des Königs von Harran von der
Seite an, und warfen sie mit solcher Wut, dass sie sie bald in Unordnung
brachten und in die Flucht schlugen. Sie begnügten sich damit noch nicht,
sondern verfolgten sie ungestüm und hieben sie fast alle in Stücken.

Der König von Harran hatte mit großer Aufmerksamkeit den
ganzen Vorgang beobachtet, und die Kühnheit dieser Reiter bewundert, deren
unverhoffte Hilfe den Sieg zu seinen Gunsten entschieden. Er war besonders über
ihren Anführer entzückt, welchen er mit der größten Tapferkeit fechten
gesehen hatte, und wünschte den Namen dieses jungen Helden zu wissen. Voll
Ungeduld, ihn zu sehen und ihm zu danken, naht er sich ihm, aber jener eilt, ihm
zuvorzukommen. Beide begegnen sich, und der König von Harran erkennt seinen
Sohn Chodadad in diesem tapferen Krieger, der ihm zu Hilfe gekommen oder
vielmehr seine Feinde geschlagen hatte: Er stand unbeweglich vor Erstaunen und
Freude.

„Herr,“ sprach Chodadad zu ihm, „ihr müsst
ohne Zweifel erstaunt sein, plötzlich wieder vor Euer Majestät einen Menschen
erscheinen zu sehen, welchen ihr vielleicht tot wähnte. Ich wäre auch tot,
wenn der Himmel mich nicht erhalten hätte, um euch noch gegen eure Feinde zu
dienen.“

„Oh mein Sohn,“ rief der König aus, „ist’s
möglich, dass du mir wiedergeschenkt bist? Ach, ich verzweifelte schon, dich je
wieder zu sehen.“ Mit diesen Worten streckte er die Arme dem jungen Prinzen
entgegen, der sich einer so süßen Umarmung freudig hingab.

„Ich weiß alles, mein Sohn,“ hub der König
wieder an, nachdem er ihn lange in seinen Armen gehalten hatte. „Ich weiß,
wie deine Brüder dir den Dienst vergolten haben, welchen du ihnen durch ihre
Befreiung aus den Händen des Schwarzen geleistet hast: Aber du sollst morgen
schon gerächt werden. Unterdessen lass uns in den Palast gehen. Deine Mutter,
der du so viel Tränen gekostet hast, erwartet mich, um sich mit mir über die
Niederlage unserer Feinde zu freuen. Welche Freude werden wir ihr bringen, wenn
sie erfährt, dass mein Sieg dein Werk ist!“

„Herr,“ sprach Chodadad, „erlaubt mir, euch
zu fragen, wie ihr von den Abenteuern des Schlosses etwas erfahren habt. Sollte
einer meiner Brüder, von Gewissensbissen gequält, es euch bekannt haben?“

„Nein,“ antwortete der König, „es ist die
Prinzessin von Deryabar, welche uns von allem unterrichtet hat, denn sie
befindet sich in meinem Palast, wohin sie nur gekommen ist, um mich um
Gerechtigkeit für das Verbrechen deiner Brüder zu bitten.“

Chodadad war außer sich vor Freuden, als er vernahm, dass
seine Gattin hier am Hofe war, und rief mit Entzücken aus: „Lasst uns
eilen, Vater, zu meiner Mutter, die uns erwartete. Ich brenne vor Ungeduld, ihre
Tränen, und die der Prinzessin von Deryabar zu trocknen!“

Der König kehrte alsbald mit seinem Heer nach der Stadt
zurück, und entließ es. Er zog siegreich in seine Palast ein, unter dem
Zujauchzen des Volkes, welches ihm haufenweise folgte, den Himmel um die
Verlängerung seiner Jahre anrief, und tausendmal den Namen Chodadad
wiederholte.

Beide fanden Pirusé und ihre Schwiegertochter beisammen,
die den König erwarteten, um ihm Glück zu wünschen: Aber es ist unmöglich,
ihr freudiges Entzücken zu beschreiben, als sie den jungen Prinzen neben ihm
erblickten. Die Tränen, welche auch diese Umarmungen begleiteten, waren sehr
verschieden von denen, welche sie bisher um ihn vergossen hatten.

Nachdem diese vier Glücklichen allen Forderungen des
Blutes und der Liebe genügt hatten, fragte man den Sohn der Pirusé durch
welches Wunder er noch am Leben wäre?

Er antwortete, ein Bauer auf einem Maulesel wäre
zufällig in das Zelt gekommen, worin er ohnmächtig gelegen, und als er ihn so
verlassen und von Stichen durchbohrt gesehen, hätte er ihn auf sein Tier gelegt
und in sein Haus gebracht, wo er auf seine Wunden gewisse gekaute Kräuter
gelegt, wodurch sie in wenig Tagen geheilt wären. „Als ich mich
hergestellt fühlte,“ fuhr er fort, „dankte ich dem Bauer, und gab ihm
alle Diamanten, welche ich bei mir hatte. Ich näherte mich hierauf der Stadt
Harran, aber da ich unterwegs vernommen hatte, dass einige benachbarte Fürsten
Truppen versammelt hatten, um die Länder des Königs zu überfallen, so gab ich
mich in den Dörfern umher zu erkennen, und ermunterte den Eifer des Volks, sich
zur Verteidigung zu erheben. Ich bewaffnete eine große Anzahl junger Leute,
stellte mich an ihre Spitze, und langte in dem Augenblick an, als die beiden
Heere handgemein waren.“

Als er seine Erzählung geendigt hatte, sprach der König.
„Lasst uns Gott danken, dass er Chodadad erhalten hat! Aber die
Bösewichter, die ihn ermorden wollten, müssen heute noch sterben.“

„Herr,“ entgegnete der edelmütige Sohn der
Pirusé, „wie undankbar und boshaft sie sein mögen, so bedenkt doch, dass
sie aus eurem Blut entsprungen: Es sind meine Brüder, ich verzeihe ihnen ihr
Verbrechen, und ich bitte euch um Gnade für sie.“

Diese edle Gesinnung entlockte dem König Tränen. Er
ließ sein Volk zusammenrufen, und erklärte Chodadad für seinen Thronerben.
Hierauf ließ er die gefangenen Prinzen in ihren schweren Ketten vorführen. Der
Sohn der Pirusé nahm ihnen die Fesseln ab und umarmte sie, einen nach dem
andern, ebenso herzlich, wie er es im Schlosshof des Schwarzen getan hatte. Das
Volk war entzückt über Chodadads Edelmut, und gab ihm tausend
Beifallsbezeugungen. Endlich wurde auch der Wundarzt reichlich für die Dienste
belohnt, welche er der Prinzessin von Deryabar geleistet hatte.“

Die Sultanin Scheherasade hatte diese Geschichte mit
solcher Anmut erzählt, dass der Sultan von Indien, ihr Gemahl, sich nicht
enthalten konnte, ihr sein großes Vergnügen zu bezeugen, mit welchem er sie
angehört hatte.

„Herr,“ sagte hierauf die Sultanin, „ich
bin überzeugt, wenn Euer Majestät noch die Geschichte von dem erwachten
Schläfer hören wollte, dieselbe euch nur Freude und Vergnügen machen
würde.“

Schon nach dem bloßen Inhalt der Geschichte, welchen die
Sultanin ihm andeutete, versprach sich der Sultan davon ganz neue und
ergötzliche Abenteuer, und hätte gern noch in derselben Nacht die Erzählung
derselben gehört, aber es war Zeit aufzustehen, weshalb er sie auf die folgende
Nacht verschob.