Project Description

29. Nacht

Als zu Ende der Nacht Scheherasade durch die
Stimme ihrer Schwester erweckt war, schickte sie sich an, ihren Wunsch zu
befriedigen; und die Geschichte des Königs der Schwarzen Inseln zu vollenden.
Sie begann auf folgende Weise:

„Der halb marmorne, halb menschliche
König fuhr also fort, dem Sultan seine Geschichte zu erzählen:

„Nachdem,“ sprach er, die grausame
Zauberin, unwürdig des Namens einer Königin, mich also verwandelt, und durch
eine andere Beschwörung in dieses Zimmer versetzt hatte, zerstörte sie meine
Hauptstadt, die sehr blühend und stark bevölkert war; sie vertilgte die
Häuser, die öffentlichen Plätze und Märkte, und ließ an ihrer Stelle den
Teich und das wüste Feld erscheinen, welches ihr wohl gesehen habt. Die Fische
von viererlei Farben, welche in dem Teiche sind, sind die vier Arten von
Einwohnern, nach den verschiedenen Religionen, die darin waren: die weißen sind
die Muselmänner; die roten, die Perser, Feueranbeter; die blauen, die Christen;
die gelben, die Juden1).
Die vier Hügel umher waren die vier Inseln, welche diesem Königreich seinen
Namen gaben. Ich vernahm alles dies von der Zauberin, welche, zum übermaße
meiner Leiden, mir die Wirkungen ihrer Wut selber ankündigte. Das ist noch
nicht alles, ihre Wut begnügt sich nicht mit der Zerstörung meines Reichs und
mit meiner Verwandlung: sie kommt noch jeden Tag, mir auf die nackten Schultern
hundert Streiche mit dem Ochsenziemer zu geben, welche mich in Blute baden. Wenn
diese Züchtigung vollstreckt ist, bedeckt sie mich mit einem dicken Zeug aus
Ziegenhaaren, und legt darüber diesen Rock von Brokat, den ihr hier seht, nicht
um mir Ehre anzutun, sondern um mich zu verhöhnen.“

Bei dieser Stelle seiner Erzählung konnte
der junge König der Schwarzen Inseln seine Tränen nicht zurückhalten: und der
Sultan war so von Mitleid durchdrungen, dass er nicht ein Wort zu seinem Troste
hervorbringen konnte.

Bald darauf hob der junge König die Augen
gen Himmel, und rief aus: „Allmächtiger Schöpfer aller Dinge, ich
unterwerfe mich deinem Gericht, und den Beschlüssen deiner Vorsehung! Ich
ertrage geduldig alle meine Leiden, weil es dein Wille ist: Aber ich hoffe, dass
deine unendliche Güte mich dafür belohnen wird.“

Der Sultan, ganz erweicht durch die
Erzählung einer so seltsamen Geschichte, und beseelt von dem Verlangen, diesen
unglücklichen Fürsten zu rächen, sprach zu ihm: „Sagt mir, wo diese
treulose Prinzessin sich aufhält, und wo ihr unwürdiger Geliebter sein mag,
der vor seinem Tode schon begraben ist.“

„Herr,“ antwortete ihm der Fürst,
„ihr Geliebter ist, wie ich euch schon gesagt habe, in dem Tränenpalast,
in einem Grabmal mit einer Kuppel; und dieser Palast steht mit diesem Schloss an
der Vorderseite in Verbindung. Was die Zauberin betrifft, so kann ich euch nicht
sagen, wo sie sich aufhält; aber alle Morgen mit Sonnenaufgang kommt sie, ihren
Geliebten zu besuchen, nachdem sie an mir die blutige Züchtigung vollzogen hat,
wovon ich euch gesagt habe: und ihr seht wohl: dass ich eine so grausame
Behandlung nicht abzuwehren vermag. Sie bringt ihm dann den Trank, das einzige
Mittel, welches sein Leben bis jetzt erhalten hat, und sie hört nicht auf, sich
über das Stillschweigen zu beklagen, welches er stets beobachtet, seitdem ich
ihn verwundet habe.“

„Nicht genug zu beklagender
Fürst,“ erwiderte der Sultan, „man kann nicht lebhafter von eurem
Unglück gerührt sein, als ich es bin. Niemals ist jemand so etwas
Außerordentliches begegnet: es fehlt nur noch eins dazu: nämlich, die euch
gebührende Rache; aber ich werde nichts unversucht lassen, um sie euch zu
verschaffen.“

In der Tat, während der Sultan sich mit dem
jungen Fürsten über diesen Gegenstand unterhielt, (nachdem er ihm gesagt
hatte, wer er wäre, und weshalb er in dieses Schloss gekommen), ersann er ein
Mittel, ihn zu rächen, und teilte es ihm mit. Sie kamen in Ansehung der
Maßregeln überein, welche zu nehmen wären, damit dieses Vorhaben gelänge,
dessen Ausführung auf den folgenden Tag verschoben wurde.

Unterdessen, da es schon tief in der Nacht
war, legte sich der Sultan etwas zur Ruhe. Der junge König aber brachte sie auf
seine gewöhnliche Weise hin, in steter Schlaflosigkeit; denn seit seiner
Verzauberung konnte er nicht schlafen; jedoch diesmal mit einiger Hoffnung, bald
von seinem Leiden befreit zu werden.

Am folgenden Morgen, sobald es Tag wurde,
stand der Sultan auf; und um sogleich sein Vorhaben auszuführen, legte er sein
Oberkleid, das ihn gehindert hätte, an einen verborgenen Ort, und ging hin zum
Tränenpalast.

Er fand ihn durch eine Anzahl von weißen
Wachs-Fackeln erleuchtet, und ein köstlicher Geruch verbreitete sich aus vielen
Rauchfässern aus feinem Gold und bewunderungswürdiger Arbeit, welche alle in
der schönsten Ordnung aufgestellt waren.

Sobald er das Bette erblickte, auf welchem
der Schwarze lag, zog er seinen Säbel, und nahm ohne Widerstand diesem Elenden
das Leben, dessen Leichnam er in den Schlosshof schleifte; wo er ihn in einen
Brunnen stürzte. Nach dieser Tat ging er hin und legte sich unter die Decke,
und blieb dort, um sein Werk zu vollenden.

Die Zauberin erschien bald darauf. Ihr erstes
Geschäft war, in das Zimmer zu gehen, wo der König der schwarzen Inseln, ihr
Gemahl, sich befand. Sie entkleidete ihn, und gab ihm die hundert Streiche mit
dem Ochsenziemer auf die Schultern, mit einer Grausamkeit, die ohne Beispiel
ist. Der arme Fürst mochte immerhin den Palast mit seinem Geschrei erfüllen,
und sie auf die rührendste Weise von der Welt beschwören, Mitleid mit ihm zu
haben, die Grausame hörte nicht auf zu schlagen, als bis sie ihm die hundert
Streiche gegeben hatte. „Du hast kein Mitleid mit meinem Geliebten
gehabt,“ erwiderte sie ihm, „du darfst auch keines von mir erwarten
…“

Bei dieser Stelle bemerkte Scheherasade, dass
es schon Tag war, so dass sie verhindert wurde, ihre Erzählung fortzusetzen.

„Mein Gott, liebe Schwester,“ sagte
Dinarsade, „das ist eine gar grausame Zauberin! Aber sollen wir hier stehen
bleiben? und willst du uns nicht erzählen, ob sie die verdiente Strafe
empfing.“ – „Meine liebe Schwester,“ antwortete die Sultanin,
„ich wünsche nichts mehr, als sie dir morgen zu erzählen; aber du weißt,
dass dies von dem Willen des Sultans abhängt.“

Nach dem, was Schachriar eben gehört hatte,
war er weit entfernt, Scheherasade töten zu lassen. „Im Gegenteil,“
sagte er bei sich selber, „ich will ihr nicht das Leben nehmen, bevor sie
dieser erstaunliche Geschichte vollendet hat, und wenn deren Erzählung auch
zwei Monate dauern sollte. Es steht ja doch immer in meiner Gewalt, den Schwur
zu halten, den ich getan habe.“


1)
Durch diese Farben unterscheiden sich im allgemeinen die Turbane dieser
verschiedenen Glaubensgenossen.