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284. Nacht

„Jetzt können wir sprechen,“ sagte Mobarek.
„Wir sind hier auf der Insel des Königs der Geister. Es gibt keine
ähnliche auf der ganzen Welt. Blickt nach allen Seiten, mein Fürst, gibt es
einen reizenderen Ort? Dies ist ohne Zweifel ein wahrhaftes Abbild des
entzückenden Aufenthaltes, welchen Gott den gläubigen Beobachtern unseres
Gesetzes verheißen hat. Seht hier die Gefilde mit Blumen und allen Arten von
duftenden Kräutern geschmückt. Bewundert diese schönen Bäume, deren
köstliche Früchte die Zweige bis zur Erde herabbeugen. Erfreut euch des
vielstimmigen und wohl lautigen Gesanges, womit zahllose Vögel von tausend, in
andern Ländern unbekannten, Gattungen die Luft erfüllen!“

Seyn konnte nicht müde werden, die Schönheiten aller ihn
umgebenden Dinge zu betrachten, und er bemerkte immer neue, je weiter er auf der
Insel fort ging.

Endlich gelangten sie zu einem Palast aus reinen
Smaragden, umgeben von einem breiten Graben, auf dessen Rand in abgemessenen
Zwischenräumen so hohe Bäume standen, dass ihr Schatten den ganzen Palast
bedeckte. Dem Tor gegenüber, welches aus gediegenem Gold war, stand eine
Brücke aus einer einzigen Fischschuppe, obgleich sie wenigstens sechs Klafter
lang und drei Klafter breit war. Vorn an der Brücke sah man eine Schar Geister
von ungeheurer Größe, welche den Eingang des Schlosses mit dicken Kloben aus
chinesischem Stahl verteidigten.

„Gehen wir nicht von dannen,“ sprach Mobarek,
„diese Geister würden uns erschlagen, und wenn wir sie verhindern wollen,
zu uns zu kommen, so muss eine magische Vorrichtung gemacht werden.“

Zu gleicher Zeit zog er aus einem Beutel unter seinem Rock
vier Streifen gelben Tafts hervor. Mit dem einen umwand er seinen Gürtel, und
den andern heftete er auf seinen Rücken. Die beiden übrigen gab er dem
Fürsten, welcher damit dasselbe vornahm. Danach breitete Mobarek zwei große
Tischtücher auf der Erde aus, auf deren Rand er einige Edelgesteine mit Moschus
und Ambra legte. Er setze sich dann auf eins dieser Tücher, und Seyn auf das
andere. Hierauf sprach Mobarek folgendermaßen zu dem Fürsten:

„Herr, ich werde jetzt den König der Geister
beschwören, welcher den uns vor Augen stehenden Palast bewohnt: Möchte er ohne
Zorn zu uns kommen! Ich bekenne euch, dass ich nicht ohne Unruhe über den
Empfang bin, welchen er uns bereiten wird. Wenn unsere Ankunft auf seiner Insel
ihm missfällt, so wird er uns unter der Gestalt eines entsetzlichen Ungeheuers
erscheinen. Wenn er dagegen unsere Absicht gut heißt, wird er sich in der
Gestalt eines freundlichen Mannes zeigen. Sobald er vor uns steht, müsst ihr
aufstehen und ihn begrüßen, ohne jedoch von eurem Tuch zu treten, weil ihr
unfehlbar des Todes wäret, wenn ihr es verließet. Sprecht zu ihm:

„Unumschränkter Meister der Geister, mein Vater, der
euer Diener war, ist durch den Engel des Todes hinweggeführt: Möchte Euer
Majestät mich beschützen, wie ihr immerdar meinen Vater beschützt habt!

Und wenn nun der Geisterkönig,“ fügte Mobarek
hinzu, „euch fragt, welche Gnade ihr euch von ihm erbittet, so antwortet
ihm:

„Herr, es ist das neunte Standbild, welches ich euch
untertänigst bitte mir zu schenken.“

Nachdem Mobarek auf solche Weise den König Seyn
unterrichtet hatte, fing er die Beschwörungen an.

Alsbald wurden ihre Augen von einem langen Wetterstrahl
geblendet, auf welchen ein Donnerschlag folgte. Die ganze Insel bedeckte
plötzlich dicke Finsternis. Es erhob sich ein wütender Sturm, und hierauf
hörte man ein entsetzlichen Schrei: Der Boden schütterte, und man spürte ein
Erdbeben, wie es einst Asrfyel1)
am Tage des jüngsten Gerichts erregen wird.

Seyn spürte einige Bewegung, und wollte schon aus diesem
Getöse eine üble Vorbedeutung ziehen, als Mobarek, der besser wusste, was
davon zu halten war, anfing zu lächeln, und zu ihm sagte:

„Beruhigt euch, mein Fürst, alles geht gut.“

In der Tat erschien in demselben Augenblick der
Geisterkönig in der Gestalt eines schönen Mannes. Gleichwohl hatte er in
seinem Wesen immer etwas Furchtbares.

Sobald der König Seyn ihn erblickte, redete er ihn so
höflich an, wie Mobarek ihn gelehrt hatte. Der König der Geister lächelte
darüber, und antwortete: „Oh mein Sohn, ich liebte deinen Vater, und so
oft er herkam, mir seine Ehrfurcht zu bezeigen, machte ich ihm ein Standbild zum
Geschenk, welches er mitnahm. Ich habe nicht minder Liebe zu dir. Ich nötigte
deinen Vater, einige Tage vor seinem Tod, das zu schreiben, was du auf dem
weißen Atlas gelesen hast! Ich versprach ihm, dich unter meine Obhut zu nehmen,
und dir das neunte Standbild zu geben, dessen Schönheit diejenigen übertrifft,
welche du schon hast. Ich habe angefangen, mein Versprechen zu erfüllen: Ich
bin es, den du im Traum unter der Gestalt eines Greises gesehen hast. Ich habe
dich die unterirdischen Gemächer mit den Urnen und Standbildern finden lassen.
Ich habe größten Teil an allem, was dir begegnet ist, oder vielmehr ich bin
die Ursache davon. Ich weiß, was dich hierher führt. Du sollst erhalten, was
du verlangst. Wenn ich auch deinem Vater nicht versprochen hätte, es dir zu
geben, so würde ich es dir jedoch gern bewilligen. Aber du musst mir zuvor bei
allem, was einen Eid unverletzlich macht, schwören, wieder nach dieser Insel zu
kommen, und mir eine Jungfrau zu bringen, die in ihrem fünfzehnten Jahr ist,
und niemals weder einen Mann erkannt, noch gewünscht hat, einen zu erkennen.
Sie muss überdies von vollkommener Schönheit sein, und du musst dich
dergestalt selbst beherrschen, dass du nicht das Verlangen ihres Besitzes
aufkommen lässt, indem du sie hierher führst.“

Seyn leistete kühn den von ihm geforderten Eid.
„Aber, Herr,“ fragte er hierauf, „wenn ich nun auch glücklich
genug bin, eine solche Jungfrau zu finden, wie ihr sie von mir verlangt, woran
soll ich erkennen, dass ich sie gefunden habe?“

„Ich gestehe,“ antwortete lächelnd der
Geisterkönig, „dass dich der Anschein täuschen könnte. Dies geht über
die Kenntnis der Kinder Adams2).
Auch habe ich nicht die Absicht, mich darüber auf dich zu verlassen. Ich werde
dir einen Spiegel geben, der sicherer ist als alle Vermutungen. Sobald du eine
vollkommen schöne fünfzehnjährige Jungfrau findest, darfst du nur in deinen
Spiegel schauen: Du wirst darin das Bild dieser Jungfrau sehen und das Glas wird
rein und klar bleiben, wenn die Jungfrau keusch ist, wenn dagegen das Glas sich
trübt, so ist das ein sicheres Kennzeichen, dass das Mädchen nicht immer
sittsam gewesen ist, oder wenigstens doch den Wunsch gehegt hat, es nicht
länger zu bleiben. Vergiss nur nicht den Eid, welchen du mir geleistet hast,
halt ihn als Mann von Ehre: Sonst nehme ich dir das Leben, wie lieb ich dich
auch habe.“

Der König Seyn beteuerte von neuem, dass er gewissenhaft
sein Wort halten würde.

Alsdann gab der Geisterkönig ihm einen Spiegel in die
Hand, mit den Worten: „Oh mein Sohn, du kannst wiederkommen, wann du
willst: Hier ist der Spiegel, dessen du dich bedienen musst.“

Seyn und Mobarek nahmen Abschied von dem Geisterkönig und
wanderten dem See zu. Der elefantenköpfige Fährmann kam mit der Barke zu
ihnen, und setzte sie auf dieselbe Weise wieder hinüber, wie er sie hergebracht
hatte. Sie begaben sich wieder zu ihrem Gefolge, mit welchem sie nach Kairo
zurückkehrten.

Der König Alasnam ruhte sich einige Tage bei Mobarek.
Danach sprach er zu ihm: „Lasst uns nach Bagdad reisen, und dort eine
Jungfrau für den König der Geister suchen.“

„Ei, sind wir denn nicht in Groß-Kairo?“,
antwortete Mobarek, „sollten nicht auch hier schöne Jungfrauen zu finden
sein?“

„Ihr habt Recht,“ erwiderte der Fürst,
„aber wie sollen wir sie auffinden?“

„Seid deshalb unbesorgt, Herr,“ versetzte
Mobarek, „ich kenne ein sehr gewandtes altes Weib, der will ich dieses
Geschäft auftragen: Sie wird es sehr gut ausrichten.“

Wirklich hatte die Alte die Geschicklichkeit, den König
eine große Menge sehr schöner fünfzehnjähriger Mädchen sehen zu lassen,
aber wenn er, nach ihrer Beschauung, seinen Spiegel befragte, so trübte der
fatale Probierstein ihrer Tugend, das Glas, sich bei jeder. Alle
fünfzehnjährige Jungfrauen des Hofes und der Stadt wurden, eine nach der
andern, geprüft: Und bei keiner blieb das Glas rein und hell.

Als sie nun sahen, dass in Groß-Kairo keine keusche
Jungfrau zu finden war, reisten sie beide nach Bagdad. Sie mieteten einen
prächtigen Palast in einem der schönsten Stadtviertel. Hier fingen sie an
herrlich zu leben. Sie hielten offene Tafel, und nachdem alle Gäste im Palast
gegessen hatten, wurde das übrige den Derwischen hingetragen, welche bequem
davon lebten.

Nun wohnte in diesem Stadtviertel ein Imam, namens Bubekir3)
Müessin. Dies war ein eitler, stolzer und neidischer Mann. Er hasste alle
reichen Leute, bloß weil er arm war. Sein Elend erbitterte ihn gegen die
Wohlfahrt seines Nächsten. Er hörte von Seyn Alasnam und von dem überfluss
reden, welcher bei ihm herrschte. Mehr bedurfte es nicht für ihn, um diesen
Fürsten zu verabscheuen. Er trieb die Sache sogar so weit, dass er eines Tages
in der Moschee, nach dem Abendgebet, zu dem Volk sprach: „Oh meine Brüder,
ich habe gehört, dass ein Fremder in unser Stadtviertel gezogen ist, welcher
täglich ungeheure Summen verzehrt. Wer weiß? Dieser Unbekannte ist vielleicht
ein Verbrecher, der in seinem Land so viel zusammen gestohlen hat, und in diese
große Stadt kommt, um sich hier gütlich zu tun. Lasst uns auf der Hut sein,
meine Brüder: Wenn der Kalif erfährt, dass ein solcher Mann in unserm Viertel
wohnt, so ist zu fürchten, er werde uns bestrafen, dass wir ihn nicht davon
benachrichtigt haben. Ich für mein Teil erkläre euch, ich wasche meine Hände
in Unschuld, und wenn daraus ein Unglück entsteht, so ist es nicht meine
Schuld.“

Das Volk, welches sich leicht bereden lässt, rief
einstimmig Bubekir zu:

„Das ist eure Sache, Imam, zeigt es dem Staatsrat
an!“

Hierauf ging der Imam4)
vergnügt nach Hause, und schickte sich an, eine Denkschrift aufzusetzen, welche
er am nächsten Morgen dem Kalifen überreichen wollte.


1)
Asrafyel oder Asrafil ist, zufolge den Mohammedanern, der Engel, welcher am Tag
des jüngsten Gerichts die Posaune zur Auferweckung der Toten bläst.