Project Description

282. Nacht

Er zerschlug es mit der Hacke, und öffnete die Türe,
welche eine Treppe aus weißem Marmor verdeckte. Sogleich zündete er eine
Wachskerze an, und stieg diese Treppe hinab in ein mit chinesischem Porzellan
gepflastertes Gemach, dessen Wände und Decke von Kristall waren. Aber seine
Aufmerksamkeit heftete sich besonders auf vier Erhöhungen, auf deren jeder zehn
Porphyr-Urnen standen. Er wähnte, sie wären voller Wein, und sprach:
„Auch gut, dieser Wein muss recht alt sein: Ich zweifle nicht, dass er
vortrefflich sei.“

Er näherte sich einer der Urnen, nahm den Deckel ab, und
sah mit ebenso viel überraschung als Freude, dass sie voll Goldstücke waren.
Er untersuchte nun auch die übrigen, eine nach der andern, und fand sie alle
voll Zeckinen. Er nahm davon eine Handvoll und trug sie seiner Mutter hin.

Man kann sich vorstellen, in welches Erstaunen diese
Fürstin geriet, als der König ihr alles erzählte, was er gesehen hatte.
„Oh mein Sohn,“ rief sie aus, „hüte dich wohl, auch alle diese
Reichtümer so töricht zu verschwenden, wie du es mit dem königlichen Schatz
gemacht hast! Gib deinen Feinden nicht einen so triftigen Grund zur
Schadenfreude!“

„Nein, liebe Mutter,“ antwortete Seyn, „ich
werde von nun an auf eine Weise leben, die euch völlig genugtun soll.“

Die Königin bat den König, ihren Sohn, sie in das
wundervolle Gemach zu führen, welches der König, ihr Gemahl, so heimlich hatte
machen lassen, dass sie nie davon reden gehört hatte.

Seyn führte sie in das Kabinett, half ihr die
Marmortreppe hinabsteigen, und ließ sie in das Zimmer mit den Urnen treten. Sie
betrachtete alle Dinge darin mit forschenden Blicken, und gewahrte in einem
kleinen Winkel noch eine kleine Urne, ebenfalls von Porphyr, welche der Prinz
noch nicht bemerkt hatte. Sie nahm dieselbe, öffnete sie, und fand darin einen
goldenen Schlüssel.

„Mein Sohn,“ sagte hierauf die Königin,
„dieser Schlüssel verschließt ohne Zweifel noch einen andern Schatz. Lass
uns überall suchen, ob wir nicht entdecken können, zu welchem Gebrauch er
bestimmt ist.“

Sie untersuchten das Gemach mit der höchsten
Aufmerksamkeit, und fanden endlich mitten in der Wandbekleidung ein Schloss. Sie
hielten es für das, zu welchem sie den Schlüssel gefunden hatten, und der
König versuchte ihn auf der Stelle. Sogleich öffnete sich die Türe und zeigte
ihnen ein anderes Gemach, in dessen Mitte neun Fußgestelle von gediegenem Gold
standen, von welchen acht ein Standbild aus einem einzigen Diamant trugen, und
diese Standbilder strahlten solchen Glanz aus, dass das ganze Zimmer davon
erleuchtet war.

„Oh Himmel,“ rief Seyn ganz erstaunt aus,
„wo hat mein Vater so köstliche Sachen erhalten?“

Das neunte Fußgestell verdoppelte sein Erstaunen, denn
auf demselben lag ein Stück weißer Atlas, auf welchem folgende Worte
geschrieben standen:

„Oh mein lieber Sohn, diese acht Bildsäulen haben
mir viel Mühe gekostet zu erwerben! Aber obgleich sie von großer Schönheit
sind, so wisse, dass es noch eine neunte auf der Welt gibt, welche sie
übertrifft. Sie allein ist mehr wert, als tausend solche, wie du hier siehst.
Willst du Besitzer derselben werden, so geh nach Kairo in ägypten. Dort wohnt
einer meiner alten Sklaven Namens Mobarek1).
Der erste, dem du begegnest, wird dir seine Wohnung zeigen. Geh, suche ihn auf.
Sage ihm alles, was dir begegnet ist. Er wird dich für meinen Sohn erkennen,
und dich nach dem Ort führen, wo dieses wunderbare Bild ist, welches du zu
deinem Heil gewinnen wirst.“

Nachdem der König diese Worte gelesen hatte, sprach er zu
der Königin: „Ich will dieses neunte Standbild nicht missen. Es muss ein
sehr seltenes Stück sein, weil diese hier alle miteinander nicht so viel wert
sind. Ich reise alsbald nach Groß-Kairo. Ich glaube nicht, liebe Mutter, dass
ihr meinen Entschluss tadeln werdet.“

„Nein, mein Sohn,“ antwortete die Königin,
„ich widersetze mich dem nicht. Du stehst ohne Zweifel unter der Obhut
unsres großen Propheten. Er wird nicht zulassen, dass du auf dieser Reise
umkommst. Reise, wann es dir gefällt. Deine Wesire und ich, wir wollen schon
während deiner Abwesenheit den Staat regieren.“

Der König ließ sogleich alles zur Reise in den Stand
setzen, aber er wollte nur eine kleine Anzahl Sklaven zum Gefolge mitnehmen.


1)
Mobarek bedeutet gesegnet.