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281. Nacht

Geschichte
des Prinzen Seyn Alasnam und des Königs der Geister

Ein König von Balsora besaß große Reichtümer, und war
von seinen Untertanen geliebt, aber er hatte keine Kinder, und das betrübte ihn
sehr. Indessen bewog er durch ansehnliche Geschenke alle heilige Männer seines
Reiches, den Himmel für ihn um einen Sohn zu bitten, und ihre Bitten waren
nicht fruchtlos: Die Königin wurde schwanger, und kam glücklich mit einem Sohn
nieder, welcher Seyn Alasnam, das heißt Zierde der Standbilder, genannt wurde.

Der König ließ alle Sterndeuter seines Reiches
zusammenrufen, und befahl ihnen, dem Kind das Horoskop zu stellen. Sie
entdeckten durch ihre Beobachtungen, dass er lange leben, und mutvoll sein
würde, dass er aber seines Mutes auch bedürfte, um standhaft all das Unglück
auszuhalten, welches ihn bedrohte.

Der König war über diese Weissagung nicht erschrocken.
„Mein Sohn,“ sprach er, „ist nicht zu beklagen, weil er Mut haben
soll: Es frommt den Prinzen, Unglück zu erfahren. Widerwärtigkeiten läutern
ihre Tugend: Sie lernen dadurch besser regieren.“

Er belohnte die Sterndeuter und schickte sie heim. Seinen
Sohn ließ er nun mit aller erdenklichen Sorgfalt aufziehen. Er gab ihm
Lehrmeister, sobald er ihn in einem für ihren Unterricht empfänglichen Alter
sah. Kurz, er nahm sich vor, aus ihm einen vollkommenen Prinzen zu machen, als
plötzlich dieser gute König von einer Krankheit befallen wurde, welche seine
ärzte nicht zu heilen vermochten.

Als er sich auf dem Totenbette sah, berief er seinen Sohn,
und empfahl ihm unter anderen Lehren, dahin zu achten, dass er von seinem Volk
vielmehr geliebt, als gefürchtet werde. Den Schmeichlern nie sein Ohr zu
leihen, und ebenso langsam mit der Belohnung als mit der Bestrafung zu sein,
weil es oft geschähe, dass die Könige, durch falschen Anschein verführt, die
Bösen mit Wohltaten überhäuften, und die Unschuld unterdrückten.

Sobald der König verschieden war, legte der Prinz Seyn
die Trauer an, und trug sie sieben Tage lang. Am achten bestieg er den Thron,
nahm von dem königlichen Schatz das Siegel seines Vaters, legte das seinige
daran1), und
begann nun die Süßigkeit des Herrschens zu kosten. Das Vergnügen, dass alle
Hofleute sich vor ihm beugten, und einzig darauf sannen, ihm ihren Gehorsam und
Eifer zu bezeugen, mit einem Wort, die unumschränkte Herrschergewalt hatte zu
großen Reiz für ihn. Er dachte nur an die Pflichten seiner Untertanen, und
nicht an das, was er selber ihnen schuldig war, und kümmerte sich wenig um die
Regierung. Er stürzte sich in alle Arten von Ausschweifungen mit jungen
Wolllüstlingen, welche er mit den höchsten Würden des Staates bekleidete. Da
er von Natur freigebig war, so war er jetzt zügellos im Verschwenden, und
unvermerkt hatten seine Weiber und seine Günstlinge seine Schätze erschöpft.

Die Königin, seine Mutter, lebte noch. Sie war eine weise
und verständige Fürstin, und hatte mehrmals vergeblich dem Strom der
Verschwendung und der Ausschweifungen des Königs, ihres Sohnes, Einhalt zu tun
versucht, indem sie ihm vorgestellt, dass, wenn er nicht bald seine Lebensweise
änderte, er nicht allein seine Reichtümer verschwenden, sondern sogar seine
Untertanen von sich entfremden und eine Umwälzung veranlassen würde, die ihm
vielleicht die Krone und das Leben kostete.

Es fehlte nicht viel, dass ihre Weissagung in Erfüllung
ging: Das Volk fing an, gegen die Regierung zu murren. Diese Unzufriedenheit
hätte unfehlbar eine allgemeine Empörung herbeigeführt, wenn die Königin
nicht die Geschicklichkeit gehabt hätte, dem zuvorzukommen. Unterrichtet von
dem üblen Stand der Dinge, benachrichtigte sie den König davon, welcher sich
endlich überreden ließ. Er vertrautet die Ministerstellen weisen Greisen,
welche die Untertanen zu ihrer Pflicht zurückzuführen wussten.

Indessen bereute Seyn, als er alle Reichtümer
verschwunden sah, dass er keinen besseren Gebrauch davon gemacht hatte. Er
versank darüber in eine tödliche Schwermut, und nichts vermochte ihn zu
trösten.

Eines Nachts sah er im Traum einen ehrwürdigen Greis, der
auf ihn zukam und mit lächelnder Miene zu ihm sprach:

„Oh Seyn, wisse, dass es kein Leid gibt, auf welches
nicht Freude folgt, kein Unglück, welches nicht irgend ein Glück nach sich
zieht. Willst du das Ende deiner Betrübnis sehen, so steh auf, reise nach
ägypten, und zwar nach Kairo: Ein großes Glück erwartete dich dort!“

Der Fürst war bei seinem Erwachen über diesen Traum
betroffen. Er sprach sehr ernsthaft davon zu der Königin Mutter, welche nur
darüber lachte.

„Mein Sohn,“ sprach sie zu ihm, „willst du
nicht etwa auf diesen schönen Traum hin nach ägypten reisen?“

„Warum nicht, Frau Mutter?“, antwortete Seyn,
„haltet ihr denn alle Träume für leere Hirngespinste? Nein, nein, es gibt
sehr geheimnisvolle darunter. Meine Lehrmeister haben mir tausend Geschichten
davon erzählt, welche das nicht bezweifeln lassen2).
Wenn ich übrigens auch nicht hiervon überzeugt wäre, so könnte ich mich doch
nicht erwehren, auf diesen meinen Traum zu achten. Der Greis, der mir erschienen
ist, hatte etwas übermächtiges an sich. Es ist nicht einer von jenen Menschen,
welche das bloße Alter ehrwürdig macht. Ich weiß nicht, welches göttliche
Wesen über seine Gestalt verbreitet war. Kurz, er erschien so, wie man uns den
großen Propheten vorstellt, und wenn ich es euch aufrichtig bekennen soll, ich
glaube, dass er selber es ist, welcher, von meinen Leiden gerührt, sie lindern
will. Ich gebe mich dem Vertrauen hin, welches er mir eingeflößt hat, ich bin
von seinen Versprechungen erfüllt, und habe beschlossen, seinem Ruf zu
folgen.“

Die Königin bemühte sich, ihn davon abzulenken, aber sie
konnte es nicht dahin bringen. Der Fürst übertrug ihr die Regierung des
Reichs, verließ in einer Nacht ganz heimlich den Palast, und begab sich auf den
Weg nach Kairo, ohne jemand zur Begleitung mitzunehmen.

Nach vielen Beschwerden und Mühseligkeiten, langte er in
dieser berühmten Stadt an, welche wenige ihres Gleichen hat, sowohl in Ansehung
der Größe als der Schönheit. Er stieg an der Pforte einer Moschee ab, wo er,
von Müdigkeit überwältigt, sich niederlegte.

Kaum war er eingeschlafen, als ihm derselbe Greis erschien
und zu ihm sprach:

„Oh mein Sohn, ich bin zufrieden mit dir, du hast
meinen Worten Glauben beigemessen. Du bist hierher gekommen, ohne dich von der
Länge und Beschwerlichkeit des Weges abschrecken zu lassen: Aber wisse, dass
ich dich eine so lange Reise nur deshalb machen ließ, um dich auf die Probe zu
stellen. Ich sehe, dass du Mut und Standfestigkeit hast. Du verdienst, dass ich
dich zum reichsten und glücklichsten Fürsten auf Erden mache. Kehre nach
Balsora zurück: Du wirst in deinem Palast unermessliche Reichtümer finden.
Niemals hat ein König ihrer so viele besessen, als dort sind.“

Der Fürst war nicht erbaut von diesem Traum.
„Ach!“, sprach er bei sich selber, nachdem er erwacht war, „in
welchem Irrtum war ich befangen! Dieser Greis, welchen ich für unsern Propheten
hielt, ist nicht als ein bloßes Erzeugnis meiner aufgeregten Einbildungskraft.
Ich hatte den Kopf so voll davon, dass es nicht zu verwundern ist, wenn ich zum
zweiten Mal davon geträumt habe. Auf, zurück nach Balsora: Was soll ich
länger hier machen? Es ist mir sehr lieb, dass ich allein meiner Mutter den
Beweggrund meiner Reise vertraut habe. Ich würde das Märchen meines Volkes,
wenn sie ihn wüssten.“

Er kehrte also nach seinem Königreich zurück, und sobald
er hier angelangt war, fragte ihn die Königin, ob er zufrieden heimkäme. Er
erzählte ihr alles, was vorgegangen war, und schien über seine zu große
Leichtgläubigkeit so gekränkt, dass diese Fürstin, anstatt durch Vorwürfe
oder Spottreden seinen Verdruss zu vermehren, ihn tröstete. „Betrübe dich
nicht länger, mein Sohn,“ sprach sie zu ihm, „wenn Gott dir
Reichtümer bestimmt hat, so wirst du sie ohne Mühe bekommen. Sei ruhig. Alles,
was ich dir empfehlen kann, ist, tugendhaft zu sein. Entsage den Vergnügungen
des Tanzes, der Flöte und des purpurfarbenen Weines. Fliehe alle diese Lüste.
Sie waren schon nahe daran, dich zu Grunde zu richten. Bemühe dich, deine
Untertanen zu beglücken, indem du ihr Glück machst, sicherst du zugleich das
deine.“

Der König Seyn gelobte, fortan allen Ratschlägen seiner
Mutter und seiner weisen Wesire, welchen sie die Last der Regierung mit
übertragen hatte, zu folgen. Aber gleich in der ersten Nacht nach der Rückkehr
in seinen Palast, sah er zum dritten Mal den Greis, welcher zu ihm sprach:

„Oh mutvoller Seyn, der Augenblick deines Glücks ist
endlich gekommen. Morgen früh, sobald du aufgestanden bist, nimm eine Hacke,
und geh hin und durchsuche das Kabinett des seligen Königs, du wirst darin
einen großen Schatz finden.“

Sobald der Fürst erwacht war, stand er auf. Er lief nach
dem Zimmer der Königin und erzählte ihr mit großer Lebhaftigkeit den neuen
Traum, welchen er soeben gehabt hatte.

„Fürwahr, mein Sohn,“ erwiderte lächelnd die
Königin, „das ist ein recht beharrlicher Greis: Er begnügt sich nicht
damit, dich zweimal betrogen zu haben. Bist du gesonnen, ihm nochmals zu
trauen?“

„Nein, Frau Mutter,“ antwortete Seyn, „ich
glaube keineswegs, was er mir gesagt hat, aber ich will doch zum Spaß das
Kabinett meines Vaters durchsuchen.“

„Oh, ich dachte es wohl,“ rief die Königin mit
lautem Gelächter aus. „Geh hin, mein Sohn, und befriedige dich. Was mich
dabei tröstet, ist, dass die Sache nicht so ermüdend ist, als die Reise nach
ägypten.“

„Nun ja, liebe Mutter,“ erwiderte der König,
„ich will es bekennen, dieser dritte Traum hat mir wieder Vertrauen
gegeben: Er hängt mit den beiden vorigen zusammen. Dann erwägen wir nur alle
Worte des Greises, so hat er zuerst mir befohlen, nach ägypten zu gehen. Dort
hat er mir gesagt, dass er mich diese Reise nur machen lassen, um mich auf die
Probe zu stellen.

„Kehre nach Balsora zurück,“ sagte er hierauf,
„dort sollst du Schätze finden.“

Diese Nacht endlich hat er mir genau den Ort angezeigt, wo
dieselben sind.

Diese drei Träume, wie mich dünkt, hängen zusammen. Sie
haben nichts Zweideutiges, keinen Umstand, der in Verlegenheit setzt. Bei alle
dem können es Hirngespinste sein: Aber ich will lieber eine vergebliche
Untersuchung anstellen, als mir mein Leben lang vorzuwerfen haben, dass ich
vielleicht große Reichtümer verscherzt habe, indem ich zur Unzeit den
Freigeist spielte.“

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer der Königin,
ließ sich eine Hacke geben, und ging allein in das Gemach des Königs. Er fing
an zu wühlen, und hob mehr als die Hälfte der viereckigen Platten des
Fußbodens auf, ohne den geringsten Anschein eines Schatzes zu gewahren. Er
ließ ab von der Arbeit, um ein wenig auszuruhen, und sprach bei sich selber:
„Ich fürchte sehr, meine Mutter hat Recht, mich zu verspotten.“

Nichtsdestoweniger fasste er wieder Mut, und setzte seine
Arbeit fort. Er hatte nicht Ursache, es zu bereuen, denn er entdeckte auf einmal
einen weißen Stein, welchen er aufhub, und darunter fand er eine verschlossene
Tür, mit einem stählernen Vorlegeschloss.


1)
Das königliche Siegel verändert sich mit der Thronbesteigung jedes Sultans: Es
wird durch Verschlingung der Namensbuchstaben des regierenden Fürsten gebildet.