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271. Nacht

Der Greis, der eben mit etwas beschäftigt war, hub den
Kopf auf. Als er einen jungen Mann von edlem und stattlichem Ansehen erblickte,
fragte er ihn mit einem Ausdruck großer Verwunderung, wo er herkäme, und was
für eine Angelegenheit ihn herführte.

Der König Beder befriedigte in wenig Worten seine
Neugier, und der Greis fragte ihn weiter, ob er auf seinem Weg niemand begegnet
wäre.

„Ihr seid der erste, den ich hier gesehen habe,“
antwortete der König, „und ich begreife nicht, wie eine so schöne und
ansehnliche Stadt so öde sein kann, wie sie ist.“

„Kommt herein, und bleibt nicht länger vor der
Tür,“ versetzte der Greis. „Es möchte euch sonst etwas übles
begegnen. Ich will nachher eure Neugier befriedigen, und euch die Ursache sagen,
warum diese Vorsicht nötig ist.“

Der König Beder ließ es sich nicht zweimal sagen: Er
trat herein, und setzte sich neben den Greis. Weil dieser aber aus der
Erzählung seines Missgeschicks vernommen hatte, dass er Nahrung bedurfte, so
reichte er ihm zuerst etwas, um seine Kräfte wieder zu stärken. Obwohl der
König Beder ihn um die Mitteilung der Ursache bat, warum er die Vorsicht
gebrauchte, ihn herein treten zu lassen, so wollte er ihm doch nicht eher darauf
antworten, als bis er sich satt gegessen hatte. Er fürchtete nämlich, dass die
schlimme Neuigkeit, welche er ihm zu sagen hatte, ihn am ruhigen Essen hindern
möchte. Jetzt, als er sah, dass er seine Mahlzeit vollendet hatte, sprach er zu
ihm:

„Ihr mögt Gott danken, dass ihr ohne einen Unfall
bis zu mir gekommen seid.“

„Nun, wieso?“, frage der König Beder,
beunruhigt und erschrocken.

„Ihr müsst wissen,“ fuhr der Greis fort,
„dass diese Stadt die Zauberstadt heißt, und nicht von einem König,
sondern von einer Königin beherrscht wird. Diese Königin, welche die schönste
aller Weiber, ist auch eine Zauberin, aber die berüchtigste und gefährlichste,
die man kennt. Ihr werdet davon überzeugt sein, wenn ihr erfahrt, dass alle die
Pferde, Maulesel und andere Tiere, die ihr gesehen habt, sämtlich Menschen
sind, wie ihr und ich, welche sie durch ihre höllischen Künste so verwandelt
hat. Alle wohl gebildete junge Leute, wie ihr, welche in die Stadt kommen, werden
von ihren dazu ausgestellten Sklaven angehalten, und mit Güte oder mit Gewalt
zu ihr geführt. Sie empfängt sie aufs freundlichste, sie liebkost ihnen,
bewirtet sie, und herbergt sie prächtig, kurz, gibt ihnen so viel Gelegenheit,
um sie von ihrer Leibe zu überzeugen, dass es ihr ohne Mühe gelingt: Aber sie
lässt sie nicht lange dieses vermeinten Glückes genießen: Da ist keiner, den
sie nicht, nach Verlauf von vierzig Tagen, in irgend ein vierfüßiges Tier oder
in einen Vogel, wie sie es für gut findet, verwandelt hätte. Ihr habt mir von
den vielen Tieren erzählt, welche euch verhindern wollten, ans Land zu kommen
und in die Stadt zu gehen: Das waren sie. Weil sie euch auf keine andere Weise
die Gefahr zu erkennen geben konnten, welcher ihr euch aussetzt, so taten sie,
was in ihrem Vermögen stand, um euch davon abzuhalten.“

Diese Rede bekümmerte den jungen König von Persien gar
sehr. „Ach,“ rief er aus, „welchen Unfällen bin ich durch mein
Missgeschick preisgegeben! Kaum bin ich von einer Bezauberung, die mich noch mit
Grauen erfüllt, befreit, so sehe ich mich schon wieder einer anderen, noch
schrecklicheren ausgesetzt.“

Dies gab ihm Anlass, dem Greis umständlicher seine
Geschichte zu erzählen, von seiner Geburt, seinem Stand, seiner Liebe zu der
Prinzessin von Samandal, und von ihrer Grausamkeit, so dass sie ihn in einen
Vogel verwandelt, in dem Augenblick, wo er sie eben erst gesehen und ihr seine
Liebe erklärt hatte.

Als der König seine Erzählung geendigt hatte, bezeigte
er seine Furcht, in ein noch größeres Unglück zu geraten. Der Greis suchte
ihn zu beruhigen und sprach. „So wahr es ist, was ich euch von der
Zauberkönigin und ihrer Bosheit gesagt habe, so darf es euch jedoch nicht in
die Unruhe versetzen, welche ihr zu fühlen scheint. Ich bin in der großen
Stadt beliebt. Selbst der Königin bin ich nicht unbekannt, und ich darf wohl
sagen, dass sie viel auf mich hält. Es ist also ein großes Glück für euch,
dass euer guter Stern euch eher zu mir, als zu irgend einem andern geführt hat.
Ihr seid in Sicherheit in meinem Hause, wo ich euch zu bleiben rate, wenn es
euch so gefällt. Sofern ihr euch nicht daraus entfernt, verbürge ich euch,
dass euch nichts begegnen soll, was euch Anlass geben könnte, euch über meine
Unredlichkeit zu beklagen. Also dürft ihr euch sonst in keiner Rücksicht Zwang
antun.“