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267. Nacht

Als der Prinz von Persien das Alter von fünfzehn Jahren
erreicht hatte, übertraf er schon in allen seinen übungen seine Lehrmeister
unendlich an Geschicklichkeit und Anmut. Dabei zeigte er eine
bewunderungswürdige Einsicht und Klugheit.

Der König von Persien, der an ihm, fast von seiner Geburt
an, diese einem Fürsten so nötigen Tugenden erkannte, und ihn fortwährend
darin sich bestärken sah, und zugleich die große Schwachheit seines Alters
täglich mehr fühlte, wollte nicht abwarten, bis sein Tod erst ihn in den
Besitz seines Reiches setzte. Er hatte keine Mühe, seinen Reichsrat mit seinem
Wunsch hierüber einstimmig zu machen. Das Volk vernahm seinen Entschluss mit um
so mehr Freude, als der Prinz Beder würdig war, sie zu beherrschen. Denn da er
schon seit langer Zeit öffentlich erschien, so hatten alle nach Gefallen
bemerken können, dass er nicht jenes stolze, verächtliche und zurückstoßende
Wesen hatte, welches bei den meisten anderen Prinzen so gewöhnlich ist, die auf
alles, was unter ihnen ist, mit unerträglichem Hochmut und Verachtung
herabblicken. Sie wussten im Gegenteil, dass er alle Leute mit einer
Freundlichkeit ansah, welche einlud, sich ihm zu nahen, dass er huldreich alle
anhörte, die ihm etwas zu sagen hatten, dass er ihnen mit einem ihm eigenen
Wohlwollen antwortete, und dass er niemand etwas abschlug, sofern die Bitte nur
irgend statthaft war.

Der Tag der Feierlichkeit wurde angesetzt. An diesem Tag,
mitten in dem zahlreicher als gewöhnlich versammelten Reichsrat, stieg der
König von Persien, der sich anfangs auf seinen Thron gesetzt hatte, von
demselben herab, nahm die Krone von seinem Haupt, und setzte sie auf das Haupt
des Prinzen Beder. Nachdem er ihn selbst auf seinen Platz hinaufgeführt hatte,
küsste er ihm die Hand, zum Zeichen, dass er ihm sein ganzes Ansehen, und alle
seine Macht übergebe, worauf er sich unter ihm, in dem Rang der Wesire und der
Emire setzte.

Alsbald traten die Wesire, die Emire, und alle die ersten
Beamten hervor, warfen sich dem neuen König zu Füßen und leisteten ihm den
Eid der Treue, ein jeder nach seinem Rang.

Der Großwesir trug nun mehrere wichtige Staatssachen vor,
über welche Beder mit einer Weisheit entschied, die die ganze Versammlung in
Bewunderung setzte. Er setzte hierauf mehrere der Untreue überwiesene
Statthalter ab, und setzte andere an ihre Stelle, mit einer so richtigen und
billigen Beurteilung, dass er sich den allgemeinen lauten Beifall erwarb, der
umso ehrenvoller war, als die Schmeichelei keinen Teil daran hatte.

Er verließ endlich die Ratsversammlung, und begab sich,
in Begleitung des Königs, seines Vaters, nach der Wohnung der Königin
Gülnare. Diese sah ihn nicht sobald mit der Krone auf dem Haupt, als sie auf
ihn zulief, ihn mit großer Zärtlichkeit umarmte, und seiner Regierung eine
lange Dauer wünschte.

Das erste Jahr seiner Regierung verwaltete der König
Beder sein königliches Amt mit großer Emsigkeit. Vor allen Dingen
unterrichtete er sich sorgfältig von den Staatsangelegenheiten, und von allem,
was er zur Glückseligkeit seiner Untertanen beitragen konnte.

Im folgenden Jahr übertrug er, mit Genehmigung des alten
Königs, seines Vaters, dem Rat die Verwaltung der Staatsgeschäfte, und
verließ die Hauptstadt, unter dem Vorwand einer Jagdlust: Aber es geschah, um
alle Provinzen seines Reiches zu durchreisen, und darin die Missbräuche
abzuschaffen, überall Ordnung und Zucht herzustellen, und indem er sich an den
Grenzen zeigte, den benachbarten übel gesinnten Fürsten die Lust zu nehmen,
etwas gegen die Sicherheit und Ruhe seiner Staaten zu unternehmen.

Nicht weniger, als die Zeit eines Jahres, bedurfte dieser
junge König, um einen seiner so würdigen Vorsatz auszuführen.

Noch nicht lange war er wieder zurück, als der König,
sein Vater, so gefährlich erkrankte, dass er sogleich selber fühlte, er würde
nicht wieder aufstehen. Er erwartete den letzten Augenblick seines Lebens mit
großer Ruhe. Seine einzige Sorge war, den Ministern und den Großen des Hofes
seines Sohnes zu empfehlen, die ihm geschworene Treue zu bewahren. Es war
keiner, der nicht seinen Eid ebenso aufrichtig erneuerte, als das erste Mal. Er
starb endlich, zur innigsten Betrübnis des jungen Königs Beder und der
Königin Gülnare, die seine Leiche in einem prächtigen Grabmahl beisetzen
ließen.

Nach Beendigung der Leichenfeier war es für den König
Beder kein Zwang, die persische Sitte zu beobachten, nämlich, die Toten einen
vollen Monat zu beweinen, und während dieser ganzen Zeit sich von niemand sehen
zu lassen. Er hätte seinen Vater sein Leben lang beweint, wenn er dem übermaß
seiner Betrübnis gefolgt, und es einem großen König gestattet wäre, sich ihr
ganz hinzugeben. In dieser Zwischenzeit kamen auch die Königin, Gülnares
Mutter, und der König Saleh, mit dem Prinzessinnen, ihren Nichten, und nahmen
großen Teil an ihrer Trauer, bevor sie ihnen Trost zusprachen.

Als der Monat verflossen war, konnte der König nicht
umhin, seinen Großwesir und alle die Großen seines Hofes vorzulassen, die ihn
baten, das Trauerkleid abzulegen, sich seinen Untertanen zu zeigen, und wieder
die Besorgung der Staatsgeschäfte zu übernehmen, wie zuvor. Er bezeugte
anfangs einen so großen Widerwillen, sie anzuhören, dass der Großwesir
genötigt war, das Wort zu nehmen und zu ihm zu sagen:

„Herr, ich brauche Euer Majestät nicht vorzustellen,
dass es nur den Frauen zusteht, in einer steten Trauer zu verharren. Wir
zweifeln nicht, dass ihr eben davon überzeugt seid, und dass es nicht eure
Absicht ist, ihrem Beispiel zu folgen. Weder unsere Tränen, noch die eurigen
sind imstande, dem König, eurem Vater, das Leben wiederzugeben, und wenn wir
auch unser Leben lang nicht aufhörten zu weinen. Er hat das allgemeine
Schicksal der Menschen erfüllt, welches sie dem unablöslichen Zins des Todes
unterwirft. Wir können gleichwohl nicht sagen, dass er durchaus tot sei, weil
wir ihn in eurer geheiligten Person wieder sehen. Er selber hat sterbend nicht
daran gezweifelt, dass er in euch wieder auflebe: Es ist nun an Euer Majestät,
zu zeigen, dass er sich nicht getäuscht hat.“

Der König Beder konnte so dringenden Vorstellungen nicht
widerstehen: Er legte von Stund an das Trauergewand ab, und nachdem er das
königliche Kleid und den königlichen Schmuck wieder angetan hatte, begann er
der Pflege seines Reichs und seiner Untertanen mit derselben Aufmerksamkeit
wahrzunehmen, wie vor dem Tod des Königs, seines Vaters. Er tat dies mit
allgemeinem Beifall und da er genau die Beobachtung der Verordnungen seiner
Vorfahren handhabte, so bemerkten die Völker kaum, dass sie einen neuen Herrn
hatten.

Der König Saleh, der mit der Königin, seiner Mutter, und
den Prinzessinnen wieder in seine Meerländer heimgekehrt war, sobald er
gesehen, dass der König Beder die Regierung wieder übernommen hatte, kam nach
Verlauf eines Jahres allein zurück. Der König Beder und die Königin Gülnare
freuten sich, ihn wieder zu sehen.

Eines Abends, nach Tisch, als man abgedeckt und sie allein
gelassen hatte, unterhielten sie sich über mancherlei Dinge.

Unvermerkt kam der König Saleh auf das Lob des Königs,
seines Neffen, und bezeugte der Königin, seiner Schwester, wie sehr er mit der
Weisheit seiner Regierung zufrieden wäre, welche ihm einen so großen Ruhm,
nicht allein bei den benachbarten Königen, sondern selbst bis in die
entferntesten Königreiche erworben hätte. Der König Beder, der sich selber
nicht so rühmen hören mochte, aber auch aus Wohlanständigkeit dem König,
seinem Onkel, nicht Stillschweigen auferlegen wollte, wandte sich auf die Seite,
und stellte sich, als ob er schliefe, indem er den Kopf an ein Kissen hinter ihm
lehnte.

Von den Lobeserhebungen des bewunderungswürdigen
Benehmens und des in allen Dingen überlegenen Geistes des Königs Beder, ging
der König zu denen seiner Gestalt über, und er sprach davon, wie von einem
Wunder, welches nicht seinesgleichen auf Erden, noch in allen ihm bekannten
Reichen unter den Fluten des Meeres hätte. „Meine Schwester,“ rief er
plötzlich aus, „so wie er gebildet ist, und wie du selber ihn siehst,
wundere ich mich, dass du noch nicht daran gedacht hast, ihn zu vermählen.
Gleichwohl, wenn ich mich nicht irre, ist er schon in seinem zwanzigsten Jahr,
und in solchem Alter ziemt es einem Fürsten, wie er ist, nicht mehr ohne eine
Frau zu sein. Ich will selber darauf bedacht sein, weil du nicht daran denkst,
und ihm eine Gemahlin aus unsern Reichen geben, die seiner würdig ist.“

„Mein Bruder,“ erwiderte die Königin Gülnare,
„du erinnerst mich an eine Sache, an welche ich bisher nicht im mindesten
gedacht habe. Weil er noch gar keine Neigung für den Ehestand bezeugt hat, so
habe ich selber auch nicht Acht darauf gehabt, und es ist mir lieb, dass es dir
eingefallen ist, mit mir davon zu reden. Da ich es sehr billige, ihm eine von
unsern Prinzessinnen zu geben, so bitte ich dich, mir eine herzuführen, aber
eine so schöne und vollkommene, dass der König, mein Sohn gezwungen ist, sie
zu lieben.“

„Ich weiß eine solche,“ versetzte der König
Saleh, indem er leiser redete, „aber bevor ich dir sage, wer sie ist, bitte
ich dich, zu sehen, ob der König, mein Neffe, auch schläft. Ich werde dir
sagen, weshalb diese Vorsicht gut ist.“

Die Königin Gülnare drehte sich um, und da sie ihren
Sohn so liegen sah, wie gesagt ist, so zweifelte sie keineswegs, dass er fest
schliefe. Der König Beder indessen, weit entfernt zu schlafen, verdoppelte
seine Aufmerksamkeit, um kein Wort von dem zu verlieren, was der König, sein
Onkel, so geheim zu sagen hätte.

„Du brauchst dir keinen Zwang anzutun,“ sagte
die Königin zu ihrem Bruder, „du kannst frei reden, ohne Furcht, gehört
zu werden.“