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258. Nacht

Der Kalif verließ also, als Bürger verkleidet, mit dem
Großwesir Giafar, und Mesrur, dem Oberhaupt der Verschnittenen, seinen Palast,
und ging durch die Straßen von Bagdad nach dem Garten. Das Tor stand offen,
durch Scheich-Ibrahims Nachlässigkeit, der bei der Rückkehr von der
Weinschenke vergessen hatte, es zuzuschließen. Der Kalif war darüber
ärgerlich, und sagte zu dem Großwesir: „Giafar, was sagst du, dass das
Tor so spät offen steht? Sollte das Scheich-Ibrahims Gewohnheit sein, es so die
Nacht hindurch offen zu lassen? Ich will lieber glauben, dass die Verwirrung des
Festes ihn zu diesem Fehler verleitet hat.“

Der Kalif trat in den Garten, und ging nach dem Saale. Da
er nicht zu demselben hinaufsteigen wollte, bevor er wüsste, was darin
vorginge, beriet er sich mit dem Großwesir, ob er nicht auf einen der zunächst
stehenden Bäume steigen sollte, um hinein zu schauen. Der Großwesir aber
bemerkte, dass die Saaltüre halb offen stand, und sagte es ihm. Scheich-Ibrahim
hatte sie so offen gelassen, als er sich hatte überreden lassen, hinein zu
gehen, und Nureddin und der schönen Perserin Gesellschaft zu leisten.

Der Kalif gab also seinen ersten Vorsatz auf, und stieg
ohne Geräusch bis zur Saaltüre hinan. Diese stand nur so weit offen, dass er
die da drinnen waren, sehen konnte, ohne gesehen zu werden. Seine überraschung
konnte nicht größer sein, als er eine Frau von einer Schönheit ohne Gleichen,
und einen der wohl gebildetesten jungen Männer, und Scheich-Ibrahim mit ihnen am
Tisch sitzen sah.

Scheich-Ibrahim hielt eben die Schale in der Hand, und
sagte zu der schönen Perserin: „Meine schöne Herrin, ein guter Trinker
muss niemals trinken, ohne zuvor sein Liedchen zu singen. Ich habe einmal einen
Dichter sagen hören:

„Trink‘ in großen und kleinen Gefäßen Wein, der
strahlt wie der leuchtende Mond!
Doch trinke nicht ohne Gesang: Denn auch das Pferd wiehert, wenn es sich mit
einem Trunk erquickt.
Gebt mir die Ehre und hört mir zu, es ist eins der artigsten Lieder.“

Scheich-Ibrahim sang nun, und der Kalif war darüber umso
mehr erstaunt, als es ihm bis jetzt unbekannt gewesen, dass der Alte Wein
tränke, und er ihn für einen weisen und gesetzten Mann gehalten hatte, wie er
ihm bisher immer erschienen war.

Er entfernte sich von der Türe wieder mit derselben
Vorsicht, wie er sich genähert hatte, und kam zu dem Großwesir Giafar, der
etliche Stufen tiefer auf der Treppe stehen geblieben war. „Steig
hinauf,“ sagte er zu ihm, „und sieh zu, ob die da drinnen Geistliche
der Moschee sind, wie du mir hast einbilden wollen.“

An dem Ton, womit der Kalif diese Worte aussprach,
erkannte der Großwesir gar wohl, dass die Sache übel abliefe. Er stieg hinauf,
und als er durch die öffnung der Türe hinein sah, zitterte er vor Furcht für
sich selber, da er eben diese Personen erblickte, und die Verfassung, worin sie
sich befanden.

Er kam ganz verwirrt wieder zu dem Kalifen, und wusste
nicht, was er ihm sagen sollte. „Welche Unordnung,“ sprach der Kalif
zu ihm, „dass Leute die Dreistigkeit haben, in meinen Garten und Saal zu
kommen, und sich darin zu erlustigen, und dass Scheich-Ibrahim sie herein
lässt, sie duldet, ja sich mit ihnen lustig macht! Bei alle dem glaube ich
kaum, dass man ein schöneres und stattlicheres junges Paar sehen. Bevor ich
meinen Zorn ausbrechen lasse, will ich mich noch näher unterrichten und wissen,
wer sie sind, und welcher Anlass sie hierher führt.“

Er trat wieder an die Türe, um sie weiter zu beobachten,
und der Wesir, der ihm folgte, blieb hinter ihm stehen, während er hinein
schaute. Sie hörten beide, dass Scheich-Ibrahim zu der schönen Perserin sagte:
„Liebenswürdige Frau, habt ihr noch irgend etwas zu wünschen, was die
Freude dieses Abends erhöhen könnte.“ – „Mich dünkt,“
erwiderte die schöne Perserin, „alles wäre vollkommen, wenn ihr noch ein
Saitenspiel hättet und mir es bringen wolltet.“

„Herrin,“ antwortete Scheich-Ibrahim,
„könnt ihr die Laute spielen?“

„Bringt eine her,“ antwortete die schöne
Perserin, „ihr sollt es hören.“

Ohne weit von seinem Platz zu gehen, nahm Scheich-Ibrahim
eine Laute aus einem Schrank, und überreichte sie der schönen Perserin, die
sogleich anfing, sie zu stimmen.

Der Kalif drehte sich unterdessen nach dem Großwesir um,
und sagte zu ihm: „Giafar, die junge Frau wird auf der Laute spielen.
Spielt sie gut, so will ich ihr verzeihen, desgleichen dem jungen Manne um
ihretwillen. Dich aber lasse ich sicherlich aufhängen.“

„Beherrscher der Gläubigen,“ erwiderte der
Großwesir, „wenn dem so ist, so bitte ich Gott, dass sie schlecht spielen
möge.“

„Warum das?“, fragte der Kalif.

„Je mehr wir unser sind,“ antwortete der
Großwesir, „desto leichter werden wir uns trösten können, in schöner
und guter Gesellschaft zu sterben.“

Der Kalif, der gute Einfälle liebte, lachte über diese
Antwort, dann drehte er sich wider nach der öffnung der Türe und horchte, um
die schöne Perserin spielen zu hören.

Das Vorsiel der schönen Perserin ließ den Kalifen
alsbald erkennen, dass sie meisterhaft spielte. Hierauf fing sie ein Lied an zu
singen, und begleitete ihre wundervolle Stimme mit der Laute: Sie tat dies mit
solcher Kunst und Vollendung, dass der Kalif davon bezaubert wurde.

Sobald die schöne Perserin aufgehört hatte zu singen,
stieg der Kalif die Treppe hinab, und der Wesir Giafar folgte. Als er unten war,
sagte er zu dem Wesir: „Zeit meines Lebens habe ich keine schönere Stimme,
noch besser die Laute spielen gehört. Isaak1),
den ich für den geschicktesten Lautenspieler auf der Welt hielt, kommt ihr
nicht gleich. Ich bin so damit zufrieden, dass ich hineingehen will, um sie in
meiner Gegenwart spielen zu hören: Es fragt sich nur, wie ich dies anstellen
soll.“

„Beherrscher der Gläubigen,“ erwiderte der
Großwesir, „wenn ihr hineingeht und Scheich-Ibrahim euch erkennt, so ist
er vor Schrecken des Todes.“

„Das ist es auch, was ich besorge,“ versetzte
der Kalif, „und es sollte mir Leid tun, die Ursache seines Todes zu sein,
nachdem er mir so lange gedient hat. Mir fällt etwas ein, wodurch es wohl
gelingen kann. Bleib du mit Mesrur hier, und erwartet in dem nächsten Baumgang
meine Rückkunft.“


1)
Isaak war ein berühmter Lautenspieler zu Bagdad unter der Regierung des Kalifen
Harun Arreschyd.