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252. Nacht

Nureddin ließ sich den ganzen Tag nicht sehen. Er wagte
es selbst nicht, bei einem der jungen Leute seines Alters, mit denen er umging,
eine Zuflucht zu suchen, aus Furcht, sein Vater ließe dort ihm nachspüren. Er
ging aus der Stadt, und flüchtete sich in einen Garten, wo er sonst nie
hineingegangen und bekannt war. Erst sehr spät kam er nach Hause, als er
wusste, dass sein Vater sich schon in sein Zimmer begeben hatte, und ließ sich
durch die Frauen seiner Mutter öffnen, welche ihn ohne Geräusch einließen. Am
folgenden Morgen ging er wieder aus, ehe sein Vater aufgestanden war und so war
er genötigt, einen ganzen Monat dieselbe Vorsicht zu gebrauchen, zu seiner
empfindlichsten Kränkung. Denn die Frauen schmeichelten ihm nicht, sondern
erklärten ihm gerade heraus, dass der Wesir, sein Vater, in demselben Zorn
verharrte und beteuerte, dass er ihn töten würde, wenn er ihm vor Augen käme.

Die Gemahlin des Wesirs wusste durch ihre Frauen, dass
Nureddin jeden Tag nach Hause kam. Sie wagte es aber nicht, ihren Gemahl um
Verzeihung für ihn zu bitten. Endlich fasste sie sich ein Herz, und sprach
eines Tages zu ihm: „Herr, ich habe es bisher nicht gewagt, mir die
Freiheit zu nehmen, mit euch von eurem Sohn zu sprechen. Jetzt bitte ich euch um
die Erlaubnis, euch zu fragen, was ihr mit ihm zu machen gedenkt. Kein Sohn kann
schuldiger gegen einen Vater sein, als es Nureddin gegen euch ist. Er hat euch
der großen Ehre und Genugtuung beraubt, dem König eine so vollkommene Sklavin,
wie die schöne Perserin, darzubringen, ich gestehe es: Aber was ist nach dem
allen eure Absicht? Wollt ihr ihn durchaus umbringen? Anstatt eines Unglücks,
woran ihr nicht mehr denken solltet, würdet ihr euch an anderes, viel
größeres zuziehen, woran ihr vielleicht nicht denkt. Fürchtet ihr nicht, dass
die Welt, die böse ist, bei der Nachforschung, warum euer Sohn vor euch flieht,
die wahre Ursache errate, welche ihr so verborgen halten wollt? Wenn das
geschähe, so würdet ihr gerade in das Unglück stürzen, welches ihr so
angelegentlich zu vermeiden strebt.“

„Liebe Frau,“ erwiderte der Wesir, „was ihr
da sagt, ist verständig. Aber ich kann mich nicht entschließen, Nureddin zu
verzeihen, ohne ihn nach Verdienst bestraft zu haben.“

„Er wird genügend bestraft,“ versetzte die
Frau, „wenn ihr tut, was mir eben einfällt. Euer Sohn kommt jede Nacht
nach Hause, wenn ihr schon in eurem Schlafgemach seid. Er schläft hier, und
geht wieder aus, ehe ihr aufgestanden seid. Ergreift ihn diesen Abend bei seiner
Ankunft, und stellt euch, als wenn ihr ihn töten wollt: Ich werde ihm zu Hilfe
kommen. Indem ihr ihm, wie auf meine bitte, das Leben schenkt, nötigt ihn, die
schöne Perserin auf solche Bedingungen zu nehmen, wie es euch gefällt. Er
liebt sie, und ich weiß, dass die schöne Perserin ihn nicht hasst.“

Chakan befolgte gern diesen Rat. Demnach stellte er sich
hinter die Türe, bevor man sie Nureddin bei seiner Ankunft zur gewöhnlichen
Stunde öffnete, und sobald dieser eintrat, fiel er über ihn her und warf ihn
unter seine Füße. Nureddin drehte den Kopf um, und erkannte seinen Vater mit
dem Dolch in der Hand, im Begriff ihm das Leben zu nehmen.

In diesem Augenblick kam Nureddins Mutter dazu, und indem
sie den Arm des Wesirs zurückhielt, rief sie aus: „Was wollt ihr tun,
Herr?“

„Lasst mich los,“ entgegnete der Wesir,
„damit ich diesen unwürdigen Sohn töte!“

„Ach, Herr,“ fuhr die Mutter fort, „tötet
lieber mich selber: Ich werde niemals zugeben, dass ihr eure Hand in euer
eigenes Blut taucht!“

Nureddin benutzte diesen Augenblick, und mit Tränen in
den Augen rief er aus: „Mein Vater, ich flehe eure Gnade und euer Erbarmen
an. Gewährt mir die Verzeihung, um welche ich euch im Namen desjenigen bitte,
von dem ihr sie an dem Tag erwartet, wo wir einst alle vor ihm erscheinen
werden.“

Er fügte noch folgende Verse hinzu:

„Erlass mir meine Schuld, denn die Langmütigen
vergeben den Verbrechern ihr Vergehen.
Ich gestehe wohl, mehrere Untugenden zu besitzen: Möchtest du aber auch die
schöne Tugend der Langmut an mir ausüben!
Bedenke, dass derjenige, der da Verzeihung hofft von dem, der über ihm ist,
auch denjenigen ihre Schuld verzeihen muss, die unter ihm sind.“

Chakan ließ sich den Dolch aus der Hand winden, und
sobald er ihn losgelassen hatte, warf sich Nureddin zu seinen Füßen und
küsste sie ihm, zum Zeichen, wie sehr es ihn gereute, ihn beleidigt zu haben.

„Nureddin,“ sprach der Vater zu ihm, „danke
deiner Mutter: Ich verzeihe dir ihr zu Liebe. Ich will dir sogar die schöne
Perserin geben, aber unter der Bedingung, dass du mir eidlich versprichst, sie
nicht als eine Sklavin, sondern als deine Gemahlin anzusehen, das heißt, dass
du sie niemals verkaufst und selbst auch nicht verstößt. Da sie Verstand und
Geist und Lebensart hat, unendlich viel mehr, als du, so bin ich überzeugt,
dass sie diesen jugendlichen ungestüm mäßigen wird, der dich zu Grunde
richten kann.“

Nureddin hatte nicht gewagt, zu hoffen, dass er mit
solcher Milde behandelt würde. Er dankte seinem Vater mit aller ersinnlichen
Erkenntlichkeit, und leistete ihm von Herzen gern den Eid, welchen er von ihm
verlangte.

Beide, die schöne Perserin und er, waren sehr zufrieden
miteinander, und der Vater war sehr vergnügt über ihre herzliche Einigkeit.

Der Wesir Chakan wartete nicht ab, bis der König von dem
ihm erteilten Auftrag mit ihm spräche. Er war sehr beflissen, selber ihn öfter
davon zu unterhalten und ihm die Schwierigkeiten bemerkbar zu machen, welche er
fände, sich desselben zur Zufriedenheit Seiner Majestät zu entledigen. Kurz,
er wusste es so geschickt einzurichten, dass der König unvermerkt nicht mehr
daran dachte.

Sawy hatte gleichwohl etwas von dem erfahren, was
vorgegangen war, aber Chakan war so weit in der Gunst des Königs voraus, dass
er nicht davon zu sprechen wagte.

Es war über ein Jahr, dass dieser so kitzlige Handel
glücklicher abgelaufen war, als der Wesir anfangs geglaubt hatte, als er ins
Bad ging, und ein dringendes Geschäft ihn nötigte, es noch ganz erhitzt zu
verlassen. Die etwas kalte Luft schlug ihm auf die Brust und verursachte ihm ein
heftiges Flussfieber, das ihn zwang, sich zu Bett zu legen. Die Krankheit nahm
zu und als er fühlte, dass der letzte Augenblick seines Lebens nicht mehr fern
wäre, sprach er folgendermaßen zu Nureddin, der sein Bett nicht verließ:

„Mein Sohn, ich weiß nicht, ob ich den rechten
Gebrauch von den großen Reichtümern gemacht habe, die Gott mir verliehen hat.
Du siehst, sie helfen mir nichts, um mich von dem Tod zu befreien. Das einige,
warum ich sterbend dich noch bitte, ist, dass du dein mir gegebenes Versprechen
in Betreff der schönen Perserin haltest. Ich sterbe zufrieden, mit dem
Vertrauen, dass du es nicht vergessen wirst.“ – Zuletzt sprach er noch:

Ich gedenke folgender Verse eines Dichters, der da sagt:

„Ich fühle meinen Tod: Gepriesen sei der, der nie
stirbt! Ich kann dem Tod nicht entgehen.

Wahrlich derjenige ist kein Herr, über den der Tod
Herrschaft ausübt: Aber der ist der Herr aller Herren, der nie stirbt!“

Dies waren die letzten Worte, welche der Wesir Chakan
sprach. Er verschied wenige Augenblicke danach, und versetzte sein Haus, den Hof
und die Stadt in unaussprechliche Trauer. Der König betrauerte ihn, als einen
weisen, eifrigen und treuen Minister und die ganze Stadt beweinte ihn als ihren
Beschützer und Wohltäter. Niemals wird in Balsora ein ehrenvolleres
Leichenbegängnis gesehen. Die Wesire, die Emire und alle Großen des Hofes
insgesamt, beeiferten sich, einer nach dem andern seinen Sarg auf den Schultern
bis zur Begräbnisstätte zu tragen. Alle Bewohner der Stadt, von den Reichsten
bis zu den ärmsten, gaben ihm mit Tränen das Geleit.

Als der Leichnam mit Erde bedeckt war, sprach einer der
Begleitenden folgende Verse aus:

„Am Donnerstag verließ ich meine Freunde, und man
wusch mich auf dem Waschgerüst.
Nachdem man mir meine Kleider, mit denen ich bedeckt war, ausgezogen hatte,
legte man mir ein Gewand an, welches nicht das meinige war.
Auf den Nacken von vier Leuten wurde ich zum Gebetsort getragen, woselbst einige
für mich beteten. – Ja, betet für mich, ihr alle, die ihr meine Freunde wart!

Endlich brachten sie mich in ein gewölbtes Gemäuer, an welchem die Zeit
vorübergeht, und dessen Türe nicht mehr geöffnet wird.“

Als sich die Begleitung entfernt, und Nureddin sich nach
Hause begeben hatte, gedachte er folgender Verse eines Dichters:

„An einem Donnerstag Abends ist er für immer
geschieden, und ich habe ihn begleitet.
Auch sein Geist folgte ihm nach. Diesem rief ich zu: „Kehre in ihn zurück,
oh teure Seele!“ –
„Wie soll ich,“ wurde mir geantwortet, „in meinen Leib
zurückkehren, an dem kein Fleisch und Blut ist, an dem sich nichts als trockene
Gebeine finden?
Dessen Auge häufige Tränen blind gemacht haben, und dessen nunmehr taube Ohren
einst so viel Tadel hören mussten?“

Nureddin gab auch auf alle Weise die tiefe Betrübnis zu
erkennen, welche dieser Verlust ihm verursachen musste. Er ließ sich lange Zeit
von niemand sehen.

Eines Tages endlich erlaubte er, einen von seinen
vertrauten Freunden hereinzulassen. Dieser Freund bemühte sich, ihn zu
trösten. Da er ihn geneigt fand, ihn anzuhören, so stellte er ihm vor: Nachdem
er dem Andenken seines Vaters alle schuldige Ehre erwiesen, und vollständig
alles erfüllt hätte, was der Wohlstand erheischte, so wäre es nunmehr Zeit,
dass er wieder in der Welt erschiene, seine Freunde besuchte, und den Rang
behauptete, welchen seine Geburt und seine Verdienste ihm erworben hätten.
„Wir würden,“ fügte er hinzu, „gegen die Gesetze der Natur, und
selbst gegen die bürgerlichen Gesetze sündigen, wenn wir unsern Vätern nach
ihrem Tod nicht die Pflichten der kindlichen Zärtlichkeit leisteten, und man
würde uns für gefühllos halten. Aber wenn wir uns derselben entledigt haben
und man uns deshalb keinen Vorwurf mehr machen kann, so sind wir verpflichtet,
die vorige Lebensweise wieder anzufangen und in der Welt zu leben, wie man eben
darin lebt. Trocknet also eure Tränen, und nehmt wieder dies fröhliche Wesen
an, welches stets überall Freude verbreitet hat, wo ihr hingekommen seid.“

Der Rat dieses Freundes war sehr vernünftig und Nureddin
würde alle Unglücksfälle vermieden haben, wenn er ihn ganz so regelmäßig,
wie er erforderte, erfolgt hätte. Er ließ sich ohne Mühe bereden. Er
bewirtete sogar seinen Freund und als dieser sich entfernen wollte, bat er ihn,
den folgenden Tag wiederzukommen, und drei oder vier ihrer gemeinschaftlichen
Freunde mitzubringen.

Allmählich bildete er sich eine Gesellschaft von zehn
Freunden, alle ungefähr im demselben Alter, und verlebte mit ihnen die Zeit in
steten Festen und Lustbarkeiten. Es verging sogar kein Tag, an welchem er nicht
jeden mit einem Geschenk heimgehen ließ.

Manchmal, um seinen Freunden mehr Vergnügen zu machen,
ließ Nureddin die schöne Perserin kommen. Sie hatte die Gefälligkeit, ihm zu
gehorchen, aber sie billigte nicht diese übermäßige Verschwendung. Sie sagte
ihm hierüber ihre Meinung frei heraus: „Ich zweifle nicht,“ sprach
sie, „dass der Wesir, euer Vater, euch große Reichtümer hinterlassen hat:
Aber wie groß sie auch sein mögen, nehmt nicht übel, wenn eine Sklavin euch
vorstellt, dass ihr bald das Ende davon sehen werdet, wenn ihr fortfahrt, dieses
Leben zu führen. Man kann manchmal seine Freunde bewirten und sich mit ihnen
erlustigen, aber eine tägliche Gewohnheit daraus machen, heißt die breite
Heerstraße in das tiefste Elend hinab rennen. Für eure Ehre und für euren Ruf
würdet ihr viel besser tun, den Fußstapfen eures seligen Vaters zu folgen, und
euch in den Stand zu setzen, um auch zu den Würden zu gelangen, welche ihm so
viel Ehre erworben haben.“

Nureddin hörte die schöne Perserin lächelnd an und als
sie geendigt hatte, entgegnete er, indem er fort fuhr zu lächeln: „Meine
Schöne, lassen wir dies Gespräch beiseite. Reden wir nur davon, wie wir uns
ergötzen wollen. Mein seliger Vater hat mich stets in großem Zwang gehalten:
Ich freue mich, endlich der Freiheit zu genießen, nach welcher ich vor seinem
Tod so lange geschmachtet habe. Ich habe noch immer Zeit genug, mich zu einem
regelmäßigen Leben zu bequemen, wie ihr mir ratet. Ein Mensch meines Alters
muss sich Zeit nehmen, die Freuden der Jugend zu genießen.