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240. Nacht

„Herr, nimmer glich ein Schmerz demjenigen, den
Kamaralsaman bezeigte, sobald er aus der Ohnmacht wieder zu sich kam. „Was
hast du getan, grausamer Vater?“, rief er aus, „du hast deine eigenen
Kinder gemordet! Meine armen Söhne! Ihre Weisheit, ihre Bescheidenheit, ihr
Gehorsam, ihre Unterwerfung unter jeglichen deinen Willen, ihre Tugenden,
sprachen sie bei dir nicht laut genug zu ihrer Verteidigung? Verdienst du wohl,
dass die Erde dich noch trägt, nach einem so scheußlichen Verbrechen? – Ich
habe mich selber in diese Schmach gestürzt, und es ist die Strafe Gottes, die
mich trifft, dass ich nicht in dem Abscheu gegen die Weiber beharrte, mit
welchem ich geboren wurde. Ich will euer Verbrechen nicht durch euer Blut
abwaschen, ihr abscheulichen Weiber! Nein, ihr seid meines Zorns nicht würdig.
Aber der Zorn des Himmels möge mich treffen, wenn ich euch jemals
wieder sehe!“

Der König Kamaralsaman hielt seinen Eid gewissenhaft. Er
ließ denselben Tag noch die beiden Königinnen in ein abgesondertes Zimmer
bringen, worin sie unter strenger Aufsicht blieben, und sein Leben lang nahte er
sich ihnen nicht mehr.

Während der König Kamaralsaman sich so über den Verlust
der beiden Prinzen, seiner Söhne, betrübte, irrten diese in den Wüsten umher,
indem sie vermieden, bewohnten Gegenden zu nahen und irgend einem Menschen zu
begegnen. Sie lebten nur von Kräutern und wilden Früchten, und tranken nur
trübes Regenwasser, das sie in den Felsenhöhlungen fanden. Während der Nacht
schliefen und wachten sie wechselweise, um sich vor den wilden Tieren zu
schützen.

Nach Verlauf eines Monats gelangten sie an den Fuß eines
furchtbaren Berges, ganz von schwarzem Gestein, und wie es schien, unersteigbar.
Sie bemerkten dennoch einen betretenen Weg, aber er war so schmal und steil,
dass sie nicht wagten, sich darauf einzulassen. In der Hoffnung, einen minder
rauen Weg zu finden, gingen sie am Fuß des Berges hin, und wanderten so fünf
Tage lang fort, aber ihre Mühe war vergeblich: Sie waren genötigt, zu dem
vorher verschmähten Weg zurückzukehren. Sie fanden ihn so wenig gangbar, dass
sie lange überlegungen anstellten, ehe sie sich entschlossen, ihn zu betreten.
Endlich ermutigten sie sich, und stiegen hinauf.

Je weiter die beiden Prinzen kamen, je höher und
schroffer schien ihnen der Berg, und sie waren mehrmals in Versuchung, ihr
Unternehmen aufzugeben. Wenn der eine müde war, und der andere es bemerkte, so
stand er still, und beide schöpften wieder Atem. Manchmal waren alle beide so
ermüdet, dass ihnen die Kräfte versagten: Dann gedachten sie nicht weiter
steigen zu können, sondern vor Mattigkeit und Erschöpfung zu sterben. Wenn sie
aber nach einigen Augenblicken ihre Kräfte ein wenig zurückkehren fühlten,
fassten sie sich wieder Mut und setzten ihren Weg fort.

Trotz ihrer Arbeit, ihrer Beharrlichkeit und ihren
Anstrengungen, war es ihnen doch nicht möglich, mit dem Ende des Tages den
Gipfel zu erreichen. Die Nacht überfiel sie, und der Prinz Assad fühlte sich
so ermüdet und seine Kräfte so erschöpft, dass er stehen blieb: „Mein
Bruder,“ sagte er zum Prinzen Amgiad, „ich kann nicht mehr, ich muss
den Geist aufgeben.“ – „Wir wollen uns ausruhen, so lange es dir
gefällt,“ erwiderte Amgiad, indem er mit ihm stehen blieb, „und lass
den Mut nicht sinken. Du siehst, wir haben nicht mehr viel zu steigen, und der
Mond ist uns günstig.“

Nach einer guten halben Stunde Ruhe machte Assad einen
neuen Ansatz. Endlich erreichten sie den Gipfel des Berges, wo sie abermals
ausruhten.

Amgiad stand zuerst wieder auf, und sah vor sich in
geringer Entfernung einen Baum. Er ging bis dahin, und fand einen Granatbaum mit
reichen Früchten beladen, und am Fuß desselben eine Quelle. Er lief zurück zu
Assad, verkündigte ihm die gute Neuigkeit, und führte ihn unter den Baum bei
der Quelle. Sie erquickten sich, aßen jeder eine Granate, und schliefen ein.

Als am folgenden Morgen die Prinzen erwacht waren, sagte
Amgiad zu Assad: „Auf, mein Bruder, lass uns unsern Weg fortsetzen, ich
sehe, dass der Berg auf dieser Seite viel gemächlicher ist, als auf der andern,
und wir dürfen nur hinabsteigen.“

Aber Assad war von der Anstrengung des vorigen Tages
dermaßen ermüdet, dass er nicht weniger als drei Tage bedurfte, um sich
völlig herzustellen. Sie unterhielten sich, wie sie schon mehrmals getan
hatten, von der unnatürlichen Liebe ihrer Mütter, welche sie in diesen
bejammernswürdigen Zustand versetzt hatte. „Aber,“ sagten sie,
„da Gott sich auf so sichtbare Weise unser angenommen hat, so müssen wir
alle unsere Leiden mit Geduld ertragen, und uns mit der Hoffnung trösten, dass
er ihnen endlich ein Ziel setzen wird.“

Nach Verlauf der drei Tage machten die beiden Brüder sich
wieder auf den Weg. Da das Gebirge von dieser Seite sich in mehreren weiten
Gefilden abstufte, so gebrachten sie fünf Tage, bevor sie in die Ebene kamen.
Endlich entdeckten sie mit vieler Freude eine große Stadt. „Mein
Bruder,“ sagte hierauf Amgiad zu Assad, „bist du mit mir derselben
Meinung, so bleib hier außerhalb der Stadt an irgend einem Ort, wo ich dich
wieder finde, während ich auf Kundschaft hineingehe, um zu erfahren, wie die
Stadt heißt, und in welchem Land wir sind. Auch werde ich dafür sorgen,
Lebensmittel mitzubringen. Es ist ratsam, dass wir nicht sogleich alle beide
hineingehen, wenn etwa Gefahr zu fürchten wäre.“

„Mein Bruder,“ versetzte Assad, „ich
billige ganz deinen Rat, er ist weise und vorsichtig, wenn aber einer von uns
beiden allein hinein gehen soll, so werde ich nie zugeben, dass du es bist,
sonder du wirst erlauben, dass ich es übernehme. Welcher Schmerz würde es für
mich sein, wenn dir ein Unglück begegnete.“

„Aber mein Bruder,“ entgegnete Amgiad,
„dasselbe, was du für mich fürchtest, muss ich für dich fürchten. Ich
bitte dich, mich gewähren zu lassen, und mich mit Geduld zu erwarten.“

„Ich werde es nie zugeben,“ erwiderte Assad,
„und wenn mir etwas zustößt, so habe ich doch den Trost, zu wissen, dass
du in Sicherheit bist.“

Amgiad war genötigt, nachzugeben, und blieb unter den
Bäumen am Fuß des Berges.