Project Description

231. Nacht

„Herr, der Prinz Kamaralsaman, durch Marsawan von
allem unterrichtet, was er tun sollte, und mit allem versehen, was zu einem
Sterndeuter und dessen Kleidung gehörte, ging bis an das Tor des Palastes des
Königs von China. Hier stand er still und rief, in Gegenwart der Wache und der
Türhüter, mit lauter Stimme aus:

„Ich bin ein Sterndeuter, und komme zur Heilung der
erhabenen Prinzessin Badur, Tochter des großmächtigen Herrschers Ghaïur,
Königs von China, unter den von Seiner Majestät bestimmten Bedingungen,
nämlich, sie zu heiraten, wenn es mir gelingt, oder das Leben zu verlieren,
wenn es mir misslingt.“

Außer der Wache und den Türhütern des Königs,
versammelte diese Neuigkeit auch in einem Augenblick eine unzählige Volksmenge
um den Prinzen Kamaralsaman. Denn es war schon lange Zeit vergangen, dass sich
weder Arzt, noch Sterndeuter, noch Zauberer gemeldet hatten, nachdem so viele in
dieser Unternehmung verunglückt waren, und durch ihr tragisches Beispiel
abschreckten. Man glaubte, es gäbe nicht mehr dergleichen Leute in der Welt,
oder doch nicht so törichte.

Bei dem guten Aussehen des Prinzen, seinem edlen Anstand,
und der großen Jugend, die sein Antlitz verriet, war keiner, dessen Mitleid er
nicht erregte. „Wo denkt ihr hin, Herr?“, sagten die ihm zunächst
stehenden zu ihm. „Welche Raserei treibt euch, ein Leben, das so schöne
Hoffnungen verheißt, einem gewissen Tode auszusetzen? Die abgehauenen Häupter,
die ihr über den Toren gesehen, haben sie euch nicht abgeschreckt? Um Gottes
willen gebt diesen verzweifelten Vorsatz auf, und entfernt euch.“

Der Prinz Kamaralsaman blieb standhaft bei allen diesen
Vorstellungen und als er niemand kommen sah, ihn hinein zu führen, so
wiederholte er, anstatt auf diese Ermahnung zu achten, denselben Ausruf, mit
einer Zuversicht, die alle mit Grauen erfüllte und alle riefen nun aus:
„Er ist entschlossen zu sterben: Gott erbarme sich seiner Jugend und seiner
Seele!“

Er rief mit lauter Stimme zum dritten Male, und endlich
kam der Großwesir selber im Namen des Königs von China.

Dieser Minister führte Kamaralsaman vor den König.
Sobald der Prinz diesen, auf seinem Thron sitzend, erblickte, warf er sich
nieder und küsste den Boden vor ihm. Der König, der unter allen, deren
übermäßiger Ehrgeiz ihre Häupter zu seinen Füßen brachte, noch keinen
seiner Aufmerksamkeit würdig befunden, hatte ein wahrhaftes Mitleid mit
Kamaralsaman. Er erzeigte ihm auch mehr Ehre, ließ ihn näher treten und sich
neben ihm setzen: „Jüngling,“ sagte er zu ihm, „ich kann kaum
glauben, dass du in deinem Alter dir schon Erfahrung genug erworben habest, um
es zu wagen, die Heilung meiner Tochter zu unternehmen. Ich wünschte, dass es
dir gelänge, und würde sie dir nicht allein ohne Widerwillen, sondern sogar
mit der größten Freude von der Welt zur Gemahlin geben, anstatt, dass ich sie
einem jeglichen von denen, die vor dir hergekommen sind, nur mit großem
Missvergnügen gegeben hätte. Aber ich erkläre dir mit großem Schmerz, dass,
wenn es dir fehlschlägt, deine große Jugend und dein edles Wesen mich doch
nicht abhalten sollen, dir den Kopf abhauen zu lassen.“

„Herr,“ erwiderte Kamaralsaman, „ich danke
Euer Majestät unendlich für die mir erwiesene Ehre und für so viel Güte
gegen einen Unbekannten. Ich bin aber aus einem so weit entlegenen Lande, dass
vielleicht sein Name nicht einmal in eurem Reich bekannt ist, nicht gekommen, um
die Absicht, die mich hergebracht hat, unausgeführt zu lassen. Was würde man
von meinem Leichtsinn sagen, wenn ich, nach so viel überstandenen
Mühseligkeiten und Gefahren, ein so ruhmwürdiges Unternehmen aufgebe? Würde
Euer Majestät selber nicht die Achtung verlieren, die sie jetzt für mich
gefasst hat? Wenn ich sterben muss, Herr, so sterbe ich doch mit der Genugtuung,
diese mir erworbene Achtung nicht wieder verloren zu haben. Ich flehe euch also,
lasst mich nicht länger in der Ungeduld, die Sicherheit meiner Kunst durch
einen Beweis darzutun, den ich bereit bin, davon abzulegen.“

Der König von China befahl nun dem die Prinzessin Badur
bewachenden Verschnittenen, der gegenwärtig war, den Prinzen Kamaralsaman zu
der Prinzessin, seiner Tochter, zu führen. Bevor er ihn weggehen ließ, sagte
er ihm, dass es ihm noch freistünde, die Unternehmung aufzugeben. Aber der
Prinz hörte nicht darauf, sondern folgte dem Verschnittenen mit einer
erstaunlichen Entschlossenheit oder vielmehr Hitze.

Der Verschnittene führte den Prinzen Kamaralsaman hin.
Als sie in eine lange Galerie kamen, an deren Ende das Gemach der Prinzessin
war, und der Prinz sich derjenigen so nahe sah, die ihm so viel Tränen
gekostet, und nach welcher er so lange unaufhörlich geseufzt hatte, da
beschleunigte er seine Schritte, und eilte dem Verschnittenen zuvor.

Der Verschnittene eilte ihm nach, und konnte ihn kaum
wieder einholen. „Wo lauft ihr denn so eilig hin?“, sprach er zu ihm,
indem er ihn beim Arm festhielt. „Ihr könnt doch ohne mich nicht hinein.
Ihr müsst wohl große Lust zu sterben haben, da ihr so eilig in den Tod rennt.
Nicht einer von so vielen Sterndeutern, die ich hier gesehen und dahin geführt
habe, wo ihr nur zu früh hinkommen werdet, hat eine solche Eile bezeigt.“

Der Prinz Kamaralsaman sah den Verschnittenen an, und
sprach folgende Verse aus, indem er seine Gedanken auf die Prinzessin Badur
richtete:

„Ich kenne alle deine Schönheiten, sie haben mich
fast des Verstandes beraubt, und ganz bezaubert, und ich weiß nicht, was ich
sagen soll.

Wenn ich dich Vollmond (Beder) nenne, so ist der Ausdruck unrichtig, denn die
Vollmonde (Badur1))
sind dem Abnehmen unterworfen, deine Schönheit aber bleibt stets unvermindert.

Nenne ich dich Sonne? So weiß ich, dass deine Schönheit nie von meinen Augen
weicht, während die Sonne sich bei Sonnenfinsternissen meinen Blicken entzieht.

Vollkommen, ohne Mangel, sind deine Schönheiten: Sie zu beschreiben ist der
Beredsamste unfähig, und der Verständigste zu schwach!“ –

„Mein Freund,“ fuhr der Prinz fort, indem er
sich zu dem Verschnittenen wandte, und in seinem Schritt fort ging, „Die
Sterndeuter, von denen du redest, waren ihrer Kunst nicht gewiss, wie ich es der
meinigen bin. Sie wussten wohl mit Gewissheit, dass sie das Leben verlieren
würden, wenn es ihnen misslänge, aber nicht, dass es ihnen gelingen würde.
Deshalb hatten sie Ursache zu zittern, indem sie dem Orte nahten, wohin ich
jetzt gehe, und wo ich gewiss bin, mein Glück zu finden.“

Bei diesen Worten erreichten sie die Türe. Der
Verschnittene öffnete sie, und führte den Prinzen in einen großen Saal, von
wo man in das Zimmer der Prinzessin trat, welches nur durch einen Türvorhang
geschlossen war.

Der Prinz Kamaralsaman stand hier, bevor er eintrat, noch
still, und indem er etwas leiser sprach, als bisher, damit er im Zimmer der
Prinzessin nicht gehört würde, sagte er zu dem Verschnittenen: „Um dich
zu überzeugen, dass weder Anmaßung, noch Eigensinn, noch jugendliche Hitze bei
meinem Unternehmen obwalten, so lasse ich dir die Wahl: Willst du lieber, dass
ich die Prinzessin in deiner Gegenwart heile, oder von hier aus, ohne weiter zu
gehen und ohne sie zu sehen?“

Der Verschnittene war höchst erstaunt über die
Zuversicht, mit welcher der Prinz zu ihm sprach. Er hörte auf, ihn zu
verspotten, und sagte ernsthaft zu ihm: „Es ist gleichviel, ob hier oder
dort. Auf welche Weise es auch geschehe, ihr werdet euch einen unsterblichen
Ruhm erwerben, nicht allein an diesem Hof, sondern sogar auf der ganzen
bewohnten Erde.“

„Es ist also besser,“ fuhr der Prinz fort,
„wenn ich die Prinzessin heile, ohne sie zu sehen, damit du von meiner
Geschicklichkeit Zeugnis ablegst. Wie groß auch meine Ungeduld ist, eine so
erhabene Prinzessin zu sehen, die mir zur Gemahlin bestimmt ist, dennoch weil
ich um deinetwillen mich noch einige Augenblicke dieses Vergnügens
berauben.“

Da er mit allem versehen war, was zu einem Sterndeuter
gehört, zog er sein Schreibzeug hervor, und schrieb folgenden Brief an die
Prinzessin von China:

Brief
des Prinzen Kamaralsaman an die Prinzessin Badur

„Gegenwärtig ist der Brief eines Menschen, den
Unglück verfolgt, den unglückliche Liebe verzehrt, den Trostlosigkeit und
Kummer vor Sehnsucht vernichtet: Am Leben möchte er verzweifeln und den Tod
für gewiss halten! Für sein betrübtes Herz ist keine Hilfe, wegen des all zu
großen Grams, und für sein stets wachendes Auge ist kein Ruhe, wegen des
übergroßen Kummers. Den Tag über ist er in Flammen, während der Nacht in
Qualen. Sein Unglück flößt ihm folgende Worte ein:

Ich schreibe dir mit einem Herzen, welches von deinem
Andenken schmerzlich erfüllt ist, und mit Augen, welche die Sehnsucht
ausgetrocknet hat, denn sonst würden sie weinen können.

Mit einem Leibe, dessen tägliches Gewand der Schmerz der heftigsten Liebe
geworden ist2),
so dass meine gewöhnlichen Kleider mir nicht mehr anpassen3).

Die Liebe selbst klage ich an wegen dessen, was sie mir getan hat, denn länger
kann ich ihre Schläge nicht mehr ertragen.

Sei doch endlich geneigt gegen mich, erbarme dich mein, sei mir günstig, nimm
in deinen Schutz einen Jüngling, dessen Innerstes schon ganz zerstört
ist.“

Unter diesen Brief schrieb er noch Folgendes:

„Heilung der Herzen ist nur bei Wiedervereinigung der
Geliebten, und die schrecklichste der Qualen ist die Trennung der Liebenden. Wer
seinen Geliebten hintergeht, von dem wird Gott Rechenschaft fordern. Wer von uns
beiden sein Gelübde nicht hält, möge der nie seine Wünsche erreichen! – Von
dem erhältst du diesen Brief, der sich nicht zu nennen braucht, um erkannt zu
werden. An die Schönste und Lieblichste der Mädchen ist er gerichtet, vom
treuen Liebenden an die Perle der Jungfrauen. Ihr sende ich einen Gruß. Ihr
wünsche ich Heil und Segen aus den unerschöpflichen Quellen der Wohltaten
Gottes. Ihr, bei der mein Herz und meine Seele ist!“

Von außen schrieb er auf diesen Brief noch folgende
Verse:

„Forsche in meinem Brief und in meinen Schriftzügen
nach. Sie werden dich von meinem Zustand und meinen Leiden benachrichtigen.

Während meine Hand schrieb, rannen die Tränen aus meinen Augen auf das Papier,
wo meine Feder diese Spuren meines Schmerzes antraf.

Sei mir also huldreich, gewogen und günstig! Ich sende dir hiermit deinen Ring,
sende du mir auch den meinigen.“

Als der Prinz Kamaralsaman den Brief vollende hatte,
machte er daraus ein Päckchen mit dem Ring der Prinzessin, welchen er darin
wickelte, ohne den Verschnittenen sehen zu lassen, was es wäre, und indem er es
ihm übergab, sagte er zu ihm: „Hier, Freund, nimm dies Päckchen und
bringe es deiner Gebieterin. Wenn sie nicht augenblicklich geheilt ist, sobald
sie diesen Brief gelesen, und gesehen hat, was darin liegt, so erlaube ich dir,
öffentlich kund zu machen, dass ich der nichtswürdigste und unverschämteste
aller Sterndeuter bin, die je gewesen sind, noch sind, und sein werden …“

Der Tag, den die Sultanin Scheherasade bei diesen Worten
anbrechen sah, nötigte sie, hier stehen zu bleiben. Sie fuhr in der folgenden
Nacht fort, und sprach zu dem Sultan von Indien:


1)
Badûr ist die Mehrzahl von Beder, und bedeutet Vollmond.
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2)
Nämlich Magerkeit.
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3)
Weil sie zu weit geworden sind.
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