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229. Nacht

„Herr, obwohl die Amme, Marsawans Mutter, sehr
beschäftigt bei der Prinzessin von China war, so hatte sie doch nicht sobald
vernommen, dass ihr lieber Sohn wieder daheim wäre, als sie die Zeit wahrnahm
hin zu gehen, ihn zu umarmen und sich einige Augenblicke mit ihm zu unterhalten.

Nachdem sie ihm, mit Tränen in den Augen, den kläglichen
Zustand der Prinzessin, und die Ursache, dass der König von China, ihr Vater,
sie also behandelte, erzählt hatte, fragte Marsawan, ob sie ihm nicht dazu
verhelfen könnte, sie heimlich zu sehen, ohne dass der König etwas davon
erführe? Nachdem die Amme einige Augenblicke darüber nachgedacht hatte, sagte
sie zu ihm:

„Mein Sohn, ich kann dir jetzt darüber nichts
bestimmtes sagen: Aber erwarte mich morgen um dieselbe Stunde, und ich werde dir
Antwort bringen.“

Da nun, außer der Amme, niemand sich der Prinzessin
nähern durfte, ohne Erlaubnis des Verschnittenen, der die Wache an der Türe
befehligte, und die Amme wohl wusste, dass dieser erst kurze Zeit im Dienst, und
ihm noch unbekannt war, was am Hofe des Königs von China vorgegangen, so wandte
sie sich an diesen, und sprach zu ihm:

„Ihr wisst, dass ich die Prinzessin gesäugt und
aufgezogen habe, aber vielleicht wisst ihr nicht, dass ich sie zugleich mit
einer Tochter von gleichem Alter gesäugt, die ich kürzlich verheiratet habe.
Die Prinzessin, welche sie noch immer mit ihrer Liebe beehrt, möchte sie gern
sehen, aber sie wünscht es auf solche Weise, dass niemand sie weder herein noch
hinaus gehen sehe.“

Die Amme wollte noch weiter reden, aber der Verschnittene
unterbrach sie und sagte zu ihr: „Schon genug. Ich werde immer mit
Vergnügen alles mögliche tun, der Prinzessin gefällig zu sein: Lasst eure
Tochter kommen, oder holt sie selber, wenn es Nacht ist, und führt sie herein,
nachdem der König sich entfernt hat. Die Tür soll ihr offen stehen.“

Sobald die Nacht anbrach, ging die Amme zu ihrem Sohn
Marsawan. Sie selber verkleidete ihn als eine Frau, dergestalt, dass niemand ihn
für einen Mann erkennen konnte, und führte ihn nach dem Palast. Der
Verschnittene, der nicht zweifelte, es wäre ihre Tochter, öffnete die Tür und
ließ sie beide eintreten.

Bevor die Amme den Marsawan vorstellte, näherte sie sich
der Prinzessin, und sagte zu ihr: „Gebieterin, es ist nicht eine Frau, die
ihr hier seht: Es ist mein Sohn Marsawan, der neulich von seinen Reisen
heimgekehrt ist, und den ich unter dieser Verkleidung herein geführt habe. Ich
hoffe, ihr werdet ihm die Ehre vergönnen, euch seine Ehrfurcht zu
bezeigen.“

Bei Marsawans Namen äußerte die Prinzessin große
Freude. „Kommt näher, mein Bruder,“ sagte sie sogleich zu Marsawan,
„und nehmt den Schleier ab: einem Bruder und einer Schwester ist es nicht
verboten, sich mit unverhülltem Angesicht zu sehen.“1)

Marsawan begrüßte sie mit großer Ehrerbietung, aber
ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, fuhr die Prinzessin fort: „Ich bin
erfreut, euch so gesund wieder zu sehen, nachdem ihr so viele Jahre entfernt
gewesen, ohne durch ein einziges Wort Nachricht von euch zu geben, selbst nicht
an eure gute Mutter.“
„Prinzessin,“ erwiderte Marsawan, „ich bin euch unendlich
verbunden für eure Güte. Ich erwartete aber bei meiner Heimkehr bessere
Nachricht von euch, als die mir mitgeteilte, welche ich mit der innigsten
Betrübnis bestätigt sehe. Ich bin indessen sehr erfreut, noch zeitig genug
angekommen zu sein, um nach so vielen andern, denen es misslungen ist, euch die
so nötige Heilung zu bringen. Wenn diese auch nur die einzige Frucht meines
Fleißes und meiner Reisen wäre, so würde ich mich schon für hinlänglich
belohnt halten.“

Indem Marsawan diese Worte aussprach, zog er ein Buch
hervor, nebst andern Dingen, mit denen er sich versehen, und die er, auf den
Bericht seiner Mutter von der Krankheit der Prinzessin, für nötig erachtet
hatte.

Diese aber, als sie solche Zurüstungen sah, rief aus:
„Wie, mein Bruder, ihr seid also auch einer von denjenigen, die sich
einbilden, dass ich toll bin? Enttäuscht euch, und hört mich an.“

Und sie fuhr fort, indem sie folgende Verse aussprach:

„Sie sagen: Liebe habe meinen Verstand verrückt, ich
aber antwortete ihnen: Ist das nicht die wahre Wonne des Lebens, der Zustand, wo
Liebe den Verstand raubt?
Beweist mir meinen Wahnsinn, und bringt mir den, der mich meines Verstands
beraubt hat. Teilt er meinen Wahnsinn, so scheltet mich nicht allein!“

Hierauf erzählte die Prinzessin dem Marsawan ihre ganze
Geschichte, ohne den geringsten Umstand zu vergessen, bis auf den verwechselten
Ring, welchen sie ihm zeigte.

„Ich habe euch alles,“ fügte sie hinzu,
„ohne Entstellung erzählt. Es ist wahr, es liegt darin etwas, das ich
nicht begreife, und das Anlass zu wähnen gibt, ich sei nicht recht bei Sinnen:
Aber man achtet nicht auf das übrige, welches sich so verhält, wie ich
sage.“

Als die Prinzessin geendigt hatte, stand Marsawan, voll
Verwunderung und Erstaunen, eine Zeitlang mit niedergeschlagenen Augen, ohne ein
Wort zu sagen. Endlich erhub er den Kopf, nahm das Wort, und sprach:

„Prinzessin, wenn das, was ihr mir erzählt habt,
wahr ist, wie ich davon überzeugt bin, so verzweifele ich nicht, euch die
Genugtuung zu verschaffen, die ihr verlangt. Ich bitte euch nur, noch einige
Zeit euch mit Geduld zu waffnen, bis ich einige Königreiche durchreist, die ich
noch nicht besucht habe. Sobald ihr meine Heimkehr vernehmt, so seid versichert,
dass derjenige, nach dem ihr so inbrünstig seufzt, nicht weit von euch
ist.“

Nach diesen Worten nahm Marsawan Abschied von der
Prinzessin. Bei seinem Weggehen hörte er sie noch folgende Verse sagen:

„Meine Sehnsucht malt dein Bild in meinem Innersten,
obgleich es schon lange ist, dass wir uns besuchten. – War es denn nur ein
Besuch im Traum?
Zuweilen bringt die Hoffnung dich mir nahe: Gleich einem Blitz, der in die Augen
dringt.
Oh, zögere nicht länger! Du bist ja das Licht meiner Augen: So lange du dich
entfernt hältst, wird nichts um mich her helle werden!“

Gleich am folgenden Morgen reiste Marsawan ab. Er zog von
Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Insel zu Insel, und überall, wo er
hinkam, hörte er nur von der Prinzessin Badur (so hieß nämlich die Prinzessin
von China) und von ihrer Geschichte.

Nach Verlauf von vier Monaten gelangte unser Reisender
nach Torf2),
einer großen volkreichen Seestadt, wo er nicht mehr von der Prinzessin Badur,
sondern von dem Prinzen Kamaralsaman und seiner Krankheit sprechen hörte,
dessen Geschichte man fast auf ähnliche Weise erzählte, wie jene der
Prinzessin Badur.

Marsawan hatte hierüber eine unbeschreibliche Freude. Er
erkundigte sich, in welcher Gegend der Erde dieser Prinz lebte, und erfuhr es.
Es gab dahin zwei Wege, der eine teils zu Lande und teils zur See, und der
andere, kürzere, ganz zur See.

Marsawan wählte diesen letzten Weg, und schiffte sich auf
einen Kauffahrer ein, der eine sehr glückliche Fahrt hatte, bis im Angesicht
der Hauptstadt von Schachsamans Königreich. Aber vor der Einfahrt in den Hafen,
stieß durch Ungeschicklichkeit des Lotsen das Schiff unglücklicherweise auf
einen Felsen. Es scheiterte und ging zu Grunde, im Angesicht und in der Nähe
des Schlosses, das der Prinz Kamaralsaman bewohnte, und wo damals auch der
König Schachsaman, sein Vater, mit seinem Großwesir sich befand.

Marsawan konnte meisterlich schwimmen. Er säumte nicht,
ins Meer zu springen, und erreichte das Ufer, am Fuß des königlichen
Schlosses, wo er auf Befehl des Großwesirs, nach dem Willen des Königs,
aufgenommen und ihm Hilfe gereicht wurde. Man gab ihm trockene Kleider, und
bewirtete ihn wohl. Als er sich wieder erholt hatte, führte man ihn vor den
Großwesir, der befohlen hatte, ihn zu ihm zu bringen.

Da Marsawan ein sehr wohl gebildeter junger Mann von gutem
Aussehen war, so nahm der Minister ihn freundlich auf, und fasste, nach seinen
angemessenen und geistvollen Antworten auf alle Fragen, welche er ihm tat, eine
große Hochachtung für ihn. Er bemerkte selbst allmählich, dass er tausend
schöne Kenntnisse besaß. Dies bewog ihn, zu sagen:

„Aus euren Reden ersehe ich, dass ihr kein gemeiner
Mensch seid. Wollte Gott, dass ihr auf euren Reisen irgend ein Mittel erlernt
hättet, einen Kranken zu heilen, der schon lange Zeit diesen Hof in große
Betrübnis versetzt.“

Marsawan antwortete, wenn er die Krankheit wüsste, von
welcher diese Person befallen wäre, so fände er vielleicht ein Mittel dagegen.

Der Großwesir beschrieb ihm nun den Zustand, worin der
Prinz sich befand, und erzählte die Sache von Anfang her. Er verschwieg ihm
nichts, von seiner so heiß ersehnten Geburt, seiner Erziehung, dem Wunsch des
Königs, ihn frühzeitig zu vermählen, seinem Ungehorsam in der
Ratsversammlung, seiner Gefangenschaft, seinen ausschweifenden Behauptungen
darin, die sich in eine heftige Leidenschaft für ein unbekanntes Fräulein
verwandelt, die keinen andern Grund hätte, als einen Ring, den der Prinz für
den Ring dieses Fräuleins ausgebe, welche vielleicht gar nicht in der Welt
wäre.

Bei dieser Erzählung des Großwesirs freute Marsawan sich
unendlich, dass das Unglück seines Schiffbruches ihn glücklicherweise dorthin
geführt hatte, wo der sich befand, den er suchte. Er erkannte, außer allen
Zweifel, dass der Prinz Kamaralsaman derjenige wäre, für den die Prinzessin
von China in Liebe entbrannte, und dass diese Prinzessin der Gegenstand der
heißen Sehnsucht des Prinzen wäre. Er äußerte sich darüber nicht gegen den
Großwesir. Er sagte ihm nur, wenn er den Prinzen sähe, so würde er besser
beurteilen können, wie ihm zu helfen wäre.

„Folgt mir,“ sagte hierauf der Großwesir,
„ihr werdet bei ihm den König finden, der mir schon angedeutet hat, dass
er euch sehen will.“

Das erste, was Marsawan beim Eintritt in das Zimmer
auffiel, war der Anblick des Prinzen in seinem Bette, hin sterbend mit
geschlossenen Augen. Obwohl derselbe in solchem Zustand war, konnte sich
Marsawan doch nicht enthalten, ohne Rücksicht auf den König Schachsaman, des
Prinzen Vater, der neben seinem Bett saß, noch auf den Prinzen selber, den
diese Freiheit stören konnte, auszurufen: „Beim Himmel, nichts auf der
Welt kann ähnlicher sein!“ Er wollte sagen, dass er ihn der Prinzessin von
China ähnlich fände. Und in der Tat hatten beide viel ähnlichkeit in den
Gesichtszügen.

Diese Worte Marsawans erregten die Neugier des Prinzen
Kamaralsaman. Er schlug die Augen auf und sah ihn an. Marsawan, der ungemein
viel Geist hatte, benutzte diesen Augenblick, und begrüßte ihn auf der Stelle
in Versen, aber auf eine so versteckte Weise, dass der König und der Großwesir
nichts davon verstanden. Seine Worten waren folgende:

„Ich sehe dich in Kummer vergraben, und Seufzer des
Grams höre ich von dir!
Hat Liebe sich deiner bemächtigt, oder bist du von Pfeilen (der Augen)
getroffen worden? Denn der Schmerz, den ich an dir bemerke, hat nur in Sehnsucht
seinen Grund. –
Erwähne mir ja nichts von nächtlichen Besuchen: Denn der Mund des mir
Erzählenden würde mich schon eifersüchtig machen.
Denn schon ihre Kleider beneide ich, weil sie ihren schöne Leib umgeben, und
den Becher mit Getränk, wenn sie ihn an ihren Mund bringt.
Verwundet bin ich, doch nicht von einem Schwert, sondern von Blicken, die gleich
Pfeilen in mich drangen.
Als wir endlich, nach langer Trennung, uns wieder sahen, war ich erstaunt, ihre
Fingerspitzen mit dem Safte des Drachenblutes gefärbt zu sehen3).
„Ach,“ sagte ich zu ihr, „wie kannst du, wenn ich fern von dir
bin, deine Hände noch färben? Ist das der Lohn eines von Kummer bedrängten,
gepeinigten Liebenden?“ –

„Bei deinem Leben,“ antwortete sie mir,
„das ist nicht Farbe, womit ich meine Finger gefärbt habe. Lass dich durch
diesen Schein nicht trügen und in noch größeren Kummer versetzen.
Wisse, als ich dich fern von mir sah, der du doch mein Alles warst, so ist
heute, – da ich keine Tränen mehr hatte, – Blut meinen Augen entquollen: Und
als ich diese Tränen mit meiner Hand abwischte, da fand ich meine Fingerspitzen
vom Blut gefärbt.“ –
Oh, schilt mich nicht, dass ich sie liebe, denn diese Liebe verursacht mir viel
Schmerzen,
Denn Schönheit sondergleichen hat ihr Antlitz geschmückt, und in keinem Land
haben meine Augen etwas ähnliches gesehen.
Schön gestaltet und anmutig ist sie: Ihre Wangen sind Rosen, und ihr Mund ist
Wohlgeruch.
Sie hat die Schönheit Josephs und die Weisheit Lokmans4),
den Scharfsinn Davids, und die Keuschheit Maria’s.
Ich aber empfind den Schmerz Jakobs, die Angst des Jonas, die Qualen Hiobs, und
die Reue Adamas!“

So schilderte Marsawan dem Prinzen so deutlich, was diesem
mit der Prinzessin von China begegnet war, dass es ihm keinen Zweifel übrig
ließ, er kenne sie und könnte ihm von ihr Nachricht geben. Er empfand darüber
eine Freude, die er sogleich in seinen Augen und auf seinem Antlitz sichtbar
werden ließ …“

Die Sultanin Scheherasade hatte nicht Zeit, in dieser
Nacht noch mehr davon zu erzählen. Der Sultan aber ließ sie in der folgenden
Nacht ihre Erzählung wieder aufnehmen, und also zu ihm sprechen:


1)
Die Muselmänner erkennen eine Verwandtschaft an zwischen den Kindern, die eine
Milch gesogen haben.

2)
Torf bedeutet Glückseligkeit.

3)
Es ist in Arabien Gebrauch beim schönen Geschlecht, sich die Nägel und
Fingerspitzen zu färben. Es deutet den Wunsch an, zu gefallen.


4)
Lokman, der bekannte arabische äsop.