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220. Nacht

„Herr, gleich am folgenden Tag nach dem Tod des
Prinzen von Persien benutzte der Juwelier die Gelegenheit einer zahlreichen
Karawane, die nach Bagdad zog, und langte wohlbehalten wieder dort an. Er trat
nur in sein Haus, um seine Kleider zu wechseln, und begab sich sogleich nach der
Wohnung des verstorbenen Prinzen von Persien, wo alles in Unruhe geriet, als man
den Prinzen nicht bei ihm sah. Er bat, der Mutter des Prinzen zu sagen, dass er
sie zu sprechen wünschte, und es währte nicht lange, so wurde er in einen Saal
geführt, wo sie mit mehreren ihrer Frauen war.

„Gnädige Frau,“ sagte der Juwelier zu ihr, mit
einer Miene und einem Ton, welche schon die traurige Botschaft ankündigten, die
er ihr zu bringen hatte. „Gott erhalte euch, und überhäufe euch mit
seinem Segen! Ihr wisst wohl, dass Gott mit uns schaltet, wie es ihm gefällt
…“

Die Mutter ließ dem Juwelier nicht Zeit, noch mehr zu
sagen. „Wehe!“, rief sie aus, „ihr verkündet mir den Tod meines
Sohnes!“ Zugleich stieß sie ein entsetzliches Jammer-Geschrei aus,
welches, vermischt mit dem ihrer Frauen, die Tränen des Juweliers erneute. Sie
quälte sich und jammerte lange, ehe sie ihn seine Botschaft aussagen ließ.
Endlich unterbrach sie ihre Tränen und Seufzer, und bat ihn, fort zu fahren, und
ihr keinen Umstand einer so traurigen Trennung zu verhehlen. Er tat, was sie
verlangte. Als er geendigt hatte, fragte sie ihn, ob der Prinz, ihr Sohn, ihm
nicht noch etwas besonders an sie aufgetragen hätte. Er versicherte sie, dass
er nicht stärker beklagt hätte, als von ihr entfernt zu sterben, und es wäre
sein einziger Wunsch gewesen, dass sie dafür sorgen möchte, seinen Leichnam
nach Bagdad bringen zu lassen.

Gleich am folgenden Morgen, in aller Frühe, machte sie
sich auf den Weg in Begleitung ihrer Frauen und des größten Teils ihrer
Sklavinnen.

Als der Juwelier, den die Mutter des Prinzen von Persien
seither zurückgehalten hatte, sie abreisen sah, ging er wieder nach Hause, mit
niedergeschlagenen Augen, voll tiefer Trauer über den Tod eines so vollkommenen
und liebenswürdigen Prinzen in der Blüte seiner Jahre.

Als er so in sich gekehrt hinging, trat eine Frau heran,
und blieb vor ihm stehen. Er schlug die Augen auf und erkannte in ihr
Schemselnihars Vertraute, die in Trauer gekleidet war, und weinte. Bei diesem
Anblick erneuerten sich abermals seine Tränen, ohne dass er den Mund öffnete
mit ihr zu reden, und so ging er ohne Aufenthalt fort bis in sein Haus, wohin
die Vertraute ihm folgte und mit ihm hinein trat.

Sie setzten sich, und der Juwelier nahm zuerst das Wort,
und fragte die Vertraute, mit einem tiefen Seufzer, ob sie schon den Tod des
Prinzen von Persien erfahren hätte und ihn beweinte. „Wie, dieser
liebenswürdige Prinz ist tot? Er hat nicht lange seine geliebte Schemselnihar
überlebt. – Schöne Seelen,“ fügte sie hinzu, „wo ihr jetzt auch
sein mögt, ihr werdet zufrieden sein, euch fortan ungestört lieben zu können.
Eure Leiber waren das Hindernis eurer Wünsche, und der Himmel hat euch davon
befreit, um euch zu vereinigen.“

Der Juwelier, der von Schemselnihars Tod nichts wusste,
und noch nicht beachtet hatte, dass die Vertraute, die mit ihm sprach, in Trauer
gekleidet war, fühlte bei dieser Neuigkeit neuen Schmerz. „Schemselnihar
ist also tot?“, rief er aus.

„Sie ist tot,“ wiederholte die Vertraute
weinend, „und sie ist es, um die ich in Trauer gehe! Die Umstände ihres
Todes sind sonderbar, und verdienen, dass ihr sie vernehmt. Aber bevor ich euch
Bericht davon gebe, bitte ich euch, mir die Umstände von dem Tod des Prinzen
von Persien mitzuteilen, welchen ich mein Leben lang beweinen werde, zugleich
mit dem Tod Schemselnihars, meiner teuren und verehrten Herrin.“

Der Juwelier erfüllte das Begehren der Vertrauten und als
er ihr alles erzählt hatte, bis zur Abreise der Mutter des Prinzen, die sich
eben auf den Weg gemacht hatte, um den Leichnam desselben nach Bagdad bringen zu
lassen, sagte sie zu ihm:

„Ihr werdet euch erinnern, wie ich euch schon
erzählt habe, dass der Kalif Schemselnihar nach seinem Palast holen ließ. Es
war richtig, wie wir allen Grund gehabt hatten zu fürchten, dass der Kalif von
der Liebe Schemselnihars und des Prinzen von Persien durch die beiden Sklavinnen
unterrichtet worden, die er, jede besonders verhört hatte. Ihr werdet euch nun
vorstellen, dass er gegen Schemselnihar in Zorn geriet, und dass er von
Eifersucht und schleuniger Rache gegen den Prinzen tobte. Keineswegs: Er dachte
nicht einen Augenblick an den Prinzen von Persien. Er beklagt nur Schemselnihar,
und es ist glaublich, dass er sich selber beimaß, was vorgegangen war, weil er
ihr die Erlaubnis gegeben, frei in der Stadt umher zu gehen, ohne Begleitung von
Verschnittenen. Es lässt sich nichts anderes vermuten, nach der
außerordentlichen Weise, auf welche er mit ihr verfuhr, wie ihr sogleich hören
werdet.

Der Kalif empfing sie mit heiterem Antlitz, und als er die
Traurigkeit bemerkte, welche sie niederbeugte, jedoch ihre Schönheit keineswegs
verringerte, denn sie erschien vor ihm ohne ein Zeichen von überraschung und
Schreck, sprach er zu ihr, mit einer seiner würdigen Güte:
„Schemselnihar, ich kann nicht ertragen, dass ihr vor mir mit einer Miene
erscheint, welche mich unendlich betrübt. Ihr wisst, mit welcher Leidenschaft
ich euch stets geliebt habe: Ihr müsst davon überzeugt sein, durch alle die
Beweise, welche ich euch davon gegeben habe. Ich verändere mich nicht, und ich
liebe euch mehr als jemals. Ihr habt Feinde, und diese Feinde haben mir
nachteilige Berichte von eurem Wandel hinterbracht. Aber alles, was sie mir
sagen mochten, hat nicht den geringsten Eindruck auf mich gemacht. Legt also die
Schwermut ab, und schickt euch an, mich diesen Abend durch irgend etwas
Angenehmes und Ergötzliches zu erfreuen, wie ihr sonst pflegt.“ Er sagte
ihr noch mehrere andere sehr verbindliche Sachen, und ließ sie in ein
prächtiges Zimmer, neben dem seinigen, eintreten, mit der Bitte, ihn darin zu
erwarten.

Die trostlose Schemselnihar war innig gerührt durch die
große Hochachtung, welche der Kalif ihrer Person bezeigte, aber je mehr sie
erkannte, welche Verpflichtungen sie ihm hatte, je tiefer war sie von dem
Schmerz durchdrungen, vielleicht für immer von dem Prinzen von Persien getrennt
zu werden, ohne welchen sie nicht mehr leben konnte.

Dieses ging zwischen dem Kalifen und Schemselnihar
vor,“ fuhr die Vertraute fort, „während ich zu euch gekommen war, um
mich mit euch zu besprechen, und ich habe die einzelnen Umstände davon durch
meine Gefährtinnen erfahren, die zugegen waren. Aber sobald ich euch verlassen
hatte, ging ich wieder zu Schemselnihar, und ich war Zeuge von dem, was am Abend
vorging.

Ich fand sie in dem Zimmer, wovon ich gesagt habe. Da sie
vermutete, dass ich von euch käme, ließ sie mich nahe zu sich heran treten,
und ohne dass sonst jemand es hörte, sagte sie zu mir: „Ich danke dir sehr
für den Dienst, welchen du mir eben geleistet hattest. Ich fühle wohl, dass es
der letzte ist.“

Mehr sagte sie mir nicht, und es war nicht der Ort, dass
ich ihr mehr hätte sagen können, um sie zu trösten.

Am Abend trat der Kalif, unter dem Schall der Instrumente,
welche Schemselnihars Frauen spielten, herein, und das Mahl wurde sogleich
aufgetragen. Der Kalif fasste Schemselnihar bei der Hand, und ließ sie neben
sich auf dem Sofa nieder sitzen. Sie tat sich so große Gewalt an, sich ihm
gefällig zu bezeigen, dass wir sie wenige Augenblicke darauf den Geist aufgeben
sahen. Denn kaum hatte sie sich niedergesetzt, als sie rücklings hin sank. Der
Kalif wähnte, es wäre nur eine Ohnmacht, und wir alle hatten denselben
Gedanken. Wir bemühten uns, sie wieder zu sich zu bringen: Aber sie kehrte
nicht wieder ins Leben zurück, und auf diese Weise haben wir sie verloren.

Der Kalif ehrte sie durch seine Tränen, die er nicht
zurückhalten konnte. Bevor er sich in sein Zimmer begab, befahl er, alle die
Instrumente zu zerbrechen, was auch geschah.

Er ließ sie hernach in sein Zimmer bringen, wo er die
ganze Nacht bei ihr zubrachte und am folgenden Morgen gab er die nötigen
Befehle zum Waschen ihres Leichnams, zur Einkleidung und zur Bestattung in einem
prächtigen Grabmal. Er enthielt sich seitdem aller Nachforschungen über die
traurigen Verhältnis, welche die Ursache ihres Todes waren. – Da ihr nun
sagt,“ fügte sie hinzu, „dass die Leiche des Prinzen von Persien nach
Bagdad geführt werden soll, so bin ich entschlossen, es dahin zu bringen, dass
man ihn in demselben Grabmal beisetze.“

Der Juwelier war sehr erstaunt über diesen Entschluss der
Vertrauten, und wandte ein: „Ihr bedenkt nicht, dass der Kalif das nimmer
zugeben wird.“

„Ihr haltet die Sache für unmöglich,“
erwiderte die Vertraute: „Sie ist es keineswegs, und ihr werdet es selber
zugeben, wenn ich euch sage, dass der Kalif allen Sklavinnen Schemselnihars die
Freiheit und eine hinlängliche Versorgung geschenkt, und dass er mir die Pflege
und Aufsicht ihres Grabmals übertragen hat, mit einem ansehnlichen Einkommen
zur Unterhaltung desselben und zu meinem eigenen Unterhalt. übrigens wird der
Kalif, dem die Liebesgeschichte des Prinzen von Persien und Schemselnihars nicht
unbekannt ist, wie ich euch schon gesagt habe, und der daran keinen Anstoß
genommen hat, keineswegs unzufrieden hiermit sein.“

Der Juwelier hatte hierauf nichts mehr zu sagen. Er bat
nur noch die Vertraute, ihn nach dem Grabmal zu führen, um dort sein Gebet zu
verrichten.

Groß war sein Erstaunen, als er dort anlangte, und eine
große Volksmenge beiderlei Geschlechts von allen Seiten aus Bagdad dahin
strömen sah. Er musste von Ferne stehen bleiben. Nachdem er sein Gebet
verrichtet hatte, ging er wieder zu der Vertrauten, und sagte zu ihr: „Ich
halte es nun nicht mehr für unmöglich, das auszuführen, was ihr im Sinne
habt. Wir, ihr und ich, dürfen nur kund machen, was wir von der
Liebesgeschichte beider wissen, und besonders, dass der Tod des Prinzen von
Persien fast in demselben Augenblick mit dem Tod Schemselnihars erfolgt ist.
Bevor noch sein Leichnam ankommt, wird ganz Bagdad zusammenlaufen, und
verlangen, dass er nicht von Semselnihars Leiche getrennt werde.“

Der Plan gelang und an dem Tag, wo man wusste, dass der
Leichnam ankommen würde, ging eine zahllose Volksmenge über zwanzig Meilen
weit entgegen.

Die Vertraute wartete am Stadttor, wo sie sich der Mutter
des Prinzen darstellte, und sie im Namen der ganzen Stadt bat, ihnen den
sehnlichen Wunsch zu gewähren, dass die Leiber der beiden Liebenden, die vom
Beginn ihrer Liebe bis zu ihrem Tod nur ein Herz gehabt hatten, auch nur ein und
dasselbe Grab hätten …

Die Mutter willigte ein, und im Geleit einer zahllosen
Volksmenge von allen Ständen wurde der Leichnam des Prinzen von Persien in das
Grabmal Schemselnihars getragen, und an ihre Seite beigesetzt.

Seit dieser Zeit haben die Einwohner von Bagdad und selbst
die Fremden aus allen Weltgegenden, wo es Muselmänner gibt, stets eine große
Verehrung für dieses Grabmal gehabt, und gehen noch immer dorthin, ihr Gebet zu
verrichten.

Dies ist es, Herr,“ sagte Scheherasade, die zu
gleicher Zeit bemerkte, dass es Tag war, „was ich Euer Majestät von der
Liebesgeschichte der schönen Schemselnihar, Favoritin des Kalifen Harun
Arreschyd, und des Ali Ebn Bekar, Prinzen von Persien, zu erzählen hatte.“

Als Dinarsade sah, dass die Sultanin, ihre Schwester
schwieg, dankte sie ihr aufs verbindlichste für das Vergnügen, welches sie ihr
durch die Erzählung einer so anziehenden Geschichte gemacht hatte.

„Wenn der Sultan geruht, mich noch bis morgen zu
fristen,“ fuhr Scheherasade fort, „so will ich dir die Geschichte des
Prinzen Kamaralsaman1)
erzählen, die du noch viel anmutiger finden wirst.“

Hiermit schwieg sie und der Sultan, der sich noch nicht
entschließen konnte, sie töten zu lassen, willigte ein, sie in der folgenden
Nacht zu hören.


1)
Kamar al saman heißt wörtlich im arabischen: Mond der Zeit. Mond bedeutet
nämlich Schönheit.