Project Description

211. Nacht

„Herr, der Juwelier sah auf dem Weg nach seinem Haus
auf der Gasse einen Brief liegen, den jemand verloren hatte. Er hub ihn auf und
da er nicht versiegelt war, öffnete er ihn, und las folgendes:

Brief
von Schemselnihar an den Prinzen von Persien

„Ich erfahre soeben durch meine Vertraute eine
Neuigkeit, die mir nicht weniger Betrübnis verursacht, als ihr darüber haben
müsst. Indem wir Ebn Thaher verlieren, verlieren wir in der Tat viel: Aber das
muss euch nicht mutlos machen, teurer Prinz, für eure Erhaltung zu sorgen. Wenn
unser Vertrauter aus übertriebener Furcht uns verlässt, so lasst es uns als
ein unvermeidliches übel betrachten: Wir müssen uns darüber trösten. Ich
bekenne, dass Ebn Thaher uns gerade in einem Augenblick abgeht, da wir seiner
Hilfe am meisten bedürfen: Aber waffnen wir uns mit Geduld gegen diesen
unvorhergesehenen Schlag, und lassen wir nicht ab, uns standhaft zu lieben.
Stählt euer Herz gegen diesen Unfall: Man erreicht nicht ohne Mühe, was man
wünscht. Lassen wir uns nicht abschrecken: Hoffen wir, dass der Himmel uns
günstig sein wird, und dass wir, nach so viel Leiden, die glückliche
Erfüllung unserer Wünsche erleben werden. Lebt wohl.“

Während der Juwelier sich mit dem Prinzen von Persien
unterredete, hatte die Vertraute Zeit gehabt, nach dem Palast zurückzukehren,
und ihrer Gebieterin die unangenehme Neuigkeit von der Abreise Ebn Thahers zu
verkünden, Schemselnihar hatte sogleich diesen Brief geschrieben und ihre
Vertraute damit zu dem Prinzen von Persien zurückgeschickt und diese hatte ihn
aus Unachtsamkeit fallen lassen.

Der Juwelier war froh, ihn gefunden zu haben, denn er verschaffte ihm ein gutes
Mittel, sich bei der Vertrauten zu rechtfertigen, und sie so zu stimmen, wie er
wünschte. Als er ihn ausgelesen hatte, erblickte er die Sklavin, die ihn mit
großer Unruhe suchte, indem sie sich nach allen Seiten umsah. Er faltete ihn
schleunig wieder zusammen, und schob ihn in seinen Busen, aber die Sklavin hatte
seine Bewegung wahrgenommen, und lief auf ihn zu: „Herr,“ sagte sie zu
ihm, „ich habe den Brief fallen lassen, den ihr jetzt eben in der Hand
hieltet. Ich bitte euch, habt die Güte, und gebt ihn mir wieder.“ Der
Juwelier tat, als hörte er es nicht, und setzte, ohne zu antworten, seinen Weg
bis zu seinem Haus fort. Er ließ die Tür offen, damit die Vertraute, die ihm
folgte, auch eintreten konnte.

Sie blieb auch nicht zurück und als sie in sein Zimmer kam, sagte sie zu ihm:
„Herr, der Brief, den ihr gefunden habt, kann euch keinen Nutzen gewähren.
Ihr würdet keine Schwierigkeit machen, mir ihn wiederzugeben, wenn ihr
wüsstet, von wem er kommt, und an wen er gerichtet ist. übrigens erlaubt mir,
euch zu sagen, dass ihr ihn anständigerweise nicht wohl behalten könnt.“

Bevor er der Vertrauten antwortete, ließ der Juwelier sie niedersetzen, und
sagte dann zu ihr: „Nicht wahr, der Brief, von welchem die Rede, ist von
der Hand Schemselnihars, und ist an den Prinzen von Persien gerichtet?“ Die
Sklavin, die sich dieser Frage nicht versah, entfärbte sich. „Die Frage
macht euch verlegen,“ fuhr er fort, „aber wisst, dass ich sie nicht
aus Unbescheidenheit an euch tue: Ich hätte euch den Brief auf der Straße
wiedergeben können, aber ich wollte euch hierher locken, weil ich mich mit euch
zu verständigen wünsche. Ist es billig, sagt mir, ein widriges Ereignis Leuten
aufzubürden, die gar nichts dazu beigetragen haben? Das aber habt ihr getan,
als ihr dem Prinzen von Persien gesagt, dass ich Ebn Thaher geraten habe, seiner
Sicherheit wegen, Bagdad zu verlassen. Ich will nicht die Zeit damit verlieren,
mich bei euch zu entschuldigen: Genug, dass der Prinz von Persien völlig von
meiner Unschuld hierin überzeugt ist. Ich will euch nur sagen, dass, anstatt
zur Abreise Ebn Thahers beigetragen zu haben, ich äußerst bekümmert darüber
war, nicht so sehr aus Freundschaft zu ihm, als aus Mitleid mit dem Zustand, in
welchem er den Prinzen verließ, dessen Verbindung mit Schemselnihar er mir
entdeckt hatte. Sobald ich gewiss wusste, dass Ebn Thaher nicht mehr in Bagdad
war, eilte ich, mich dem Prinzen, bei dem ihr mich gefunden habt, vorzustellen,
und ihm diese Neuigkeit kund zu tun, und ihm dieselben Dienste anzubieten,
welche jener ihm geleistet hatte. Meine Absicht gelang mir und sofern ihr zu mir
dasselbe Vertrauen habt, das ihr zu Ebn Thaher hattet, so kommt es nur auf euch
an, euch meiner Vermittlung mit Nutzen zu bedienen. Unterrichtet eure Gebieterin
von dem, was ich euch eben gesagt habe, und versichert sie völlig, dass wenn
ich durch die Verwicklung in ein so gefährliches Geheimnis auch umkommen
sollte, es mich jedoch nicht gereuen würde, mich für zwei einander so würdige
Liebende aufgeopfert zu haben.“

Die Vertraute hörte dem Juwelier mit großer Zufriedenheit an, und bat ihn
dann, die üble Meinung, welche sie von ihm gefasst hatte, ihrem Eifer für das
Wohl ihrer Gebieterin beizumessen. „Ich bin unendlich erfreut
darüber,“ fügte sie hinzu, „dass Schemselnihar und der Prinz in euch
einen Mann wieder finden, welcher so geschickt Ebn Thahers Stelle ersetzt. Ich
werde nicht verfehlen, meiner Gebieterin den guten Willen zu rühmen, welchen
ihr für sie bezeigt …“

Scheherasade bemerkte bei dieser Stelle, dass es Tag war, und hörte auf zu
reden. In der folgenden Nacht setzte sie ihre Erzählung also fort: