Project Description

207. Nacht

„Der Prinz von Persien gab, bevor er anfing zu
schreiben, Schemselnihars Brief an Ebn Thaher, mit der Bitte, ihm denselben
offen vorzuhalten, damit er beim Schreiben hineinblicken, und besser sehen
könnte, was er darauf antworten sollte.

Er fing an zu schreiben, aber die Tränen, die ihm aus den
Augen auf das Papier fielen, nötigten ihn mehrmals, innezuhalten, um sie frei
strömen zu lassen.

Er ward endlich mit dem Brief fertig, reichte ihn Ebn
Thaher, und sagte zu ihm: „Lest ihn, ich bitte euch, und seht, ob auch die
Verwirrung meines Geistes mir erlaubt hat, geziemende Antwort zu geben.“

Ebn Thaher nahm ihn, und las, wie folgt:

Antwort
des Prinzen von Persien an Schemselnihar

„Ich war in tödliche Betrübnis versunken, als euer
Brief mir gebracht wurde. Sobald ich ihn sah, wurde ich von unaussprechlicher
Freude ergriffen; und bei dem Anblick der von eurer schönen Hand gebildeten
Züge, empfingen meine Augen ein neues und lebhafteres Licht, als sie damals
verloren, da die eurigen sich so plötzlich zu den Füßen meines Nebenbuhlers
schlossen. Die Worte dieses entzückenden Briefes sind ebenso viel leuchtende
Strahlen, die das Dunkel zerstreut haben, von welchem meine Seele umnachtet war.
Sie verkünden mir, wie viel ihr aus Liebe zu mir leidet; zugleich sagen sie
mir, dass ihr auch wohl wisset, was ich für euch leide, und trösten mich
dadurch in meinem Kummer. Auf der einen Seite lassen sie mich einen Strom von
Tränen vergießen, auf der anderen fachen sie in meinem Herzen eine Glut an,
welche ihm wohl tut, und verhindert, dass ich vor Schmerz den Geist aufgebe.
Seit unserer grausamen Trennung habe ich keinen Augenblick Ruhe gehabt. Euer
Brief allein brachte meiner Pein einige Linderung. Ich habe bis zum Augenblick
seines Empfanges ein düsteres Stillschweigen beobachtet: Er hat mir die Sprache
wiedergegeben. Ich war in eine tiefe Schwermut begraben: Er hat mich mit einer
Freude belebt, die alsbald aus meinen Augen und auf meinem Gesicht
hervorleuchtete. Aber meine überraschung durch eine Gunstbezeigung, welche ich
noch nicht verdient habe, war so groß, dass ich nicht wusste, wo ich anfangen
sollte, um euch meine Dankbarkeit dafür zu bezeigen. Endlich, nachdem ich ihn,
als ein kostbares Pfand eurer Huld, mehrmals geküsst, habe ich ihn gelesen und
wieder gelesen, und bin durch das übermaß meines Glücks ganz verwirrt worden.
Ihr verlangt die Versicherung, dass ich euch immerdar liebe. Ach! Wenn ich euch
nicht schon so vollkommen liebte, als ich euch liebe, so könnte ich doch, nach
so vielen Beweisen, die ihr mir von einer so seltenen Liebe gebt, nicht
widerstehen, euch anzubeten. Ja, ich liebe euch, meine teure Seele, und es soll
mein Ruhm sein, mein Leben lang in dem Feuer zu brennen, welches ihr in meinem
Herzen entzündet habt. Ich werde mich niemals über die heftige Glut beklagen,
womit ich mich von demselben verzehrt fühle, und wie hart auch die Leiden sein
mögen, welche eure Abwesenheit mir verursacht, ich werde sie jedoch standhaft
ertragen, in der Hoffnung, euch eines Tages wieder zu sehen. Wollte Gott, dass es
heute noch geschähe, und dass es mir, anstatt euch diesen Brief zu senden,
vergönnt wäre, selber zu kommen, und euch zu versichern, dass ich aus Liebe
für euch sterbe. Meine Tränen verhindern mich, euch mehr zu sagen. Lebet
wohl.“

Ebn Thaher konnte diese letzten Zeilen nicht lesen, ohne
selber zu weinen. Er gab dem Prinzen von Persien den Brief zurück, und
versicherte ihm, dass er nichts daran zu bessern wüsste. Der Prinz legte ihn
zusammen und als er ihn versiegelt hatte, sagte er zu der Vertrauten
Schemselnihars, die etwas entfernt von ihm stand: „Ich bitte euch, tretet
näher: Hier ist meine Antwort auf den Brief eurer teuren geliebten Herrin. Ich
beschwöre euch, sie ihr zu überbringen, und sie von mir zu grüßen.“

Die Sklavin nahm den Brief, und entfernte sich mit Ebn
Thaher …“

Bei diesen Worten sah die Sultanin von Indien den Tag
anbrechen, und schwieg. Und in der folgenden Nacht fuhr sie also fort: