Project Description

205. Nacht

„Herr, als Ebn Thaher mit der Vertrauten der
Schemselnihar in das Haus des Prinzen von Persien trat, bat er sie, einen
Augenblick im Vorzimmer zu bleiben und ihn zu erwarten. Sobald der Prinz ihn
erblickte, frage er ihn mit Ungeduld, welche Neuigkeit er ihm brächte.
„Die beste, die ihr hören könnt,“ antwortete ihm Ebn Thaher:
„Ihr werdet ebenso zärtlich geliebt, als ihr liebt. Schemselnihars
Vertraute ist in eurem Vorzimmer. Sie bringt euch einen Brief von ihrer
Gebieterin, und erwartet nur euren Befehl, um einzutreten.“

„Lasst sie sogleich herein!“, rief der Prinz
voll Entzücken aus. Und indem er dies sagte, richtete er sich im Bett auf, um
sie zu empfangen.

Da die Leute des Prinzen, sobald sie Ebn Thaher kommen
sahen, aus dem Zimmer gegangen waren, um ihn mit ihrem Herrn allein zu lassen,
so ging Ebn Thaher selber hin, die Türe zu öffnen, und ließ die Vertraute
eintreten. Der Prinz erkannte sie, und empfing sie auf eine sehr freundliche
Weise. „Herr,“ sagte sie zu ihm, „ich weiß alle die Leiden, die
ihr erduldet habt, seitdem ich die Ehre hatte, euch zu dem Boote zu führen,
welches euch zur Rückfahrt erwartete: Aber ich hoffe, dass der Brief, welchen
ich euch bringe, zu eurer Genesung betragen wird.“ Mit diesen Worten
überreichte sie ihm den Brief. Er nahm ihn, und nachdem er ihn geküsst hatte,
öffnete er ihn und las folgende Worte:

Brief
von Schemselnihar an den Prinzen von Persien, Ali Ebn Bekar

„Die überbringerin dieses Briefes wird euch besser
von mir Nachricht geben, als ich selber, denn ich kenne mich nicht mehr, seitdem
ich euch nicht mehr sehe. Eurer Gegenwart beraubt, suche ich mich zu täuschen,
indem ich mich durch diese übel geschriebenen Zeilen mit euch unterhalte, mit
demselben Vergnügen, als wenn ich das Glück hätte, mit euch zu reden.

Man sagt, die Geduld sei ein Mittel gegen alle Leiden:
Gleichwohl verschärft sie die meinen nur, anstatt sie zu lindern. Obschon euer
Bild tief in mein Herz gegraben ist, so begehren meine Augen doch unaufhörlich
das Urbild davon zu sehen; und sie werden all ihren Glanz verlieren, wenn sie
noch lange desselben beraubt sein müssen. Darf ich mir schmeicheln, dass die
euren dieselbe Sehnsucht haben, mich zu sehen? Ja, ich darf es: Sie haben es mir
durch zärtliche Blicke genügsam zu erkennen gegeben. Wie glücklich würde
Schemselnihar, und wie glücklich würdet ihr, Prinz, sein, wenn meinen mit den
euren übereinstimmenden Wünschen nicht unübersteigbare Hindernisse im Weg
ständen! Diese Hindernisse betrüben mich umso lebhafter, als auch euch sie
betrüben.

Diese Empfindungen, die meine Hand nachzeichnet, und die
ich mit unglaublichem Vergnügen in Worten ausdrücke, indem ich sie oft
wiederhole, strömen aus dem tiefsten Grund meines Herzens, und aus der
unheilbaren Wunde, die ihr darin gemacht habt. Eine Wunde, die ich tausendmal
segne, ungeachtet des tödlichen Wehes, welches eure Abwesenheit mir verursacht.
Ich würde alles für nichts achten, was sich unserer Liebe entgegenstellt, wenn
es mir nur vergönnt wäre, euch manchmal ungestört zu sehen: So lange würde
ich euch doch besitzen, und was könnte ich mehr wünschen?

Wähnt nicht, dass meine Worte mehr sagen, als ich denke.
Ach! Welcher Ausdruck ich mich auch bedienen mag, ich fühle gleichwohl, dass
ich noch mehr denke, als ich euch sage. Meine Augen, die stets wachen und
unaufhörlich Tränen vergießen, bis sie euch wieder sehen. Mein betrübtes
Herz, das nur nach euch allein verlangt. Die Seufzer, die mir immer
entschlüpfen, so oft ich an euch denke, – das heißt, jeden Augenblick. Meine
Einbildungskraft, die mir keinen anderen Gegenstand mehr vorstellt, als meinen
geliebten Prinzen. Meine Klage zum Himmel, über die Härte meines Schicksals.
Endlich, meine Traurigkeit, meine Unruhe, meine Qualen, die nicht nachlassen,
seit ich euren Anblick verloren habe: Alles dieses ist Bürge dessen, was ich
euch schreibe.

Bin ich nicht recht unglücklich, geboren zu sein, zu
lieben, ohne Hoffnung, mich des Geliebten zu erfreuen? Dieser trostlose Gedanke
drückt mich so nieder, dass ich sterben würde, wenn ich nicht wüsste, dass
ihr mich liebt. Aber ein so süßer Trost beschwichtigt meine Verzweiflung und
fesselt mich an das Leben. Schreibt mir doch, dass ihr mich immerdar liebt. Ich
werde euren Brief wie ein Kleinod bewahren. Ich werde ihn des Tages tausendmal
lesen. Ich werde meine Leiden mit weniger Ungeduld tragen. Ich wünsche, dass
der Himmel aufhöre, gegen uns zu zürnen, und uns Gelegenheit finden lasse, uns
ohne Zwang zu sagen, dass wir uns lieben, und dass wir nie aufhören werden, uns
zu lieben. Lebt wohl, ich grüße Ebn Thaher, dem wir beide so viel
Verpflichtungen haben.“