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203. Nacht

Die Vertraute Schemselnihars fuhr fort, Ebn Thaher alles
zu erzählen, was mit ihrer Gebieterin seit ihrer ersten Ohnmacht vorgegangen
war:

„Wir, meine Genossen und ich, waren abermals lange
beschäftigt, sie wieder zu sich zu bringen. Als sie sich endlich wieder
erholte, sagte ich zu ihr: „Gebieterin, seid ihr denn entschlossen, euch zu
töten, und uns alle mit euch sterben zu lassen? Ich flehe euch, im Namen des
Prinzen von Persien, für welchen ihr zu leben wünschen müsst, ihr eure
Erhaltung zu sorgen. Um Gotteswillen, lasst euch bewegen, und tut, was ihr euch
selber, der Leibe des Prinzen und unserer Anhänglichkeit an euch schuldig
seid.“ – „Ich bin euch sehr dankbar,“ erwiderte sie, „für
eure Sorgfalt, euren Eifer und guten Rat. Aber ach! Kann er mir nützen? Wir
dürfen uns mit keiner Hoffnung schmeicheln, und nur im Grabe müssen wir das
Ende unserer Leiden erwarten.“

Eine meiner Gefährtinnen, mit Namen Fulkulmaghur1),
wollte sie von diesen traurigen Gedanken ablenken, indem sie zu ihrer Laute
folgendes Lied sang:

„Man sagte mir: ‚Vielleicht verschafft die Geduld dir
Beruhigung.‘ Allein wie ist die Geduld möglich, wenn man von ihm getrennt ist?
Nur immer fester hat sich das Bündnis zwischen ihm und mir geknüpft, seitdem
mir alle Hoffnung schwand, als ich ihn zum letzten Mal küsste.“

Aber Schemselnihar gebot ihr, zu schweigen, und samt allen
übrigen hinausgehen. Mich allein behielt sie für die Nacht bei sich. Welche
Nacht, o Himmel! Sie brachte sie in Tränen und Seufzern zu, und unaufhörlich
nannte sie den Namen des Prinzen von Persien, und beklagte sich über ihr
Schicksal, das sie dem Kalifen bestimmt hätte, den sie nicht lieben könne, und
nicht dem, den sie bis in den Tod liebte.

Am folgenden Morgen brachte ich sie aus dem Saal, wo sie
nicht ihre Bequemlichkeit hatte, in ihr Gemach. Hier war sie kaum angelangt, als
alle ärzte des Hofes, auf Befehl des Kalifen, sie zu besuchen kamen, und dieser
Fürst selber blieb nicht lange aus. Die Mittel, welche die ärzte Schemselnihar
verordneten, taten um so weniger Wirkung, als ihnen die Ursache ihrer Krankheit
verborgen war; und der Zwang, welchen die Gegenwart des Kalifen ihr auflegte,
vermehrte dieselbe nur. Sie hat gleichwohl diese Nacht ein wenig geruht, und
sobald sie aufgewacht ist, hat sie mir aufgetragen, zu euch zu gehen, um mich
nach dem Prinzen von Persien zu erkundigen.“

„Ich habe euch schon von dem Zustand unterrichtet,
worin er sich befindet,“ sagte Ebn Thaher zu ihr, „drum kehrt zu eurer
Gebieterin zurück, und versichert sie, dass der Prinz von Persien mit derselben
Sehnsucht Nachricht von ihr erwartet, als sie von ihm. Ermahnt sie vor allem,
sich zu mäßigen und sich zu überwinden, damit ihr in Gegenwart des Kalifen
nicht ein Wort entschlüpft, welches uns mit ihr zu Grunde richten
könnte.“

„Was mich betrifft,“ erwiderte die Vertraute,
„so fürchte ich alles von ihrer Leidenschaft. Ich habe mir die Freiheit
genommen, ihr zu sagen, wie ich darüber denke. Ich bin überzeugt, sie wird es
nicht übel nehmen, dass ich nochmals von euretwegen mit ihr davon rede.“

Ebn Thaher, der eben erst von dem Prinzen von Persien
gekommen, war es nicht gelegen, sogleich wieder dahin zurückzukehren, weil er
wichtigere Geschäfte zu besorgen hatte, welche ihn bei seiner Heimkehr
erwarteten, erst gegen Abend ging er hin.

Der Prinz war allein, und befand sich nicht besser, als am
Morgen. „Ebn Thaher,“ rief er ihm entgegen, als er ihn kommen sah,
„ihr habt ohne Zweifel viele Freunde, aber sie kennen gewiss nicht euren
Wert, so wie ihr ihn mir zu erkennen gebt, durch euren Eifer, eure Sorgfalt, und
die Mühe, die ihr anwendet, wenn es darauf ankommt, einen Dienst zu leisten.
Ich bin beschämt über alles, was ihr mit so vieler Hingebung für mich tut und
ich weiß nicht, wie ich es euch vergelten kann.“

„Prinz,“ antwortete ihm Ebn Thaher, „ich
bitte euch, reden wir nicht weiter davon: Ich bin bereit, nicht nur allein eines
meiner Augen hinzugeben, um euch eins der eurigen zu erhalten, sondern selbst
mein Leben für das eurige aufzuopfern. Davon ist aber jetzt nicht die Rede. Ich
komme, euch zu sagen, dass Schemselnihar ihre Vertraute zu mir geschickt hat, um
Nachricht von euch zu holen, und zugleich von ihr zu bringen. Ihr könnt wohl
denken, dass ich ihr nichts gesagt habe, als was das übermaß eurer Liebe zu
ihrer Gebieterin und die Standhaftigkeit, mit welcher ihr sie liebt,
bestätigt.“ Ebn Thaher machte ihm hierauf einen genauen und umständlichen
Bericht von allem, was die vertraute Sklavin ihm gesagt hatte. Der Prinz hörte
ihn an, mit allen den abwechselnden Bewegungen der Furcht, der Eifersucht, der
Zärtlichkeit und des Mitleidens, welche seine Erzählung ihm einflößte, indem
er über jeden Umstand, den er vernahm, alle die betrübenden oder tröstenden
Betrachtungen anstellte, deren ein so leidenschaftlich Liebender, wie er, nur
fähig ist.

Ihr Gespräch verzog sich bis tief in die Nacht, so dass
der Prinz von Persien Ebn Thaher nötigte, bei ihm zu bleiben.

Am folgenden Morgen, als dieser treue Freund nach Hause
ging, sah er eine Frau auf sich zukommen, welche er für die Vertraute
Schemselnihars erkannte. Als sie ihn erreicht hatte, sagte sie zu ihm:
„Meine Gebieterin grüßt euch, und lässt euch bitten, dem Prinzen von
Persien diesen Brief zuzustellen.“ Der treue Ebn Thaher nahm den Brief, und
kehrte zu dem Prinzen zurück, in Begleitung der vertrauten Sklavin …“

Scheherasade hörte bei dieser Stelle auf zu reden, weil
sie den Tag anbrechen sah. In der folgenden Nacht nahm sie ihre Erzählung
wieder auf, und sprach zu dem Sultan von Indien:


1)
Fulkulmaghur bedeutet: die unverschleierte Morgenröte.