Project Description

201. Nacht

„Herr, als die vertraute Sklavin der Schemselnihar
sich entfernt hatte, vergaßen der Prinz von Persien und Ebn Thaher ihre
Versicherung, dass sie nichts zu fürchten hätten. Sie untersuchten die ganze
Galerie, und wurden von der äußersten Furcht ergriffen, als sie keinen Ausweg
sahen, durch welchen sie entschlüpfen konnten, wenn es etwas dem Kalifen oder
einigen seiner Leute einfiele, dorthin zu kommen.

Ein heller Schein, den sie plötzlich von der Gartenseite
durch die Gitterfenster erblickten, veranlasste sie näher zu treten, und zu
sehen, woher er käme. Er entstand von hundert weißen Wachsfackeln, welche
ebenso viele junge schwarze Verschnittene in der Hand trugen. Diesen Jünglingen
folgten mehr als hundert ältere Verschnittene, sämtlich von der Frauenwache im
Palast des Kalifen, und ebenso gekleidet und mit einem Säbel bewaffnet, wie
diejenigen, von denen ich schon erzählt habe. Hinter ihnen ging der Kalif
zwischen Mesrur, ihrem Oberhaupt, zu seiner Rechten, und Wasif1),
ihrem zweiten Befehlshaber, zu seiner Linken.

Schemselnihar erwartete den Kalifen am Anfang eines
Baumganges, in Begleitung von zwanzig Frauen, sämtlich von auffallender
Schönheit und geschmückt mit Halsbändern und Ohrgehängen aus großen
Diamanten, so wie ihr ganzer Kopf mit anderen kleineren Diamanten bedeckt war.
Sie sangen zum Schall ihrer Instrumente, und machten ein herrliches Konzert.
Sobald Schemselnihar den Fürsten erblickte, näherte sie sich ihm und warf sich
zu seinen Füßen. Aber indem sie diese Gebärde machte, sagte sie bei sich
selber: „Ach, Prinz von Persien, wenn eure betrübten Augen Zeugen sind von
dem, was ich tue, so ermesst die Härte meines Schicksals! Ja, vor euch wollte
ich mich gern also demütigen: Mein Herz würde kein Widerstreben dabei
empfinden.“

Der Kalif war sehr erfreut, Schemselnihar zu sehen:
„Steht auf, Herrin,“ sagte er zu ihr, „und tretet näher. Ich
mache mir selber Vorwürfe, das ich mich so lange des Vergnügens, euch zu
sehen, beraubt habe.“ Mit diesen Worten fasste er sie bei der Hand, und
indem er ihr ohne Aufhören verbindliche Sachen sagte, ging er hin und setzte
sich auf den silbernen Thron, welchen Schemselnihar für ihn hatte bringen
lassen. Sie selber setzte sich auf einen Stuhl vor ihm, und die zwanzig Frauen,
auf ihren Stühlen, schlossen einen Kreis um sie, während die jungen
Verschnittenen mit den Fackeln sich in gewisser Entfernung voneinander im Garten
zerstreuten, damit der Kalif desto bequemer der Frische des Abends genießen
konnte.

Als der Kalif sich gesetzt hatte, schaute er um sich her,
und sah mit großer Zufriedenheit den Garten von unzähligen Lichtern
erleuchtet, außer den Fackeln der jungen Verschnittenen. Er bemerkte aber, dass
der Saal verschlossen war. Er verwunderte sich darüber und fragte nach der
Ursache. Es war absichtlich geschehen, um ihn zu überraschen. Denn kaum hatte
er davon gesprochen, so öffneten die Fenster sich alle auf einmal, und er sah
den Saal von innen und von außen so glänzend und geschmackvoll erleuchtet, als
er es noch nie gesehen hatte.

„Reizende Schemselnihar,“ rief er bei diesem
Schauspiel aus, „ich verstehe euch. Ihr wollt mir zu erkennen geben, dass
es ebenso schöne Nächte gibt, als die schönsten Tage. Nach dem, was ich hier
sehe, kann ich es nicht leugnen.“

Aber wir kommen wieder zu dem Prinzen von Persien und Ebn
Thaher, die wir in der Galerie gelassen haben. Ebn Thaher konnte nicht genug
alles bewundern, was seinen Blicken sich darbot. „Ich bin nicht mehr
jung,“ sagte er, „und ich habe in meinem Leben manche große Feste
gesehen: Aber ich glaube nicht, dass man noch etwas so erstaunliches sehen kann,
und das von so viel Größe zeugt. Alles, was man uns von bezauberten
Schlössern erzählt, ist nicht mit dem wunderbaren Schauspiel zu vergleichen,
welches wir hier vor Augen haben. Welcher Reichtum, und zugleich welche
Pracht!“

Der Prinz von Persien blieb ungerührt von allen diesen
glänzenden Erscheinungen, welche Ebn Thaher so viel Vergnügen machten. Er
hatte nur Augen für Schemselnihar, und die Gegenwart des Kalifen versenkte ihn
in eine unbeschreibliche Traurigkeit. „Teurer Ebn Thaher,“ sagte er,
„wollte Gott, dass mein Geist leicht genug wäre, um, wie ihr, nur bei dem
zu verweilen, was meine Bewunderung erregen muss! Aber ach! Ich bin in einem
ganz anderen Zustand. Alle diese Gegenstände dienen nur dazu, meine Qual zu
vermehren. Kann ich den Kalifen bei derjenigen sehen, die ich liebe, ohne vor
Verzweiflung zu sterben? Ach, dass eine so zärtliche Liebe, wie die meine,
durch einen so mächtigen Nebenbuhler getrübt werden muss! O Himmel, wie
seltsam und grausam ist mein Schicksal! Vor einem Augenblick noch war ich der
glücklichste Liebende von der Welt, und jetzt fühle ich mein Herz von einem
Stoß verwundet, der mit den Tod gibt. Ich kann nicht länger widerstehen, mein
Ebn Thaher, meine Geduld ist am Ende. Mein Herz überwältigt mich, und mein Mut
erliegt.“ Indem er diese letzten Worte aussprach, sah er im Garten etwas
vorgehen, das ihn unterbrach und seine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Der Kalif hatte einer der Frauen in seiner Nähe befohlen,
zu ihrer Laute zu singen, und sie hub ihren Gesang an. Die Worte, welche sie
sang, waren sehr leidenschaftlich, und der Kalif, in der Meinung, dass sie
dieselben auf Befehl Schemselnihars sänge, die ihm oft ähnliche
Zärtlichkeitsbezeigungen gegeben hatte, legte sie zu seinen Gunsten aus. Das
war aber diesmal nicht Schemselnihars Absicht. Sie bezog sich auf ihren
geliebten Ali Ebn Bekar, und sie wurde durch den Anblick eines Gegenstandes,
dessen Gegenwart sie nicht länger aushalten konnte, von einem so heftigen
Schmerz durchdrungen, dass sie in Ohnmacht fiel. Sie sank zurück auf ihrem
Stuhl, der keine Armlehnen hatte, und sie würde heruntergefallen sein, wenn
nicht einige ihrer Treuen ihr schleunig beigesprungen wären. Sie huben sie auf,
und trugen sie in den Saal. Ebn Thaher, in der Galerie, erschrak über diesen
Vorfall, und drehte den Kopf nach dem Prinzen, aber anstatt ihn an das Gitter
gelehnt zu sehen, um hindurch zu schauen, wie er, sah er ihn zu seinem größten
Erstaunen bewegungslos zu seinen Füßen hingestreckt liegen. Er erkannte
darüber die Stärke der Liebe, von welcher der Prinz für Schemselnihar
ergriffen war; und er bewunderte die seltsame Wirkung der Sympathie, die ihn
aber, wegen des Ortes, wo sie sich befanden, in tödliche Angst versetzte. Er
tat unterdessen, was er vermochte, um den Prinzen wieder zu sich selber zu
bringen, aber alles war vergeblich.

Noch war Ebn Thaher in dieser Verlegenheit, als die Türe
der Galerie sich öffnete, und Schemselnihars Vertraute außer Atem und wie eine
Person, die nicht mehr wusste, wo sie war, herein trat. „Kommt
schleunig,“ rief sie ihnen zu, „dass ich euch hinauslasse. Alles ist
hier in Verwirrung, und ich fürchte, dies hier ist unser letzter Tag.“

„Ja, wie sollen wir denn von hier wegkommen?“,
antwortete Ebn Thaher mit einem Ton, der seine ganze Traurigkeit ausdrückte.
„Ich bitte euch, tretet näher, und seht, in welchem Zustand der Prinz von
Persien sich befindet.“

Als die Sklavin ihn ohnmächtig sah, lief sie, ohne die
Zeit mit Reden zu verlieren, nach Wasser, und kam in wenigen Augenblicken wieder
zurück.

Endlich erholte sich der Prinz von Persien wieder, nachdem
man ihm Wasser ins Gesicht gespritzt hatte. „Prinz,“ sagte nun Ebn
Thaher zu ihm, „wir laufen Gefahr, beide umzukommen, ihr und ich, wenn wir
noch länger hier verweilen. Rafft euch also zusammen, und lasst uns schleunigst
entfliehen.“

Der Prinz war so schwach, dass er nicht allein aufstehen
konnte. Ebn Thaher und die Vertraute halfen ihm auf, fassten ihn unter beiden
Armen, und gingen so mit ihm bis zu einer kleinen eisernen Türe, die nach dem
Tigris führte. Sie gingen hinaus, bis an das Ufer eines kleinen Kanals, der mit
dem Fluss in Verbindung stand. Die Vertraute klatschte mit den Händen, und
sogleich erschien ein kleines Boot, und nahte sich ihnen mit einem einzigen
Ruderer. Ali Ebn Bekar und sein Gefährte stiegen ein, und die vertraute Sklavin
blieb am Ufer des Kanals.

Sobald der Prinz sich in dem Boot niedergesetzt hatte,
streckte er die eine Hand nach dem Palast hin, legte die andere auf sein Herz,
und rief mit schwacher Stimme aus:

„Zum Abschied strecke ich meine schwache Hand aus,
und decke die andere auf den Brand, der in meinem Herzen wütet.
Möchte doch dieser Besuch nicht der letzte bei dir gewesen, und dieser Abschied
nicht der letzte von dir sein!
Teures Kleinod meiner Seele, nimm mein Gelübde von dieser Hand, während ich
dich mit der andern versichere, dass mein Herz immerdar die Glut bewahren wird,
von welcher es für dich entbrannt ist! …“

Bei dieser Stelle bemerkte Scheherasade, dass es schon Tag
war. Sie schwieg also, und in der nächsten Nacht begann sie wieder
folgendermaßen:


1)
Wassyff bedeutet: Dienst tuender Page.