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20. Nacht

Dinarsade hatte so große Lust, das Ende von der
Geschichte des jungen Prinzen zu hören, dass sie in dieser Nacht früher als
gewöhnlich erwachte. „Meine Schwester,“ sprach sie, „ich bitte
dich, vollende die gestrige Geschichte. Ich nehme so großen Teil an dem
Schicksal des jungen Prinzen, und ich sterbe vor Furcht, dass er von der Ogerin
und ihren Kindern gefressen werde.“

Nachdem Schachriar dasselbe Verlangen bezeigt hatte, sagte
die Sultanin: „Wohlan, Herr, ich will euch von dieser Furcht
befreien.“

Als die falsche Prinzessin von Indien dem jungen Prinzen
geraten hatte, sich Gott zu empfehlen, dachte er wohl, dass sie es nicht
aufrichtig mit ihm meinte, sondern dass sie ihn schon als ihre gewisse Beute
ansah, aber er hob die Hände gen Himmel und sprach: „Herr, der du
allmächtig bist, wirf dein Auge auf mich, und befreie mich von dieser bösen
Feindin.“

Auf dieses Gebet trat das Weib des Ogers in die Hütte
zurück, und er entfernte sich schleunigst von ihr. Glücklicherweise fand er
seinen Weg wieder, und kam gesund und wohlbehalten bei dem König, seinem Vater,
an, welchem er Stück für Stück die Gefahr erzählte, in welche er durch die
Nachlässigkeit des Wesirs geraten war. Der König, erzürnt über seinen
Minister, ließ ihn auf der Stelle erdrosseln.

„Herr,“ fuhr der Wesir des griechischen Königs
fort, „um auf den Arzt Duban zurückzukommen. Das Vertrauen, das ihr auf
ihn habt, wird euch verderblich sein. Ich weiß von guter Hand, dass eure Feinde
einen Kundschafter ausgeschickt haben, um Euer Majestät nach dem Leben zu
trachten. Er hat euch geheilt, sagt ihr: Aber wer kann euch das verbürgen? Er
hat euch vielleicht nur scheinbar geheilt und nicht gründlich. Wer weiß, ob
dieses Mittel mit der Zeit nicht eine schädliche Wirkung tut?“

Der griechische König, welcher wenig Mutterwitz hatte,
war nicht scharfsinnig genug, um die boshafte Absicht seines Wesirs zu
durchschauen, noch war er standhaft genug, um in seiner ersten Gesinnung zu
beharren. Diese Rede machte ihn wankend: „Wesir,“ sagte er, „du
hast Recht: er kann ausdrücklich deshalb hergekommen sein, mir das Leben zu
nehmen, was er sehr wohl, durch den bloßen Geruch eines seiner Säfte bewirken
könnte. Wir müssen überlegen, was unter diesen Umständen zu tun ist.“

Als der Wesir den König in der Stimmung sah, in welcher
er ihn haben wollte, sagte er zu ihm: „Das sicherste und das schleunigste
Mittel, euch von dieser Furcht zu befreien, und euer Leben in Sicherheit zu
setzen, ist, auf der Stelle den Arzt Duban holen zu lassen, und ihm, sobald er
kommt, das Haupt abschlagen zu lassen.“

Der König rief sogleich einen seiner Beamten, und befahl
ihm, nach dem Arzt zu gehen, welcher auch, ohne zu wissen, was der König
wollte, eilig in den Palast kam.

„Weißt du wohl,“ sprach der König, als er ihn
sah, „weshalb ich dich hierher gefordert habe?“ – „Nein,
Herr,“ antwortete er, „und ich erwarte, dass Euer Majestät geruhe,
mich davon zu unterrichten.“ – „Ich habe dich kommen lassen,“
fuhr der König fort, „um mich von dir zu befreien, indem ich dir das Leben
nehme.“

Es ist nicht möglich, das Erstaunen des Arztes
auszudrücken, als er sein Todesurteil aussprechen hörte. „Herr,“
sagte er, „welche Ursache kann Euer Majestät haben, mich töten zu
lassen?“ – „Ich weiß von guter Hand,“ erwiderte der König,
„du bist ein Kundschafter, und nur deshalb an meinen Hof gekommen, um mir
nach dem Leben zu trachten; aber um dir zuvorzukommen, will ich dir das deine
rauben. – Hau‘ zu,“ sprach er zum gegenwärtigen Scharfrichter, „und
befreie mich von einem Verräter, der sich bloß hier eingeschlichen hat, um
mich zu ermorden.“

Aus diesem grausamen Befehl erkannte der Arzt wohl, dass
die Ehren und Wohltaten, welche er vom König empfangen hatte, ihm Feinde
erweckt hatten, und dass der schwache König sich von ihren Vorspiegelungen
hatte einnehmen lassen. Es gereute ihn, dass er ihn vom Aussatz geheilt hatte,
aber diese Reue kam jetzt zu spät.

„Auf solche Weise also,“ sprach er zu ihm,
„belohnt ihr mich für die Wohltat, welche ich euch erzeigt habe?“

Der König hörte nicht auf ihn, und befahl dem
Scharfrichter zum zweiten Mal, den Todesstreich zu tun.

Der Arzt legte sich nun aufs Bitten: „Ach,
Herr,“ rief er aus, „lasst mir noch länger das Leben, damit Gott das
eure verlängere: Lässt mich nicht töten, aus Furcht, dass Gott euch nicht
dasselbe widerfahren lasse!“

Der griechische König erwiderte ihm hartherzig:
„Nein, nein, es ist durchaus notwendig, dass ich dich umbringen lasse. Du
könntest mir noch geschickter das Leben nehmen, als du mich geheilt hast.“

Der Arzt zerfloss in Tränen, beklagte sich bitterlich,
und bereitete sich, den Todesstreich zu empfangen, indem er zum König sprach:
„Das also ist mein Lohn für den Dienst, welchen ich dir erzeigt habe, und
du willst mir deine Erkenntlichkeit auf dieselbe Art beweisen, wie einst der
Krokodil tat.“

„Erzähle mir,“ unterbrach ihn der König,
„die Geschichte dieses Krokodils.“ – „In diesem Augenblick,“
erwiderte der Arzt, „kann ich sie dir nicht erzählen: aber lass mir das
Leben, und Gott wird es dir vergelten, und das deine verlängern.“

„Nein,“ rief der König aus, „du musst
sterben.“

Der Scharfrichter verband ihm die Augen, fesselte ihm die
Hände, und zog sein Schwert.

Da wurden die gegenwärtigen Hofleute von Mitleid bewegt,
und flehten den König um Gnade für ihn an; sie versicherten, dass er
unschuldig wäre, und verbürgten sich für seine Unschuld.

Der König aber war unerbittlich, und sprach auf solche
Weise zu ihnen, dass sie nichts zu erwidern wagten.

Der Arzt, auf den Knien, mit verbundenen Augen, und
bereit, den Streich zu empfangen, der seinem Leben ein Ende machen sollte,
wandte sich noch einmal an den König, und sprach zu ihm: „Herr, weil Euer
Majestät mein Todesurteil nicht widerrufen will, so flehe ich sie an, mir
wenigstens die Erlaubnis zu geben, nach Hause zu gehen, um mein Begräbnis
anzuordnen, den Meinigen das letzte Lebewohl zu sagen, Almosen auszuteilen, und
meine Bücher an Personen zu vermachen, welche fähig sind, davon Gebrauch zu
machen. Ich habe unter andern ein Buch, womit ich Euer Majestät ein Geschenk
machen will: Es ist ein kostbares Werk, und wohl würdig, in eurem Schatz
sorgfältig bewahrt zu werden.“

„Und wodurch ist dieses Werk so kostbar, wie du
sagst?“, fragte der König.

„Herr,“ erwiderte der Arzt, „weil es
unzählige wunderbare Dinge enthält, und um euch einen Begriff davon zu geben,
so sage ich euch, wenn mein Kopf abgehauen ist, und euer Majestät sich die
Mühe geben, und das Buch bis zum sechsten Blatt öffnen, und die dritte Linie
auf der linken Seite lesen will, so wird mein Kopf auf alle Fragen antworten,
welche ihr ihm tut.“

Der König, neugierig, eine so wunderbare Sache zu sehen,
verschob seinen Tod bis morgen, und entließ ihn, unter strenger Bewachung, nach
Hause.

Der Arzt ordnete während dieser Frist seine
Angelegenheiten; und da das Gerücht sich verbreitet hatte, dass nach seiner
Hinrichtung ein unerhörtes Wunder vorgehen sollte, so begaben sich am folgenden
Tag die Wesire, die Emire1),
die Offiziere der Leibwache, kurz, der ganze Hof, in den Thronsaal, um Zeugen
davon zu sein.

Bald erschien der Arzt Duban, welcher sich mit einem
großen Buch in der Hand dem Fuß des königlichen Thrones nahte. Hier ließ er
sich ein Becken herbringen, über welches er die Decke ausbreitete, womit das
Buch verhüllt war; und indem er dem König das Buch darbot, sprach er zu ihm:

„Herr, nehmt, wenn es euch gefällt, dieses Buch, und
sobald mein Haupt abgehauen ist, so befehlt, dass man es in dieses Becken auf
die Hülle des Buchs setze, wenn es dort steht, wird das Blut aufhören zu
fließen: Dann öffnet das Buch, und mein Kopf wird auf alle eure Fragen
antworten. – Aber, Herr,“ fügte er hinzu, „erlaubt mir nochmals, die
Gnade eurer Majestät anzuflehen; im Namen Gottes lasst euch erweichen. Ich
beteuere euch, dass ich unschuldig bin.“

„Deine Bitten,“ antwortete der König,
„sind unnütz, und wenn es bloß wäre, um deinen Kopf reden zu hören, so
will ich deinen Tod.“

Indem er dieses sagte, nahm er das Buch von den Händen
des Arztes, und befahl dem Scharfrichter, seine Schuldigkeit zu tun.

Der Kopf wurde so geschickt abgehauen, dass er in das
Becken fiel, und kaum war er auf die Decke gesetzt, so stand das Blut still.
Darauf öffnete er, zum großen Erstaunen des Königs und aller Zuschauer, die
Augen, und sprach folgende Worte:

„Herr, möge euer Majestät jetzt das Buch
öffnen.“

Der König öffnete es, und da er fand, dass das erste
Blatt wie fest geleimt an dem zweiten klebte, so brachte er, um es leichter
umzuwenden, seinen Finger an den Mund, und benetzte ihn mit Speichel. Er
wiederholte dasselbe bis zum sechsten Blatt, und als er auf der bezeichneten
Seite keine Schrift sah, sprach er zu dem Kopf: „Arzt, hier steht nichts
geschrieben.“ – „Wendet noch einige Blätter um,“ antwortete der
Kopf.

Der König fuhr fort zu blättern, indem er immer den
Finger mit dem Mund benetzte, bis das Gift, womit jedes Blatt getränkt war,
seine Wirkung tat: Da fühlte der König sich plötzlich von einem
außerordentlichen Schauder ergriffen; es schwindelte ihm vor den Augen, und er
stürzte unter heftigen Zuckungen vom Thron …“

Bei diesen Worten erblickte Scheherasade den Tag und
hörte auf zu reden.

„Ach, meine Schwester,“ sagte darauf Dinarsade,
„wie verdrießt es mich, dass ihr nicht mehr Zeit habt, diese Geschichte zu
vollenden!“

Aber Schachriar, weit entfernt, diesen Tag die Hinrichtung
der schönen Scheherasade zu befehlen, erwartete mit Ungeduld die folgende
Nacht; so großes Verlangen hatte er, das Ende der Geschichte des griechischen
Königs zu hören, so wie den Verlauf der Geschichte des Fischers mit dem Geist.


1)
Emir, d.i. Fürst, heißen die vornehmsten Haus-Beamten der Kalifen. Von
amara, befehlen.