Project Description

198. Nacht

„Schemselnihar trat also in die Mitte der zehn
Frauen, die sie an der Türe erwartet hatten. Sie war leicht unter ihnen zu
erkennen, sowohl durch ihren Wuchs und ihre majestätische Haltung, als durch
eine Art Mantel von einem sehr leichten himmelblauen, mit Gold durchwirkten
Stoff. Sie trug diesen auf den Schultern befestigt, über ihrem Kleid, welches
das sauberste, geschmackvollste und prächtigste war, das man sich nur denken
kann. Die Perlen, Diamanten und Rubinen, welche ihr zum Schmuck dienten, waren
nicht in überladung ausgestreut: Alles war nur in kleiner Anzahl da, aber
auserlesen und von unschätzbarem Wert. Sie trat mit einer Majestät daher, wie
die Sonne in ihrem Lauf mitten durch das Gewölk, welches ihren Glanz aufnimmt,
ohne ihn zu verhüllen, und setzte sich auf den silbernen Thron, der für sie
hergebracht war.

Sobald der Prinz von Persien Schemselnihar erblickte,
hatte er nur Augen auf sie. „Man erkundigt sich nicht mehr nach dem, das
man suchte, sobald man es erblickt,“ sprach er zu Ebn Thaher, „und
aller Zweifel schwindet, sobald die Wahrheit sich offenbart. Seht ihr diese
bezaubernde Schönheit? Sie ist die Ursache meiner Leiden, die ich segne, und
nicht aufhören werde zu segnen, wie hart und wie langwierig sie auch sein
mögen! Bei diesem Anblick bin ich meiner selbst nicht mehr mächtig. Meine
Seele gerät in Unruhe und Empörung, und ich fühle, dass sie mich verlassen
will. So geh denn hin, oh meine Seele, ich erlaube es dir! Aber tue es zum Wohl
und zur Erhaltung dieses gebrechliches Leibes. – Ihr seid es, grausamer Ebn
Thaher, der diese Verwirrung veranlasst hat: ihr wähntet mir ein großes
Vergnügen zu machen, indem ihr mich hierher führtet, und ich sehe, dass ich
zur Vollendung meines Verderbens her gekommen bin – Verzeiht mir,“ fuhr er
fort, indem er sich wieder fasste, „ich täusche mich, gern bin ich
hergekommen, und ich habe nur mich anzuklagen.“ Bei diesen Worten zerfloss
er in Tränen.

„Es freut mich,“ sagte Ebn Thaher darauf,
„dass ihr mir Gerechtigkeit widerfahren lasst. Als ich euch sagte, dass
Schemselnihar die Favoritin des Kalifen ist, tat ich es ausdrücklich deshalb,
um dieser unseligen Leidenschaft zuvorzukommen, welche ihr mit Wohlgefallen in
eurem Herzen nährt. Alles, was ihr hier seht, muss euch davon abwenden, und ihr
dürft nur noch den Empfindungen der Dankbarkeit Raum geben, für die Ehre,
welche Schemselnihar euch erweist, indem sie mir befahl, euch mit mir zu
bringen. Ruft also eure verwirrte Vernunft wieder zurück, und setzt euch in den
Stand, vor ihr zu erscheinen, wie der Wohlstand es fordert. Seht, da kommt sie.
Wäre es nicht schon so weit gediehen, so würde ich andere Maßregeln nehmen.
Weil aber die Sache nun einmal geschehen ist, so bitte ich Gott, dass es uns
nicht gereuen möge. – Was ich euch noch einzuschärfen habe,“ fuhr er
fort, „ist, dass die Liebe eine Verräterin ist, und euch in einen Abgrund
stürzen kann, aus welchem ihr euch nie wieder befreit.“

Ebn Thaher hatte nicht Zeit, noch mehr zu sagen, weil
Schemselnihar herankam. Sie setzte sich auf ihren Thron, und grüßte sie beide
durch eine Neigung des Hauptes. Aber ihre Augen verweilten auf dem Prinzen von
Persien, und beide unterredeten sich miteinander in einer stummen, mit Seufzern
untermischten Sprache, durch welche sie sich in wenigen Augenblicken mehr
sagten, als sie in langer Zeit durch Worte vermocht hätten. Je länger
Schemselnihar den Prinzen ansah, je mehr bestärkten ihre Blicke sie in dem
Gedanken, dass er gegen sie nicht gleichgültig wäre, und schon überzeugt von
der Gegenliebe des Prinzen, fühlte sie sich die glücklichste Sterbliche auf
der Welt. Sie wandte endlich ihre Augen von ihm, und befahl den Frauen, die
zuerst gesungen hatten, sich zu nähern. Diese standen auf, und während sie
herantraten, kamen die schwarzen Weiber aus dem Baumgang wieder hervor, trugen
ihnen die Stühle nach, und stellten sie nahe an das vorspringende Fenster des
Saales, wo Ebn Thaher und der Prinz von Persien saßen, dergestalt, dass die
Stühle mit dem Thron der Favoritin und den Frauen zu ihren Seiten, einen
Halbkreis vor ihnen bildeten.

Als die Frauen, welche zuvor auf den Stühlen saßen, auf
einen Wink Schemselnihars, alle ihren Platz wieder eingenommen hatten, wählte
ihre reizende Herrin eine von ihnen aus, zu singen. Nachdem diese Frau ihre
Laute gestimmt hatte, sang sie folgendes Lied:

„Der Geliebte eilt zu der Geliebten, und die
Zärtlichkeit macht beide Herzen zu einem Herzen.
Sie nahen sich dem Bach der Liebe, und genießen in vollem Maße seines
köstlich süßen Wassers.“

Hier verweilen sie, und mit Tränen im Auge wiederholen
sie sich folgende Worte:

„Warum gehöre ich nicht dir, und du mir an? Allein
das Geschick ist schuld daran, nicht uns ist die Schuld zuzuschreiben, die wir
unter dem Einfluss des Geschickes stehen.“

Schemselnihar deutete durch Blicke und Gebärden diese
Worte so sichtlich auf sich und den Prinzen von Persien, dass dieser sich nicht
länger halten konnte. Er stand halb auf, lehnte sich über die Fensterbrüstung
hinaus, und bat eine von den nächsten Gespielinnen der Frau, die eben gesungen
hatte, auf sein Tun acht zu geben, und da sie nahe war, sagte er zu ihr:
„Merkt auf mich, und erzeigt mir die Gefälligkeit, mit eurer Laute den
Gesang zu begleiten, den ich anstimmen werde.“ Und nun sang er folgendes
Lied:

„Wegen der großen Entfernung, die zwischen dir und
mir ist, ziemt meinem Auge nichts anders als Weinen: Du Wonne und Sehnsucht
meiner Augen, du einziges Ziel meiner wünsche, du mein Abgott!
Erleichtere das Schicksal desjenigen, dessen Augen in Tränen des Kummers und
der Betrübnis schwimmen, dessen Liebe sein Innerstes durchdringt, und dessen
Schwermut sonst lebenslang dauern wird.“

Sobald er geendigt hatte, folgte Schemselnihar seinem
Beispiel, und sagte zu einer ihrer Frauen: „Merke auf mich, und begleite
meine Stimme.“ Zu gleicher Zeit sang sie ein Lied, welches das Herz des
Prinzen nur noch mehr in Flammen setze; und dieser antwortete ihr wieder durch
einen Gesang, der noch leidenschaftlicher war, als der zuerst gesungene.

Als die beiden Liebenden also durch ihre Gesänge ihre
wechselseitige Zärtlichkeit erklärt hatten, vermochte Schemselnihar nicht
länger der Gewalt der ihrigen zu widerstehen. Ganz außer sich erhub sie sich
von ihrem Thron, und näherte sich der Türe des Saales. Der Prinz, ihre Absicht
verstehend, erhub sich auch sogleich und eilte ihr entgegen. Beide begegneten
sich unter der Türe, wo sie einander die Hände entgegenstreckten, und sich mit
solcher Inbrunst umarmten, dass sie ohnmächtig wurden. Sie wären umgesunken,
wenn die Frauen, welche Schemselnihar gefolgt waren, es nicht verhindert
hätten. Diese hielten sie aufrecht, und trugen sie auf ein Sofa, wo sie sie
wieder zu sich brachten, indem sie ihnen wohlriechendes Wasser ins Gesicht
spritzten und sie mehrere andere Wohlgerüche einziehen ließen.

Als beide wieder zur Besinnung gekommen waren, war das
erste, was Schemselnihar tat, dass sie nach allen Seiten um sich blickte, und da
sie Ebn Thaher nicht sah, fragte sie hastig, wo er wäre. Ebn Thaher hatte sich
aus Ehrerbietigkeit entfernt, während die Frauen um ihre Gebieterin
beschäftigt waren, und fürchtete mit Recht üble Folgen von dem, was er eben
gesehen hatte. Sobald er hörte, dass Schemselnihar nach ihm fragte, näherte er
sich, und trat vor sie hin …“

Bei dieser Stelle hörte die Sultanin Scheherasade auf zu
erzählen, weil der Tag anbrach. In der folgenden Nacht fuhr sie also fort: