Project Description

195. Nacht

Dinarsade, die nie versäumte, ihre Schwester zu wecken,
rief sie diese Nacht zur gewöhnlichen Stunde: „Meine liebe
Schwester,“ sagte sie zu ihr, „der Tag wird bald anbrechen. Ich bitte
dich, uns bis dahin noch eine der anmutigsten Geschichten zu erzählen, die du
weißt.“

„Du brauchst keine andere zu wählen,“ sagte
Schachriar, „als die
von der Liebe des Abulhassan Ali Ebn Bekar und der Schemselnihar, Favoritin des
Kalifen Harun Arreschyd.“

„Herr,“ sagte Scheherasade, „ich will sogleich eure Neugier
befriedigen.“ Zu gleicher Zeit begann sie folgendermaßen:

Geschichte
des Abulhassan Ali Ebn Bekar und der Schemselnihar, Favoritin des Kalifen Harun
Arreschyd

„Unter der Regierung des Kalifen Harun Arreschyd
lebte zu Bagdad ein Spezereihändler, Namens Abulhassan Ebn Thaher, ein Mann mit
großem Reichtum, wohl gebildet und von sehr angenehmer Persönlichkeit. Er hatte
mehr Geist und Feinheit, als gewöhnlich die Leute seines Gewerbes haben. Seine
Rechtlichkeit, seine Aufrichtigkeit und seine heitere Laune machten ihn beliebt
und gern gesehen bei aller Welt. Der Kalif, der seinen Wert kannte, setzte in
ihn ein blindes Vertrauen. Er schätzte ihn so hoch, dass er ihm ganz die Sorge
überließ, seine Favoritinnen mit allem zu versehen, dessen sie nötig haben
möchten. Er war es also der für sie die Kleider, das Hausgerät und den
Schmuck auswählte, und tat dieses mit bewunderungswürdigem Geschmack.

Seine guten Eigenschaften und die Gunst des Kalifen zogen
die Söhne der Emire und der anderen Beamten vom ersten Rang in sein Haus, und
dieses war der Sammelplatz des ganzen Hofadels.

Aber unter den jungen Herren, die ihn täglich besuchten,
war einer, den er höher achtete, als alle die anderen, und mit dem er eine
besondere Freundschaft gestiftet hatte. Dieser Herr nannte sich Abulhassan Ali
Ebn Bekar, und stammte aus einem alten persischen Königshaus, welches noch zu
Bagdad bestand, nachdem die Muselmänner Persien durch Gewalt der Waffen erobert
hatten. Die Natur schien ein Vergnügen daran gefunden zu haben, in diesem
Prinzen alle seltenen Eigenschaften des Leibes und des Geistes zu vereinigen.
Sein Gesicht war von vollendeter Schönheit, sein Wuchs schlank, sein Anstand
leicht, und seine Miene so einnehmend, dass man ihn nicht ansehen konnte, ohne
ihn sogleich zu lieben. Wenn er sprach, so geschah es immer in treffenden und
gewählten Ausdrücken, mit anmutiger und neuer Wendung. Selbst der Ton seiner
Stimme hatte etwas, das Alle bezauberte, die ihn hörten. Dabei hatte er viel
Geist und Scharfsinn, und dachte und sprach über alle Dinge mit
bewunderungswürdiger Angemessenheit. Er war so zurückhaltend und bescheiden,
dass er nie etwas behauptete, ohne mit aller möglichen Vorsicht den Verdacht
abzuwenden, als ob er seine Meinung anderen aufdrängen wollte. Bei solchen
Eigenschaften, wie ich eben an ihm gerühmt habe, darf man sich nicht wundern,
dass Ebn Thaher ihn vor den übrigen jungen Herren des Hofes auszeichnete, die
meistenteils seinen Tugenden entgegen gesetzte Laster hatten.

Eines Tages, als dieser Prinz bei Ebn Thaher war, erschien
eine Frau auf einem schwarz und weiß gefleckten Maultier, in der Mitte von zehn
Sklavinnen, welche sie zu Fuß begleiteten, und alle sehr schön waren, so viel
man aus ihrer Haltung und durch den Schleier erkennen konnte, der ihr Gesicht
bedeckte. Die Frau trug einen rosafarbenen vier Finger breiten Gürtel, auf
welchem Perlen und Diamanten von außerordentlicher Größe glänzten, und in
Ansehung ihrer Schönheit wie leicht zu bemerken, übertraf sie ihre Frauen so
weit, als der Vollmond den zweitägigen Neumond. Sie hatte irgend einen Einkauf
gemacht, und da sie mit Eben Thaher zu sprechen hatte, so trat sie in seinen
Laden, der sauber und geräumig war, und er empfing sie mit allen Zeichen der
tiefsten Ehrerbietung, und bat sie, sich zu setzen, indem er ihr mit der Hand
den Ehrenplatz anwies.

Der Prinz von Persien, der eine so schöne Gelegenheit,
seine Feinheit und Höflichkeit zu zeigen, nicht wollte vorübergehen lassen,
legte das Kissen von Goldstoff zurecht, welches der Frau zur Lehne dienen
sollte, und zog sich dann eilig zurück, damit sie sich niedersetzen könnte.
Hierauf begrüßte er sie, indem er den Teppich zu ihren Füßen küsste, erhob
sich wieder und blieb am Ende des Sofas vor ihr stehen. Da sie mit Eben Thaher
auf vertrautem Fuß stand, so nahm sie ihren Schleier ab, und ließ den Augen
des Prinzen von Persien eine so außerordentliche Schönheit entgegen strahlen,
dass er davon bis ins Herz getroffen wurde. Die Frau ihrerseits konnte sich auch
nicht enthalten, den Prinzen zu betrachten, dessen Anblick auf sie denselben
Eindruck machte.

„Herr,“ sagte sie zu ihm mit freundlicher Miene,
„ich bitte euch, setzt euch.“

Der Prinz von Persien gehorchte, und setzte sich auf den
Rand des Sofas. Seine Augen blieben stets auf sie geheftet, und er verschlang in
langen Zügen das süße Gift der Liebe. Denn ihre Schönheit war so groß, dass
man folgende Verse eines Dichters auf sie anwenden konnte:

„Sie ist die Sonne, und ihr Wohnsitz ist der Himmel:
Tröste also dein Herz mit dem besten Troste.
Denn zu ihr vermag man nicht hinaufzusteigen,
und sie kann nicht zu dir herab.“

Sie bemerkte bald, was in seiner Seele vorging, und diese
Entdeckung musste sie vollends für ihn entflammen. Sie stand auf, näherte sich
Ebn Thaher, und nachdem sie ihm ganz leise die Absicht ihres Besuches gesagt
hatte, fragte sie ihn nach dem Namen und Vaterland des Prinzen von Persien.
„Herrin,“ antwortete ihr Ebn Thaher, „dieser junge Herr, von dem
ihr redet, nennt sich Abulhassan Ali Ebn Bekar, und ist ein Prinz von
königlichem Geblüt.“

Die Frau war erfreut, zu vernehmen, dass derjenige, den
sie schon so leidenschaftlich liebte, von so hohem Stand war. „Ihr wollt
ohne Zweifel sagen,“ begann sie wieder, „dass er von den Königen von
Persien abstammt?“

„Ja, Herrin,“ erwiderte Ebn Thaher, „die
letzten Könige von Persien sind seine Ahnen. Seit der Eroberung dieses
Königreichs haben die Prinzen seines Hauses sich am Hofe unserer Kalifen stets
hervorgetan.“

„Ihr macht mir ein großes Vergnügen,“ sagte
sie hierauf, „mich mit diesem jungen Herrn bekannt zu machen.“ –
„Sobald ich diese Frau sende,“ fügte sie hinzu, indem sie auf eine
ihrer Sklavinnen zeigte, „um euch zu mir zu entbieten, so bitte ich euch,
ihn mitzubringen. Ich möchte ihm gern die Pracht meines Hauses zeigen, damit er
rühmen könne, dass bei den vornehmen Leuten in Bagdad der Geiz nicht herrscht.
Ihr versteht wohl, was ich sagen will. Vergesst es nicht, sonst bin ich sehr
böse auf euch, und komme in meinem Leben nicht wieder hierher.“

Ebn Thaher hatte zu viel Scharfsinn, um aus diesen Worten
nicht die Empfindungen der Frau zu erkennen. „Meine Fürstin, meine
Königin,“ erwiderte er, „Gott bewahre mich, euch jemals einen Anlass
zum Zorn gegen mich zu geben. Ich werde mir es stets zum Gesetz machen, eure
Befehle zu vollziehen.“

Auf diese Antwort nahm die Frau Abschied von Ebn Thaher,
indem sie ihm eine Verneigung mit dem Kopf machte, und nachdem sie dem Prinzen
von Persien einen freundlichen Blick zugeworfen hatte, bestieg sie wieder ihr
Maultier und ritt weg …“

Bei dieser Stelle schwieg die Sultanin Scheherasade zum
großen Missvergnügen des Sultans von Indien, welcher aufstehen musste, weil
der Tag schon anbrach.

Sie setzte in der folgenden Nacht diese Geschichte fort,
und sagte zu Schachriar: