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190. Nacht

Das seltsame Zusammentreffen in dieser Nacht ließ den
Kalifen kein Auge schließen: Alles, was er gesehen hatte, dünkte ihm ein
unauflösliches Rätsel. Sobald der Tag anbrach, verrichtete er sein
Morgengebet, rief den Propheten an, und ließ das Frühstück bringen. Bald
erschien auch Mesrur, und sagte zu ihm: „Stellvertreter Gottes, die
Minister und Staatsbeamten, welche den Saal der Ratsversammlung erfüllen,
bieten einen wahrhaft stattlichen Anblick dar, bloß du fehlst noch. Komm und
verschönere ihn durch deine Gegenwart, zeige dich den Kriegern, die dich
lieben, sprich deinen Untertanen, die dich anbeten, Recht, und verbreite deine
Wohltaten über alle Geschöpfe Gottes.“ Der Kalif stand auf, legte seinen
Mantel und alle den Schmuck an, der die höchste Herrschergewalt ankündigt und
ehrwürdig macht, trat in den Diwan, und bestieg den Thron. Sogleich reihten
sich um ihn her, und zwar jeder nach seinem Rang, die Großen, die Feldherren,
die Minister, die Weisen, die Dichter, mit einem Wort alle die Personen, welche
den Staatsrat bilden. Nun tat der Obertürsteher mit lauter Stimme die
gewöhnlichen Wünsche für das Wohl des Kalifen, und alle Anwesenden
antworteten im Chor. Hierauf trat ein anderer Staatsbeamter auf, wendete sich zu
dem Kalifen und sagte: „Oh du, der du die Gipfel der Macht und des Ruhmes
erreicht hast, hüte dich vor der Trunkenheit des Stolzes, morgen geht deine
Herrschaft schon zu Ende. Ewige Dauer der Herrschaft ist bei Gott allein. Wie
oft hat nicht die Welt ihre Gestalt und ihren Gebieter vertauscht? Sprich mit
mir: Ehre und Herrlichkeit dem, dessen Herrschaft keinem Wechsel
unterliegt!“

Nach diesem las der Vorleser Sprüche der Religion und der
Sittenlehre vor.

Der Kalif gab hierauf dem Vorleser das Zeichen zu
schweigen, und ging an Abfertigung seiner Regierungsgeschäfte, ohne von seinem
Abenteuer gegen irgend jemanden ein Wort zu erwähnen. Zur gewöhnlichen Stunde
stand der Diwan von seinen Sitzen auf, die Kriegerscharen entfernten sich und
Harun ging in den Saal der Privataudienzen, worin er bis gegen Abend blieb,
indem er den Anbruch der Nacht mit der größten Ungeduld erwartete. Endlich
zeigten sich die ersten Sterne, und man vernahm den Hahnenruf, welcher
verkündet: „Ihr Trägen, die ihr schlaft, bezeugt die Einheit und Größe
dessen, der da nimmer schläft.“ Harun wendete sich jetzt an Giafar und
sagte: „Wesir, wir wollen uns jetzt den neuen Kalifen ansehen gehen.“
Giafar fing an zu lachen und fragte ihn, ob es denn einen alten und einen neuen
Kalifen gäbe. „Ganz gewiss,“ erwiderte Harun, „ich bin der alte
Kalif, und unser junger Mann ist der neue. Dies ist ein gewaltiger Vorzug, den
er vor mir voraus hat, denn du kennst ja die Worte des Dichters:

„Die Neuheit hat stets einen großen Reiz, doch finde
ich keinen in der Erscheinung der Vorboten des Alters.
Unnütze Klage! Jugend, die du dich so herrlich ankündigst, warum endest du so
traurig?“

„Giafar, man wird alles dessen, was alt ist, endlich
müde, und die Einwohner von Bagdad könnten auch wohl meiner Herrschaft
überdrüssig geworden sein.“ – „Du täuschest dich, Fürst der
Gläubigen,“ antwortete ihm der Wesir, „du bist und wirst stets der
mächtigste und geliebteste der Herrscher bleiben, und wir werden nie aufhören,
deine treuen Untertanen zu sein.“ Harun brach das Gespräch ab, und ließ
die Verkleidung herbeibringen, die ihnen zu ihrem heutigen Vorhaben dienen
sollte. Sie traten darauf, als Kaufleute verkleidet, durch die geheime Tür des
Palastes, und begaben sich raschen und munteren Schrittes nach den Ufern des
Tigris, wo der Fährmann sie erwartete. „Gott segne dich!“, rief
Harun, als er ihn von weitem bemerkte. „Hier sind zwanzig Zechinen zum Lohn
für deine Pünktlichkeit.“ Zugleich stiegen sie in das Schiff, und
begannen ihre Lustfahrt. Alsbald entdeckte man auch die Gondel des neuen
Kalifen, welche sich näherte. Der Fährmann erreichte schnell den Zufluchtsort,
wohin er sich bereits in der vorigen Nacht geflüchtet hatte, und von da aus
konnten sie mit Muße sie vorüberschiffen sehen. Vor dem Kalifen standen
sechzig Mamelucken, noch schöner als die vorigen, und auch noch prächtiger
gekleidet.

Die Gondel landete nicht weit von ihrem Zufluchtsort, und
der falsche Kalif stieg mit seinem ganzen Gefolge ans Land. Harun bat
gleichfalls den Fährmann, ihn ans Ufer zu bringen, weil er diesem Abenteurer
folgen wollte. Dieser gehorchte, und sie holten jenen bald so weit ein, dass er
ihnen nicht mehr aus dem Gesicht entschwinden konnte. Sie folgten ihm nun
Schritt vor Schritt, ohne dass man sie bemerken konnte, denn sie waren im
Dunkeln, und konnten beim Licht der zahlreichen Fackeln, welche diesen Zug
erhellten, alles genau unterscheiden.

Der falsche Kalif hatte ein prächtiges arabisches Pferd
bestiegen, welches mit einem kostbaren Geschirr angetan war, nach Art der
Abbasyden. Vor ihm her zogen alle seine Mamelucken in der schönsten Ordnung,
und ein Diener eröffnete den Zug, der auf Befehl des Fürsten der Gläubigen
mit lauter Stimme rief: „Wer irgend aus seinem Hause gehen oder aus dem
Fenster sehen wird, dessen Vermögen wird in Beschlag genommen und er selbst mit
dem Tode bestraft werden. Gott bewahre uns vor dem Zorn der Könige!“

Dieser Ausruf brachte Harun zum lachen, welcher zu Giafar sagte: „Hörst du
die Drohungen, die er gegen seine Untertanen ausstößt?“ –
„Glücklicherweise,“ erwiderte Giafar, „sind wir es nicht, und
überhaupt nicht Willens, seinen Befehlen zu gehorchen. Gott erhalte uns den
Kalifen Harun Arreschyd.“ – „Wesir, nimm dich in Acht,“ erwiderte
Harun, „jener da ist der wahre Kalif.“ – „In der Tat, wenn ihr
nicht bei uns währt, so könnten wir uns dadurch leicht täuschen lassen.
Allein, mächtigster Fürst, wohin wollt ihr uns denn führen?“ – „In
sein Gefolge. Ich bin entschlossen, ihm überall hin zu folgen, wohin er sich
nur wenden mag, und, wenn es sein muss, die ganze Nacht so hinzubringen, um das
Ende des Abenteuers zu sehen.“ Sie gingen nun hinter ihm her, und gelangten
nach einem sehr langen Gange an die äußersten Gärten der Stadt. Allmählich
kamen sie so nahe, dass sie sich unter das Gefolge mischten. Doch sie wurden
hier bald entdeckt. Man hielt sie für Kaufleute und verhaftete sie.

Als man sie festgenommen hatte, gereute den Wesir seine
Nachgiebigkeit, und er sagte ganz leise zu dem Kalifen: „Du hast uns an den
Abgrund des Verderbens geführt. Es ist sehr möglich, dass dieser Mensch auf
uns zornig wird, und uns das Leben nehmen lässt.“ – „Bewaffne dich
mit Geduld,“ sagte Harun, „Gott verlässt die Geduldigen nicht.“

Unterdessen führten die Trabanten, die sich ihrer
bemächtigt hatten, sie vor den neuen Kalifen, und sagten zu ihm:
„Stellvertreter Gottes, hier sind drei Männer, welche mitten unter uns
einhergingen. Es sind Fremde, wir haben sie angehalten und führen sie vor dich.
Du hast jetzt über ihr Schicksal zu entscheiden.“

Als der falsche Kalif sie erblickte, stieß er einen
entsetzlichen Schrei aus und sprach zu ihnen: „Elende! Wer seid ihr? Wer
hat euch hierher geführt? Habt ihr nicht die öffentliche Bekanntmachung
vernommen? Bei meinem erhabenen Vorfahren schwöre ich, sofern ihr mir die
Wahrheit verhehlt, so will ich euch die Hände und Beine abhauen lassen! Solltet
ihr die Absicht gehabt haben, mir zu trotzen, meine Würde zu beleidigen, und
euch gegen meine erhabenen Befehle zu empören?“

„Kalif, mächtiger Herr der Erde, beruhige
dich,“ erwiderte Harun, „bis wir uns werden näher erklärt haben.
Wenn du uns unsere Entschuldigungsgründe genehmigst, so wird dies ein Beweis
von deiner Güte sein, und wofern du uns das Leben nimmst, so werden wir deine
Gerechtigkeit nicht tadeln können.“

„Wir wollen sehen. Was könnt ihr zu eurer
Entschuldigung anführen?“ – „Wir sind Fremde, die heute zum ersten Mal
nach Bagdad gekommen sind. Wir durchstreiften die Straßen und Märkte, und da
wir zu unserer Verwunderung sie menschenleer fanden, fragten wir, wo denn die
Bewohner einer so volkreichen Stadt alle geblieben wären. Man antwortete uns,
dass jetzt alle an den Unfern des Tigris lustwandelten, oder auf seiner
Stromfläche spazieren führen, denn dies sei jetzt das Vergnügen der
Jahreszeit. Wir, meine Gefährten und ich, lieben die Fröhlichkeit. Wir begaben
uns daher auf diese Nachricht nach dem Ufer des Flusses, welcher mit einer
unermesslichen Menschenmenge bedeckt war, die sich hier belustigte. Es wurde da
gegessen und getrunken, und wir folgten diesem schönen Beispiel. Sodann fanden
wir einen Kahn. Der Schiffer nahm uns ein, und führte uns ohne Schwierigkeit an
das jenseitige Ufer, wo wir ausstiegen und uns eine lange Weile belustigten.
Unser Fährmann hatte Lust zu schlafen. Er streckte sich also in seiner Barke
hin, und empfahl uns dringend, ihn noch vor Abend zu wecken, damit er uns in die
Stadt zurückfahren könne. Wir selber, nachdem wir einen weiten Spaziergang
gemacht, schliefen ein, und erwachten später als der Fährmann, als es schon
sehr dunkel geworden war. Dieser machte uns jetzt wegen unserer Unachtsamkeit
Vorwürfe. „Hatte ich euch nicht gebeten, mich noch vor Abend zu
wecken?“ – „Der Schlaf hat uns ebenfalls beschlichen, wie konnten wir
dich da wecken? Allein, was ist es weiter? Wir werden die Nacht hier
zubringen.“ – „Aber wir sind ja hier nicht vor Räubern sicher. Ich
fürchte für euch und mich.“

Mit diesen Worten steuerte unser Schiffer in die offene
Strömung hinein. Die Nacht war schon weit vorgerückt. Er führte uns an dies
Ufer. Zufällig bemerkte er einen sehr hellen Schein und sagte zu uns:
„Seht ihr jene Fackeln dort? Es ist ein Neuvermählter, der jetzt soeben
heimfährt. Folgt ihm nach, so werdet ihr dann dem Hochzeitschmaus beiwohnen
können. Seine Sklaven spielen geschickt alle Instrumente. Ihr werdet euch da
bis zu Tagesanbruch belustigen können und nach eingenommenen Frühstück tun
können, was euch beliebt, und hingehen, wohin ihr wollt, denn hier zu Lande ist
alles sicher und ruhig, und ihr habt nichts zu fürchten.“ – Dies, Herr,
bewog uns, euch zu folgen, in der Meinung, wir würden an einem Hochzeitmahl
teilnehmen können. So mischten wir uns dann unter euer Gefolge, wo man uns
anhielt, und die öffentliche Bekanntmachung, wovon ihr sprecht, haben wir gar
nicht gehört.“ – „Es ist ein Glück für euch,“ erwiderte der
falsche Kalif, „dass ihr nicht Einwohner von Bagdad seid. Ihr würdet sonst
der gerechten Strafe nicht entgangen sein. Da ihr indessen Fremde seid, so seid
mir willkommen, beruhigt euch und fürchtet nichts. Ich lade euch ein, den noch
übrigen Teil der Nacht hindurch meine Gäste zu sein.“ – „Ihr erweist
uns sehr viel Ehre,“ antwortete Harun, „und wir bitten euch, oh Fürst
der Gläubigen, unseren Dank anzunehmen.“ Giafar näherte sich hierauf dem
Harun und sagte ganz leise zu ihm: „Stellvertreter Gottes, du bist sehr
fein.“ – „Schweige still.“

Sie zogen nun mit dem übrigen Gefolge bis zu dem Palast
des falschen Kalifen fort, der am hintersten Ende der Gärten lag. Die
Stockwerke dieses Palastes wurden von Säulen getragen, die einen herrlichen
Anblick darboten. Die Haupttüre war von Ebenholz, mit Riegeln und Beschlägen
von gediegenem Gold und von der glänzendsten Politur…