Project Description

189. Nacht

Geschichte
des Ali Schach

oder

Der angebliche Kalif

Scheherasade begann in der nächsten Nacht die Geschichte
des angeblichen Kalifen folgendermaßen.

Harun Arreschyd, der Kalif von Bagdad, hatte eines Abends in einem Saal seines
Palastes vierundzwanzig seiner ausgezeichneten Hofleute versammelt, worunter
sich der Minister Abrahym Ishâk el Nedym, der Dichter Abul Newas, der
Großwesir Giafar der Barmekide, und Mesrur, der Vollstrecker seiner erhabenen
Befehle, befanden. Die Unterhaltung begann und handelte diesmal von der Prosa,
der Dichtkunst und der Beredsamkeit. Jeder erzählte eine Geschichte, sagte
Verse her, gab Rätsel auf, sang Lieder, und so war die Mitternacht
herangekommen, ohne dass man den Flug der Zeit bemerkt hatte. Sie baten jetzt
den Kalifen um die Erlaubnis, sich entfernen zu dürfen, und er gewährte sie
ihnen. Der Wesir Giafar und Mesrur bleiben bis zuletzt, und schickten sich
ebenfalls an, nach Hause zu gehen, doch der Kalif hielt sie zurück und sagte:
„Giafar, setze dich.“ Giafar gehorchte. „Weißt du wohl,“
fuhr der Kalif fort, „warum ich dich diese Nacht bei mir behalte?“ –
„Gott allein kennt das Verborgene!“, rief Giafar. – „Nun gut, ich
habe da einen Einfall, dass wir uns nämlich alle drei verkleiden und bis zu
Anbruch des Tages auf dem Tigris zu Schiff spazieren fahren. Die Langweile
drückt mich, es liegt mir wie ein Stein auf dem Herzen, und ungeachtet so viel
Anziehendes und Interessantes in unserer Unterhaltung vorgekommen ist, so habe
ich doch keine Freude daran gefunden. Vielleicht gelingt es mir jetzt, mich zu
zerstreuen. Wir sind ja eben in der Jahreszeit, wo man dergleichen nächtliche
Lustfahrten auf dem Tigris unternimmt, und du weißt, dass die Armen wie die
Reichen da spazieren fahren.“ – „Mächtiger Fürst,“ erwiderte
der Großwesir, „es steht ganz in deinem Belieben, und wenn du bei Tag oder
Nacht auf dem Tigris fahren willst, wer könnte dich daran hindern?“ –
„Nun gut, so wollen wir fort!“ – Sogleich legten der Kalif, Giafar und
Mesrur ihre Kleider ab, verkleideten sich als Kaufleute, und gingen durch eine
verborgene Tür, die sie nach den Ufern des Tigris führte. Wie groß war ihr
Erstaunen, als sie niemanden da sahen, obgleich gerade um diese Zeit mehr als
hundert Gondeln dort hätten sein müssen. Alljährlich haben nämlich die
Bewohner Bagdads während des Sommers die Gewohnheit, einen Teil der Nacht auf
dem Tigris hinzubringen. Jeder hat da nach seinem Vermögen eine mehr oder
minder stattliche Barke oder Gondel.

Der Kalif, der sich von seinem Staunen gar nicht erholen
konnte, sagte zum Großwesir: „Warum ist der Fluss denn so einsam und öde?
Wer hindert denn die Einwohner Bagdads, hier spazieren zu fahren?“ –
„Die Menschen,“ sagte Mesrur, „sind nicht zu allen Zeiten froh
und vergnügt, großer König, und gerade dieser Zeitvertreib sagt nur
denjenigen zu, die nach ihrer Bequemlichkeit leben können, weil nur sie, wenn
sie die Nacht durchwacht haben, den folgenden Morgen schlafen können, ohne dass
ihre Gelegenheiten darunter leiden. Doch der Arme, der sich durch seine Arbeit
seinen Lebensunterhalt verdienen muss, und der in der Tat den ganzen Tag lang
arbeitet, ist bei Anbruch der Nacht müde und denkt nicht leicht an
Spazierfahrten auf dem Tigris, und gesetzt, er käme hierher, würde er dann
wohl den folgenden Morgen wieder an sein Tagewerk gehen können, um für sich
und die Seinigen das Brot zu verdienen? Das ist ohne Zweifel der Grund, warum
wir niemanden hier antreffen.“

„Dieser Grund ist ganz richtig in Hinsicht auf die
arbeitende Klasse. Allein welcher Ursache soll man das Ausbleiben der Kaufleute,
der Reichen, der Beamten beimessen?“ – „Ich gestehe, das ist mir ein
Rätsel,“ antwortete Giafar. – „So wollen wir wenigstens ein Fahrzeug
zu bekommen suchen, um darauf zu fahren.“ – Unter diesen Gesprächen gingen
sie das Ufer des Tigris entlang. Auf einmal bemerkten sie einen alten Mann, der
in seinem Kahn eingeschlafen war. Der Kalif schickte Mesrur mit dem Befehl hin,
ihn zu wecken und herbeizuführen. Der Schiffer kam heran und fragte, was sie
wollten. Harun sagte ihm, er möchte die Hand herreichen. Er tat es. Der Kalif
legte ihm zwanzig Goldstücke hinein und sagte: „Da hast du, jetzt musst du
uns aber auch in deiner Barke einige Stunden spazieren fahren.“ –
„Tritt herein. Gott behüte uns vor Unglück.“ Sie traten in das
Schiff, ohne den Sinn dieses Ausrufes zu verstehen.

Der Schiffer gewann bald die Mitte der Strömung und fing
an, sie den Tigris herunterzufahren. Auf einmal bemerkte man eine Gondel, welche
immer näher kam. Sie war von vergoldeten Fackeln erleuchtet, in welchen
harzreiches Holz brannte, und die von zwei Männern in Atlaskleidern getragen
wurden. Bei diesem Anblick rief der Fährmann erschrocken: „Großer Gott,
behüte uns vor dem Unglück, das uns droht. Unsere letzte Stunde ist da!
Verwünscht sei die Habsucht! Denn sie hat mich ins Verderben gelockt und
verleitet, eure zwanzig Goldstücke anzunehmen.“ Und in dieser Art fuhr er
weinend in seinen Verwünschungen gegen den Kalifen und seine Begleiter fort,
die er für bloße Kaufleute hielt. Der Kalif lachte aus vollem Halse und sagte:
„Mein lieber Fährmann, warum überhäufst du uns so mit
Schmähungen?“ – „Und warum sollte ich euch nicht verwünschen, da ihr
mich in den Abgrund des Unglücks gestürzt habt!“ – „Fürchte nichts.
Es soll dir nicht mehr zu Leide geschehen, als uns.“ – „Das glaube
ich. Man wird euch den Kopf abschneiden, wie mir, und zwar in wenigen
Augenblicken, und dann werden wir freilich ein gleiches Los haben.“ –
„Und wer wird uns denn den Kopf abschneiden?“ – „Seht ihr denn
nicht jene Gondel, die uns zur Seite fährt? Der Herr dieser Gondel wird uns das
antun lassen.“ – „Wer ist es denn?“ – „Es ist der Kalif
Harun. Er hat bekannt machen lassen, dass demjenigen, der des Nachts auf dem
Tigris spazieren fahren würde, der Kopf abgeschnitten werden solle, und er wird
es uns gewiss nicht schenken.“ – Harun Arreschyd antwortete ihm: „Da
du dies Verbot kanntest, warum hast du uns denn nicht davon benachrichtigt, so
würden wir uns keiner solchen Gefahr ausgesetzt haben.“ – „Als ihr
mir die zwanzig Goldstücke überreichtet, bewog mich mein Elend, zu schweigen.
Aber warum habt ihr nicht beim Eintritt in mein Boot auf meinen Ausruf gehört:
Gott behüte uns vor Unglück!“ – Der Kalif sagte darauf: „Wie sollen
wir uns jetzt keine Hoffnung mehr, außer auf Gott allein,“ fuhr er fort,
fing an zu weinen, und sagte einige Gebete her, um sich zum Tod vorzubereiten.

Die Verzweiflung dieses Unglücklichen rührte den
Kalifen, und um ihn zu trösten, bot er ihm noch zwanzig Goldstücke mit den
Worten an: „Lieber Freund, führe uns in jene dunkel Bucht, damit wir die
Gondel des Kalifen vorbeifahren lassen, vielleicht entgehen wir seinen
Blicken.“ Der Fährmann nahm die zwanzig Zechinen an.

Zufällig waren sie nicht weit von einem Lusthaus
entfernt, welches auf hohe Grundpfähle gebaut war. Dies war für sie ein
wahrhaft gefundener Zufluchtsort, und zwei Barken hätten sich da ganz bequem
verbergen Können. Der Fährmann war so glücklich, da hinein zu schlüpfen, ehe
die andere Gondel sie bemerkte.

Als sie vorübergesegelt war, fingen Harun, Giafar und
Mesrur an, sie aufmerksam zu betrachten. Diese Gondel war prächtig zu nennen.
Von allen Ecken und Enden blickte Gold, mit den zierlichsten Malereien
untermischt. Beim Schein zweier goldnen Fackeln sah man Waffen von allen
Gattungen, Schwerter, Säbel, Lanzen und Köcher von bewunderungswürdiger
Arbeit, blitzen. Das Hinterteil des Schiffes war mit kostbaren Teppichen bedeckt
und mit einem Sofa, das mit Samtkissen belegt war, die mit Gold, Perlen und
Korallen besetzt waren. In der Mitte erhob sich ein goldener, mit Perlen und
Edelsteinen besetzter Thron, auf welchem ein junger Mann von der schönsten
Gestalt, in kostbaren Kleidern, nachlässig hingelehnt saß. Auf seiner Stirn
schimmerte eine königliche Binde, reich mit kostbaren Steinen geschmückt. Zu
seiner Rechten saß ein Mann, der dem Wesir Giafar dem Barmekiden glich, und zu
seiner Linken ein anderer, der die Rolle des Ishâk el Nedym spielte. Mesrur
stand vor ihm, und hinter ihnen standen reihenweise zwanzig junge Sklaven, deren
Gesichter so rund und glänzend waren wie der Vollmond. Dieser Teil der Gondel
war mit einem Samtstoff überdeckt, an welchem man weder Gold noch Edelsteine
gespart hatte, so dass er mit den Sternen, die bereits am Himmel funkelten,
wetteifern konnte.

Der junge Mann hatte einen mit Blumen geschmückten Tisch
vor sich, den zwei massivgoldene Leuchter, auf denen Wachskerzen brannten,
erleuchteten. Zu seinen Füßen dampften vier Räucherpfännchen, voll der
auserlesensten Wohlgerüche. Zwanzig Ruderer, die eben so schön als kraftvoll
und mit einer erstaunlichen Pracht gekleidet waren, beflügelten die Gondel auf
der Stromfläche hin.

Harun, der selber von der Schönheit dieses Schauspiels
überrascht war, konnte sich von seinem Staunen gar nicht erholen. Seine
Verwunderung verdoppelte sich, als er einen Mann vom Vorderteil des Schiffes
herab rufen hörte: „Alles Volk, Reiche und Arme, Freie und Sklaven,
Eingeborene und Fremde, gehorcht dem erhabenen Befehl des Fürsten der
Gläubigen, der da ist der Schatten Gottes auf Erden, der König der Könige,
der Schatz der Gnaden, die Stütze der Unglücklichen, der Gegenstand des Lobes
der weisen und Dichter, die unversiegbare Quelle der Macht und des Ruhmes, der
erhabene Geist, der Kalif Harun Arreschyd. Er verbietet euch, auf dem Tigris
spazieren zu fahren und eure Fenster zu öffnen. Der Ungehorsam wird mit dem Tod
und mit Beschlagnahme des Vermögens bestraft werden!“

Während dieses ganzen Aufrufes hatte Harun seine Augen
beständig auf dem angeblichen Kalifen gehabt. Je mehr er ihn betrachtete, desto
mehr Anmut, Adel und Schönheit fand er an ihm, und zu Giafar sich wendend,
fragte er diesen, ob er diese Person kenne. „Nein, ich kenne ihn gar
nicht,“ erwiderte der Wesir. – „Meiner Treu,“ fuhr der Kalif
fort, „er versteht sich vollkommen auf das Hofzeremoniell, denn er hat
nichts vergessen, was irgend zur äußeren Darstellung des Kalifen gehört. Was
mich aber am meisten überrascht, ist die ähnlichkeit, die ich zwischen dir und
demjenigen finde, der zu seiner Rechten ist. Die Person, die vor ihm steht,
gleicht nicht minder dem Mesrur, und seine Hofleute spielen die Rolle der
meinigen nicht übel. In der Tat, ich kann mich von meinem Staunen gar nicht
erholen.“

Sie verloren ihn nicht aus dem Gesicht, bis er an dem
benachbarten Ufer anlandete. Der falsche Kalif stieg nun ans Land, und setzte
sich auf ein prächtiges Pferd, während eine Menge von Bedienten mit Fackeln
und eine zahlreiche Schar von Sklaven paarweise vor ihm hergingen. Vor dem
ganzen Staatsgefolge zog ein Herold voran, der das Lob des Herrschers
verkündigte.

Als Harun bemerkte, das niemand mehr am Ufer sei, forderte
er den Fährmann auf, sie ans Land zu bringen. Sie wollten dem jungen Abenteurer
nachgehen, aber, da sie nicht wussten, wohin er seinen Weg genommen, so kehrte
der Kalif und seine Begleiter nach dem Palast zurück. Harun hatte das Fahrzeug
an derselben Stelle wieder verlassen, wo er es zuerst angetroffen, und dem
Fährmann noch zwanzig Zechinen gegeben und zu ihm gesagt: „Wir rechnen auf
deine Willfährigkeit. Morgen Abend erwarte uns hier. Wir sind Fremde, die in
einem Karawanserei wohnen. Wir lieben die Freude und wünschten gern einige
Stunden auf dem Fluss angenehm hinzubringen. Du kannst übrigens auf unsere
Großmut rechnen.“