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187. Nacht

„Herr, der Schneider erzählte dem Sultan von
Kaschghar nun vollends die Geschichte des jungen Hinkenden und des Barbiers von
Bagdad, ganz so, wie ich sie gestern Euer Majestät zu erzählen die Ehre
hatte:“

„Als der Barbier,“ fuhr er fort, „seine Geschichte geendigt
hatte, fanden wir, dass der junge Mensch nicht so ganz Unrecht gehabt hatte, ihn
einer großen Geschwätzigkeit zu beschuldigen. Gleichwohl wünschten wir, dass
er bei uns bleiben und an der Mahlzeit teilnehmen möchte, die der Herr des
Hauses für uns bereiten ließ. Wir setzten uns zu Tisch und erquickten uns bis
zum nachmittägigen Gebete. Dann entfernte sich die ganze Gesellschaft, und ich
ging in meinen Laden, um da zu arbeiten, bis es Zeit zum Nachhausegehen sein
würde.

In dieser Zwischenzeit war es, wo der kleine Bucklige sich
halb berauscht bei mir einfand, und auf seiner Schellentrommel spielte und dazu
sang. Ich glaubte, wenn ich ihn mit in meine Wohnung nähme, würde ich meiner
Frau dadurch eine kleine Belustigung verschaffen, und ich nahm ihn daher
wirklich mit. Meine Frau setzte uns ein Gericht Fische auf und ich legte dem
Buckligen ein Stück davon vor, welcher es verzehrte, ohne auf die Gräten darin
zu achten. Auf einmal fiel er vor uns besinnungslos zur Erde. Nachdem wir alle
Mittel, ihn wieder zum Leben zu bringen, vergebens versucht hatten, nahmen wir
in der Angst und Verlegenheit, welche uns ein so trauriger Vorfall verursachte,
keinen Anstand, die Leiche aus unserer Wohnung fortzuschaffen, und wir wussten
es so geschickt anzustellen, dass der jüdische Arzt ihn in sein Haus aufnahm.
Der jüdische Arzt ließ ihn sodann in das Zimmer des Lieferanten hinunter, und
der Lieferant trug ihn auf die Straße hinaus, wo man glaubte, dass ihn der
Kaufmann erschlagen habe. Dies war es, Herr,“ fügte der Schneider hinzu,
„was ich euch zu sagen hatte, um Euer Majestät zu befriedigen. Ihr habt
jetzt den Ausspruch zu tun, ob wir eure Gnade oder euren Zorn, das Leben oder
den Tod verdient haben.“

Der Sultan von Kaschghar ließ in seinen Mienen eine
Zufriedenheit blicken, welche dem Schneider und seinen Gefährten das Leben
wiedergab. „Ich kann nicht leugnen,“ sagte er, „dass ich von der
Geschichte des jungen Hinkenden, von der des Barbiers und von den Abenteuern
seiner Brüder mehr überrascht worden bin, als von der meines Narren. Aber
bevor ich euch alle vier entlasse, und den Körper des Buckligen zur Beerdigung
gebe, möchte ich wohl noch jenen Barbier sehen, welcher die Ursache eurer
Begnadigung ist. Da er sich in meiner Hauptstadt aufhält, so ist es ja sehr
leicht, meine Neugierde zu befriedigen.“ In diesem Augenblick fertigte er
einen seiner Diener ab, um ihn in Begleitung des Schneiders, welcher seinen
Aufenthaltsort ungefähr wusste, aufzusuchen.

Der Diener nebst dem Schneider kehrte sehr bald wieder
zurück, und sie brachten den Barbier vor den Sultan geführt. Der Barbier war
ein Greis von etwa neunzig Jahren, der einen schneeweißen Bart, eben solche
Augenbrauen, herunterhängende Ohren und eine sehr lange Nase hatte. Der Sultan
konnte sich nicht enthalten, bei seinem Anblick zu lachen. „Verschwiegener
Mann,“ sagte er zu ihm, „ich habe gehört, dass ihr so herrliche
Geschichten wisst, wolltet ihr mir wohl einige dergleichen erzählen?“ –
„Euer Majestät,“ erwiderte der Barbier, „wenn ihr es genehmigt,
so wollen wir für den Augenblick die Geschichten, die ich etwa wissen mag, sein
lassen. Ich bitte dagegen Euer Majestät ganz untertänigst um die Erlaubnis, zu
fragen, was dieser Christ, dieser Muselmann, und dieser tote Bucklige, den ich
hier vor euch liegen sehe, eigentlich hier machen? Der Sultan lächelte über
die Dreistigkeit des Barbiers und antwortete ihm: „Was geht dich das
an?“ – „Herr,“ erwiderte der Barbier, „es liegt mir sehr
viel daran, diese Frage zu tun, damit Euer Majestät sich überzeuge, dass ich
kein Schwätzer bin, wie manche Leute behaupten, sondern ein Mann, der mit Recht
der Verschwiegene genannt wird …“

Scheherasade, überrascht von der Tageshelle, welche in
das Zimmer des Sultans von Indien herein zu scheinen begann, schwieg hier still,
und nahm erst in der nächsten Nacht ihre Erzählung folgendermaßen wieder auf.