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186. Nacht

Der Barmekide erwies nun meinem Bruder unzählige
Liebkosungen. "Ich verzeihe dir," sagte er zu ihm, "nicht bloß
den Schlag, den du mir gegeben hast, sondern ich will selbst, dass wir von nun
an Freunde seien, und dass du kein anderes Haus habest, als das meinige. Du hast
die Gefälligkeit gehabt, dich in meine Laune zu schicken, und zugleich die
Geduld, den Scherz bis ans Ende auszuhalten. Wir wollen jetzt indes im Ernste
essen." Bei diesen Worten schlug er in die Hände, und befahl mehreren
Bedienten, die sogleich erschienen, den Tisch herbeizubringen und aufzutragen.
Man gehorchte auf der Stelle, und mein Bruder wurde nun mit denselben Gerichten
bewirtet, die er bisher bloß in der Einbildung genossen hatte. Als man die
Speisen abgeräumt hatte, brachte man Wein, und zugleich trat eine große Anzahl
schöner und reich gekleideter Sklavinnen herein, welche zum Klang von
Instrumenten einige anmutige Lieder sangen. Kurz, Schakaïk hatte alle Ursache,
mit der Güte und Artigkeit des Barmekiden, dessen Wohlgefallen er sich
erworben, zufrieden zu sein. Dieser Herr ging nun mit ihm ganz freundschaftlich
um, und ließ ihm ein Kleid aus seiner Kleiderkammer geben.

Der Barmekide fand in meinem Bruder so viel Verstand und
Einsicht, dass er ihm wenige Tage nachher die Besorgung seines ganzen Hauswesens
und aller seiner Angelegenheiten übertrug. Mein Bruder verwaltete dies Amt
zwanzig Jahre hindurch sehr glücklich. Nach Verlauf dieser Zeit starb der
edelmütige Barmekide vor Altersschwäche, und da er keine Erben hinterließ, so
nahm man sein ganzes Vermögen für den Sultan des Landes in Beschlag1).
Man nahm meinem Bruder alles das Geld, welches er gesammelt hatte, so dass er
sich bald wieder in seine frühere Lage versetzt sah, und sich endlich an eine
Karawane, die nach Mekka wallfahrtete, anschloss, in der Absicht, diese
Wallfahrt von den milden Almosen der Pilger bestreiten zu können.
Unglücklicherweise ward die Karawane von einer Schar Beduinen2)
angefallen und geplündert, und mein Bruder wurde Sklave eines Beduinen, der ihm
mehrere Tage hindurch Stockschläge gab, um ihn zu zwingen, sich loszukaufen.
Schakaïk versicherte ihm, das er ganz unnützerweise ihn misshandle. "Ich
bin dein Sklave," sagte er zu ihm, "und du kannst mit mir nach
Belieben schalten, aber ich versichere dich, dass ich mich in der tiefsten Armut
befinde, und dass ich durchaus nicht im Stande bin, mich loszukaufen." Doch
mein Bruder mochte ihm seine Dürftigkeit auseinander setzen, wie er nur immer
wollte, und ihn durch seine Tränen zu rühren suchen, der Beduine blieb
unerbittlich, und aus Verdruss darüber, dass ihm eine so bedeutende Summe, auf
die er gerechnet hatte, nun entgehe, nahm er sein Messer und schlitzte ihm die
Lippen auf, um sich durch diese Unmenschlichkeit für den Verlust zu rächen,
den er erlitten zu haben glaubte.

Der Beduine hatte eine sehr hübsche Frau, und oft wenn er
auf seien Streiferein ausging, ließ er meinem Bruder mit ihr allein. Dann
unterließ die Frau nichts, was ihn nur irgend über die Härte seines
Sklavenloses zu trösten vermochte. Sie ließ ihm sogar merken, dass sie ihn
liebe, aber er wagte, aus Furcht vor der Reue, nicht, ihre Leidenschaft zu
erwidern, und vermied ebenso sehr alle Gelegenheit, mit ihr allein zu sein, als
sie diese Gelegenheit suchte. Sie hatte es sich so sehr angewöhnt, mit dem
grausamen Schakaïk, so oft sie ihn nur sah, zu scherzen und ihre Neckerei zu
treiben, dass sie es einst sogar in Gegenwart ihres Mannes tat. Mein Bruder, der
nicht Acht gegeben, dass er sie beobachte, ließ sich zur Strafe seiner Sünden
einfallen, ihren Scherz zu erwidern. Der Beduine bildete sich nun sogleich ein,
dass sie beide in einem strafbaren Einverständnis lebten, und dieser Argwohn
machte ihn so wütend, dass er auf meinen Bruder losstürzte, ihn auf eine
grausame Weise verstümmelte, und ihn dann auf einem Kamel auf die Spitze eines
Berges führte, wo er ihn liegen ließ. Der Berg lag an der Straße nach Bagdad,
so dass die Vorüberreisenden, die ihn da sahen, mir von seinem Aufenthaltsorte
Nachricht gaben. Ich begab mich in Eile dahin, und fand den unglücklichen
Schakaïk in einem beklagenswerten Zustand. Ich verschaffte ihm die nötige
Hilfe, und führte ihn in die Stadt zurück."

"Das war es, was ich dem Kalifen Mostanser Billah
erzählte," fügte der Barbier hinzu. "Der Kalif gab mir wiederum
durch ein lautes Lachen seinen Beifall zu erkennen, und sagte: "Ich kann
jetzt nicht mehr daran zweifeln, dass man dir den Beinamen des Verschwiegenen
mit vollem Recht gegeben. Niemand kann das Gegenteil sagen. Indessen befehle ich
dir aus gewissen Gründen, eiligst die Stadt zu verlassen. Geh, und lass nichts
mehr von dir hören." Ich musste der Notwendigkeit weichen, und reiste
mehrere Jahre hindurch in entfernten Ländern umher. Endlich erfuhr ich, dass
der Kalif gestorben sei, und kehrte nach Bagdad zurück, wo ich aber nur noch
einen einzigen meiner Brüder am Leben fand. Bei meiner Rückkehr in diese Stadt
war es, wo ich dem jungen Hinkenden den wichtigen Dienst leistete, von dem ihr
gehört habt. Indessen ihr seid Zeugen seiner Undankbarkeit und der
schmachvollen Art und Weise, wie er mich behandelt hat. Anstatt mir
Erkenntlichkeit zu bezeigen, hat er es vorgezogen, mich zu fliehen und sich aus
seiner Heimat zu entfernen. Sobald ich erfuhr, dass er nicht mehr in Bagdad sei,
obwohl niemand mir sagen konnte, wohin er seinen Weg genommen, unterließ ich
doch nicht, mich aufzumachen und ihn aufzusuchen. Schon seit langer Zeit wandere
ich von Land zu Land, und heute, wo ich es am wenigsten dachte, habe ich ihn
endlich getroffen. Doch war ich gar nicht darauf gefasst, ihn so erbittert gegen
mich zu finden."

Scheherasade bemerkte bei dieser Stelle, dass es schon Tag
war, und schwieg still. Erst in der nächstfolgenden Nacht nahm sie den Faden
ihrer Erzählung wieder auf:


1)
Das Vermögen aller Staatsbeamten, auch wenn sie Erben hinterlassen, fällt dem
Sultan anheim.
2)
Die Beduinen sind bekanntlich Araber, welche in den Wüsten umherstreifen und
zum Teil von Beraubung der Karawanen leben.