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182. Nacht

Die Alte dankte hierauf meinem Bruder für seine
Gefälligkeit. Da sie sehr armselig gekleidet war und sich vor ihm so sehr
demütigte, glaubte er, sie verlange von ihm ein Almosen, und überreichte ihr
daher zwei Goldstücke. Sie trat überrascht zurück, gleichsam als hätte ihr
mein Bruder eine Beleidigung angetan. „Großer Gott!“, sagte sie zu
ihm, „was soll das bedeuten? Ist es möglich, Herr, dass ihr mich für eine
jener Elenden haltet, welche ein Gewerbe daraus machen, dreist zu den Leuten in
die Häuser zu gehen und von ihnen ein Almosen zu erbetteln? Nehmt euer Geld
zurück, ich bedarf dessen, Gott sei Dank, nicht. Ich gehöre einer jungen Dame
dieser Stadt an, die ebenso reizend als reich ist, und die es mir an nichts
fehlen lässt.“

Mein Bruder war nicht fein genug, um die List der Alten zu
merken, welche die beiden Goldstücke bloß darum ablehnte, um noch mehr zu
erschnappen. Er fragte sie, ob sie ihm die Ehre verschaffen könne, diese Dame
zu sehen. „Sehr gern,“ erwiderte sie. „Sie wird euch gewiss gern
heiraten und euch neben dem Besitz ihrer Person auch noch den ihres ganzen
Vermögens überlassen. Nehmt euer Geld und folgt mir.“ Ganz entzückt
darüber, dass er zu gleicher Zeit eine so große Summe Geld und eine reiche und
schöne Frau gefunden, verschloss er gegen jede andere Rücksicht die Augen. Er
nahm die fünfhundert Goldstücke und ließ sich von der Alten führen.

Sie ging voran und er folgte ihr von weitem bis an die
Tür eines großen Hauses, wo sie anklopfte. Er hatte sie eben eingeholt, als
eine junge griechische Sklavin öffnete. Die Alte hieß ihn voran hinein treten
und über einen schön gepflasterten Hof gehen, dann führte sie ihn in einen
Saal, dessen Ausschmückung ihn in der guten Meinung bestätigte, die man ihm
von der Besitzerin des Hauses beigebracht hatte. Während die Alte ihn bei der
jungen Dame anmelden ging, setzte er sich nieder, und da ihm sehr warm war, nahm
er den Turban ab und legte ihn neben sich. Alsbald sah er auch die junge Dame
herein treten, die ihn noch mehr durch ihre Schönheit als durch ihren reichen
Anzug in Staunen setze. Sobald er sie erblickte, stand er auf. Die Dame bat ihn
mit vieler Artigkeit, seinen Platz wieder einzunehmen und setze sich neben ihn.
Sie bezeugte viele Freude, ihn zu sehen, und nachdem sie ihm allerlei Angenehmes
gesagt hatte, fügte sie hinzu: „Wir sind hier nicht ganz in unserer
Bequemlichkeit, komm, gib mir die Hand.“ Mit diesen Worten überreichte sie
ihm die ihrige, und führte ihn in ein abgelegenes Zimmer, wo sie sich noch eine
Weile mit ihm unterhielt, worauf sie ihn mit den Worten verließ: „Bleibe
hier, ich bin in einem Augenblick wieder bei dir.“ Er wartete, allein statt
der Dame trat ein großer schwarzer Sklave mit dem Säbel in der Hand herein,
sah meinen Bruder mit wilden Blicken an und sagte stolz zu ihm: „Was machst
du hier?“ Annaschar ward bei diesem Anblick so von Schrecken ergriffen,
dass er gar nicht zu antworten vermochte. Der Sklave beraubte ihn nun, nahm ihm
alles Gold weg, das er bei sich trug, und versetzte ihm mehre Säbelhiebe, doch
bloß in das Fleisch. Der Unglückliche fiel zu Boden und blieb regungslos
liegen, obwohl er noch seine Besinnung hatte. Der Schwarze, der ihn für tot
hielt, verlangte nun Salz. Die griechische Sklavin brachte ein großes Becken
voll herein. Sie rieben damit die Wunden meines Bruders ein, welcher doch noch
so viel Gegenwart des Geistes hatte, dass er, ungeachtet des brennenden
Schmerzes, den er empfand, dennoch kein Zeichen des Lebens von sich gab. Nachdem
der Schwarze und die griechische Sklavin sich entfernt hatten, kam die Alte
wieder, welche meinen Bruder in die Falle gelockt hatte, fasste ihn bei den
Füßen und schleppte ihn zu einer Falltür, die sie öffnete. Sie warf ihn da
hinunter, und er fiel in ein unterirdisches Gewölbe auf einen Haufen ermordeter
Leichname. Er wurde dies erst gewahr, als er wieder zu sich kam, denn die
Heftigkeit des Falles hatte ihm alle Besinnung geraubt. Das Salz, womit seine
Wunden eingerieben waren, rettete ihm das Leben. Er erlangte allmählich wieder
so viel Kräfte, dass er sich aufrichten konnte, und nach Verlauf von zwei Tagen
öffnete er bei Nacht die Falltüre, entdeckte im Hof einen Ort, wo er sich
verstecken konnte, und blieb an demselben zu Tages Anbruch. Da sah er denn die
abscheuliche Alte wieder erscheinen, welche die Tür nach der Straße zu
öffnete und hinausging, um eine neue Beute aufzuspüren. Damit sie ihn nicht
erblicken möchte, ging er aus dieser Mördergrube erst einige Augenblicke
nachher heraus, und flüchtete sich in meine Wohnung, wo er mir alle die
Abenteuer mitteilte, die ihm in so kurzer Zeit begegnet waren.

Nach Verlauf eines Monats war er durch die Mittel, die ich
ihm verordnete, von seinen Wunden völlig wieder geheilt, und er beschloss, sich
an der Alten zu rächen, die ihn so grausam betrogen hatte. Zu diesem Zweck
machte er sich einen Beutel von solcher Größe, dass wohl fünfhundert
Goldstücke hineingingen, aber anstatt des Goldes füllte er bloß Glasscherben
hinein …“

Bei diesen letzten Worten bemerkte Scheherasade, dass es
bereits Tag war. Sie sprach daher diese Nacht kein Wort weiter, und erst in der
folgenden fuhr sie in der Geschichte Annaschars folgendermaßen fort: