Project Description

180. Nacht

Geschichte
des fünften Bruders des Barbiers

Annaschar war, so lange unser Vater lebte, ein sehr fauler
Mensch. Anstatt zu arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu gewinnen, schämte er
sich nicht, am Abend zu betteln, und den folgenden Tag von den empfangenen
Almosen zu leben. Unser Vater starb vor Altersschwäche, und hinterließ uns im
Ganzen nur siebenhundert Silberdrachmen. Wir teilten dies gleichmäßig unter
uns, so dass jeder hundert bekam. Annaschar, der niemals so viel Geld auf einmal
besessen hatte, geriet in große Verlegenheit darüber, was er wohl damit
anfangen sollte. Nachdem er die Sache lange Zeit bei sich hin und her überlegt
hatte, entschloss er sich endlich, das Geld auf Gläser, Flaschen und andere
Glaswaren anzulegen, die er sich sofort in dem Laden eines großen Kaufmanns
aussuchte. Er tat sodann alles zusammen in einen durchsichtig geflochtenen Korb,
und wählte sich einen ganz kleinen Laden, worin er sich hinsetzte, den Korb vor
sich, und mit dem Rücken an die Mauer gelehnt, indem er erwartete, dass man
kommen und von seinen Waren kaufen würde. In dieser Stellung und die Augen auf
den Korb geheftet, fing er an, seinen Gedanken nachzuhängen, und in diese
Träumerei versunken, führte er folgende Reden, und zwar so laut, dass sie sein
Nachbar, ein Schneider, hören konnte:

„Dieser Korb,“ sprach er, „kostete mich
hundert Drachmen, und das ist alles, was ich auf der Welt habe. Wenn ich die
Waren einzeln verkaufe, werde ich wohl zweihundert Drachmen daraus lösen, und
mit diesen zweihundert Drachmen, die ich wieder auf Glaswaren anlegen will,
werde ich vierhundert erwerben. So werde ich denn mit der Zeit mir viertausend
Drachmen sammeln. Von diesen viertausend Drachmen werde ich es leicht bis auf
achttausend bringen. Habe ich dann erst zehntausend, so gebe ich den
Glaswarenhandel auf, werde Juwelenhändler, und lege einen Handel mit Diamanten,
Perlen und allen Arten von Edelsteinen an. Besitze ich dann so viele
Reichtümer, als mein Herz wünscht, so kaufe ich mir ein schönes Haus, große
Landgüter, Sklaven, Verschnittene, Pferde. Ich führe dann einen guten Tisch,
mache Aufsehen in der Welt, und lasse alles, was nur irgend an guten
Tonspielern, Tänzern und Tänzerinnen in der Stadt zu haben ist, in mein Haus
kommen. übrigens werde ich es dabei nicht bewenden lassen, sondern, so Gott
will, es bis auf hunderttausend Drachmen bringen. Bin ich dann ein reicher Mann
von hunderttausend Drachmen, so werde ich mich als ein Fürst dünken, werde um
die Hand der Tochter des Großwesirs anhalten und diesem Minister vorstellen
lassen, ich hätte von der Wunderschönheit, von der Klugheit, dem Verstand und
allen übrigen seltenen Eigenschaften seiner Tochter gehört, und würde ihm
für die Hochzeitnacht tausend Goldstücke schenken. Sollte der Wesir so
unhöflich sein, was aber gar nicht möglich ist, mir seine Tochter zu
verweigern, so werde ich selber zu ihm hingehen, sie ihm geradezu entführen und
ihm zum Trotz in mein Haus bringen. Sobald ich die Tochter des Großwesirs
geheiratet habe, werde ich ihr zehn schwarze Verschnittene, und zwar recht junge
und schöne, kaufen. Ich selber werde mich wie ein Fürst kleiden, und auf einem
schönen Pferd, dessen Sattel vom feinsten Gold und dessen Decke von Goldstoff
und mit Diamanten und Perlen besetzt sein wird, durch die Stadt reiten, mit
einem Gefolge von Sklaven, die teils vor, teils hinter mir einher ziehend, und so
vor den Augen aller Welt, vor Jung und Alt, die sich tief vor mir bücken
werden, mich nach dem Haus des Großwesirs begeben. Bin ich dann beim Großwesir
abgestiegen, so steige ich durch eine zweifache, zu beiden Seiten aufgestellte
Reihe meiner Leute die Treppe hinauf, und der Großwesir empfängt mich als
seinen Schwiegersohn, und wird mir dann gewiss seinen Platz abtreten und sich,
um mich zu ehren, tief unter mich setzen. Wenn dies nun alles so geschieht, wie
ich hoffe, so sollen dann zwei meiner Leute, jeder mit einem Beutel von tausend
Goldstücken, den ich ihnen selber zu tragen gegeben, dastehen. Den einen Beutel
werde ich sodann nehmen und ihn dem Großwesir mit den Worten überreichen:
„Hier sind die tausend Goldstücke, die ich für die erste Nacht meiner Ehe
versprochen habe.“ Hierauf überreiche ich ihm auch noch den anderen und
füge hinzu: „Da habt ihr. Ich gebe euch noch einmal so viel, um euch zu
zeigen, dass ich ein Mann von Wort bin, und noch mehr gebe als ich
versprochen.“ Nach einer solchen Handlung wird die Welt von nichts, als nur
immer von meiner Großmut sprechen. Nachher werde ich mit demselben Pomp nach
meiner Wohnung zurückkehren. Meine Frau wird ihrerseits auf den Besuch, den ich
ihrem Vater, dem Großwesir, gemacht, mir einen ihrer Diener entgegenschicken,
um mich zu bewillkommnen. Ich werde diesem Diener ein schönes Kleid verehren,
und ihn mit einem reichen Geschenk zurücksenden. Sollte sie es sich einfallen
lassen, mir ebenfalls eines zu schicken, so werde ich es nicht annehmen, und den
überbringer sogleich aus meinen Diensten entlassen. Ich werde ihr übrigens nie
gestatten, unter irgend einem Vorwand ihr Zimmer zu verlassen, ohne dass sie mir
es zuvor angezeigt hat, und wenn mir es gefällig sein sollte, auf ihr Zimmer zu
kommen, so wird dies auf eine Weise geschehen, die ihr Ehrfurcht vor mir
einflößen wird. überhaupt soll es dann kein besser eingerichtetes Haus geben,
als das meinige. Ich werde stets sehr reich gekleidet sein. Wenn ich am Abend
mich mit ihr zurückziehe, so werde ich mich auf den Ehrenplatz des Sofas setzen
und daselbst eine ernsthafte Miene annehmen, ohne den Kopf links oder rechts hin
zu wenden. Ich werde wenig sprechen, und während meine Gemahlin, schön wie der
Vollmond, mit ihrem ganzen Staat sich vor mich hinstellen wird, werde ich tun,
als sähe ich sie nicht. Die Frauen ihrer Umgebung werden dann zu mir sagen:
„Verehrtester Herr und Gebieter, hier steht eure Gemahlin, eure demütige
Sklavin vor euch. Sie erwartet, dass ihr sie liebkosen werdet, und es schmerzt
sie sehr, dass ihr sie auch nicht eines einzigen Blickes würdigt. Sie ist von
dem langen Stehen so müde, sagt ihr doch, dass sie sich setzen dürfe.“
Ich werde auf die Rede gar nichts antworten, und das wird denn ihr Erstaunen und
ihre Betrübnis vermehren. Sie werden dann zu meinen Füßen stürzen, und
nachdem sie da eine lange Zeit auf den Knien gelegen und mich gebeten haben, ich
möchte mich doch erweichen lassen, so werde ich endlich den Kopf aufheben,
einen flüchtigen Blick auf sie werfen, und dann sogleich wieder meine vorige
Stellung annehmen. In der Meinung, meine Frau sei mir vielleicht nicht gut noch
reich genug gekleidet, werden sie dieselbe in ihr Gemach fortführen, um sie da
die Kleider wechseln zu lassen, und ich werde unterdessen ebenfalls aufstehen
und werde ein noch prächtigeres Kleid anlegen, als ich schon zuvor anhatte. Sie
werden dann noch einmal wiederkommen, und dieselben Reden gegen mich führen,
und ich werde mir das Vergnügen machen, meine Frau nicht anzusehen, nachdem ich
mich habe eben so lange und eben so dringend bitten lassen, als das erste Mal.
Gleich am ersten Hochzeitstage werde ich anfangs ihr begreiflich machen, auf
welche Weise ich sie ihr ganzes Leben hindurch zu behandeln gedenke …“

Bei diesen Worten schwieg die Sultanin Scheherasade, wegen
des anbrechenden Tages. In der folgenden Nacht fuhr sie in ihrer Erzählung
fort, und sagte zu dem Sultan von Indien: