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178. Nacht

„Der Dieb war so standhaft, dass er zwanzig bis
dreißig Hiebe aushielt, aber dann stellte er sich, wie vom Schmerz
überwältigt, öffnete zuerst das eine Auge, und sodann auch das andere, indem
er um Gnade flehte, und den Polizeirichter bat, mit den Stockschlägen aufhören
zu lassen. Als der Richter sah, dass der Dieb ihn mit offenen Augen anblickte,
wunderte er sich darüber. „Du Bösewicht,“ sagte er zu ihm, „was
soll denn dies Wunder bedeuten?“ – „Herr,“ erwiderte der Dieb,
„ich will euch ein wichtiges Geheimnis entdecken, wenn ihr mir Gnade
widerfahren lassen und mir zum Unterpfand, dass ihr mir Wort halten werdet,
diesen Ring, den ihr da am Finger habt und der euch als Petschaft dient, geben
wollt.“

Der Richter ließ sogleich mit den Stockschlägen
aufhören, übergab ihm seinen Ring, und versprach, ihm Gnade widerfahren zu
lassen. „Im Vertrauen auf diese Versicherung,“ erwiderte der Dieb,
„will ich euch, Herr, gestehen, dass wir alle vier, sowohl ich als meine
Kameraden, sehr gut sehen können. Wir stellen uns bloß blind, um frei in die
Häuser zu kommen und bis in die Gemächer der Frauen vordringen zu können,
deren Schwäche wir dann missbrauchen. Ich gestehe euch ferner, dass wir durch
diesen Kunstgriff gemeinschaftlich zehntausend Drachmen gewonnen haben. Ich
verlangte heute von meinen Mitgesellen die zweitausendfünfhundert Drachmen, die
mir als mein Anteil zukommen. Sie wollten mir sie indes nicht herausgeben, weil
ich ihnen erklärt hatte, ich wolle mich von ihnen zurückziehen, und weil sie
fürchteten, ich würde sie verklagen. Als ich nun von ihnen dringend meinen
Anteil forderte, stürzten sie auf mich los und misshandelten mich so, wie alle
die, welche uns hierher vor dich geführt, bezeugen können. Ich erwarte jetzt
von eurer Gerechtigkeit, Herr, dass ihr mir die mir zukommenden
zweitausendfünfhundert Drachmen werdet ausliefern lassen. Wenn ihr wollt, dass
euch meine Kameraden die Wahrheit dessen, was ich behaupte, eingestehen sollen,
so lasst ihnen dreimal so viel Stockschläge geben, als ich empfangen habe. Ihr
werdet sehen, sie werden die Augen öffnen, so gut wie ich.“

Mein Bruder und die beiden anderen Blinden wollten sich
gegen eine so abscheuliche Verleumdung rechtfertigen, aber der Richter gab ihnen
kein Gehör. „Schurken,“ rief er ihnen zu, „also darum stellt ihr
euch blind, um die Leute durch Erregung des Mitleids zu täuschen und die
bösesten Handlungen zu begehen?“ – „Es ist bloße Verleumdung,“
rief mein Bruder, „es ist unwahr, dass einer von uns gut sehen könne. Wir
können deshalb Gott zum Zeugen anrufen!“

Alles, was mein Bruder nur sagen mochte, blieb fruchtlos.
Seine Kameraden und er empfingen jeder hundert Stockschläge. Der Richter
wartete immerfort, dass sie die Augen öffnen würden, und schrieb das einer
verstockten Hartnäckigkeit zu, was doch bloß Folge der Unmöglichkeit war.
Während dieser Zeit sagte der Dieb zu den Blinden: „Ihr armen Leute, so
macht doch die Augen auf und wartet nicht, bis man euch zu Tode schlägt.“
Sodann wendete er sich zu dem Polizeirichter und sagte zu ihm: „Herr, ich
sehe schon, dass sie ihre Bosheit bis aufs äußerste treiben und die Augen gar
nicht öffnen werden. Sie wollen ohne Zweifel der Beschämung entgehen, ihr
Verdammungsurteil in den Augen aller Umstehenden zu lesen. Es ist am besten,
wenn ihr sie begnadigt, und einen mit mir schickt, um die zehntausend Drachmen,
die sie bei sich zu Hause versteckt haben, abzuholen.“

Der Richter unterließ nicht dies zu tun. Er ließ den
Dieb durch einen seiner Leute begleiten, der ihm die zehn Säcke überbrachte.
Davon ließ er dem Dieb zweitausendfünfhundert Drachmen auszahlen, das übrige
behielt er für sich. Mit meinem Bruder und seinen Gefährten hatte er
wenigstens so viel Mitleid, dass er sie bloß aus der Stadt verwies. Ich hatte
kaum erfahren, was meinem Bruder begegnet war, als ich ihm sofort nacheilte. Er
erzählte mir sein Unglück und ich führte ihn heimlich in die Stadt zurück.
Ich hätte ihn vielleicht bei dem Polizeirichter rechtfertigen und auf die
verdiente Bestrafung des Diebes dringen können. Allein ich wagte es nicht, aus
Furcht, mir dadurch irgend einen schlimmen Handel zuzuziehen.

Somit endigte ich denn die Erzählung von dem Abenteuer
meines guten blinden Bruders. Der Kalif lachte darüber nicht minder als über
die, welche er vorher vernommen hatte. Er befahl von Neuem, dass man mir etwas
verabreichen sollte, aber ohne die Vollziehung seines Befehls abzuwarten, begann
ich die Geschichte meines vierten Bruders.

Geschichte
des vierten Bruders des Barbiers

Der Name meines vierten Bruders war Alkus. Er war seinem
Gewerbe nach ein Fleischer, und besaß das besondere Talent, Schafwidder zum
Kampf abzurichten, wodurch er sich denn die Bekanntschaft und Freundschaft aller
der großen Herren erworben hatte, welche dieser Art von Kämpfen gern zuschauen
und sich deshalb Widder in ihrem Hause eigens halten. Außerdem hatte er viele
Kundschaft. In seinem Laden hatte er stets das schönste Fleisch, das nur irgend
zu bekommen, weil er sehr reich war und keine Kosten scheute, um sich das beste
zu verschaffen.

Als er eines Tages in seinem Laden saß, kam ein Greis mit
langem weißen Bart, kaufte sechs Pfund Fleisch, gab ihm das Geld dafür und
ging weg. Mein Bruder fand dies Geld so schön, so blank und so gut geprägt,
dass er es in einen Kasten an einen besonderen Ort beiseite legte. Derselbe
Greis versäumte nun fünf Monate hindurch keinen Tag, wo er nicht ebenso viel
Fleisch genommen und es mit gleicher Münze bezahlt hätte, die mein Bruder
fortwährend bei Seite legte.

Nach Verlauf von fünf Monaten wollte Alkus eine Anzahl
von Hammeln einkaufen und sie mit dieser schönen Münze bezahlen. Er öffnete
daher den Kasten, allein, wie groß war sein Erstaunen, als er an ihrer Stelle
bloß rund geschnittene Papierblättchen liegen sah. Er schlug sich wiederholt an
den Kopf und erhob ein so großes Geschrei, dass die Nachbarn herbeigelaufen
kamen, deren Erstaunen so groß war als das seinige, da sie vernommen hatten,
wovon hier die Rede sei. „Wollte Gott,“ rief mein Bruder mit Tränen
in den Augen, „dass dieser alte Betrüger mit seinem heuchlerischen Gesicht
jetzt käme!“ Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als er ihn von weitem
kommen sah. Er lief ihm heftig entgegen, packte ihn an und schrie aus
Leibeskräften: „Muselmänner, kommt mir zu Hilfe! Hört den Schelmstreich,
den mir dieser böse Mensch gespielt hat!“ Zugleich erzählte er einem
Pöbelschwarme, der sich um ihn gesammelt hatte, dasselbe, was er bereits seinen
Nachbarn erzählt hatte. Als er ausgesprochen hatte, sagte der Alte ganz kalt
und ohne in Hitze zu geraten: „Du wirst gut tun, wenn du mich gehen lassest
und dadurch den Schimpf, den du mir vor aller Welt antust, wieder gutmachest,
damit ich nicht genötigt werde, dir eine weit empfindlichere Schmach anzutun,
was mir sehr leid tun würde.“ – „Ei, was kannst du denn gegen ich
reden?“, rief mein Bruder. „Ich bin in meinem Gewerbe ein ehrlicher
Mann und fürchte dich nicht.“ – „Du willst also, dass ich es bekannt
mache?“, erwiderte der Alte in demselben Ton. „So wisset denn,“
fuhr er, zum Volk sich wendend, fort, „dass er, anstatt Hammelfleisch zu
verkaufen, Menschenfleisch verkauft.“ – „Du bist ein Verleumder,“
antwortete mein Bruder. „Mitnichten!“, fuhr der Greis fort, „in
diesem Augenblick, wo ich mit dir rede, hängt ein abgeschlachteter Mensch
auswendig an deinem Laden, wie ein Hammel. Es kann jeder hingehen und sehen, ob
ich die Wahrheit rede oder nicht.“

Mein Bruder hatte, bevor er den Kasten, worin die Blätter
lagen, öffnete, denselben Tag einen Hammel geschlachtet, ihn zurechtgemacht und
nach seiner Gewohnheit auswendig an seinem Laden aufgehängt. Er beteuerte, dass
das, was der Alte sagte, unwahr sei. Indes, ungeachtet seiner Versicherungen,
ließ der leichtgläubige Pöbel sich gegen einen Mann, der eines so
abscheulichen Verbrechens angeklagt wurde, einnehmen und wollte sich auf der
Stelle Gewissheit verschaffen. Der Pöbel zwang meinen Bruder den Alten
loszulassen, versicherte sich seiner Person, und lief wütend nach dem Laden, wo
man wirklich, ganz so wie der Ankläger gesagt hatte, einen abgeschlachteten
Menschen hängen sah. Der Greis nämlich, welcher ein Zauberer war, hatte die
Augen der Menge verblendet, so wie er zuvor meinen Bruder verblendet hatte, dass
er die Papierblättchen, die er ihm gab, für gutes Geld nahm.

Bei diesem Anblick gab einer von denen, welche meinen
Bruder Alkus festhielten, ihm einen heftigen Schlag mit der Faust und sagte
dabei: „So also, du Bösewicht, gibst du uns Menschenfleisch zu
essen?“ Und der Greis, der ihn noch immer nicht verlassen hatte, gab ihm
einen zweiten, wodurch er ihm das eine Auge ausschlug. Auch von allen übrigen
schonte ihn keiner, der ihm nur irgend nahe kommen konnte. Man begnügte sich
nicht damit, ihn zu misshandeln, sondern man führte ihn auch noch vor den
Polizeirichter, welchem man zugleich den angeblichen Leichnam überbrachte, den
man zum Zeugnis gegen den Angeklagten von dem Laden herab genommen hatte.
„Herr,“ sagte der Zauberer zu ihm, „ihr seht hier einen Mann,
welcher barbarisch genug ist, um Menschen zu schlachten und ihr Fleisch für
Hammelfleisch zu verkaufen. Das Volk erwartet, dass ihr an ihm ein Strafbeispiel
aufstellt.“ Der Polizeirichter hörte meinen Bruder ruhig an. Allein die
Erzählung von dem in Papierblättchen verwandelten Geld schien ihm so wenig
Glauben zu verdienen, dass er meinen Bruder als einen Betrüger behandelte, und
indem er sich auf den Beweis des Augenscheins berief, ihm fünfhundert
Stockschläge geben ließ.

Nachdem er ihn sodann gezwungen hatte, ihm zu sagen, wo er
sein Geld habe, nahm er ihm alles, was er hatte, und verbannte ihn für immer
aus dem Land, nachdem er ihn auf einem Kamel drei Tage nacheinander den Augen
des Volks bloßgestellt hatte …“

„Allein, Herr,“ sagte Scheherasade bei dieser
Stelle zu Schachriar, „die Tageshelle, die ich anbrechen sehe, legt mir
Stillschweigen auf.“ Sie schwieg also still, und in der folgenden Nacht
fuhr sie fort, den Sultan zu unterhalten, wie folgt: