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177. Nacht

Der Barbier ging, ohne sich in seiner Rede zu
unterbrechen, zu der Geschichte seines dritten Bruders über.

Geschichte
des dritten Bruders des Barbiers

„Beherrscher der Gläubigen,“ sagte er zu dem
Kalifen, „mein dritter Bruder, welcher Bukeibik hieß, war blind, und
nachdem ihn sein Missgeschick bis an den Bettelstab gebracht hatte, ging er von
Tür zu Tür, um Almosen betteln. Er hatte sich nun schon so lange daran
gewöhnt, in den Straßen allein zu gehen, dass er keines Führers mehr
bedurfte. Er pflegte an die Türen zu klopfen und nicht eher zu antworten, als
bis man ihm aufgemacht hatte. Eines Tages klopfte er an eine Haustür. Der Herr
des Hauses welcher ganz allein war, rief: Wer ist da? Mein Bruder antwortete auf
dies gar nichts, und klopfte zum zweiten Mal. Der Herr des Hauses mochte fragen
wie er wollte, wer an der Tür sei, niemand antwortete. Er geht hinunter,
öffnet und fragt mein Bruder, was er wolle. „Reicht mir doch um Gottes
Willen irgend eine Gabe!“, sagte Bukeibik zu ihm. „Du bist, wie mich
dünkt, blind?“, fragte hierauf der Hausherr. „Ach, leider!“,
antwortete mein Bruder. „Reiche mir die Hand!“, sagte hierauf der Herr
zu ihm. Mein Bruder reichte sie ihm, indem er ein Almosen zu empfangen
vermeinte, allein der Herr fasste sie, um ihn die Treppe hinauf nach seinem
Zimmer zu führen. Bukeibik dachte, es geschähe dies, um ihn mitessen zu
lassen, wie ihm dies sonst zu begegnen pflegte. Sobald sie beide im Zimmer
angelangt waren, ließ der Herr seine Hand los, setzte sich nieder, und fragte
ihn abermals, was er wünschte. „Ich habe dir schon gesagt,“ erwiderte
Bukeibik, „dass ich dich um Gottes Willen um eine kleine Gabe bat.“ –
„Guter Blinder,“ antwortete der Herr, „alles, was ich für dich
tun kann, besteht darin, dir zu wünschen, dass Gott dir dein Gesicht
wiedergebe.“ – „Das hättest du mir wohl an der Tür sagen, und mir
die Mühe des Heraufsteigens ersparen können,“ sagte hierauf mein Bruder.
– „Und warum, du einfältiger Mensch, antwortest du denn nicht gleich beim
ersten Mal, wenn du anklopfst, und wenn man dich fragt, wer da sei? Woher kommt
es, dass du den Leuten erst noch die Mühe machst, dir zu öffnen, wenn man zu
dir spricht?“ – „Was willst du nun mit mir machen?“, fragte mein
Bruder. „Ich wiederhole dir es nochmals,“ antwortete der Herr.
„Ich kann dir nichts geben.“ – „So hilf mir denn wieder
hinuntersteigen, so wie du mir beim Heraufsteigen geholfen hast,“ sagte
Bukeibik. „Du hast ja die Treppe vor dir,“ erwiderte der Herr,
„steige allein hinunter, wenn du Lust hast.“ Mein Bruder fing an
hinab zu steigen, aber da er mitten auf der Treppe einen Fehltritt tat, rollte er
alle Stufen hinunter, und beschädigte sich den Kopf und die Lenden. Mit vieler
Mühe raffte er sich endlich auf, und ging hinaus, indem er über den Herrn des
Hauses klagte und murrte, der über seinen Fall bloß lachte.

Wie er eben aus dem Haus herauskam, erkannten ihn zwei
Blinde, welche vorübergingen, an der Stimme. Sie blieben stehen und fragten,
was ihm denn wäre. Er erzählte seinen Unfall, sagte ihnen, dass er den ganzen
Tag nichts empfangen, und fügte dann hinzu: „Ich beschwöre euch, mich
nach meiner Wohnung zu begleiten, damit ich in eurer Gegenwart etwas von dem
Geld wegnehmen kann, welches wir alle drei gemeinschaftlich besitzen, um mir
etwas zum Abendessen zu kaufen. Die beiden Blinden willigten ein, und er führte
sie zu sich nach Hause.

Es ist hier noch zu bemerken, dass der Herr des Hauses, wo
mein Bruder eine so üble Behandlung erlitten, ein Dieb, und dabei von Haus aus
ein verschmitzter und boshafter Mensch war. Er hörte durchs Fenster, was
Bukeibik seinen beiden Genossen gesagt hatte. Er ging sogleich hinunter, folgte
hinter ihnen drein und trat mit ihnen in en schlechtes Häuschen, worin mein
Bruder wohnte. Als die Blinden sich gesetzt hatten, sagte Bukeibik:
„Brüder, wir müssen, wenn es euch anders so beliebt, die Tür
verschließen und Acht geben, ob sich etwa ein Fremder unter uns eingeschlichen
hat.“ bei diesen Worten geriet der Dieb in die größte Verlegenheit, aber
da er glücklicherweise einen Strick bemerkte, der von der Decke des Zimmers
herabhing, so fasste er diesen und hielt sich daran in der Luft schwebend,
während die Blinden die Tür verschlossen und im Zimmer die Runde machten und
überall mit ihren Stöcken herumfühlten. Als dies geschehen war, und sie ihre
Plätze wieder eingenommen hatten, verließ er den Strick und setze sich ganz
leise neben meinem Bruder, welcher, in der Meinung, er sei mit den Blinden
allein, zu ihnen sagte: „Brüder, da ihr mich zum Verwahrer des Geldes
gemacht habt, welches wir alle drei seither eingenommen haben, so will ich euch
zeigen, dass ich des in mich gesetzten Vertrauens nicht unwürdig bin. Ihr
wisst, dass wir bei dem letzten Zusammenrechnen zehntausend Drachmen hatten und
sie in zehn Säcke verteilten. ich werde euch jetzt zeigen, dass ich nicht das
mindeste davon angerührt habe.“ Indem er dies sagte, fuhr er mit der Hand
seitwärts unter den alten Lumpenkram, zog einen Sack nach dem anderen hervor,
gab sie seinen Mitgenossen, und fuhr dann fort: „Da sind sie. Ihr könnt
aus der Schwere schließen, dass sie noch ganz voll sind, oder wenn ihr wollt,
so wollen wir es nachzählen.“ Da seine Kameraden ihm antworteten, dass sie
sich völlig auf ihn verließen, öffnete er einen von den Säcken und zog zehn
Drachmen heraus. Die beiden übrigen Blinden zogen ein jeder ebensoviel heraus.

Mein Bruder stellte hierauf die zehn Säcke an ihren Ort.
Worauf einer der Blinden zu ihm sagte, es sei gar nicht nötig, dass er an dem
heutigen Tag noch etwas auf Abendessen ausgebe, da er durch die Mildtätigkeit
guter Leute für sie alle drei genug zu essen bekommen hätte. Zugleich zog er
aus seinem Bettelsack Brot, Käse und einige Früchte hervor, legte dies alles
auf den Tisch, und sie fingen sodann an zu essen. Der Dieb, welcher meinem
Bruder zur Rechten saß, suchte sich das Beste aus, und aß mit ihnen. Allein,
wie behutsam er auch immer war, um kein Geräusch zu machen, so hörte ihn
Bukeibik dennoch kauen, und rief sogleich aus: „Wir sind verloren! Ein
Fremder ist unter uns.“ Mit diesen Worten streckte er die Hand aus, ergriff
den Dieb beim Arm, und warf sich auf ihn, indem er: Dieb, Dieb, rief, und ihm
derbe Schläge mit der Faust versetzte. Die anderen Blinden fingen ebenfalls an
zu schreien und auf den Dieb loszuschlagen, der seinerseits sich auf die
bestmögliche Art verteidigte. Da er sehr stark und beherzt war, und den Vorteil
hatte, sehen zu können, wohin er seine Schläge richtete, so teilte er bald dem
einen, bald dem anderen, sehr derbe aus, so oft es nur anging, und rief dabei
noch lauter als seine Feinde: Dieb! Dieb! Die Nachbarn liefen auf den Lärm
herbei, schlugen die Tür ein, und hatten viele Mühe, die Streitenden
auseinander zu bringen. Als es ihnen endlich gelungen war, fragten sie nach der
Ursache ihres Zankes. „Ihr Herren,“ rief mein Bruder, der den Dieb
nicht aus den Händen gelassen hatte, „dieser Mensch, den ich hier
festhalte, ist ein Dieb, der mit uns hereingeschlüpft ist, um uns das wenige
Geld, das wir haben, wegzunehmen.“ Der Dieb, welcher gleich beim ersten
Erscheinen der Nachbarn die Augen zugemacht hatte, stellte sich blind und sagte:
„Ihr Herren, dies ist ein Lügner. Ich schwöre euch bei dem Namen Gottes
und bei dem Leben des Kalifen, dass ich hier Mitgenosse bin, und dass sie mir
meinen rechtmäßigen Anteil auszuliefern sich weigern. Sie haben sich alle drei
gegen mich vereinigt, und ich verlange Gerechtigkeit.“ Die Nachbarn wollten
sich nicht in ihren Streit einmischen, und führten sie alle vier vor den
Polizeirichter.

Als sie vor diesem standen, fing der Dieb, ohne erst die
Frage desselben abzuwarten, indem er sich immer noch blind stellte,
folgendermaßen an zu sprechen: „Herr, da ihr von Seiten des Kalifen,
dessen macht Gott gedeihen lassen wollte, zur Handhabung der
Gerechtigkeitspflege eingesetzt seid, so muss ich euch nur erklären, dass wir
alle vier, meine Kameraden so wie ich, gleich strafbar sind. Aber da wir uns
durch einen Eidschwur verpflichtet haben, nichts zu gestehen, außer auf
Stockschläge, so dürft ihr, wofern ihr unser Vergehen zu wissen begehrt, nur
befehlen, dass man uns dergleichen gebe, und zwar mir zuerst.“ Mein Bruder
wollte sprechen, aber man gebot ihm Stillschweigen. Der Dieb kam nun unter den
Stock …“

Bei diesen Worten bemerkte Scheherasade, dass es schon Tag
sei, und brach ihre Erzählung ab. Erst in der folgenden Nacht fuhr sie darin
also fort: