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176. Nacht

„Jetzt bleibt dir,“ fügte die Alte hinzu,
„nur noch eine einzige Sache zu tun übrig, und dies ist eine bloße
Kleinigkeit. Du musst wissen, dass meine Gebieterin, wenn sie, wie heute, etwas
getrunken hat, keinen von allen denen, die sie liebt, sich nahe kommen lässt,
außer wenn er nackend und im Hemd ist. Wenn sie dann in diesem Zustand sich
befinden, so nimmt sie einen kleinen Vorsprung, und läuft vor ihnen her, die
Galerie entlang und von Zimmer zu Zimmer, bis sie sie eingeholt haben. Dies ist
nun einmal eine von ihren seltsamen Grillen. Indes, welchen Vorsprung sie auch
immer nehmen mag, du wirst sie bei deiner Leichtigkeit und Behändigkeit schnell
erhascht haben. Entkleide dich also nur ohne weiter Umstände bis aufs
Hemd.“

Mein guter Bruder hatte schon zu viele Schritte vorwärts
getan, als dass er jetzt noch hätte zurückgehen können. Er kleidete sich also
aus, und unterdessen ließ sich die junge Schöne ebenfalls ihr Kleid ausziehen
und blieb in ihrem Unterröckchen, um desto leichter laufen zu können. Als sie
alle beide so weit waren, um ihren Lauf beginnen zu könne, nahm die schöne
junge Frau einen Vorsprung von etwas zwanzig Schritten, und fing an mit einer
erstaunlichen Schnelligkeit zu laufen. Mein Bruder folgte ihr aus
Leibeskräften, nicht ohne das Gelächter aller Sklavinnen, die in die Hände
klatschten. Die junge Schöne, anstatt allmählich von ihrem anfänglichen
Vorteil einzubüßen, gewann einen immer größeren Vorsprung vor meinem Bruder.
Sie ließ ihn zwei bis dreimal um die Galerie die Runde machen, und schlug dann
einen langen dunklen Baumgang ein, aus welchem sie durch einen geheimen Ausweg
entschlüpfte. Alhedar, der ihr immerfort folgte, hatte sie in der Baumallee aus
dem Gesicht verloren, und musste wegen der darin herrschenden Dunkelheit etwas
langsamer laufen. Endlich erblickte er ein Licht. Als er seinen Lauf danach
hinlenkte, kam er plötzlich durch eine Türe, die sogleich hinter ihm
verschlossen wurde. Man denke sich sein Erstaunen, als er sich mitten auf einer
Straße befand, wo Ledergerber wohnten. Diese waren ihrerseits nicht minder
erstaunt, ihn so im Hemd, mit rot geschminkten Augen, ohne Bart und Knebelbart zu
erblicken. Sie fingen an in die Hände zu klatschen, ihn auszupfeifen. Einige
liefen hinter ihm her, und hieben ihn mit Fellen auf den Hintern. Sie hielten
ihn sogar an, setzten ihn auf einen Esel, dem sie zufällig begegneten, und
führten ihn zur großen Kurzweil des Pöbels durch die Stadt.

Zum übermaß seines Unglücks musste er zufällig vor dem
Haus des Polizeirichters vorbeikommen, welcher die Ursache dieses Auflaufs zu
wissen verlangte. Die Ledergerber sagten ihm, sie hätten meinen Bruder in dem
Zustand, worin er sich eben befand, aus einer Tür des Frauenhauses des
Großwesirs nach der Straße herauskommen gesehen. Der Polizeirichter ließ
deshalb dem unglücklichen Alhedar hundert Stockschläge auf die Fußsohlen
geben, ihn aus der Stadt führen, und ihm verbieten, sich je wieder darin
blicken zu lassen.

Dies, o Beherrscher der Gläubigen,“ sagte ich zu dem
Kalifen Mostanser Billah, „ist das Abenteuer meines zweiten Bruders,
welches ich Euer Majestät erzählen wollte. Er wusste nicht, dass die Frauen
unserer großen Herren sich bisweilen damit belustigen, Streiche der Art jungen
Leuten zu spielen, welche einfältig genug sind, um in diese Schlingen
einzugehen …“

Scheherasade war genötigt, bei dieser Stelle inne zu
halten, weil sie den Tag anbrechen sah. Die folgende Nacht nahm sie ihre
Erzählung wieder auf und sagte dem Sultan von Indien: