Project Description

171. Nacht

„Der Polizeirichter,“ fuhr der Barbier fort,
„säumte nicht, sondern schickte so viele Leute aus, dass die zehn Räuber
noch am Baïramstag selber verhaftet wurden. Ich ging gerade an den Ufern des
Tigris spazieren, und erblickte zehn reich gekleidete Männer, die sich in ein
Fahrzeug einschifften. Ich hätte sogleich merken können, dass es Räuber
wären, sofern ich nur auf die Wachen Acht gehabt hätte, welche sie
begleiteten. Allein ich sah bloß auf sie, und in der überzeugung, dass es
Leute wären, welche bloß darauf ausgingen, sich zu vergnügen und das Fest
fröhlich hinzubringen, trat ich, ohne ein Wort zu sagen, mit ihnen in das
Fahrzeug, in der Hoffnung, dass sie mich wohl in ihrer Gesellschaft dulden
würden. Wir fuhren den Tigris hinab, und man ließ uns vor dem Palast des
Kalifen aussteigen. Ich hatte unterdes Zeit, zur Besinnung zu kommen und
wahrzunehmen, dass ich diese Leute ganz falsch beurteilt hatte. Beim
Heraustreten aus dem Fahrzeug wurden wir von einer neuen Schar Wache umringt,
welche uns banden und vor den Kalifen führten. Ich ließ mich gleich den
anderen binden, ohne ein Wort zu sagen. Was hätte es mir auch geholfen, wenn
ich hätte reden oder Widerstand leisten wollen? Es hätte mir höchstens
Misshandlungen von Seiten der Wache zugezogen, die mich jedoch nicht angehört
haben würde, denn das sind rohe Menschen, die auf vernünftige Gründe gar
nicht hören. Ich war einmal mit Räubern zusammen, und dies war Grund genug
für sie, um mich ebenfalls für einen zu halten.

Sobald wir dem Kalifen vorgestellt wurden, befahl dieser
die Bestrafung dieser zehn Missetäter. „Man schneide diesen zehn
Räubern,“ sagte er, „die Köpfe ab.“ Sogleich stellte der
Scharfrichter uns in eine Reihe, wie es ihm gerade bequem war, und ich war zu
meinem Glück der letzte darin. Er hieb, vom ersten anfangend, allen zehn
Räubern die Köpfe ab, und als er bis an mich kam, hielt er inne. Als der Kalif
sah, dass der Scharfrichter nicht auf mich hieb, geriet er in Zorn. „Habe
ich nicht befohlen,“ rief er ihm zu, „allen zehn Räubern die Köpfe
abzuhauen? Warum hast du es denn bloß Neunen getan?“ – „Beherrscher
der Gläubigen,“ antwortete der Scharfrichter, „Gott behüte, dass ich
nicht die Befehle Euer Majestät vollziehen sollte. Hier liegen zehn Körper und
ebenso viele Köpfe, die ich abgehauen habe, am Boden. Ihr könnt sie zählen
lassen.“ Als der Kalif sich selber überzeugt hatte, dass der Scharfrichter
wahr gesprochen, sah er mich voll Erstaunen an, und da er an mir keinen
Gesichtszug eines Räubers fand, sagte er zu mir: „Lieber Alter, durch
welchen Zufall bist du unter diese Elenden geraten, welche tausendfach den Tod
verdient haben?“ Ich antwortete ihm: „Beherrscher der Gläubigen, ich
will dir nur die Wahrheit gestehen. Ich sah heute früh diese zehn Männer,
deren Bestrafung ein herrlicher Beweis von der Gerechtigkeitspflege Euer
Majestät ist, in ein Fahrzeug steigen, und schiffte mich mit ihnen ein, in der
überzeugung, dass sie zu irgend einem fröhlichen Schmaus gingen, um den
heutigen großen Festtag dadurch zu feiern.“

Der Kalif konnte nicht umhin, über mein Abenteuer zu
lachen, und anstatt jenem Hinkenden nachzuahmen, der mich als einen Schwätzer
behandelt, bewunderte er meine Verschwiegenheit und meine Standhaftigkeit im
Schweigen. „Beherrscher der Gläubigen,“ sagte ich zu ihm, „Euer
Majestät wird sich nicht wundern, dass ich bei einer Gelegenheit schwieg,
welche jeden anderen zum Reden aufgefordert haben würde. Ich mache nämlich aus
der Verschwiegenheit ein förmliches Gewerbe, und habe mir durch diese Tugend
den ehrenvollen Beinamen des Schweigenden erworben. Man nennt mich nämlich so,
zum Unterschied von meinen übrigen sechs Brüdern, die ich hatte. Es ist die
Frucht meiner Lebensweisheit, und diese Tugend macht zugleich meinen Ruhm und
mein Glück aus.“ – „Ich freue mich,“ sagte der Kalif lächelnd,
„dass man dir diesen Beinamen gegeben, dessen du dich so würdig beweisest.
Aber sage mir, was sind deine Brüder für Leute? Sind sie dir ähnlich?“ –
„Ganz und gar nicht,“ erwiderte ich. „Sie waren alle mehr oder
weniger schwatzhaft, und was ihr äußeres anbetrifft, so ist die
Verschiedenheit zwischen mir und ihnen noch größer. Der erste war bucklig, der
zweite zahnlückig, der dritte einäugig, der vierte blind, der fünfte hatte
abgestumpfte Ohren, und der sechste gespaltene Lippen. Diesen sechsten sind
Abenteuer begegnet, die euch leicht würden auf ihren Charakter einen Schluss
machen lassen, wenn ich sie Euer Majestät erzählen dürfte.“ Da es mir
schien, dass der Kalif sie zu hören wünschte, so fuhr ich fort, ohne erst
seinen Befehl abzuwarten.

Geschichte
des ersten Bruders des Barbiers

„Herr,“ fing ich an, „mein ältester
Bruder, welcher Babbuk, der Bucklige, hieß war seinem Gewerbe nach ein
Schneider. Nach Vollendung seiner Lehrjahre mietete er sich einen Laden, einer
Mühle gegenüber, und da er noch keine Kunden hatte, so konnte er sich mit
seiner Arbeit nur mühsam nähren. Der Müller dagegen lebte ganz bequem, und
hatte eine sehr schöne Frau. Eines Tages hob mein Bruder, als er eben in seinem
Laden arbeitete, den Kopf in die Höhe, und erblickte an einem Fenster der
Mühle die Müllerin, welche in die Straße hinunter sah. Er fand sie so schön,
dass er von ihr ganz bezaubert wurde. Die Müllerin dagegen beachtete ihn nicht
weiter, sie machte das Fenster zu, und ließ sich den ganzen Tag über nicht
mehr sehen. Der arme Schneider indes hob seitdem während seiner Arbeit
beständig die Augen nach dem Mühlenfenster empor, stach sich mehr als einmal
in den Finger, und arbeitete gar nicht mehr so sorgfältig wie sonst. Als er am
Abend seinen Laden zumachen musste, konnte er sich gar nicht dazu entschließen,
weil er immer noch hoffte, die Müllerin würde sich zeigen. Allein endlich
musste er ihn doch schließen und sich nach seinem kleinen Häuschen begeben, wo
er die Nacht sehr traurig zubrachte. Freilich stand er dafür auch weit früher
auf und eilte, von Ungeduld, seine Geliebte wieder zu sehen, beflügelt, nach
seinem Laden. Er war indes nicht glücklicher als am vorigen Tag. Die Müllerin
zeigte sich den ganzen Tag nur einen Augenblick. Aber eben dieser Augenblick
machte ihn vollends zum verliebtesten aller Männer. Den dritten Tag war er
zufriedener, als die beiden vorigen. Die Müllerin warf zufällig einen Blick
auf ihn und überraschte ihn, als er sie gerade ansah. Sie wusste nun sogleich,
was in seinem Herzen vorging …“

Der anbrechende Tag nötigte Scheherasade, ihre Erzählung
an dieser Stelle abzubrechen. Die folgende Nacht nahm sie den Faden wieder auf,
und sagte zu dem Sultan von Indien: