Project Description

143. Nacht

„Als ich die Schale in der Hand hatte,“
erzählte der junge Mensch,“ verdoppelten sich meine Tränen, und ich
stieß neue Seufzer aus.“ – „Was habt ihr denn so bitter zu weinen und
zu seufzen,“ sagte hierauf die Dame, „und warum nehmt ihr die Schale
mit der linken Hand, und nicht lieber mit der rechten?“ – „Ach, meine
Verehrteste,“ antwortet ich ihr, „entschuldigt mich, ich beschwöre
euch, ich habe an der rechten Hand eine Geschwulst.“ – „Zeigt mit
diese Geschwulst,“ sagte sie, „ich will sie aufstechen.“ Ich
entschuldigte mich, indem ich sagte, dass sie dazu noch nicht reif wäre, und
ich leerte die sehr große Schale. Die Dünste des Weines und meine Ermüdung
und Ermattung betäubten mich halb und ich versank in einen tiefen Schlaf,
welcher bis an den anderen Tag dauerte.

Während ich schlief, hub die Dame, welche wissen wollte,
was ich eigentlich an der rechten Hand hätte, mein Kleid empor, welches sie
verbarg, und sah mit einem Erstaunen, das ihr euch denken könnt, dass sie
abgehauen war und dass ich sie in einem leinenen Tuch mitgebracht hatte. Sie
begriff nun ohne Mühe, warum ich ihren dringenden Bitten so lange widerstanden
hatte, und sie brachte die Nacht damit zu, sich über mein Unglück zu
betrüben, indem sie nicht zweifelte, dass meine Liebe zu ihr es veranlasst
hätte.

Bei meinem Erwachen bemerkte ich wohl, dass sie von einem
lebhaften Schmerz ergriffen war. Dessen ungeachtet sagte sie mir, um mich nicht
zu kränken, von nichts. Sie ließ mir eine Geflügelkraftbrühe auftragen, die
man auf ihren Befehl für mich zubereitet hatte, und nötigte mich zum Essen und
Trinken, damit ich, wie sie sagte, wieder zu den nötigen Kräften käme.

Ich wollte hierauf Abschied von ihr nehmen, aber sie hielt
mich bei meinem Kleid zurück, indem sie mir sagte: „Ich werde nicht
zugeben, dass ihr euch von hier entfernt. Obgleich ihr mir nichts davon gesagt
habt, so bin ich doch überzeugt, dass ich die Ursache des Unglücks bin,
welches ihr euch zugezogen habt. Der Schmerz, den ich darüber empfinde, wird
mich nicht lange leben lassen, aber ehe ich sterbe, muss ich ein Vorhaben
ausführen, das ich zu euren Gunsten gefasst habe.“

Nach diesen Worten ließ sie einen Gerichtsbeamten und
Zeugen holen und mir eine Schenkungsurkunde über alle ihre Güter ausfertigen.
Nachdem sie alle ihre Leute für ihre Bemühungen belohnt und fortgeschickt
hatte, öffnete sie einen großen Kasten, in welchem sich alle, ihr seit dem
Beginn unseres Liebesverhältnisses von mir geschenkten Beutel befanden.
„Sie gehören euch alle,“ sagte sie zu mir, „ich habe keinen
einzigen angerührt; hier habt ihr den Kasten; schaltet damit nach
Belieben.“ Ich dankte ihr für ihre Großmut und für ihre Güte. Sie sagte
hierauf: „Ich rechne das, was ich eben für euch getan habe, für nichts,
und ich werde erst dann zufrieden sein, wenn ich sterbe, um euch zu bezeugen,
wie sehr ich euch liebe.“

Ich beschwor sie bei allem, was die Liebe irgend vermag,
einen so traurigen Entschluss aufzugeben; aber ich konnte sie nicht davon
abbringen, und der Kummer, mich einhändig zu sehen, zog ihr eine Krankheit von
fünf oder sechs Wochen zu, an welcher sie starb.

Nachdem ich ihren Tod pflichtschuldigst beweint hatte,
setzte ich mich in den Besitz aller ihrer Güter, die sie mich kennen gelehrt
hatte; und der Sesam, den ihr euch bemüht habt für mich zu verkaufen, machte
einen Teil davon aus.“