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114. Nacht

Der kleine Agib, durch die Spottreden seiner Schulgesellen
verletzt, eilte weinend aus der Schule nach Hause. Er ging sogleich in das
Zimmer seiner Mutter, Dame der Schönheit, welche, bestürzt, ihn so betrübt zu
sehen, ihn eifrig um die Ursache seines Kummers fragte. Er konnte nur durch
Worte, welche von Schluchzen unterbrochen waren, antworten, so sehr war er von
Schmerz niedergedrückt; und erst nach mehrfachem Wiederansetzen konnte er die
kränkende Ursache seiner Betrübnis erzählen. Als er damit zu Ende war, fügte
er noch hinzu: „Um Gottes Willen, Mutter, sei so gut und sage mir, wer mein
Vater ist.“ – „Mein Sohn,“ erwiderte sie, „dein Vater ist
der Wesir Schemseddin Mohammed, der dich täglich umarmt.“ – „Du sagst
mir nicht die Wahrheit,“ versetzte er, „er ist nicht mein Vater, er
ist der deine. Aber ich, wessen Sohn bin ich?“

Da sich Dame der Schönheit bei dieser Frage ihre, eine so
lange Witwenschaft nach sich ziehende Hochzeitnacht in ihr Gedächtnis
zurückrief, fing sie an, Tränen zu vergießen, indem sie bitterlich den
Verlust eines so liebenswürdigen Gatten, wie Bedreddin, bedauerte, und folgende
Verse sprach:

„Sie haben die Liebe in meinem Herzen rege gemacht,
und sind dann davon gegangen; im Hause befinden sich nicht mehr diejenigen,
welche ich liebe.
Die Besuchenden sind fern, und hin ist auch meine Geduld und meine Kraft, dies
Unglück zu ertragen.
Mein Glück und meine Freuden haben sie mit fortgenommen, und nur Tränen über
ihre Trennung haben sie mir gelassen.
O ihr, deren Andenken mein Oberkleid ausmacht, so wie eure Liebe das Gewand ist,
welches meinen Leib unmittelbar berührt:
Gibt es denn für den Sklaven eurer Liebe kein Lösegeld, oder für den wegen
eurer Entfernung fast Leblosen kein Erbarmen?
Ach, wie lange wird eure Abwesenheit noch dauern, wie lange eure Rückkehr sich
verzögern?“

Während nun Dame der Schönheit auf der einen, und Agib
auf der anderen Seite weinte, trat der Wesir Schemseddin Mohammed ins Zimmer und
wollte die Ursache ihrer Betrübnis wissen. Dame der Schönheit teilte sie ihm
mit, und erzählte ihm die dem Agib in der Schule widerfahrene Kränkung. Diese
Erzählung rührte den Wesir lebhaft; er schloss daraus, dass alle Welt die
Unehre seiner Tochter beschwatzte, und geriet darüber in Verzweiflung.

Von diesem grausamen Gedanken ergriffen, ging er zum
Sultan, warf sich vor ihm nieder, und bat ihn sehr demütig um die Erlaubnis zu
einer Reise in die östlichen Länder, und besonders nach Balsora, um seinen
Neffen Bedreddin-Hassan aufzusuchen, da er den Gedanken nicht ertragen könnte,
dass man in der Stadt glaubte, ein Geist hätte bei seiner Tochter Dame der
Schönheit geschlafen.

Der Sultan ging in den Kummer des Wesirs ein, billigte
seinen Entschluss, und gab ihm die Erlaubnis ihn auszuführen; er ließ ihm
sogar einen offenen Brief ausfertigen, worin er in den verbindlichsten
Ausdrücken die Fürsten und Herren der Orte, an welchen sich Bedreddin befinden
könnte, bat, darein zu willigen, dass ihn der Wesir mit sich nähme.

Schemseddin Mohammed fand keine Worte, die kräftig genug
waren, um dem Sultan würdig für die ihm erwiesene Güte zu danken. Er
begnügte sich damit, dass er sich mehrmals vor dem Sultan niederwarf; aber die
Tränen, welche aus seinen Augen flossen, bezeugten hinlänglich seine
Erkenntlichkeit. Endlich nahm er Abschied vom Sultan, nachdem er ihm alles
mögliche Glück gewünscht hatte.

Als er nach Hause gekommen war, dachte er nur daran, zu
seiner Abreise alles Nötige vorzubereiten. Diese Vorbereitungen wurden so eilig
betrieben, dass er nach vier Tagen mit seiner Tochter Dame der Schönheit, und
mit seinem Enkel Agib abreiste.