IX.

Der geängstigte Dichter durchrannte mit langen Beinen manche Straße und manchen Winkel; ein panischer Schrecken trieb ihn fort, bis ihm der Athem ausging. Jetzt gewann die Philosophie des Dichters über die blinde Furcht wieder die Oberhand, und er stellte sich folgendes Dilemma: Meister Peter Gringoire, sprach er zu sich selbst, indem er mit dem Finger an seinen Hirnkasten klopfte, es scheint mir, daß Ihr davon gelaufen seid, wie ein Narr. Die Teufelsjungen hatten sicherlich vor Euch eben so viel Angst, als Ihr vor ihnen. Habt Ihr denn nicht das Klappern ihrer Holzschuhe gehört, als sie gegen Süd davon liefen, während Ihr nach Nord entflohet? Eines von beiden: entweder haben sie die Flucht ergriffen, und dann ist der Strohsack, den sie in ihrem Schrecken auf dem Platze ließen, gerade das gastliche Bett, nach dem Ihr Euch schon so lange sehnt, und das Euch jetzt die heilige Jungfrau so wunderbar zuschickt, um Euch für das moralische Stück zu belohnen, welches Ihr zu ihren Ehren gedichtet habt; oder aber die Jungen haben nicht die Flucht ergriffen, und in diesem Falle haben sie Feuer an den Strohsack gelegt, und das ist gerade das Feuer, dessen Ihr benöthigt seid, um Euch zu wärmen und zu trocknen. In beiden Fällen also, gutes Feuer oder gutes Bett, bleibt immer der Strohsack ein Geschenk, das Euch der Himmel verliehen hat. Vielleicht hat die gebenedeite Jungfrau Maria an der Straßenecke Mauconseil den Hufschmied Eustach Moubon bloß darum sterben lassen, um Euch für diese Nacht eine Lagerstätte zu verschaffen, und es wäre sehr undankbar von Euch, wenn Ihr diese himmlische Gabe verschmähen wolltet. Reißt also nicht ferner aus, wie ein Burgunder vor einem Franzosen, und sucht nicht vor Euch, was Ihr hinter Euch laßt! Und kurz und gut, Meister Peter Gringoire, Ihr seid ein Esel!

Nachdem unser Dichter dieses Selbstgespräch gehalten hatte, und zu besagtem Schlußsatze gekommen war, kehrte er um, den ersehnten Strohsack zu suchen. Er irrte jedoch vergebens in dem verworrenen Knäuel dieser Gassen und Winkel herum, und konnte keinen Ausgang aus ihnen finden. Verflucht seien die Sackgäßchen und Straßenwinkel! rief er unmuthig aus. Der Teufel hat sie nach dem Bilde seiner höllischen Ofengabel gemacht!

In diesem Augenblicke blendete seine Augen ein röthlicher Schein, der aus dem Ende einer langen und engen Straße kam. Gelobt sei Gott! sprach Peter Gringoire freudig, dort unten brennt mein Strohsack. Salve, Salve, maris stella!

Mit diesen Worten schritt er rasch vorwärts in der engen ungepflasterten Straße, die immer kothiger und abschüssiger wurde. Sie war nicht einsam und verlassen; da und dort bewegten sich, in ihrer ganzen Länge, undeutliche und unförmliche Gestalten, die alle ihre Richtung nach dem röthlichen Scheine nahmen, der vom äußersten Ende der Straße leuchtete, jenen schwerfälligen Insekten gleich, die bei Nacht, von einem Grashalm zum andern, dem Feuer eines Hirten zufliegen.

Peter Gringoire schritt rasch vorwärts und hatte bald eine dieser Larven erreicht, welche sich mühsam hinter den andern herschleppte; es war ein elendes krüppelhaftes Wesen, dem die Beine fehlten und das auf den Händen fortrutschte. Als er verwundert stehen blieb, rief ihm eine klägliche Menschenstimme zu: »La buona mancia, Signor! La buona mancia, Signor!«

»Hol‘ mich der Teufel,« sagte unser Dichter, und ging weiter, »wenn ich verstehe, was Du willst!«

Bald stieß er auf eine andere dieser wandelnden Massen. Es war ein Lahmer, hinkend und einarmig, und zwar so einarmig und so hinkend, daß das verwickelte System der Krücken und hölzernen Füße, auf denen er wandelte, ihm das Ansehen eines vorwärts schreitenden Mauergerüstes gab. Unser Dichter, welcher klassische Vergleichungen liebte, nannte ihn in Gedanken den lebenden Dreifuß des Neptun.

Dieser lebende Dreifuß erhob seinen Hut bis zur Höhe des Kinns unseres Poeten und schrie ihm in die Ohren: »Sennor caballero, para comprar un pedaso de pan!«

Es scheint, sprach Peter Gringoire für sich, daß diese Mißgeburt auch eine Sprache hat, aber der Teufel verstehe sie!

Er verdoppelte den Schritt. Ein Blinder ging vor ihm her, mit einem langen Bart, mit einem Knotenstock vor sich hintappend und von einem großen Hunde geführt, »Facitote caritatem!« rief ihm der Blinde in näselndem Tone zu.

»Endlich,« sagte der Poet, »treffe ich doch Einen, der eine christliche Sprache spricht. Ich muß ein sehr mildthätiges Aussehen haben, daß man bei der gänzlichen Schwindsucht meiner Börse doch Almosen von mir bettelt. Mein Freund, ich habe vergangene Woche mein letztes Hemd verkauft, oder, weil Du doch nur Ciceros Sprache verstehst. Vendidi hebdomade nuper transita meam ultimam chemisam.«

Mit diesen Worten kehrte er dem Blinden den Rücken und setzte seinen Weg fort. Der Blinde aber holte auf einmal weit aus und schritt so rasch vorwärts, wie Einer, der zwei gute Augen hat. Zu gleicher Zeit erhoben sich die Lahmen und Hinkenden und rannten mit großer Geschwindigkeit und unter furchtbarem Geräusch ihrer Krücken und hölzernen Beine hinter ihm her.

Caritatem! La buona mancia! Un pedaso de pan!« gellte es in die Ohren des geängstigten Poeten.

»O babylonische Sprachverwirrung!« rief er aus und rannte davon; der Blinde und die Lahmen rasch hinter ihm her; und rund um ihn, so lang und breit die Straße war, wimmelte es von Blinden, Lahmen, Einarmigen, Einäugigen und Aussätzigen, die sich alle vorwärts nach der röthlichen Flamme bewegten. Der arme Peter Gringoire, immer noch von den drei Mißgeburten verfolgt, und in der Mitte dieser sonderbaren, fremdartigen Wesen wandelnd, wußte nicht, was aus ihm werden sollte.

Der Gedanke kam ihm, einen Versuch zu machen, ob er nicht umkehren könne, aber es war zu spät, die ganze Legion der Mißgeburten hatte sich hinter ihm geschlossen. Er schritt demnach vorwärts, getrieben von der unwiderstehlichen Fluth seiner Verfolger und von seiner eigenen Angst, wie auch von einem Schwindel ergriffen, der ihm die ganze Scene als ein furchtbares Traumgesicht erscheinen ließ.

Endlich erreichte er das äußerste Ende der Straße, die an einen ungeheuern freien Platz grenzte, auf welchem, da und dort, in dem düstern Nebel der Nacht, viele tausend zerstreute Lichter und Feuer ihren flackernden Schein von sich warfen. Peter Gringoire hoffte durch die Schnelligkeit seiner Beine den drei Mißgeburten zu entgehen, die ihn wie sein Schatten verfolgten.

»Onde vas, hombre!« schrie ihm der Lahme zu, indem er seine Krücken wegwarf und ihm mit den besten zwei Beinen nachlief, die je das Pflaster von Paris betreten hatten.

Die Mißgeburt ohne Beine stand jetzt aufrecht auf ihren Füßen und hing dem Dichter ihre schwere Krücke um den Hals, während ihn der Blinde mit weit geöffneten, flammenden Augen betrachtete.

»Wo bin ich denn?« rief der arme Poet schreckensvoll aus.

»Im Hofe der Wunder,« antwortete ein viertes Gespenst, das sich zu ihnen gesellt hatte.

»Bei meiner armen Seele, die Blinden sehen, und die Lahmen gehen, aber wo ist der Heiland, der diese Wunder wirkt?«

Hierüber lachten die magischen Gestalten aus vollem Halse.

Der arme Poet blickte verwundert umher. Er befand sich wirklich in jenem furchtbaren Hofe der Wunder, in den noch niemals ein ehrbarer Mann um diese Stunde gekommen war, in dessen magischem Zirkel die Polizeibeamten, welche sich dahin wagten, spurlos verschwanden, in dieser Stadt der Räuber und Diebe, aus der jeden Morgen ein Strom von Lastern, Bettelei und Landstreicherei sich über die Straßen von Paris ergoß und jeden Abend zu seiner Quelle zurückkehrte; in diesem ungeheuren Bienenstock, in den jede Nacht alle Raubbienen des Staates mit ihrer Beute zurückkehrten, wo der ausgetretene Mönch und der liederliche Student, die Taugenichtse aller Nationen und aller Religionen, Spanier, Italiener, Deutsche, Juden und Christen, Muhamedaner und Götzendiener, bei Tag Bettler und Beutelschneider, sich zur Nachtzeit in Straßenräuber verwandelten; in diesem unermeßlichen Ankleidezimmer, wo sich damals sämmtliche Schauspieler jener ewigen Komödie aus- und anzogen, welche Raub und Mord, Diebstahl und Betrug, kurz jede Art von Laster, unausgesetzt auf dem Pflaster von Paris ausüben.

Es war ein ungeheuer weiter Platz, unregelmäßig und schlecht gepflastert, wie alle Plätze des damaligen Paris. Einzelne Feuer, um welche es von seltsamen Gruppen wimmelte, brannten da und dort. Geräusch, Geschrei, Gelächter, Stimmen von Männern, Weibern und Kindern, Gehen und Kommen, Sitzen und Stehen, Alles floß vor den Augen und Ohren bunt durcheinander. In dem flackernden, röthlichen Feuer, das einen ungewissen Schein in die Schatten der Nacht warf, sah man unbestimmte, seltsame Gestalten hin und her wandeln. Die Grenzen der Geschlechter und Gattungen schienen sich in diesem seltsamen Pandämonium zu verwischen. Man konnte einen Hund sehen, der fast ein Menschengesicht hatte, und einen Menschen, der beinahe einem Hunde glich.

Männer, Weiber, Thiere, Alter, Geschlecht, Gesundheit und Krankheit, Alles schien unter diesem Volke gemeinsames Erbtheil, Alles floß in bunter Mischung durcheinander.

Das schwache und schwankende Licht, das die Feuer von sich warfen, zeigte dem verblüfften Dichter, rings um den unermeßlichen Platz, ein häßliches Gemisch alter, halb verfallener Häuser. Das Ganze erschien ihm wie eine neue Welt, unbekannt, unerhört, mißgestaltet, phantastisch, kriechend und wimmelnd.

Der unglückselige Poet, den die drei Gauner fest hielten, den hundert andere bizarre Gesichter, gleich Masken, anstarrten, um den hundert Stimmen heulten und bellten, suchte vergebens seinen Geist zu sammeln. Der Faden seines Gedächtnisses war wie abgeschnitten; er zweifelte an der Wirklichkeit, zweifelte an seinem eigenen Dasein und sagte bei sich: wenn ich bin, ist dieses? wenn dieses ist, bin ich?

Jetzt erhob sich unter der ihn umgehenden Menge der allgemeine Ruf: »Führt ihn vor den König! führt ihn vor den König!«

Heilige Jungfrau! murmelte der Dichter, der König dieses Reichs muß ein Bock sein.

»Zum König! zum König!« wiederholten hundert Stimmen. Man riß ihn fort.

Während er über den furchtbaren Platz hinschritt, kehrte sein Bewußtsein zurück. Die Wirklichkeit, auf die er mit jedem Schritte stieß, zerstörte den furchtbaren Traum, den seine kranke Einbildungskraft geschaffen hatte. Er nahm endlich wahr, daß er noch lebe, daß er nicht an den Ufern des Styx, sondern im Straßenkoth wandle, daß nicht Dämonen, sondern Räuber und Diebe ihn geleiten, daß es nicht auf seine arme Seele, sondern auf sein Leben abgesehen sei, denn ihm fehlte das Einzige, was einen Banditen mit einem ehrlichen Manne versöhnen kann: ein voller Beutel.

Man brachte ihn in ein altes, wurmstichiges, durchlöchertes Haus. In einem großen Zimmer oder Saale standen in bunter Unordnung einige morsche Tafeln, unreinlich, von verschüttetem Wein und Bier triefend, um welche her viele bacchische Gesichter saßen, die vom Feuer der Trunkenheit glänzten. Rund umher schallendes Gelächter und unzüchtiger Gesang, Anstoßen der Kannen und Gläser, Streit und Zank. Dazwischen saßen Hunde umher und Kinder spielten auf dem Boden. In dem Kamin brannte ein großes Feuer und daneben stand ein umgestürztes Faß. Auf dem Faße sah ein Bettler. Dieser Bettler war der König, und dieses Faß sein Thron.

Man brachte den Gefangenen vor den Thron des furchtbaren Hauptes dieses gefürchteten Staats. Peter Gringoire wagte weder zu athmen, noch die Augen zum Throne des Königs der Gauner zu erheben.

Der König richtete von der Höhe seiner Tonne herab folgende Worte an den armen Patienten: »Was ist das für ein Schuft?«

Dem zitternden Dieter schien diese Stimme bekannt, er schlug schüchtern die Augen auf: es war Clopin Trouillefou, der auf dem Throne saß.

Clopin Trouillefou, mit den Zeichen seiner königlichen Würde bekleidet, hatte weder einen Lumpen mehr noch weniger am Leibe, als diesen Morgen, wo er im Saale des Justizpalastes als Bettler figurirte. Seine offene Wunde am Arme war bereits verschwunden. Er führte eine Peitsche in der Hand und trug auf dem Kopfe eine runde, oben geschlossene Mütze, die man eben so gut für einen Kinderbausch, als für eine Königskrone halten konnte, so sehr glichen beide einander. Peter Gringoire faßte, ohne zu wissen warum, einige Hoffnung, als er in dem König der Diebe den vermaledeiten Bettler im großen Saale des Justizpalastes wieder erkannte,

»Meister, gnädigster Herr, Sire, Euer Majestät … ich weiß in der That nicht, welchen Titel ich Euch beizulegen habe,« stotterte der verlegene Poet.

»Gnädigster Herr, Euer Majestät, oder Kamerad, nenne mich, wie Du willst; aber spute Dich,« erwiederte der Bettelkönig barsch. »Was hast Du zu Deiner Vertheidigung zu sagen?«

»Zu Deiner Vertheidigung! das gefällt mir nicht,« murmelte Peter Gringoire zwischen den Zähnen und fuhr stammelnd fort: »ich bin der Nämliche, der diesen Morgen…«

»Bei den Klauen des Teufels!« unterbrach ihn der König der Diebe, »Deinen Namen will ich wissen, Du Schuft, und weiter nichts. Hör‘ einmal! Du stehst vor drei mächtigen Herrschern: vor mir, Clopin Trouillefou, souveränem König des Königreichs Kauderwelsch; vor Matthias Hungadi Spicali, Herzog von Aegyptenland, und Wilhelm Rousseau, Kaiser von Galiläa. Du bist in das Königreich Kauderwelsch eingedrungen, ohne ein Unterthan des Reiches zu sein; Du hast die geheiligten Vorrechte unserer Stadt verletzt. Dafür verdienst Du Strafe, es wäre denn, daß Du in dem Reiche der sogenannten ehrlichen Leute ein Dieb, Bettler oder Landstreicher wärest. Bist Du etwas dieser Art? Rechtfertige Dich und nenne Deine Eigenschaften.«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung,« erwiederte der geängstigte Dichter, »aber ich habe nicht die Ehre, das eine oder andere der benannten drei Gewerbe zu treiben. Ich bin vielmehr der Verfasser…«

»Gut,« unterbrach ihn der Bettelkönig trocken, »so wirst Du also gehängt werden. Das ist ganz einfach, Ihr ehrbaren Herren Bürger! wie Ihr die Unsrigen bei Euch behandelt, so behandeln wir die Eurigen bei uns. Das Gesetz, das Ihr gegen die Landstreicher anwendet, wenden die Landstreicher gegen Euch an. Ist es ungerecht, so sind wir nicht Schuld daran, Es ist erquicklich, von Zeit zu Zeit ein ehrbares Bürgergesicht auf der Galgenleiter Fratzen schneiden zu sehen. Das gibt der Sache selbst einen ehrenvollen Anstrich. Mache Dich gefaßt zur letzten Reise, guter Freund, und vertheile Dein Geld und Deine Kleider nach Gefallen unter die ehrlichen Leute des Königreichs Kauderwelsch. Bedarfst Du vor Deinem seligen Hintritt noch einiger geistlichen Mummerei, so findest Du dort unten einen steinernen Herrgott, den wir zu diesem Gebrauche zu St. Peter am Schlachthause gestohlen haben. Du hast vier Minuten Zeit, ihm Deine arme Seele an den Kopf zu werfen.«

Das war ein sehr tröstlicher Zuspruch, der dem Kaiser von Galiläa wohl gefiel; denn er rief über die Tafel herüber: »Beim heiligen Peter und seinem Fischerring! unser König Clopin Trouillefou predigt wie der heilige Vater selbst.«

Als sich die Dinge so drohend gestalteten, kehrten Bewußtsein und Festigkeit in die Seele des armen Dichters zurück: »Meine Herren Kaiser und Könige,« sprach er kaltblütig, »Ihr denkt vermuthlich nicht daran, daß ich der nämliche Peter Gringoire bin, dessen moralisches Stück man diesen Morgen im großen Saale des Justizpalastes aufgeführt hat.«

»Beim Teufel, ja, Du bist es, Meister!« rief der Bettelkönig aus. »Ich war dabei, so wahr mich Gott geschaffen hat! aber, lieber Freund, weil Du uns diesen Morgen Langeweile gemacht hast, sollen wir Dich diesen Abend nicht hängen lassen? Dazu ist kein Grund vorhanden.«

Ich werde Mühe haben dem Strick zu entrinnen, dachte der Poet bei sich. Gleichwohl wollte er noch einen letzten Versuch machen, sich diesem schmählichen Tode zu entziehen.

»Ich sehe nicht ein,« sagte er, »warum man die Poeten nicht unter die Landstreicher rechnet. Aesop war ein Vagabund, Homer ein Bettler und Merkur ein Dieb.«

»Willst Du uns dumm machen mit Deinem Gesalbader?« unterbrach ihn der König der Gauner. »Mache nicht so viele Umstände, sondern laß Dich hängen!«

»Verzeiht, gnädigster Herr König der Landstreicher,« erwiederte Peter Gringoire, »es ist hier von keiner Kleinigkeit die Rede; Ihr werdet mich doch nicht verurtheilen, ohne mich zuvor gehört zu haben.«

Der gerechte König des Königreichs Kauderwelsch ließ sich diese Einwendung zu Herzen gehen. Se. Majestät beriefen den Herzog von Aegypten, den Kaiser von Galiläa und den gesammten Staatsrath ihres Reiches vor sich. Diese hochansehnliche Versammlung bildete einen Halbkreis um das Faß, von welchem herab Clopin Trouillefou das Königreich der Beutelschneider regierte. In der Mitte dieses furchtbaren Kreises stand der arme Peter Gringoire als Delinquent. Clopin Trouillefou, der Doge dieses Senats, der König dieses Oberhauses, der Pabst dieses Conclave, thronte auf seinem Fasse in furchtbarer Majestät.

»Hör‘ einmal,« sagte er zu dem Dichter, »ich sehe nicht ein, warum man Dich nicht hängen sollte. Es scheint Dir zwar unangenehm zu sein, und ich will es gerne glauben, denn ihr ehrlichen Bürger seid nicht daran gewöhnt, ihr macht Euch eine viel zu schauerliche Vorstellung von der Sache. Im Uebrigen wollen wir Dir nicht übel, und es gibt ein Mittel, Deinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Willst Du ein Bürger des Königreichs Kauderwelsch werden?«

Peter Gringoire ergriff unbedenklich diesen letzten Rettungsbalken und erwiederte hastig: »Ob ich will? Mit Freuden will ich!«

»Du willigst also ein, in die Reihen der Leute von der Blendlaterne zu treten?«

»Von der Blendlaterne, jawohl,« wiederholte Peter Gringoire mechanisch.

»Du erkennst Dich als Mitglied der Freibürgergesellschaft an?«

»Der Freibürgergesellschaft,« wiederholte der Dichter.

»Unterthan des Königreichs Kauderwelsch?«

»Unterthan des Königreichs Kauderwelsch.«

»Landstreicher?«

»Landstreicher.«

»Mit Leib und Seele?«

»Mit Leib und Seele.«

»Sehr brav,« fuhr der Bettelkönig fort, »aber ich muß Dir bemerken, daß Du darum nicht minder gehängt werden wirst.«

»Teufel auch!« rief der Poet erschrocken und fuhr drei Schritte zurück.

»Nur,« sprach Clopin Trouillesou weiter, »wirst Du später gehängt werden, mit mehr Feierlichkeit, auf Kosten der guten Stadt Paris, an einen schönen steinernen Galgen, und durch die ehrlichen Leute. Das ist allerdings ein Trost.«

»Ganz gewiß,« sagte Peter Gringoire.

»Du erlangst noch andere Vortheile. Als Freibürger hast Du kein Pflastergeld, keine Armentaxe, kein Laternengeld zu bezahlen, womit die ehrlichen Leute der Stadt Paris belegt sind.«

»Amen!« sprach der Poet. »Ich bin Landstreicher, Freibürger, Unterthan des Königreichs Kauderwelsch, Blendlaterne, Alles, was Eure Majestät aus mir machen will, und ich war es im Voraus schon, gnädigster Herr König, Euch zu dienen, denn ich bin Philosoph, et omnia in philosophia, omnes in philosopho continentur, wie Ihr selbst wißt.«

Der Bettelkönig runzelte die Stirne und erwiederte zornig: »Für wen hältst Du mich, Freund, daß Du mir da in Deiner ungarischen Judensprache vorleierst? Ich kann nicht hebräisch, und wer ein Bandit ist, ist noch lange kein Jude. Ich stehle sogar nicht mehr, ich stehe höher, ich morde.«

»Verzeihung, gnädigster Herr König,« versetzte demüthig der Poet, »es ist nicht hebräisch, sondern lateinisch.«

»Halt’s Maul,« erwiederte zornig der Bettelkönig »ich sage Dir noch einmal, daß ich kein Jude bin, und wenn Du nicht schweigst, so lasse ich Dich hängen.«

Peter Gringoire schwieg weislich, worauf der König ruhig fortfuhr: »Du willst also ein Unterthan unseres Reiches werden, Du Spitzbube?«

»Allerdings,« antwortete der Poet.

»Der Wille allein thut es nicht,« sprach der König, »der schafft keine Zwiebel weiter in die Suppe und taugt zu nichts, als in’s Paradies zu kommen; das Paradies und das Königreich Kauderwelsch sind aber zwei verschiedene Dinge. Im Paradies ist gut faullenzen, aber im Königreich Kauderwelsch muß man zu Etwas tauglich sein, und deßhalb mußt Du vor allen Dingen dem Gliedermann die Taschen leeren.«

»Alles will ich leeren, was Euch beliebt, Herr König,« entgegnete der Poet.

Auf ein Zeichen des Königs wurde ein tragbarer hölzerner Galgen herbeigebracht.

»Sie werden doch nicht gar des Teufels sein?« sprach Peter Gringoire mit innerlicher Angst.

Ein Glockengeläute, das er in diesem Augenblicke hörte, machte seiner Furcht ein Ende! es war der Gliedermann, den man am Strick des Galgens befestigte. Die tausend Glöckchen, mit denen er bedeckt war, hallten noch nach, so lange die Schwingung des Stricks dauerte, bis sie allmählig ganz schwiegen.

Hierauf deutete der Bettelkönig auf einen alten schwankenden Schemel, der unterhalb des Gliedermanns stand, und sprach zu Peter Gringoire: »Steig da hinauf, guter Freund.«

»Tod und Hölle!« rief der Dichter, »da muß ich den Hals brechen. Euer Schemel hinkt, wie ein Distichon von Martial; er hat einen Fuß Hexameter und einen Fuß Pentameter.«

»Steig hinauf!« wiederholte Clopin Trouillefou.

Jetzt faßte sich der Dichter ein Herz und gelangte, nicht ohne einige Schwankungen des Hauptes und der Arme, auf die Höhe des Schemels, wo er den Centralpunkt seines Gleichgewichts wieder fand.

»Jetzt,« fuhr der König fort, »drehe Deinen rechten Fuß um Dein linkes Bein und richte Dich auf der Spitze des linken Fußes in die Höhe.«

»Gnädigster Herr,« versetzte der Poet, »Ihr wollt also durchaus, daß ich den Hals breche?«

Clopin Trouillesou schüttelte den Kopf und sprach: »Höre, guter Freund, Du plauderst mir zu viel. Ich will Dir mit zwei Worten sagen, um was es sich hier handelt. Du richtest Dich, wie ich Dir schon gesagt, auf der linken Zehenspitze in die Höhe, um die Tasche des Gliedermanns mit ausgestreckter Hand erreichen zu können, Du ziehst den Beutel heraus, der darin steckt; und wenn dieses vollbracht ist, ohne daß der Ton einer Glocke hörbar wird, so hast Du wohlgethan und bist ein Unterthan unseres Königreichs Kauderwelsch. Dann bleibt uns nichts mehr übrig, als Dich acht Tage lang tüchtig durchzuprügeln.«

»Und wenn sich eine Glocke bewegt?« fragte unser Dichter.

»Dann wirst Du gehängt. Verstehst Du?«

»Ganz und gar nicht,« antwortete Peter Gringoire in der Angst seines Herzens.

»So höre noch einmal: Du ziehst dem Gliedermann die Börse aus der Tasche, und wenn dabei ein einziges Glöckchen sich hören läßt, so wirst Du gehängt. Verstehst Du das?«

»Wohl, ich verstehe es jetzt. Und hernach?«

»Nimmst Du die Börse, ohne daß man eine Glocke hört, so bist Du Unterthan unseres Reiches und wirst acht Tage hintereinander tüchtig durchgeprügelt. Verstehst Du es jetzt?«

»Nein, Herr König, das verstehe ich nicht. Welchen Vortheil habe ich denn? In dem einen Falle gehängt, in dem andern halbtodt geschlagen!«

»Und unser Unterthan, Unterthan des Königreichs Kauderwelsch, ist das nichts?« fragte mit ernster Stimme Clopin Trouillefou, der König der Diebe. »Wirst Du geschlagen, so geschieht es bloß zu Deinem eigenen Besten, damit Du Dich gegen Schläge abhärtest.«

»Schönen Dank!« erwiederte der Poet.

»Jetzt spute Dich,« sprach der König ungeduldig und stampfte mit dem Fuß auf seinen Thron, »frisch an’s Werk, und wenn eine einzige Glocke läutet, so hängt man Dich an den Platz des Gliedermanns.«

Der königliche Staatsrath und die Zuschauer bei diesem offenen Gericht klatschten den Worten des Königs Beifall und reihten sich unter wildem Gelächter um den Galgen. Es blieb nun unserem Patienten nichts Anderes übrig, als das große Werk zu vollbringen. Er betrachtete mit angsterfüllter Seele den Gliedermann, und die tausend Glöckchen, die an ihm hingen, mit ihren kleinen kupfernen Zungen, erschienen ihm wie lauter Nattern mit offenem Munde, jeden Augenblick bereit, zu pfeifen und zu beißen.

Oh! sprach er leise für sich, soll mein Leben an der geringsten Schwingung des kleinsten dieser Glöckchen hängen? Oh! fügte er mit gefalteten Händen hinzu, ihr Glocken läutet nicht, ihr Schlegel, rührt euch nicht!

Noch einmal machte er einen Versuch auf die Barmherzigkeit des Bettelkönigs.

»Und wenn,« fragte er, »ein plötzlicher Windstoß käme?«

»So wirst Du gehängt,« erwiederte Clopin Trouillefou ohne Zaudern.

Da nun alle Mittel, aus diesem Labyrinth zu gelangen, erschöpft waren, ergab sich unser Dichter in sein unabwendbares Schicksal, drehte den rechten Fuß um das linke Bein, richtete sich auf der linken Zehenspitze in die Höhe und streckte den Arm aus; in dem Augenblicke aber, wo er den Gliedermann berührte, schwankte sein Körper, der nur noch auf einem Fuße stand, auf dem Schemel, der nur drei Füße hatte; mechanisch wollte er sich an dem Gliedermann halten, verlor das Gleichgewicht und stürzte schwerfällig zu Boden, während der Ton von tausend Glocken in seinen Ohren wiederhallte.

»Verflucht!« rief er im Fallen, und blieb, das Gesicht der Erde zugekehrt, wie todt auf dem Boden liegen. In diesem schrecklichen Augenblicke gellte der Schall der Glocken todverkündend in seinen Ohren; er hörte das teuflische Gelächter der diebischen Rotte und vernahm des Bettelkönigs Stimme: »Hebt mir diesen Schuft auf und hängt ihn an den Galgen!«

Peter Gringoire erhob sich vom Boden, und als er aufblickte, sah er, daß man bereits den Gliedermann abgenommen hatte, um ihm Platz zu machen.

Man ließ ihn auf den Schemel steigen, der König in eigener Person legte ihm den Strick um den Hals, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sprach: »Gott befohlen, mein Herzenssohn! Du kannst jetzt dem Stricke nimmer entgehen, und wenn Du auch mit dem Magen des Pabstes verdautest.«

Das Wort Gnade! erstarb auf den Lippen unseres armen Dichters; er blickte trostlos um sich her, denn auf keinem dieser grinsenden Gesichter erblickte er einen Funken von Mitgefühl.

»Bellevigne de l’Etoile,« sprach der König zu einem Vagabunden von riesenhafter Gestalt, »steig auf den Querbalken.«

Schnell und gewandt stieg der Riese hinauf, und mit Entsetzen sah ihn Peter Gringoire über seinem Haupte schweben.

»Jetzt,« fuhr Clopin Trouillefou fort, »sobald ich in die Hände klatsche, wirfst Du, Andry le Rouge, den Schemel um, Du, François Chante-Prune, hängst Dich an die Füße des armen Sünders, und Du, Bellevigne de l’Etoile, steigst auf seine Schultern, und alle Drei zumal, hört Ihr’s?«

Dem armen Peter Gringoire lief es eiskalt über den Rücken hinab.

»Seid Ihr fertig?« fragte der Bettelkönig. Der letzte Augenblick des armen Dichters war nahe.

»Seid Ihr fertig?« wiederholte Clopin Trouillefou und schickte sich an, mit den Händen zu klatschen. Noch eine Sekunde, und es war um unsern Poeten geschehen.

Plötzlich hielt Clopin Trouillefou, wie von einem schnellen Gedanken ergriffen, inne,

»Halt!« sagte er, »fast hätte ich vergessen… Es ist unter uns gebräuchlich, daß wir keinen Mann hängen, ohne zuvor bei den Weibern Umfrage zu halten, ob ihn eine von ihnen will. Kamerad, das ist Dein letztes Rettungsmittel, ein Bettelmensch zum Weibe oder den Strick.«

Peter Gringoire schöpfte frischen Athem. Zum zweitenmal, seit einer halben Stunde, kehrte er in’s Leben zurück. Es war aber noch nicht allzusehr darauf zu bauen.

»Holla!« schrie Clopin Trouillefou mit lauter Stimme, »holla! Ihr Weiber und Weiblein, ist unter Euch irgend eine alte oder junge Hexe, die diesen Schlingel zum Manne will? Holla! Kommt und schaut! Ein Mann umsonst! Wer will ihn?«

Unser Peter Gringoire, in seinem kläglichen Zustande, bot nicht den reizendsten Anblick dar; auch schienen die Damen des Königreichs Kauderwelsch den Antrag ihres gnädigsten Souveräns wenig zu beachten.

»Nein! nein!« antworteten viele Stimmen, »knüpft ihn lieber auf, dann haben doch Alle einen Genuß davon!«

Ein Trio dieser Damen trat jedoch aus dem Haufen, den Brautwerber zu beschauen. Die Erste derselben, ein dickes Bettelmensch mit viereckigem Gesicht, musterte ihn und seinen abgeschabten Anzug. Sie warf das Maul auf und sprach: »Alte Wetterfahne! wo hast Du Deinen Mantel?«

»Ich habe ihn verloren,« erwiederte mit kläglicher Stimme der Poet.

»Deinen Hut?«

»Man hat mir ihn genommen.«

»Deine Börse?«

»Es ist kein Pfennig mehr darin.«

»So laß Dich hängen und bedanke Dich schön dafür!« sagte die Bettlerin und wendete ihm den Rücken.

Die Zweite, alt, runzlig, von Rauch und Schmutz geschwärzt und so häßlich, daß sie selbst in dem Hofe der Wunder Aufsehen machte, umschlich ihn wie eine Katze, betrachtete ihn von allen Seiten und entfernte sich dann mit den Worten: »den dürren Häring mag ich nicht!«

Die Dritte war ein junges Mädchen, ziemlich frisch und nicht allzuhäßlich.

»Rette mich!« rief ihr der arme Teufel mit gedämpfter Stimme zu.

Sie betrachtete ihn einen Augenblick mit anscheinendem Mitleid, schlug die Augen nieder, spielte an ihrer Schürze und war unschlüssig.

Peter Gringoire folgte allen diesen Bewegungen, die ihm für Leben und Tod entscheidend waren, mit gierigen Blicken.

»Nein!« sprach endlich das Mädchen, »nein! Guillaume Longue-Joue würde mich prügeln!« Mit diesen Worten trat sie in den Haufen zurück.

»Kamerad,« sprach Clopin Trouillefou, »Du hast Unglück!«

Hierauf erhob sich der Bettelkönig aufrecht auf seinem Throne und rief mit der Stimme eines Ausrufers: »Wer will ihn haben? Ist Niemand da? Wer will ihn haben? Zum ersten… zweiten… zum… zum… drittenmal!«

Bei diesen Worten machte er einen Knix gegen den Galgen und sagte: »Zum dritten- und letztenmal!«

Bellevigne de l’Etoile, Andry le Rouge und François Chante-Prune näherten sich dem Patienten.

In diesem Augenblicke erhob sich der allgemeine Ruf: »die Esmeralda! die Esmeralda!«

Peter Gringoire schauderte zusammen und wendete das Haupt nach der Seite, woher der Ruf kam. Die Menge öffnete sich, und man erblickte die reizende Gestalt des schönen Zigeunermädchens.

Die Esmeralda! seufzte der arme Poet, dem dieses magische Wort alle Erinnerungen des vergangenen Tages ins Gedächtniß zurückführte.

Dieses seltsame Geschöpf schien bis in den Hof der Wunder die Herrschaft ihres Liebreizes zu erstrecken. Männer und Weiber bildeten eine Reihe, durch welche sie leichten Schrittes hinschwebte, und ihre finsteren Gesichter erheiterten sich bei dem Anblick dieses lieblichen Geschöpfes.

Sie trat auf den armen Peter Gringoire zu, der mehr todt als lebendig war, betrachtete ihn einen Augenblick stillschweigend und sprach dann ernst zu Clopin Trouillefou: »Du willst diesen Menschen hängen lassen?«

»Ja, Schwester,« erwiederte der Bettelkönig, »es wäre denn, daß Du ihn zum Manne nähmest.«

»Ich nehme ihn,« sagte sie.

Als unser Dichter dies hörte, glaubte er steif und fest, daß es ihm seit diesem Morgen bloß geträumt habe, und daß er jetzt aus dem Schlaf erwache.

Man nahm ihm den Strick ab und ließ ihn vom Schemel steigen. Er war so erschöpft, daß er sich setzen mußte.

Der Herzog von Aegypten brachte, ohne ein Wort zu sagen, einen irdenen Krug. Das Zigeunermädchen bot ihn dem Dichter mit den Worten dar: »Wirf ihn zu Boden!«

Der Krug zerbrach in vier Stücke.

»Bruder,« sprach jetzt der Herzog von Aegypten, indem er beiden die Hände auf die Stirne legte, »sie ist Dein Weib; Schwester, er ist Dein Mann, auf vier Jahre.«

X.

Nach wenigen Minuten befand sich unser Dichter in einem kleinen gewölbten Zimmer, das gegen den Zugang der Luft wohl verwahrt und wohl geheizt war, und saß vor einem Tische, der zwar noch nicht besetzt war, aber die Aussicht auf einen an der Wand hängenden Speiseschrank darbot, aus dem man nur für die Tafel entnehmen durfte; ein gutes Bett stand in der Ecke, und er befand sich unter vier Augen mit einem schönen Mädchen. Seliger Peter Gringoire! Dieser Wechsel der Dinge glich einer wahren Verzauberung. Unser Poet begann im Ernst sich für eine Art irrenden Ritters zu halten, an dessen Person die Feen und Zauberer guten und schlimmen Antheil nehmen. Er blickte von Zeit zu Zeit um sich, um den mit zwei geflügelten Genien bespannten Feenwagen zu suchen, der allein vermocht hatte, ihn mit so reißender Schnelligkeit aus dem Tartarus in den Olymp zu bringen. Dann, um diesen magischen Schwung abzukühlen und sich in die Wirklichkeit zurückzuversetzen, sah er wieder seinen abgeschabten, zerrissenen Rock an, und dies war der einzige Faden, an dem seine schwankende Vernunft noch festhielt.

Das schöne Zigeunermädchen schien gar nicht auf ihn zu achten; sie ging, kam, verrichtete Dieses und Jenes, plauderte mit ihrer Ziege. Endlich setzte sie sich an den Tisch, und unser Dichter konnte sie mit Muße betrachten.

Je mehr und mehr in seine Träumereien versinkend und nur von Zeit zu Zeit einen Seitenblick auf das Mädchen werfend, sprach er zu sich selbst: Das ist also die Esmeralda! Fürwahr ein himmlisches Geschöpf! Sie tanzt zwar auf der Straße, aber gleichviel! Sie ist es, die heute meinem Mysterium den Garaus gemacht hat, sie ist es, die diesen Abend mein Leben gerettet hat. Mein böser Genius! Mein guter Engel! In der That ein schönes Weib, und die ganz rasend in mich verliebt sein muß, da sie mich auf solche Weise geheirathet hat! Potz tausend! fügte er, sich besinnend hinzu, ich bin also ihr Mann, obgleich ich nicht recht weiß, wie das zugegangen ist.

Diese Idee im Kopfe und in den Augen, näherte er sich dem Mädchen mit einer so legitimen Galanterie, daß sie vor seinen Blicken zurückwich,

»Was willst Du von mir?« fragte sie.

»Kannst Du fragen, angebetete Esmeralda?« antwortete Peter Gringoire mit einem so leidenschaftlichen Ausdrucke, daß er sich über sich selbst wundern mußte.

Das Zigeunermädchen öffnete ihre großen, schwarzen Augen und sprach: »Ich weiß nicht, was Du damit sagen willst.«

»Nun, wahrlich!« erwiederte der Poet, der immer hitziger wurde und zu bedenken anfing, daß er am Ende doch nur eine Tugend, wie sie im Hofe der Wunder zu finden waren, vor sich habe, »bin ich nicht Dein, bist Du nicht mein, mein süßes Mädchen?«

Mit diesen Worten umfaßte er sie ohne Umstände. Das Mieder der Zigeunerin glitschte in seiner Hand, wie die Haut eines Aals, den man abzieht. Das Mädchen sprang wie eine Gemse von einem Ende des Zimmers zum andern, einen kleinen Dolch in der Hand, stolz und zürnend, mit aufgeworfenen Lippen und offenen Nasenflügeln, mit vor Scham und Wuth brennenden Wangen und Augen, die Blitze von sich schleuderten. Zu gleicher Zeit stellte sich die Ziege auf die Hinterbeine, blöckte und bedrohte unsern Dichter mit ihren spitzigen Hörnern. Alles dies war das Werk eines Augenblicks.

Unser Philosoph war wie verzaubert und festgebannt, und betrachtete mit stieren Blicken bald die Ziege, bald das Zigeunermädchen. Heilige Jungfrau, sprach er für sich, die beiden muß der Teufel gemacht haben!

»Du bist ein kecker Bursche!« sprach die Zigeunerin zu ihm.

»Aber warum, in’s Teufels Namen, hast Du mich denn geheirathet?«

»Sollte ich Dich hängen lassen?«

»Also,« versetzte der in seinen verliebten Hoffnungen getäuschte Poet, »hattest Du keinen andern Gedanken dabei, als mich vom Galgen zu retten?«

»Welchen anderen Gedanken hätte ich denn haben sollen?«

Peter Gringoire biß sich vor Verdruß in die Lippen und sagte: »Ich bin also noch nicht so sieghaft in Cupido’s Reiche, wie ich glaubte; aber wozu hat es denn jetzt genützt, den armen Krug zu zerbrechen?«

Inzwischen waren die Hörner der Ziege und Esmeralda’s Dolch noch immer zur Vertheidigung gerüstet.

Als unser Philosoph seine Bemühungen fruchtlos sah, ergab er sich mit stoischer Gleichmüthigkeit in den Willen des Schicksals, gedachte in seinem Herzen, daß er ein hungriger Poet sei, und sprach: »Ich schwöre Dir, daß ich Dich ohne Deinen Willen mit keinem Finger berühren will, aber gib mir etwas zu Nacht zu essen.«

Peter Gringoire war ein Philosoph in der Liebe, wie in allen anderen Dingen! er konnte kapituliren und temporisiren, und ein gutes Nachtessen unter vier Augen schien ihm, besonders wenn er Hunger hatte, ein herrlicher Zwischenakt zwischen dem Prolog und der Entwicklung eines verliebten Abenteuers.

Das Zigeunermädchen antwortete nicht, sie warf den Mund spöttisch auf, hob das Haupt, brach in ein Gelächter aus, und plötzlich war der kleine Dolch verschwunden, ohne daß unser Dichter sehen konnte, wohin die Biene ihren Stachel versteckte.

Gleich darauf ward die Tafel mit Roggenbrod, einem Stück Speck, einigen gebratenen Aepfeln und einem Kruge Bier besetzt.

Unser Dichter machte sich mit Heißhunger darüber her, und wenn man das Geklapper von Messer und Gabel hörte, die er mit reißender Schnelligkeit handhabte, so hätte man glauben können, die Liebe sei ihm in den Magen gefahren.

Das junge Mädchen, das neben ihm saß, sah ihm stillschweigend zu und war sichtbarlich mit einem andern Gedanken beschäftigt, der bisweilen ein stilles Lächeln auf ihre Lippen brachte, während ihre zarte Hand das kluge Haupt der Ziege streichelte, welche sich zwischen ihre Kniee gepreßt hatte.

Ein gelbes Wachslicht beleuchtete diese Scene der Gefräßigkeit und des träumerischen Nachsinnens.

Nachdem die dringendsten Forderungen des Magens befriedigt waren, schämte sich unser Dichter, daß er von dem ganzen Mahl nur einen einzigen Apfel zurückgelassen habe.

»Willst Du denn gar nichts essen?« fragte er, freilich allzu spät, das Mädchen.

Sie antwortete mit einem verneinenden Kopfnicken und blickte gedankenvoll zur Decke des Zimmers hinauf.

An was denkt sie wohl? sagte Peter Gringoire für sich und folgte der Richtung ihrer Blicke. Das Fratzengesicht des steinernen Zwergs da, der in der Wölbung eingegraben ist, kann doch nichts so Anziehendes für sie haben. Beim Teufel! mit Dem halte ich die Vergleichung noch aus!

Er rief ihr laut zu: »Esmeralda!«

Sie schien ihn nicht zu hören.

Er rief noch lauter: »Esmeralda!«

Vergebens, ihr Geist war anderswo, und Peter Gringoire’s Stimme hatte nicht die Macht, ihn zurückzurufen. Glücklicherweise nahm sich die Ziege der Sache an; sie zupfte ihre Gebieterin sanft am Aermel.

»Was willst du, Djali?« fragte Esmeralda, wie plötzlich aus einem Traume erwachend.

»Sie wird Hunger haben,« antwortete der Poet im Namen der Ziege.

Esmeralda bröckelte Brod und gab es dem Thier in ihrer hohlen Hand zu fressen.

Damit das Mädchen nicht wieder in ihre Träumereien versinke, wagte unser Peter Gringoire eine kitzliche Frage: »Du willst mich also nicht zu Deinem Manne haben?«

Esmeralda fixirte ihn mit den Augen und sagte trocken: »Nein!«

»Oder zu Deinem Liebhaber?«

Sie warf den Mund höhnisch auf und sagte: »Nein!«

»Auch nicht zu Deinem Freunde?«

Sie sah ihm fest in die Augen und erwiederte nach augenblicklichem Nachdenken: »Vielleicht!«

Dieses Vielleicht, das den Philosophen so theuer ist, ermuthigte unseren Dichter: »Weißt Du,« fragte er, »was Freundschaft ist?«

»Ja,« erwiederte das Mädchen, »sie ist Bruder und Schwester, zwei Seelen, die sich berühren, ohne in einander zu fließen, zwei Finger einer Hand.«

»Und die Liebe?« fuhr der Dichter fort.

»Die Liebe!« wiederholte sie, und ihre Stimme zitterte und ihr Auge strahlte, »die Liebe macht aus zwei Wesen eines, einen Mann und ein Weib, die sich in einen Engel auflösen, das ist der Himmel.«

Die Straßentänzerin bot in dem Augenblicke, als sie diese Worte sagte, einen Anblick himmlischer Schönheit dar, die unseren Dichter um so mehr bezauberte, da sie in vollkommenem Einklang mit dem fast orientalischen Schwung ihrer Worte stand. Ihre rosigen Lippen waren halb geöffnet, ihre reine, freie Stirne umwölkte sich je und je nach dem Gange ihrer Gedanken, wie ein Spiegelglas vom Hauche getrübt wird, und unter ihren zu Boden gehefteten schwarzen Augbraunen schimmerte ein unauslöschbares Licht hervor, das ihrem Profil jene ideale Lieblichkeit gab, welche inzwischen Raphael auf dem Punkt des mystischen Durchschnitts der Jungfräulichkeit, der Mütterlichkeit und der Göttlichkeit wiedergefunden hat.

Der Dichter fuhr zu fragen fort: »Wie muß man denn beschaffen sein, um Dir zu gefallen?«

»Man muß ein Mann sein.«

»Und ich, was bin ich denn?«

»Ein Mann hat den Helm auf dem Haupt, das Schwert in der Faust und goldene Sporen an den Fersen.«

»Gut,« sprach unser Peter, »ohne Roß kein Mann! Liebst Du irgend Einen?«

»Lieben?«

»Ja, lieben!«

Sie dachte einen Augenblick nach und sagte dann mit eigentümlichem Ausdruck: »Ich werde das bald wissen.«

»Und warum nicht diesen Abend schon?« versetzte der zärtliche Poet. »Und warum nicht mich?«

Sie warf ihm einen ernsten Blick zu und sagte: »Ich liebe nur einen Mann, der mich zu schützen vermag.«

Peter Gringoire erröthete, denn augenscheinlich spielte sie auf den geringen Beistand an, den er ihr vor wenigen Stunden in einer bedenklichen Lage zu leisten vermochte. Plötzlich erinnerte er sich der Abenteuer dieser Nacht, schlug sich vor die Stirne und sprach: »Wie dumm! Eigentlich hätte ich damit anfangen sollen: ›Wie bist Du denn den Klauen des garstigen Zwergs entkommen?‹«

Bei dieser Frage schauderte Esmeralda zusammen: »O, der scheußliche Zwerg!« sagte sie und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

»Scheußlich ist er,« fuhr der Poet fort, »aber sage mir, wie Du ihm entkommen bist?«

Esmeralda lächelte, seufzte und schwieg.

»Weißt Du, warum er Dir gefolgt ist?« fuhr Peter Gringoire fort, um auf einem Umweg auf seine Frage zurückzukommen.

»Ich weiß es nicht,« erwiederte sie und fügte lebhaft hinzu: »Aber Du selbst, warum bist Du mir nachgefolgt?«

»Meiner Treu!« antwortete der ehrliche Peter, »ich weiß es auch nicht.«

Es trat eine Pause ein. Der Dichter klimperte mit dem Messer auf dem Tisch, und die Zigeunerin streichelte ihre Ziege.

»Du hast da ein schönes Thier,« sagte Peter Gringoire.

»Es ist meine Schwester.«

»Warum nennt man Dich Esmeralda?«

»Ich weiß es nicht.«

Sie zog aus ihrem Busen ein längliches Säckchen, das an einer Kette um ihren Hals hing; dieses Säckchen hatte eine starke Ausdünstung von Campher, war mit grüner Seide bedeckt, und in seiner Mitte hatte es ein großes grünes Glas, das einen Smaragd (émeraude) vorstellte. »Es ist vielleicht deßhalb,« sagte sie, indem sie ihm das Säckchen hinhielt.

Peter Gringoire wollte es mit der Hand fassen.

Sie zog es hastig zurück: »Rühre es nicht an, es ist verzaubert. Du würdest dem Zauber schaden, oder der Zauber Dir.«

»Wer hat es Dir gegeben?« fragte der neugierige Poet.

Sie legte einen Finger auf den Mund und verbarg das Amulet in ihrem Busen.

»Was heißt das Wort: Esmeralda?«

»Ich weiß es nicht!«

»Welcher Sprache gehört es an?«

»Es ist ägyptisch, glaube ich.«

»Das dachte ich doch, Du bist nicht aus Frankreich?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie alt warst Du, als Du nach Frankreich kamst?«

»Ganz klein.«

»Wann kamst Du nach Paris?«

»Im vergangenen Jahre. Als wir durch die päbstliche Pforte einzogen, sah ich die röthliche Grasmücke durch die Luft streichen; es war Ende August und ich sagte: Wir werden einen strengen Winter bekommen.«

»Das war er auch,« rief der Poet aus, »und ich habe mir mehr als einmal in die Hände gehaucht. Du besitzest also die Gabe der Weissagung?«

»Nein!«

»Ist der Mann, den Ihr den Herzog von Aegypten nennt, das Haupt Eures Stammes?«

»Ja!«

»Nun, und dieser Nämliche hat uns verheirathet,« sagte der Poet und warf einen schüchternen Blick auf die Schöne.

Sie machte die ihr eigene höhnische Geberde: »Ich weiß nicht einmal Deinen Namen!«

»Oh, wenn es nur daran liegt! Peter Gringoire, Dir zu dienen!«

»Da weiß ich einen schönern,« sagte sie,

»Verdammte Hexe!« fuhr der Poet fort, »doch gleichviel, ich will nicht zornig werden. Vielleicht lernst Du mich lieben, wenn Du mich erst besser kennst; und überhaupt will ich Dir meine Geschichte erzählen.«

»Wisse also, daß ich Peter Gringoire heiße und der Sohn eines Pächters aus der Amtei Gonesse bin. Als man vor zwanzig Jahren Paris belagerte, haben die Burgunder meinen Vater gehängt, und die Picarden meiner Mutter den Bauch aufgeschnitten. Im sechsten Jahre also, denn ich bin jetzt sechsundzwanzig Jahre alt, lief ich als eine vater- und mutterlose Waise mit bloßen Füßen auf dem Pflaster von Paris. Wie ich die Zeit vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre zugebracht habe, weiß ich mich kaum mehr zu erinnern. Hier warf mir eine Obsthändlerin eine Pflaume, dort eine Gemüsehändlerin einen halbverfaulten Kohlkopf zu; Abends ließ ich mich von der Polizei auffangen, die mich über Nacht einsteckte, und im Gefängniß fand ich einen Bund Stroh zum Liegen. So wurde ich groß und blieb mager, wie Du siehst. Im sechzehnten Jahre dachte ich daran, Etwas zu werden. Ich machte allerlei Versuche: ich wurde Soldat, aber es fehlte mir an Muth; ich wurde Mönch, aber ich war nicht fromm genug; ich wurde Zimmermann, da fehlte es mir an Stärke; ich wollte ein Schulmeister werden, aber ich konnte weder lesen noch schreiben. Nach einiger Zeit nahm ich wahr, daß es mir zu Allem an Etwas fehlte, und da ich einsah, daß ich zu Nichts tauglich sei, so wurde ich ein Dichter. Man kann Poet und Vagabund zugleich sein. Zu meinem Glück lernte ich eines Tages Don Claude Frollo, den hochwürdigen Archidiakonus der Liebfrauenkirche, kennen; er nahm Antheil an mir, und ihm danke ich es, daß ich jetzt ein wahrer Gelehrter bin, der das Latein von Cicero’s Officien an bis zum Leichengesang der hochwürdigen Cölestiner aus dem Grunde versteht. Ich bin der Verfasser des Mysteriums, das man heute, unter großem Zulauf und Beifall des Volks, im großen überfüllten Saale des Justizpalastes aufgeführt hat. Ich habe auch ein Buch von sechshundert Seiten über den wunderbaren Kometen des Jahres 1456 geschrieben, worüber ein Mensch närrisch geworden ist. Ich verstehe mich auch ein wenig auf das Geschütz und habe an dem großen Mörser geholfen, der, als man den ersten Versuch damit machte, auf der Brücke von Charenton zersprungen ist und achtzig Personen getödtet hat. Du siehst also, daß ich ein Mann bin, den man brauchen kann und demnach keine so üble Partie für Dich wäre. Ich verstehe auch allerlei Kunststücke, die Deiner Ziege wohl zu Statten kommen werden, z. B. den Bischof von Paris nachzumachen, und derlei Dinge. Auch werde ich ein schönes Stück Geld für mein Mysterium einnehmen, wenn man mich anders bezahlt. Somit bin ich zu Deinem Befehl, meine Person, mein Geist, meine Wissenschaft, Alles nach Deinem Gefallen, züchtig oder lustig, Mann und Frau, wenn Du willst, oder Bruder und Schwester, wenn es Dir so lieber ist.«

Der Philosoph schwieg und wartete auf den Erfolg, den seiner Meinung nach seine wohlgesetzte Rede unfehlbar hervorgebracht haben mußte. Das Mädchen hob ihre schwarzen Augen vom Boden und sagte halb träumend: Phöbus! Hierauf wandte sie sich dem Dichter zu mit den Worten: »Phöbus, was bedeutet das?«

Peter Gringoire, der gerne seine Gelehrsamkeit glänzen ließ, antwortete auf der Stelle: »Das ist ein lateinisches Wort und bedeutet Sonne.«

»Sonne!« wiederholte sie.

»Es ist der Name eines schönen Bogenschützen, der ein Gott war,« fügte der Dichter hinzu.

»Ein Gott!« wiederholte Esmeralda, und in ihrem Tone lag etwas Nachdenkliches und Leidenschaftliches.

In diesem Augenblicke entfiel ihr eines ihrer Armbänder. Der galante Poet bückte sich hastig darnach. Als er den Kopf wieder erhob, war das Mädchen mit der Ziege verschwunden, und er hörte von Außen den Riegel schließen.

»Hat sie mir doch wenigstens ein Bett dagelassen?« sagte unser Philosoph.

Er machte die Runde im Zimmer und fand nur eine nicht sehr lange hölzerne Kiste, auf deren Deckel hölzerne Figuren in erhabener Arbeit ausgeschnitten waren. Als er sich auf derselben zum Schlaf ausstreckte, hatte er ungefähr die nämliche Empfindung, wie der Riese Mikromegas, als er die Alpen in ihrer ganzen Länge zur Ruhestätte wählte. Nun, sprach er mit Ergebung, man muß sich begnügen. Es ist freilich eine sonderbare Brautnacht. Schade, es lag in dieser Verheiratung mittelst eines zerbrochenen Kruges etwas Ungekünsteltes und Antediluvianisches, das mir wohlgefiel.

XI.

Sechzehn Jahre vor dem Anfang dieser Geschichte war am Sonntag Quasimodo in der Liebfrauenkirche zu Paris, auf dem Brett vor dem Bilde des heiligen Christoph, ein lebendes Geschöpf ausgesetzt worden. An diesem Platze pflegte man die Findelkinder auszusetzen, bis ein barmherziger Samariter kam, der sie zu sich nahm. Daneben stand ein Opferbecken, in das man Almosen für die verlassenen Geschöpfe warf.

Das lebende Wesen, das am Sonntag Quasimodo des Jahres 1467 auf diesem Brette lag, schien die Neugierde der Gruppe, welche sich um dasselbe gesammelt hatte, in hohem Grade zu erregen. Sie gehörte meist dem schönen Geschlechte an, bestand jedoch fast aus lauter alten Weibern.

In der vordersten Reihe standen vier solche Weiber, die ihrer Kleidung nach irgend einer frommen Gesellschaft angehörten. »Was ist das, Schwester?« fragte die eine, indem sie auf das kleine Geschöpf deutete, das, durch den Anblick so vieler fremden Gesichter erschreckt, sich auf dem Brett unruhig hin und her wälzte.

»Ich verstehe mich nicht auf Kinder,« erwiederte die Andere, »aber es ist gewiß eine Sünde, ein solches in Sünden erzeugtes Wesen nur anzusehen.«

»Es ist ein Kind,« fiel die Dritte ein.

»Es ist ein halber Affe,« sagte die Vierte.

Jetzt fingen sie Alle zumal an zu reden:

»Ein wahres Scheusal an Häßlichkeit!«

»Es schreit, daß man taub werden möchte!«

»Das ist kein Mensch, aber auch kein Thier; ich glaube fast, daß es von einem Juden und einer Sau ist, irgend etwas Unchristliches, das man in’s Wasser oder Feuer werfen sollte.«

»Ich glaube nicht, daß irgend ein Mensch es annehmen wird.«

In der That war dieses kleine Geschöpf, das bereits wenigstens vier Jahre zählte, ein wirkliches Ungeheuer an Häßlichkeit. Seine unförmliche Masse steckte in einem Sack, der ihm bis an den Hals ging; der Kopf war sichtbar, er zeigte einen Wald rother Borsten, ein Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge troff, der Mund schrie und die Zähne schienen beißen zu wollen. Der Körper stampfte unruhig in dem Sack, zur großen Belustigung der Zuschauer.

Eine vornehme, reichgekleidete Dame, ihre sechsjährige Tochter an der Hand, bückte sich zu dem unförmlichen Wesen hinab, wandte den Blick mit Ekel ab und sagte: »In der That, ich glaubte, man setze hier bloß Kinder aus.« – Sie warf ein Silberstück in das Opferbecken und ging.

Ein ernster, wohlgekleideter Mann, von der sogenannten hohen Bürgerschaft, schritt vorüber. »Findelkind!« sagte er und bückte sich zu dem Wesen hinab; als er es angesehen hatte, fügte er hinzu: »Offenbar an den Ufern des Flusses Phlegeton gefunden!«

»Es hat nur ein Auge und auf dem andern eine Warze,« bemerkte eine der Betschwestern.

»Es ist keine Warze,« erwiederte der Bürger mit großem Ernst, »sondern ein Ei, in dem ein anderer kleiner Teufel steckt, der wieder ein kleines Ei hat, in dem wieder ein kleiner Teufel steckt, und so fort.«

Die Betschwestern wunderten sich darüber sehr und eine derselben fragte: »Was prophezeit Ihr uns von diesem angeblichen Findelkinde?«

»Das größte Unglück,« versetzte er.

»So wäre es besser,« riefen viele Zuschauer zumal, »diesen kleinen Höllenbrand ins Wasser oder ins Feuer zu werfen.« Einige machten bereits Anstalten, diesen Vorschlag zu vollziehen.

Da trat plötzlich ein junger Priester von ernstem Ansehen hinzu, legte die Hand auf das kleine Geschöpf und sprach: »Ich nehme dieses Kind an.«

Er wickelte es in seinen Priesterrock und ging. Eine der Betschwestern neigte sich zu dem Ohre einer andern und sprach: »Habe ich es nicht gesagt, daß dieser junge Priester Claude Frollo ein Hexenmeister ist?«

Claude Frollo gehörte einer jener Familien an, die man hohe Bürgerschaft oder kleinen Adel nannte. Er war von seiner Kindheit an für den geistlichen Stand bestimmt: man lehrte demnach das Kind lateinisch lesen, die Augen niederschlagen und leise reden. Hierauf, als er ein Knabe wurde, mauerte man ihn in das Collegium von Torchi ein. Dort wuchs er mit dem Meßbuch und dem Lexicon auf.

Claude Frollo war ein ernsthafter, fast düsterer Knabe, der eifrig lernte und schnell begriff; er mischte sich selten unter die Spiele seiner Mitschüler und nahm nur lauen Antheil an denselben; dagegen lag er um so fleißiger seinen Büchern ob, und im sechzehnten Jahre hatte er die mystische, die kanonische und die scholastische Theologie inne. Hierauf ging er zum Studium der Rechtsgelehrsamkeit, sodann zu dem der Arzneikunde und der schönen Wissenschaften über. Die alten Sprachen, Lateinisch, Griechisch und Hebräisch, verstand er, was damals eine Seltenheit war, vollkommen. Er hatte ein wahres Fieber, Schätze der Wissenschaft anzuhäufen.

Etwa um diese Zeit führte der außerordentlich heiße Sommer des Jahres 1466 jene große Pest herbei, die allein in der Grafschaft Paris mehr als 40,000 Menschen hinraffte. In der Universitätsstadt verbreitete sich das Gerücht, daß die Straße Tirechappe, wo Claude Frollo’s Eltern wohnten, besonders heftig von der Krankheit heimgesucht sei. Der junge Student, durch diese Nachricht bestützt, lief eilends dem väterlichen Hause zu. Sein Vater und seine Mutter waren bereits den Tag zuvor gestorben, und in der Wiege schrie verlassen ein kleines Kind, sein Bruder. Dies war Alles, was von seiner Familie übrig blieb. Er nahm das Kind auf den Arm und trug es fort.

Bis jetzt hatte der junge Mensch bloß in der Wissenschaft gelebt. Diese Katastrophe führte ihn in das wirkliche Leben ein und war für ihn eine Krisis in seinem Dasein. Waise und Familienhaupt zugleich in seinem neunzehnten Jahre, sah er sich von den Träumereien der Schule in die Wirklichkeiten des Lebens gewaltsam weggezogen. Er, der bis jetzt bloß Bücher geliebt hatte, lernte jetzt andere Gefühle kennen und widmete seine ganze Liebe dem verlassenen Säugling.

Diese Neigung entwickelte sich in seinem so unerfahrenen Herzen bis zu einem seltsamen Grade, sie glich fast einer ersten Liebe. Von Kindheit an von seinen Eltern getrennt, die er kaum gekannt hatte, festgebannt an seine Bücher, heißhungrig im Lernen, ausschließlich sich den Fortschritten in der Wissenschaft widmend, hatte bis jetzt der arme Schüler noch nicht Zeit gehabt zu untersuchen, ob er auch ein Herz habe. Dieser vater- und mutterlose junge Bruder, dieses kleine Kind, das ihm wie vom Himmel zugefallen war, machte ihn zu einem neuen Menschen. Er überzeugte sich, daß es noch etwas Anderes in der Welt gebe, als theologische Streitfragen und Homerische Verse; daß der Mensch zur Liebe geschaffen sei, und daß ein Leben ohne Liebe und Zärtlichkeit nur ein trockenes, kreischendes Räderwerk ist, das eintönig von der Wiege bis zum Sarge führt. Dies fühlte er jetzt; da er aber noch immer in dem Alter war, wo eine Täuschung bloß durch eine andere verdrängt wird, so bildete er sich ein, daß die Neigungen der Blutsverwandtschaft die einzig nothwendigen seien, und daß die Liebe zu einem kleinen Bruder das ganze Dasein eines Menschen ausfüllen könne.

Der kleine Johannes Frollo war noch ein Säugling, als er seine Mutter verlor. Die Familie besaß in der Nähe des Schlosses Winchester auf einem Hügel eine Mühle; hieher brachte er den Säugling und übergab ihn der Müllerin, die ein Kind von gleichem Alter säugte. Nun theilte er seine Zeit zwischen dem Knaben und seinen Büchern. Seine Fortschritte in den Wissenschaften, seine Verdienste und Glücksumstände öffneten ihm alle Pforten der Kirche, und im zwanzigsten Jahre wurde er durch besondere Dispensation des heil. Stuhles zum Priester geweiht. Seine wissenschaftlichen Kenntnisse und sein ernstes Wesen erwarben ihm schnell die Achtung und Bewunderung des Klosters, und von da aus hatte sich sein Ruf als ausgezeichneter Gelehrter unter das Volk verbreitet, das ihn, was damals häufig war, wie jeden ungewöhnlichen Mann, für eine Art Hexenmeister hielt.

Dies war der junge Priester, der zum Erstaunen der Betschwestern den mißgestalteten Findling zu sich nahm. Als er ihn aus dem Sacke zog, fand er ein wahres Ungeheuer an Häßlichkeit, krumm, verwachsen, einäugig! doch kündigte sein Geschrei, obgleich man nicht unterscheiden konnte, in welcher Sprache er stammelte, Gesundheit und Kraft an. Er ließ den Findling taufen und nannte ihn Quasimodo, entweder weil er ihn an diesem Tage gefunden hatte, oder um anzudeuten, bis zu welchem hohen Grade das arme, kleine Geschöpf unvollständig und gleichsam bloß aus dem Groben geschnitten sei. In der That war auch unser Quasimodo ein wahrer Quasimodo.

Im Jahre 1482 war Quasimodo, trotz seiner Mißgestalt, kräftig und lebendig. Seit einigen Jahren war er Glöckner in der Liebfrauenkirche, Dank seinem Adoptivvater Claude Frollo, der Archidiakonus derselben geworden war, Dank Herrn Louis de Beaumont, welcher im Jahre 1472 Bischof von Paris war, Dank seinem Beschützer Olivier, dem Teufel, Barbier Ludwigs XI., der durch die Gnade Gottes König von Frankreich war.

Quasimodo war demnach Glöckner in der Liebfrauenkirche. Die Zeit bildete zwischen dem Glöckner und der Kirche ein gewisses inniges Band. Durch seine unbekannte Geburt und seine Mißgestalt von der übrigen Welt abgeschnitten, hatte sich der Unglückliche daran gewöhnt, die heiligen Mauern, die ihn in ihren Schatten aufgenommen, als seine Welt anzusehen. Die Liebfrauenkirche war für ihn, so wie er allmählig heranwuchs, sein Ei, sein Nest, sein Haus, sein Vaterland, seine Welt. Er kannte jeden Winkel des weiten Gebäudes; es gab keine Tiefe und keine Höhe der Kirche, wohin der Zwerg nicht schon gekommen war. Durch die Gewohnheit, alle Räume und Höhen des gigantischen Gebäudes zu durchklettern und zu überspringen, war er halb Affe, halb Gemse geworden.

Noch niederer, als sein mißgestalteter Körper, stand die Seele des Zwergs. Mit großer Mühe und Geduld hatte ihn Claude Frollo sprechen gelehrt. Ein neues Unglück und eine neue Gebrechlichkeit trafen ihn im vierzehnten Jahre; das Geläute der Glocken hatte ihn taub gemacht. Die einzige Thüre, welche ihm die Natur nach außen offen gelassen hatte, war jetzt plötzlich und für immer geschlossen. Von nun an konnte kein Strahl von Licht und Freude mehr in die Seele des Zwergs fallen, und sie sank in finstere Nacht. Die Melancholie des elenden Wesens war unheilbar und vollständig, wie seine Mißgestalt. Seine Taubheit machte ihn gewissermaßen stumm, denn von dem Augenblicke an, wo er taub wurde, faßte er, um nicht Andern zum Gelächter zu dienen, den festen Entschluß, nicht mehr zu sprechen, und brach dieses Stillschweigen selten anders, als wenn er allein war. Daher kam es, daß, wenn ihn die Nothwendigkeit zum Reden trieb, seine Zunge ungeschmeidig und schwerfällig war, gleich einer Thüre, deren Angeln eingerostet sind.

Der Geist verkrüppelt in einem mißgestalteten Körper. Quasimodo fühlte kaum etwas in sich, das von Ferne einer Seele glich. Die äußeren Eindrücke erlitten eine bedeutende Strahlenbrechung, bevor sie zu seinem Denkvermögen gelangten. Nachdem eine Idee durch seinen Kopf gegangen war, kam sie ganz verwirrt aus demselben heraus. Die Betrachtung, die aus dieser eigenthümlichen Strahlenbrechung hervorging, war nothwendig divergent und abschweifend. Daher tausend optische Täuschungen, tausend Verwirrungen im Urtheil, tausend Abschweifungen des Gedankens, bald unklug, bald stumpfsinnig. Die erste Wirkung dieser unglücklichen Organisation war, daß sie den Blick trübte, den er auf die Dinge warf. Er erlangte fast nie eine unmittelbare Berührung mit denselben. Die Außenwelt erschien ihm um Vieles weiter entfernt, als uns.

Die zweite Wirkung seines Unglücks war, daß es ihn bösartig machte. Er war bösartig, weil er roh, er war roh, weil er häßlich war. Es war eine Logik in seiner Natur, wie in der unseren.

Seine auf so außerordentliche Weise entwickelte Stärke war eine weitere Ursache seiner Bösartigkeit. Malus puer robustus.

Im Uebrigen war ihm seine Bösartigkeit nicht angeboren. Von seinem ersten Auftreten an unter den Menschen sah er sich verachtet, verhöhnt, mit Ekel abgestoßen. Die menschliche Stimme hatte für den Unglücklichen keine anderen Worte, als Verhöhnung oder Verwünschung. Er wuchs heran und fand nur Haß und Verachtung um sich her. Er nahm sie in sich auf und stritt nun mit derselben Waffe, mit der man ihm Wunden geschlagen hatte.

So mied nun der Zwerg den Umgang mit den Menschen, die düstern Mauern seiner Kirche genügten ihm. Die Marmorbilder darin höhnten, die Heiligen, die Bischöfe verspotteten ihn nicht und blickten ihn stets mit demselben unbeweglichen, wohlwollenden Auge an. Die Statuen mißgestalteter Dämonen glichen ihm zu sehr, um ihn hassen zu können. Die Heiligen waren seine Freunde und segneten ihn. In dieser einsamen Bilderwelt lebte der Zwerg. Stundenlang konnte er vor einer Bildsäule stehen und mit ihr plaudern. Ueberraschte ihn Jemand bei diesem Gekose, so entfloh er, wie ein Liebhaber vor den Blicken der Lauscher.

Die Kirche war seine Welt und die Glocken seine Kinder; diese liebte er am meisten, er sprach mit ihnen, er liebkoste sie, diese nämlichen Glocken, die ihn taub gemacht hatten. Oft liebt eine Mutter das Kind am meisten, das sie mit Schmerzen geboren.

Die Stimme der Glocken war noch der einzige Laut, der die Ohren des tauben Zwerges durchdrang. Darum war auch die große Glocke sein Lieblingskind. Diese große Glocke hieß Marie. Quasimodo hatte fünfzehn Glocken auf seinen Thürmen, aber die große Marie war sein Liebling.

Die großen Festtage, wo man mit allen Glocken läutete, waren für ihn Tage des Hochgenusses. Wenn die Stunde schlug, eilte er schneller auf den Glockenthurm hinauf, als ein Anderer heruntergestiegen wäre. Athemlos trat er in die luftige Kammer der großen Glocke, betrachtete sie einen Augenblick mit den wohlwollenden Blicken eines Vaters, redete sie sanft an, streichelte sie mit der Hand, wie man einem Renner den Hals klopft, bevor er seinen Wettlauf beginnt. Hierauf rief er seinen Gehülfen im untern Stockwerke zu, das Läuten zu beginnen. Sie hingen sich an das Seil, und die ungeheure Maschine begann sich langsam zu bewegen. Quastmodo, zitternd vor Freude, folgte ihr mit den Blicken. Der Balken, auf den er gestiegen war, erzitterte unter dem ersten Schlag der Glocke. Quasimodo baumelte mit ihm. Baumle! Baumle! schrie er mit wahnsinnigem Gelächter. Immer schneller, immer lauter ertönte der Schlag der Glocke, immer flammender wurden die Augen des Zwergs. Jetzt läuteten alle Glocken zumal, der Thurm zitterte unter ihrem Schall. Quasimodo schäumte, ging, kam, zitterte mit dem Thurme von oben bis unten. Die Glocke, losgelassen, durch die Lüfte sausend, gab jene weithallenden Töne von sich, die man auf vier Stunden Weges hört. Quasimodo stellte sich vor ihre offene Kehle, schlürfte mit Wollust ihren betäubenden Hauch ein. Dies war die einzige Stimme, die er hörte, der einzige Ton, der das allgemeine Stillschweigen um ihn her unterbrach. Plötzlich ergriff ihn die Tollwuth der Glocke, aus seinen Augen sprühte ein irres Feuer, er lauerte auf den Rückschwung der Glocke, wie die Spinne auf eine Fliege, und warf sich dann plötzlich mit vollem Leibe auf sie hin. Jetzt, über dem Abgrund schwebend, mit dem reißenden Schwung der Glocke dahingerissen, faßte er das eherne Ungeheuer am Oehr, umschlang es mit seinen Knieen, spornte es mit seinen Fersen und verdoppelte auf solche Weise, mit dem ganzen Stoß und Gewicht seines Körpers, den mächtigen Schwung der Glocke. Der Thurm schwankte, der zauberhafte Zwerg schrie und grinste mit den Zähnen, seine rothen Borsten sträubten sich auswärts, seine Brust pochte wie ein Hammer, sein Auge strömte Flammen aus, die ungeheure Glocke schien unter ihrem Reiter zu stöhnen; das war nicht mehr die Glocke der Liebfrauenkirche, noch Quasimodo, es war ein Traum, ein Sturm, eine Windsbraut, der auf dem Geräusch reitende Schwindel, ein auf dem Kreuz eines Flügelrosses angeklammerter Dämon, ein seltsamer Centaur, halb Mensch, halb Glocke.

Das Dasein dieses ungewöhnlichen Wesens flößte der ganzen Kirche einen gewissen Lebenshauch ein. Der Aberglaube der Menge schrieb ihm eine magische Kraft zu, welche alle Steine des alten Gebäudes zu beleben, die tausend Bildsäulen in Bewegung zu setzen und die Mauern der Kirche bis in den Grund zu erschüttern vermöge. In der That war auch die Kirche von Quasimodo wie von einem spiritus familiaris besessen und erfüllt. Ueberall und zu allen Zeiten sah man ihn, er schien sich zu vervielfältigen. Bald erblickte man mit Schaudern auf der höchsten Spitze eines Thurmes einen seltsamen Zwerg, der emporstieg, auf allen Vieren kroch, und über dem äußeren Rande schwebte, von Gestein zu Gestein sprang und endlich in dem hohlen Leib einer Gorgone mit den Händen wühlte: es war Quasimodo, der ein Rabennest ausnahm. Bald stieß man in einem finstern Winkel der Kirche auf eine Art lebender Chimäre, die trübsinnig in einer Ecke kauerte: es war Quasimodo in Gedanken. Bald sah man in einem Glockenturme einen mißgestalteten Zwerg am Seile hängen: es war Quasimodo, der die Vesper oder das Angelus einläutete. In Aegypten würde man ihn für den Gott des Tempels gehalten haben, im Mittelalter hielt man ihn für den bösen Geist desselben.