I.

Heute vor dreihundert acht und vierzig Jahren, sechs Monaten und neunzehn Tagen wurden die Pariser durch das Läuten aller Glocken geweckt, die in dem dreifachen Umkreise der alten Lutetia, der Universität und der neuen Stadt einen gewaltigen Bimbam machten.

Dieser sechste Januar des Jahres vierzehnhundert zwei und achtzig war gleichwohl kein Tag, der in der Geschichte roth angezeichnet ist. Es war nichts Besonderes in dem Ereigniß, das auf solche Weise die Glocken und die Spießbürger von Paris vom frühen Morgen an in Bewegung setzte. Kein Fechtspiel zwischen Burgundern und Picarden, keine Prozession des Allerheiligsten, keine Studentenrevolte im Weingarten von Laas, kein feierlicher Einzug unseres gnädigsten Herrn, des Königs, ja nicht einmal eine schöne Hängerei von Räubern und Räuberinnen, zur Befriedigung des Rechts und der Gerechtigkeit und zum abscheulichen Exempel für die gaffende Menge. Es hatte auch nicht, wie sonst im fünfzehnten Jahrhundert häufig geschah, eine glänzende Gesandtschaft mit wehenden Helmfedern und flatternden Fähnlein ihren Einzug gehalten, denn erst vor zwei Tagen hatte die letzte Cavalcade dieser Art, die flämischen Botschafter, welche die Heirath zwischen dem Dauphin und Margarethen von Flandern abschließen sollten, ihren Einzug in die Hauptstadt gehalten, zum großen Verdruß des Kardinals von Bourbon, der, dem Könige zu gefallen, diesen ganzen Troß bäuerischer Bürgermeister aus Flandern in seinem prächtigen Palaste bewirthen mußte.

An diesem sechsten Januar, der, wie Jehan von Troyes sagt, Alles was Leben hatte auf die Beine brachte, war die doppelte Feierlichkeit, die seit unfürdenklichen Zeiten auf einen Tag fällt: das Fest der Könige und der Narren. Da war jedesmal Freudenfeuer auf dem Grèveplatz, Maienfest in der Kapelle von Braque und Mysterium im Justizpalast. Am Abend zuvor schon war das Fest auf Straßen und Plätzen durch die Leute des Herrn Prevot, die in veilchenblauen Sammtkleidern stolzirten und große weiße Kreuze auf der Brust trugen, austrompetet worden.

Die ganze Stadt, Männer und Weiber, lief demnach vom frühen Morgen an einem der obenbezeichneten drei Plätze zu: Der dem Feuerwerk, Dieser dem Maienfest und Jener dem Mysterium; man muß es dem alten gesunden Verstand der Pariser Spießbürger zum Ruhme nachsagen, daß der bei weitem größte Theil dem Feuerwerk oder dem Mysterium im großen Saale des Justizpalastes zuströmte, während die Bänder an dem armen Maienbaum auf dem Kirchhofe der Kapelle von Braque fast einsam und verlassen flatterten. Hauptsächlich fluthete die Menge dem Justizpalaste zu, weil man wußte, daß die flämischen Gesandten der Darstellung des heiligen Mysteriums und der Erwählung des Narrenpabstes, die im gleichen Saale stattfand, anwohnen wollten.

Es war aber nicht so leicht, an jenem Tage in diesen großen Saal zu gelangen, den man damals für den größten hielt, der auf dem ganzen Erdball unter Dach und Fach stand. Der von Menschen wimmelnde Platz vor dem Justizpalast bot den Zuschauern aus den Fenstern den Anblick eines Meeres dar, in

welches fünf bis sechs Straßen, gleich Flußmündungen, jeden Augenblick ihre lebendigen Wellen ergossen. Das Geschrei, das Lachen, und das Stampfen dieser tausend Füße machten ein großes Geräusch und Gelärm. Von Zeit zu Zeit verdoppelte sich dieses Rauschen und Lärmen, und der Strom, der die ganze Masse gegen den großen Thorweg des Palastes fortriß dämmte sich und gerieth in Wirbel. Es bedurfte dabei bloß des Kolbenstoßes eines Bogenschützen von der Leibwache, oder eines Stadtsergenten, der sein Pferd tummelte, um die Ordnung herzustellen.

Unter den Thüren, an den Fenstern, an den Dachladen, auf den Dächern selbst wimmelten Tausende jener ehrbaren, so gutmüthigen und so ruhigen Bürgergesichter; sie blickten auf den Palast, sie blickten auf die strömende Menge und waren zufrieden, denn solche Leute sind schon zufrieden, wenn sie nur viele andere Leute sehen, und ihre Neugierde ist gereizt, wenn sie nur wissen, daß hinter irgend einer Mauer irgend etwas vorgeht, was sie weder sehen noch hören.

Wenn wir, wie wir jetzt im Jahre 1830 sind, uns in Gedanken unter jene Pariser des fünfzehnten Jahrhunderts mischen und mit ihnen, gedrückt und gestoßen, in jenen unermeßlichen Saal, der am sechsten Januar vierzehnhundertzweiundachtzig dennoch zu klein war, einziehen könnten, so würden wir ein Schauspiel genießen, das uns gewiß Freude machte, und lauter so alte Dinge sehen, daß sie uns nagelneu erschienen. Wenn der geneigte Leser nichts dagegen hat, wollen wir versuchen, ihm den Eindruck darzustellen, den er empfunden haben würde, wenn er mit uns über die Schwelle jenes großen Saales geschritten wäre, in dem Gedränge der Spießbürger und der Polizeischergen jener Zeit. Man tritt ein, die Ohren gellen und die Augen werden geblendet. Ueber unsern Häuptern ein doppeltes Bogengewölbe, mit hölzerner Bildnerei eingefaßt, himmelblau gemalt mit gold’nen Lilien: unter unsern Füßen abwechselnde Platten von weißem und schwarzem Marmor; einige Schritte von uns ein ungeheurer Pfeiler, dann wieder einer, dann noch einer, im Ganzen sieben Pfeiler in der Länge des Saals, die in der Mitte seiner Breite das doppelte Gewölbe halten. Rund um die vier ersten Pfeiler Krämerbuden voll glänzenden Geschirrs, um die drei letzten Bänke von Eichenholz, abgenützt und abgeglättet durch die ledernen Hosen der Klagenden und die Mäntel der Richter. Rings um den Saal, an der hohen Mauer hin, zwischen den Thüren, zwischen den Fenstern, zwischen den Pfeilern, die unübersehliche Reihe der Bildsäulen aller Könige von Frankreich seit Pharamund; die schläfrigen Könige mit herabhängenden Armen und stieren Augen, die tapfern und kriegslustigen Herren mit trotzigem Haupt und hoch erhobener Hand. Hierauf unter den langen Fensterbogen tausendfarbige Gläser, an den weiten Ausgängen des Saals reiche Thüren mit feiner Bildnerarbeit, und Alles, Bogen, Pfeiler, Mauern, Thüren, Bildsäulen, von oben bis unten in Himmelblau und Gold glänzend. Hiezu denke man sich den unermeßlichen oblongen Saal, von dem bleichen Lichte eines Wintertages erhellt, angefüllt von der rauschenden Menge, die sich an den Mauern entlang und rund um die sieben Pfeiler drängt, und man wird sich eine, wenn auch nicht klare Idee von dem ganzen Gemälde machen können, dessen seltsame Einzelnheiten wir jetzt vor unsern Lesern aufzurollen gedenken.

An den beiden Enden dieses gigantischen Vierecks sah man an dem einen die berühmte Marmortafel aus einem Stück, das so lang, breit und dick war, daß man, wie alte Schriften berichten, noch kein ähnliches auf der ganzen weiten Welt gesehen hatte; an dem andern die Kapelle, in welcher Ludwig XI., vor der heiligen Jungfrau auf den Knieen liegend, in Stein gehauen war. Diese Kapelle, damals noch neu und kaum seit sechs Jahren erbaut, war ganz im Geschmacke jener seinen Baukunst, jener wunderbaren Bildnerei, jener feinen und profunden Meißelarbeit errichtet, welche das Ende der gothischen Aera bezeichnet und in märchenhaften Phantasien bis gegen die Mitte des sechszehnten Jahrhunderts fortgelebt hat.

Mitten im Saale, der großen Eingangsthüre gegenüber, war eine mit Goldstoff bekleidete Estrade für die flandrischen Gesandten und die andern vornehmen Personen errichtet, die man zur Darstellung des Mysteriums eingeladen hatte. Nach altem Brauche sollte das Mysterium auf der großen Marmorplatte aufgeführt werden. Man hatte zu diesem Ende ein leichtes hölzernes Gerüste auf derselben aufgeschlagen, das zum Theater dienen sollte, und dessen Inneres, mit Tapeten behängt, den handelnden Personen des Stücks zum Ankleidezimmer diente. Eine von Außen angelegte Leiter wurde als Verbindungsmittel zwischen der Bühne und dem Ankleidezimmer gebraucht, und auf ihr stiegen die Schauspieler, die auftraten oder abgingen, auf und ab. So war es in der Kindheit der Schauspielkunst und der Maschinerie beschaffen.

An den vier Ecken der Marmorplatte standen, aufrecht und steif, vier Trabanten des Hausmeisters des Justizpalastes, bei Festen wie bei Hinrichtungen verpflichtete Hüter des Volks.

So bald der zwölfte Schlag der großen Palastuhr Mittag anzeigte, sollte das Stück beginnen; das war allerdings für eine theatralische Darstellung sehr spät, aber man mußte sich nach der Bequemlichkeit der flandrischen Gesandten schicken. Die schaulustige Menge wartete bereits seit dem frühesten Morgen. Tausende standen schon mit Tagesanbruch vor der großen Treppe des Justizpalastes; Einige hatten sogar die Nacht unter dem großen Thore zugebracht, um sich des Eintritts zu versichern, sobald es geöffnet würde. Mit jeder Minute wuchs der Haufen an und ergoß sich gleich einem Strome, der über sein Ufer tritt, an Mauern, Pfeiler, Fenstergesimse, und wo irgend ein leerer Fleck war, der einen Menschen fassen konnte. Unbehaglichkeit, Ungeduld, Langeweile, die Freiheit eines Tages cynischer Ungebundenheit, die Händel, die sich in Folge des Stoßens und Tretens erhoben, die Abspannung des langen Wartens, gaben schon lange vor der Ankunft der Gesandten dem Treiben dieses eingeschlossenen, gepreßten, halb erstickten Volkes einen Ausdruck bittern Verdrusses. Man hörte nichts als Klagen und Verwünschungen gegen die Flamänder, den Handlungsvorsteher, den Kardinal Bourbon, den Hausmeister des Palastes, Margarethe von Oesterreich, die Stadtsergenten, die Kälte, die Hitze, das schlechte Wetter, den Bischof von Paris, den Narrenpabst, die Pfeiler, die Bildsäulen, diese geschlossene Thüre und jenes offene Fenster: Alles zum großen Ergötzen der zahlreichen Studenten und Lakaien, die unter der Masse zerstreut waren und zu ihrer Belustigung überall das Feuer der üblen Laune schürten.

Eine Bande dieser muntern Gesellen hatte die Scheiben eines Fensterflügels eingeschlagen, und war auf das Gesimse gestiegen, von wo sie abwechselnd nach innen und außen, mit dem Volkshaufen im Saal und dem auf der Straße, schäkerte und Possen trieb. Aus den Fratzengesichtern, welche sie gegen Diesen und Jenen schnitten, aus ihrem schallenden Gelächter, aus den scherzhaften Zurufen, welche sie von einem Ende des Saales zum andern an ihre Spießgesellen ergehen ließen, war leicht abzunehmen, daß sie die allgemeine Abspannung und Langeweile nicht theilten, und einstweilen, bis das Schauspiel anfing, ein Stück auf eigene Faust zu spielen wußten.

»Bei meiner armen Seele, Du bist’s, Johannes Frollo de Molendino!« rief einer derselben einem dieser kleinen Teufelsjungen, blondhaarig und mit einem hübschen Spitzbubengesichte, zu, der sich in das Schnitzwerk einer Säule eingenistet hatte, »und man nennt Dich wohl mit Recht Mühlenhans, denn so wie Du dahängst, sehen Deine Arme und Füße wie Windmühlenflügel aus. Seit wann hängst Du denn so in der Luft zwischen Himmel und Erde?«

»Bei der ewigen Barmherzigkeit des Teufels,« erwiderte Johannes Frollo, »es sind schon mehr als vier lange Stunden, und wenn mir die nicht für die Zeit meines Fegfeuers angerechnet werden, so ist kein Gott mehr im Himmel. Schon diesen Morgen um die siebente Stunde hörte ich die acht Chorsänger des Königs beider Sicilien den ersten Vers des Hochamtes in der heiligen Kapelle anstimmen.«

»Saubere Sänger, die!« versetzte der Andere, »ihre Stimme ist noch spitziger, als ihre Kappen. Ehe der König eine Messe für den heiligen Johann stiftete, hätte er sich zuvor erkundigen sollen, ob der heilige Johann lateinische Psalmen im Dialekt der Provence liebt.«

»Das hat er bloß gethan, um diese vermaledeiten Chorsänger des Königs von Sicilien anzustellen!« rief ein altes Weib, das mitten unter der Menge unten am Fenster stand, geifernd aus. »Seht doch, tausend gute Pariser Livres für eine Messe! und dazu noch auf den Pacht des Pariser Fischmarkts angewiesen!«

»Ruhig, alte Vettel!« fuhr sie ein dicker und ansehnlicher Mann an, während er sich die Nase zuhielt, um anzudeuten, daß es in der Nähe eines Fischweibes übel rieche. »Mußte man nicht eine heilige Messe stiften, oder willst Du, daß der König auf’s Neue krank werde?«

»Wohl gesprochen, Meister Gilles Lecornu, königlicher Hofkürschner!« rief ihm der kleine Student zu, der am Pfeiler hing.

Der übelklingende Name des armen königlichen Hofkürschners wurde mit schallendem Gelächter aus dem Munde sämmtlicher Studenten begrüßt.

»Lecornu! Gilles Lecornu!« schrieen die Einen.

»Cornutus et hirsutus,« fiel ein Anderer ein.

»Freilich, er ist es in eigener Person!« fuhr der Teufelsjunge von seinem Pfeiler herab fort, »Und was habt Ihr denn zu lachen? Es ist der sehr ehrenwerthe Meister Gilles Lecornu, Bruder des Meisters Johann Lecornu, Haushofmeisters des Königs, Sohn des Meisters Mahiet Lecornu, ersten Thürstehers im Park von Vincennes, lauter ehrbare Spießbürger von Paris, sämmtlich geheirathet von Vater auf Sohn!«

Diese Apostrophe steigerte die allgemeine lustige Laune auf den höchsten Grad. Der arme Hofkürschner wagte den Mund nicht aufzuthun, sondern suchte sich den von allen Seiten auf ihn gerichteten Blicken zu entziehen; er schnaubte wie ein harpunierter Wallfisch, und schwitzte wie ein gehetzter Hase. Vergebens, je mehr er sich Mühe gab, sich durchzudrängen, um so fester speitelte sich seine breite Figur zwischen den Schultern seiner Nachbarn ein. Sein Gesicht war dunkelroth vor Zorn und Verdruß.

Endlich kam ihm einer seiner Nachbarn, dick, stämmig und ehrenfest, wie er selbst, mit christlichem Beistand zu Hülfe.

»Gräulich und abscheulich!« rief er aus, »Studenten, Schulbuben führen eine solche Sprache gegen einen Pariser Bürger! Zu meiner Zeit hätte man sie dafür mit Ruthen gestrichen und auf einem Holzstoß verbrannt.«

Diese Worte brachten die ganze Studentenbande in Aufruhr.

»Holla! Heda! Wer ist’s, der dieses Lied singt? Wer ist die unglückverkündende Nachteule?«

»Es ist der Meister Andry Musnier, ich kenne ihn wohl,« rief einer der Studenten.

»Richtig, einer der vier geschwornen Buchhändler der Universität!« fiel ein Anderer ein.

»Alles ist vierfach in diesem Kram,« fügte ein Dritter hinzu: »Die vier Nationen, die vier Fakultäten, die vier Feste, die vier Prokuratoren, die vier Wähler, die vier Buchhändler!«

»Nun wohl denn,« schrie Johannes Frollo, »so muß man ihm auch den Teufel vierfach im Glase zeigen!«

»Musnier, wir verbrennen Deine Bücher!«

»Musnier, wir schlagen Deinem Ladenburschen den Buckel voll!«

»Musnier, wir zerren Dein Schätzchen herum!«

»Die gute dicke Jungfer Oudarde, die so frisch und munter ist, wie wenn sie Wittwe wäre!«

»Hol‘ euch Alle der Teufel!« brummte Meister Andry Musnier in den Bart.

»Meister Andry,« rief ihm der Teufelsjunge vom Pfeiler herab warnend zu, »wenn Du nicht schweigst, so lasse ich mich auf Deinen Strohkopf herabfallen!«

Bei diesen Worten erhob Meister Andry die Augen zum Pfeiler, schien einen Augenblick dessen Höhe und das Gewicht des kleinen Spitzbuben zu messen, multiplicirte in Gedanken dieses Gewicht durch die Geschwindigkeit des Falles vermehrt, und schwieg weislich.

Johannes Frollo, auf solche Weise Meister des Feldes, fuhr triumphirend fort: »Das thue ich Dir, so wahr ich der Bruder eines Archidiakonus bin! Das sind saubere Leute, unsere Herren von der Universität, daß sie nicht einmal an einem Tage, wie der heutige ist, unseren Privilegien den nöthigen Respekt verschaffen! Sind nicht Maienfest und Feuerwerk in der Neustadt? heiliges Mysterium, Narrenpabst und flämische Gesandte in der Altstadt? Und in der Universität nichts!«

»Und doch wäre der Platz Maubert groß genug dazu!« fiel einer der Studenten ein, der auf dem Fenstergesimse saß.

»Fort mit dem Rektor, den Wählern und den Prokuratoren!« schrie Johannes Frollo.

»Man muß diesen Abend auf dem Champ-Gaillard mit den Büchern des Meisters Andry ein Freudenfeuer machen!«

»Da kann man gleich die Pulte der Schreiber mit verbrennen!« sagte sein Nachbar.

»Und die Stöcke der Pedellen!«

»Und die Spucknäpfe der Professoren!«

»Und die Schenktische der Prokuratoren!«

»Und die Mehlkästen der Wähler!«

»Und den Fußschemel des Rektors!«

»Fort,« rief auf’s Neue Johannes Frollo, »fort mit dem Meister Andry, fort mit den Pedellen und Schreibern, fort mit den Theologen, den Medicinern und Juristen, fort mit den Prokuratoren, den Wählern und dem Rektor!«

»Gott stehe uns bei, der jüngste Tag bricht an!« murmelte Meister Andry für sich, und bedeckte mit beiden Händen die Ohren.

»Vom Rektor redet Ihr, da geht er eben über den Platz!« rief einer der Studenten.

Alle Blicke wendeten sich nach dieser Gegend.

»Richtig kurirt, das ist unser in Gott ehrwürdiger Rektor, Meister Thibaut,« sagte Johannes Frollo, der Mühlenhans, »ich kann ihn zwar nicht sehen, aber ich rieche ihn schon von Weitem.«

»Ja, ja,« antworteten mit einer Stimme die Anderen, »er ist es selbst, unser sehr ehrwürdiger Rektor, Meister Thibaut.«

Es waren wirklich der Rektor und sämmtliche Lehrer und Diener der Universität, welche in diesem Augenblicke in Prozession über den Platz des Justizpalastes zogen, um die flämische Gesandtschaft feierlich zu empfangen. Die Studenten, die sich am Fenster drängten, empfingen sie beim Vorüberziehen mit Spottreden und ironischen Beifallsbezeugungen. Der Rektor, der an der Spitze des Zuges einherkam, empfing die erste, sehr gewichtige Ladung derselben.

»Guten Morgen, Herr Rektor! Holla! Heda! Guten Morgen, Herr Rektor!«

»Ist er auch schon da, der alte Spieler? Wo hat er denn seine Würfel gelassen!«

»Wie er auf seinem Maulthier einhertrampelt! Seine Ohren sind länger, als die seines Maulesels!«

»Holla! Heda! Guten Morgen, Herr Rektor Thibaut! Tybalde Aleator! Alter Strohkopf! Alter Spieler!«

»Gott erhalte Dich gesund! Hast Du in dieser Nacht schon oft zweimal sechs geworfen?«

»Oh! welche schlotternde Gestalt, wie die Spielwuth seine Züge verzerrt hat!«

»Wohin denn, alter Thibaut, Tybalde ad Dados, kehrst Du der Universität den Rücken und zottelst der Stadt zu?«

»Ohne Zweifel,« rief der Mühlenhans dazwischen, »sucht er eine Wohnung in der Straße Thibautodé, (Thibaut aux dés).«

Diese Anspielung auf die Spielwuth des Rektors wurde mit donnerndem Beifall und schallendem Händeklatschen aufgenommen und von der ganzen lustigen Bande wiederholt:

»Er sucht eine Wohuung in der Straße Thibautodé, der alte Meister Thibaut, der dem Teufel die Karten mischt!«

Hierauf kam die Reihe an die übrigen Lehrer und Diener der Universität.

»Fort mit den Pedellen! Fort mit den Stabträgern!«

»Sage mir doch, Robin Poussepain, wer ist denn dieser da?«

»Das ist Gilbert de Suilly, Gilbertus de Soliaco, der Kanzler des Collegiums von Autun.«

»Hier hast Du meinen Schuh, wirf ihm denselben in sein Fratzengesicht; Du kannst besser beikommen als ich.«

»Saturnalitias mittimus ecce nuces.«

»Fort mit den sechs Theologen in ihren weißen Chorhemden!«

»Sind das Theologen! Ich hielt sie für sechs weiße Gänse, die das Kloster der heiligen Genovefa der Stadt Paris für das Lehen von Rogny spendet,«

»Fort mit den Medicinern!«

»Fort mit den Hauptdisputationen und allen Schulfuchsereien!«

»Gib mir meine Mütze, Kanzler von St. Genovefa, Du hast eine Ungerechtigkeit gegen mich begangen! Ihr möget es glauben oder nicht, er hat meine Stelle in der Nation der Normandie dem kleinen Ascanio Falzaspada aus Bourges verliehen, weil er ein Italiener ist.«

»Das ist eine Ungerechtigkeit,« schrieen alle Studenten mit einer Stimme. »Fort mit dem Kanzler von St. Genovefa!«

»Heda! Meister Joachim de Ladehors! Heda! Louis Dahuille! Heda! Lambert Hoctement!«

»Hole der Teufel den Prokurator der deutschen Nation!«

»Und die Kaplane der heiligen Kapelle, mit ihren grauen Pelzmänteln dazu! cum tunicis grisis!«

»Seu de pellibus grisis furratis!«

»Holla! Heda! Die Meister der freien Künste! Alle schwarzen und rothen Mützen!«

»Er führt einen schönen Schweif hinter sich, Meister Thibautodé, der Rektor!«

»Man sollte ihn für den Dogen von Venedig halten, der auszieht, sich mit dem Meer zu vermählen.«

»Da kommen die Pfaffen der heiligen Genovefa! Zum Teufel mit ihnen und dem ganzen Pfaffenthum!«

»Abbé Claude Choart! Doktor Claude Choart! Suchst Du Deine Marie Giffarde?«

»Suche sie in der Straße Glatigny.«

»Sie macht eben das Bett des Königs der Hurenjäger.«

»Sie bezahlt eben ihre vier Pfennige, quatuor denarios

»Aut unum bombum

»Seht da«, ihr lieben Leute, den Meister Simon Sanguin, Wähler der Picardie, der seine Frau hinter sich auf dem Maulesel sitzen hat!«

»Post equitem sedet atra cura.«

»Frisch auf, Meister Simon!«

»Guten Morgen, Herr Wähler!«

»Gute Nacht, Frau Wählerin!«

Inzwischen hatte der geschworene Buchhändler der Universität, Meister Andry Musnier, sich zum Ohre des Hofkürschners, Meisters Gilles Lecornu, geneigt: »Ich sage Euch, lieber Herr, der jüngste Tag ist nahe. Wann hat man je solchen Uebermuth von Studenten gesehen? Das Alles dankt man diesen verfluchten Erfindungen des Jahrhunderts: dem Pulver, dem Blei, den Kanonen, den Feldschlangen, den Mörsern, vor Allem aber der Buchdruckerkunst, dieser weiteren Pest aus Deutschland. Es fliegt mit Manuskripten und Büchern, der Buchhandel geht durch die Buchdruckerkunst zu Grunde, ich sage Euch, das Ende der Welt ist nahe.«

»Freilich, freilich« versetzte der Hofkürschner, »ich merke es wohl, denn Sammt und Seide sind jetzt weit mehr gesucht, als die Pelzwaaren,«

In diesem Augenblicke schlug es zwölf Uhr.

»Ah, ah, ah!« rief die ganze Menge aus einem Munde.

Jetzt schwiegen die Studenten. Hierauf großes Geräusch mit den Füßen, Bewegung der Hände und Häupter, Husten und Wehen mit den Sacktüchern; alle machten sich fertig, die Dinge zu schauen, die da kommen sollten. Tiefe Stille, alle Anwesenden starren mit offenem Munde auf die Marmorplatte, auf der die Bühne aufgeschlagen ist. Nichts läßt sich blicken, als die vier Trabanten des Hausmeisters, die noch immer stets und unbeweglich dastehen wie Bildsäulen. Jetzt wenden sich die Blicke dem erhöhten Sitze zu, der für die flämischen Gesandten errichtet ist; aber die Thüre bleibt geschlossen und die Estrade leer. Seit frühem Morgen hatte diese ungeduldige Menge auf dreierlei gewartet: auf die Mittagsstunde, die flandrische Gesandtschaft und das heilige Mysterium. Jetzt, zu dieser Frist, war bloß die Mittagsstunde da.

Das war allzuviel für ein schaulustiges Publikum. Man wartet eine, zwei, drei, fünf Minuten, eine Viertelstunde, nichts zeigt sich. Die Estrade steht verlassen, das Theater bleibt stumm. Auf Ungeduld folgt jetzt Zorn. Erst leise, dann lauter, laufen trotzige Reden von Mund zu Mund. »Das Mysterium! das Mysterium!« murmelt man halblaut. Die Köpfe erhitzen sich, der Sturm ist dem Ausbruche nahe. Jetzt wirft der Mühlenhans den ersten Funken in den Zündstoff.

»Das Mysterium, und zum Teufel mit den Flamändern!« ruft er aus voller Brust über den Haufen hin.

Tausend Hände klatschen ihm Beifall, und tausend Zungen wiederholen donnernd: »das Mysterium und zu allen Teufeln mit den Flamändern!«

»Das Mysterium, und zwar auf der Stelle,« wiederholte der Student, »oder wir führen selbst ein christliches Schauspiel auf, und hängen den Hausmeister des Palastes an seine eigenen Pfosten.

»Wohl gesprochen,« schrie die Menge tobend, »und laßt uns gleich das Geschäft mit seinen Trabanten beginnen!«

Dieser Vorschlag wurde mit Beifall aufgenommen.

Die vier armen Teufel, auf solche Weise bedroht, wurden todesblaß und warfen sich ängstliche Blicke zu. Bereits drängte sich die Menge dem aufgeschlagenen Gerüste zu, das unter dem allgemeinen Andrang krachte und zu brechen drohte.

Der Augenblick war kritisch. »An den Strick! An den Strick!« rief man von allen Seiten.

In diesem Augenblicke hoben sich die Tapeten, die das Ankleidezimmer der Schauspieler bedeckten, und eine Person trat heraus, deren bloßer Anblick dem Andrang der Menge Einhalt that und, wie mit einem Zauberschlag, ihren Zorn in Neugierde verwandelte.

»Stille! Stille!«

Jene Person trat nicht sehr gefaßt und an allen Gliedern zitternd bis an den Rand der Marmorplatte vor, unter hundert Verbeugungen, die sich, nach Maßgabe ihres Vorschreitens, mehr und mehr in förmliche Kniebeugungen verwandelten.

Inzwischen hatte sich die Ruhe so ziemlich wieder hergestellt, und man vernahm nur noch jenes leichte Murmeln, das selbst bei dem Stillschweigen einer großen Menschenmasse immer hörbar ist.

»Meine Herren Bürger und meine Damen Bürgerinnen,« sprach das Individuum, »wir werden die Ehre haben, vor Sr. Eminenz, dem Herrn Kardinal, aufzuführen und darzustellen ein sehr schönes moralisches Schauspiel, das den Namen führt: Das gute Urtheil der heiligen Jungfrau Maria. Ich spiele den Jupiter. Se. Eminenz befindet sich in diesem Augenblicke bei der Gesandtschaft des verehrtesten Herrn Herzogs von Oesterreich, welche eben jetzt an dem Thore Baudets von dem Herrn Rektor der Universität mit einer Anrede empfangen wird. Sobald Se. Eminenz der Herr Kardinal anlangt, werden wir das Stück beginnen.«

Es war allerdings nichts Geringeres als die Vermittlung des Donnergottes in eigener Person erforderlich, um die vier armen Trabanten des Hausmeisters zu retten. Wenn wir so glücklich gewesen wären, diese wahrhaftige Geschichte selbst zu erfinden, und mithin vor unserer Dame Kritik dafür verantwortlich zu sein, so könnte man in diesem Augenblicke gegen uns die klassische Vorschrift anwenden: Nec Deus intersit. Im Uebrigen war das Kostüm unseres Herrn Jupiters sehr schön und hatte nicht wenig dazu beigetragen, die Menge zu beruhigen, indem es ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Donnergott trug ein mit goldenen Nägeln beschlagenes Panzerhemd, auf dem Haupte einen Helm mit silbernen und vergoldeten Knöpfen, und hätte er nicht einen ungeheuern Bart gehabt und etwas in seiner Hand getragen, das den Blitz vorstellen sollte, den er zu schleudern pflegt, so hätte man ihn für einen Bogenschützen der königlichen Leibwache halten können.

XIX.

Mehrere Wochen waren verflossen. Man befand sich in den ersten Tagen des März und die Sonne schien schon recht warm und freundlich.

Der Liebfrauenkirche gegenüber, die im Strahl der Mittagssonne glänzte, auf dem Balkon eines gothischen Hauses, saßen mehrere schöne junge Mädchen, lachend und schäkernd. Sie waren in Gold, Sammt und Seide gekleidet, und Alles an ihnen deutete auf Reichthum und hohen Stand. Es waren in der That die adeligen Damen Fleur-de-Lys de Gondelaurier und ihre Gespielinnen Diana de Christeuil, Amelotte de Montmichel, Colombe de Gaillefontaine und die kleine Chanchevrier, lauter Töchter aus guten Häusern, in diesem Augenblicke bei der Wittwe Gondelaurier versammelt, den Prinzen von Beaujeu und seine Gemahlin zu erwarten, die im Monat April nach Paris kommen und die Ehrendamen wählen sollten, die zur Einholung der Dauphine Margarethe bestimmt waren, wenn man sie in der Picardie von den Flamändern übernehmen würde. Alle Junker auf dreißig Stunden in der Runde strebten nach dieser Auszeichnung für ihre Töchter, und Viele hatten sie bereits nach Paris gebracht oder geschickt. Die genannten jungen Damen waren der Hut der ehrwürdigen Dame Aloise de Gondelaurier anvertraut, welche die Wittwe eines Kapitäns der königlichen Bogenschützen war und sich mit ihrer einzigen Tochter in ihr Haus an der Ecke der Straße Parvis, der Liebfrauenkirche gegenüber, zurückgezogen hatte.

Der Balkon, auf welchem die jungen Mädchen waren, öffnete sich gegen ein reich tapezirtes Zimmer. Im Hintergrunde desselben, am Kamin, saß in einem reichen Armstuhl von rothem Sammt die Dame Gondelaurier, deren 55 Jahre in ihrer Kleidung sowohl, als auf ihrem Gesichte zu lesen waren. Neben ihr stand ein junger Mann, dessen Gesicht ziemlich vielen Stolz, auch zugleich keine geringe Dosis von Eitelkeit und Anmaßung aussprach, kurz einer jener schönen Männer, über deren Schönheit alle Weiber einig sind, während der ernste Physiognom die Achsel darüber zuckt. Dieser junge Cavalier trug die glänzende Uniform eines Hauptmanns der königlichen Bogenschützen.

Die Damen saßen theils auf dem Balkon, theils in dem Zimmer; jede hielt auf ihren Knieen den Zipfel einer großen Stickerei, an welcher sie gemeinschaftlich arbeiteten. Sie unterhielten sich unter einander mit jener kichernden Stimme und dem halberstickten Lachen einer Versammlung junger Mädchen, in deren Mitte sich ein junger Mann befindet. Der junge Mann, dessen bloße Gegenwart schon alle diese weiblichen Eitelkeiten in Bewegung setzte, schien sich nur wenig um sie zu kümmern, und während jedes dieser schönen Mädchen seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen suchte, putzte er gleichgültig mit seinem hirschledernen Handschuh die Schnalle an seinem Leibgürtel.

Von Zeit zu Zeit sprach die alte Dame leise mit ihm, und er antwortete ihr, so gut er vermochte, mit einer Art linkischer Höflichkeit. Aus der lächelnden Miene, aus kleinen Zeichen guten Einverständnisses der alten Dame, aus den Blicken, welche sie bisweilen auf ihre Tochter Fleur-de-Lys schießen ließ, während sie leise mit dem Kapitän sprach, ließ sich leicht erkennen, daß von einer bereits vollzogenen Verlobung, von einer ohne Zweifel nahen Heirath zwischen dem jungen Manne und Fleur-de-Lys die Rede war. Aus der verlegenen Kälte des Offiziers ergab sich jedoch, daß es sich, von seiner Seite wenigstens, nicht mehr um Liebe handelte. Sein ganzes Gesicht drückte Verlegenheit und Verdruß aus, und man sah ihm an, daß er hier eine Art Frohndienst verrichtete.

Die gute Dame, ganz vernarrt in ihre Tochter, wie Mütter zu sein pflegen, nahm seinen Mangel an Enthusiasmus nicht wahr, und machte ihm mit leiser Stimme bemerklich, mit welcher unendlichen Vollkommenheit und Grazie Fleur-de-Lys ihre Nadel handhabe.

»Seht doch einmal, Vetterchen,« flüsterte sie ihm ins Ohr, indem sie ihn am Aermel zu sich herabzog, »seht doch, jetzt bückt sie sich über die Arbeit!«

»Wahrhaftig!« antwortete der junge Mann und fiel in sein zerstreutes und kaltes Stillschweigen zurück.

Einen Augenblick darauf mußte er sich aufs Neue zu ihrem Ohre neigen und Dame Aloise sprach zu ihm: »Habt Ihr je ein einnehmenderes und liebreizenderes Gesicht gesehen, als das Eurer Zukünftigen? Kann es etwas Weißeres und Blonderes geben? Sind das nicht vollendete Hände? Und dieser Hals, nimmt er nicht zum Bezaubern alle Biegungen des Schwans an? Wahrhaftig, ich beneide Euch selbst bisweilen! Ihr seid glücklich, ein Mann zu sein, und Ihr verdient es kaum, Ihr lockerer Geselle! Ist nicht meine Fleur-de-Lys anbetungswürdig schön, und seid Ihr nicht ganz rasend in sie verliebt?«

»Allerdings!« erwiederte er und dachte an etwas Anderes.

»So redet doch mit ihr,« sagte die Dame plötzlich und stieß ihn an der Schulter weg, »sagt ihr etwas Schönes! Ihr seid ja gar zu schüchtern.«

Die Schüchternheit war übrigens weder die Tugend noch der Fehler des Offiziers. Er machte nun einen Versuch, dem Genüge zu leisten, was man von ihm verlangte.

»Schöne Base,« sprach er zu Fleur-de-Lys, »welches ist der Gegenstand dieser Stickerei?«

»Schöner Vetter,« antwortete Fleur-de-Lys mit verdrießlicher Betonung, »ich habe Euch schon dreimal gesagt, daß es die Grotte Neptuns ist.«

Augenscheinlich besaß Fleur-de-Lys einen helleren Blick als ihre Mutter, und die Kälte und Zerstreutheit ihres Bräutigams waren ihr nicht entgangen. Er fühlte daher die Notwendigkeit, irgend ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen.

»Und für wen ist diese Stickerei bestimmt?« fragte er.

»Für die Abtei Sanct Anton,« antwortete Fleur-de-Lys, ohne die Augen zu erheben.

Der Kapitän nahm eine Ecke der Tapete in die Hand: »Wer ist dieser dicke Gendarm, schöne Base, der mit vollen Backen in die Trompete bläst?«

»Es ist Trito.«

In den kurzen Antworten der Dame lag eine Betonung, die anzeigte, daß sie sich gekränkt fühle. Der junge Mann sah ein, daß er ihr nothwendig etwas ins Ohr sagen müsse, eine Galanterie, eine Dummheit, gleichviel. Er neigte sich demnach zu ihrem Ohre, aber er konnte mit der ganzen Anspannung seiner Denkkraft keine zärtlichere und innigere Anrede finden, als folgende: »Warum trägt denn Eure Frau Mutter immer noch den alten, mit Wappen gestickten Rock, wie unsere Großmütter zur Zeit Karls VII.? Sagt ihr doch, schöne Base, daß dies nimmer Mode ist, und daß der Harnisch und Lorbeer auf ihrem gestickten Kleide ihr das Ansehen einer wandernden Tapete geben. So kleidet man sich heutzutage nimmer, das schwöre ich Euch.«

Fleur-de-Lys erhob ihre schönen Augen und erwiederte leise im Tone des Vorwurfs: »Ist das Alles, was Ihr mir schwört?«

Die gute alte Dame, als sie so das liebende Paar, flüsternd und kosend, erblickte, sagte zu sich selbst: »Oh, rührendes Bild der Liebe!«

Der Kapitän, immer verlegener, bückte sich auf die Tapete und sprach: »Eine herrliche Arbeit, so wahr Gott lebt!«

Colombe de Gaillefontaine, eine andere schöne Blondine, benützte diesen Ausruf und wagte furchtsam ein Wort, das sie an Fleur-de-Lys richtete, in der Hoffnung, daß der schöne Offizier es ihr beantworten werde: »Meine liebe Gondelaurier habt Ihr die Tapeten des Palastes Rouche-Gujon gesehen?«

»Ist das nicht der Palast, der den Garten der Weißzeughändlerin des Louvre einschließt?« fragte lachend Diana de Christeuil, die, weil sie schöne Zähne hatte, bei jeder Gelegenheit lachte.

»Und wo der große alte Thurm der alten Mauer von Paris steht?« fügte Amelotte de Montmichel hinzu, eine niedliche Brünette, welche die Gewohnheit hatte zu seufzen, wie die Andere zu lachen, ohne daß eine von Beiden wußte, warum.

»Meine liebe Colombe,« fiel die alte Dame ein, »Ihr sprecht wohl von dem Palast des Herrn von Bacqueville unter dem König Karl VI.? Es sind wirklich sehr schöne Tapeten darin.

»Karl VI.! König Karl VI.!« brummte der Kapitän zwischen den Zähnen. »Die gute Dame hat ein herrliches Gedächtnis; für diese alten Geschichten!«

Die alte Dame fuhr fort: »Schöne Tapeten, beim wahrhaftigen Gott! Sehr seltene Tapeten!«

In diesem Augenblicke rief Berangere de Champchevrier, ein munteres Kind von sieben Jahren, das vom Balkon auf den Platz hinabgeblickt hatte: »Seht doch, schöne Pathin Fleur-de-Lys! Seht doch die niedliche Tänzerin, die da unten, mitten unter den Bürgern, auf dem Pflaster tanzt und den Tambourin schwingt!«

»Es wird irgend eine Zigeunerin sein!« erwiederte Fleur-de-Lys, indem sie nachlässig den Kopf der Straße zudrehte.

»Laßt sehen! Laßt sehen!« riefen ihre lebhaften Gespielinnen und rannten auf den Balkon, während ihnen Fleur-de-Lys, nachdenklich über die Kälte ihres Bräutigams, langsam folgte. Der Kapitän, den dieser Zwischenfall von einer peinlichen Unterhaltung befreite, zog sich mit der Zufriedenheit eines Soldaten, der von seinem Posten abgelöst wird, in den Hintergrund des Zimmers zurück.

Vor noch nicht langer Zeit war ihm der Dienst bei der schönen Fleur-de-Lys im geringsten nicht als ein Frohndienst erschienen, und er hatte ihn mit Eifer und Neigung verrichtet; aber je näher der Hochzeitstag kam, um so kälter wurde der Bräutigam. Die Aussicht auf die unauflösbaren Bande der Ehe behagte ihm nicht, er war etwas unbeständig und, die Wahrheit zu sagen, von ziemlich gemeinem Geschmack. Obgleich von hoher Geburt, hatte er doch unter dem Harnisch mehr als eine Gewohnheit gemeiner Haudegen angenommen. Die Kneipe und was ihr anklebt, gefiel ihm wohl. Die Soldatensprache, die militärischen Galanterien, die zugänglichen Schönheiten und die leichten Erfolge: das war es, was ihm Freude machte. Er hatte zwar in seiner Familie einige Erziehung erhalten und Manier angenommen; aber er kam allzujung unter den Harnisch, in die Garnison, in das Lager, und der Firniß des Edelmanns verwischte sich bald an dem ledernen Degengehänge des Gendarmen.

Er besuchte zwar, aus einem Ueberrest von Achtung für die gute Gesellschaft, Fleur-de-Lys noch von Zeit zu Zeit, aber die Gegenwart seiner Braut war ihm doppelt peinlich: einmal, weil er um so weniger Liebe für sie übrig behielt, je mehr er von diesem Artikel an öffentlichen Orten verschwendete, und dann, weil er in der Mitte dieser geputzten und anständigen Damen wie auf Nadeln saß und immer befürchtete, daß ihm irgend ein Fluch oder eine Zote aus der Wachtstube entwischen möchte.

Im Uebrigen machte er bei alle dem große Ansprüche auf Eleganz und schöne Kleidung. Er hatte sich eben, an Etwas oder an Nichts denkend, an das Kamin gelehnt, als Fleur-de-Lys plötzlich den Kopf nach ihm umwendete und ihm zurief: »Schöner Vetter, habt Ihr uns nicht von einer Zigeunerin gesagt, die Ihr vor zwei Monaten, als Ihr die Runde machtet, aus den Händen von zwölf Straßenräubern befreitet?«

»Ich glaube ja, schöne Base,« antwortete der Kapitän.

»Nun,« erwiederte sie, »das ist vielleicht die nämliche Zigeunerin, die da unten auf dem Pflaster tanzt. Kommt einmal und seht, ob Ihr sie wieder erkennt, schöner Vetter Phöbus!«

Aus dieser sanften Einladung und aus der traulichen Benennung Phöbus, die sie ihm gab, leuchtete ein geheimes Verlangen der Versöhnung hervor. Der Hauptmann Phöbus de Chateaupers (denn er ist es selbst) näherte sich langsam dem Balkon.

»Seht einmal,« sagte Fleur-de-Lys, indem sie sanft ihre Hand auf seinen Arm legte, »betrachtet diese Kleine, die da unten tanzt! Ist das Eure Zigeunerin?«

Phöbus sah hin und erwiederte: »Ja, ich erkenne sie an ihrer Ziege.«

»Oh, die niedliche kleine Ziege!« sagte Amelotte, und schlug vor Verwunderung die Hände zusammen.

»Sind ihre Hörner von echtem Gold?« fragte Berangere.

Ohne von ihrem Armstuhl aufzustehen, nahm die alte Dame das Wort: »Ist das nicht eine der Zigeunerinnen, die im vergangenen Jahre durch das Thor Gibard eingezogen sind?«

»Frau Mutter,« erwiederte Fleur-de-Lys sanft, »dieses Thor heißt jetzt Höllenthor.«

Fleur-de-Lys wußte, daß sich ihr Bräutigam über die veralteten Benennungen und Redensarten immer ärgerte. Wirklich murmelte er auch zwischen den Zähnen: »Thor Gibard! Thor Gibard! Da könnte der König Karl VI. noch einmal seinen Einzug halten!«

»Pathin,« rief die kleine Berangere, deren stets bewegliche Augen sich gegen den Gipfel der Liebfrauenkirche erhoben hatten, »was ist denn das für ein schwarzer Mann auf dem Thurm da oben?«

Alle die jungen Mädchen wendeten ihre Augen zum Thurme hinauf. Ein Mann in schwarzer Kleidung lehnte sich über die Balustrade des nördlichen Thurms heraus und blickte auf den Greveplatz herab. Es war ein Priester. Man erkannte deutlich seine Kleidung und sein in beide Hände gestütztes Gesicht. Er stand unbeweglich wie eine Bildsäule. Sein Auge starrte unverändert auf den Platz hinab. Er glich einem Habicht, der hoch in der Luft eine Taube erblickt und auf sie herabstoßen will.

»Das ist der Archidiakonus der Liebfrauenkirche,« sagte Fleur-de-Lys.

»Ihr müßt gute Augen haben, daß Ihr ihn von hier aus erkennt!« bemerkte Gaillefontaine.

»Wie er die kleine Tänzerin betrachtet!« fiel Diane de Christeuil ein.

»Die Aegypterin mag sich hüten, denn er liebt Aegyptenland nicht!« sagte Fleur-de-Lys.

»Der Mann da oben,« fügte Amelotte de Montmichel hinzu, »sollte sie nicht mit so bösen Augen ansehen, denn sie tanzt zum Entzücken.«

»Schöner Vetter Phöbus,« sagte plötzlich Fleur-de-Lys, »da Ihr diese kleine Zigeunerin kennt, so ruft sie doch herauf, daß wir einen Spaß haben.«

»Ach ja! Ach ja!« riefen alle Mädchen und klatschten in die Hände.

»Das wäre thöricht,« antwortete Phöbus. »Sie hat mich ohne Zweifel vergessen, und ich weiß nicht einmal ihren Namen. Weil Ihr es aber wünscht, meine Damen, so will ich einen Versuch machen.«

Mit diesen Worten beugte er sich über den Balkon und schrie auf die Straße hinab: »Kleine!«

Die Tänzerin, die in diesem Augenblicke den Tambourin nicht schlug, wendete das Haupt der Gegend zu, woher dieser Ruf kam. Ihre glänzenden Augen hafteten auf Phöbus fest, und sie hörte auf zu tanzen.

»Kleine!« wiederholte der Kapitän und gab ihr mit dem Finger ein Zeichen, zu kommen.

Das Zigeunermädchen betrachtete ihn noch immer; jetzt erröthete sie, als ob ihr eine Flamme ins Gesicht gestiegen wäre, nahm ihren Tambourin unter den Arm und ging, zum großen Verdrusse der Zuschauer, der Pforte des Hauses zu, von dessen Balkon Phöbus sie gerufen hatte: sie ging langsam, schwankend und mit dem angsterfüllten Blicke eines Vogels, der dem Zauberblick einer Schlange gehorcht.

Bald darauf hob sich die Tapete der Eingangsthüre, und das Zigeunermädchen erschien auf der Schwelle des Zimmers; hoch erröthend, verlegen, athemlos, mit niedergeschlagenen Augen, wagte sie nicht einzutreten.

Die kleine Berangere klatschte vor Vergnügen mit den Händen.

Die Tänzerin blieb unbeweglich auf der Thürschwelle stehen. Ihr Erscheinen hatte auf die Gruppe der jungen Mädchen einen sonderbaren Eindruck gemacht. Ein vages und unbestimmtes Verlangen, dem schönen Offizier zu gefallen, belebte sie Alle zumal; seine glänzende Uniform war der Spiegel, in dem alle ihre Koketterien widerstrahlten, und seit seiner Anwesenheit bestand zwischen ihnen eine gewisse geheime Eifersucht, welche sie sich kaum selbst bekannten, die aber gleichwohl jeden Augenblick in ihren Geberden und Reden zum Vorschein kam. Da sie jedoch Alle ungefähr gleich schön waren, so kämpften sie mit gleichen Waffen, und jede von ihnen konnte auf den Sieg hoffen. Das Erscheinen der Zigeunerin störte plötzlich dieses Gleichgewicht. Sie war von einer so seltenen Schönheit, daß sie, als sie die Schwelle betrat, in dem ganzen Zimmer einen ihr eigenthümlichen Schein zu verbreiten schien. In diesem engen Raume, von vier Mauern eingeschlossen, war sie unendlich schöner und strahlender, als auf dem öffentlichen Platze. Sie glich einer Fackel, die man vom hellen Tageslicht in den Schatten bringt. Die adeligen Damen wurden wider Willen von ihr geblendet. Jede fühlte sich in ihrer Schönheit gleichsam verwundet. Auch änderte sich alsogleich ihre Schlachtordnung, ohne daß sie sich mit einem einzigen Worte darüber verständigten. Der weibliche Instinkt versteht sich schneller, als der männliche Verstand. Eine allgemeine Feindin war erschienen: Alle fühlten es, Alle verbündeten sich gegen sie. Ein einziger Tropfen rothen Weins färbt ein ganzes Glas Wasser; um eine ganze Versammlung schöner Weiber mit einer gewissen Laune zu färben, bedarf es nur der Ankunft einer noch schöneren Frau, besonders wenn nur ein einziger Mann in der Gesellschaft ist.

Die so angelegentlich herbeigerufene Zigeunerin wurde eiskalt empfangen. Die Edeldamen betrachteten sie vom Kopf bis zu den Füßen, sahen sich dann untereinander selbst an, und hiermit war Alles gesagt: sie hatten sich wechselseitig verstanden. Inzwischen wartete das arme Mädchen auf eine Anrede und war so bewegt, daß sie kaum die Augen wieder aufzuschlagen wagte. Der Kapitän brach zuerst das Stillschweigen. »Auf meine Ehre,« sagte er mit seinem Tone unerschrockener Albernheit, »das ist ein herrliches Geschöpf! Was meint Ihr, schöne Base?« Diese Bemerkung, die ein gebildeterer Bewunderer wenigstens leise gesagt hätte, war nicht geeignet, die weiblichen Eifersuchten niederzuschlagen, die das Zigeunermädchen umlagert hielten. Fleur-de-Lys antwortete dem Kapitän in affektirt wegwerfendem Tone: »Nicht so übel!« Die Andern kicherten. Die alte Dame, vielleicht die eifersüchtigste von Allen, weil sie es für ihre Tochter war, sagte zu der Tänzerin: »Tritt näher, Kleine!« »Tritt näher, Kleine!« wiederholte Berangère mit komischer Würde. Die Aegypterin trat auf die Edeldame zu. »Schönes Kind,« sagte Phöbus mit Begeisterung und trat ihr einige Schritte entgegen, »ich weiß nicht, ob ich das unaussprechliche Glück habe, von Dir wieder erkannt zu werden?« Sie unterbrach ihn, indem sie ihn mit einem graziösen Lächeln anblickte und schnell erwiederte: »O ja! O ja!« »Sie hat ein gutes Gedächtnis,« sagte Fleur-de Lys mit bitterem Lachen. »Ei,« fuhr Phöbus ungestört fort, »Du bist mir da neulich unter der Hand entwischt. Fürchtest Du mich denn?« »O nein! O nein!« sagte schnell das Zigeunermädchen. In diesem O ja und in diesem O nein lag Etwas, was sich nicht beschreiben läßt, und wodurch sich Fleur-de-Lys gekränkt fühlte.

»Du hast mir da an Deiner Stelle, mein schönes Kind,« fuhr der Kapitän fort, dessen Zunge geläufiger wurde, seit er mit einem Straßenmädchen sprach, »einen saubern Vogel zurückgelassen, einäugig und bucklig, den Glöckner des Bischofs, glaube ich. Man hat mir gesagt, daß er der Bastard eines Archidiakonus und von Geburt ein Teufel sei. Er hat einen wunderlichen Namen, Ostertag, Pfingsttag, oder wie Teufels er heißt! Ein Festtag ist es! Der Bursche hat sich also unterstanden, Dich zu entführen, als ob Du für solche Lümmel gemacht wärest! Das ist etwas stark. Was Teufels wollte sie denn von Dir, diese Nachteule? He! was sagst Du?«

»Ich weiß nicht,« antwortete die Zigeunerin.

»Unbegreifliche Unverschämtheit! Ein Glöckner ein Mädchen entführen, wie ein Graf! Ein so gemeines Vieh in das Gehege des Adels einbrechen! Aber er hat es büßen müssen, der Hund! Meister Pierrat Torterue läßt seine Peitsche schwer auffallen, und es wird Dir Freude machen, zu erfahren, daß er Striemen von dem Rücken des unverschämten Glöckners gehauen hat.«

»Armer Mensch!« sagte die Zigeunerin, der diese Worte die Scene am Schandpfahl wieder in Erinnerung brachten.

Der Kapitän wollte sich vor Lachen ausschütten. »Bei den Hörnern aller Ochsen!« rief er aus, »da ist das Mitleid so übel angebracht, als eine Feder am Hintern einer Sau, und mein Bauch soll so dick werden, als der des Pabstes, wenn …«

Er hielt plötzlich inne. »Verzeihung, meine Damen! Ich glaube, ich habe einige Dummheiten gesagt.«

»Pfui, mein Herr!« sagte Gaillefontaine.

»Er redet mit diesem Geschöpf ihre Sprache!« fügte Fleur-de-Lys, deren Verdruß von Minute zu Minute stieg, halblaut hinzu.

Dieser Verdruß verminderte sich nicht, als der Kapitän, bezaubert von der Zigeunerin und seiner eigenen Person, sich auf dem Absatz herumdrehte und mit plumper soldatischer Galanterie wiederholte: »Ein schönes Mädchen, auf Ehre und Seligkeit!«

»Wie eine Halbwilde gekleidet,« sagte Diane de Christeuil und bleckte ihre schönen Zähne.

Diese Bemerkung war ein Lichtstrahl für sämtliche Damen. Sie zeigte ihnen die wunde Seite der Ägypterin. Da sie ihrer Schönheit nichts anhaben konnten, so warfen sie sich auf ihren Anzug.

»Das muß wahr sein, Kleine,« sagte die Montmichel, »wie magst Du so ohne Brusttuch und Busenschleier durch die Straßen laufen?«

»Ihr Rock ist so kurz, daß einem Angst und bange wird,« fügte Gaillefontaine hinzu.

»Meine Liebe,« sagte Fleur-de-Lys in bitterem Tone, »die Stadtserganten werden Dich auffangen, weil Du einen goldenen Leibgürtel trägst.«

»Kleine, Kleine,« sagte Diane de Christeuil und warf einen giftigen Blick auf sie, »wenn Du ehrbar deinen Arm mit einem Ärmel bedecktest, so würde er nicht so von der Sonne verbrannt sein.«

Es war in der Tat ein Schauspiel, das eines verständigeren Zuschauers würdig gewesen wäre, als unser Phöbus war, wie diese schönen Edeldamen mit ihren vergifteten Zungen die Straßentänzerin zwickten und stachen; sie betäubten das arme Kind durch ihr Gelächter, durch ihren Spott, durch endlose Demütigungen. Man hätte sie für junge römische Damen halten können, die zu ihrer Ergötzlichkeit den Busen einer schönen Sklavin mit goldenen Nadeln durchstachen, oder für zierliche Windhunde, die mit brennenden Augen und lechzender Zunge ein Reh umkreisen, das der Blick ihres Herrn ihnen anzutasten verbietet.

Eine Straßentänzerin ist freilich ein Nichts und weniger als Nichts in den Augen hochgeborner Damen. Sie taten, als ob sie gar nicht zugegen wäre, und sprachen von ihr, vor ihr, zu ihr, mit lauter Stimme, als von etwas, das ziemlich unreinlich, ziemlich verworfen und ziemlich niedlich sei. Die Tänzerin war nicht fühllos gegen diese Nadelstiche. Von Zeit zu Zeit färbten sich ihre Wangen mit dem Purpur der Scham, ein Blitz des Zorns entflammte ihren Augen; ein höhnisches Wort schien auf ihren Lippen zu schweben; sie warf verachtungsvoll den Mund auf; doch blieb sie ruhig und heftete auf Phöbus einen Blick der Ergebung, sanft und traurig. Es lag auch etwas von Glück und Zärtlichkeit in diesem Blick. Man konnte glauben, daß sie sich bezwang, um nicht fortgejagt zu werden.

Phöbus nahm die Partei der Zigeunerin mit einer Mischung von Unverschämtheit und Mitleid. »Laß sie reden, Kleine,« sagte er, und ließ seine goldenen Sporen klirren; »allerdings hat Deine Toilette etwas Ungewöhnliches und Wildes, aber da Du ein so niedliches Kind bist, so hat das nichts zu sagen.«

»Mein Gott!« rief die blonde Gaillefontaine aus und bog mit einem bittern Lächeln ihren Schwanenhals zurück, »die Herren Bogenschützen des Königs fangen, wie ich sehe, leicht Feuer an den schönen ägyptischen Augen.«

»Warum denn nicht?« sagte Phöbus.

Auf diese Antwort, die der Kapitän nachlässig hinwarf, lachten sämmtliche Damen. Fleur-de-Lys schloß sich nicht aus, aber zu gleicher Zeit perlte eine Träne des Verdrusses in ihren Augen.

Die Zigeunerin, die ihre Blicke zur Erde gerichtet hatte, erhob sie jetzt strahlend von Stolz und Freude. Sie blickte Phöbus mit brennenden Augen an und war wunderschön und reizend.

Die alte Dame, die sich durch diesen Auftritt beleidigt fühlte und doch die Sache nicht recht begriff, schrie jetzt plötzlich: »Heilige Jungfrau! Was kriecht mir denn da unter meinen Füßen! Ah! das häßliche Tier!«

Es war die weiße Ziege, die ihre Herrin suchte und sich mit den Hörnern in dem Schleppkleide der Edeldame verwickelt hatte. Die Zigeunerin machte sie los, ohne ein Wort zu sagen.

»Oh! Da ist die kleine Ziege mit den goldenen Hörnern!« rief Berangère aus und hüpfte vor Freude.

Die Zigeunerin setzte sich auf den Boden nieder und drückte den schmeichelnden Kopf der Ziege gegen ihre Wange. Sie schien sie gleichsam um Verzeihung zu bitten, daß sie auf solche Art von ihr weggegangen sei.

Inzwischen hatte sich Diane zum Ohre der Colombe geneigt.

»Mein Gott!« rief diese. »Warum habe ich nicht bälder daran gedacht! Das ist die Zigeunerin mit der weißen Ziege; man sagt, sie sei eine Hexe, und ihre Ziege mache sehr wunderbare Kunststücke.« Nun wandte sie sich an das Zigeunermädchen: »laß Deine Ziege ein Wunder tun!«

»Ich weiß nicht, was Ihr damit sagen wollt,« erwiderte die Tänzerin.

»Ein Wunder, eine Zauberei, eine Hexerei.«

»Ich verstehe es nicht,« wiederholte die Zigeunerin und liebkoste die Ziege.

In diesem Augenblicke bemerkte Fleur-de-Lys ein Säckchen von gesticktem Leder, das am Halse der Ziege hing.

»Was ist das?« fragte sie die Zigeunerin.

Die Ägypterin erhob ihre großen Augen gegen sie und antwortete ernst: »Das ist mein Geheimnis.«

Ich möchte dein Geheimnis wohl wissen, dachte Fleur-de-Lys.

Inzwischen hatte sich die gute alte Dame erhoben und sagte ärgerlich: »Heda, Zigeunerin! Wenn weder Du noch Deine Ziege uns etwas zu tanzen haben, was macht Ihr da?«

Das Zigeunermädchen, ohne ein Wort zu erwiedern, wendete sich langsam der Türe zu, aber je näher sie ihr kam, um so langsamer wurde ihr Schritt. Ein Magnet schien sie im Zimmer zurückzuhalten. Plötzlich richtete sie ihre in Thränen schwimmenden Augen auf Phöbus und blieb stehen.

»Beim wahrhaftigen Gott,« rief der Kapitän, »so geht man nicht. Komm zurück und tanze uns etwas. Ei! mein schönes Schätzchen! wie heißest Du denn?«

»Esmeralda!« antwortete sie, ohne den Blick von ihm zu wenden.

Dieser ungewöhnliche Name erregte ein tolles Gelächter unter den Mädchen.

»Ein abscheulicher Name für ein junges Mädchen!« sagte Diane.

»Man sieht wohl,« rief Amelotte aus, »daß sie eine Heidin und Zauberin ist.«

»Mein Kind,« sagte feierlich die alte Dame, »Deine Eltern haben Dir diesen Namen sicherlich nicht aus dem Weihkessel der heiligen Taufe geschöpft.«

Inzwischen hatte die kleine Berangère, ohne daß man auf sie Acht gab, mit einem Zuckerbrod die Ziege in einen Winkel des Zimmers gelockt. In einem Augenblicke waren sie gute Freunde geworden. Das neugierige Kind knüpfte das lederne Säckchen vom Halse der Ziege ab, öffnete es und schüttelte den Inhalt auf den Boden aus. Es war ein Alphabet, dessen Buchstaben, jeder einzeln, in Buchsbaum geschnitten waren. Kaum lagen diese Buchstaben auf dem Boden, so sah das Kind mit Staunen, wie die Ziege mit ihren Pfoten gewisse Buchstaben herauszog und sie in Ordnung legte. Bald hatte die Ziege ein Wort gebildet, auf das sie eingeübt schien, so schnell war sie damit fertig, und die kleine Berangère klatschte in die Hände und rief mit Staunen:

»Pathin Fleur-de-Lys, kommt doch und seht, was die Ziege da gemacht hat!«

Fleur-de-Lys kam, blickte hin und schauderte zusammen.

Die auf dem Boden geordneten Buchstaben bildeten das Wort:

Phöbus.

»Hat das die Ziege geschrieben?« fragte sie mit gebrochener Stimme.

»Ja, Pathin,« antwortete die kleine Berangère, und es war auch keinem Zweifel unterworfen, denn das Kind konnte nicht schreiben.

Das ist also das Geheimnis, seufzte Fleur-de-Lys.

Auf den Ruf des Kindes waren Alle herbeigekommen. Die Zigeunerin sah, welche Dummheit ihre Ziege gemacht hatte. Sie wurde bald roth, bald blaß, und zitterte wie eine Schuldige vor dem Kapitän, der sie mit Verwunderung und einem Lächeln befriedigter Eigenliebe betrachtete.

»Phöbus!« kicherten die jungen Mädchen, »das ist der Name des Hauptmanns!«

»Du hast ein wunderbares Gedächtnis!« sagte Fleur-de-Lys zu der Zigeunerin. »Oh!« fügte sie hinzu, indem sie in Thränen ausbrach und ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte, »es ist eine Zauberin!«

Ein bitteres Gefühl in ihrem Innern, das sie nicht laut werden lassen wollte, sagte ihr, es sei eine Nebenbuhlerin! Sie fiel in Ohnmacht.

»Mein Kind! Mein Kind!« rief die erschrockene Mutter; »fort Du höllische Zigeunerin!«

Esmeralda raffte schnell die unglücklichen Buchstaben zusammen, gab der Ziege ein Zeichen, und entfernte sich durch die eine Thüre, während man die ohnmächtige Fleur-de-Lys zur andern hinaustrug.

Phöbus, der allein zurückgeblieben war, zeigte sich einen Augenblick unschlüssig zwischen den beiden Thüren, dann folgte er dem Zigeunermädchen.

XX.

Der Priester, den die jungen Mädchen auf der Höhe des Thurmes erblickt hatten, wo er ernst und aufmerksam dem Tanze des Zigeunermädchens zuschaute, war wirklich der Archidiakonus Claude Frollo.

Der Leser kennt die geheimnißvolle Zelle, welche sich der Priester in diesem Thurme vorbehalten hatte. Jeden Tag, eine Stunde vor Sonnenuntergang, stieg er die Treppe des Thurmes hinauf, schloß sich in die Zelle ein und brachte manchmal ganze Nächte darin zu. Als er heute die Treppe hinaufstieg, hörte er den Ton des Tambourin und begab sich auf den Turm, da er von seiner Zelle aus nicht auf den Platz sehen konnte. Hier stand er, als ihn die jungen Damen erblickten, ernst, unbeweglich, in einen Anblick und einen Gedanken vertieft. Die ganze große Stadt lag unter seinen Füßen, mit dem Flusse, der sie durchströmt, mit ihren tausend Häusern, mit dem Gewimmel ihrer Bewohner; aber der Priester blickte nur auf einen Punkt und ein Wesen: den Platz unter ihm und das tanzende Zigeunermädchen.

Es war schwer zu sagen, welcher Art dieser Blick war, und welche Flamme aus ihm leuchtete. Es war ein fester und doch von innerer Unruhe zeugender Blick. Wenn man den Priester so dastehen sah, in der Unbeweglichkeit seines Körpers, mehr Marmor als das Geländer, auf das er sich lehnte, das versteinerte Lächeln auf seinem Gesichte, so konnte man sagen, daß alles Leben sich in seine Augen gezogen habe.

Inzwischen tanzte die Zigeunerin, schwang den Tambourin, leicht, behend, fröhlich, und fühlte nichts von dem Gewicht des furchtbaren Blickes, den der Priester von der Höhe des Thurmes auf ihr Haupt warf.

Die Menge wimmelte um sie her. Von Zeit zu Zeit ließ ein Mann, der eine gelb und rothe Mütze auf dem Kopfe trug, den Kreis erweitern, wenn die Zuschauer sich allzunahe drängten, setzte sich dann wieder auf einen Stuhl in der Nähe der Tänzerin und nahm den Kopf der Ziege zwischen seine Kniee. Dieser Mensch schien der Begleiter der Zigeunerin zu sein. Claude Frollo konnte von der Höhe des Thurmes seine Gesichtszüge nicht erkennen.

Von dem Augenblicke an, da der Archidiakonus diesen Unbekannten gewahrte, schien sich seine Aufmerksamkeit zwischen ihm und der Tänzerin zu teilen, und sein Gesicht wurde immer finsterer. Plötzlich durchschauerte ein Frost seinen ganzen Körper. Was ist das für ein Mann? murmelte er zwischen den Zähnen, ich habe sie doch immer allein gesehen.

Mit diesen Worten verließ er plötzlich den Altan und stieg die Wendeltreppe hinab. Als er am Glockenthurme vorüber ging, sah er Quasimodo auf den Platz hinabblicken. Der Zwerg war so in Betrachtung vertieft, daß er den vorübergehenden Priester nicht bemerkte. Sein wildes Auge hatte einen ganz anderen Ausdruck angenommen, sein Blick war sanft und wie bezaubert.

Das ist doch seltsam! murmelte der Priester. Ist es auch die Aegypterin, die er auf solche Weise betrachtet? Er stieg weiter hinab und kam auf den öffentlichen Platz.

»Wo ist denn die Zigeunerin hingekommen?« fragte er, sich unter die Gruppe der Zuschauer mischend, welche der Tambourin herbeigelockt hatte.

»Ich weiß es nicht,« antwortete ihm einer derselben; »ich glaube, man hat sie da in ein Haus gerufen, um ihre Kunststücke zu machen.«

An der Stelle der Aegypterin machte jetzt der Mensch mit der roth und gelben Mütze, der eine Art Hanswurst schien, seine Kunststücke. Er ging eben im Zirkel herum, die Ellenbogen in die Seiten gestemmt, den Kopf rückwärts gebogen, mit ausgestrecktem Hals und hochrothem Gesicht, einen Stuhl zwischen den Zähnen haltend. Auf diesen Stuhl hatte er eine Katze gebunden, die ihm eine Nachbarin geliehen hatte, und die jämmerlich schrie.

»Bei unserer lieben Frau!« rief der Archidiakonus aus, als eben der Hanswurst, große Tropfen schwitzend, an ihm vorüberging, »das ist ja unser Meister Peter Gringoire.«

Die strenge Stimme des Archidiakonus erschreckte den armen Teufel so sehr, daß er das Gleichgewicht verlor, und daß Stuhl und Katze unter allgemeinem Zischen auf die Köpfe der Zunächststehenden fielen.

Meister Peter Gringoire, denn er war es selbst, würde wahrscheinlich einen harten Stand mit der Eigenthümerin der Katze und den zerkratzten Gesichtern um ihn her gehabt haben, wenn er nicht schnell in die Kirche entwischt wäre, wohin ihm der Priester, nachdem er ihm ein Zeichen gegeben, ihm zu folgen, vorangegangen war.

Die Kirche war bereits finster und verlassen. Nachdem sie einige Schritte gegangen waren, lehnte sich der Priester mit dem Rücken an einen Pfeiler und warf einen ernsten und festen Blick auf den Poeten und Hanswurst. Dieser Blick war kein solcher, wie Peter Gringoire ihn fürchtete, beschämt, wie er war, daß eine so ernste und gelehrte Person ihn in der Hanswurstjacke überrascht hatte. Der Blick des Priesters hatte nichts Scherzhaftes und Ironisches an sich; er war ernst, ruhig und durchdringend. Der Archidiakonus brach zuerst das Stillschweigen.

»Kommt einmal daher, Meister Peter! Ihr werdet mir Allerlei zu erzählen haben, und vor allen Dingen, wie es kommt, daß man Euch seit zwei Monaten nimmer gesehen hat, und jetzt auf der Straße findet, in einem saubern Aufzug, halb gelb und halb roth, wie ein wahrer Hanswurst und Seiltänzer.«

»Herr und Meister,« erwiederte Peter Gringoire mit kläglicher Stimme, »ich trage da allerdings einen seltsamen Kittel, und ich bin selbst so beschämt darüber wie eine Katze, der man eine Kürbisflasche aufsetzt. Es ist allerdings nicht wohl gethan, die Stadtsergenten in den Fall zu setzen, unter dieser bunten Jacke den humerus eines pythagoräischen Philosophen ausklopfen zu müssen. Aber was ist zu machen, mein sehr ehrwürdiger Herr und Meister? Die Schuld liegt an meinem alten schwarzen Rock, der mich im Anfang des Winters unter dem Vorwand, daß er in Lappen zerfalle und in der Kiste des Lumpensammlers ausruhen müsse, schmählich verlassen hat. Was war zu machen! Die Civilisation ist noch nicht so weit vorgerückt, daß man nackt geht, wie der alte Diogenes wollte. Zudem wehte ein kalter Wind, und der Monat Januar ist nicht der geeignetste im Jahr, um diesen neuen Schritt zur Humanität zu thun. Diese bunte Jacke hat sich nun vorgefunden, und ich habe sie an die Stelle meines seligen schwarzen Rocks gesetzt, der für einen Hermetiker, wie ich bin, nicht sehr hermetisch geschlossen war. Ihr seht mich demnach hier in meiner Histrionen-Jacke. Was ist zu machen? Es ist eben eine Sonnenfinsternis, und Apoll hat ja selbst bei Admet die Ziegen gehütet.«

»Ihr treibt da ein schönes Handwerk!« fuhr der Archidiakonus fort.

»Ich muß selbst gestehen, daß es besser ist, zu philosophiren und zu dichten, die Flamme im Ofen anzublasen oder sie vom Himmel zu empfangen, als Katzen auf dem Pflaster herumzutragen. Auch stehe ich hier so dumm vor Euch wie ein Esel vor einem Bratenwender. Was ist aber zu machen? Man muß alle Tage gelebt haben, und die schönsten alexandrinischen Verse wägen kein Stückchen alten Käse auf, das man zwischen den Zähnen hat. Ich habe, wie Ihr wißt, für Frau Margarethe von Flandern jenes berühmte Epithalamium gemacht, und die Stadt bezahlt es mir nicht unter dem Vorwand, daß es nichts Vorzügliches sei, als ob man um vier Thaler eine Sophocles’sche Tragödie liefern könnte. Es blieb mir also nichts übrig, als Hungers zu sterben. Zum Glücke habe ich ein paar kräftige Kinnbacken, und ich sprach zu denselben: Macht Kunststücke, haltet den Stuhl und die Katze im Gleichgewicht! Nährt euch selbst! Ein Schock Spitzbuben, die jetzt meine guten Freunde sind, haben mich zwanzig verschiedene Herkules-Stücke gelehrt, und nun beißen jeden Abend meine Zähne das Brod, das sie den Tag über verdient haben. Im Uebrigen concedo, ich gebe zu, daß es ein trauriger Gebrauch meiner geistigen Fähigkeiten ist, und daß der Mensch etwas Anderes treiben kann, als in altes Holz zu beißen und mit den Zähnen Katzen auf dem Pflaster herumzutragen. Allein, mein sehr verehrter Meister, es ist nicht hinreichend, sein Leben hinzubringen, man muß es auch verdienen.«

Der Priester hatte ihn stillschweigend angehört. Jetzt nahm sein tiefliegendes Auge einen so forschenden und durchdringenden Ausdruck an, daß er dem armen Poeten bis auf den geheimsten Grund seiner Seele drang.

»Ganz wohl, Meister Peter,« sagte der Archidiakonus, »aber wie kommt es, daß Ihr Euch jetzt in Gesellschaft dieser ägyptischen Tänzerin befindet?«

»Meiner Treu!« erwiederte Peter Gringoire, »das kommt daher, daß sie meine Frau ist und ich ihr Mann bin.«

Bei diesen Worten entflammte sich das finstere Auge des Priesters.

»Und das hättest Du gethan, Elender?« schrie er wüthend und faßte krampfhaft den Arm des Dichters. »So bist Du von Gott verlassen, daß Du Dich an dieses heidnische Mädchen hängst!«

»Bei meiner ewigen Seligkeit, ehrwürdiger Herr und Meister,« antwortete der Poet an allen Gliedern zitternd, »schwöre ich Euch, daß ich sie mit keinem Finger berührt habe, wenn Euch das beunruhigt.«

»Und was faselst Du denn von Mann und Frau?« fragte der Priester weiter.

Peter Gringoire erzählte nun, so gedrängt als möglich, Alles was der Leser bereits weiß, sein Abenteuer im Hofe der Wunder und seine Heirath mittelst des zerbrochenen Kruges.

Es ergab sich aus seinem Bericht, daß bis jetzt seine Heirath noch kein Resultat gehabt hatte, und daß jeden Abend das schöne Zigeunermädchen ihm die Brautnacht wegstipizte, wie am Hochzeittage.

»Das ist ein bitterer Kelch,« schloß unser Dichter seine Erzählung, »aber es kommt daher, daß ich das Unglück gehabt habe, eine Jungfrau zu heirathen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte der Archidiakonus, dessen Zorn sich bei Anhörung dieses Berichts allmählig gelegt hatte.

»Das läßt sich schwer erklären,« antwortete der Poet. »Es ist ein Aberglaube. Meine Frau ist, wie mir ein alter Zigeuner sagte, den wir bei uns den Herzog von Aegypten nennen, ein Findelkind. Sie trägt am Hals ein Zaubergehänge, durch das sie eines Tages ihre Eltern wieder finden wird, und das seine Kraft verlieren würde, wenn dessen Besitzerin ihre Jungfrauschaft verlöre. Es folgt daraus, daß wir Beide sehr tugendhaft leben.«

»Ihr glaubt also,« fragte der Priester, dessen Stirne sich immer mehr entwölkte, »Ihr glaubt also, Meister Peter, daß dieses Geschöpf noch ganz unschuldig ist und mit keinem Manne zu thun gehabt hat?«

»Wie will ein Mann mit einem solchen Aberglauben zurecht kommen! Sie hat sich einmal das in den Kopf gesetzt. Es ist allerdings etwas Seltenes um diese Nonnenhaftigkeit, die sich mitten unter diesen so leicht zugänglichen Zigeunerinnen bewahrt. Sie hat aber zu ihrem Schutz drei Dinge: den Herzog von Aegypten, der sie unter seine Obhut genommen hat, weil er vielleicht denkt, daß er eines Tages ihre Jungfrauschaft an irgend einen geilen Abt oder Priester gut verkaufen könne, ihren ganzen Stamm, der sie in besonderer Verehrung hält, wie wir unsere liebe Frau, und dann einen gewissen kleinen Dolch, den die Spitzbübin trotz des Verbots immer an einem verborgenen Orte bei sich führt, und der blitzschnell aus der Scheide fährt, wenn man sie umfassen will. Das ist eine Wespe, die gleich sticht!«

Der Archidiakonus bestürmte jetzt Peter Gringoire mit Fragen. Dieser erzählte was er wußte: Die Esmeralda sei ein niedliches und harmloses Geschöpf, ungekünstelt und leidenschaftlich, unwissend in Allem und begeistert für Alles, noch nicht, nicht einmal im Traume, den Unterschied zwischen einem Manne und Weibe kennend; Tanz, Geräusch, frische Luft liebend, eine Biene, mit unsichtbaren Flügeln an den Füßen. So sei sie durch das herumirrende Leben geworden, das sie von Jugend auf geführt habe. Peter Gringoire hatte erfahren, daß sie als Kind schon Spanien und Katalonien durchzogen hatte, und bis Sizilien gekommen war; er glaubte sogar, daß die Zigeunerhorde, der sie angehörte, sie bis nach Algier geführt habe. So viel sei gewiß, daß Esmeralda sehr jung aus Ungarn nach Frankreich gekommen. Aus allen diesen Ländern habe das junge Mädchen einige Lappen ihrer Sprache, Gesänge und seltsame Ideen mitgebracht. Das Volk liebe sie wegen ihrer Schönheit, ihrer Munterkeit, ihrer Tänze und Gesänge. Sie glaube sich in der ganzen Stadt von Niemand gehaßt, als von zwei Personen, von denen sie oft mit Entsetzen spreche: von der Klausnerin im Rolandsthurm, welche die Zigeunerin jedesmal verwünsche, so oft sie an ihrem Loch vorübergehe, und von einem Priester, der ihr nie begegne, ohne Blicke auf sie zu werfen, welche ihr Furcht einflößen.

Dieser letztere Umstand brachte den Archidiakonus in große Verlegenheit, ohne daß eben Peter Gringoire viel darauf achtete. Der harmlose Dichter schien bereits jene Nacht wieder vergessen zu haben, in welcher Quasimodo in Gesellschaft des Priesters Esmeralda entführen wollte.

Bei alle dem fürchtete die kleine Tänzerin nichts; sie gab sich nicht mit Wahrsagen ab und sicherte sich dadurch gegen jene Hexenprozesse, die damals so häufig waren. Peter Gringoire gewährte ihr, wenn auch nicht als Gatte, doch als Bruder seinen Schutz. Er war philosophisch genug, diese Art platonischer Ehe geduldig zu ertragen. Er hatte doch ein Obdach und Brod. Jeden Morgen zog er vom Hofe der Wunder aus, meistens mit der Aegypterin, half ihr auf den öffentlichen Plätzen die Spenden der Zuschauer einsammeln, und jeden Abend kehrte er mit ihr unter das nämliche Dach zurück; sie verriegelte sich in ihrem Kämmerlein und Meister Peter schlief den Schlaf des Gerechten. Ein sehr gemüthliches Dasein, sagte er, und ganz zu poetischen Träumereien geeignet! Im Uebrigen, wenn er sich auf sein Gewissen fragte, war unser Philosoph nicht ganz gewiß, wen er mehr liebe: Esmeralda oder ihre Ziege. Er sei ganz vernarrt in dieses niedliche, kluge, fast gelehrte Thier. Ueberhaupt seien die Kunststücke, welche die Ziege mache, höchst einfacher Art, und Esmeralda besitze ein besonderes Talent, sie darin abzurichten. So habe sie die Ziege in kurzer Zeit gelehrt, den Namen Phöbus mit beweglichen Buchstaben zu schreiben.

»Phöbus!« sagte der Priester. »Warum Phöbus?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Poet. »Es ist vielleicht ein Wort, welchem sie geheime Zauberkraft zuschreibt. Sie wiederholt es oft halblaut, wenn sie sich allein glaubt.«

»Seid Ihr versichert,« fragte der Archidiakonus mit seinem durchdringenden Blicke, »daß es nur ein Wort und kein Name ist?«

»Name! wessen?«

»Was weiss ich?« sagte der Priester.

»Ich denke mir die Sache so: die Zigeuner haben etwas vom Glauben der Parsen und beten die Sonne an. Daher Phöbus.«

»Das scheint mir nicht so klar, als Euch, Meister Peter.«

»Nun, mir liegt nichts daran. Mag sie ihr Phöbus murmeln, so oft sie will. Das weiß ich gewiß, daß Djali mich fast eben so liebt, als ihre Herrin.«

»Was ist das, diese Djali?«

»Das ist die Ziege.«

Der Archidiakonus stützte sein Kinn in die Hand und schien einen Augenblick nachzusinnen. Plötzlich wendete er sich barsch gegen den Dichter.

»Und Du schwörst mir, daß Du sie nicht berührt hast?«

»Wen? die Ziege?«

»Nein, dieses Weib.«

»Mein Weib? Das kann ich wohl beschwören.«

»Und Du bist oft allein mit ihr?«

»Jeden Abend wohl eine Stunde.«

Der Priester runzelte die Stirne und sagte: »Solus cum sola, non cogitabuntur orare Pater noster. Bei meiner armen Seele, ich könnte das Pater noster, das Ave Maria und das Credo in Deum omnipotentem hersagen, ohne daß sie mehr auf mich Acht hätte, als eine Henne auf eine Kirche.«

»Schwöre mir bei dem Bauche Deiner Mutter,« fuhr der Priester heftig fort, »daß Du dieses Geschöpf nicht mit der Spitze Deines Fingers berührt hast.«

»Ich will es auch bei dem Kopfe meines Vaters beschwören, aber erlaubt mir dagegen auch eine Frage an Euch, mein sehr verehrter Meister.«

»Rede!«

»Was geht dieses Ding Euch an?«

Das bleiche Gesicht des Priesters röthete sich, wie die Wangen eines jungen Mädchens. Er schwieg einen Augenblick, dann erwiederte er in sichtbarer Verlegenheit: »Hört, Meister Peter Gringoire, Ihr seid noch nicht verdammt, so viel ich weiß. Ich nehme Antheil an Euch und will Euch wohl. Nun würde aber jede Berührung dieser höllischen Aegypterin Euch zum Vasallen des Teufels machen. Ihr wißt, daß immer der Leib die Seele verdirbt. Wehe Dir, wenn Du dieses Weib berührst!«

»Einmal,« sagte Peter Gringoire und kratzte sich hinter den Ohren, »habe ich den Versuch gemacht, es war gleich am ersten Tage; aber er ist mir schlecht bekommen.«

»Ihr habt diese Unverschämtheit begangen, Meister Peter?« fragte der Priester mit gerunzelter Stirne.

»Ein andermal,« sagte der Poet und lachte behaglich in sich hinein, »habe ich, ehe ich in’s Bett ging, durch das Schlüsselloch gesehen, und da sah ich das niedlichste Geschöpf im Hemde, das je den bloßen Fuß auf den Teppich setzte.«

»Geh zu allen Teufeln!« rief der Priester mit einem furchtbaren Blicke, stieß den Dichter an den Schultern von sich und verlor sich in den finsteren Gängen der Kirche.

XV.

Am 7. Januar 1482 wurde im Chatelet, wie üblich, offene Sitzung gehalten. Der Saal war klein, nieder und gewölbt. Eine Tafel, mit ausgeschnitzten Lilien verziert, stand am äußersten Ende, dem Eingange gegenüber; ein großer hölzerner Lehnstuhl, für den Prevot bestimmt, war unbesetzt; links von demselben auf einer Bank saß der Auditor, Meister Florian; unter ihm der Gerichtsschreiber, die Feder in der Hand. Gegenüber, vor den hölzernen Schranken, standen die Zuschauer. Im Saale selbst, vor der Thüre, vor den Schranken sah man eine Menge Sergenten sich bewegen und ihren Dienst verrichten.

Meister Florian Barbedienne, Auditor am Chatelet, war taub. Dieser Fehler hat bei einem Richter nicht viel zu bedeuten, Meister Florian richtete darum nicht minder gut, und zwar ohne Appellation. Es ist hinreichend, wenn ein Richter sich nur das Ansehen gibt zuzuhören, und Meister Florian erfüllte diese Bedingung, die einzig wesentliche einer guten Rechtspflege, um so besser, als seine Aufmerksamkeit durch kein Geräusch gestört werden konnte.

Im Uebrigen hatte er unter den Zuhörern einen unerbittlichen Kritiker seiner Handlungen und Geberden an unserem guten Freunde Johannes Frollo de Molendino, der überall zu finden war, nur in den Hörsälen der Lehrer nicht.

»Siehe da,« sagte er zu Robin Poussepain, die Scene, die vor ihren Augen aufgeführt wurde, commentirend, »siehe da, Jehanneton du Buisson! Bei meiner armen Seele, der alte Esel verurtheilt sie! Er ist eben so blind als taub! Fünfzehn Sous soll das schöne Kind bezahlen, weil sie zwei Paternoster getragen hat.«

»Ei! Zwei Edelleute unter diesem Gesindel! Corpus Christi! Sie haben gewürfelt! Wann werde ich doch einmal unsern Rektor hier erblicken! Hundert Pfund Strafe für den König unseren Herrn! Ich will mein Bruder, der Archidiakonus, werden, wenn mich das abhält zu spielen, zu spielen bei Tage, zu spielen bei Nacht, zu leben im Spiel, zu sterben im Spiel, und am letzten Ende meine arme Seele zu verspielen!«

»Heilige Jungfrau, wie viele Mädchen! Ein ganzer Schafstall voll! Ich kenne sie alle, so wahr Gott lebt! Zehn Sous Strafe, ihr Koketten! Das wird Euch lehren, goldene Leibgürtel zu tragen!«

»Aufgepaßt, Robin Poussepain! Wen bringen sie denn jetzt, daß so viele Sergenten auf den Beinen sind? Beim Jupiter! die ganze Meute ist in Bewegung! Das muß das Hauptstück der Jagd sein! Ein Keuler! Hercle! Es ist unser Fürst von gestern, unser Narrenpabst, unser Glöckner, unser Einäugiger, unser Buckliger, unser Fratzengesicht, unser Quasimodo!«

Es war Quasimodo, gebunden und unter starker Bedeckung. Es lag übrigens, seine Mißgestalt ausgenommen, in Quasimodo nichts, was diesen ungewöhnlichen Aufwand von Spießen, Büchsen und Schwertern rechtfertigte; er war düster, schweigsam und ruhig. Kaum warf von Zeit zu Zeit sein einziges Auge einen zornerfüllten Blick auf die Bande, die ihn fesselten. Inzwischen blätterte Meister Florian in der gegen Quasimodo vorliegenden Klage, die ihm der Gerichtsschreiber darreichte. Diese Vorsicht brauchte er bei jedem Verhör; er lernte dadurch die Namen, Qualitäten und Vergehungen des Beschuldigten kennen, machte voraussichtliche Antworten auf vorausgesehene Fragen, und arbeitete sich so durch alle Schwierigkeiten des Verhörs durch, ohne daß man seine Taubheit allzusehr gewahr wurde. Das Protocoll war für ihn der Hund des Blinden. Wenn zufällig durch irgend eine unpassende Anrede oder eine unverständliche Frage seine Taubheit sich kundgab, so hielten die Einen dies für tiefe Gelehrsamkeit, die Anderen für Dummheit. Meister Florian gab sich so viele Mühe, seine Taubheit zu verhehlen, daß es ihm meistens gelang. Dieser Erfolg machte ihm selbst Illusion, was übrigens leichter ist, als man glaubt, denn alle Buckligen gehen mit erhobenem Haupte, alle Stammelnden schreien und alle Tauben sprechen leise. Daher hatte sich Meister Florian endlich überredet, daß sein Ohr bloß ein wenig rebellisch sei.

Nachdem er nun Quasimodo’s Sache wohl ausgefaßt und sich einverleibt hatte, bog er das Haupt rückwärts und schloß die Augen zur Hälfte, um sich ein majestätisches und unpartheiisches Ansehen zu geben, so daß er jetzt sowohl blind als taub war, ohne welche doppelte Bedingung es keinen vollkommenen Richter gibt. In dieser richterlichen Haltung begann er das Verhör!

»Euer Name?«

Hier trat ein durch das Gesetz nicht vorausgesehener Fall ein, nämlich, daß ein Tauber einen Tauben zu verhören hatte.

Quasimodo, der nichts von der an ihn gerichteten Frage hörte, starrte vor sich hin und antwortete nicht.

Der Richter, gleichfalls taub und von der Taubheit des Delinquenten nicht unterrichtet, glaubte, daß er geantwortet habe, wie gewöhnlich alle Befragten thun, und fuhr in seiner mechanischen und stupiden Weise fort:

»Gut! Euer Alter?«

Quasimodo antwortete eben so wenig auf diese Frage. Der Richter glaubte sie beantwortet und fuhr fort:

»Jetzt, Euer Stand?«

Immer das nämliche Stillschweigen.

Die Zuschauer sahen sich unter einander an und kicherten.

»Gut,« fuhr der taube Richter ungestört fort, indem er voraussetzte, daß der Angeklagte seine dritte Frage beantwortet habe: »Ihr seid vor uns angeklagt: primo, nächtlicher Ruhestörung; secundo, unehrbaren Angriffs auf die Person eines närrischen Weibsbilds; tertio, des Widerstands und Aufruhrs gegen die Bogenschützen der königlichen Leibwache. Erklärt Euch über alle diese Punkte. Gerichtschreiber, habt Ihr die Antworten aufgeschrieben, welche der Angeklagte bis jetzt gegeben hat?«

Auf diese unpassende Frage erhob sich ein allgemeines Gelächter im ganzen Saale, so heftig, so toll, daß es selbst den beiden Tauben nicht entgehen konnte. Quasimodo zuckte die Achseln und blickte verachtungsvoll um sich. Meister Florian, gleich ihm verwundert, bildete sich ein, daß irgend eine unehrerbietige Antwort des Angeklagten das Gelächter der Zuhörer erregt habe, und fuhr ihn mit den Worten an:

»Du Schuft, Du hast hier eine Antwort gegeben, die den Strick verdiente!«

Dieser Ausfall war nicht geeignet, der allgemeinen Lustigkeit Einhalt zu thun, sondern erregte ein convulsivisches Gelächter, das durch den ganzen Saal lief und alle Anwesenden ohne Ausnahme ansteckte. Die beiden Tauben allein stimmten nicht mit ein. Der Richter, immer erbitterter, glaubte im nämlichen Tone fortfahren zu müssen, in der Hoffnung, dadurch dem Angeklagten einen heilsamen Schrecken, und den Zuhörern den nöthigen Respekt einzuflößen.

»Du heilloser und verkehrter Bursche!« redete er den Delinquenten an, »Du erlaubst Dir ein solches Benehmen gegen den Auditor des Chatelet! Weißt Du, daß ich Florian Barbedienne heiße und Stellvertreter des Herrn Prevot bin?«

In diesem Augenblicke trat der Prevot, Robert d’Estouteville, in eigener Person in den Saal, wodurch die Rede seines Auditors unterbrochen wurde. Meister Florian stürmte ihm sogleich entgegen und redete ihn mit den Worten an: »Gnädiger Herr, ich bitte um exemplarische Bestrafung des hier gegenwärtigen Angeklagten, wegen groben Mangels an Achtung vor der Justiz.«

Der Prevot runzelte die Stirne und warf einen so gebietenden und bezeichnenden Blick auf den Stummen, daß dessen Aufmerksamkeit erregt wurde.

Hierauf richtete der Prevot, mit Strenge in Blick und Ton, bie Frage an ihn: »Was hast Du denn begangen, Du Schuft, daß Du hier bist?«

Der arme Teufel, in der Meinung, daß der Prevot seinen Namen wissen wolle, brach sein gewöhnliches Stillschweigen und antwortete mit seinem rauhen Kehllaute: »Quasimodo.«

Die Antwort paßte so wenig auf die Frage, daß das tolle Gelächter von neuem begann. Der Prevot wurde roth und blau vor Zorn und schrie: »Willst Du auch mit mir Deinen Spaß treiben, Du Hund?«

»Glöckner an der Liebfrauenkirche,« antwortete Quasimodo, in der Meinung, daß der Richter wissen wolle, wer er sei.

»Glöckner!« wiederholte der Prevot zornig. »Ich werde auf Deinem Buckel durch alle Straßen von Paris läuten lassen! Hörst Du, Schuft?«

»Wenn Ihr mein Alter wissen»wollt,« sagte Quasimodo, »ich werde, glaube ich, auf den Sanct Martinstag zwanzig Jahre alt.«

Das war allzuviel für die Geduld des Prevot: »Sergenten,« rief er vor Zorn außer sich, »führt mir diese Bestie nach dem Driller auf dem Grèveplatz, dreht ihn eine Stunde lang und haut ihm die Haut voll!«

Der Gerichtschreiber brachte dieses Urtheil alsogleich zu Papier.

»Beim Bauche des Pabsts!« rief der Mühlenhans aus seiner Ecke, »der ist wohl gerichtet.«

Der Gerichtschreiber reichte dem Prevot das Urtheil dar; dieser setzte seinen Namen bei und entfernte sich dann, um seine Runde durch die Gerichtssäle der Hauptstadt fortzusetzen. Johannes Frollo und Robin Poussepain lachten in’s Fäustchen. Quasimodo, der von dem ganzen Vorgang nichts verstand, schien verwundert, aber ziemlich gleichgültig. Inzwischen, als Meister Florian das Urtheil durchlas, um es auch zu unterzeichnen, näherte sich der Gerichtschreiber, der Mitleid mit dem armen Teufel hatte, seinem Ohre und sagte: »Dieser Mensch ist taub.«

Der Gerichtschreiber hoffte, daß die Beiden gemeinschaftliche Gebrechlichkeit Meister Florian zu Gunsten des Verurtheilten stimmen würde. Aber einmal wollte Meister Florian nicht taub scheinen, und dann war sein Gehör so hart, daß er nicht ein Wort von dem hörte, was der Gerichtschreiber zu ihm gesagt hatte. Er stellte sich jedoch, als ob er ihn vollkommen verstanden hätte, und rief: »Ah! Ah! Das ist ein Anderes; das wußte ich nicht. Eine Stunde Pranger mehr in diesem Falle.«

Er unterzeichnete das also verschärfte Urtheil.

XVI.

Wir führen den Leser auf den Grèveplatz zurück, den wir gestern mit Peter Gringoire verlassen haben, um der Esmeralda zu folgen.

Es ist zehn Uhr Morgens, Alles umher deutet auf das gestern gefeierte Fest. Das Pflaster ist mit Bändern, Federn, Lumpen und abgeträufeltem Wachs bedeckt. Haufen müßiger Leute lümmeln da und dort herum. In den verschiedenen Gruppen wird das gestrige Fest besprochen. Die flandrischen Gesandten, Jakob Coppenole, der Kardinal von Bourbon und der Narrenpabst sind in Aller Munde.

Jetzt erscheinen vier Stadtsergenten zu Pferd und stellen sich auf den vier Seiten des Drillers auf. Ein Haufe Neugieriger sammelt sich, in der Hoffnung einer kleinen Exekution, alsbald um sie.

Dem Driller gegenüber steht der Rolandsthurm. In dem untersten Stocke desselben befindet sich eine kleine Zelle, die durch eine enge, mit zwei Eisenstäben vergitterte Oeffnung mit dem Platze communicirt. Diese Zelle hatte vor 300 Jahren Madame Rolande vom Rolandsthurm in ihrem eigenen Hause bauen lassen, um darin ihren Vater, der im heiligen Lande geblieben war, lebenslänglich zu betrauern. Sie schloß sich in der engen, düstern Zelle ein, ließ die Thüre hinter sich vermauern, behielt von ihrem Palaste nichts, als diese finstere Wohnung, und verschenkte ihre ganze Habe Gott und den Armen. In dieser Zelle brachte die trauernde Dame zwanzig Jahre zu, betete Tag und Nacht für die Seele ihres Vaters, schlief in einem schwarzen Sacke auf dem bloßen Boden, ohne auch nur einen Stein zum Kopfkissen zu haben, und lebte bloß von dem Brod und Wasser, die das Mitleid der Vorübergehenden durch die Oeffnung in die Zelle schob. Bei ihrem Tode, ehe sie von einem Grabe in das andere ging, vermachte sie auf ewige Zeiten ihre Zelle an betrübte Frauen, die viel für sich oder Andere zu beten hatten, und sich aus großem Schmerz oder großer Buße lebendig begraben wollten. Seit dem Tode der ersten Klausnerin war die Zelle selten ein oder zwei Jahre leer geblieben. Viele Frauen beweinten darin lebenslänglich ihre Verwandten, ihre Liebhaber, ihre Vergehungen. Die Bosheit der Pariser, die sich in Alles mischt, behauptete, daß man wenige Wittwen darin gesehen habe. Ueber der Oeffnung, die als Fenster diente,stand in lateinischer Schrift mit großen Buchstaben:

Tu, Ora!

Das Volk, diese Überschrift auf seine Weise deutend, nannte die Zelle: Trou-aux-Rats, oder das Rattenloch.

XVII.

Zu der Zeit, wo diese Geschichte, vorging, war die Zelle im Rolandsthurm besetzt. Wenn der geneigte Leser wissen will von wem, so darf er nur die Unterhaltung der drei Gevatterinnen anhören, die zu dieser Stunde längs des Flusses, vom Chatelet gegen den Grèveplatz heraufkamen. Zwei dieser Frauen waren, nach ihrem Anzuge zu urtheilen, gute Pariser Bürgersweiber; die Dritte schien, ihrer Kleidung nach, vom Lande zu sein. Die Letztere führte einen derben Jungen von etwa sechs Jahren an ihrer Hand, der einen großen Fladen in der seinigen hatte. Er betrachtete ihn von Zeit zu Zeit mit zärtlichen Blicken; ein sehr wichtiger Beweggrund schien ihn abzuhalten, das Stück Kuchen anzubeißen.

»Sputen wir uns, Frau Mahiette,« sagte die Jüngste zu der Frau, die ihrem Anzug nach aus der Provinz war »Ich fürchte, wir werden zu spät kommen, denn man sagte mir im Chatelet, daß man ihn sogleich auf den Driller führen werde.«

»Bah, Frau Oudarde Musnier,« erwiederte die andere Pariserin, »er bleibt ja zwei Stunden auf dem Driller. Wir haben alle Zeit. Habt Ihr auch schon drillen sehen, meine liebe Mahiette?«

»Ja,« antwortete die Frau aus der Provinz, »zu Rheims.«

»Bah! Was will das heißen, Euer Driller zu Rheims! Ein ärmlicher Käfig, wo man nur Bauern herumdreht! Das ist etwas Rechtes!«

»Nur Bauern! Auf dem Tuchmarkte zu Rheims!« erwiederte Mahiette etwas gekränkt. »Wir haben schon recht ordentliche Verbrecher gehabt, die Vater und Mutter getödtet hatten. Bauern! Wofür haltet Ihr uns, Gervaise?«

Die Frau aus der Provinz war im Begriff, für die Ehrenrettung ihres Drillers in Eifer zu gerathen, als die gutmüthige, dicke Frau Oudarde Musnier zu rechter Zeit der Unterhaltung eine andere Wendung gab.

»Ei, Frau Mahiette, was sagt Ihr denn auch von unseren flandrischen Gesandten? Habt Ihr auch so schöne Gesandte zu Rheims?«

»Ich muß selbst gestehen,« versetzte Mahiette, »daß man nur zu Paris solche Flamänder sehen kann.«

»Habt Ihr auch den großen flandrischen Gesandten gesehen, der ein Strumpfweber ist?« fragte Oudarde.

»Ja,« sagte Mahiette, »er sieht aus wie ein Saturn.«

»Und was sie für schöne Pferde haben!« sprach Oudarde.

»Oh,« entgegnete Mahiette, »das ist nichts gegen die Pferde des Königs und der Prinzen, die ich vor achtzehn Jahren bei der Krönung zu Rheims gesehen habe.«

»Das mag sein,« antwortete Oudarde, »aber darum bleiben die Pferde der flämischen Gesandten doch schön; und gestern haben sie bei dem Herrn Prevot auf dem Rathhause ein prächtiges Nachtessen gehalten, und man hat ihnen süßen Wein, Gewürz und andere Seltenheiten vorgesetzt.«

»Was sagt Ihr da, Frau Nachbarin!« schrie Gervaise.

»Bei dem Herrn Kardinal Bourbon haben die Flamänder gespeist!«

»Nein, bei dem Herrn Prevot!«

»Ja, bei dem Herrn Kardinal Bourbon!«

»So gewiß auf dem Rathhause,« erwiederte Oudarde mit Bitterkeit, »als der Doktor Scourable eine lateinische Anrede an sie gehalten hat, die ihnen viel Vergnügen machte, und mein Mann, der geschworener Buchhändler der Universität ist, hat es mir selbst gesagt.«

»So gewiß im Palaste Bourbon,« entgegnete Gervaise nicht minder lebhaft, »als ich Alles weiß und aufzählen könnte, was sie gegessen und getrunken haben; und mein Mann hat es mir selbst gesagt, und hat die flämischen Gesandten mit denen des Kaisers von Trapezunt verglichen, die unter dem letzten König aus Mesopotamien nach Paris gekommen sind und goldene Ohrenringe getragen haben.«

Der wichtige Streit, ob die flandrischen Gesandten bei dem Prevot der Stadt Paris oder dem Kardinal Bourbon gespeist hätten, dauerte noch eine Zeitlang zwischen den beiden Frauen fort und wurde zuletzt so hitzig, daß er vielleicht in Thätlichkeiten übergegangen wäre,wenn ihn nicht Frau Mahiette durch den plötzlichen Ausruf unterbrochen hätte: »Was gibt es denn dort unten auf der Brücke? Es stehen viele Leute herum und sehen Etwas zu.«

»Wahrhaftig,« sagte Gervaise, »ich höre ein Tambourin; es wird wohl die kleine Smeralda sein, die mit ihrer Ziege Mummereien macht. Geschwind, Mahiette! In Paris gibt es immer Etwas zu sehen, gestern die flandrischen Gesandten, heute die Zigeunerin.«

»Die Zigeunerin!« rief Mahiette aus, indem sie zurückfuhr und ihren Knaben fester am Arme faßte, »Da soll mich Gott behüten! Sie würde mir mein Kind stehlen. Komm, Eustach!«

Mit diesen Worten lief sie davon, bis sie die Brücke weit hinter sich hatte. Ihre Gefährtinnen würden sie nicht eingeholt haben, wenn nicht der Knabe, den sie nach sich schleifte, gefallen wäre.

»Diese Zigeunerin Euch Euer Kind stehlen?« sagte Gervaise, »das ist sonderbar von Euch.«

Mahiette schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Es ist doch sonderbar,« bemerkte Oudarde, »daß die Büßerin im Rolandsthurm die nämliche Meinung von den Zigeunerinnen hat.«

»Wer ist denn diese Büßerin?« fragte Mahiette.

»Nun, die Schwester Gudula.«

»Wer ist die Schwester Gudula?«

»Man sieht wohl, daß Ihr aus Rheims seid. Es ist die Klausnerin im Rattenloch.«

»Wie,« fragte Mahiette, »das arme Weib, der wir diesen Fladen bringen?«

»Die Nämliche. Wenn wir auf den Grèveplatz kommen, könnt Ihr sie unter der Oeffnung des Rolandsthurmes sehen. Sie hat die nämliche Meinung von diesen ägyptischen Landstreichern, wie Ihr, und verabscheut sie. Aber warum rennt denn Ihr so davon bei ihrem bloßen Anblick?«

»Oh!« sagte Mahiette, und faßte den dicken Kopf ihres Knaben in beide Hände, »ich möchte nicht erleben, was der armen Paquette Chantefleurie begegnet ist.«

»Ei!« fiel Gervaise neugierig ein, »erzählt uns doch diese Geschichte.«

»Recht gerne, und es wundert mich nur, daß man in Paris nichts davon weiß. Ihr müßt also wissen, daß Paquette Chantefleurie ein schönes Mädchen von achtzehn Jahren war, als ich auch achtzehn Jahre alt war, und das sind jetzt achtzehn Jahre, denn ich bin sechsunddreißig alt, und wenn die Paquette jetzt keinen Mann und keinen Knaben hat, so ist sie selbst schuld daran. Aber daß ich weiter spreche: diese Paquette Chantefleurie war also die Tochter Guybertaut’s, Minstrels der Schifferzunft zu Rheims, und dieser Guybertaut war der Nämliche, der vor König Karl VII. bei seiner Krönung, als er die Vesle herabfuhr, von Sillery bis Maison gespielt hat, und die Jungfrau von Orleans war auch in dem Schiff. Der alte Vater starb, als Paquette noch ein kleines Kind war. Die Mutter war ein gutes Weib, von der Paquette nichts lernte, als ein wenig Goldsticken, wobei sie groß wurde und arm blieb. Im Jahre 1461, als man unsern König Ludwig XI., den Gott erhalten wolle, zu Rheims krönte, war Paquette so schön und munter, daß Jedermann sie Chantefleurie nannte. Sie hatte schöne Zähne und lachte gerne, um sie sehen zu lassen. Ein Mädchen, das gerne lacht, ist auf dem Wege zum Weinen, und schöne Zähne haben oft schöne Augen verderbt. Paquette und ihre Mutter mußten ihr Leben sauer verdienen, denn der Ertrag ihrer Goldstickerei gewährte ihnen nur dürftigen Unterhalt. In dem kalten Winter von 1461 hatten die beiden armen Geschöpfe kein Scheitchen Holz und es war sehr kalt; aber die Chantefleurie blühte wie eine Rose. An einem Sonntag kam sie mit einem goldenen Kreuz am Halse in die Kirche, und da merkte gleich Jedermann, daß es mit ihr nicht richtig war; sie zählte erst vierzehn Jahre! Da kann man sehen! Zuerst war es der junge Viscomte Cormontreuil; dann Henri de Priancourt, Stallmeister des Königs; dann immer weiter herab, Chiard de Beaulion, Wappenherold; dann Guery Aubergeon, Vorschneider des Königs; dann Macé de Frepus, Barbier des Dauphin, und so fort immer weiter herab, bis sie endlich Jedermanns wurde, und, was will man sagen, es verging kein Jahr, so machte sie das Bett des Königs der Hurenjäger. Ehe ein Jahr verging! Arme Paquette Chantefleurie!« Die gute Mahiette seufzte und trocknete sich die Augen.

»Das ist keine besondere Geschichte, und so hat man schon viele erlebt,« sagte Gervaise, »und es kommt ja nichts von Zigeunerinnen und Kindern darin vor.«

»Nur Geduld!« fuhr Mahiette fort, »es wird schon Alles kommen, und was das Kind betrifft, so wurde im Jahre 1466, an St. Paul wird es sechzehn Jahre, Paquette Chantefleurie von einem Mädchen entbunden. Die Unglückliche! Sie war vor Freuden außer sich, denn sie wünschte sich schon lange ein Kind. Ihre Mutter war todt, und Paquette hatte Niemand mehr auf der Welt, den sie liebte, Niemand, von dem sie geliebt wurde. Sie war ein armes Geschöpf, einsam und verlassen in diesem Leben; man zeigte mit Fingern auf sie, schrie ihr in den Straßen nach, die Gassenjungen zischten sie aus, und die Büttel schlugen sie. Sie hatte gealtert, und das ausgelassene Leben trug ihr jetzt nicht weiter mehr ein, als ehedem die Goldstickerei; der Winter wurde ihr wieder hart, das Holz in ihrem Holzstalle war so klein beisammen, als das Brod in ihrer Tischlade. Sie konnte nicht mehr arbeiten, denn als sie wollüstig wurde, war sie faul geworden, und sie hatte viel mehr zu leiden, denn, indem sie faul geworden, war sie wollüstig geworden. So erklärt es wenigstens unser Herr Pfarrer von Saint-Remy, warum diese Weiber mehr Hunger haben und empfindlicher für die Kälte sind, als andere arme Weiber, wenn sie alt werden.«

»Wohl,« sagte Gervaise, »aber die Zigeuner?«

»Geduld doch, Gervaise!« mahnte die wohlbeleibte geduldige Oudarde. »Man muß auch Etwas für das Ende aufheben und nicht gleich Alles im Anfang sagen. Fahrt nur fort, Mahiette! Die arme Chantefleurie dauert mich!«

Mahiette fuhr fort: »Paquette war also sehr unglücklich und sehr betrübt, und ihre Wangen waren von Thränen gefurcht. In ihrer Schmach und Verlassenheit schien es ihr, daß sie weniger schmachvoll und weniger verlassen sein würde, wenn es irgend ein Wesen auf der Welt gäbe, das sie liebte und von dem sie geliebt würde. Dieses Wesen konnte nur ein Kind sein, denn nur ein Kind war unschuldig genug, sie zu lieben. Sie hatte den letzten Versuch mit einem Diebe gemacht, aber sie mußte bald zu ihrer Kränkung erfahren, daß auch dieser Dieb sie verachte. Weiber solchen Schlages müssen einen Liebhaber oder ein Kind haben, ihr Herz auszufüllen, sonst sind sie sehr unglücklich. Da nun Paquette keinen Liebhaber mehr haben konnte, so wendete sie ihre ganze Sehnsucht einem Kinde zu, und betete zu Gott Tag und Nacht darum; denn sie war trotz ihres lasterhaften Wandels eine gute Christin geblieben. Deßhalb erbarmte sich der Herr ihrer und schenkte ihr ein kleines Kind. Ihre Freude war unbegrenzt; sie übergoß das kleine Geschöpf mit einem Strom von Thränen, Liebkosungen und Küssen. Sie säugte ihr Kind selbst, machte ihm aus ihrer Bettdecke, der einzigen, welche sie besaß, Wickelbänder, und fühlte weder Kälte noch Hunger mehr. Sie wurde wieder schön, denn aus einem alten Mädchen wird eine junge Mutter. Das alte Unwesen fing wieder an, man besuchte Chantefleurie, und von dem Sündengeld, das sie verdiente, schaffte sie nichts Anderes an, als Spielsachen, Zuckerwerk und Putz für ihr Kind; an sich dachte sie nicht, und kaufte sich nicht einmal eine Bettdecke. Die kleine Agnes war aber auch ein schönes Kind und herausgeputzt wie eine Prinzessin. Unter Anderem hatte sie niedliche Schühchen, wie der König selbst sie nicht schöner haben kann. Ihre Mutter hatte sie selbst gestickt und allen Fleiß darauf verwendet. Es waren die niedlichsten rosenfarb’nen Schuhe, die man nur sehen kann, nicht größer als mein Daumen. Die junge Agnes hatte aber nicht nur einen niedlichen Fuß, sondern war auch das niedlichste Geschöpf von der Welt. Ihre Mutter wurde täglich toller in sie vernarrt, und konnte nicht aufhören, mit ihr zu spielen, zu kosen, sie aus- und anzukleiden, sie zu bewundern und zu loben.«

»Die Geschichte ist recht artig,« sagte Gervaise, »aber wo bleiben die Zigeuner?« »Jetzt kommt es,« erwiederte Mahiette. »Eines Tages kamen Reiter von ganz besonderer Art zu Rheims an. Es waren Landstreicher und Diebe, die unter der Anführung ihres Herzogs und ihrer Grafen das Land durchzogen. Sie waren schwarzbraun, hatten krause Haare und trugen silberne Ringe in den Ohren. Die Weiber waren noch häßlicher als die Männer. Ihr Gesicht war noch schwärzer, und ihre gezöpften Haare hingen wie Roßschweife über den Rücken hinab. Ihre Kinder, wenn sie ihnen zwischen den Beinen herumkrochen, glichen wahren Affen. Und kurz, es war ein Heidenvolk. Sie kamen schnurgerade aus Aegypten und waren über Polen nach Rheims gekommen. Der Pabst hatte sie Beichte gehört und ihnen zur Buße auferlegt, sieben Jahre lang hinter einander durch die Welt zu ziehen, ohne je in ein Bett zu liegen. Sie nannten sich auch büßende Brüder und stanken. Es scheint, daß sie ehedem Sarazenen waren und an Jupiter glaubten. Sie kamen nach Rheims und sagten: Gut Glück im Namen des Königs von Algier und des Kaisers von Deutschland! Da man sie nicht in die Stadt ließ, lagerten sie sich vor dem Thor, und ganz Rheims strömte hinaus, sie zu sehen. Sie blickten einem in die Hand und wahrsagten wunderbare Dinge. Sie waren im Stande gewesen, dem Erzverräther Judas zu prophezeien, daß er Pabst werden würde.

Es gingen auch allerlei Gerüchte über diese Leute, daß sie Kinder gestohlen und Menschenfleisch gegessen hätten. Ueberhaupt war es ein Diebsgesindel; aber das ist wahr, daß sie Einem Sachen sagten, die einen Kardinal in Verwunderung setzen könnten. Die Mütter brüsteten sich mit ihren Kindern, seit die Zigeunerinnen aus ihrer Hand alle Arten von Wundern entziffert hatten, die auf heidnisch und griechisch hineingeschrieben waren. Die Eine bekam einen Kaiser, die Zweite einen Pabst, die Dritte einen Kapitän zum Mann. Die arme Chantefleurie war auch neugierig; sie hätte gerne gewußt, ob ihre schöne, kleine Agnes nicht eines Tages Kaiserin von Armenien oder etwas dieser Art werden würde. Sie trug daher das Kind zu den Zigeunern; diese bewunderten, liebkosten, küßten es mit ihren schwarzen Lippen und hatten besonders eine große Freude an seinen kleinen Händchen und Füßchen. Das Kind fürchtete sich vor den schwarzen Gesichtern und weinte. Um so vergnügter war die Mutter über das Glück, das die Zigeunerinnen ihrer Agnes prophezeit hatten: sie sollte eine der schönsten und tugendhaftesten Königinnen werden. Sie kehrte ganz stolz mit der kleinen Königin in ihre Hütte zurück. Am anderen Morgen schlich sie sich, als das Kind noch schlief, zu einer Nachbarin, um ihr zu erzählen, daß eines Tages ihre Agnes von dem König von England und dem Erzherzog von Aethiopien bei Tafel bedient werden solle. Als sie zurückkam, fand sie die Thüre offen und das Kind war verschwunden; einer seiner kleinen niedlichen Schuhe lag auf dem Boden. Sie stürzte aus dem Hause, rannte mit dem Kopf gegen die Mauer und jammerte laut: Mein Kind! Mein Kind! Wer hat mir mein Kind geraubt? Die Straße war einsam, ihre Hütte stand vereinzelt; Niemand konnte ihr etwas sagen. Sie durchrannte alle Straßen der Stadt, außer sich, rasend, schrecklich, wie ein Raubthier, das seine Jungen verloren hat. Keuchend, athemlos, ein irres Feuer in den Augen, das ihre Thränen trocknete, furchtbar anzuschauen, klopfte sie an Thüren und Fenster und forderte ihr Kind. Sie hielt die Vorübergehenden an und schrie: Mein Kind! Mein Kind! Mein schönes kleines Kind! Wer mir mein Kind wiedergibt, dessen Magd will ich sein, die Magd seines Hundes, er soll mir das Herz aus dem Leibe reißen! Sie begegnete dem Pfarrer von Saint-Remy und rief ihm zu: Bist Du ein Mann Gottes, so gib mir mein Kind wieder und ich will Dein Feld mit meinen Nägeln pflügen! Es war ein herzzerreißender Anblick, und ich habe einen sehr hartherzigen Mann gesehen, Meister Pouce la Cabre, den Prokurator, der weinte. Ach! die arme Mutter! Am Abend kehrte sie in ihre verlassene Hütte zurück. Während ihrer Abwesenheit hatte eine Nachbarin zwei Zigeunerweiber hineinschleichen sehen, die einen Pack unter dem Arme trugen; sie kamen bald wieder heraus, schlossen die Thüre und flohen eilends davon. Später hatte man in dem Haufe eine Art Kindergeschrei gehört. Freudigen Muthes eilte die Mutter die Treppe hinauf, stürzte in das Zimmer und fand, statt ihres niedlichen Kindes, ein kleines, häßliches, hinkendes, buckliges und einäugiges Ungeheuer, das auf dem Boden kroch. Sie wendete ihre Augen mit Abscheu weg und rief: Oh, die garstigen Zauberer haben mein armes Kind in diese scheußliche Mißgeburt verwandelt! Man mußte den kleinen Zwerg schnell aus ihren Augen entfernen, um sie nicht wahnwitzig zu machen. Das Kind war ein junges Ungeheuer, das der Teufel mit einer Zigeunerin erzeugt hatte; es war etwa vier Jahre alt und stammelte eine Sprache, die keine menschliche war. Die Chantefleurie hatte sich auf den kleinen Schuh geworfen, das Einzige, was ihr von ihrem Kinde übrig geblieben war. Sie blieb lange unbeweglich, stumm, ohne einen Lebenshauch, so daß man sie für todt hielt. Plötzlich zitterte sie am ganzen Körper, bedeckte ihre Reliquie mit wüthenden Küssen und brach in einen Strom von Thränen aus. Oh, mein Kind! Mein schönes kleines Kind! Wo bist du? rief sie jammervoll aus und rang die Hände. Wir weinten Alle mit, und ich muß noch weinen, wenn ich nur daran denke. Plötzlich erhob sie sich und lief durch die Gassen der Stadt unter dem gräßlichen Geschrei: In das Lager der Aegypter! In das Lager der Aegypter! Laßt uns die Zauberer verbrennen! Die Zigeuner waren über alle Berge, es war stockfinstere Nacht und man konnte sie nicht verfolgen. Am andern Tage fand man, zwei Stunden von Rheims, in einem Gehölze die Reste eines großen Feuers, einige Bänder, die der kleinen Agnes gehört hatten, Blutstropfen und Bollen von einem Bock. Es war gerade eine Samstagnacht gewesen, und man zweifelte nicht, daß die Zigeuner hier ihren Sabbath gehalten und in Gesellschaft des Teufels das Kind verzehrt hätten. Als die Chantefleurie diese furchtbaren Dinge erfuhr, weinte sie nicht; sie bewegte ihre Lippen zum Sprechen, vermochte es aber nicht. Am anderen Morgen waren ihre Haare grau, den Tag darauf war sie verschwunden.«

»Das ist in der That eine schreckliche Geschichte,« sagte Oudarde, »die einen Burgunder zum Weinen bringen könnte.«

»Ich wundere mich nicht mehr,« fügte Gervaise hinzu, »daß Euch vor den Zigeunern so bange ist!«

»Und Ihr habt wohl gethan,« fügte Oudarde hinzu, »mit Eurem Eustach davonzulaufen, denn diese Zigeuner da kommen auch aus Polen.«

»Nicht doch,« verbesserte Gervaise, »aus Spanien und Catalonien kommen sie.«

»Catalonien! Das ist auch möglich, und so viel ist gewiß, daß sie Zigeuner sind.«

»Und ihre Zähne sind scharf genug, um kleine Kinder zu fressen; und ich würde mich nicht wundern, wenn auch die kleine Smeralda ein wenig davon äße, denn sie ist doch auch nur eine Zigeunerin, und ihre weiße Ziege macht Kunststücke, die mir nicht recht gefallen wollen.«

Inzwischen war Mahiette stillschweigend vorwärts geschritten, gleichsam noch vertieft in die unglückliche Geschichte, welche sie so eben erzählt hatte.

»Und,« fragte Gervaise, »hat man nicht erfahren, was aus der Chantefleurie geworden ist?«

»Man hat sie niemals wieder gesehen. Die Einen sagten, sie sei zu diesem, die Andern, sie sei zu jenem Thore hinausgegangen; Andere wollten sie barfuß auf der Straße nach Paris erblickt haben; ein Bauer hatte auf seinem Acker ihr goldenes Kreuz gefunden, und man glaubte allgemein, daß sie sich in’s Wasser gestürzt habe.«

»Arme Chantefleurie!« seufzte Oudarde.

»Und was ist aus dem kleinen Schuh geworden?« fragte Gervaise.

»Er ist mit der Mutter verschwunden,« antwortete Mahiette.

»Armer kleiner Schuh!« seufzte Oudarde.

»Und die Mißgeburt?« fragte die neugierige Gervaise.

»Welche Mißgeburt?«

»Das kleine ägyptische Ungeheuer, das die Zauberinnen gegen die Tochter der Chantefleurie ausgewechselt hatten. Was ist damit geschehen? Ich hoffe doch, daß man es in’s Wasser getragen hat.«

»Nein,« erwiederte Mahiette.

»Wie! also verbrannt? Das ist besser, denn so gehört es einem Zauberkinde.«

»Weder das Eine noch das Andere. Der Erzbischof hat sich des Kindes angenommen, hat es mit Weihwasser besprengt und ihm den Teufel aus dem Leibe getrieben. Hierauf hat man es nach Paris geschickt und in der Liebfrauenkirche als Findelkind ausgesetzt.«

Inzwischen waren die drei Gevatterinnen, in ihr Gespräch vertieft, auf dem Grèveplatz angekommen. Sie waren an dem Rattenloch am Rolandsthurm vorübergegangen, ohne darauf Acht zu haben, und hatten sich mechanisch dem Driller zugewendet, um den sich eine immer größere Menschenmenge sammelte. Wahrscheinlich würden sie in ihrer Schaulust das Rattenloch und dessen Bewohnerin vergessen haben, wenn nicht der Knabe, als ob sein Instinkt ihm sagte, daß jetzt das Rattenloch hinter ihnen sei, gefragt hätte: »Mutter, darf ich den Fladen jetzt essen?«

Diese Frage weckte die Aufmerksamkeit der Mutter und sie rief: »Zeigt mir doch Euer Rattenloch, daß ich der Büßerin ihren Fladen bringe!«

»Sogleich, denn das ist ein Liebeswerk,« sagte die gutmüthige Oudarde.

Als die drei Frauen am Rolandsthurm ankamen, sagte Oudarde zu den beiden andern: »Wir dürfen nicht alle drei zumal durch die Oeffnung sehen, um die Klausnerin nicht zu erschrecken. Ich will meinen Kopf allein hineinstecken, sie kennt mich ein wenig.«

Sie ging allein an die Lucke. In dem Augenblicke, da sie hineinsah, drückte sich ein tiefes Gefühl des Mitleids auf ihrem Gesichte aus, ihr Auge wurde feucht und ihr Mund verzog sich zum Weinen. Gleich darauf legte sie den Finger auf den Mund und gab Mahiette ein Zeichen, sich zu nähern. Mahiette näherte sich bedrückt, schweigend und auf den Zehenspitzen, wie man an das Bett eines Sterbenden tritt.

Es war ein jämmerlicher Anblick, der sich den beiden Weibern darbot, als sie durch die vergitterte Oeffnung in das Rattenloch blickten. Die Zelle war klein und eng. Auf dem steinernen Boden saß ein Weib, den Kopf bis auf die Kniee herabhängend, die Arme über die Brust gekreuzt. Sie war in einen braunen, faltenreichen Sack gewickelt, ihre langen, grauen Haare hingen bis aus die Füße herab, und beim ersten Anblick stellte sie eine seltsame Form dar, auf dem dunkeln Hintergrunde der Zelle in zwei Hälften getheilt, eine Art schwärzlichen Dreiangels, den der Strahl des Tages, der durch die Lücke fiel, in zwei Schattirungen theilte, die eine nächtlich, die andere beleuchtet. Es war eines jener Gespenster, halb Schatten, halb Licht, wie sie Einem im Traume erscheinen, bleich, unbeweglich, düster, auf einem Grabe sitzend oder durch das Gitterfenster eines Kerkers schauend. Es war kein Weib, es war kein Mann, es war kein lebendes Wesen, keine bestimmte Form: es war eine Figur, ein Traumgesicht, das in der Wirklichkeit und Phantasie zusammenfließt, wie Licht und Schatten. Kaum ließ sich unter seinen bis aus die Erde herabhängenden Haaren ein abgemagertes und ernstes Profil erkennen; kaum erblickte man auf dem kalten Stein die Spitze eines nackten Fußes, der unter dem Sacke hervorsah. Man schauderte bei dem Anblicke eines Wesens, dessen menschliche Form von seinem Trauergewande ganz bedeckt und unkenntlich war.

Diese Figur schien ein Marmorbild, ohne Bewegung, ohne Gedanken, ohne Athem. Im strengsten Wintermonat unter diesem leichten Leinwandsack, halbnackt auf dem steinernen Boden, im Schatten eines Kerkers, durch dessen schiefe Oeffnung nie ein Strahl der Sonne gelangte und nur der Wind einzog, schien sie nicht zu leiden, nicht einmal zu fühlen. Man konnte glauben, sie sei mit dem Kerker Stein, mit dem Winter Eis geworden. Ihre Hände waren gefaltet, ihre Augen fest auf einen Punkt gerichtet. Beim ersten Blicke hielt man sie für ein Gespenst, beim zweiten für eine Bildsäule.

Von Zeit zu Zeit öffneten sich ihre blauen Lippen zu einem Hauche und zitterten, aber so todtenähnlich und mechanisch, wie Blätter, die der Wind bewegt.

Aus ihren stieren Augen leuchtete ein Blick, unaussprechlich, tiefsinnig, düster, unverrückt auf einen Winkel der Zelle gerichtet, den man von Außen nicht sehen konnte, ein Blick, der alle finstern Gedanken dieser verlassenen Seele an irgend einen geheimnißvollen Gegenstand zu knüpfen schien.

Dies war das Geschöpf, das von seiner Wohnung den Namen Klausnerin, und von seiner Kleidung den Namen büßende Sackträgerin erhalten hatte.

Die drei Weiber blickten durch die Oeffnung. Ihre Köpfe nahmen dem Kerker seine schwache Beleuchtung vollends, ohne daß die Unglückliche darauf zu achten schien.

»Wir wollen sie nicht stören,« sagte Oudarde leise, »sie ist in ihrer Verzückung, sie betet.«

Inzwischen hatte Mahiette mit stets wachsender Angst das eingefallene Gesicht der Büßerin betrachtet; ihre Augen füllten sich mit Thränen und sie sagte halblaut für sich: »Das wäre doch sehr sonderbar!«

Sie steckte den Kopf zwischen dem äußeren Gitter der Oeffnung durch und konnte so bis in den Winkel sehen, auf den die Blicke der Unglücklichen unverändert gerichtet waren.

Als sie den Kopf aus der Oeffnung zurückzog, schwamm ihr Gesicht in Thränen. »Wie nennt Ihr diese Frau?« fragte sie.

Oudarde antwortete: »Wir nennen sie Schwester Gudula.«

»Und ich,« sagte Mahiette, »ich nenne sie Paquette Chantefleurie.“

Sie legte den Finger auf den Mund und gab der verwunderten Oudarde ein Zeichen, ihren Kopf durch das Gitter zu stecken und hineinzublicken.

Oudarde sah in dem Winkel, auf welchen der düstere Blick der Klausnerin unausgesetzt gerichtet war, einen kleinen Schuh von rosenfarbenem Sammt mit Gold und Silber gestickt.

Nach ihr blickte Gervaise hinein, und nachdem alle drei die unglückliche Mutter betrachtet hatten, fingen sie bitterlich an zu weinen.

Die Klausnerin ließ sich weder durch ihre Blicke, noch durch ihre Thränen stören, sondern blieb unbeweglich. Mit gefalteten Händen, mit stummen Lippen heftete sie ihre stieren Blicke auf den kleinen Schuh, und wer die Geschichte dieses Schuhes wußte, dem mußte bei ihrem Anblicke das Herz brechen.

Die drei Frauen hatten noch kein Wort gesprochen; sie wagten nicht einmal halblaut zu reden. Dieser große, stumme Schmerz, der die ganze Welt um sich her vergaß und den innern Blick nur auf einen einzigen Gegenstand richtete, erschien ihnen als etwas Heiliges. Sie waren im Begriffe niederzuknieen und zu beten.

Endlich versuchte Gervaise, welche die Neugierigste und mithin am wenigsten Gefühlvolle war, die Klausnerin zum Reden zu bringen: »Schwester! Schwester Gudula!«

Sie wiederholte diesen Ruf dreimal, jedesmal mit verstärkter Stimme. Die Klausnerin rührte sich nicht, nicht ein Wort, nicht ein Blick, nicht ein Seufzer, kein Zeichen des Lebens!

Jetzt rief Oudarde mit sanfter und einschmeichelnder Stimme: »Schwester! Schwester Sanct-Gudula!«

Gleiches Schweigen, gleiche Unbeweglichkeit.

»Ein sonderbares Weib!« sagte Gervaise. »Ich glaube, man könnte einen Mörser losbrennen, ohne daß sie es hörte.«

»Sie ist vielleicht taub,« seufzte Oudarde.

»Vielleicht blind,« sagte Gervaise.

»Vielleicht todt,« fügte Mahiette hinzu.

Wenn auch die Seele diesen unthätigen, halberstorbenen, gelähmten Körper noch nicht verlassen hatte, so hatte sie sich doch in solche Tiefen zurückgezogen, wohin die Wahrnehmungen der äußeren Organe nicht mehr gelangten.

»Wenn wir den Fladen unter der Oeffnung zurücklassen,« sagte Oudarde, »so wird ihn irgend ein Junge wegnehmen. Wie machen wir es, um sie aufzuwecken?«

Der kleine Eustach, dessen Aufmerksamkeit bis jetzt ein Hund, der an einen kleinen Wagen gespannt war, auf sich gezogen hatte, wurde jetzt plötzlich gewahr, daß die drei Frauen durch die Oeffnung im Thurme Etwas betrachteten; die Neugierde trieb ihn, er stieg auf einen Stein, richtete sich auf seinen Zehen in die Höhe, brachte sein dickes, rothes Gesicht unter die Lücke und schrie: »Mutter, laß mich auch sehen!«

Bei dieser Kinderstimme, klar, frisch, wohltönend, schauderte die Klausnerin zusammen. Sie wendete das Haupt, ihre langen, abgemagerten Hände strichen ihre Haare von der Stirne zurück, und sie heftete auf das Kind einen Blick, erstaunt, bitter, verzweifelnd. Dieser Blick war nur ein einziger Blitz.

»O mein Heiland!« schrie sie plötzlich auf und verbarg ihr Gesicht zwischen den Knieen, »zeige mir wenigstens nicht die Kinder Anderer!«

»Guten Morgen, Madame!« sagte der Knabe ernsthaft.

Diese Erschütterung hatte die Klausnerin aufgeweckt und zu sich gebracht. Ein langer Schauder durchlief ihren Körper vom Kopf bis zu den Füßen. Sie klapperte mit den Zähnen, hob sich halb in die Höhe, drückte die Ellenbogen gegen die Hüften, nahm ihre nackten Füße in die Hand, um sie zu wärmen, und sagte: »Oh, wie kalt!«

»Armes Weib,« sagte Oudarde gerührt, »wollt Ihr ein wenig Feuer?«

Sie schüttelte das Haupt zum Zeichen der Verneinung.

»Oder,« fuhr Oudarde fort, indem sie ihr eine Flasche darreichte, »etwas süßen Wein? der wird Euch wärmen. Trinkt!«

Die Klausnerin schüttelte abermals das Haupt, blickte sie starr an und antwortete: »Wasser.«

»Nicht doch, Schwester, das ist kein Getränk in dieser Jahreszeit. Trinkt ein wenig Wein und eßt diesen Maiskuchen, den wir für Euch gebacken haben.«

Die Klausnerin schob den Fladen zurück, den ihr Mahiette darreichte, und sagte: »Schwarzes Brod.«

»Hier,« fiel Gervaise ein, indem sie ihren wollenen Mantel abnahm, »hier habt Ihr einen wärmeren Rock, als der Eurige ist.«

Sie wies ihn von sich und sagte: »Einen Sack.«

»Aber,« fuhr die gutmüthige Oudarde fort, »Ihr müßt doch auch ein wenig gewahr werden, daß gestern ein Fest war.«

»Ich habe es wahrgenommen,« sagte die Klausnerin, »denn seit zwei Tagen fehlt mir das Wasser in meinem Kruge.«

Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Es ist Festtag, man vergißt mich. Man thut wohl daran. Warum sollte auch die Welt an mich denken, die nicht an sie denkt? Ich bin ein erloschenes Feuer, eine kalte Asche.«

Wie ermattet von so vielen Worten, ließ die Klausnerin ihr Haupt wieder auf den Schooß sinken. Die einfache und gutmüthige Oudarde, die aus ihren letzten Worten schloß, daß sie sich abermals über die Kälte beklage, antwortete: »So wollt Ihr doch ein wenig Feuer?«

»Feuer!« sagte die Büßerin mit seltsamem Ausdruck, »und wollt Ihr auch meiner armen Kleinen, die seit fünfzehn Jahren unter der Erde liegt, ein wenig Feuer machen?«

Alle ihre Glieder zitterten, ihre Augen strahlten, sie hatte sich auf die Kniee emporgehoben, streckte plötzlich ihren abgemagerten Arm gegen den Knaben aus, der sie verwundert betrachtete, und schrie: »Tragt dieses Kind fort! Die Zigeunerin kommt!«

Sie sank wie leblos auf das Pflaster zurück und ihr Kopf schlug mit großem Geräusch auf dem Stein an. Die drei Frauen glaubten sie todt. Bald aber erhob sie sich wieder und kroch auf Händen und Füßen dem Winkel der Zelle zu, wo der kleine Schuh war. Voll Entsetzen zogen die Weiber ihre Köpfe zurück, sie wagten nicht hinzublicken. Jetzt hörten sie tausend Küsse und tausend Seufzer, vermischt mit herzzerreißendem Geschrei und dumpfen Stößen, wie wenn man mit dem Kopfe gegen eine Mauer rennt. Ein furchtbarer Stoß erfolgte, auf ihn tiefe Stille.

»Sie hat sich wohl getödtet,« sagte Gervaise und blickte durch die Oeffnung. »Schwester Gudula!«

»Schwester Gudula!« wiederholte Oudarde.

»O mein Gott, sie rührt sich nicht mehr!« rief Gervaise; »sie ist todt. Gudula! Gudula!«

Mahiette, der bisher das Mitleid die Stimme erstickt hatte, neigte sich plötzlich gegen die Oeffnung und rief: »Paquette! Paquette Chantefleurie!«

Dieser Ruf erschütterte den ganzen Körper der Klausnerin, sie sprang auf ihren nackten Füßen in die Höhe, war mit einem Satz an der Oeffnung und blickte mit so flammenden Augen heraus, daß die drei Weiber erschrocken zurückbebten. »Oh! Oh!« schrie sie mit wahnwitzigem Gelächter, »die Aegypterin ruft mich!«

In diesem Augenblicke ging am Driller eine Scene vor, welche den düsteren Blick der Klausnerin fesselte. Entsetzen und Abscheu auf ihrem fahlen, finsteren Gesichte, streckte sie ihre beiden abgemagerten Arme durch das Gitter heraus und rief mit einer Stimme, die dem Geschrei einer unheilverkündenden Nachteule glich: »Bist du wieder da, Tochter aus Aegyptenland! Rufst du mich wieder, du Kinderdiebin! Verflucht, verflucht, verflucht seist du in Ewigkeit!«

XII.

Nur ein einziges menschliches Wesen gab es, das Quasimodo von seinem Menschenhasse ausnahm, und das er ebenso sehr, vielleicht noch mehr, liebte als seine Kirche: es war Claude Frollo.

Das war ganz einfach. Claude Frollo hatte ihn an Kindesstatt angenommen, ernährt, erzogen. Als er noch ein kleiner Knabe war, suchte er Schutz zwischen den Beinen des Priesters, wenn ihn bellende Hunde und böse Jungen verfolgten. Claude Frollo hatte ihn Reden, Lesen und Schreiben gelehrt. Claude Frollo hatte ihn zum Glöckner der Liebfrauenkirche gemacht.

In der That war auch die Dankbarkeit des Zwergs gegen seinen Wohlthäter leidenschaftlich und grenzenlos, und obgleich sein Adoptivvater fast immer ein ernstes und strenges Gesicht zeigte, obgleich die Worte, die er sprach, gewöhnlich kurz, hart und gebietend waren, so hatte sich doch die Dankbarkeit des Zwergs noch nie einen einzigen Augenblick verläugnet. Der Archidiakonus besaß in Quasimodo den unterwürfigsten Sklaven, den gelehrigsten Diener, den wachsamsten Bullenbeißer. Bald nachdem der arme Glöckner taub geworden war, hatte sich zwischen ihm und Claude Frollo eine geheimnißvolle, nur ihnen verständliche Zeichensprache gebildet, auf solche Weise war der Archidiakonus das einzige menschliche Wesen, mit dem Quasimodo in Verbindung geblieben war.

Nichts glich der Herrschaft des Archidiakonus über den Glöckner, nichts der Ergebenheit des Glöckners gegen den Archidiakonus. Nur eines Zeichens seiner Hand hätte es bedurft, so würde sich der Zwerg von der Höhe des höchsten Thurmes der Liebfrauenkirche herabgestürzt haben. Die physische Kraft, die sich bei Quasimodo so außerordentlich entwickelt hatte, diente mit blindem Gehorsam dem überlegenen Geiste des Priesters.

Im Jahre 1482 war Quastmodo etwa 20, Claude Frollo ungefähr 36 Jahre alt.

Claude Frollo war nicht mehr der einfache Schüler im Collegium Torchi, der zärtliche Beschützer eines Säuglings, der junge, träumerische Philosoph, der Vieles wußte und dem das Meiste verborgen war. Er war jetzt ein ernster, strenger, finsterer Priester, Archidiakonus und zweiter Amtsgehülfe des Bischofs. Die Chorknaben zitterten vor ihm, wenn er unter dem Bogengewölbe der Liebfrauenkirche einherschritt, langsam, majestätisch, gedankenvoll, mit gekreuzten Armen, das Haupt so tief auf die Brust herabbeugend, daß man nichts vom Gesichte, und nur seinen kahlen Kopf sah.

Claude Frollo hatte übrigens immer noch den Wissenschaften und der Erziehung seines jungen Bruders, diesen beiden Aufgaben seines Lebens, obgelegen. Die Zeit aber hatte einige Bitterkeit in diesen süßen Kelch gegossen. Der kleine Johannes Frollo, von der Mühle, auf der er als Kind lebte, der Mühlenhans genannt, hatte die Richtung nicht angenommen, die ihm sein älterer Bruder geben wollte. Claude Frollo wünschte einen frommen, gesetzten, lernbegierigen Zögling. Der widerspenstige Geist des Knaben aber wendete sich der Faulheit, Unwissenheit und Liederlichkeit zu. Es war ein wahrhaftiger kleiner Teufel, höchst ungezogen, worüber der Archidiakonus die Stirne runzelte, aber äußerst spaßhaft und possirlich, worüber selbst der ernste Priester öfters lachen mußte. Claude Frollo hatte seinen Bruder in das nämliche Collegium von Torchi geschickt, in welchem er selbst seine Jugendjahre im Studium und in der Furcht Gottes zugebracht hatte, und es schmerzte ihn, daß dieses Heiligthum der Wissenschaften, sonst so geehrt durch den Namen Frollo, nun Schande an ihm erleben sollte. Er hielt von Zeit zu Zeit dem kleinen Johannes sehr lange und ernste Strafpredigten, die dieser anhörte und vergaß. Aus Verdruß darüber warf sich der Archidiakonus mit um so größerem Eifer in die Arme der Wissenschaften, wurde immer gelehrter und mithin immer strenger als Priester und immer düsterer als Mensch. Nachdem er den gewöhnlichen Kreis der Gelehrsamkeit erschöpft hatte, warf sich sein unersättlicher Heißhunger auf die geheimen Wissenschaften, auf Astrologie und Alchymie. Der Aberglaube der Menge stempelte ihn zum Hexenmeister, obgleich die Nekromantie und selbst die weiseste und unschuldigste Magie keinen heftigeren Gegner, keinen unerbittlicheren Richter hatte. Gleichwohl beharrte das Publikum, wie es immer pflegt, auf seinem einmal gefaßten Vorurtheil. Quasimodo war ein Teufel aus der Hölle, Claude Frollo ein Hexenmeister. Augenscheinlich war der mißgestaltete Glöckner nichts anderes, als der höllische Diener des Archidiakonus, der ihm eine festgesetzte Zeit lang zu Willen war, hernach aber seine arme Seele an Zahlungsstatt hinnahm und zur Hölle führte.

Der Archidiakonus und sein Glöckner waren wenig beliebt beim Volke. Wenn sie zusammen ausgingen, was öfters geschah, mußten sie manches höhnische Wort anhören und manchen Schabernack erdulden. Bald setzte ein Gassenjunge Haut und Knochen an das unaussprechliche Vergnügen, dem buckligen Zwerg eine Nadel in seinen Höcker zu stoßen; bald streifte ein freches Weibsbild an der schwarzen Kutte des Priesters an und lachte ihm unter die Nase; bald rief ihnen ein Trupp alter Weiber zu: »Da gehen ihrer Zwei, der Eine ist an der Seele verwahrlost, wie der Andere am Körper!« Bald schrie sie ein Haufen Studenten an: »Eia! Eia! Claudius cum claudo!«

XIII.

Der wissenschaftliche Ruf des gelehrten Archidiakonus hatte sich weit verbreitet. Er zog ihm einen Besuch zu, den er lange im Andenken behielt.

Eines Abends hatte er sich in seine Zelle im Kloster unserer lieben Frau zurückgezogen. Diese Zelle bot, außer einigen gläsernen Flaschen, die mit feinem Pulver gefüllt waren, nichts Seltsames oder Geheimnißvolles dar. Hie und da erblickte man auf der Mauer einige Inschriften, aber es waren bloß wissenschaftliche oder fromme Denksprüche aus guten Schriftstellern. Der Archidiakonus saß beim Scheine einer kupfernen Lampe an einem mit Manuscripten bedeckten Tische. Sein Ellenbogen war auf ein altes Manuscript gestützt und er blätterte mit tiefem Nachdenken in einem gedruckten Folioband, der einzigen Druckschrift, welche sich in der Zelle befand.

Ein Klopfen an der Thüre störte ihn in seinen Träumen. »Wer ist da?« schrie er mit der Stimme eines bellenden Hundes, den man von seinem Knochen aufschreckt.

»Euer Freund Jacques Coictier,« antwortete man von außen.

Der Archidiakonus öffnete die Thüre, und der Leibarzt des Königs, ein Mann von etlich und fünfzig Jahren, trat herein; ihm folgte ein Zweiter.

»Helfe mir Gott, meine Herren,« begrüßte sie der Archidiakonus, »wenn ich in so später Stunde noch einen so ehrenvollen Besuch erwartete.«

»Es ist nie zu spät, einen so großen Gelehrten, wie Don Claude Frollo ist, zu besuchen.«

Hierauf begann zwischen dem Arzt und dem Priester ein Austausch höflicher Redensarten, wie sie damals als Eingang jeder Unterhaltung zwischen Gelehrten üblich waren. Der Archidiakonus wünschte dem gelehrten Arzt Glück zu den vielen zeitlichen Vortheilen, welche ihm, in seiner so beneideten Laufbahn, jede Krankheit des Königs eingebracht hatte.

»In der That,« sprach er mit feiner Ironie, »ich habe mit Vergnügen erfahren, daß Euer Neffe Bischof von Amiens geworden ist.«

»Durch die Gnade und Barmherzigkeit Gottes,« antwortete der Leibarzt mit Salbung: »ich danke Euch, Herr Archidiakonus.«

»Wie weit ist Euer neues Haus gediehen? Es ist ein wahres Louvre.«

»Lieber Heiland, dieses verdammte Gebäude kostet mich mein Schmalz; je größer das Haus wird, um so leerer wird mein Beutel.«

»Oh,« erwiederte der Priester, »der ist noch lange nicht erschöpft.«

Auf solche Weise dauerte dieses Zwiegespräch noch eine Zeit lang fort, und der Archidiakonus entwickelte darin jenen sardonischen Ton, dessen sich überlegene Geister gegenüber der zeitlichen Wohlfahrt eines Alltagsmenschen zu bedienen pflegen. Der Arzt nahm den Spott des Priesters als baare Münze hin.

»Wie geht es denn,« fragte Claude Frollo weiter, »mit Eurem königlichen Kranken?«

»Wenn er nur seinen Arzt besser bezahlte,« erwiederte der Doktor mit einem Seitenblick auf seinen Gefährten.

»Meint Ihr, Gevatter?« sagte dieser.

Dies war das erste Wort, das der Unbekannte hören ließ.

»Don Claude,« sprach der Leibarzt, »ich habe Euch einen Collegen gebracht, den Euer wissenschaftlicher Ruf begierig machte, Euch zu sehen.«

»Der Herr ist ein Gelehrter?« fragte der Archidiakonus und warf einen durchdringenden Blick auf ihn. Er begegnete unter den Augbraunen des Unbekannten einem nicht minder stechenden Auge, als das seinige war. So weit sich beim düsteren Scheine der Lampe erkennen ließ, war der Fremde etwa 60 Jahre alt, von mittlerer Größe und kränklichem, leidendem Aussehen. Der Unbekannte nahm nun selbst das Wort und sagte in ernstem Tone zu dem Archidiakonus: »Ehrwürdiger Meister, Euer Ruf ist bis zu mir gedrungen und ich bin gekommen, Euch um Rath zu fragen. Ich bin nur ein armer Edelmann aus der Provinz, der nicht werth ist, die Schuhriemen der Gelehrten aufzulösen. Ich heiße Gevatter Tourangeau.«

Sonderbarer Name für einen Edelmann! dachte der Priester. Inzwischen fühlte er, daß ihm ein Wesen von ernstem und kräftigem Gepräge gegenüberstehe. Der Instinkt seiner hohen Einsicht ließ ihn errathen, daß unter der Pelzmütze, die der Gevatter Tourangeau trug, ein nicht minder fähiger Kopf stecke. Das spöttische Lächeln, das die Gegenwart des Doktors Jacques Coictier bei ihm erweckt hatte, verschwand allmählig von seinen Lippen. Ernst und schweigend, die Stirne in der flachen Hand, setzte er sich in seinen großen Lehnstuhl. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens gab er den beiden Gästen ein Zeichen, sich zu setzen.

»Ihr kommt, mich um Rath zu fragen, Meister,« sagte er zu dem Unbekannten, »und worüber?«

»Ehrwürdiger,« erwiederte der Gevatter Tourangeau, »ich bin krank, sehr krank. Man hält Euch für einen großen Aesculap, und ich möchte ein medizinisches Gutachten von Euch haben.«

»Arzneikunde!« sagte der Archidiakonus und zuckte die Achseln. »Gevatter Tourangeau, drehet Euern Kopf, und Ihr werdet meine Antwort dort auf die Mauer geschrieben finden.«

Der Gevatter Tourangeau wendete das Haupt seitwärts und las folgende in die Mauer gegrabene Inschrift:

Die Arzneiwissenschaft ist die Tochter der Träume.

Der Leibarzt hatte schon die Frage seines Begleiters mit Verdruß vernommen; diese Antwort des Archidiakonus mußte seinen Aerger noch erhöhen. Er neigte sich zum Ohre des Gevatters Tourangeau und flüsterte ihm leise zu: »Ich hatte Euch ja vorhergesagt, daß er ein Narr sei.«

»Dieser Narr könnte sehr leicht Recht haben, Doktor Jakob,« erwiederte der Gevatter Tourangeau mit einem bitteren Lächeln.

»Wie es Euch gefällig ist,« versetzte der Leibarzt trocken.

Hierauf wendete er sich an den Archidiakonus mit den Worten: »Ihr habt ja gleich ausgefegt, Don Claude Frollo, und seid mit Hippokrates eben so bald fertig, als ein Affe mit einer Haselnuß. Die Arzneiwissenschaft ein Traum! Wißt Ihr, daß Euch die Apotheker steinigen werden, wenn sie das erfahren. Ihr läugnet also den Einfluß der Tränke auf das Blut, und des Balsams auf das Fleisch! Ihr läugnet jene ewige Pharmacie der Blumen und der Metalle, welche man die Welt nennt, ausdrücklich geschaffen für jenen ewigen Kranken, der Mensch heißt.«

»Ich läugne,« erwiederte kalt der Archidiakonus, »weder die Pharmacie noch die Kranken, sondern den Arzt.«

»Es ist also nicht wahr,« fuhr der Doktor heftig fort, »daß die Gicht eine innerliche Flechte ist, daß man eine Schußwunde durch Auflegung einer gebratenen Maus heilt, daß ein in alte Adern eingegossenes junges Blut den Körper verjüngt? es ist nicht wahr, daß zweimal zwei vier macht, und daß der Emprostathonos auf den Opistathonos folgt?«

»Es gibt gewisse Dinge, über die ich nach meiner Weise denke,« antwortete trocken der Priester.

Der Leibarzt wurde roth und blaß vor Zorn.

»Ruhig, Doktor Jakob, der Archidiakonus ist unser Freund,« sagte der Gevatter Tourangeau.

»Ein Narr ist er!« murmelte der Arzt zwischen den Zähnen.

»Ihr seid mir da gewaltig in die Quere gekommen, Meister Claude,« fuhr der Gevatter Tourangeau fort. »Ich hatte zwei Konsultationen an Euch zu stellen: die eine meine Gesundheit, die andere meine Constellation betreffend.«

»Lieber Herr,« versetzte der Priester, »wenn das Eure Absicht war, so hättet Ihr Euch die Mühe ersparen können, meine Schneckentreppe heraufzusteigen. Ich glaube weder an Arzneiwissenschaft, noch an die Astrologie.«

»Wirklich!« rief der Gevatter Tourangeau verwundert aus.

Der Leibarzt zwang sich zu einem gewaltsamen Lachen.

»Jetzt werdet Ihr einsehen,« sagte er leise zu seinem Begleiter, »daß er ein Narr ist, er glaubt nicht an Astrologie!«

»Wie kann man sich nur einbilden,« fuhr Claude Frollo fort, »daß jeder Strahl eines Sterns ein Faden sei, der sich an das Haupt eines Menschen knüpft?«

»Und woran glaubt Ihr denn?« rief der Gevatter Tourangeau aus.

Der Priester blieb einen Augenblick unschlüssig, dann sprach er mit einem düstern Lächeln: »Credo in Deum.«

»Dominum nostrum,« fügte der Gevatter Tourangeau hinzu, indem er das Zeichen des Kreuzes machte.

»Amen!« sagte der Arzt.

»Ehrwürdiger Meister,« fuhr der Gevatter fort, »es freut mich von Herzen, Euch so gläubigen Gemüths zu finden; aber seid Ihr denn bis zu diesem Punkte der Gelehrsamkeit gelangt, daß Ihr nicht mehr an die Wissenschaft glaubt?«

»Nein,« erwiederte der Priester, und ein Strahl der Begeisterung glänzte in seinem Auge, »nein, ich läugne die Wissenschaft nicht. Ich bin nicht durch die zahllosen Verzweiflungen der dunkeln Höhle des Wissens gegangen, ohne in weiter Ferne ein Licht, eine Flamme, den Wiederschein der leuchtenden Werkstätte zu erblicken, wo die nie rastende Weisheit Gott in seinem Mittelpunkt aufgefunden hat.«

»Welche Wissenschaft aber,« fragte der Gevatter Tourangeau, »haltet Ihr für wahr und sicher?«

»Die Alchymie.«

»Die Alchymie,« schrie der Leibarzt, »hat allerdings ihren guten Grund, aber warum verleumdet Ihr die Medicin und die Astrologie?«

»Ein Nichts, Eure Wissenschaft des Menschen! Ein Nichts, Eure Wissenschaft des Himmels!« sprach der Priester mit gebietendem Wesen.

»Das heißt auf das hohe Roß steigen, Epidaurus und Chaldäa zumal!« sagte der Doktor spottend.

»Hört, Meister Jakob, und ärgert Euch nicht. Welche Wahrheit habt Ihr, ich will nicht sagen, aus der Medicin, denn das wäre allzu lächerlich, sondern aus der Astrologie gezogen? Führt mir die Eigenschaften des senkrechten Bustrophedon, den Erfund der Zahl Ziruph und der Zahl Zephirod an.«

»Wollt Ihr,« versetzte der Doktor, »die sympathetische Kraft der Clavicula läugnen und bestreiten, daß von ihr die Cabalistik ausgeht?«

»Ihr irrt Euch, Meister Jakob, keine Eurer Formen führt zur Wirklichkeit. Die Alchymie hingegen hat ihre unbestrittenen Entdeckungen. Wollt Ihr Ergebnisse läugnen, wie die folgenden sind: das während tausend Jahren unter der Erde eingeschlossene Eis verwandelt sich in Felskrystall. Das Blei braucht bloß vier Perioden, je von zweihundert Jahren, um allmählig von Blei in rothen Arsenik, von rothem Arsenik in Kupfer, von Kupfer in Silber überzugehen. Sind das nicht lauter Thatsachen? Hingegen an die Clavicula, an die Linie der Hand und an die Gestirne zu glauben, ist eben so lächerlich, als wenn man glaubt, daß sich ein Vogel in einen Maulwurf verwandle.«

»Ich habe die Hermetik studirt,« schrie der Arzt, »und ich bekräftige…«

Der streitfertige Priester ließ ihn nicht zum Worte kommen: »Und ich, ich habe die Medicin, die Astrologie und die Hermetik studirt. Hier allein ist Wahrheit, hier allein ist Licht!«

Mit diesen Worten nahm er die oben erwähnte, gläserne, mit einem feinen Pulver gefüllte Flasche zur Hand und fuhr begeistert fort: »Hippokrates ein Traum; Urania ein Traum; Hermes ein Gedanke! Das Gold ist die Sonne. Goldmachen heißt Gott sein. Dies ist die einzige Wissenschaft. Ich bin in die Tiefen der Medicin und Astrologie gedrungen, ein Nichts, ein Nichts sage ich Euch! Der menschliche Körper: Dunkelheit! Die Gestirne: Dunkelheit!«

Der Priester fiel in der Stellung eines Begeisterten auf feinen Lehnstuhl zurück. Der Gevatter Tourangeau betrachtete ihn stillschweigend. Der Leibarzt murmelte für sich: Ein Narr! Ein Narr!

»Und,« fragte plötzlich der Gevatter Tourangeau, »seid Ihr zum Ziele gelangt, habt Ihr Gold gemacht?«

»Hätte ich Gold gemacht,« sagte langsam und feierlich der Priester, »so würde der König von Frankreich Claudius heißen, nicht Ludwig.«

Gevatter Tourangeau runzelte die Stirne.

»Was sage ich da?« unterbrach sich der Priester selbst mit einem Lächeln der Verachtung. »Was sollte mir dieser Thron von Frankreich, wenn ich das morgenländische Kaiserreich wieder errichten könnte!«

»Das lasse ich gelten!« sagte der Gevatter.

»Ach, der arme Narr,« murmelte der Arzt.

Der Priester fuhr in tiefen Gedanken und, als ob er allein wäre, zu sich selbst sprechend, fort: »Aber nein, ich krieche noch, Kniee und Gesicht sind mir wund von den Steinen der unterirdischen Bahnen. Zur Betrachtung möchte ich gelangen, und es leuchtet mir nur ein ferner Schimmer! Ich bin ein armer Schüler in der großen Wissenschaft!«

»Und wenn Ihr zur Betrachtung gelangt sein werdet,« fragte der Gevatter, »könnt Ihr dann Gold machen?«

»Wer mag daran zweifeln?«

»In diesem Falle, unsere liebe Frau weiß, wie nöthig ich das Geld brauche, möchte ich wohl in Euren Büchern lesen lernen. Sagt mir doch, ehrwürdiger Meister, ist Eure Wissenschaft unserer lieben Frau nicht mißfällig oder feindlich?«

»Bin ich nicht Erzpriester der Kirche unserer lieben Frau!« versetzte der Archidiakonus mit ruhiger Würde.

»Das ist wahr, mein Meister. Nun, wenn es Euch gefällt, so weiht mich in die Anfangsgründe Eurer Wissenschaft ein.«

Der Archidiakonus nahm die majestätische und priesterliche Haltung eines Samuel an: »Alter Mann, es erfordert mehr Jahre, als Dir noch übrig sind, in die Tiefen der verborgenen Weisheit zu dringen. Dein Haupt ist schon sehr grau! Man betritt ihr Heiligthum mit schwarzen Haaren, und mit schneeweißem Haupte geht man heraus. Treibt Dich aber unüberwindliche Lust, das Alphabet der Weisen zu entziffern, so will ich Dein Lehrer sein. Ich verlange nicht von Dir altem Manne, daß Du die Grabgewölbe der Pyramiden besuchst, noch den steinernen Thurm von Babel, noch den Marmortempel von Eklinga. Ich selbst habe weder die chaldäischen Mauern, noch Salomons Tempel gesehen. Wir müssen uns mit den Fragmenten des Buches von Hermes begnügen. Ich werde Dir die Bildsäule des heiligen Christoph, das Gleichnis vom Säemann, und das Symbolum der beiden Engel erklären, die am Eingang der heiligen Kapelle stehen, und deren einer seine Hand in einem Gefäß, der andere in einer Wolke hat…«

»Erras, amice Claudi!« fiel der Arzt triumphirend ein. »Das Symbol ist nicht die Zahl. Ihr nehmt Orpheus für Hermes.«

»Ihr selbst irrt,« erwiederte ernst der Priester, »Dädalus ist der Grundstein, Orpheus die Mauer, Hermes das Gebäude, das Ganze. Ihr könnt kommen, wann Ihr wollt,« fuhr er, zu dem Gevatter Tourangeau gewendet, fort, »ich werde Euch die Hieroglyphen am Hospital Saint-Gervais, an den Vorderseiten von Saint-Come, von Sainte-Genevieve, von Saint- Martin und Saint-Jacques kennen lehren …«

»Was sind denn das für Bücher?« unterbrach ihn der Gevatter Tourangeau, der ihn nicht zu verstehen schien, mit Ungeduld.

»Ich will Euch,« erwiederte der Priester, »ein solches Buch zeigen.«

Mit diesen Worten öffnete er das Fenster seiner Zelle und deutete mit dem Finger auf den ungeheuren Umriß der Liebfrauenkirche, die ihren weiten Schatten in die Nacht warf, und mit ihren beiden Thürmen als eine zweiköpfige Sphinx, mitten in der Stadt thronend, erschien.

Der Archidiakonus betrachtete eine Zeitlang stillschweigend das gigantische Gebäude, dann legte er mit einem Seufzer seine rechte Hand auf die Druckschrift, die offen auf dem Tische lag, streckte die linke gegen die Liebfrauenkirche aus und sagte traurig: »Diese Buchstaben werden diese Steine tödten!«

Der Arzt schlug schnell den Titel des Buches nach und rief! »Was ist denn das so Furchtbares: Glossa in epistolas D. Pauli, Norimbergiae, Antonius Koburger, 1474. Das ist ja von Peter Lombard und längst bekannt. Etwa weil es gedruckt ist?«

»Du hast es gesagt,« antwortete der in tiefes Nachdenken versunkene Priester. Dann fügte er in geheimnißvollem, prophetischem Tone hinzu: »Das Kleine wird das Große überwinden, ein Zahn wird Felsen und Mauern zermalmen. Der Ichneumon tödtet das Krokodil des Nils, der Schwertfisch den Riesen des Meeres, die Buchstaben der Druckschrift werden die Kirche tödten!«

Die Abendglocke des Klosters fing an zu läuten, als der Arzt seinen ewigen Refrain wiederholte: »Er ist ein Narr!«

Diesmal antwortete ihm der Gevatter Tourangeau: »Ich glaube es selbst!«

Die Stunde hatte geschlagen, wo kein Fremder im Kloster bleiben durfte. Die beiden Gäste beurlaubten sich.

»Meister,« sagte der Gevatter Tourangeau, »ich liebe die Gelehrten und großen Geister, und Euch insbesondere. Kommt morgen in den Palast von Tournelles und fragt nach dem Abt von St. Martin.«

Der Archidiakonus begriff endlich mit Staunen, wer der Gevatter Tourangeau sei, und erinnerte sich der Stelle aus Saint-Martin de Tours: Abbas beati Martini, scilicet Rex Franciae, est canonicus de consuetudine et habet parvam praebendam quam habet sanctus Venantius et debet sedere in sede thesaurarii.

Von dieser Zeit an hatte, wie man versichert, der Archidiakonus häufige Zusammenkünfte mit Ludwig XI., und sein Einfluß überwog fast den von Oliver, dem Teufel, und Jacques Coictier, dem Leibarzt.

XIV.

Der Buchstabe tödtet den Stein! Dieser Gedanke hat zwei Seiten. Er deutet den Schrecken des Priesterthums vor der Buchdruckerkunst an, den Abscheu des finstern Priesters vor Gutenbergs leuchtender Presse. Die Kanzel und das Manuscript, das gesprochene und das geschriebene Wort, kommen in Aufruhr gegen das gedruckte Wort. Das ist die Bestürzung und der Neid eines Sperlings, der den Engel Legion seine sechs Millionen Flügel entfalten sieht. Es ist der Schrei eines Propheten, der bereits die entfesselte Menschheit rührig und stürmisch erblickt, der voraussieht, wie der Verstand den Glauben untergraben, die Welt das römische Joch abschütteln wird. Prognostikon eines Philosophen, der den durch die Presse beflügelten menschlichen Gedanken dem dumpfen Kerker der Theokratie entfliehen sieht! Eine Macht muß der andern weichen: Die Presse tödtet die Kirche.

Dies war der erste und in die Augen fallendste Gedanke: es gibt aber noch einen zweiten, der nicht bloß dem Priester, sondern dem Philosophen und dem Künstler angehört. Es war die Voraussicht, daß der menschliche Gedanke, indem er die Form wechselte, auch die Art des Ausdrucks wechseln würde, daß die Hauptidee jeder Generation nicht mehr mit dem nämlichen Stoff und in der nämlichen Form sich aufzeichnen, daß das steinerne Buch, das so fest und dauerhaft ist, dem papierenen Buche, das noch fester und dauerhafter ist, weichen werde. In dieser Beziehung hatten die prophetischen Worte des Archidiakonus den zweiten Sinn: daß eine Kunst eine andere Kunst stürzen, daß die Buchdruckerkunst die Baukunst tödten werde.

Seit dem Anfang aller Dinge bis zum fünfzehnten Jahrhundert des christlichen Zeitraums einschließlich, ist die Baukunst das große Buch der Menschheit, der Hauptausdruck des Menschen in den verschiedenen Zuständen seiner Entwicklung, sei es als Kraft, sei es als Einsicht.

Nachdem das Gedächtniß der ersten Geschlechter sich überladen fühlte, nachdem von Geschlecht zu Geschlecht die Tradition so schwerfällig und verwirrt wurde, daß das nackte und flüchtige Wort sie nicht mehr getreu überliefern konnte, schrieb man die Geschichte in den mütterlichen Boden der Erde auf die sichtbarste, dauerhafteste und natürlichste Weise: man besiegelte jede Tradition durch ein Monument.

Die ersten Monumente waren einzelne Felsstücke, welche, wie Moses sagt, das Eisen nicht berührt hatte. Die Architektur begann wie jede Schrift. Sie war zuerst Alphabet. Man pflanzte einen Stein aufrecht in die Erde, das war ein Buchstabe, und jeder Buchstabe war eine Hieroglyphe, und auf jeder Hieroglyphe ruhte eine Gruppe Ideen, wie das Kapitäl auf einer Colonne. So machten es die ersten Geschlechter, überall, zu gleicher Zeit, auf dem ganzen Umkreis der Erde. Man findet den aufgerichteten Stein der Celten im asiatischen Sibirien und in den Pampas von Südamerika.

Später machte man Worte. Man baute Stein auf Stein, man verband diese Silben von Granit unter einander, das Wort versuchte einige Combinationen. Der Dolmen und der Cromlech der Celten, der etruscische Tumulus, der hebräische Galgal sind Worte. Einige, besonders der Tumulus, sind Eigennamen. Manchmal sogar, wenn man viele Steine und einen weiten Umkreis hatte, schrieb man eine Phrase. Der ungeheure Steinhaufe von Carnac ist schon eine ganze Formel.

Endlich schrieb man Bücher. Die Traditionen hatten Symbole erzeugt, unter denen sie verschwanden, wie der Stamm des Baumes unter seinen Blättern. Alle diese Symbole, welchen die Menschheit Glauben schenkte, häuften sich an, vermehrten, verwickelten sich je mehr und mehr. Die ersten Monumente hatten nicht mehr Raum genug, sie zu fassen. Kaum drückten diese Denkmäler noch die ursprüngliche Tradition aus, gleich ihnen einfach, nackt und erst der Erde entwachsen. Das Symbol fühlte das Bedürfniß, sich auf dem Gebäude bemerklich zu machen. Jetzt entwickelte sich die Architektur mit dem menschlichen Gedanken: sie wurde ein tausendköpfiger und tausendarmiger Riese und befestigte diese schwankende Symbolik unter einer ewigen, sichtbaren, fühlbaren Form. Wahrend Dädalus, der die Kraft ist, maß, während Orpheus, der die Einsicht ist, sang, sah man den Pfeiler, der ein Buchstabe, die Arkade, die eine Silbe, die Pyramide, die ein Wort ist, durch das doppelte Gesetz der Poesie und der Geometrie in Bewegung gesetzt, sich ordnen, zusammenfügen, tief in der Erde wurzeln, hoch in die Wolken steigen, bis unter der Eingebung der Hauptidee einer Epoche jene wunderbaren Bücher geschrieben waren, die zugleich wunderbare Gebäude sind: die Pagode von Eklinga, der Rhamseion von Aegypten, Salomo’s Tempel.

Die Uridee, das Wort, war nicht bloß im Innern aller dieser Gebäude, sondern auch in der Form. Salomo’s Tempel war nicht bloß der Einband des heiligen Buches, sondern das heilige Buch selbst. Auf jedem seiner concentrischen Umkreise konnten die Priester das vor Augen gelegte Wort lesen, und so folgten sie seinen Umwandlungen von Heiligthum zu Heiligthum bis in das Allerheiligste. Das Wort war im Innern des Gebäudes eingeschlossen, aber sein Bild war aus der Außenseite, wie das menschliche Gesicht auf dem Sarge einer Mumie.

Aber nicht allein die Form der Gebäude, sondern auch ihre Lage gab den Gedanken kund, den sie darstellten. Je nachdem das darzustellende Symbol heiter oder ernst war, krönte Griechenland seine Berge mit einem harmonisch in’s Auge fallenden Tempel, grub Indien die seinigen tief in die Erde ein und meißelte unter dem Boden jene ungestalten, von gigantischen steinernen Elephanten getragenen Pagoden.

So war, in den ersten sechstausend Jahren der Welt, seit der entferntesten Pagode Hindostans bis zur Kathedralkirche von Köln, die Architektur die große Schrift des menschlichen Geschlechts. Dies ist so wahr, daß nicht bloß jedes religiöse Symbol, sondern auch jeder menschliche Gedanke in diesem unermeßlichen Buche sein Blatt und sein Denkmal hat.

Jede Civilisation beginnt mit der Theokratie und endigt mit der Demokratie. Dieses Gesetz der Freiheit, das auf die Einheit folgt, ist in der Architektur verzeichnet. Die Baukunst vermag mehr, als bloß Tempel zu bauen, die priesterliche Mythe und Symbolik auszudrücken, die geheimnißvollen Gesetzestafeln ihren steinernen Blättern in Hieroglyphen einzuverleiben. In jeder menschlichen Gesellschaft tritt ein Augenblick ein, wo das geheiligte Symbol sich abnützt und durch den freien Gedanken verwischt wird, wo der Mensch sich der Macht des Priesters entzieht, wo die wuchernde Philosophie an der Religion nagt; in diesem Augenblicke könnte sich dann die Architektur nicht mehr dem neuen Zustande des menschlichen Geistes weihen, ihre Blätter blieben leer, ihr Werk wäre mangelhaft, ihr Buch unvollständig. Dem ist aber nicht so.

Das Mittelalter, in welchem wir klarer sehen, weil es uns näher liegt, mag uns zum Beispiel dienen. Während seiner ersten Periode, als die Theokratie ein neues Europa schuf, als der Vatikan über den Trümmern des heidnischen Roms die Elemente eines christlichen Roms um sich her sammelte, als das Christenthum aus den Trümmern der untergegangenen Civilisation eine neue hierarchische Welt aufbaute, deren Schlußstein das Priesterthum war, erstand auf den Ruinen der griechischen und römischen Baukunst jene geheimnißvolle römische Architektur, Schwester der theokatischen Gebäude Aegyptens und Indiens, unvertilgbares Emblem des reinen Katholicismus, unverwischbare Hieroglyphe der päbstlichen Einheit. Der Hauptgedanke jener Zeit ist in dem düstern römischen Styl verzeichnet. Man fühlt darin überall die unbegrenzte Gewalt, die Einheit, das Unergründliche, das Unbedingte, Gregor VII. Ueberall der Priester, nirgends der Mensch, überall die Kaste, nirgends das Volk!

Jetzt kommt die Zeit der Kreuzzüge. Sie ist eine große vollsthümliche Bewegung, und jede Bewegung, die sich über ganze Völker erstreckt, was auch ihre Ursache und ihr Zweck sein mag, entwickelt am letzten Ende den Geist der Freiheit. Ein neuer Zeitpunkt der Geschichte entwickelt sich. Wir treten in die stürmische Periode der Jacquerien und der Liguen ein. Die Macht wird erschüttert, die Einheit zersplittert. Die Feudalität will mit der Theokratie theilen; dann kommt das Volk und eignet sich den Löwenantheil zu. Quia nominor leo. Dem Priesterthum entsprießt das Adelthum, dem Adelthum das Bürgerthum. Europa’s Anblick hat sich geändert, mit ihm der Anblick der Architektur. Zugleich mit der Civilisation hat sie das Blatt gewendet, und der neue Geist der Zeit findet sie bereit, unter seiner Eingebung zu schreiben. Sie hat aus den Kreuzzügen das Bogengewölbe mitgebracht, die Völker, die Freiheit. Während Rom allmählig in sich zerfällt, geht die römische Architektur unter. Die Hieroglyphe verläßt die Kathedralen, um die Burgen des Adels mit prangenden Wappen auszumalen. Die Liebfrauenkirche selbst, dieses ehemals so dogmatische Gebäude, jetzt von der Bürgerschaft, von der Gemeinde, von der Freiheit eingenommen, entgeht der Gewalt des Priesters und fällt dem Künstler anheim. Der Künstler baut sie nach seiner Weise. Um das Mysterium, um die Mythe, um den Glauben ist es jetzt geschehen. Laune und Phantasie richten ihr Reich auf. Dem Priester gehört der Raum der Kirche und der Altar, dem Künstler die vier Mauern. Das Buch der Baukunst gehört nicht mehr dem Priesterthum, der Religion, dem römischen Stuhle an, sondern der Einbildungskraft, der Dichtkunst, dem Volke. Daher die reißenden und unzählbaren Umwandlungen jener nur 300 Jahre alten Architektur, die um so ausfallender sind nach der einer Stockung ähnlichen Unbeweglichkeit der römischen Baukunst, die sechs bis sieben Jahrhunderte zählt. Die Kunst schreitet mit Riesenschritten einher. Volkstümliches Genie und Originalität besorgen den Dienst, den sonst die Bischöfe thaten. Jedes vorübergehende Geschlecht beschreibt ein Blatt des neuen Buches, wischt auf den Giebeln der Kathedralen die alten römischen Hieroglyphen aus, und kaum erblickt man noch unter dem neuen Symbol hie und da die alte Glaubenslehre. Das volksthümliche Gewand läßt kaum errathen, daß hier die Gebeine der Religion begraben liegen. Kaum kann man sich einen Begriff von den Freiheiten machen, welche jetzt die Architekten gegen die Kirche selbst sich erlauben. Hier zügellose Haufen von Mönchen und Nonnen, schmählich zusammengekuppelt. Dort des Allvaters Noah erster Rausch und seine Folgen, weiter ein bacchischer Mönch mit Eselsohren und das Glas in der Hand, seiner christlichen Gemeinde unter die Nase lachend! In dieser Epoche bestand für den in Stein geschriebenen Buchstaben eine Freiheit, die der jetzigen Freiheit der Presse ganz vergleichbar ist. Es war die Freiheit der Architektur.

Diese Freiheit ging sehr weit. Bisweilen stellte ein Portal, eine Façade, eine ganze Kirche, einen symbolischen Sinn dar, der dem bestehenden Kultus ganz fremd, sogar feind war. Schon im dreizehnten Jahrhundert schrieb Wilhelm von Paris, im fünfzehnten Nicolaus Flamel solche aufrührerische Blätter in Stein. Sanct Jakob am Schlachthause war eine vollständige Oppositionskirche.

Der menschliche Gedanke hatte damals keine andere Freiheit als diese, und sprach sich sonst nirgends aus, als in jenen Büchern, die man Gebäude nannte. Wäre er auf Papier geschrieben gewesen, so würde ihn die Hand des Henkers auf öffentlichem Platze verbrannt haben. Da ihm nur der einzige Weg offen war, sich Luft zu machen, so betrat er ihn von allen Seiten. Daher jene unermeßliche Anzahl von Kathedralen in Europa, so groß, daß man es kaum glauben kann, selbst wenn man sie gezählt hat. Alle materiellen, alle intellektuellen Kräfte der Staatsgesellschaft kehrten sich dem nämlichen Punkte zu: der Architektur. Unter dem Vorwande, Gott Kirchen zu bauen, entwickelte sich die Kunst in erstaunlicher Weise.

Wer damals mit einem poetischen Geiste geboren war, wurde Architekt; das in den Massen zerstreute, auf allen Seiten von der Feudalität, wie von einer Testudo eherner Schilde, unterdrückte Genie entwickelte sich, da es keinen anderen Ausgang fand, in der Baukunst, und seine Iliaden nahmen die Form von Kathedralen an. Alle anderen Künste gehorchten und dienten der Baukunst. Die Architekten waren die Meister des großen Werkes. Der Architekt, der Dichter, der Meister, vereinte in seiner Person die Bildhauerei, die ihm seine Facaden meißelte, die Malerei, die ihm seine Gläser färbte, die Musik, die seine Glocken läutete und seinen Orgeln den Wind einhauchte. Selbst die arme, eigentlich sogenannte Poesie, die beharrlich in den Manuscripten vegetirte, mußte sich, um doch etwas zu bedeuten, unter die Architektur in poetischer oder prosaischer Form einreihen und ihre Denksprüche in Stein aushauen lassen. Die nämliche Rolle hatten des Aeschylus Tragödien in den priesterlichen Festen Griechenlands, die Genesis in Salomo’s Tempel gespielt.

Bis auf Gutenberg also war die Architektur die Hauptschrift, die allgemeine Schrift. Dieses steinerne Buch beginnt im fernen Morgenlande, zieht sich durch die griechische Welt hin, und das Mittelalter hat sein letztes Blatt geschrieben. Dieses Phänomen einer volksthümlichen Baukunst, welche auf die Architektur einer Kaste folgt, wie wir im Mittelalter sehen, ist übrigens nicht neu, und zeigt sich in den anderen großen Epochen der Geschichte mit einer den menschlichen Einsichten entsprechenden Bewegung. So in dem Orient, dieser Wiege der Urzeit, nach der hinduischen Architektur die phönizische Baukunst, diese reiche Mutter der arabischen Architektur; im Alterthum nach der ägyptischen Baukunst die griechische Architektur; in den neueren Zeiten nach der römischen Architektur die gothische Baukunst. In den drei älteren Schwestern, der hinduischen, ägyptischen und römischen Architektur, findet man das nämliche Symbol wieder: die Theokratie, die Einheit, die Kaste, das Dogma, die Mythe, Gott; in den drei jüngeren Schwestern, der phönizischen, griechischen und gothischen Baukunst: die Freiheit, das Volk, den Menschen.

Mag er sich Bramine, Magus oder Pabst nennen, so fühlt man in den hinduischen, ägyptischen und römischen Gebäuden immer den Priester, nichts als den Priester. Anders die volksthümlichen Architekturen: sie sind reicher und weniger heilig. In der phönizischen Baukunst fühlt man den Kaufmann, in der griechischen den Republikaner, in der gothischen den Bürger.

Die allgemeinen Kennzeichen jeder theokratischen Architektur sind der Stillstand, der Abscheu vor jedem Fortschritt, die Erhaltung der Traditionen, das fortwährende Biegen aller Form des Menschen und der Natur nach den unverständlichen Launen des Symbols. Es sind räthselhafte Bücher, welche bloß die Eingeweihten zu entziffern vermögen. Jede Form, selbst jede Unförmlichkeit, hat einen Sinn, der sie heilig und unverletzlich macht. Der Stillstand ist ihr Leben, jede Vervollkommnung eine Gottlosigkeit. Die theokratischen Gebäude sind von der Unbiegsamkeit des Dogma, wie von einer zweiten Versteinerung, überzogen.

Die allgemeinen Kennzeichen der volksthümlichen Architektur dagegen sind Mannigfaltigkeit, Fortschritt, Originalität, Reichthum, unaufhörliche Bewegung. Sie haben sich schon so weit von der Religion losgemacht, um auf ihre Schönheit bedacht zu sein, um ohne Unterlaß ihr Gewand von Statuen und Arabesken zu Pflegen und zu verbessern. Sie gehören dem Jahrhundert an, sie haben etwas Menschliches, das sie dem göttlichen Symbol beifügen, unter dessen Einfassung sie noch erscheinen. Daher jeder Seele, jeder Einsicht, jeder Einbildungskraft zugängliche Gebäude, noch symbolisch zwar, aber leicht faßlich wie die Natur. Zwischen der theokratischen und volksthümlichen Architektur ist ein Unterschied, wie zwischen einer heiligen und einer gewöhnlichen Sprache, wie zwischen einer Hieroglyphe und der Kunst, wie zwischen Salomo und Phidias.

Aus allem Diesem ergibt sich, daß bis zum fünfzehnten Jahrhundert die Architektur das Hauptbuch der Menschheit war, daß in diesem Zeitraum kein irgend etwas verwickelter Gedanke erschien, der sich nicht zum Gebäude erhob, daß jede volksthümliche Idee, wie jedes religiöse Gesetz, ihre Monumente hatte; daß endlich das menschliche Geschlecht nichts Wichtiges dachte, was es nicht in Stein geschrieben hätte. Und warum? – Weil jeder Gedanke, sei er religiös oder philosophisch, sich verewigen will, weil die Idee, welche eine Generation in Bewegung gesetzt hat, noch auf ferne Geschlechter wirken und ihre Spur in der Geschichte zurücklassen will. Welche gebrechliche Unsterblichkeit ist aber ein Blatt Papier, ein Manuscript! Ein weit festeres und dauerhafteres Buch ist ein Gebäude. Das geschriebene Wort zu vernichten, bedarf es bloß einer Fackel und eines fanatischen Muselmanns. Um das in Stein gebaute Wort niederzureißen, bedarf es einer Umwälzung des Staats oder der Natur. Die Barbaren sind über das Colyseum weggeschritten, die Sündfluth hat vielleicht die Pyramiden überspült.

Im fünfzehnten Jahrhundert ändert sich Alles. Der menschliche Geist entdeckt ein Mittel, sich nicht nur dauerhafter, als die Architektur, sondern auch einfacher und leichter zu verewigen. Die Architektur wird von ihrem Throne geworfen. Auf Orpheus steinerne Buchstaben folgen Gutenbergs bleierne.

Der Buchstabe tödtet den Stein!

Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist das größte Ereigniß in der Geschichte. Sie ist die Mutter der Revolution. Sie ist ein neuer Mund der Menschheit, ein neues Kleid des menschlichen Gedankens, das letzte Hautabstreifen jener symbolischen Schlange, welche seit Adam die Einsicht repräsentirt.

Unter der gedruckten Form ist der menschliche Gedanke unvergänglicher als je; er hat Flügel, keine Macht vermag ihn zu greifen und zu vernichten. Er fliegt mit der Luft des Himmels dahin. Zur Zeit der Architektur machte er sich zum Berge und setzte sich mächtig fest an Einem Orte und in Einem Jahrhundert. Jetzt ist er ein Vogel mit tausendfältigem Gefieder, nach allen Winden fliegend, alle Theile der Luft und des Raums zumal einnehmend.

Der menschliche Gedanke stand fest auf festem Grunde und in dauerhaften Massen, die Buchdruckerkunst aber hat ihn erst unsterblich gemacht. Ein Gebäude, wie fest es sei, kann man niederreißen, wie will man aber die Ubiquität vernichten? Ein Berg ist längst verschwunden unter den Wellen einer Sündfluth, aber die Vögel fliegen noch, und wenn sie auf der Oberfläche der allgemeinen Wasserfluth nur eine einzige Arche erblicken, so lassen sie sich darauf nieder, überleben mit ihr, wohnen dem Falle der Wasser bei, und das neue Geschlecht, das aus diesem Chaos ersteht, erhält, lebend und geflügelt, den Gedanken der untergegangenen Welt. Wenn man erwägt, daß diese Art des Ausdrucks nicht nur die dauerhafteste, sondern auch die einfachste, die bequemste, die praktikabelste ist, daß sie keinen großen Troß mit sich führt und keines schwerfälligen Rüstzeuges bedarf, wenn man bedenkt, daß der Gedanke, der sich in Stein ausspricht, fünf bis sechs andere Künste, Tonnen Goldes, einen Berg von Steinen, einen Wald von Zimmerholz, eine Legion Arbeiter, in Bewegung setzen muß, wogegen der Gedanke, der sich zum Buche macht, nur etwas Tinte und Druckerschwärze bedarf, so wird man sich nicht mehr wundern, daß die menschliche Einsicht von der Architektur zur Buchdruckerkunst übergegangen ist.

Im sechzehnten Jahrhundert geht das Reich der Baukunst zu Ende. Von dem Augenblicke an, wo sie nur noch eine Kunst, wie jede andere, wo sie nicht mehr die Hauptkunst, die souveräne Kunst, die tyrannisirende Kunst ist, hat sie nicht mehr die Kraft, die anderen Künste in ihrem Dienste zurückzuhalten. Sie emancipiren sich, brechen das Joch der Architektur, gehen ihren eigenen Weg. Jede von ihnen gewinnt bei dieser Trennung. Vereinzelung macht groß. Die Meißelei wird Bildhauerkunst, das Bilderwesen Malerei, der Canon Musik. Man könnte es ein Weltreich nennen, das beim Tode seines Alexanders zerfällt und dessen Provinzen sich zu Königreichen erheben! Daher Raphael, Michel Angelo, Jean Goujon, Palestrina, diese glänzenden Gestirne am leuchtenden Himmel des sechzehnten Jahrhunderts!

Zugleich mit den Künsten macht sich allerwärts der Gedanke frei. Die Urheber der Ketzereien im Mittelalter hatten bereits dem Katholicismus tiefe Wunden geschlagen. Das sechzehnte Jahrhundert vernichtet die religiöse Einheit. Ohne die Buchdruckerkunst wäre die Reformation ein Schisma geblieben, die Presse hat sie zur Revolution gemacht. Nehmt die Presse weg, so entzieht ihr der Ketzerei ihren Hebel. Mag man es ein Unglück, mag man es eine Fügung der Vorsehung nennen, Gutenberg ist Luthers Vorläufer.

Nachdem die Sonne des Mittelalters untergegangen, das gothische Genie am Horizont der Kunst für immer erloschen ist, verschwindet allmählig die Architektur mit ihr. Das gedruckte Buch zernagt, unterfrißt, stürzt das Gebäude. Die Architektur wird immer hinfälliger und farbloser. Sie ist kleinlich, ärmlich, nichtig. Sie drückt nichts mehr aus, nicht einmal das Andenken der Kunst einer anderen Zeit. Auf sich selbst beschränkt, von den anderen Künsten verlassen, weil der menschliche Gedanke sie aufgegeben hat, sammelt sie die Handwerker um sich, weil sie keine Künstler mehr hat. Aller Schwung, alle Originalität, alles Leben, alle Einsicht ist verschwunden. Wie eine jämmerliche Bettlerin, von Werkstätte zu Werkstätte, von Copie zu Copie, schleppt die Baukunst ihr elendes Leben dahin.

Alles Leben ist von der Architektur zur Presse übergegangen. Während die Baukunst sinkt, erhebt sich die Buchdruckerkunst. Das Kapital an Kräften, das sonst der menschliche Gedanke an Gebäude verwendete, gibt er jetzt für Bücher aus. Vom sechzehnten Jahrhundert an überragt die Presse die Architektur, bekämpft und tödtet sie. Im siebzehnten Jahrhundert ist sie schon siegreich, souverän, kräftig genug, um der Welt das Fest eines großen literarischen Jahrhunderts zu geben. Im achtzehnten Jahrhundert ergreift sie, in Gestalt der leichten Waffe Voltaire’s, Luthers altes Schlachtschwert wieder zum Kampfe mit dem alterthümlichen Europa. Als die letzte Stunde des vergangenen Jahrhunderts schlug, lag das alte Europa in Trümmern. Das neunzehnte Jahrhundert wird ein neues Europa aufbauen.

Einleitung

Victor Hugo ist in der ganzen Welt, von Freund und Feind, als einer der ausgezeichnetsten Dichter anerkannt, die je auf Erden gewandelt. Er wurde 1802 in Besançon geboren und gehört einer alten, schon vor Jahrhunderten auf den Schlachtfeldern geadelten Grafenfamilie an. Sein Vater, der als General in den Diensten des Königs Joseph Bonaparte zuerst in Neapel focht, wo er dem gefährlichen Räuber oder vielmehr Parteigänger Fra Diavolo das Handwerk legte, und dann den spanischen Krieg mitmachte, nahm, wie andere Napoleon’sche Feldherren, seine Familie mit, und so kam es, daß Victor Hugo schon in seiner zartesten Kindheit in Italien und Spanien reiste. Die Sonne des Südens wärmte mit ihren glühendsten Strahlen dieses enthusiastische junge Haupt; aber die ersten Eindrücke, welche der Dichterknabe in dem Farbenglanze einer herrlichen großen Natur empfing, trugen das Gepräge des Abenteuerlichen, Romantischen, Wilden.

War der Vater, ein tapferer Krieger, der unter dem Cäsar der neuen Welt Europa durchzog und in allen Ländern Lorbeeren erntete, gleichsam das Prinzip der Bewegung und Ruhmbegierde für den Sohn: – so knüpften ihn dagegen die Mutter, eine Vendéerin, und seine Lehrer ein Royalist und Geistlicher, Anhänger des alten Regimes, noch stärker an das Poetische und Gefühlige der Mittelalterlichkeit. Der Zauber keuscher Minne, die Innigkeit der Religiosität, mit all‘ den wundervollen und phantastischen Erscheinungen, die sie erzeugen, drückten sich tief in das Gemüth des jungen Hugo; dabei nahm derselbe den tragischen Ernst, man möchte sagen, die Melancholie des untergehenden Griechen- und Römerthums aus den klassischen Schriften des Polybius und Tacitus in sich auf. Allerdings wird ein Dichter geboren: aber wer wird läugnen, daß solche Anschauungen, eine solche Zeit, solche gleichsam schon in die Wiege gelegten Elemente die Produktivität schnell befruchten, zeitigen und stärken, wenn man in Goethe’s »Dichtung und Wahrheit« liest, wie mächtig auf ihn die vergleichungsweise ärmlichen Umgebungen und Verhältnisse seiner Jugendjahre wirkten?

Es darf daher nicht verwundern, daß er schon in seinem dreizehnten Jahre seine Begeisterung für das Ritterthum in Versen zur Ehre Roland’s auszudrücken versuchte.

Hugo’s Bildungsgang erlitt eine Veränderung, als sich sein Vater von seiner Mutter, wegen ihrer geheimen Verbindungen mit der Emigration, trennte. Er wurde in eine zum Gymnasium Ludwigs des Großen gehörige Anstalt versetzt, und schrieb hier, den Grundsätzen seiner Mutter getreu, eine legitimistische Tragödie, Irtamène. Schon beginnt seine schriftstellerische Laufbahn. Als Concurrent um den von der Académie française ausgesetzten Preis für das beste Gedicht »über die Vorzüge des Studiums,« um welchen sich Männer wie Lebrun, Delavigne u. A. bewarben, wurde er zwar nicht gekrönt, aber belobt. Der Dichter war damals erst fünfzehn Jahre alt, und schloß daher sein Preisgedicht mit den Versen:

»Ich, der ich stets gefloh’n von Hof und Städten bin,
Sah kaum drei Lustra zieh’n ob meinem Haupte hin.«

Die erstaunten Akademiker hätten, als sie sich von dieser kaum glaublichen Thatsache überzeugten, dem jungen Talente gern den Preis verliehen, aber er war schon vergeben. Ein Preis, den sein Bruder von der Toulouser Akademie erhielt, feuerte ihn noch mehr an, und er gewann auch bei derselben Akademie im Jahre 1819 deren zwei durch Oden: über die Statue Heinrichs IV. und die Jungfrauen von Verdun (welche im Jahre 1792 das Opfer ihrer Anhänglichkeit an die Emigranten geworden waren). Hier ist die Gelegenheit, auf die ausnehmende Schnelligkeit aufmerksam zu machen, womit Hugo producirt. Seinen ersten Roman »Bug Jargal« schrieb er, 16 Jahre alt, aus Veranlassung einer Wette, in vierzehn Tagen. Die Ode über die Statue Heinrichs IV. verfaßte er in Einer am Krankenbette seiner Mutter durchwachten Nacht. Auch diesmal wollte die Akademie nicht glauben, daß er erst siebzehn Jahre zähle. Im folgenden Jahre erhielt er nochmals den Preis für das Gedicht: »Moses am Nil.«

Von nun an betritt er seine eigentliche Laufbahn als Schriftsteller. Er hatte das Rechtsstudium, dem er sich widmen sollte, vernachlässigt; mit seinem Vater war er, als politischer Meinungsgenosse der Mutter, zerfallen; dadurch gerieth er in Sorgen für sein Auskommen. Aber ein noch weit mächtigerer Sporn war die Liebe. Hugo ist der Sänger der reinsten, tiefsten, innigsten, hingebendsten, ihren Gegenstand vergötternden Liebe. Er konnte dies nur durch Erfahrungen in seinem eigenen Herzen werden. Er hatte eine Jugendgeliebte, der er mit schwärmerischer Neigung zugethan war; man verbot ihm, sie zu besuchen. Dies war, sagt man, die Veranlassung zu seinem schauerlichen Roman »Han d’Islande,« worin er, neben einem das Böse an sich liebenden Ungeheuer (welches jedoch die Grenzen menschlicher Bosheit überschreitet), die Treue und Aufopferung der allen Gefahren und Verhältnissen trotzenden Liebe schildert. Grund und Boden dieses Romans ist zum Theil historisch.

Die Vielseitigkeit von V. Hugo’s Talent, woraus wir durch diese neue Dichtgattung, in der er sich auszeichnete, geführt werden, ist nicht minder bewunderungswerth, als seine Fruchtbarkeit und Leichtigkeit. Als Lyriker, als Romantiker, als Dramatiker, als Uebersetzer,1 als Kritiker und Polemiker hat er fast gleiches Aufsehen gemacht. Seine Oden, Balladen, Hymnen gelten in Frankreich als das Vorzüglichste. Als Kritiker hat er in der Zeitschrift »Conservateur litéraire« vortreffliche Artikel über Walter Scott, Byron, Moore geliefert, auch politische und kritische Ansichten ausgesprochen, welche unter den Rubriken: Literatur und Philosophie in unserer Sammlung ihren Platz finden. Er war es auch, der das poetische Genie Lamartine’s, mit welchem er hernach ein freundschaftliches Verhältniß anknüpfte, zuerst in einer begeisterten, den Zustand der damaligen französischen Lyrik satyrisirenden Kritik begrüßt hat.

Der berühmte Chateaubriand nannte ihn ein »erhabenes Kind« (enfant sublime), und auch dieser große Schriftsteller würdigte ihn eines näheren Umganges.

Victor Hugo, einmal ganz in die schriftstellerische Carrière eingetreten, zu Paris in sparsamer Zurückgezogenheit von dem Lohne seines Fleißes lebend, arbeitete angestrengtest, um bald seiner Geliebten eine sorgenfreie Existenz an seiner Hand anbieten zu können. Sein Stolz verhinderte ihn, die Unterstützung seines Vaters anzunehmen. Dagegen wollte sein gutes Glück, daß Ludwig XVIII. einen schönen Charakterzug des Dichters großmüthig belohnte, statt die Ungesetzlichkeit desselben zu bestrafen. Einer seiner Jugendfreunde war in die Militär-Conspiration von Saumur verwickelt. Delon, so hieß er, wurde gerichtlich verfolgt, und Hugo bot dem Flüchtigen, in einem Briefe an dessen Mutter, sein Zimmer an. Der König bekam durch die Polizei diesen Brief in die Hände, und ertheilte ihm die erste aufgehende Pension. Nun stand dem Glücke des Liebenden nichts mehr im Wege; er vermählte sich im Jahre 1822.

Aus allem bisher Gesagten ergibt sich, daß Hugo aus poetischem Interesse den Ideen der Restauration angehörte, weßhalb seine Muse mit dem oppositionellen Streben der öffentlichen Meinung in direktem Widerspruch stand. Auch das Genie zieht im Kampfe mit dem Zeitgeist, sobald dieser eine gesunde Richtung verfolgt, den Kürzern. Deshalb hatte Hugo bisher zwar mit seinen Produktionen Aufsehen gemacht, aber es zu keinem entschiedenen Beifall bringen können, da er sich zwei mächtige Gegner zumal zuzog: die politische Meinung der großen Mehrzahl in Frankreich, und die Verfechter der alten sogenannten klassischen Schule in der schönen Literatur. Sei es nun, daß Hugo einsah, er müsse, um den Schutz des Publikums gegen seine belletristischen Gegner zu gewinnen, in der Politik sich einigermaßen mit demselben conformiren, oder daß er, wie auch sein Freund Chateaubriand, den großen Unfug der veralteten Aristokratie und des verderbten Pfaffenthums, die dem Absolutismus zustrebten, mit richtigem Urtheil erkannte: – genug, er ließ die politische Fehde ruhen, veröffentlichte ein Gedicht auf Napoleon und eine Ode: »à la Colonne« (auf die Vendôme-Säule), welche mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde. So gerüstet trat er auch als Dramatiker in die Schranken mit dem größtentheils verfehlten und veralteten Klassicismus, – ein Wettstreit, der großes Aussehen erregte und lange die Aufmerksamkeit des Publikums zwischen sich und der Politik getheilt hielt. Sein Drama: Cromwell, obwohl es an ergreifenden Situationen, originellen Charakteren und vortrefflichen Stellen keineswegs Mangel leidet, ist schon wegen seiner Ausdehnung und Ueberfüllung mit Personen für die Bühne nicht geeignet: dagegen ist Marion Delorme, deren Aufführung die ministerielle Theater-Censur von 1829 untersagte, von so hochtragischer Erfindung, und, bei der Gewagtheit des Sujets, so geistreich durchgeführt, daß wir ihr den Preis unter den Tragödien des Dichters zuerkennen möchten.

Die Aufführung des Hernani veranlaßte einen wahren Parteienkampf im Théatre français (1830); und doch ist Hernani mit der hervorstechenden Person Kaiser Carls V., trotz der sinnreichen Aufführung des psychologischen Streits zwischen Ehre, Haß, Liebe und Rache kühler, als die meisten andern Dramen Hugo’s.

Die Erhebung der französischen Nation in den Julitagen begeisterte auch unsern Dichter; er sang eine Ode zur Verherrlichung derselben. Aber auch ihn degoutirte das daraus hervorgehende juste-milieu, besonders als man wegen angeblich anstößiger Stellen gegen den König Louis Philipp die Aufführung seines neuen Drama’s: Le roi s’amuse verbot. In dem Prozeß darüber sprach er sich drohend gegen das Ministerium aus. Dessen ungeachtet gestalteten sich die Verhältnisse des Dichters, dessen Ruhm und Popularität mit jedem neuen Band Gedichte, mit jedem neuen Schauspiel (Marie Tudor, Marion Delorme, die Burggrafen, Hernani u.s.w.), mit jedem neuen Band Prosa stiegen und durch den Roman Notre-Dame ihren Gipfelpunkt erreichten, zur Julimonarchie auf’s Freundlichste, und als Frucht dieses guten Einvernehmens verdient folgendes, in’s Jahr 1839 fallende Factum besonders hervorgehoben zu werden, das dem Dichter und dem Könige gleich sehr zur Ehre gereicht.

Als der trotzige Rebell Barbès zum Schaffot verurtheilt war, kam seine Schwester zu dem Dichter und flehte, er möchte den König zur Begnadigung ihres Bruders veranlassen. Ein erster Schritt war ohne Erfolg geblieben. Der Hof trauerte damals um die sanftherzige Marie von Württemberg, und der Graf von Paris war kaum erst auf die Welt gekommen. V. Hugo ging am 12. Juli um Mitternacht noch einmal zum Könige. Se. Majestät war nicht mehr sichtbar. Da schrieb er folgende Strophe, die er auf einem Tische liegen ließ:

Bei jenem taubengleich von Dir entflog’nen Engel,
Bei diesem Königskind, dem zarten Blumenstengel,
Beim Grab und bei der Wieg‘ steh ich noch einmal heut:
Gib Gnade, Herr, und üb‘, Gott gleich, Barmherzigkeit.

Bei seinem Erwachen las Ludwig Philipp die vier Zeilen, und Barbès war gerettet.

Im Juni 1841 kam V. Hugo in die Akademie, und zwei Jahre später wurde er zur Pairswürde erhoben.

Als L. Philipp im Februar 1848 relicta non bene parmula davonlief, schloß V. Hugo sich der Republik an und vertheidigte sie als Abgeordneter mit großer Entschiedenheit in Reden, welche die glänzendste oratorische Befähigung beurkundeten. Gegen den Staatsstreich focht er sogar nebst seinen Söhnen auf den Barrikaden und schrieb hernach das von der maßlosesten Parteileidenschaft eingegebene Pamphlet: Napoléon le petit. Seitdem lebte er als Flüchtling theils in Belgien, theils in London, und bewohnt nun schon mehrere Jahre die Insel Jersey, von wo er 1856 einen neuen Band Gedichte herausgab, der in Frankreich verschlungen wurde. Gegenwärtig soll er mit Vollendung eines sechsbändigen Romans beschäftigt sein, welcher den Titel führt: Das Elend. Wir werden nicht ermangeln, ihn gleich nach seinem Erscheinen unserer neuen Sammlung einzuverleiben.

Was die äußeren Verhältnisse des Dichters betrifft, so ist er, abgesehen von dem untröstlichen Schmerz um das verlorene Vaterland, keineswegs zu beklagen. Er erfreut sich des angenehmsten Familienlebens und dabei eines ansehnlichen Wohlstandes, wie ihn Frankreich seinen ausgezeichneten Schriftststellern selten vorenthält.

Stuttgart, im August 1858.

  1. Unter dem Namen d’Auverney gab er Uebersetzungen von Virgil und Lucian heraus.