V.

In einem Augenblicke war Alles bereit, Jakob Coppenole’s Vorschlag in Ausführung zu bringen. Die kleine Kapelle, der Marmorplatte gegenüber, wurde zum Schauplatz der Grimassen gewählt. Man schlug eine Fensterscheibe über der Thüre ein, und durch diese Oeffnung sollten die Concurrenten um die dreifache Krone ihre verzerrten Gesichter zeigen. Man mußte zu diesem Ende auf zwei Fässer steigen, welche man eilig herbeigeschafft hatte. In einem Augenblicke war die Kapelle mit Candidaten des heiligen Stuhls angefüllt, und die Thüre schloß sich hinter ihnen.

Der Strumpfweber von Gent ordnete von seinem Platze aus mit lauter Stimme Alles an und führte den Vorsitz bei der Wahl des Narrenpabstes. Der Kardinal, eben so sehr außer Fassung, als der arme Peter Gringoire, hatte sich, unter dem Vorwand von Geschäften, mit seinem ganzen Gefolge entfernt. Das Volk, das eben erst durch seinen Eintritt so sehr aufgeregt worden, nahm seinen Abgang kaum wahr. Die ganze Aufmerksamkeit der Menge war auf die Pabstwahl gerichtet.

Die Grimassen nahmen ihren Anfang. Unter der Lücke erschien ein Gesicht mit weit geöffneten Augenlidern, die das Rothe zeigten, einem offenen Munde, der dem Rachen eines Raubthieres glich, und einer mit tausend Runzeln bedeckten Stirne. Der Anblick dieses Schlaraffengesichts erregte ein schallendes Gelächter. Ihm folgte ein zweites, ein drittes, ein viertes u.s.w. und mit jedem neuen stieg der Jubel der Menge, bis er zur wahren Orgie wurde. Es gab keine Gesandte, keine Studenten, keine Bürger, keine Männer, keine Weiber mehr, keinen Clopin Trouillefou, keinen Gilles Lecornu, keinen Johannes Frollo, keinen Robin Poussepain: Alles verwischte sich in der allgemeinen Zügellosigkeit. Der weite Umkreis des Saals war nur noch ein großer Brennpunkt der Jovialität und Schamlosigkeit, jeder Mund war ein Schrei, jedes Auge ein Blitz, jedes Gesicht eine Grimasse, jedes Individuum ein Hanswurst: Alles schrie und heulte bunt durcheinander. Die verzerrten Gesichter, die nacheinander durch die Lucke das Publikum angrinsten, waren wie Fackeln, die man auf einen Holzstoß wirft; sie schürten das Feuer der Zügellosigkeit unter der Menge bis zur höchsten Glut.

»Holla! Heda! Donnerwetter!«

»Seht einmal dieses Gesicht an!«

»Es taugt nichts!«

»Ein anderes! Ein anderes!«

»Guillemette, sieh doch einmal diesen Stierkopf an, es fehlen ihm nur die Hörner. Es ist nicht Dein Mann.«

»Ein Anderer! Ein Anderer!«

»Beim Bauch des heiligen Vaters! Seht einmal diese Grimasse da!«

»Holla! Heda! Das ist betrogen! Man darf nur das Gesicht zeigen!«

»Diese verfluchte Perrette Callebotte! Sie ist im Stande, uns statt des Gesichts …«

»Hurrah! Hurrah!«

»Hört auf! Hört auf! Ich ersticke vor Lachen!«

»Da kommt Einer, der die Ohren nicht durch die Oeffnung bringt,« u. s. w.

Inzwischen, nachdem die erste Abspannung vorüber war, hatte unser Dichter frischen Muth gefaßt. »Fahrt fort,« sprach er zum drittenmale zu seinen redenden Maschinen, den Comödianten. Er selbst ging mit großen Schritten vor der verlassenen Bühne auf und ab. Da kam ihm der Gedanke, selbst an der Lucke aufzutreten und der undankbaren, für das Kind seines Geistes fühllosen Menge ein Gesicht zu schneiden. Aber nein, sagte er zu sich selbst, das wäre eines Dichters unwürdig. Keine Rache, sondern Kampf auf Leben und Tod. Die Dichtkunst übt eine magische Kraft auf die Herzen des Volks, ich werde es zur Bühne zurückführen. Bald soll sich zeigen, wer siegt: die Grimassen oder die Wissenschaften.

Leider aber hatten die Schauspieler in diesem Augenblicke nur noch zwei Zuschauer: den Dichter selbst und den obengenannten dicken geduldigen Bürgersmann.

Peter Gringoire war tief gerührt von der unwandelbaren Treue seines einzigen Zuschauers. Er näherte sich ihm und gab ihm einen leichten Druck auf den Arm, denn der wackere Bürger hatte sich an eine Säule gelehnt und schlummerte ein wenig.

»Mein Herr,« sprach der Dichter zu ihm, »ich danke Euch!«

»Wofür, mein Herr?« antwortete der Dicke.

»Ich sehe,« erwiederte der Poet, »daß dieser Lärm Euch zum Ekel ist, weil er Euch hindert, dem Gang des Stücks mit Muße zu folgen; aber beruhigt Euch, Euer Name wird auf die Nachwelt kommen. Wie heißt Ihr, wenn ich fragen darf?«

»Renauld Chateau, Salzmesser in dieser guten Stadt Paris, Euch zu dienen.«

»Mein Herr,« sprach Gringoire weiter, »Ihr seid in dieser großen Versammlung der einzige Repräsentant der Musen.«

»Ihr seid allzu gütig, mein Herr,« erwiederte der Salzmesser.

»Ihr seid der Einzige,« fuhr der Dichter fort, »der meinem Stücke ein aufmerksames Ohr geliehen hat. Wie findet Ihr es?«

»He, he!« antwortete der Bürger, »recht lustig!«

Der arme Dichter mußte sich mit diesem mäßigen Lobspruche begnügen, denn eben kündigte ein donnernder Beifallsruf an, daß der Narrenpabst gewählt sei.

»Hurrah! Hurrah!« schrie die Menge von allen Seiten.

Es war in der That eine bewundernswerthe Grimasse, welche sich in diesem Augenblicke unter der Lucke zeigte, und sie allein war würdig, zum Pabst gewählt zu werden: diese abgeplattete Nase, dieser Hufeisenmund, das kleine linke Auge mit rothen Borsten bedeckt, das rechte Auge unter einer ungeheuern Warze gänzlich verschwindend, diese monströsen Zähne, die den Hauern eines Keulers glichen, dieses gabelförmige Kinn, dieses ganze Gesicht, ein Gemisch von Bosheit, Blödsinn und Trübsinn.

Der Anblick dieses Gesichtes erregte den stürmischen Beifall der Menge, und der glückliche Besitzer desselben wurde einstimmig zum Narrenpabst gewählt. Man stürzte in die Kapelle und führte den neuen Pabst im Triumph heraus. Ueberraschung und Staunen erreichten jetzt ihren höchsten Grad: die Grimasse war sein wirkliches Gesicht, oder vielmehr seine ganze Person war eine Grimasse: ein dicker Kopf, mit buschigem rothem Haar bedeckt, hinten und vorn ein Höcker, sichelförmige Beine, Klumpfüße, lange Arme mit gewaltigen Fäusten, und bei all dieser Unförmlichkeit ein gewisses Furcht einflößendes Zeichen von Kraft, Behendigkeit und Muth, seltsame Ausnahme von der ewigen Regel, nach welcher Kraft und Schönheit aus Harmonie entspringen. Dies war der neugewählte Narrenpabst, man konnte ihn einen zertrümmerten und schlecht wieder zusammengesetzten Riesen nennen.

Als dieser Cyklope auf die Schwelle der Kapelle trat, unbeweglich, mit seiner untersetzten Gestalt, fast eben so breit als lang, erkannte ihn das Volk alsbald, und von allen Seiten wurde gerufen:

»Es ist Quasimodo, der Glöckner!«

»Quasimodo, der Großbuckel von Notre-Dame!«

»Quasimodo, der Einäugige!«

»Quasimodo, der Krummbein!«

»Hurrah! Hurrah!«

»Schwangere Weiber weg,« schrieen die Studenten.

»Oder die es werden wollen ,« fügte der Mühlenhans hinzu.

In der That wendeten auch die Weiber ihre Blicke von der Mißgeburt ab.

»Oh! der garstige Affe!« sagte die Eine.

»Er ist eben so boshaft als häßlich!« fügte eine Andere hinzu.

»Er ist der Teufel selbst!« fuhr eine Dritte fort.

»Ich wohne bei der Liebfrauenkirche, bei Nacht hört man ihn über Dächer und Dachrinnen spazieren.«

»Wie ein alter Kater!«

»Er ist immer auf unsern Dächern!«

»Er wirft uns Zauberzettel durch das Kamin herab!«

»Er fährt zum Hexentanz, neulich ließ er einen Besen auf meiner Dachrinne liegen!«

»Oh! der garstige, bucklige, krummbeinige, einäugige Hexenmeister!«

So sprachen die Weiber; die Männer dagegen waren ganz verliebt in ihren neuen Pabst.

Quasimodo, dieser Mann des Tages, stand unbeweglich unter der Thüre der Kapelle, ernst und trübsinnig, wie er war.

Robin Poussepain, der naseweise Student, trat hart auf ihn zu und lachte ihm unter die Nase. Der riesenhafte Zwerg ergriff ihn, ohne ein Wort zu sagen, am Gürtel und warf ihn mit der Kraft seines athletischen Armes zehn Schritte von sich mitten unter die Menge.

Hieran hatte Meister Coppenole, der Strumpfweber von Gent, eine große Freude. Er näherte sich dem Zwerg und sprach: »Beim heiligen Kreuz, heiliger Vater! Du bist so schön häßlich, wie ich in meinem Leben Niemand gesehen habe, und verdientest nicht bloß zu Paris, sondern auch zu Rom Pabst zu sein.«

Mit diesen Worten legte er seine breite Faust vertraulich auf die Schulter des Zwerges. Quasimodo rührte sich nicht, und der Strumpfweber fuhr fort: »Wahrhaftig, guter Bursche, Du gefällst mir ausnehmend, und ich habe große Lust, mit Dir tüchtig zu schmausen, sollte es mich auch ein Dutzend neue Thaler kosten. Was meinst Du?«

Quasimodo antwortete nicht.

»Beim heiligen Kreuz!« sagte der Strumpfweber, »bist Du denn taub, guter Freund?«

Der Zwerg war wirklich taub, und da er den Meister Coppenole nicht verstand und sich durch seine Zudringlichkeit belästigt fand, wendete er plötzlich seinen dicken Kopf gegen ihn und blöckte die Zähne auf eine so furchtbare Art, daß der flämische Riese vor ihm zurückschreckte, wie ein Bullenbeißer vor einer Katze.

Nun bildete sich um die seltsame Person des Narrenpabstes ein Zirkel, der sich in der respektvollen Entfernung von zwölf Schritten hielt. Ein altes Weib belehrte den Strumfweber von Gent, daß der heilige Vater taub sei.

»Taub!« rief Meister Coppenole lachend aus, »Beim heiligen Kreuz! das ist der Pabst, wie er sein sollte!«

Johannes Frollo trat hinzu und begrüßte den Narrenpabst mit den Worten: »Guten Tag, Quasimodo, der Du die Glocken meines heiligen Bruders, des Erzpriesters der Liebfrauenkirche, läutest!«

»Teufelskerl!« sagte Robin Poussepain, dem die Rippen von seinem Falle noch knackten, »bucklige, krummbeinige, einäugige, taube Bestie! Was macht denn der Hund mit seiner Zunge, daß er nicht spricht?«

»Er spricht, wann es ihm beliebt,« belehrte ihn die Alte: »er ist nicht taubstumm, sondern durch das Geläute der Glocken taub geworden.«

»Dieser Vorzug geht ihm allein ab,« sagte Johannes Frollo.

»Auch hat er ein Auge zu viel,« fügte Robin Poussepain hinzu.

»Nicht doch,« erwiederte der Mühlenhans, »ein Einäugiger ist viel mangelhafter, als ein Blinder, denn er weiß, was ihm fehlt.«

Jetzt brachte man die papierene dreifache Krone und die phantastische Simarre des Narrenpabstes herbeigetragen. Der Zwerg ließ sich, mit einer Art stolzer Fügsamkeit, ankleiden. Hierauf setzte man ihn auf einen buntscheckigen Tragsessel. Zwölf Hausbeamte von der Gesellschaft der Narren hoben ihn auf ihre Schultern. Als der Cyklope so dasaß und alle die Köpfe wohlgestalteter und gerade gewachsener Menschen unter seinen sichelförmigen Beinen erblickte, stieg auf seinem mürrischen Gesichte ein Strahl bitterer und gehässiger Freude auf. Nun setzte sich die Prozession in Bewegung, um erst durch die Galerien des Palastes und dann auf die öffentlichen Plätze und Straßen zu ziehen.

VI.

Während dieses ganzen Auftrittes hatte Peter Gringoire sein Schauspiel beharrlich fortsetzen lassen. Immer noch hoffte er, daß sich doch am Ende das Publikum ihm zuwenden werde. Dieser Hoffnungsstrahl belebte sich, als er den Narrenpabst mit seinem ganzen Gefolge unter großem Geräusch aus dem Saale ziehen sah.

»Gut,« sprach er für sich, »daß diese Störenfriede endlich abziehen!«

Leider aber waren diese Störenfriede das gesammte Publikum, und in einem Nu war der ganze weite Saal leer, bis auf einige Weiber, alte Männer, oder Kinder, die da und dort noch um die Pfeiler stehen blieben. Einige Studenten saßen noch auf dem Fenstergesimse und schauten auf den Platz hinaus.

Je nun, dachte der Poet, es sind ihrer schon genug, um die Entwicklung meines Stücks zu hören; obwohl klein an der Zahl, ist es ein um so ausgewählteres, wissenschaftliches Publikum.

Der Dichter blickte mit Selbstgefühl nach der Bühne hin, wo eben eine Symphonie die Ankunft der heiligen Jungfrau Maria verkünden sollte. Doch keine Musik ließ sich hören, sie war mit der Prozession des Narrenpabstes abgezogen. »Nur weiter! Immer fortgefahren!« sprach der Poet mit stoischem Gleichmuth.

In diesem Augenblicke schrie einer der Studenten, die unter dem Fenster saßen: »Die Esmeralda! Die Esmeralda da unten!«

Dieses Wort brachte eine magische Wirkung hervor. Wer noch im Saale war, stürzte den Fenstern zu, um auf den Platz hinunter zu schauen, und Alle wiederholten mit Einer Stimme: »Die Esmeralda! die Esmeralda!«

Zu gleicher Zeit hörte man von außen rauschenden Beifallruf.

»Was will das heißen: die Esmeralda?« sprach der trostlose Poet mit gefalteten Händen. »Jetzt schauen sie gar auf die Straße, weil es im Saal keinen Spektakel mehr gibt!«

Er wendete sich seiner Bühne zu und sah, daß die Vorstellung unterbrochen war. Eben sollte Jupiter mit dem Blitz in der Hand auftreten. Der gute Jupiter stand aber unbeweglich unten am Gerüste.

»Michel Giborne,« rief ihm der erzürnte Poet zu, »was machst Du da unten? Ist das Deine Rolle? Steige herauf!«

»Ich kann nicht,« erwiederte der Donnergott kläglich, »ein Student hat mir die Leiter genommen.«

»Und warum denn?« fragte der Poet.

»Um die Esmeralda zu sehen,« erwiederte Jupiter.

Das war der letzte Schlag, der unsern armen Dichter traf; er gab das Stück verloren und sprach zu den Schauspielern: »Packt Euch zum Teufel! Wenn ich bezahlt werde, will ich Euch auch bezahlen.«

Hierauf entfernte er sich mit gesenktem Haupte und murmelte, während er die Wendeltreppe des Palastes hinabstieg, für sich: Esel, Dummköpfe, diese Pariser! Sie kommen, ein Mysterium zu hören, und hören nicht darauf! Sie achten auf Alles, was außer der Bühne vorgeht, auf Clopin Trouillefou, auf den Kardinal von Bourbon, auf Jakob Coppenole, auf Quasimodo den Großbuckel, aber auf das Schauspiel und die heilige Jungfrau Maria nicht! Hätte ich das gewußt, so würde ich euch was Anderes gekocht haben, als die heilige Jungfrau Maria, ihr Lümmel! Ich, ein Dichter, will strahlende Gesichter sehen, die vor Freude und Bewunderung meines Stücks glänzen, und erblicke nichts als die Rücken eines rohen und unwissenden Haufens! Doch ein Poet muß sich an Mißgeschick gewöhnen. Homer bettelte von einem griechischen Dorfe zum andern und Ovidius Naso starb in der Verbannung am unwirthlichen Gestade Pannoniens. Aber was Teufels wollen sie denn mit ihrer Esmeralda! Was ist das für ein Wort? Es ist ägyptisch!

VII.

Im Januar wird es bald Nacht. Es war schon finster auf der Straße, als Gringoire aus dem Palaste trat; er suchte irgend eine abgelegene Straße zu erreichen, wo er in der Stille nachdenken und das Pflaster der Philosophie auf die Wunde legen konnte, die der Dichter empfangen hatte. Die Philosophie war allerdings seine einzige Zuflucht, denn er hatte nicht einmal die Tonne des Diogenes zur Wohnung, und wußte nicht, wohin er sein Haupt legen sollte. Nach dem schmählichen Durchfall, den sein theatralischer Versuch erlitten hatte, wagte er nicht, in seine alte Wohnung zurückzukehren, weil er die sechsmonatliche Miethe, die 12 Sous betrug, noch schuldig war und den Hausbesitzer auf die gehoffte Einnahme von seinem Stück vertröstet hatte. Als er in diesen düsteren Gedanken über den Platz des Palastes ging, um sich in das Labyrinth der Altstadt zu werfen, stieß er auf die Prozession des Narrenpabstes, die mit brennenden Fackeln, Musik und lautem Geschrei einherzog. Dieser Anblick riß die Wunden seiner Eigenliebe wieder auf; er floh davon und schlug den Weg nach der St. Michelsbrücke ein. Hier liefen Kinder mit Fackeln herum und ließen Feuerwerk los.

»Hole der Teufel alles Licht und mache die Welt so schwarz wie die Nacht!« fluchte der grämliche Poet und schlug einen anderen Weg ein. Da stieß er auf ein illuminirtes Haus, die Portraits des hohen Brautpaares glänzten in bunten Farben. Der Dichter kehrte ihnen den Rücken und wendete seine Schritte einer dunkeln Straße zu, die vor ihm lag. So erreichte er den westlichen Theil der Stadt. Als er auf den Grèveplatz kam, fand er ihn von einer großen Menschenmenge erfüllt. Ein junges Mädchen tanzte vor einem Kreise von Zuschauern, der sie umgab. War es ein menschliches Wesen oder eine Fee, oder ein Engel, das wußte sich Peter Gringoire, obgleich skeptischer Philosoph, im ersten Augenblicke nicht zu sagen, so sehr hatte ihn diese glänzende Erscheinung ergriffen.

Die Tänzerin war nicht groß, sie schien es aber, so fein und schlank war ihr Wuchs, ihr Gesicht war braun, aber ihre Haut hatte jenen schönen, goldenen Wiederschein der Andalusierinnen und Römerinnen; ihr Fuß war klein und niedlich; sie tanzte, wendete, drehte sich auf einem persischen Teppich herum, der nachlässig unter ihre Füße geworfen war, ihre großen schwarzen Augen strömten Blitze aus.

Alle Blicke waren auf die Tänzerin geheftet, und in der That, wenn man sie so schweben sah, mit hocherhobenem Tambourin in ihren runden Armen, schlank und lebendig wie eine Wespe in ihrem goldenen Mieder, ihrem mit Bändern besetzten Rocke, ihren nackten Schultern, ihren schwarzen Haaren und blitzenden Augen, so konnte man sie für ein übermenschliches Wesen halten.

Nicht anders, dachte Peter Gringoire bei sich, es ist ein Salamander, eine Nymphe, eine Göttin, eine Bacchantin!

In diesem Augenblicke ging eine der Locken auf dem Haupte der Nymphe auf, und das Kupferblech, das sie zusammengehalten hatte, fiel zur Erde.

Potz tausend! verbesserte sich der Poet, es ist eine Zigeunerin.

Alle Illusion war auf einmal verschwunden.

Die Zigeunerin tanzte jetzt mit zwei bloßen Säbeln auf der Stirne. Obwohl entzaubert, hatte doch der Anblick des ganzen Gemäldes, das sich ihm darbot, etwas Magisches für unsern Dichter: das Freudenfeuer, das auf dem Platze brannte, erhellte ihn mit einem rothflammenden Scheine, der sich auf den Gesichtern der Menge und auf der braunen Stirne der jungen Tänzerin abspiegelte. Unter den tausend Gesichtern, welche diese Flamme beleuchtete, erschien eines, das, noch mehr als alle andern, in die Betrachtung der Tänzerin vertieft war. Es war das ernste, ruhige und düstere Gesicht eines Mannes. Dieser Mann, dessen Kleidung man wegen der ihn umgebenden Menge nicht sehen konnte, schien nicht über 35 Jahre alt, obwohl er kahl war und nur noch einzelne, schon ergraute Haare sein Haupt nothdürftig deckten; seine hohe und breite Stirne war von Runzeln gefurcht; in seinen tiefliegenden Augen aber leuchtete das Feuer der Jugend und heftiger, tiefer Leidenschaften. Er hatte fortwährend seine Blicke auf die Zigeunerin gerichtet; sie wurden immer düsterer, und von Zeit zu Zeit flog ein schmerzliches, unheimliches Lächeln über seine Lippen.

Jetzt hörte das Mädchen auf zu tanzen, und das Volk klatschte ihr Beifall.

»Djali,« sagte die Zigeunerin.

Auf diesen Ruf kam eine schöne kleine Ziege mit vergoldeten Hörnern, vergoldeten Füßen und einem vergoldeten Halsbande.

»Djali,« sagte die Tänzerin, »jetzt ist es an dir.«

Sie setzte sich und hielt der Ziege ihren Tambourin hin.

»Djali,« fuhr sie fort, »in welchem Monat des Jahres sind wir?«

Die Ziege hob ihren Vorderfuß und gab einen Schlag damit auf das Tambourin. Die Menge staunte und klatschte Beifall.

»Djali,« fuhr die Zigeunerin fort, »den wie vielten Tag des Monats haben wir?«

Die Ziege hob ihren kleinen vergoldeten Fuß und gab damit sechs Schläge.

»Djali, wie viel Uhr ist es jetzt?«

Die Ziege gab sieben Schläge, und in demselben Augenblicke zeigte die Thurmuhr die siebente Stunde an.

Die Menge staunte und war bezaubert.

»Das geht nicht mit rechten Dingen zu, das ist Hexerei,« sagte der Kahlkopf, der die Zigeunerin nicht aus den Augen ließ, in finsterem Tone.

Beim Klang dieser Stimme schauderte das Mädchen zusammen, aber der stürmische Beifall der Menge gab ihr wieder frischen Muth.

»Djali,« fuhr sie fort, »mach einmal den Meister Guichard Grand-Remy bei der Prozession an Mariä Reinigung.«

Die Ziege setzte sich auf die Hinterfüße, fing an zu blöcken und marschirte so gravitätisch im Kreise herum, daß alle Zuschauer laut auflachten.

»Djali,« fuhr das Mädchen, durch den steigenden Beifall ermuntert, fort, »wie predigt der Meister Jakob Charmolue?«

Die Ziege setzte sich auf das Hintertheil, fing an zu blöcken und focht mit den Vorderfüßen so eifrig durch die Luft, daß man einen orthodoxen Pfarrer auf der Kanzel zu sehen glaubte.

Die Menge schlug ein wieherndes Gelächter auf.

»Kirchenschändung! Entweihung des Heiligen!« rief die Stimme des Kahlkopfs.

Die Zigeunerin wandte sich gegen ihn und sagte: »Oh, der garstige Mensch!« warf den Mund auf, drehte sich auf dem Absatz herum und hielt den Tambourin hin, um die Gaben der Zuschauer einzusammeln. Als sie an die Stelle kam, wo unser armer Dichter stand, fuhr er mechanisch in die Tasche und fand sie leer. Das schöne Kind stand vor ihm, betrachtete ihn mit ihren schwarzen Augen, hielt den Tambourin in der ausgestreckten Hand und wartete der Gabe. Der unglückliche Poet schwitzte große Tropfen. Hätte er Peru in der Tasche gehabt, er würde es hingegeben haben; aber Peter Gringoire hatte Peru nicht, und Amerika war noch nicht entdeckt. Glücklicherweise kam ein unerwarteter Zufall dem armen Dichter zu Hülfe.

»Willst Du dich packen, ägyptische Heuschrecke?« rief eine kreischende Stimme aus dem dunkelsten Winkel des Platzes. Die Tänzerin wendete sich erschrocken um. Es war nicht die Stimme des Kahlkopfs, sondern eine Weiberstimme, die Stimme einer bösen, garstigen Betschwester.

Dieser Zuruf, der die Zigeunerin erschreckte, erweckte ein Hellauf unter einem Rudel Kinder, die sich auf dem Platze herumtrieben.

»Die alte Klausnerin vom Rolandsthurm!« riefen sie mit lautem Lachen. »Die alte Hexe brummt! Hat sie nicht zu Nacht gegessen? Wir wollen ihr etwas von den Ueberresten des Buffet der Stadt zutragen.«

Der ganze Haufen stürzte sich zumal der Tafel zu, an welcher heute die Stadt Paris öffentlich speisen ließ.

Diesen Zwischenakt hatte der Dichter benützt, um sich von der Tänzerin wegzuschleichen. Das Geschrei der Kinder brachte ihm in Erinnerung, daß er auch noch nicht gespeist habe. Er lief demnach dem Buffet zu; aber die kleinen Spitzbuben hatten flinkere Beine als er, und als er ankam, hatten sie bereits die Tafel geleert.

Es ist ein böses Ding, hungrig zu Bette zu gehen; noch schlimmer ist es aber, wenn man weder Nachtessen noch Bett hat. In diesem Falle befand sich unser Poet. Kein Brod, kein Obdach, Mangel an Allem! Er hatte schon lange die Entdeckung gemacht, daß Jupiter die Menschen in einem Anfall von Misanthropie geschaffen, und daß der Weise sein ganzes Leben lang mit den Tücken eines feindlichen Schicksals zu kämpfen habe.

Aus diesen düsteren Gedanken weckte ihn ein, obgleich lieblicher, doch seltsam klingender Gesang. Die junge Zigeunerin war es, die ihn angestimmt hatte. Die Worte, welche sie sang, gehörten einer unserem Dichter unbekannten Sprache an. Gleichwohl wurde er von der Lieblichkeit derselben ganz hingerissen, und dies war seit mehreren Stunden der erste Augenblick, wo er weder Hunger noch Durst fühlte.

Dieser Moment war nur kurz. Die nämliche Weiberstimme, welche den Tanz der Zigeunerin unterbrochen hatte, unterbrach auch ihren Gesang.

»Willst Du wohl schweigen, Du höllische Grille?« schrie sie aus dem nämlichen dunkeln Winkel.

Die arme Grille hielt plötzlich inne. Peter Gringoire hielt sich die Ohren zu und rief: »Verdammte, schnarrende Säge, welche die Leier zermalmt!«

Die übrigen Zuschauer murrten gleich ihm. »Zum Teufel mit der alten Klosterschwester!« riefen mehrere Stimmen, und die geifernde Betschwester hätte vielleicht ihre Ausfälle gegen die Zigeunerin zu bereuen gehabt, wenn nicht in diesem Augenblicke die Prozession des Narrenpabstes, nachdem sie zuvor durch hundert Gassen gezogen, mit Fackeln und großem Geräusch auf dem Grèveplatz erschienen wäre.

Diese Prozession hatte sich, seit sie den Justizpalast verlassen, vollständig organisirt und Alles an sich gezogen, was die Stadt Paris an disponiblen Gaunern, Dieben und Landstreichern besaß. Sie bot daher, als sie auf dem Grèveplatz ankam, einen sehr respektabeln Anblick dar.

Voran marschirte Aegyptenland. Der Herzog von Aegypten zu Pferd an der Spitze, neben ihm her seine Grafen zu Fuß, Steigbügel und Zaum seines Rosses haltend; hinter ihnen Aegypter und Aegypterinnen, mit ihren schreienden Kindern auf der Schulter, in bunter Mischung.

Hierauf kam das Königreich Kauderwelsch, d. h. sämmtliche Diebe von Frankreich, nach Stand und Würden geordnet; die Geringsten an Stand und Würde zogen voran, je vier und vier mit den verschiedenen Insignien ihrer Grade in dieser seltsamen Fakultät. Zuletzt kam, von den Großwürdenträgern seines Reiches umgeben, der König des Königreichs Kauderwelsch in einem kleinen Wagen, den zwei große Hunde zogen. Dann kam das Kaiserreich Galiläa mit seinem Kaiser in der Mitte seines Hofstaats. Endlich erschien, im Mittelpunkt dieses Gewimmels, auf seinem von hundert Kerzen erhellten Tragsessel der Narrenpabst, von den Großwürdenträgern seines Reichs auf den Schultern getragen. Dieser Pabst, auf seinem glänzenden Sessel sitzend, die dreifache Krone auf dem Haupt, St. Peters Stab in der Hand, war der Glöckner der Liebfrauenkirche, Quasimodo der Bucklige.

Das häßliche und düstere Gesicht des Zwergs hatte einen Anflug von Selbstgefühl und Wohlbehagen angenommen. Dies war der erste Genuß seiner Eigenliebe, den er jemals empfunden. Bis auf diese Stunde hatte er bloß Demüthigung, Verachtung seines Gewerbes, Ekel an seiner Person erfahren. Obgleich taub, schlürfte er doch, wie ein wahrer und wirklicher Pabst, den Beifallsruf der Menge behaglich ein. Ob sein Volk ein zusammengeraffter Haufe von Narren, Gaunern, Dieben und Bettlern war, was lag daran! Es war immer ein Volk und er ein Souverän. Der Zwerg nahm die ironischen Beifallsbezeugungen, die man ihm erwies, als vollen Ernst auf. Man muß jedoch gestehen, daß sie nicht ohne eine Beimischung von Furcht dargebracht wurden, denn der Bucklige war stark, der Krummbeinige behend und der Taube bösartig; lauter Eigenschaften, die den Scherz dämpfen.

Im Uebrigen glauben wir nicht, daß der neue Narrenpabst von den Gefühlen, die er empfand und einflößte, sich selbst Rechenschaft ablegen konnte. Der Geist, der in diesem verwahrlosten Körper wohnte, hatte natürlich auch etwas Unvollständiges und Mangelhaftes. Was der Zwerg in diesem Augenblicke fühlte, war für ihn durchaus unklar und unbestimmt. Nur das ließ sich erkennen, daß die Freude auf seinem Gesichte schimmerte und der Hochmuth auf seiner Stirne thronte.

Nicht ohne Staunen und Schrecken sah man daher, als Quasimodo in der Trunkenheit seiner Macht triumphirend einherzog, einen Mann aus der Menge auf ihn zustürzen und ihm mit zorniger Geberde den vergoldeten Stab, den er als Zeichen seines Pabstthums in der Hand trug, entreißen. Dieser Verwegene war der Kahlkopf, der kurz zuvor das arme Zigeunermädchen durch seine drohenden Worte erschreckt hatte. Er trug eine geistliche Kleidung. Im Augenblicke, da er aus der Menge trat, erkannte ihn Peter Gringoire, der ihn bis jetzt nicht bemerkt hatte, und rief erstaunt: »Das ist ja mein Meister in Hermes, Don Claude Frollo, Archidiakonus! Was Teufels will er von diesem garstigen Einäugigen? Hat er etwa Lust, sich von ihm mit den Zähnen zerreißen zu lassen?«

In der That erhob sich eben auch ein Schrei des Entsetzens. Der furchtbare Zwerg war schnell von dem Tragsessel herabgestürzt, und die Weiber wendeten bereits ihre Augen ab, denn sie glaubten nicht anders, als daß er den Archidiakonus mit Haut und Haar auffressen würde.

Quasimodo hatte mit einem mächtigen Satze den Angreifer erreicht, blickte ihm verwundert ins Gesicht und fiel dann auf die Kniee nieder. Der Priester riß ihm seine dreifache Krone ab und zerschlug seinen vergoldeten Stab. Quastmodo blieb mit gesenktem Haupte und gefalteten Händen auf den Knieen liegen.

Jetzt erhob sich zwischen den Beiden ein seltsames Zwiegespräch von Zeichen und Geberden, denn weder der Eine noch der Andere redete. Der Priester, aufrecht, zornig, drohend, gebieterisch; Quastmodo bestürzt, demüthig, flehend!

Endlich faßte der Priester den Zwerg an seiner mächtigen Schulter rauh an und gab ihm ein Zeichen, aufzustehen und ihm zu folgen. Quasimodo erhob sich.

Jetzt wollte die Brüderschaft der Narren, nachdem sie von ihrer Ueberraschung zurückgekommen war, ihren so plötzlich entthronten Pabst vertheidigen. Das Königreich Aegypten und ganz Kauderwelsch stürzten auf den Priester los.

Da stellte sich der Zwerg vor ihn hin, ballte seine mächtigen Fäuste und grinste mit den Zähnen, wie ein erboßter Tiger. Der Priester gab ihm ein Zeichen und wendete sich stillschweigend von der Menge ab. Der Zwerg schritt vor ihm her und öffnete ihm links und rechts einen Weg.

Ein Haufe Neugieriger und Müßiger folgte ihnen schreiend nach. Jetzt deckte der Zwerg den Rückzug des Priesters. Als ihn die Menge so erblickte, in seiner untersetzten kräftigen Gestalt, mit seinem düstern, unglückverkündenden Gesichte, seine unförmlichen Glieder zum Kampf anspannend, gleich einem Keuler des Waldes seine Hauer leckend, grinsend wie ein wildes Thier, hielt sie sich in gemessener Entfernung.

Bald hatten Priester und Zwerg eine enge finstere Gasse erreicht, wohin ihnen Niemand zu folgen wagte, so sehr schreckte schon der Gedanke an das grinsende Thier Quasimodo Jeden zurück.

»Seltsam! Sonderbar!« sprach Peter Gringoire, der diesem Auftritt angewohnt hatte, »aber wo Teufels werde ich etwas zu essen finden?«

VIII.

Peter Gringoire hatte gesehen, daß das schöne Zigeunermädchen mit ihrer Ziege in die Messerschmiedstraße einlenkte; er nahm denselben Weg.

Und warum denn nicht? sprach er zu sich selbst.

Peter Gringoire, der alle Gassen von Paris mit seinen langen Füßen gemessen hatte, war zu der sublimen Entdeckung gelangt, daß nichts poetischer sei, als einem schönen Mädchen auf dem Fuße zu folgen, ohne daß man weiß, wohin sie geht. Es lag, wie er behauptete, in dieser freiwilligen Verzichtleistung auf den eigenen Willen, in dieser Phantasie, welche sich einer anderen Phantasie unterordnet, eine Mischung phantastischer Unabhängigkeit und blinden Gehorsams, ein Mittelding zwischen Sklaverei und Freiheit, das unserem Dichter, der sich gerne in der Mitte der Dinge hielt, wohl gefiel. Schade, daß Peter Gringoire todt ist, wie schön könnte er nicht, wenn er noch lebte, die richtige Mitte zwischen Klassikern und Romantikern halten!

Unser guter Dichter, der ohnedies nicht wußte, wo er die Nacht zubringen sollte, folgte der schönen Zigeunerin, welche flüchtig einherschritt und ihre Ziege an der Hand mit sich führte, auf dem Fuße. Als dieser Wettlauf, denn Peter Gringoire folgte ihr eben so rasch, ohne sie je zu erreichen, kein Ende nehmen wollte und Straße auf, Straße ab führte, wurde unser Dichter nachdenklich und sprach für sich: Nun, irgendwo muß sie doch wohnen! Diese Zigeunermädchen sind gutmüthig … wer weiß!

An dieses »wer weiß!« schienen sich allerhand angenehme Ideen zu knüpfen; denn, trotz Hunger und Durst, verklärte sich das Gesicht des Poeten durch ein freundliches, bedeutungsvolles Lächeln.

Die Hausbewohner schlossen ihre Thüren und löschten ihre Lichter. Die Straßen wurden allmählig finsterer und einsamer. Nur selten noch fand man einen verspäteten Nachtwanderer, oder sah an irgend einem Fenster noch ein Lichtlein brennen. Die Zigeunerin und ihre Ziege schritten rüstig vorwärts; Peter Gringoire folgte ihnen immer gleich rasch auf dem Fuße. Jetzt hatten sie sich in das Labyrinth der unzähligen Gassen und Winkel der Altstadt verirrt. Das Zigeunermädchen schien den Weg genau zu kennen, denn sie schritt immer eilig vorwärts, ohne einen Augenblick anzuhalten.

Seit Kurzem erst schien sie den Mann bemerkt zu haben, der ihr beständig nachging; sie drehte einige Male den Kopf nach ihm um und beflügelte dann ihre Schritte, wie Jemand, den die Angst weiter treibt. Jetzt verschwand das Mädchen um eine Ecke, und in demselben Augenblicke hörte unser Dichter einen durchdringenden Schrei. Er eilte schnell vorwärts und sah beim Schein einer Lampe, die vor einem Muttergottesbilde brannte, wie das Zigeunermädchen sich gegen zwei Männer wehrte, welche sie umfaßt hielten und ihr Geschrei zu ersticken suchten. Die arme kleine Ziege stand dabei, senkte die Hörner und blöckte jämmerlich.

»Halt, Ihr Gaudiebe!« schrie unser Dichter ritterlich und stürzte tapfer auf sie los. Einer der Männer drehte sich gegen ihn um. Es war das scheußliche Angesicht des einäugigen Zwergs.

Peter Gringoire floh nicht, aber er wagte keinen Schritt weiter vorwärts. Der Zwerg hob den mächtigen Arm und schleuderte ihn mit einem einzigen Stoß vier Schritte von sich auf das Pflaster, ergriff dann das Mädchen und trug sie so leicht davon, als ob er eine Flaumfeder auf dem Arme hätte. Sein Spießgeselle folgte ihm und hinter beiden rannte mit kläglichem Blöken die Ziege.

»Räuber! Mörder!« schrie das unglückliche Zigeunermädchen.

»Halt, Ihr Schufte! laßt das Mädchen los!« schrie plötzlich mit einer Donnerstimme ein Reiter, der um die nächste Ecke kam.

Es war ein Hauptmann der königlichen Bogenschützen, vom Kopf bis zum Fuß gepanzert und die eingelegte Lanze in der Faust.

Der Reiter entriß das Zigeunermädchen dem bestürzten Zwerg und nahm sie vor sich auf den Sattelknopf. Von seinem ersten Schrecken zurückgekommen, stürzte der furchtbare Zwerg auf den Reiter los, um ihm seinen Raub wieder abzunehmen; aber in demselben Augenblicke sah er sich von einem Dutzend Lanzenreitern umringt, die ihrem Offizier auf dem Fuße gefolgt waren. Quasimodo wurde gepackt und geknebelt. Er heulte, er schäumte vor Wuth und biß mit den Zähnen um sich. Sein Spießgeselle war während des Kampfes entflohen.

Das Zigeunermädchen richtete sich mit Grazie auf dem Sattel empor, blickte den Offizier mit ihren schalkhaften Augen an und fragte mit dem ganzen Wohllaut ihrer Stimme: »Wie heißt Ihr, Herr Gendarm?«

»Hauptmann Phöbus de Chateaupers, Euch zu dienen, mein schönes Kind!« erwiederte der Offizier, und während er sich im Sattel aufrichtete und behaglich seinen Schnurrbart strich, gleitete die behende Zigeunerin rasch vom Pferde herab und entfloh mit der Schnelligkeit des Windes.

»Beim Nabel des heiligen Vaters!« sagte der Offizier, »ich hätte lieber das Mädchen behalten als den garstigen Zwerg. Schnallt dem Schuft die Riemen fester.«

»Je nun, Herr Hauptmann,« erwiederte einer der Gendarmen, »die Grasmücke ist davon geflogen und die Fledermaus zurückgeblieben!«

Inzwischen lag der arme Peter Gringoire noch immer auf dem Pflaster vor der Lampe, welche die Nische des Muttergottesbildes erhellte, und wohin ihn die kräftige Faust des Zwerges geschleudert hatte. Allmählig kam er wieder zu sich. Anfangs zwischen Traum und Wachen schwebend, vermischten sich in seinem Geiste die schlanken Figuren des Zigeunermädchens und der Ziege mit der gewichtigen Faust des Zwerges, die ihn zu Boden geschleudert hatte. Dieser Zustand war vorübergehend. Eine empfindliche Kälte am unteren Theile seines Körpers brachte ihn bald völlig zu sich; er lag mit dem halben Leibe in dem Bach, der durch diese Gasse rieselte.

Der arme Dichter versuchte aufzustehen, aber alle seine Glieder waren wie gelähmt. Verfluchter buckliger Cyklop! brummte er zwischen den Zähnen.

Der Name des Zwergs führte ihm das Bild des Archidiakonus Claude Frollo, des Begleiters von Quasimodo, in’s Gedächtnis zurück. Die gewaltsame Scene, welcher er angewohnt hatte, schwebte an ihm vorüber; er erinnerte sich, daß es zwei Männer waren, gegen welche sich das Zigeunermädchen wehrte, und das finstere, hochmüthige Gesicht des Archidiakonus trat verwirrt vor den Blick seines Geistes.

Das wäre doch seltsam! dachte er bei sich selbst, und auf den Grund dieses Gedankens baute er eine Menge Hypothesen, deren eine immer sonderbarer war als die andere. Nässe und Kälte weckten ihn aus seinen Träumen zur rauhen Wirklichkeit: Mich hungert! mich dürstet! mich friert! seufzte er in kläglichem Tone.

Ein Haufe jener kleinen Halbwilden, die halbnackt gehen, und von jeher zu Paris unter dem Namen Gamins bekannt waren und noch sind, lief unter lautem Geschrei und Lachen der Stelle zu, an welcher unser armer Dichter ausgestreckt lag. Sie zogen einen Strohsack hinter sich nach, und das bloße Geräusch ihrer Holzschuhe hätte einen Todten erwecken können. Peter Gringoire, der noch etwas Leben in sich spürte, erhob sich mit halbem Leibe.

»Juchhe! Juchhe!« schrieen die Jungen aus voller Kehle, »der alte Eustach Moubon, der Hufschmied an der Ecke ist gestorben. Wir wollen mit seinem Strohsack ein Freudenfeuer machen!«

Mit diesen Worten warfen sie den Strohsack gerade auf den unglücklichen Poeten, in dessen Nähe sie gekommen waren, ohne ihn zu sehen. Zugleich nahm einer der Jungen eine Handvoll Stroh, um es an der Lampe der heiligen Jungfrau anzuzünden.

Hunger! Durst! Kälte! Hitze! soll ich durch alle Qualen der Hölle gehen und zuletzt noch den Feuertod sterben? seufzte der geängstigte Dichter, raffte sich, von Todesfurcht getrieben, gewaltsam auf und warf den Strohsack mitten unter den Haufen der Gamins.

»Heilige Jungfrau! Der todte Hufschmied!« schrieen die Jungen und liefen über Hals und Kopf davon.

Der Dichter entfloh nach der andern Seite und der Strohsack blieb Meister des Schlachtfeldes. Am andern Morgen wurde er gefunden und mit großem Pomp in die Kirche Sainte-Opportune gebracht. Man konnte dort bis auf die neuesten Zeiten aus dem Munde des Sakristans das Wunder vernehmen, welches das Marienbild im Winkel der Straße Mauconseil in der ewig denkwürdigen Nacht vom 6. auf den 7. Januar 1482 verrichtet hatte, indem es den verstorbenen Hufschmied Moubon, den der Teufel in seinen Strohsack gebannt hatte, durch seine bloße Gegenwart aus demselben herausbeschwor.

XXI.

Seit dem Tage, wo Quasimodo auf dem Pranger gestanden hatte, glaubten die Nachbarn der Liebfrauenkirche zu bemerken, daß der Feuereifer des Glöckners für seine Glocken sehr erkaltet war. Vorher wurde zu jeder Stunde und bei jedem Anlaß, von der Frühmette bis zur Vesper, anhaltend eifrig, durch alle Tonleitern der Glocken geläutet. Die alten Thürme der Liebfrauenkirche erzitterten den ganzen Tag unter ihrem Schalle. Man fühlte ohne Unterlaß die Gegenwart eines geräuschvollen Geistes, der ihren metallenen Mund in Bewegung setzte. Jetzt schien dieser Geist verschwunden zu sein; die Kirche war stumm, die Feste und Leichenbegängnisse hatten ihr einfaches Geläute, trocken und nackt, was eben das Ritual erforderte, nicht mehr noch weniger. Von dem doppelten Geräusch, das eine Kirche mit der Orgel im Innern, der Glocke nach Außen macht, blieb nur die Orgel übrig. Man hätte glauben können, daß kein Glöckner mehr im Glockenturme sei. Gleichwohl war Quasimodo immer noch dort. Was war denn in ihm vorgegangen? Hielten ihn Scham und Verzweiflung wegen des Prangers immer noch niedergeschlagen, tönten die Peitschenhiebe des Stockmeisters noch immer in seiner Seele wieder, und hatte die Betrübniß über eine solche Behandlung jedes andere Gefühl in ihm erstickt, selbst die Liebe zu den Glocken? Oder hatte Marie eine Nebenbuhlerin in dem Herzen des Glöckners der Liebfrauenkirche, vernachlässigte er die große Glocke und ihre vierzehn Schwestern für etwas noch Liebenswürdigeres und Schöneres?

Es begab sich, daß in diesem Gnadenjahre 1482 Mariä-Verkündigung auf Dienstag den 25. März fiel. An diesem Tage war die Luft so rein und leicht, daß Quasimodo wieder einige Liebe für seine Glocken zu fühlen begann. Er stieg demnach in den nördlichen Thurm hinauf, während unten die Pforten für die gläubige Menge weit geöffnet waren.

Im Glockenthurme angelangt, betrachtete Quasimodo mit traurigem Kopfschütteln die Glocken, als ob es ihm leid sei, daß etwas Fremdartiges sich zwischen ihn und sie gestellt habe. Als er jedoch die Glocken in Schwung gesetzt hatte, und sie in den Lüften dahinfliegen sah, ward er wieder glücklich wie zuvor, und die Freude strahlte auf seinem Gesichte. Er ging und kam, lief von einer Glocke zur andern, ermunterte mit Stimme und Geberde die Sänger der Lüfte, gleich einem Kapellmeister, der seine Virtuosen anspornt,

»Munter,« rief er, »munter, Gabriele! sause durch die Luft und trage Deine Stimme durch die Stadt hin, es ist heute Festtag!«

»Thibault, nicht so faul, Du lässest nach, bist Du eingerostet, Du alter Träumer? So ist es recht! Schnell! Schnell! Man darf den Schlegel nicht sehen. Mache sie alle taub wie mich!«

»Guillaume! Guillaume! Du bist der größte und Pasquier ist der kleinste, und macht seine Sache besser als Du! Ich will wetten, daß man ihn weiter hört als Dich.«

So sprechend belebte Quasimodo den Eifer seiner geliebten Glocken.

Jetzt warf er zufällig einen Blick auf den Platz hinab und gewahrte auf demselben ein seltsam gekleidetes Mädchen, das einen Teppich auf den Boden ausbreitete, auf welchen sich eine kleine Ziege setzte; eine Gruppe Zuschauer sammelte sich um sie her. Dieser Anblick änderte plötzlich den Gang seiner Ideen. Quasimodo kehrte den Glocken den Rücken, setzte sich nieder und heftete auf die Tänzerin jenen träumerischen Blick, sanft und zärtlich, der schon einmal den Archidiakonus in Erstaunen gesetzt hatte. Der Glöckner schien Kirche, Thurm und Glocken vergessen zu haben und ganz in der Anschauung des lieblichen Geschöpfes zu leben, das unten auf dem Platze tanzte.

XXII.

An einem schönen Morgen dieses nämlichen Monats März, Samstag den 29., am St. Eustachstage, bemerkte unser junger Freund Johannes Frollo, der Mühlenhans, während er sich ankleidete, daß seine Börse keinen metallischen Klang mehr von sich gab.

»Arme Börse!« sprach er. »Keinen rothen Heller mehr! Ach! die Würfel, die Bierflaschen und Venus haben dich grausam ausgesogen! Wie bist du so leer, so flach, so runzlich!«

Traurig kleidete er sich an. Ein Gedanke schien in ihm aufzusteigen, aber nur widerstrebend. Er dachte nach, aber dieser Gedanke kam wieder. Endlich warf er zornig seine Mütze auf den Boden und rief: »Sei’s, wie es sei! Es muß sein. Ich gehe zu meinem Bruder, dem Archidiakonus. Er wird mir eine Predigt halten und einen Thaler geben.«

Mit diesen Worten raffte er seine Mütze vom Boden auf und schritt hinaus, wie ein Mensch, der zum Aeußersten schreitet. Als er vor der Liebfrauenkirche ankam, fühlte er sich aufs Neue unschlüssig. Er ging gedankenvoll ein paarmal auf und ab und sagte: »Die Predigt ist gewiß, der Thaler zweifelhaft! Wo ist mein Bruder, der Archidiakonus?« fragte er einen Meßner, der aus dem Kloster kam.

»Er ist,« erwiederte dieser, »in seiner Zelle im Thurm, und ich rathe Euch nicht, ihn dort zu stören, Ihr hättet denn eine Botschaft vom Pabst oder vom König auszurichten.«

Der Mühlenhans klatschte in die Hände und rief: »Das kommt wie gerufen, eine herrliche Gelegenheit, die berüchtigte Zauberzelle zu sehen.«

Während er den Thurm hinaufstieg, hielt er folgendes Selbstgespräch: »Ich bin recht neugierig, diese Wunderzelle zu sehen, die mein Bruder versteckt, wie sein Pudendum! Es heißt, daß er dort große Oefen anzünde, um den Stein der Weisen zu kochen! Wie einfältig! Mir liegt an dem Steine der Weisen so wenig, als an einem Kieselstein, und es wäre mir lieber, wenn ich in seinem Ofen einen Eierkuchen mit Speck fände, als den größten Stein der Weisen, den es auf der Welt geben mag.«

Nachdem er tausend Schock Donnerwetter über die endlose Treppe geflucht hatte, kam er endlich keuchend vor der magischen Zelle seines Bruders an. »Uf!« sagte er, »da sind wir ja!«

Der Schlüssel steckte und die Thüre war nur angelehnt; er gab ihr einen leisen Stoß und brachte seinen Kopf durch die Oeffnung.

Wer Rembrand’s Faust gesehen hat, kann sich einen Begriff von dem machen, was jetzt Johannes Frollo erblickte: eine düstere Zelle, in der Mitte derselben eine Tafel mit Todtenköpfen, Sphären, Brennkolben, Compaß, hieroglyphischen Pergamenten. Vor dieser Tafel sitzt der Doktor Faust, seine Pelzmütze über die finstern Augenbraunen herabgezogen. Man sieht ihn nur mit halbem Leibe; er hat sich halb erhoben von seinem ungeheuern Lehnstuhl, stützt sich mit den Händen auf die Tafel und betrachtet, neugierig und schreckenvoll, einen großen leuchtenden Cirkel magischer Buchstaben, der im Hintergrund der Zelle auf der Wand glänzt. Die cabbalistische Sonne scheint unter der Anschauung zu flimmern und erfüllt die düstere Zelle mit den Strahlen eines geheimnißvollen Lichtes. Es ist schön und furchtbar zugleich.

So ziemlich den nämlichen Anblick hatte Johannes Frollo, als er durch die halboffene Thüre in die Zelle seines Bruders blickte. Sie war eben so düster als Doktor Faust’s. Es stand auch ein großer Lehnstuhl und eine große Tafel darin, deßgleichen Compasse, Brennkolben, Todtenköpfe, Skelette von Thieren, dicke Manuskripte; nur die leuchtende Inschrift an der Wand fehlte.

In dem Lehnstuhl saß, auf die Tafel niedergebückt, ein Mann, den Johannes Frollo an seinem Kahlkopf alsbald für seinen Bruder erkannte, obgleich er ihm den Rücken zukehrte. Der Archidiakonus war in so tiefen Gedanken, daß er die Anwesenheit seines Bruders nicht bemerkte. Er sprach in abgebrochenen Sätzen für sich, indem er von Zeit zu Zeit wieder in die Manuscripte blickte: »Ja, Manou sagt es und Zoroaster lehrt es! Das Feuer erzeugt die Sonne, die Sonne den Mond. Das Feuer ist die Seele des großen All. Seine elementarischen Atome ergießen sich unaufhörlich über die Welt und rieseln aus unzähligen Quellen. An den Punkten, wo diese Ausströmungen sich am Himmel durchschneiden, erzeugen sie das Licht, an ihren Durchschnittspunkten in der Erde erzeugen sie das Gold. Licht und Gold ist eins. – Feuer im concreten Zustand. – Die Verschiedenheit zwischen dem Sichtbaren und Fühlbaren, zwischen dem Flüssigen und Festen der nämlichen Substanz, der Wasserdünstung zum Eise, weiter nichts. – Das sind keine müßigen Träume, es ist das allgemeine Gesetz der Natur. – Aber wie das Geheimniß dieses allgemeinen Gesetzes in wissenschaftliche Regeln bringen? Wie! dieses Licht, das meine Hand überströmt, ist Gold! diese nämlichen Atome, die nach einem gewissen Gesetze vereinzelt sind, müssen nun nach einem gewissen andern Gesetze wieder vereint werden. – Wie nun? – Einige sind auf den Gedanken gerathen, einen Lichtstrahl einzuschließen. – Averroës, ja, der ist es, – Averroës hat einen solchen Lichtstrahl unter dem ersten linken Pfeiler des muhamedanischen Heiligthums in der großen Moschee zu Cordova eingeschlossen, allein man darf die Höhle nicht öffnen, um zu sehen, ob die Operation geglückt ist, bevor 8000 Jahre verflossen sind.«

Da müßte ich lange auf meinen Thaler warten, dachte der Mühlenhans bei sich. –

Andere waren der Meinung, fuhr der träumerische Priester fort, daß es besser sei, auf einen Strahl des Sirius zu operiren. Es ist aber sehr schwierig, diesen Strahl rein zu erhalten, wegen der gleichzeitigen Gegenwart anderer Gestirne, deren Strahlen sich damit vermischen. Flamel glaubt, daß es einfacher sei, auf das irdische Feuer zu operiren. – Flamel! Welcher prophetische Name! Flamma! – Ja, das Feuer, sonst nichts, darin liegt Alles. – Der Diamant ist in der Kohle, das Gold im Feuer. – Aber wie es herausziehen? – Magistri behauptet, daß es gewisse Frauennamen von so geheimnißvollem Zauber gebe, daß es nichts weiter bedürfe, als sie während der Operation auszusprechen. – Laßt doch sehen, was hierüber Manou sagt: »Wo man die Weiber ehrt, ist Gott geliebt; wo man sie verachtet, braucht man nimmer zu Gott zu beten. Der Mund eines Weibes ist eine reine Quelle, ein fließendes Wasser, ein Sonnenstrahl. – Der Name eines Weibes muß angenehm, sanft, wohlklingend sein und Weisen einer Benediction gleichen…« – Fürwahr! der Weise hat Recht: Maria, Sophia, Esmeral… – Verflucht seist Du! Immer dieser Gedanke!

Der Priester schlug das Buch, aus dem er gelesen hatte, heftig zu und rieb mit seiner Hand die Stirne, als ob er den Gedanken, der ihn verfolgte, aus dem Kopfe treiben wollte. Hierauf nahm er vom Tische einen Nagel und einen kleinen Hammer, dessen Stiel mit cabbalistischen Zeichen seltsam bemalt war.

Seit einiger Zeit, sagte er mit bitterem Lächeln, scheiterte ich in allen meinen Versuchen! Ich bin von einer fixen Idee besessen, die mein Hirn verzehrt, wie ein brennendes Feuer. Ich konnte nicht einmal Cassiodors Geheimniß, dessen Lampe ohne Docht und Oel brannte, wieder auffinden, und das ist doch eine so leichte und einfache Sache!

Den Teufel auch, mag das leicht sein! brummte der Mühlenhans in den Bart.

Es bedarf also, fuhr der Priester fort, bloß eines einzigen ärmlichen Gedankens, um den Menschen schwach und toll zu machen! wie würde doch Claude Pernelle über mich lachen, sie, die nicht einen Augenblick Nicolas Flamel von dem großen Werke abwendig zu machen vermochte!

Wie! ich halte in meiner Hand Zechiels magischen Hammer! Bei jedem Streiche, den der furchtbare Rabbiner, in seine Zelle eingeschlossen, mit diesem Hammer auf diesen Nagel schlug, that sich plötzlich die Erde auf und verschlang denjenigen seiner Feinde, den er dem Untergang geweiht hatte, wäre er auch zweitausend Meilen weit entfernt gewesen. Der König von Frankreich selbst mußte im Pflaster von Paris bis an die Kniee versinken, bloß weil er eines Abends unbedachtsam an die Pforte des Wunderthäters gepocht hatte. Und das ist erst vor dreihundert Jahren geschehen. Diesen Hammer und diesen Nagel nun besitze ich, aber was sind sie in meiner schwachen Hand? Eben so wenig furchtbar, als der Schmiedhammer in der Faust eines Grobschmieds. Und gleichwohl braucht es nichts, als die Zauberformel wieder aufzufinden, welche Zechiel aussprach, während er auf den Nagel klopfte.

Das wird keine so große Hexerei sein! dachte der Mühlenhans.

Es kommt nur auf einen Versuch an, fuhr der Priester lebhaft fort. Ist das rechte Wort gefunden, so wird ein blauer Funken aus dem Nagel strömen. – Emen-Hetan! Emen-Hetan! Emen-Hetan! – Das ist nicht das rechte Wort. – Sigeani! Sigeani! Nagel, Nagel, öffne das Grab Jedem, der den Namen Phöbus trägt! – Verflucht seist Du! immer und ewig der nämliche Gedanke! Mit diesen Worten warf er den Hammer zornig von sich und beugte sich so tief auf die Tafel nieder, daß ihn der lauschende Johannes Frollo vor der ungeheuern Lehne seines Stuhls nimmer sehen konnte. Plötzlich erhob er sich wieder, nahm einen Zirkel und grub stillschweigend in die Mauer das griechische Wort:

ΑΝΑΓΚΗ

Mein Bruder ist ein Narr, dachte der Mühlenhans bei sich. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn er geschrieben hätte: Fatum. Es braucht nicht Jedermann Griechisch zu verstehen.

Der Archidiakonus setzte sich wieder in seinen Lehnstuhl und stützte das Haupt in seine beiden Hände, wie ein Kranker thut, dessen Kopf schwer und brennend ist.

Der Student staunte bei diesem Anblick. Er, dessen Herz in der frischen freien Luft flatterte, wie ein Vogel, der auf der Welt kein anderes Gesetz befolgte, als das der Natur, der seinen Neigungen und Leidenschaften freien Lauf ließ, und bei dem der See großer menschlicher Erschütterungen immer trocken war, weil er ihn jeden Tag in vollen Strömen fließen ließ, er wußte nicht, wie stürmisch dieses Meer menschlicher Leidenschaften aufwallt und gegen die Ufer schlägt, wenn man ihm jeden Ausgang wehrt, wie es anschwillt und das Herz durchfrißt, wie es wallt und wogt, bis es die Dämme durchgraben und sich sein Bett gebrochen hat. Des Priesters ernste und kalte Außenseite, die eisartige Oberfläche unzugänglicher Tugend hatte Johannes Frollo immer getäuscht. Der lustige Student hatte niemals daran gedacht, daß unter dem schneebedeckten Gipfel des Aetna ein Meer flammender Lava verborgen liegt.

Er konnte sich vielleicht im Augenblicke keine genaue Rechenschaft über diese Gedanken geben, aber das fühlte er doch, daß er gesehen, was er nicht hätte sehen sollen; daß er die Seele seines älteren Bruders in einem Erguß ihrer geheimsten Tiefen überrascht hatte, und daß dieser nichts davon erfahren durfte. Als er daher sah, daß der Archidiakonus in seine vorige Unbeweglichkeit zurückgefallen war, zog er sachte den Kopf aus der Thüre und machte hinter derselben ein Geräusch, wie Jemand, der gerade ankommt und seine Ankunft schon von ferne anmelden will.

»Herein!« rief der Archidiakonus. »Ich habe auf Euch gewartet und deswegen den Schlüssel stecken lassen. Nur herein, Meister Jakob!«

Der Student trat keck in die Zelle. Der Priester, dem ein solcher Besuch an solchem Orte unwillkommen, war, rief ihm mißmuthig entgegen: »Wie! Du bist es! Johann?«

»Es ist immerhin ein J,« erwiederte der Student mit seinem rothen, lustigen, unverschämten Gesichte.

Der Archidiakonus nahm eine ernste und strenge Miene an: »Was willst Du hier?«

»Mein Bruder,« erwiederte der Student, indem er sich vergebliche Mühe gab, sein Gesicht in anständige und bescheidene Falten zu legen, ich wollte Euch nur bitten…«

»Um was?«

»Um ein wenig Moral, deren ich sehr benöthigt bin.« Der Mühlenhans wagte nicht hinzuzufügen: und um ein wenig Geld, das ich noch nothwendiger habe.

»Mein Freund,« sagte der Archidiakonus frostig, »ich bin sehr unzufrieden mit Dir.«

»Ei du mein Gott!« seufzte der Student.

Der Priester faßte ihn scharf ins Auge. »Es ist gut, daß Du selbst kommst.«

Dieser Eingang war nicht sehr erbaulich, und der Mühlenhans war einer scharfen Strafpredigt gewärtig.

»Johann, man bringt mir täglich Klagen über Dich vor. Was ist es denn mit der Bastonade, die ihr dem jungen Vicomte Albert de Ramonchamp gegeben habt?«

»Oh! Das ist nicht der Mühe werth: ein unverschämter Page, der absichtlich sein Pferd durch den Koth sprengte, um die Studenten zu bespritzen!«

»Was ist es weiter mit einem gewissen Mahiet Fargel, dessen Kleid ihr zerrissen habt?

Tunicam dechiraverunt, besagt die Klagschrift.«

»Bah! Es war nur ein schlechter Kittel! Was ist da für ein Lärm darum?«

»Die Klagschrift besagt Tunicam, und nicht cappettam. Verstehst Du Dein Lateinisch?«

Johannes antwortete nichts.

»So,« fuhr der Priester mit Kopfschütteln fort, »so steht es jetzt um die Wissenschaft und das Studium? Die lateinische Sprache versteht man kaum, die hebräische gar nicht, die griechische ist so unbekannt, daß selbst die Gelehrtesten sich nicht schämen, ein griechisches Wort zu überhüpfen, und daß es fast sprüchwörtlich geworden ist: graecum est, non legitur.«

Der Student erhob kühnlich seine Augen zu dem Priester: »Wenn es Euch gefällig ist, Herr Bruder, so will ich Euch das griechische Wort, das dort auf der Mauer steht, auf gut Französisch erklären.«

»Welches Wort?«

ΑΝΑΓΚΗ

Eine leichte Röthe färbte die bleichen Wangen des Priesters, gleich dem emporsteigenden Rauche, der die innere Glut eines Vulkans nach Außen ankündigt. Der Student bemerkte sie kaum.

»Je nun,« stotterte der ältere Bruder mühsam, »so sage mir, was dieses Wort heißt.«

»Verhängniß

Der Archidiakonus wurde wieder bleich, und der leichtsinnige Student fuhr fort: »Und das Wort, das von der nämlichen Hand darunter gegraben ist: Αναγνεία, bedeutet Unkeuschheit. Ihr seht, daß man sein Griechisch versteht.«

Der Archidiakonus erwiederte nichts. Diese griechische Lektion hatte ihn in seine alten Träumereien versenkt. Der schlaue Mühlenhans, der sich auf alle Ränke eines verzogenen Kindes verstand, hielt den Augenblick für günstig, seine Bitte anzubringen. Er nahm daher eine äußerst sanfte Stimme an und begann auf folgende Weise:

»Mein lieber Bruder, Ihr werdet mir doch nicht böse sein wegen einer Tracht Schläge, welche etliche böse Buben in gerechter Fehde von mir erhalten haben?«

Dieser schmeichelnde Eingang machte jedoch auf den ernsten Archidiakonus nicht den gehofften Eindruck. Cerberus biß nicht in den Honigkuchen. Die Stirne des Priesters entrunzelte sich nicht im geringsten.

»Wo willst Du damit hinaus?« fragte er trocken.

»Je nun, um auf die Hauptsache zu kommen: ich brauche Geld.«

Auf diese unverschämte Anforderung nahm das Gesicht des Archidiakonus einen pädagogischen und väterlichen Ausdruck an.

»Ihr wißt, Meister Johann, daß unser Lehen von Tirechappe, wenn man Alles zusammenfegt, nicht über 39 Livres, 11 Sous und 6 Pfennige erträgt. Das ist zwar um die Hälfte mehr, als zu den Zeiten der Gebrüder Paclet, aber es ist noch nicht viel.«

»Ich brauche Geld,« sagte der Student mit stoischem Gleichmuth.

»Ihr wißt, daß nach dem Spruche des Officials unsere 21 Häuser des Lehens dem bischöflichen Stuhle frohnpflichtig sind, und daß wir diese Last mit zwei Mark abkaufen müssen. Nun wißt Ihr auch ferner, daß ich diese zwei Mark noch nicht zusammen zu bringen vermochte.«

»Ich weiß weiter nichts, als daß ich Geld brauche.«

»Und was willst Du damit machen?«

Auf diese Frage glänzte ein Hoffnungsstrahl in den Augen des Studenten. Er nahm seine vorige unterwürfige und süßliche Miene wieder an.

»Seht, mein lieber Bruder,« sagte er, »ich würde mich gewiß nicht in schlechter Absicht an Euch wenden. Es ist nicht davon die Rede, mit Euren Pfennigen in der Kneipe den Wildfang zu machen, noch im goldgestickten Mantel durch die Straßen von Paris zu ziehen, den Lakaien hinter mir, cum meo laquasio. Nein, lieber Bruder, dieses Geld ist zu einem guten Werke bestimmt.«

»Zu welchem guten Werke?« fragte der Archidiakonus etwas verwundert.

»Zwei meiner Freunde möchten gerne dem Kind einer armen Wittwe ein Wickelzeug kaufen. Das ist ein Almosen. Es kostet drei Gulden und ich möchte das Meinige auch dazu beitragen.«

»Wie heißen diese beiden Freunde?«

»Pierre l’Assommeur und Baptiste Croque-Oison.«

»Hm!« sagte der Archidiakonus, »die Namen dieser guten Freunde passen zu einem guten Werke wie die Faust auf ein Auge.«

Der Mühlenhans sah zu spät ein, daß er die Namen seiner beiden Freunde übel gewählt hatte.

»Und,« fuhr der kluge Priester fort, »einem armen Weib ein Kindszeug kaufen, das drei Gulden kostet!«

»Nun, zum Teufel,« fuhr der Student erbost auf, »so brauche ich also dieses Geld, um diesen Abend Isabelle im Liebesthale zu besuchen.«

»Unzüchtiger Mensch!« rief der Priester aus.

»Αναγνεία«, sagte Johannes.

Dieses Citat, welches der Student boshafter Weise von der Mauer der Zelle entlehnte, machte einen sonderbaren Eindruck auf den Priester. Er biß sich in die Lippen und sein Gesicht überzog sich mit einer Schamröthe.

»Packe Dich,« sagte er zu Johannes, »ich erwarte Jemand.«

Der Student machte noch einen letzten Versuch:

»Bruder Claudius, gib mir wenigstens ein halbes Livre, daß ich zehren kann.«

»Wo bist Du in Gratian’s Decretalien stehen geblieben?« fragte der Archidiakonus.

»Ich habe meine Hefte verloren.«

»Wie weit bist Du in den lateinischen Humanioren gekommen?«

»Man hat mir meinen Horaz gestohlen.«

»Wie steht es mit Deinem Aristoteles?«

»Meiner Treu, Herr Bruder! Sagt nicht ein gewisser Kirchenvater, daß die Ketzer aller Zeiten auf die metaphysische Waide des Aristoteles gegangen seien? Ich will kein aristotelisches Heu fressen und meine Religion nicht der Methaphysik opfern.«

»Junger Mensch,« fuhr der Archidiakonus fort, »bei dem letzten Einzug des Königs war ein Edelmann, Philipp de Comines genannt, auf dessen Pferdsdecke der Wahlspruch gestickt war: Qui non laborat, non manducet. Diesen Wahlspruch nimm Dir zu Herzen.«

Der Student zögerte einen Augenblick mit der Antwort, heftete das Auge auf den Boden und machte ein böses Gesicht. Plötzlich wandte er sich gegen seinen Bruder und sagte: »Ihr wollt mir also nicht einmal ein paar Sous geben, um bei dem nächsten Bäcker ein Brod zu kaufen?«

»Qui non laborat, non manducet.«

Auf diese Antwort des unerbittlichen Archidiakonus deckte der Mühlenhans seine Augen mit beiden Händen zu, wie ein schluchzendes Weib, und rief im Tone der Verzweiflung aus: O to to to to toi!

»Was will das heißen, Freund?« fragte der Archidiakonus, erstaunt über dieses tolle Benehmen.

»Je nun,« erwiederte der Student und erhob seine frechen Augen zu dem Priester, »das ist Griechisch! Es ist ein Anapäst von Aeschylus, das vollkommen den Schmerz ausdrückt.«

Bei diesen Worten brach er in ein so tolles, convulsivisches Gelächter aus, daß der Archidiakonus selbst mitlachen mußte. Es war freilich seine eigene Schuld, daß er den Knaben so verwöhnt hatte.

»Oh! mein guter Claudius!« fuhr Johannes, hierdurch ermuthigt fort, »seht doch einmal meine zerrissenen Stiefel an! Es gibt keinen tragischeren Cothurn auf der Welt, als ein paar Stiefel, von denen die Sohlen herabhängen.«

»Ich werde Dir neue Stiefel schicken, aber kein Geld,« versetzte der Archidiakonus mit wiederkehrender Strenge.

»Nur ein paar Sous, geliebtester Bruder!« flehte der Mühlenhans. »Ich will Gratian auswendig lernen, an Gott glauben und ein wahrer Pythagoras in Wissenschaft und Tugend sein. Nur ein paar lumpige Sous! Wollt Ihr, daß mich der Hunger fasse mit seinem offenen Munde, der mir drohend entgegenstarrt, schwarz, stinkend, wie ein Tartarus oder wie die Nase eines Mönchs?«

Der Archidiakonus wiederholte seinen Spruch: Qui non laborat…. Der Student ließ ihn nicht ausreden: »Zum Teufel!« schrie er. »Es lebe die Freude! Ich will mich festkneipen, ich will mich schlagen, ich will Krüge und Gläser zerbrechen, ich will zu den Mädchen gehen.«

Mit diesen Worten warf er seine Mütze an die Wand und ließ seine Finger knacken, wie Klappern.

Der Archidiakonus warf einen düstern Blick auf ihn: »Johann, Du bist ein Mensch ohne Seele.«

»In diesem Falle fehlt mir, laut Epikur, ein Etwas, das von einem Etwas geschaffen ist, welches keinen Namen hat.«

»Johann, Du mußt ernstlich auf Deine Besserung denken.«

»Ich sehe wohl,« rief der Student, indem er bald seinen Bruder, bald die Brennkolben auf dem Ofen betrachtete, »daß es hier verzwickte Gläser und verzwickte Ideen gibt.«

»Johann, Du stehst am Rande eines Abgrunds. Weißt Du, wohin das führen wird?«

»In die Kneipe,« sagte der Student.

»Die Kneipe führt auf den Pranger.«

»Das ist eine Laterne wie eine andere, und mit dieser hätte vielleicht Diogenes seinen Menschen gefunden.«

»Der Pranger führt an den Galgen.«

»Der Galgen ist eine Wage, an deren einem Ende ein Mensch, an dem andern die ganze Erde hängt. Es ist schön, ein Mensch zu sein,«

»Der Galgen führt in die Hölle.«

»Die Hölle ist ein großes Feuer.«

»Johann, Johann, das Ende wird schlecht sein.«

»Wenn nur der Anfang gut ist.«

In diesem Augenblicke ließen sich auf der Treppe menschliche Tritte hören.

»Stille,« sagte der Archidiakonus und legte seinen Finger aus den Mund, »da kommt Meister Jakob. Höre, Johann,« fügte er mit leiser Stimme hinzu, »rede niemals von dem, was Du hier gesehen und gehört hast. Verstecke Dich geschwind hinter den Ofen und rühre Dich nicht.«

Der Student kroch hinter den Ofen. Hier kam ihm ein guter Gedanke. »Bruder Claudius, einen Gulden, oder ich bin nicht still!«

»Schweig! ich verspreche Dir einen Gulden.«

»Ich will ihn gleich haben.«

»So nimm ins Teufels Namen,« schrie der Priester zornig und warf ihm seine Börse zu.

Der Mühlenhans schlüpfte wieder hinter den Ofen, und in diesem Augenblicke öffnete sich die Thüre.

II.

Was des Donnergottes glänzender Anzug bei der ungeduldigen Menge gut gemacht hatte, das verdarb seine ungeschickte Anrede wieder, und als er zu der unglücklichen Stelle kam: »Sobald Se. Eminenz der Herr Kardinal anlangt, werden wir das Stück beginnen,« verlor sich seine Stimme unter tausendfältigem Geschrei und Zischen,

»Gleich angefangen! Auf der Stelle! Das Mysterium! Sogleich das Mysterium!« schrie man von allen Seiten. Mitten unter dem allgemeinen Getöse vernahm man deutlich die helle, gellende Stimme des Mühlenhans: »Fort mit Jupiter und dem Kardinal Bourbon!«

»Sogleich das moralische Stück! Auf der Stelle! Den Strick für die Komödianten und den Kardinal!« schrie die Menge ungeduldig.

Der arme Donnergott, vor Entsetzen bleich, ließ den Blitz fallen, nahm demüthig seinen Helm ab, grüßte zitternd mit hundert Verbeugungen das Volk und stotterte: »Se. Eminenz … die Gesandten … Frau Margareth von Oesterreich …« hier blieb er stecken, denn die Angst vor dem Strick schnürte ihm die Kehle zu. Fing er das Stück nicht an, so hängte ihn das Volk; fing er es an, so ließ ihn der Kardinal hängen: von beiden Seiten drohte ihm der Strick.

In diesem kritischen Moment trat ein langer hagerer Mann, in einem abgetragenen schwarzen Rock, auf die Bühne zu und sprach: »Jupiter, mein lieber Jupiter!«

Dem Donnergott war vor Angst Hören und Sehen vergangen. Da schrie ihm der Andere unter die Nase: »Michel Giborne!«

»Wer ruft mich?« antwortete Jupiter wie aus einem Traume erwachend.

»Ich bin’s,« erwiederte der Schwarzrock.

»Ah, ah, ah!« sagte Jupiter tief ausathmend.

»Fange sogleich an,« sprach der Schwarze weiter. »Thue den Willen des Volles, ich will den Hausmeister besänftigen, und dieser wird den Kardinal beschwichtigen,«

Diese Worte hauchten dem Vater der Götter und Menschen neues Leben ein, und er schrie mit einer jupiterähnlichen Donnerstimme: »Meine Herrn Bürger, das Stück wird sogleich beginnen.«

»Evoe, Jupiter! Plaudite, cives!« riefen die Studenten.

»Hurrah! Hurrah!« schrie das Volk.

Ein betäubendes Händeklatschen folgte, und der Saal ertönte noch von rauschendem Beifall, als Jupiter längst hinter der Tapete verschwunden war.

Inzwischen hatte sich die Person, die, gleich einem Zauderer, den Sturm so plötzlich in Sonnenschein verwandelt, bescheiden in den Schatten eines Pfeilers zurückgezogen und wäre vielleicht dort unbemerkt geblieben, wenn nicht zwei junge Damen das Zwiegespräch zwischen ihm und Jupiter mit angehört hätten.

»Meister,« rief eine derselben dem Manne zu, und gab ihm ein Zeichen, sich zu nähern.

»Was machst Du denn da, liebe Lienarde?« sagte ihre junge reizende Nachbarin zu ihr, »das ist kein Geistlicher, sondern ein Laie, und man sagt zu ihm nicht »Meister,« sondern »Herr.«

In Folge dessen rief ihm Lienarde zu: »Herr

Auf diesen Ruf näherte sich der Unbekannte der Balustrade mit den Worten: »Was steht Euch zu Dienst, meine Damen?«

»Oh!« erwiederte Lienarde verwirrt, »nichts, meine Nachbarin Gisquette wünscht Euch zu sprechen.«

»Nein,« unterbrach sie Gisquette erröthend, »Lienarde hat Euch zugerufen: Meister! und ich sagte ihr bloß, du mußt »›Herr‹« sagen.«

Die beiden jungen Mädchen schlugen die Augen nieder. Der Unbekannte betrachtete sie lächelnd und sagte: »Ihr habt mir also nichts zu sagen, meine Damen?«

»Ganz und gar nichts,« antwortete Gisquette.

»Im geringsten nichts,« sprach Lienarde.

Als hierauf der Unbekannte sich entfernen wollte, siegte die weibliche Neugierde und Gisquette rief ihm lebhaft nach: »Herr, Ihr kennt also den Soldaten, der in dem Mysterium die Rolle der heiligen Jungfrau spielen wird?«

»Ihr wollt sagen: die Rolle Jupiters?« versetzte der Anonymus.

»Freilich, freilich, wie einfältig! Ihr kennt also den Jupiter?« fiel Lienarde ein.

»Michel Giborne?« antwortete der Unbekannte, »ja, den kenne ich.«

»Er hat einen gewaltigen Bart!« sprach Lienarde.

»Ist es schön, was sie da sagen werden?« fragte schüchtern Gisquette.

»Sehr schön,« antwortete der Anonymus.

»Was ist es denn eigentlich?« fragte Lienarde.

»Das gute Urtheil der heiligen Jungfrau, ein moralisches Stück, mit Euerm Wohlnehmen,«

»Ah, so!« sagte Lienarde. Hieraus folgte eine kurze Pause, welche der Unbekannte mit den Worten unterbrach: »Es ist ein ganz neues moralisches Stück, das noch nie aufgeführt wurde.«

»Es ist also nicht das nämliche, das man vor zwei Jahren bei dem Einzug des Legaten gab, und worin drei schöne Mädchen auftraten, welche die Rolle…«

»Der Sirenen spielten,« ergänzte Lienarde.

»Und zwar splitternackt,« fügte der Unbekannte hinzu.

Lienarde schlug schamhaft die Augen nieder. Gisquette sah sie an und machte es ebenso.

Der Unbekannte fuhr lächelnd fort: »Das war lustig anzuschauen. Das heutige Schauspiel ist aber ein moralisches Stück, das man ausdrücklich für die Dame von Flandern gemacht hat.«

»Wird man auch Schäferliedchen singen?« fragte Gisquette.

»Nicht doch,« antwortete der Unbekannte, »das kommt in einem moralischen Stücke nicht vor. Man muß die Gattungen nicht verwechseln. Ja, wenn es eine Posse wäre, dann allerdings.«

»Das ist Schade,« versetzte Gisquette. »Damals kamen Wilde, Männer und Weiber vor, die lustige Stückchen sangen.«

»Das ist schön genug für einen Legaten,« sagte trocken der Unbekannte, »aber einer Prinzessin gehört etwas Anderes.«

»Und wie die Musik,« sagte Lienarde, »so schöne Melodien spielte!«

»Und der Brunnen, aus dem Wein, Milch und süßer Wein floß, wo Jedermann so viel trinken konnte, als ihm beliebte.«

»Und die stumme Passion auf dem Dreifaltigkeitsplatze,« fuhr Lienarde redselig fort.

»Der Heiland am Kreuz und die zwei Schächer daneben,« rief Gisquette aus.

Jetzt, nachdem die beiden Plaudertaschen einmal in Gang gekommen waren, floß der Strom ihrer Rede zumal und unaufhaltsam.

»Und am Malerthor andere Personen, sehr reich gekleidet.«

»Und am Brunnen der unschuldigen Kindlein der Jäger, der unter großem Gebell der Hunde und unter dem Schalle der Jagdhörner ein Reh verfolgte!«

»Und als der Legat vorüberzog, lief man Sturm und hieb allen Engländern die Köpfe ab.«

»Und ließ mehr als zweihundert Dutzend Vögel aller Art fliegen, das war sehr schön!«

»Heute wird es noch schöner!« fiel ihnen der Anonymus ungeduldig in die Rede.

»Noch schöner!« rief Gisquette verwundert aus!

»Allerdings,« antwortete der Unbekannte mit Selbstgefühl, »Ihr erblickt in mir, meine Damen, den Verfasser des Stücks.«

»Den Verfasser!« riefen die beiden jungen Mädchen.

»Ihn selbst!« antwortete mit wichtiger Miene der Dichter; »d. h. wir sind unser zwei: Jean Marchand, der das Theater aufgeschlagen, und ich, der das Schauspiel verfertigt hat. Ich heiße: Peter Gringoire.«

Inzwischen hatte die zuvor so tobende Menge geduldig die Eröffnung des Schauspiels erwartet, aber noch immer blieb das Theater leer. Da rief Johannes Frollo mit lauter Stimme: »Holla! Heda! Jupiter, heilige Jungfrau, Gaukler der Hölle! Wo bleibt ihr denn! Das Stück! das Stück! Fangt an, ins Teufels Namen!«

Augenblicklich ließ sich im Innern des Gerüstes Musik hören, der Vorhang hob sich; vier Personen stiegen die Leiter heran und stellten sich, nachdem sie mühsam auf die Bühne gelangt waren, in einer Reihe auf. Sie begrüßten mit demüthiger Verbeugung das gestrenge Publikum, die Symphonie schwieg, und nun nahm das heilige Mysterium seinen Anfang.

Hierauf wurde der Prolog gesprochen, den wir dem geneigten Leser schenken. Die Wahrheit zu sagen, wurde das damalige Publikum, wie das heutige noch, mehr von dem Costüm der Schauspieler, als von dem Text des Stückes angezogen. Unsere vier Personen trugen gleiche Röcke, halb gelb und halb weiß, und untereinander bloß durch die Gattung des Stoffs verschieden. Das erste Kleid war von Gold- und Silberstoff, das zweite von Seide, das dritte von Wolle, das vierte von Leinwand. Die erste der handelnden Personen trug in der rechten Hand ein Schwert, die zweite zwei goldene Schlüssel, die dritte eine Wage, die vierte einen Spaten; um dem Verständnis der Zuschauer, wenn sie sich die Bedeutung dieser Attribute nicht erklären konnten, zu Hülfe zu kommen, las man mit großen schwarzen Buchstaben unten an dem goldenen Kleide: »ich nenne mich Adel;« unten an dem seidenen: »ich nenne mich Geistlichkeit;« unten an dem wollenen: »ich nenne mich Kaufmannschaft;« unten an dem leinenen: »ich nenne mich Landmann.« Das Geschlecht der beiden männlichen und der beiden weiblichen Allegorien war durch die mehr oder minder lange Kleidung und den Kopfputz angedeutet.

Durch den Prolog erfuhr man übrigens, daß Landmann mit der Kaufmannschaft, und Adel mit der Geistlichkeit vermählt sei, und daß beide glücklichen Paare gemeinschaftlich einen prächtigen goldenen Delphin (Dauphin) besaßen, den nur die Schönste der Schönen bekommen sollte. Zu diesem Ende waren sie durch die Welt aus- und eingezogen, die Schönste der Schönen zu suchen. Sie hatten aber dieselbe weder im Königreich Golkonda, noch im Kaiserthum Trapezunt, noch sonst irgendwo in der Welt gefunden, waren so eben höchst ermüdet zu Paris angekommen, und ruhten auf der Marmorplatte im großen Saale des Justizpalastes aus, von wo herab sie einen Schwall von Sentenzen und heilsamen Lehren unter das lauschende Publikum warfen. Das Alles war schön anzuschauen und fein anzuhören.

Niemand lieh den Schauspielern und ihren Worten ein aufmerksameres Ohr, als der Verfasser des Stücks, der Dichter, Peter Gringoire, der Poet. Da stand er hinter einem Pfeiler, reckte seinen langen Hals aus, schaute mit trunkenen Blicken auf die Bühne, und lauschte mit offenem Ohr den Worten der handelnden Personen. Der Beifall, der bei Eröffnung des Prologs von dem Publikum gezollt worden, hatte ihn bereits berauscht. Würdiger Peter Gringoire!

Bald jedoch, so wollte es das grausame Schicksal, sollte ein bitterer Tropfen in den Kelch seiner Freude fließen. Ein zerlumpter Bettler, der, eingekeilt in die Menschenmenge, kein Almosen fordern konnte, suchte irgend einen erhöhten Platz einzunehmen, wo er die Blicke auf sich ziehen und milde Gaben sammeln konnte. Zu diesem Ende stieg er auf einen Pfosten der Estrade, welche für die flämischen Gesandten errichtet war. Hier suchte er durch seinen zerlumpten Anzug und eine häßliche offene Wunde, die fast den ganzen rechten Arm bedeckte, die Blicke und das Mitleid der Menge auf sich zu ziehen. Im Uebrigen jedoch saß er schweigend da und hätte den Fortgang des Stücks nicht gestört, wenn er nicht zum Unglück dem muthwilligen Johannes Frollo, der von seinem Pfeiler umberschaute, in die Augen gefallen wäre. Dieser kümmerte sich wenig um die Unterbrechung des Schauspiels und rief mit tollem Gelächter: »Seht dort den armen Lazarus und werft ihm auch einen Brocken von dem Ueberflusse Eures Tisches zu!«

Wer jemals einen Stein in einen Froschteich geworfen, oder unter einen Flug Tauben geschossen hat, kann sich einen Begriff davon machen, welche Wirkung diese während der allgemeinen Aufmerksamkeit hingeworfenen Worte unter der Menge hervorbrachten. Der arme Peter Gringoire war wie vom Blitze getroffen, denn der Prolog stockte plötzlich und alle Köpfe drehten sich stürmisch dem Bettler zu, der sich dadurch im geringsten nicht aus der Fassung bringen ließ, sondern vielmehr in diesem Zufall eine günstige Gelegenheit zu reichlicher Ernte erblickte; er schloß demnach die Augen zur Hälfte, machte ein Jammergesicht und sagte in kläglichem Tone: »ein Almosen, um Gotteswillen! kranker Mann! armer Mann!«

»Beim Teufel und meiner armen Seele,« rief ihm Johannes Frollo zu, »das ist ja Clopin Trouillefou! Holla! guter Freund, hat Dich denn Deine Wunde am Schenkel gehindert, daß Du sie jetzt auf den Arm gemacht hast?«

So sprechend warf er ihm, mit der Geschicklichkeit eines Affen, eine Silbermünze in den schmutzigen Filz, den der Bettler mit seinem kranken Arm ausstreckte. Clopin Trouillefou nahm Almosen und Spott gleichmüthig hin und fuhr im nämlichen lamentablen Tone fort: »Kranker Mann, armer Mann! Ein Almosen, um Gotteswillen!«

Diese Episode hatte die Aufmerksamkeit der Zuhörer bedeutend gestört; viele von ihnen, Robin Poussepain und sämmtliche Studenten an der Spitze, klatschten diesem seltsamen Duett, das der Mühlenhans mit seiner kreischenden Stimme und der Bettler mit seiner ewigen Litanei, als Schauspiel im Schauspiel, aufführten, stürmischen Beifall.

Der arme Verfasser des Stücks war sehr mißvergnügt. Nachdem er sich von seiner ersten Bestürzung erholt hatte, rief er den Schauspielern mit lauter Stimme zu: »Fortgefahren! In’s Teufels Namen! Fortgemacht!«

In diesem Augenblicke zupfte ihn Jemand am Rock; er drehte sich um, es war der runde Arm der schönen Gisquette, die auf solche Art seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

»Herr,« fragte das Mädchen, »werden sie wohl fortfahren?«

»Allerdings,« antwortete der Dichter.

»In diesem Falle, mein Herr, werdet Ihr wohl die Güte haben, mir zu erklären…«

»Was sie weiter sagen werden?« unterbrach sie der Dichter schnell. »Mit größtem Vergnügen werde ich…«

»Verzeiht, ich meine, was sie bis jetzt gesagt haben,« erwiederte Gisquette.

Der verblüffte Dichter verzuckte das Gesicht wie ein Mensch, dessen wundesten Fleck man berührt. »Dummes, einfältiges Gänschen!« murmelte er zwischen den Zähnen. Von dieser Minute an hatte es die schöne Gisquette, so reizend sie war, für immer mit ihm verdorben.

Inzwischen hatten die Schauspieler seinem Befehle Folge geleistet, und das Publikum hörte ziemlich aufmerksam zu. Der Störenfried, Johannes Frollo, verhielt sich ruhig, der Bettler zählte die gesammelten Pfennige in seinen alten Hut, und das Stück hatte seinen ungestörten Fortgang.

Es war aber auch ein sehr schönes Stück, und man könnte vielleicht heute noch Gebrauch davon machen, wenn man dort Etwas wegschnitte und hier Etwas zusetzte. Die Einleitung, zwar etwas lang und etwas langweilig, war einfach, und Peter Gringoire, in der Aufrichtigkeit seines Herzens, bewunderte ihre Klarheit. Man kann sich denken, daß die vier allegorischen Reisenden, nachdem sie drei Welttheile durchwandert hatten, ohne auf eine angemessene Weise sich ihres goldenen Delphins entledigen zu können, etwas ermüdet waren. Sie hatten demnach, während sie ausruhten, volle Muße, das Lob dieses wunderbaren Fisches zu singen und dabei tausend feine Anspielungen auf den jungen Bräutigam Margarethens von Flandern anzubringen, der damals in seinem traurigen Neste Amboise gewiß nicht daran dachte, daß Landmann und Geistlichkeit, Adel und Kaufmannschaft so eben von einer Reise um die Welt zurückgekommen waren, welche sie in seinen Geschäften gemacht hatten. Besagter Delphin war, wie man aus dem Munde des allegorischen Frankreichs, das sich auf dem Theater bewegte, vernahm, jung, schön, tapfer, und vor Allem (glorreicher Ursprung aller königlichen Tugenden!), war er der Sohn des Löwen von Frankreich. Diese Metapher war kühn und einzig in ihrer Art; auf der Bühne, besonders an einem allegorischen Tage, wo von Hochzeiten, Geburtsfesten etc. großer Herren die Rede ist, nimmt man es mit der Naturgeschichte nicht so genau und stoßt sich nicht an einem Fisch, welcher der Sohn eines Löwen ist; gerade diese seltsamen pindarischen Mischungen deuten auf wahren Enthusiasmus. Allerdings hätte der Dichter diesen schönen Gedanken in etwas weniger als zweihundert Versen entwickeln können, aber man muß bedenken, daß, laut Verordnung des Herrn Prévot, das Stück von der Mittagsstunde bis vier Uhr Abends dauern sollte, und in vier Stunden läßt sich Vieles sagen.

Das Stück war, zur Freude des Dichters, in vollem Gange, als es zu seinem Verdrusse auf’s Neue gestört wurde. Als eben die Kaufmannschaft und der Adel in einem Streite begriffen waren, und der gute Bauersmann, von dem Löwen von Frankreich sprechend, mit Entzücken ausrief:

Dort brüllt er durch den Wald, und schüttelt seine Mähnen!

öffnete sich die Thüre der bisher verschlossenen Estrade, und der Thürsteher verkündete mit tönender Stimme: »Se. Eminenz, unser gnädigster Herr Kardinal von Bourbon!«

III.

Armer Peter Gringoire! Der Donner von zwanzig Kanonen und hundert Büchsen hätte deinen Ohren nicht so wehe gethan, als die in diesem feierlichen dramatischen Augenblicke vom Munde eines Thürstehers ausgegangenen Worte: Se. Eminenz, der gnädigste Herr Kardinal von Bourbon!

Nicht als ob Peter Gringoire den Kardinal gefürchtet oder mißachtet hätte: er hatte weder jene Schwäche, noch diese Vermessenheit. Ein wahrhafter Eklektiker, gehörte Peter Gringoire zu jenen erhabenen und festen, gemäßigten und ruhigen Geistern, welche sich stets in der Mitte aller Dinge zu halten wissen (stare in dimidio rerum), und die der reinen Vernunft, der liberalen Philosophie, der theoretischen Freiheit und Allem, was groß und edel ist, huldigen, bei dem Allem aber Minister, Kardinäle, Bischöfe und Staatsräthe sind und bleiben. Ein kostbares Geschlecht praktischer Philosophen, das sich ununterbrochen fortgepflanzt hat vom Anfang der Dinge, und dem der Himmel den Knäuel der Klugheit verliehen hat, durch den es im Labyrinth aller Zeiten und Ereignisse stets einen erwünschten Ausgang findet! Zu allen Epochen ist und war dieses Geschlecht sich selbst gleich; es weiß sich in alle Zeiten zu schicken.

Nicht also aus Haß gegen den Kardinal oder aus Mißachtung war ihm dessen Eintritt unangenehm, sondern weil er eine neue Störung des Stücks fürchtete. Die Besorgnis des Dichters verwirklichte sich nur allzusehr. Der Eintritt Sr. Eminenz zog die ganze Schaulust des Publikums auf sich. Alle Köpfe drehten sich der Estrade zu. »Der Kardinal! Der Kardinal!« wiederholten tausend Stimmen. Der unselige Prolog gerieth abermals in Stocken. Der Kardinal blieb einen Augenblick auf der Schwelle der Estrade stehen und warf einen ziemlich gleichgültigen Blick auf die Zuschauer im Saale. Die Gährung stieg, jeder wollte die Eminenz sehen.

In der That war auch diese Eminenz ein Herr von großer Gestalt und ebenso sehenswerth, als manches andere Schaustück. Karl, Kardinal von Bourbon, Erzbischof und Graf von Lyon, Primas der Gallier, war mit Ludwig XI. und Karl dem Kühnen verwandt, mit Jenem durch seinen Bruder Peter von Beaujeu, der die älteste Tochter des Königs geheirathet hatte, mit Diesem durch seine Mutter, Agnes von Burgund. Der Hauptzug im Charakter des Primas der Gallier war jener Höflingsgeist, jene Ergebenheit gegen die herrschende Macht, wie wir sie heute noch, so sehr wir uns auch der Fortschritte unserer Civilisation rühmen, tausend- und hunderttausendfältig sehen. Man kann sich denken, in welche zahllose Verlegenheiten ihn diese doppelte Verwandtschaft brachte, und welche weltliche Klippen sein geistliches Schifflein zu umsegeln hatte, um weder an Ludwig noch an Karl zu scheitern, dieser Scylla und Charybdis, die den Herzog von Remours und den Connetable Saint-Pol verschlungen hatten. Unter dem Beistand des Himmels hatte er die Durchfahrt glücklich vollendet und war in dem Hafen zu Rom angelangt, um den rothen Hut, als Preis seiner Bemühungen, in Empfang zu nehmen. Aber obgleich er jetzt im sichern Hafen war, und gerade eben deßhalb, dachte er niemals ohne Unruhe an die vermiedenen Wechselfälle seines politischen Lebens, das so lange Zeit stürmisch und thatenreich war.

Im Übrigen war der Kardinal, was man einen guten Mann heißt; er führte ein lustiges Leben, wie die hohe Geistlichkeit pflegte, trank seinen schäumenden Champagner, war einem feinen Nönnchen nicht abgeneigt, gab lieber hübschen Mädchen als alten Weibern Almosen, und war deßhalb, als ein munterer, leutseliger Herr, wohl gelitten beim Volke von Paris. So oft er öffentlich erschien, umgab ihn ein Schwarm junger Geistlicher, die so galant waren, als heutige Stutzer, und so liederlich, als man nur immer wünschen mochte. Mehr als einmal, wenn alte Betschwestern Abends am erleuchteten Palast des Kardinals vorübergingen, hörten sie zu ihrem Entsetzen die nämlichen Stimmen, die ihnen erst noch in der Kirche zur Vesper gesungen, das bacchische Lied Benedikts XII. anstimmen: Bibamus papaliter.

Ohne Zweifel war es diese so wohl erworbene Popularität, die dem Kardinal bei seinem Eintritt einen schlimmen Empfang von Seiten der Menge ersparte, welche eben noch so unzufrieden gewesen war, und wenig geneigt schien, an dem Tage, wo sie einen Pabst wählte, mit einem Kardinal viele Umstände zu machen. Es ist ein guter Schlag Leute um diese Pariser, sie vergessen und vergeben gerne, und zudem hatten sie ja, da sie das Stück aus eigener Machtvollkommenheit beginnen ließen, einen Sieg über den Kardinal davon getragen, und dieser Triumph genügte ihnen. Ueberdies war der Herr Kardinal von Bourbon ein großer, stattlicher Herr, trug einen sehr schönen Scharlachmantel, wußte sich eine vornehme Haltung zu geben, und hatte mithin den einflußreichsten Theil des Publikums, die Weiber, für sich. Es wäre aber auch die höchste Ungerechtigkeit und Gemeinheit, einen Kardinal auszuzischen, weil er im Schauspiel auf sich warten ließ, wenn dieser Kardinal ein stattlicher Herr ist, einen Scharlachmantel trägt und eine vornehme Haltung hat.

Der Kardinal trat demnach ein und grüßte die Versammlung mit jenem fürstlichen Lächeln, das den Großen gegen das Volk immer zu Gebote steht, und das sich, gleich Krone und Scepter, von Vater auf Sohn vererbt. Hierauf setzte er sich mit abgemessenen Schritten gegen den rothsammt’nen Lehnsessel in Bewegung, der für ihn bereit gestellt war. Ihm auf dem Fuße folgte sein geistlicher Generalstab, dessen Erscheinen den Lärm und die Neugierde im Parterre verdoppelte. Man deutete mit Fingern auf jeden Einzelnen und nannte seinen Namen.

Das Volk, und besonders die Studenten, machten vollen und ungemessenen Gebrauch von den Privilegien, die ihnen das heutige Narrenfest verlieh. Nichts war zu gemein und frech, daß es nicht an diesem Tage gestattet und fast geheiligt gewesen wäre. Jeder wählte sich unter dem geistlichen Generalstab des Kardinals eine schwarze, graue, weiße oder violette Mütze zur Zielscheibe seines Witzes aus. Damit war aber Johannes Frollo de Molendino, als Bruder eines Archidiakonus, noch nicht zufrieden, sondern griff kühnlich den rothen Hut selbst an, indem er freche Blicke auf den Kardinal warf und aus vollem Halse sang: Cappa repleta mero!

Alle diese Einzelnheiten, welche wir hier zur Erbauung des Lesers mittheilen, verloren sich so sehr unter dem allgemeinen Geräusch, daß fast keine Spur von ihnen bis zur Estrade gelangte. Im Uebrigen würde sie der Kardinal geduldig hingenommen haben, weil die Freiheiten dieses Tages ganz in den Sitten jener Zeit lagen. Zudem lag ihm noch etwas ganz Anderes auf dem Herzen, nämlich die Gesandtschaft von Flandern. Nicht als ob er ein großer Politiker gewesen wäre, den die möglichen Folgen einer Verbindung Margarethens von Burgund mit dem Erben von Frankreich schreckten, sondern bloß weil er den flämischen Gesandten Feste geben und Höflichkeiten erweisen mußte, er, Karl von Bourbon, gemeinen Bürgern, er, der Kardinal, ungehobelten flämischen Schöppen, er, ein artiger und lustiger Franzose, niederländischen Bierlümmeln! Mit solchen Leuten öffentlich zu erscheinen, war eine harte Probe, welche nur die geprüfte Königsliebe eines geprüften Höflings zu bestehen vermochte.

Als nun die Thüre sich mit Geräusch öffnete und der Thürsteher mit lauter Stimme ausrief: »Die Herren Gesandten des Herrn Herzogs von Oesterreich!« wendete der Kardinal mit der zärtlichsten Miene von der Welt (so sehr hat ein Höfling sich in der Gewalt) sein Gesicht der Eingangspforte zu.

Jetzt erschienen paarweise mit ernstem Wesen, das in auffallendem Gegensatz zu dem muthwilligen geistlichen Generalstab Karls von Bourbon stand, die achtundvierzig Gesandten Maximilians von Oesterreich, an ihrer Spitze der sehr ehrwürdige Vater in Gott, Jehan, Abt von Saint-Bertin, Kanzler des Ordens vom goldenen Vließ, und Jakob Van Goy, Herr zu Dauby, Bürgermeister von Gent. Die Versammlung im Saale hörte mit halb ersticktem Lachen die fremdartigen Namen und die bürgerlichen Qualifikationen der flandrischen Gesandten an, die der Thürsteher, wie Kraut und Rüben, entstellt und verstümmelt von der Estrade unter das Publikum warf. Da hörte man die für ein französisches Ohr barbarisch klingenden Namen: Loys Roelof, Schöppe der Stadt Löwen: Paul Baeust, Präsident der Provinz Flandern; Jehan Coleghens, Bürgermeister der Stadt Antwerpen; Meister Georg van Moeren, erster Schöppe der Stadt Gent; Meister Geldolf van der Haagen, Schöppe gedachter Stadt; Jehan Pinnok u. s. w., lauter gute, dicke, wohlgenährte flämische Figuren.

Ein einziger derselben machte eine Ausnahme von der Regel. Das war ein feines, verständiges, verschmitztes Gesicht, gegen welches der Kardinal drei Schritte vorwärts und eine tiefe Verbeugung machte, obgleich dasselbe bloß einem gewissen Wilhelm Rym, Rathsherrn der Stadt Gent, angehörte. Wenigen war es damals bekannt, welche Bedeutung dieser Wilhelm Rym hatte; ein seltener Geist, der in stürmischen Zeiten, wie wir sie erlebt haben, an der Spitze einer Revolution erschienen wäre, im fünfzehnten Jahrhundert aber zum Handlanger der lichtscheuen Ränke jener Zeit verdammt war. Ludwig XI., der erste Maulwurf des damaligen Europa’s, wußte ihn in seinen geheimen Aufträgen gar wohl zu gebrauchen. Das war aber dem großen Haufen im Saale gänzlich unbekannt, und er ergötzte sich daher nicht wenig an den Höflichkeitsbezeugungen, die, seiner Meinung nach, der Kardinal an die unscheinbare Figur eines flandrischen Stadtraths verschwendete.

IV.

Während der Rathsherr von Gent und die Eminenz tiefe Verbeugungen wechselten und einige leise Worte mit einander flüsterten, trat ein Mann von hoher Gestalt, breiten Schultern und kräftigem, fast plumpem Gesichte, zu gleicher Zeit unter die Thüre. Man konnte einen Bullenbeißer neben einem Fuchs zu sehen glauben. Seine einfache Filzkappe und sein ledernes Koller nahmen sich schlecht aus in der Mitte seiner Umgebungen, die von Gold, Sammt und Seide starrten. Der Thürsteher, der ihn für irgend einen Troßknecht hielt, der sich eindringen wolle, verwehrte ihm den Eintritt.

»Heda, guter Freund! Hier wird nicht passirt.«

Der Mann im ledernen Koller faßte den Thürsteher mit kräftiger Faust an der Schulter und rief mit einer Donnerstimme, die den ganzen weiten Saal erfüllte: »Was willst Du, Bengel? Siehst Du nicht, daß ich auch dazu gehöre?«

»Euer Name?« fragte der Thürsteher.

»Jakob Coppenole.«

»Eure Qualitäten?«

»Strumpfweber zu den drei Ketten in Gent.«

Der Thürsteher prallte vor Schrecken drei Schritte zurück. Bürgermeister und Schöppen anzukündigen, das ging noch an, aber einen Strumpfweber, das war allzu hart. Der Kardinal saß auf Nadeln. Alles Volk horchte und schaute. Seit zwei Tagen bereits hatte sich die Eminenz alle Mühe gegeben, diese flämischen Bären etwas glatt zu lecken, um sie für das Publikum möglichst präsentabel zu machen, und nun kam dieser Akt dazwischen! Wilhelm Rym näherte sich, um den Kardinal aus der Verlegenheit zu ziehen, dem Thürsteher mit seinem feinen Lächeln und flüsterte ihm in die Ohren: »Verkündiget Meister Jakob Coppenole, Schreiber des Schöppenstuhls der Stadt Gent.«

»Thürsteher,« wiederholte der Kardinal mit lauter Stimme, »verkündiget Meister Jakob Coppenole, Schreiber des Schöppenstuhls der erlauchten Stadt Gent.«

Das war ein Fehler; Wilhelm Rym, für sich allein, hätte die Schwierigkeit beseitigt, jetzt aber hatte Jakob Coppenole die Worte des Kardinals vernommen.

»Nein, beim heiligen Kreuz!« schrie er mit seiner Donnerstimme. »Jakob Coppenole, Strumpfweber. Hörst Du’s, Thürsteher? Kein Wort mehr noch weniger. Beim heiligen Kreuz! Strumpfweber, das ist genug. Der Erzherzog hat schon mehr als einmal seinen Handschuh in meinem Strumpfladen geholt.«2

Diesen kräftigen Worten folgte stürmischer Beifall und schallendes Gelächter der Menge. Ein Wortspiel fällt in Paris nie unbeachtet auf den Boden.

Dazu kam noch, daß Coppenole ein Mann aus dem Volke war, und das Publikum, das ihn umgab, war auch vom Volk. Das gegenseitige Verständniß war folglich hergestellt. Das trotzige Wort des flämischen Strumpfwebers, das den Hof demüthigte, hatte in allen plebejischen Herzen ein gewisses Gefühl von Würde erweckt, das freilich im fünfzehnten Jahrhundert noch vag und unbestimmt war. Es war ein bloßer Bürger, einer ihresgleichen, der hier dem Kardinal die Spitze bot! Dies war ein sehr süßes Gefühl für unterthänig gehorsamste Spießbürger, die selbst die Bedienten des Schlosses und der Großen mit Respekt zu betrachten und zu behandeln pflegten.

Jakob Coppenole grüßte mit stolzer Miene den Kardinal, der dem allmächtigen Bürger von Gent, welchen selbst Ludwig XI. fürchtete, seinen Gruß höflich erwiederte. Wilhelm Rym folgte ihnen mit einem ironischen Lächeln, in welchem sich das Bewußtsein seiner Ueberlegenheit über beide kundgab; sie traten an ihre Plätze, der Kardinal außer Fassung und nachdenklich, Coppenole ruhig und trotzig, und bei sich erwägend, daß sein Strumpfweberstitel noch so viel werth sei als ein anderer, und daß Maria von Burgund, die Mutter der Margarethe, die er jetzt verheirathete, ihn weniger gefürchtet hätte, wenn er nur Kardinal und nicht Strumpfweber gewesen wäre, denn niemals hätte ein Kardinal vermocht, so wie er, die Bürger von Gent gegen die Günstlinge der Tochter Karls des Kühnen in Aufruhr zu bringen und mit einem einzigen Worte sie gegen die Bitten und Thränen der Fürstin von Flandern zu verhärten, so daß dieselbe am Fuße des Schaffots vergebens um das Leben ihrer Räthe flehte, während der Strumpfweber bloß seinen ledernen Handschuh zu erheben brauchte, um zwei erlauchte Köpfe, Guy d’Hymbercourt’s und Guillaume Hugonet’s Haupt, fallen zu machen.

Inzwischen hatte sich das Unglück an diesem armen Kardinal noch nicht erschöpft, und er sollte den Kelch der schlechten Gesellschaft, worin er sich befand, bis auf die Hefe leeren.

Der geneigte Leser wird sich wohl des unverschämten Bettlers noch erinnern, der beim Beginnen des Prologs auf einen der Pfosten der gesandtschaftlichen Estrade gestiegen war. Er hatte sich durch die Ankunft der erlauchten Gäste im geringsten nicht stören lassen, und während die Prälaten und Gesandten, gleich wahrhaften niederländischen Häringen, sich in den Logen drängten, saß er mit gekreuzten Beinen auf seinem Balken, als ob er ein anerkanntes Recht auf diesen Sitz hätte. Niemand kümmerte sich um ihn und seine Unverschämtheit, weil die allgemeine Aufmerksamkeit anderswohin gerichtet war. Er seinerseits nahm keinen Antheil an Allem, was im Saale vorging; er wiegte, mit der Gleichgültigkeit eines Lazzarone, sein Haupt hin und her und wiederholte von Zeit zu Zeit, mitten im Geräusch, mit einer gleichsam mechanischen Gewohnheit: »Kranker Mann, armer Mann! Ein Almosen um Gotteswillen!« Und sicherlich war er der Einzige in der ganzen Versammlung, der bei dem Streit zwischen Jakob Coppenole und dem Thürsteher nicht einmal den Kopf nach jener Seite drehte. Nun wollte der Zufall, der so ziemlich Alles in der Welt regiert, daß der Meister Strumpfweber von Gent, mit dem das Volk bereits so lebhaft sympathisirte, und auf den Aller Augen gerichtet waren, gerade in die erste Logenreihe der Estrade, oberhalb dem Bettler, zu sitzen kam, und man war nicht wenig verwundert, als man sah, daß der flämische Gesandte, nachdem er den unter ihm sitzenden Burschen näher in Augenschein genommen hatte, seine Hand freundschaftlich auf dessen zerlumpte Schulter legte. Der Bettler wendete sich um. Staunen, Wiedererkennen, vor Freude strahlende Gesichter von beiden Seiten! Hierauf unterhielten sich der diplomatische Strumpfweber und der zerlumpte Bettler, ohne sich im mindesten um die Zuschauer zu kümmern, mit leiser Stimme und Hand in Hand unter einander, und die Lumpen von Clopin Trouillefou, die neben dem Galastoff der Estrade herabhingen, sahen gerade aus, wie wenn eine graue Raupe auf einer goldgelben Pomeranze kriecht.

Die Neuheit dieser sonderbaren Scene erregte ein so tolles, lustiges Geräusch im Saale, daß es dem Kardinal nicht entgehen konnte; er neigte sich mit halbem Leibe vorwärts, und da er von seinem Platze aus die schmähliche Gestalt des Bettlers nur unvollständig wahrnehmen konnte, so glaubte er natürlich, daß er ein Almosen fordere, und rief, empört über diese Frechheit: »Hausmeister des Palastes, laßt mir doch diesen Schuft in den Fluß werfen.«

»Beim heiligen Kreuz! Herr Kardinal,« schrie Jakob Coppenole, ohne Clopin’s Hand loszulassen, »er ist mein Freund, und das lasse ich nicht geschehen.«

»Hurrah! Hurrah!« schrie die jubelnde Menge, und von diesem Augenblicke an war der Handschuhmacher von Gent zu Paris ebenso populär, als in seiner Vaterstadt.

Der Kardinal biß sich in die Lippen, wandte sich zu seinem Nachbar, dem Abt von St. Genovefa, und sprach mit halblauter Stimme zu ihm: »Saubere Gesandtschaft, die uns der Erzherzog hier schickt, um uns Madame Margaretha anzukündigen!«

»Eminenz,« antwortete der Abt, »Ihr werft Eure Perlen vor die Schweine. Das sind flämische Säue, an welche alle Höflichkeit vergebens verschwendet ist. Margarita ante porcos

»Sagt vielmehr,« erwiederte der Kardinal lächelnd: »Porcos ante Margaritam

Der ganze kleine geistliche Hof ergoß sich in Bewunderung dieses Wortspiels, wodurch sich die Eminenz in etwas getröstet fand. Der Kardinal war nun quitt mit dem Strumpfweber, denn sein Quodlibet war auch beklatscht worden.

Mögen nun diejenigen unserer Leser, welche sich, wie man im Styl des Tags zu sagen pflegt, eine umfassende Ansicht eines Bildes oder einer Idee zu machen vermögen, uns die Frage erlauben, ob sie sich wohl eine deutliche Vorstellung von dem Schauspiel machen können, das der Riesensaal des Justizpalastes in diesem Augenblicke darbot: In der Mitte des Saals, angelehnt an die westliche Mauer, eine breite und mit Goldstoff prachtvoll verzierte Estrade, auf welche durch eine kleine Bogenthüre die Eintretenden eingeführt und durch die schnarrende Stimme des Thürstehers angemeldet werden. Auf den ersten Bänken bereits viele ehrwürdige Figuren, in Hermelin, Sammt und Scharlach gekleidet: rings um die Estrade, die ernst und schweigsam bleibt, unten, gegenüber, um und um, eine sich drängende Menge und großes Geräusch. Tausend Blicke auf jedes Gesicht der Estrade gerichtet, tausendfaches Kichern bei jedem Namen, der genannt wird. Seltsames Schauspiel, das gewiß die ganze Aufmerksamkeit der Zuschauer verdiente! Dort unten aber, an der Bühne, sehen wir die lange, dürre schwarze Figur des armen verlassenen Schauspieldichters bleichen Angesichts stehen. Armer Peter Gringoire, was machst du und dein Prolog? Beide sind vergessen, und das ist das Schlimmste, was einem Dichter begegnen kann!

Von dem Eintritt des Kardinals an hatte der Dichter Alles aufgeboten, die Aufmerksamkeit auf sich und sein Schauspiel zu ziehen. Erst gebot er den handelnden Personen, ihre Stimme zu erheben, damit sie den Lärm der Zuschauer überbiete; als er sah, daß Niemand auf seinen Prolog hörte, ließ er die Schauspieler innehalten, und seit der Viertelstunde, welche jetzt die Unterbrechung dauerte, hörte er nicht auf, mit dem Fuß auf den Boden zu stampfen, geberdete sich wie rasend, rief Gisquette und Lienarde, forderte seine Nachbarn links und rechts auf, dem Schauspiel zuzuhören, Alles vergebens! Armer Poet! Niemand wendet seine Blicke von dem Kardinal, den Gesandten und der Estrade ab. Was verlangten die Zuschauer auch Besseres! Auf der Estrade, wie auf der Marmorplatte, wurde das gleiche Schauspiel aufgeführt: der Conflict zwischen Landmann und Geistlichkeit, zwischen Adel und Kaufmannschaft. Was Wunder, daß die Zuschauer lieber die wirklichen Schauspieler, in Fleisch und Bein, dargestellt in dieser flandrischen Ambassade und in diesem erzbischöflichen Hofstaat, unter dem Purpurmantel des Kardinals und unter dem ledernen Koller des Strumpfwebers von Gent, schauen wollten, als die fratzenhaften allegorischen Figuren in ihren gelben und weißen Röcken, mit denen sie der poetische Peter Gringoire ausgestattet hatte!

Unser Poet jedoch verzweifelte noch nicht, und als er die Ruhe nothdürftig hergestellt sah, ersann er eine Kriegslist, die sein Stück retten konnte.

»Mein Herr,« sprach er zu einem seiner Nachbarn, einem ehrlichen, dicken Bürgersmann, aus dessen Zügen Ruhe, Ergebung, Geduld sprachen, »wie wäre es, wenn man von vorn anfinge?«

»Was?« fragte der Nachbar.

»Hm, das Mysterium,« sagte Gringoire.

»Wie es Euch gefällig ist,« erwiederte der Nachbar.

Diese halbe Billigung genügte dem Dichter, und da er seine Geschäfte selbst machen mußte, so schrie er, während er sich möglichst unter der Menge verbarg, aus vollem Halse: »Von vorn angefangen das Mysterium! Von vorn!«

»Was Teufels,« rief der Mühlenhans, »was singen sie denn da unten für ein Lied? (Der Dichter machte ein Geschrei, als ob es ihrer ein Dutzend wären.) Ist denn das Mysterium noch nicht zu Ende? Sie wollen es von vorn anfangen. Ist das billig? Sprecht, Kameraden?«

»Nein, nein,« schrieen alle Studenten, »fort, fort mit dem Mysterium!«

Als Gringoire dieses hörte, verdoppelte er seinen Eifer und schrie noch lauter: »Von vorn! Von vorn!«

Dieses Geschrei zog die Aufmerksamkeit des Kardinals auf sich.

»Herr Hausmeister des Palastes,« sprach er zu einem langen, schwarz gekleideten Manne, der in seiner Nähe stand, »riechen diese Teufel das Weihwasser, daß sie einen solchen höllischen Lärm machen?«

Der Hausmeister des Palastes war gewissermaßen ein amphibischer Beamter, eine Art Fledermaus des richterlichen Standes, dem Mäusegeschlecht und dem Vogelgeschlecht zumal angehörend, ein Richter und ein Soldat.

Er näherte sich der Eminenz und stattete, nicht ohne einige Angst, Bericht ab von der Unverschämtheit des Volkes, das die Schauspieler gezwungen habe, das Stück anzufangen, ehe der Herr Kardinal angekommen sei.

Der Kardinal, weit entfernt sich zu erzürnen, schlug ein helles Gelächter auf und sprach: »Meiner Treu, daran haben sie wohl gethan, und wenn es nur der Rektor der Universität auch so gemacht hätte! Was sagt Ihr dazu, Meister Wilhelm Rym?«

»Gnädigster Herr,« erwiederte dieser, »wir wollen zufrieden sein, daß wir der Hälfte der Komödie entgangen sind. So viel wenigstens haben wir gewonnen.«

»Sollen die Schufte da unten in ihrem Possenspiel fortmachen?« fragte der Hausmeister.

»Fortmachen!« versetzte der Kardinal gähnend. »Meinetwegen! Ich will inzwischen in meinem Brevier lesen.«

Der Hausmeister trat an den Rand der Estrade, gebot durch ein Zeichen der Hand Stille und rief: »Bürger, Insassen und Einwohner, um Diejenigen, welche wünschen, daß man von vorn anfange, und Diejenigen, welche wollen, daß man schließe, gleichmäßig zu befriedigen, befiehlt Se. Eminenz, daß man fortfahre, wo man stehen geblieben ist.«

Man mußte sich von beiden Seiten diesem Gebote fügen. Die Schauspieler fuhren demnach in der unterbrochenen Handlung fort, und der Dichter hoffte, daß er wenigstens für den Rest seines Werkes ein aufmerksames Publikum finden werde. Das Stillschweigen hatte sich zwar so ziemlich hergestellt, aber durch die neuen Ankömmlinge, welche der Thürsteher jeden Augenblick von der Estrade herab mit lauter Stimme anmeldete, wurde gleichwohl der Gang des Stücks immer gestört.

So eben waren die vier allegorischen Personen in grausamer Verlegenheit, wie sie ihres goldenen Delphins los werden sollten, und ergossen ihren Jammer in kläglichen Versen, da erschien ihnen, vom Himmel gesandt, Venus in eigener Person, und zwar in einem Rocke von Goldstoff, auf welchem das Wappen der Stadt Paris prangte. Sie nahm, als die Schönste der Schönen, den goldenen Delphin für sich in Anspruch. Jupiter, der von der Leiter herauf Blitze schleuderte, unterstützte ihre Ansprüche, und die Göttin war auf dem Punkt, zu siegen und den goldenen Delphin davonzutragen. Da erschien plötzlich ein junges Mädchen, in weißen Damast gekleidet und ein Gänseblümchen3 in der Hand tragend (deutliche Anspielung auf Margareth von Flandern), den Kampf um den goldenen Delphin mit der Göttin der Liebe und Schönheit zu bestehen. Hierauf erfolgte ein hitziger Streit zwischen den beiden Nebenbuhlerinnen, welcher Gelegenheit zu vielen trefflichen Versen gab und mit der Uebereinkunft endigte, die heilige Maria zur Schiedsrichterin zu bestellen. Als dieselbe eben in Begleitung des Königs von Mesopotamien auf dem Theater angekommen war und der Dichter jetzt zum Knalleffekt seines Stücks zu gelangen hoffte, erhob sich plötzlich der Strumpfweber von Gent und hielt mit seiner Donnerstimme folgende Standrede an das Publikum: »Ihr Herren Bürger und Junkherren von Paris! Ich sehe, beim heiligen Kreuz, nicht ein, was wir hier machen. In jenem Winkel dort, auf dem Gerüste, erblicke ich zwar einige Leute, die, wie es scheint, sich boxen wollen. Ich weiß, zum Teufel, nicht, ob das das Mysterium sein soll, von dem ich hier immer sprechen höre, aber verflucht langweilig ist es, denn sie streiten nur mit der Zunge, und nicht mit den Fäusten. Jetzt sitze ich schon eine Viertelstunde da und warte immer auf den ersten Faustschlag, aber da könnte ich lange warten, bis diese feigen Hunde an einander gerathen. Ihr hättet sollen Boxer aus London oder Rotterdam kommen lassen, da wären Schläge gefallen, die man bis draußen auf dem Platze gehört hätte. Aber die Leute da unten dauern einen! Wenn sie doch wenigstens einen Mohrentanz oder irgend eine andere Mummerei aufgeführt hätten! Zum Henker auch, man hat mir was ganz Anderes versprochen: ein Narrenfest und die Wahl eines Narrenpabstes. Wir haben zu Gent auch unser Narrenfest, und; beim heiligen Kreuz, wir stehen hierin Niemand nach. Aber wir machen es ganz anders. Wenn ein Haufen versammelt ist, wie hier, steckt jeder seinen Kopf durch ein Loch und schneidet den Anderen Gesichter, und wer die häßlichste Grimasse macht, der wird zum Pabst gewählt. So machen wir’s, und das ist sehr lustig. Wollt Ihr nun Euren Pabst nach der Weise meines Landes wählen, so werdet Ihr mehr Freude dabei haben, als wenn Ihr den Schwätzern da unten zuhört. Wenn sie an die Lucke kommen und ihre Grimasse machen wollen, so dürfen sie auch mitspielen. Was sagt Ihr dazu, Ihr Herren Bürger von Paris? Es gibt hier eine so hinreichende Auswahl von häßlichen Gesichtern beider Geschlechter, daß wir eine Ausbeute belustigender Grimassen hoffen dürfen.«

Der Vorschlag des Strumpfwebers von Gent wurde von den Parisern Bürgern, welche sich sehr geschmeichelt fühlten, daß man sie Junkherren genannt hatte, mit rauschendem Beifall aufgenommen. Dem verzweifelnden Poeten blieb keine Hoffnung übrig, sein unseliges Stück zu Ende gebracht zu sehen. Bestürzung und Unwille verschlossen ihm den Mund; er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen.

  1. Unübersetzbar. Gant, Handschuh. Gand. Gent. L’archiduc a plus d’une fois cherché son Gant dans mes chausses, darauf anspielend, daß ihm, dem Strumpfweber, der Erzherzog mehr als einmal den Besitz von Gent verdankte.
  2. Marguerite, Gänseblümchen. Margarethe von Flandern.

XX.

Der Priester, den die jungen Mädchen auf der Höhe des Thurmes erblickt hatten, wo er ernst und aufmerksam dem Tanze des Zigeunermädchens zuschaute, war wirklich der Archidiakonus Claude Frollo.

Der Leser kennt die geheimnißvolle Zelle, welche sich der Priester in diesem Thurme vorbehalten hatte. Jeden Tag, eine Stunde vor Sonnenuntergang, stieg er die Treppe des Thurmes hinauf, schloß sich in die Zelle ein und brachte manchmal ganze Nächte darin zu. Als er heute die Treppe hinaufstieg, hörte er den Ton des Tambourin und begab sich auf den Turm, da er von seiner Zelle aus nicht auf den Platz sehen konnte. Hier stand er, als ihn die jungen Damen erblickten, ernst, unbeweglich, in einen Anblick und einen Gedanken vertieft. Die ganze große Stadt lag unter seinen Füßen, mit dem Flusse, der sie durchströmt, mit ihren tausend Häusern, mit dem Gewimmel ihrer Bewohner; aber der Priester blickte nur auf einen Punkt und ein Wesen: den Platz unter ihm und das tanzende Zigeunermädchen.

Es war schwer zu sagen, welcher Art dieser Blick war, und welche Flamme aus ihm leuchtete. Es war ein fester und doch von innerer Unruhe zeugender Blick. Wenn man den Priester so dastehen sah, in der Unbeweglichkeit seines Körpers, mehr Marmor als das Geländer, auf das er sich lehnte, das versteinerte Lächeln auf seinem Gesichte, so konnte man sagen, daß alles Leben sich in seine Augen gezogen habe.

Inzwischen tanzte die Zigeunerin, schwang den Tambourin, leicht, behend, fröhlich, und fühlte nichts von dem Gewicht des furchtbaren Blickes, den der Priester von der Höhe des Thurmes auf ihr Haupt warf.

Die Menge wimmelte um sie her. Von Zeit zu Zeit ließ ein Mann, der eine gelb und rothe Mütze auf dem Kopfe trug, den Kreis erweitern, wenn die Zuschauer sich allzunahe drängten, setzte sich dann wieder auf einen Stuhl in der Nähe der Tänzerin und nahm den Kopf der Ziege zwischen seine Kniee. Dieser Mensch schien der Begleiter der Zigeunerin zu sein. Claude Frollo konnte von der Höhe des Thurmes seine Gesichtszüge nicht erkennen.

Von dem Augenblicke an, da der Archidiakonus diesen Unbekannten gewahrte, schien sich seine Aufmerksamkeit zwischen ihm und der Tänzerin zu teilen, und sein Gesicht wurde immer finsterer. Plötzlich durchschauerte ein Frost seinen ganzen Körper. Was ist das für ein Mann? murmelte er zwischen den Zähnen, ich habe sie doch immer allein gesehen.

Mit diesen Worten verließ er plötzlich den Altan und stieg die Wendeltreppe hinab. Als er am Glockenthurme vorüber ging, sah er Quasimodo auf den Platz hinabblicken. Der Zwerg war so in Betrachtung vertieft, daß er den vorübergehenden Priester nicht bemerkte. Sein wildes Auge hatte einen ganz anderen Ausdruck angenommen, sein Blick war sanft und wie bezaubert.

Das ist doch seltsam! murmelte der Priester. Ist es auch die Aegypterin, die er auf solche Weise betrachtet? Er stieg weiter hinab und kam auf den öffentlichen Platz.

»Wo ist denn die Zigeunerin hingekommen?« fragte er, sich unter die Gruppe der Zuschauer mischend, welche der Tambourin herbeigelockt hatte.

»Ich weiß es nicht,« antwortete ihm einer derselben; »ich glaube, man hat sie da in ein Haus gerufen, um ihre Kunststücke zu machen.«

An der Stelle der Aegypterin machte jetzt der Mensch mit der roth und gelben Mütze, der eine Art Hanswurst schien, seine Kunststücke. Er ging eben im Zirkel herum, die Ellenbogen in die Seiten gestemmt, den Kopf rückwärts gebogen, mit ausgestrecktem Hals und hochrothem Gesicht, einen Stuhl zwischen den Zähnen haltend. Auf diesen Stuhl hatte er eine Katze gebunden, die ihm eine Nachbarin geliehen hatte, und die jämmerlich schrie.

»Bei unserer lieben Frau!« rief der Archidiakonus aus, als eben der Hanswurst, große Tropfen schwitzend, an ihm vorüberging, »das ist ja unser Meister Peter Gringoire.«

Die strenge Stimme des Archidiakonus erschreckte den armen Teufel so sehr, daß er das Gleichgewicht verlor, und daß Stuhl und Katze unter allgemeinem Zischen auf die Köpfe der Zunächststehenden fielen.

Meister Peter Gringoire, denn er war es selbst, würde wahrscheinlich einen harten Stand mit der Eigenthümerin der Katze und den zerkratzten Gesichtern um ihn her gehabt haben, wenn er nicht schnell in die Kirche entwischt wäre, wohin ihm der Priester, nachdem er ihm ein Zeichen gegeben, ihm zu folgen, vorangegangen war.

Die Kirche war bereits finster und verlassen. Nachdem sie einige Schritte gegangen waren, lehnte sich der Priester mit dem Rücken an einen Pfeiler und warf einen ernsten und festen Blick auf den Poeten und Hanswurst. Dieser Blick war kein solcher, wie Peter Gringoire ihn fürchtete, beschämt, wie er war, daß eine so ernste und gelehrte Person ihn in der Hanswurstjacke überrascht hatte. Der Blick des Priesters hatte nichts Scherzhaftes und Ironisches an sich; er war ernst, ruhig und durchdringend. Der Archidiakonus brach zuerst das Stillschweigen.

»Kommt einmal daher, Meister Peter! Ihr werdet mir Allerlei zu erzählen haben, und vor allen Dingen, wie es kommt, daß man Euch seit zwei Monaten nimmer gesehen hat, und jetzt auf der Straße findet, in einem saubern Aufzug, halb gelb und halb roth, wie ein wahrer Hanswurst und Seiltänzer.«

»Herr und Meister,« erwiederte Peter Gringoire mit kläglicher Stimme, »ich trage da allerdings einen seltsamen Kittel, und ich bin selbst so beschämt darüber wie eine Katze, der man eine Kürbisflasche aufsetzt. Es ist allerdings nicht wohl gethan, die Stadtsergenten in den Fall zu setzen, unter dieser bunten Jacke den humerus eines pythagoräischen Philosophen ausklopfen zu müssen. Aber was ist zu machen, mein sehr ehrwürdiger Herr und Meister? Die Schuld liegt an meinem alten schwarzen Rock, der mich im Anfang des Winters unter dem Vorwand, daß er in Lappen zerfalle und in der Kiste des Lumpensammlers ausruhen müsse, schmählich verlassen hat. Was war zu machen! Die Civilisation ist noch nicht so weit vorgerückt, daß man nackt geht, wie der alte Diogenes wollte. Zudem wehte ein kalter Wind, und der Monat Januar ist nicht der geeignetste im Jahr, um diesen neuen Schritt zur Humanität zu thun. Diese bunte Jacke hat sich nun vorgefunden, und ich habe sie an die Stelle meines seligen schwarzen Rocks gesetzt, der für einen Hermetiker, wie ich bin, nicht sehr hermetisch geschlossen war. Ihr seht mich demnach hier in meiner Histrionen-Jacke. Was ist zu machen? Es ist eben eine Sonnenfinsternis, und Apoll hat ja selbst bei Admet die Ziegen gehütet.«

»Ihr treibt da ein schönes Handwerk!« fuhr der Archidiakonus fort.

»Ich muß selbst gestehen, daß es besser ist, zu philosophiren und zu dichten, die Flamme im Ofen anzublasen oder sie vom Himmel zu empfangen, als Katzen auf dem Pflaster herumzutragen. Auch stehe ich hier so dumm vor Euch wie ein Esel vor einem Bratenwender. Was ist aber zu machen? Man muß alle Tage gelebt haben, und die schönsten alexandrinischen Verse wägen kein Stückchen alten Käse auf, das man zwischen den Zähnen hat. Ich habe, wie Ihr wißt, für Frau Margarethe von Flandern jenes berühmte Epithalamium gemacht, und die Stadt bezahlt es mir nicht unter dem Vorwand, daß es nichts Vorzügliches sei, als ob man um vier Thaler eine Sophocles’sche Tragödie liefern könnte. Es blieb mir also nichts übrig, als Hungers zu sterben. Zum Glücke habe ich ein paar kräftige Kinnbacken, und ich sprach zu denselben: Macht Kunststücke, haltet den Stuhl und die Katze im Gleichgewicht! Nährt euch selbst! Ein Schock Spitzbuben, die jetzt meine guten Freunde sind, haben mich zwanzig verschiedene Herkules-Stücke gelehrt, und nun beißen jeden Abend meine Zähne das Brod, das sie den Tag über verdient haben. Im Uebrigen concedo, ich gebe zu, daß es ein trauriger Gebrauch meiner geistigen Fähigkeiten ist, und daß der Mensch etwas Anderes treiben kann, als in altes Holz zu beißen und mit den Zähnen Katzen auf dem Pflaster herumzutragen. Allein, mein sehr verehrter Meister, es ist nicht hinreichend, sein Leben hinzubringen, man muß es auch verdienen.«

Der Priester hatte ihn stillschweigend angehört. Jetzt nahm sein tiefliegendes Auge einen so forschenden und durchdringenden Ausdruck an, daß er dem armen Poeten bis auf den geheimsten Grund seiner Seele drang.

»Ganz wohl, Meister Peter,« sagte der Archidiakonus, »aber wie kommt es, daß Ihr Euch jetzt in Gesellschaft dieser ägyptischen Tänzerin befindet?«

»Meiner Treu!« erwiederte Peter Gringoire, »das kommt daher, daß sie meine Frau ist und ich ihr Mann bin.«

Bei diesen Worten entflammte sich das finstere Auge des Priesters.

»Und das hättest Du gethan, Elender?« schrie er wüthend und faßte krampfhaft den Arm des Dichters. »So bist Du von Gott verlassen, daß Du Dich an dieses heidnische Mädchen hängst!«

»Bei meiner ewigen Seligkeit, ehrwürdiger Herr und Meister,« antwortete der Poet an allen Gliedern zitternd, »schwöre ich Euch, daß ich sie mit keinem Finger berührt habe, wenn Euch das beunruhigt.«

»Und was faselst Du denn von Mann und Frau?« fragte der Priester weiter.

Peter Gringoire erzählte nun, so gedrängt als möglich, Alles was der Leser bereits weiß, sein Abenteuer im Hofe der Wunder und seine Heirath mittelst des zerbrochenen Kruges.

Es ergab sich aus seinem Bericht, daß bis jetzt seine Heirath noch kein Resultat gehabt hatte, und daß jeden Abend das schöne Zigeunermädchen ihm die Brautnacht wegstipizte, wie am Hochzeittage.

»Das ist ein bitterer Kelch,« schloß unser Dichter seine Erzählung, »aber es kommt daher, daß ich das Unglück gehabt habe, eine Jungfrau zu heirathen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte der Archidiakonus, dessen Zorn sich bei Anhörung dieses Berichts allmählig gelegt hatte.

»Das läßt sich schwer erklären,« antwortete der Poet. »Es ist ein Aberglaube. Meine Frau ist, wie mir ein alter Zigeuner sagte, den wir bei uns den Herzog von Aegypten nennen, ein Findelkind. Sie trägt am Hals ein Zaubergehänge, durch das sie eines Tages ihre Eltern wieder finden wird, und das seine Kraft verlieren würde, wenn dessen Besitzerin ihre Jungfrauschaft verlöre. Es folgt daraus, daß wir Beide sehr tugendhaft leben.«

»Ihr glaubt also,« fragte der Priester, dessen Stirne sich immer mehr entwölkte, »Ihr glaubt also, Meister Peter, daß dieses Geschöpf noch ganz unschuldig ist und mit keinem Manne zu thun gehabt hat?«

»Wie will ein Mann mit einem solchen Aberglauben zurecht kommen! Sie hat sich einmal das in den Kopf gesetzt. Es ist allerdings etwas Seltenes um diese Nonnenhaftigkeit, die sich mitten unter diesen so leicht zugänglichen Zigeunerinnen bewahrt. Sie hat aber zu ihrem Schutz drei Dinge: den Herzog von Aegypten, der sie unter seine Obhut genommen hat, weil er vielleicht denkt, daß er eines Tages ihre Jungfrauschaft an irgend einen geilen Abt oder Priester gut verkaufen könne, ihren ganzen Stamm, der sie in besonderer Verehrung hält, wie wir unsere liebe Frau, und dann einen gewissen kleinen Dolch, den die Spitzbübin trotz des Verbots immer an einem verborgenen Orte bei sich führt, und der blitzschnell aus der Scheide fährt, wenn man sie umfassen will. Das ist eine Wespe, die gleich sticht!«

Der Archidiakonus bestürmte jetzt Peter Gringoire mit Fragen. Dieser erzählte was er wußte: Die Esmeralda sei ein niedliches und harmloses Geschöpf, ungekünstelt und leidenschaftlich, unwissend in Allem und begeistert für Alles, noch nicht, nicht einmal im Traume, den Unterschied zwischen einem Manne und Weibe kennend; Tanz, Geräusch, frische Luft liebend, eine Biene, mit unsichtbaren Flügeln an den Füßen. So sei sie durch das herumirrende Leben geworden, das sie von Jugend auf geführt habe. Peter Gringoire hatte erfahren, daß sie als Kind schon Spanien und Katalonien durchzogen hatte, und bis Sizilien gekommen war; er glaubte sogar, daß die Zigeunerhorde, der sie angehörte, sie bis nach Algier geführt habe. So viel sei gewiß, daß Esmeralda sehr jung aus Ungarn nach Frankreich gekommen. Aus allen diesen Ländern habe das junge Mädchen einige Lappen ihrer Sprache, Gesänge und seltsame Ideen mitgebracht. Das Volk liebe sie wegen ihrer Schönheit, ihrer Munterkeit, ihrer Tänze und Gesänge. Sie glaube sich in der ganzen Stadt von Niemand gehaßt, als von zwei Personen, von denen sie oft mit Entsetzen spreche: von der Klausnerin im Rolandsthurm, welche die Zigeunerin jedesmal verwünsche, so oft sie an ihrem Loch vorübergehe, und von einem Priester, der ihr nie begegne, ohne Blicke auf sie zu werfen, welche ihr Furcht einflößen.

Dieser letztere Umstand brachte den Archidiakonus in große Verlegenheit, ohne daß eben Peter Gringoire viel darauf achtete. Der harmlose Dichter schien bereits jene Nacht wieder vergessen zu haben, in welcher Quasimodo in Gesellschaft des Priesters Esmeralda entführen wollte.

Bei alle dem fürchtete die kleine Tänzerin nichts; sie gab sich nicht mit Wahrsagen ab und sicherte sich dadurch gegen jene Hexenprozesse, die damals so häufig waren. Peter Gringoire gewährte ihr, wenn auch nicht als Gatte, doch als Bruder seinen Schutz. Er war philosophisch genug, diese Art platonischer Ehe geduldig zu ertragen. Er hatte doch ein Obdach und Brod. Jeden Morgen zog er vom Hofe der Wunder aus, meistens mit der Aegypterin, half ihr auf den öffentlichen Plätzen die Spenden der Zuschauer einsammeln, und jeden Abend kehrte er mit ihr unter das nämliche Dach zurück; sie verriegelte sich in ihrem Kämmerlein und Meister Peter schlief den Schlaf des Gerechten. Ein sehr gemüthliches Dasein, sagte er, und ganz zu poetischen Träumereien geeignet! Im Uebrigen, wenn er sich auf sein Gewissen fragte, war unser Philosoph nicht ganz gewiß, wen er mehr liebe: Esmeralda oder ihre Ziege. Er sei ganz vernarrt in dieses niedliche, kluge, fast gelehrte Thier. Ueberhaupt seien die Kunststücke, welche die Ziege mache, höchst einfacher Art, und Esmeralda besitze ein besonderes Talent, sie darin abzurichten. So habe sie die Ziege in kurzer Zeit gelehrt, den Namen Phöbus mit beweglichen Buchstaben zu schreiben.

»Phöbus!« sagte der Priester. »Warum Phöbus?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Poet. »Es ist vielleicht ein Wort, welchem sie geheime Zauberkraft zuschreibt. Sie wiederholt es oft halblaut, wenn sie sich allein glaubt.«

»Seid Ihr versichert,« fragte der Archidiakonus mit seinem durchdringenden Blicke, »daß es nur ein Wort und kein Name ist?«

»Name! wessen?«

»Was weiss ich?« sagte der Priester.

»Ich denke mir die Sache so: die Zigeuner haben etwas vom Glauben der Parsen und beten die Sonne an. Daher Phöbus.«

»Das scheint mir nicht so klar, als Euch, Meister Peter.«

»Nun, mir liegt nichts daran. Mag sie ihr Phöbus murmeln, so oft sie will. Das weiß ich gewiß, daß Djali mich fast eben so liebt, als ihre Herrin.«

»Was ist das, diese Djali?«

»Das ist die Ziege.«

Der Archidiakonus stützte sein Kinn in die Hand und schien einen Augenblick nachzusinnen. Plötzlich wendete er sich barsch gegen den Dichter.

»Und Du schwörst mir, daß Du sie nicht berührt hast?«

»Wen? die Ziege?«

»Nein, dieses Weib.«

»Mein Weib? Das kann ich wohl beschwören.«

»Und Du bist oft allein mit ihr?«

»Jeden Abend wohl eine Stunde.«

Der Priester runzelte die Stirne und sagte: »Solus cum sola, non cogitabuntur orare Pater noster. Bei meiner armen Seele, ich könnte das Pater noster, das Ave Maria und das Credo in Deum omnipotentem hersagen, ohne daß sie mehr auf mich Acht hätte, als eine Henne auf eine Kirche.«

»Schwöre mir bei dem Bauche Deiner Mutter,« fuhr der Priester heftig fort, »daß Du dieses Geschöpf nicht mit der Spitze Deines Fingers berührt hast.«

»Ich will es auch bei dem Kopfe meines Vaters beschwören, aber erlaubt mir dagegen auch eine Frage an Euch, mein sehr verehrter Meister.«

»Rede!«

»Was geht dieses Ding Euch an?«

Das bleiche Gesicht des Priesters röthete sich, wie die Wangen eines jungen Mädchens. Er schwieg einen Augenblick, dann erwiederte er in sichtbarer Verlegenheit: »Hört, Meister Peter Gringoire, Ihr seid noch nicht verdammt, so viel ich weiß. Ich nehme Antheil an Euch und will Euch wohl. Nun würde aber jede Berührung dieser höllischen Aegypterin Euch zum Vasallen des Teufels machen. Ihr wißt, daß immer der Leib die Seele verdirbt. Wehe Dir, wenn Du dieses Weib berührst!«

»Einmal,« sagte Peter Gringoire und kratzte sich hinter den Ohren, »habe ich den Versuch gemacht, es war gleich am ersten Tage; aber er ist mir schlecht bekommen.«

»Ihr habt diese Unverschämtheit begangen, Meister Peter?« fragte der Priester mit gerunzelter Stirne.

»Ein andermal,« sagte der Poet und lachte behaglich in sich hinein, »habe ich, ehe ich in’s Bett ging, durch das Schlüsselloch gesehen, und da sah ich das niedlichste Geschöpf im Hemde, das je den bloßen Fuß auf den Teppich setzte.«

»Geh zu allen Teufeln!« rief der Priester mit einem furchtbaren Blicke, stieß den Dichter an den Schultern von sich und verlor sich in den finsteren Gängen der Kirche.