VI. Vier Uhr Nachmittags.

Gegen vier Uhr wurde die Situation der englischen Armee bedenklich. Der Prinz von Oranien commandirte das Centrum. Hill den rechten Flügel, Picton den linken. Der Prinz von Oranien, kühn und unerschrocken, rief den holländisch-belgischen Truppen zu: »Nassau! Braunschweig! Niemals zurück!« Hill geschwächt, lehnte sich an Wellington, Picton war gefallen. In derselben Minute, in welcher die Engländer den Franzosen die Fahne des hundertfünften Linien-Regiments weggenommen, hatten die Franzosen den Engländern mit einer Kanonenkugel grade durch den Kopf den General Picton getödtet. Für Wellington hatte die Schlacht zwei Stützpunkte: Hougomont und La Haie-Sainte. Hougomont hielt sich noch, stand aber in Brand, La Haie-Sainte jedoch war genommen. Von dem deutschen Bataillon, welches es vertheidigte, blieben nur zweiundvierzig Mann übrig. Alle Offiziere bis auf fünf, waren todt oder gefangen. Dreitausend Streiter hatten sich in dieser Scheune gemordet. Ein Sergeant der englischen Garden, der erste Boxer Englands, welcher unter seinen Kameraden den Ruf der Unverwundbarkeit hatte, war durch einen kleinen französischen Tambour getödtet worden. Baring war verdrängt, Alten niedergemacht. Mehrere Fahnen waren verloren, darunter eine der Division Alten und eine des Bataillons Lüneburg, welche ein Prinz von Zweibrücken trug. Die grauen Schotten existirten nicht mehr; die dicken Dragoner Ponsonbys waren zusammengehauen. Diese tapfere Cavallerie hatten die Lanciers Brois und die Kürassire Travers zum Weichen gebracht. Von zwölfhundert Pferden waren nur noch sechshundert übrig, von drei Oberstlieutnants lagen zwei am Boden, Hamilton verwundet, Mater todt. Ponsonby war, von sieben Lanzenstichen durchbohrt, gefallen. Gordon war todt, Marsh war todt. Zwei Divisionen, die fünfte und sechste, waren vernichtet.

Nachdem Hougomont angegriffen und La Haie-Sainte genommen war, gab es nur noch einen Knoten, das Centrum, welches sich immer noch gehalten hatte. Wellington schickte ihm Verstärkungen. Er beorderte Hill und Chassé dahin, von denen sich der erste im Merbe-Braine, der andere in Braine-l’Alleud befand. Das englische, etwas concave, sehr dichte und compacte Centrum hatte eine feste Position. Es hielt das Plateau von Mont-Saint-Jean inne und hatte das Dorf hinter sich, vor sich den damals ziemlich steilen Abhang. Es lehnte sich an das starke steinerne Haus, welches damals ein Herrengut von Rivelles war und den Kreuzungspunkt der Straßen bezeichnet, eine so feste Masse aus dem sechszehnten Jahrhundert, daß die Kugeln, ohne einzudringen, davon abprallten. Rund um das Plateau hatten die Engländer hier und da die Hecken gelichtet, Schießscharten in die Hagedornen und Gebüsche gemacht und ein Geschütz zwischen zwei Zweige geschoben. Ihre Artillerie lag in Versteck im Gebüsch. Diese punische Arbeit, welche aber unstreitbar der Krieg gestattet, der Schlingen legen erlaubt, war so vortrefflich ausgeführt, daß Haro, den der Kaiser früh um neun Uhr ausgesandt, die feindlichen Batterien zu recognosciren, nichts gesehen hatte und nach seiner Rückkunft Napoleon sagte, es gebe kein Hinderniß außer den beiden Barikaden, welche die Straßen von Nivelles und Genappe versperrten. Es war die Zeit in welcher das Getreide hoch stand; an der Grenze des Plateaus lag ein Bataillon der Brigade Kempt das fünfundneunzigste mit Carabinern bewaffnet, in dem Getreide versteckt.

So befand sich das Centrum der englisch-holländischen Armee gesichert und geschützt in guter Position. Die Gefahr dieser war der Wald von Soignes welcher damals an das Schlachtfeld anstieß und durch die Sümpfe von Groenendael und Boitsfort coupirt war. Ohne sich aufzulösen hätte sich eine Armee durch denselben nicht zurückziehen können. Die Regimenter hätten sich sofort hier zertheilen müssen. In den Sümpfen wäre die Artillerie verloren gewesen. Der Rückzug würde nach der, auch von Anderen bestätigten Ansicht, mehrerer Fachmänner eine ordnungslose Flucht gewesen sein.

Wellington schickte zu dem Centrum noch eine Brigade von Chassé, welche er vom rechten Flügel genommen hatte und eine Brigade, welche bisher auf dem linken Flügel gestanden, die Winckesche so wie noch die Division Clinton. Seinen Engländern, den Regimentern von Hallet, der Brigade Mitchel, den Maitland’schen Garden gab er noch die Braunschweig’sche Infanterie, das Contingent Nassau, die Hanoveraner unter Kielmannsegge und die Deutschen unter Ompteda zur Unterstützung. So hatte er sechs und zwanzig Bataillone zu seiner Disposition. Der rechte Flügel wurde, wie Charras sagt, »hinter das Centrum verlegt.« Eine ungeheure Batterie wurde durch Erdstücke maskirt und zwar an der Stelle, wo heute das sogenannte »Museum von Waterloo« ist. Wellington hatte außerdem in eine Terrainsenkung, Somersetsche Garde-Dragoner gelegt, vierzehnhundert Pferde, die zweite Hälfte der mit Recht so berühmten englischen Cavallerie. Ponsonby war vernichtet, Sommerset war noch da.

Die Batterie, die, vollendet, fast eine Schanze gewesen wäre, war hinter einer sehr niedrigen Gartenmauer errichtet. Man hatte sie in Eile mit Sandsacken und einer großen Erdböschung bekleidet. Dieses Wert war nicht vollendet; man hatte nicht Zeit gehabt, es mit Pallisaden zu versehen.

Wellington, welcher zwar unruhig, aber kaltblütig war, saß zu Pferde und blieb den ganzen Tag in derselben Stellung und auf derselben Stelle, ein wenig vor der alten Mühle von Mont-Saint-Jean, die noch steht, unter einer Ulme, die seitdem ein Engländer, ein enthusiastischer Vandale, für zweihundert Francs gekauft, abgesägt und fortgeschafft hat. Hier blieb Wellington in kalter, heroischer Ruhe stehen. Es regnete Kugeln, der Adjutant Cordon war eben an seiner Seite gefallen, Lord Hill zeigte ihm eine platzende Granate und sagte: »Mylord! welches sind Ihre Instructionen und Ihre Befehle, welche Sie uns für den Fall Ihres Todes zurücklassen?« Wellington antwortete: »Es zu machen wie ich«. Zu Clinton sagte er lakonisch: »Bis auf den letzten Mann hier aushalten!« Der Tag schien offenbar eine schlechte Wendung zu nehmen. Wellington rief seinen ehemaligen Kameraden von Talavera, Vittoria und Salamanca zu: »Jungens ( Boys)! kann man an Weichen denken? Denkt an Alt-England!«

Gegen vier Uhr fing die englische Linie zu wanken an. Plötzlich sah man auf der Höhe des Plateaus nichts mehr als Artillerie und Tirailleure, das Uebrige verschwand. Die von französischen Kartätschen und Kugeln gejagten Regimenter zogen sich in die Tiefe zurück, welche noch heut zu Tage der Fußweg der Maierei von Mont-Saint-Jean durchschneidet. Es entstand eine rückgängige Bewegung, die englische Schlachtlinie zog sich zurück, Wellington wich. »Der Anfang des Rückzugs!« rief Napoleon.

VII. Napoleon in guter Laune.

Der Kaiser war, obgleich krank und durch ein örtliches Leiden belästigt, nie so guter Laune gewesen, als an diesem Tage. Seit dem Morgen lächelte seine Unerforschlichkeit. Es war der blinde Schein seiner unergründlichen Seele aus Marmor. Der Mann, der bei Austerlitz finster gewesen, war bei Waterloo heiter. Die größten Schicksalsmenschen thun so Widersprechendes. Unsere Freuden sind Schatten. Das höchste Lächeln gehört Gott.

Ridet Caesar, Pompejus flebit (Cäsar lacht, Pompejus wird weinen), sagten die Soldaten der Legion Fulminatrix. Pompejus sollte diesmal nicht weinen, Cäsar aber lachte gewiß.

Schon in der letzten Nacht, um ein Uhr, als er mit Bertrand zu Pferde im Sturm und Regen die Hügel um Rossomme musterte, und mit Befriedigung die lange Linie der englischen Wachtfeuer sah, welche den ganzen Horizont von Frichemont bis Brain-l’Alleud beleuchteten, war es ihm vorgekommen, als sei das Geschick, das er einem bestimmten Tage auf dem Schlachtfelde von Waterloo zugewiesen hatte, pünktlich und accurat. Er hatte sein Pferd angehalten und war einige Zeit unbeweglich geblieben, nach den Blitzen schauend, auf den Donner hörend. Dann hatte man diesen Fatalisten folgendes geheimnißvolle Wort ins Dunkel hineinsprechen hören: »Wir sind einig.« Napoleon irrte sich. Sie waren nicht mehr einig.

Er hatte nicht eine Minute geschlafen; alle Augenblicke dieser Nacht waren für ihn durch etwas Freudiges bezeichnet. Er war an der ganzen Linie der Garde hingeritten und hatte, hier und da stehen bleibend, mit den Wachtposten gesprochen. Halb drei Uhr bei dem Walde von Hougomont, hatte er den Marschtritt einer Colonne gehört, einen Augenblick an den Rückzug Wellingtons geglaubt und zu Bertrand gesagt: »es ist der englische Nachtrab, der aufbricht, um abzuziehen. Ich werde die sechstausend Engländer, die in Ostende angekommen sind, gefangen nehmen.« Er plauderte in der mittheilendsten Weise, er hatte die Lebhaftigkeit von der Landung am 1. März wiedergefunden, als er dem Großmarschall den begeisterten Landmann am Golf Juan mit den Worten zeigte: »nun, Bertrand, da kommt schon Verstärkung!« In der Nacht vom 17. zum 18. Juni verspottete er Wellington. »Der kleine Engländer braucht eine Lection,« sagte Napoleon. Während der Kaiser sprach, begann der Regen mit verdoppelter Macht unter einem heftigen Donnerschlag.

Halb vier Uhr früh hatte er eine Illusion verloren. Zur Recognoscirung ausgesandte Officiere meldeten ihm, der Feind mache keine Bewegung. Nichts rührte sich; kein Bivouacfeuer war erloschen. Die englische Armee schlief. Alles war still auf der Erde, nur oben am Himmel war es lebhaft. Um vier Uhr wurde ein Bauer vor ihn gebracht, der eine Brigade englischer Cavallerie, wahrscheinlich die Brigade Vivian, geführt hatte, welche im Dorfe Ohain, auf dem äußersten linken Flügel, Position nahm. Um fünf Uhr berichteten ihm zwei belgische Deserteure, daß sie ihr Regiment verlassen hätten, und daß die englische Armee die Schlacht erwarte. »Um so besser!« rief da Napoleon aus. »Ich will sie lieber über den Haufen werfen, als sie zurückdrängen.«

Früh war er an dem abschüssigen Wegrande, welcher die Ecke des Weges nach Planchenois macht, abgestiegen, trotz des Schmutzes, hatte sich von der Meierei von Rossomme einen Küchentisch und Bauernstuhl bringen lassen, sich da hingesetzt, eine Schütte Stroh unter den Füßen, die Karte vom Schlachtfelds ausgebreitet und zu Soult gesagt. »Schönes Schachbrett!«

In Folge des Regens in der Nacht hatten die Lebensmittelzufuhren wegen der aufgeweichten Wege früh nicht ankommen können; die Soldaten hatten nicht geschlafen, waren durchnäßt und nüchtern. Das hinderte jedoch Napoleon nicht, ganz heiter Ney zuzurufen: »Unsere Aussichten stehen zu denen der Gegner wie 90 zu 10.« Um acht Uhr brachte man ihm das Frühstück. Er hatte mehrere Generale dazu eingeladen Während des Frühstücks wurde erzählt, Wellington sei am Tage vorher in Brüssel zum Ball bei der Herzogin von Sommerset gewesen, und Soult der rohe Kriegsmann mit dem Erzbischofgesicht sagte: Zum Ball? der ist ja erst heute. Der Kaiser scherzte mit Ney, der gesagt hatte: »Wellington wird nicht so dumm sein, Ew. Majestät zu erwarten.« Das war übrigens so seine Art. »Er scherzte gern,« sagt Fleury von Chaboulon.« »Der Grundzug seines Charakters ist heitere Laune,« sagt Gourgaud. »Er war voller Spaße, die aber mehr seltsam als geistreich waren,« sagt auch Benjamin Constant. Die Spaße eines Riesen lohnen der Mühe erwähnt zu werden. Er nannte seine Grenadiere die »Brummbärte,« kniff sie ins Ohr, zupfte sie am Schnurbart. »Der Kaiser treibt Schabernack mit uns,« sagte Einer der Grenadiere. Während der geheimnißvollen Ueberfahrt von der Insel Elba nach Frankreich am 27. Februar, im offenen Meere, als die französische Kriegsbriegg »Zephyr« der Brigg »Inconstant« begegnete, auf welcher sich Napoleon befand, und diese nach Nachrichten von Napoleon fragte, nahm der Kaiser, der noch am Hute die weiße und amaranthfarbige Cocarde mit Bienen besät trug, lächelnd das Sprachrohr und antwortete selbst: »Der Kaiser befindet sich wohl.« Wer so lacht, der ist familiair mit den Ereignissen. Napoleon lachte mehrmals so während des Frühstücks von Waterloo. Nach dem Frühstücke sammelte er sich eine Viertelstunde, dann dictirte er zwei Generälen, die auf der Schütte Stroh saßen, eine Feder in der Hand und ein Blatt Papier auf den Knieen hatten, die Schlachtordnung. Um neun Uhr, als die französische Armee in fünf Colonnen aufgestellt, sich entfaltete, die Divisionen in zwei Linien, das Geschütz zwischen den Brigarden, die Musik voran, unter Trommelschlag und Trompetengeschmetter, gewaltig, ungeheuer, heiter, ein Meer von Helmen, Säbeln und Bayonetten am Horizonte, rief der Kaiser ergriffen zweimal aus: »Prächtig, prächtig!

Von neun bis halb elf Uhr hatte die ganze Armee – was unglaublich erscheint – Position genommen und in sechs Linien sich aufgestellt, die um die Worte des Kaisers hier zu wiederholen: »sechs V bildeten.« Ewige Augenblicke nach der Formation der Schlachtfront, mitten in der tiefen Stille des Beginnens des Unwetters, welches den Schlachten vorausgeht, klopfte der Kaiser Haxo mit den Worten auf die Achsel: »vierundzwanzig prächtige Jungfern, General.«

Das war gerade in dem Augenblicke, als er drei von den zwölf Batterieen bei sich vorüber defiliren sah, welche sich auf seinen Befehl von den Corps von Erlon, Reille und Lobau detachirten und bestimmt waren, die Schlacht in Mont-Saint-Jean, an der Stelle, wo die Wege von Nivelles und Genappe einander kreuzen, zu beginnen.

Des Ausganges sicher, hatte er mit freundlichem Lächeln eine an ihm vorüberkommende Sappeur-Compagnie vom ersten Corps ermuthigt, welche sich nach seiner Anweisung in Mont-Saint-Jean verbarricadiren sollte, sobald das Dorf genommen wäre. Diese Heiterkeit wurde nur durch ein Wort stolzen Mitleides unterbrochen.

Als er nämlich zu seiner Linken, an einer Stelle, wo sich jetzt ein großes Grab befindet, die bewundernswürdigen schottischen Grauen mit ihren prächtigen Pferden sich sammeln sah, rief er aus: »Schade!«

Dann stieg er wieder zu Pferde, ritt vor Rossomme und wählte als Beobachtungs-Punkt einen schmalen Rasenhügel nahe an der Straße von Genappe nach Brüssel, welcher sein zweiter Standort während der Schlacht war. Der dritte, um sieben Uhr Abends, zwischen Belle-Alliance und La Haie-Sainte, ist furchtbar: ein ziemlich hoher Hügel, der heute noch existirt und hinter welchem die Garde in einer Senkung der Ebene in Masse aufgestellt war. Um diesen Hügel her flogen die Kugeln, die von dem Pflaster der Straße abprallten, bis zu Napoleon. Wie zu Brienne pfiffen die Flinten- und Kartätschenkugeln über seinen Kopf hin. Man hat fast an der Stelle, wo die Hufe seines Pferdes standen, verrostete Kugeln, alte Säbelklingen und verrostetes Wurfgeschoß aller Art vorgefunden. Vor einigen Jahren grub man an dieser Stelle eine noch geladene sechspfündige Bombe aus, deren Zünder dicht an der Kugel abgebrochen war. Auf diesem seinem letzten Standorte sagte der Kaiser zu seinem Führer Lacoste, einem feindlichen furchtsamen Bauer, der an den Sattel eines Husaren gefesselt war und sich bei jedem Schuß umdrehte und hinter Napoleon zu verstecken suchte: »Dummkopf! Es ist ja schmachvoll! Du wirst eine Kugel in den Rücken bekommen!« Der Schreiber dieser Zeilen selbst fand an dem Abhange dieses Hügels, als er im Sande grub, Stücke einer Bombe und alte Eisenstücke, welche der Rost von sechs und vierzig Jahren so zerfressen hatte, daß sie in den Händen zerbrachen wie Hollunderstäbchen.

Die verschiedenen geneigten, wellenförmigen Erhebungen der Ebene, wo der Kampf zwischen Napoleon und Wellington stattfand, sind bekanntlich nicht mehr in der Beschaffenheit, wie am 18. Juni 1815.

Als man diesem Leichenfelde die Erde wegnahm, um das Monument aufzurichten, nahm man ihm sein wirkliches Relief, und die außer Fassung gebrachte Geschichte findet sich nicht mehr zurecht. Man hat sie verunstaltet, um sie zu verherrlichen. Als Wellington zwei Jahre später Waterloo wiedersah, rief er aus: »Man hat mir mein Schlachtfeld verändert!« Da, wo jetzt die große Erdpyramide mit dem Löwen darauf steht, war eine kleine Erhöhung, die sich nach der Straße von Nivelles zu wie eine Rampe abdachte, nach der Chaussee von Genappe zu aber eine beinah steile Böschung bildete. Die Höhe dieser Letztern laßt sich heute noch nach jener der beiden großen Gräber bemessen, zwischen denen die Straße von Genappe nach Brüssel hindurch führt: das eine links ist ein englisches, das andere rechts ein deutsches Grab.

Ein französisches Grab giebt es nicht. Für Frankreich ist die ganze Ebene ein Grab. Dank den tausend und aber tausend Wagen voll Erde, welche man zu dem hundertundfunfzig Fuß hohen und fünfhundert Fuß im Umfang haltenden Denkmalhügel angewendet hat, ist das Plateau von Mont-Saint-Jean nur noch unbedeutend ansteigend; am Schlachttage war es, namentlich von La Haie-Sainte her, steil und abschüssig. Der Abhang war an dieser Stelle so geneigt, daß die englischen Kanonen unter sich das Gut im Thalgrunde, den Mittelpunkt des Kampfes nicht sahen. Am 18. Juni 1815 war das Hinaufkommen wegen des durch den Regen aufgeweichten Bodens noch schwieriger. Längs dem Kamme des Plateau’s lief ein Graben hin, der von einem Beobachter in der Ferne gar nicht bemerkt werden konnte.

Was war dieser Graben? Sagen wir es. Braine l’Alleud ist ein belgisches Dorf, Ohain ein anderes. Diese Dörfer, welche beide in Terraincurven versteckt liegen, werden durch einen Weg von etwa anderthalb Stunden verbunden, der über eine wellige Ebene läuft und sich oft wie eine Furche durch Hügelungen zieht, so daß er an vielen Stellen ein Hohlweg ist. Im Jahre 1815 schnitt dieser Weg, wie heute noch, über den Kamm des Plateau’s von Mont-Saint-Jean zwischen den beiden Chausseen von Genappe und Nivelles, nur war er damals ein Hohlweg, während er jetzt in einer Fläche mit der Ebene liegt. Die beiden Erhöhungen zur Seite hat man zu dem Monumenthügel verwendet. Im größten Theile seiner Ausdehnung war und ist heut zu Tage noch dieser Weg ein Laufgraben, hier und da wohl zwölf Fuß hohl, dessen allzusteile Böschungen hin und wieder, namentlich im Winter bei starken Regengüssen, herabstürzen.

Unglücksfälle haben sich auf demselben genug ereignet.

Vor Braine-l’Alleud war dieser Hohlweg so schmal, daß ein Durchgehender von einem Wagen zerdrückt wurde, wie ein steinernes Kreuz bei einem Grabe angiebt, das den Namen des Verunglückten (Bernard Debrye, Kaufmann in Brüssel) und das Datum (Febr. 1637) 2 angiebt.

Er war so tief auf dem Plateau von Mont-Saint-Jean, daß ein Bauer, Mathieu Nicaise, 1783 durch eine abfallende Erdschicht darin erschlagen wurde, wie ebenfalls ein steinernes Kreuz bezeugt, dessen Spitze in dem urbar gemachten Lande verschwunden ist, dessen umgestürztes Piedestal aber heute noch auf dem Abhänge links der Chaussee, zwischen La-Haie-Sainte und der Meierei Mont-Saint-Jean sichtbar ist.

An einem Schlachttage war dieser Hohlweg, den nichts andeutete, unsichtbar, d. h. schrecklich.

  1. Das ist die Inschrift: Hier wurde Herr Bernard de Brye, Kaufmann aus Brüssel, unter einem Wagen elendiglich zerquetscht, den (unleserlich) Februar 1637.

VIII. Der Kaiser richtet eine Frage an den Führer Lacoste.

Am Morgen der Schlacht war Napoleon zufrieden. Und er hatte Recht, denn der von ihm entworfene Schlachtplan war, wie schon erwähnt, in der That bewundernswürdig.

Die verschiedenen Kreislinien der einmal begonnenen Schlacht: der Widerstand Hougomonts; die Zähigkeit von La Haie-Saint; der Tod Bauduins; die Kampfunfähigkeit Foy’s; die unerwartete Mauer, an welcher die Brigade Soye sich brach; die verhängnißvolle Unbesonnenheit Guilleminots, der weder Petarden noch Pulversäcke hatte; das Steckenbleiben der Batterien; die fünfzehn Kanonen ohne Bedienung, welche Uxbridge in einen Hohlweg geworfen hatte; die geringe Wirkung der in die englischen Linien geworfenen Bomben, welche sich in die von den Regengüssen aufgeweichte Erde eingruben und nur Schmutzvulkane machten, so daß die Kanonade den Feind statt mit Kartätschen mit Koth überschüttete; die Nutzlosigkeit der Demonstration Piré’s gegen Braine-l’Alleud; die fast vollständige Vernichtung dieser ganzen, fünfzehn Schwadronen starken Kavallerie; die unbedeutende Beunruhigung des rechten englischen Flügels; der matte Stoß gegen den linken; das seltsame Mißverständniß Ney’s, der die vier Divisionen des ersten Corps auf einen Haufen zusammenzog, statt sie staffelweise aufzustellen, so daß eine Masse von siebenundzwanzig Reihen und zweihundert Mann Front der Kanonade ausgesetzt war; die entsetzlichen Lücken, welche dadurch in diesen Massen entstanden; die Auflösung der Angriffscolonnen; die plötzlich in ihrer Flanke demaskirte Batterie; Bourgeois, Donzelot und Durutte blosgestellt; Quiot zurückgestoßen; der Lieutenant Vieux, jener aus der polytechnischen Schule hervorgegangene Herkules, in dem Augenblicke verwundet, wo er mit Axthieben unter dem Feuer der englischen Batterie das Thor von La Haie-Sainte einschlug; die Division Marcognet, eingekeilt zwischen feindlicher Infanterie und Kavallerie, auf den Getreidefeldern von Best und Pack mit Kugeln überschüttet und von Ponsonby zusammengehalten; ihre Batterie von sieben Geschützen vernagelt; der Prinz von Sachsen-Weimar, der trotz des Grafen Erlon in Frischemont und Smohain in beobachtender Stellung Stand hielt; die Wegnahme der Fahne des 105. und des 45. Regiments; jener preußische schwarze Husar, welcher von den 300 Chasseurs aufgefangen wurde, welche die Straße zwischen Wavre und Planchenoit bestrichen; die beunruhigenden Dinge, welche dieser Gefangene aussagte; das Ausbleiben Grouchy’s; die binnen weniger als einer Stunde in dem Garten von Hougomont getödteten 1500 Mann; die achtzehnhundert Mann, die in noch kürzerer Zeit um La Haie-Sainte umher lagen: – alle diese stürmischen Zufälle, welche sich vor den Augen Napoleons wie Wolken der Schlacht dahinzogen, hatten seinen Blick kaum getrübt und hatten auf sein kaiserliches Antlitz auch nicht den leisesten Schatten von Ungewißheit geworfen. Napoleon war daran gewöhnt, dem Kriege fest ins Gesicht zu sehen; er unterließ stets das schmerzliche Zusammenzählen des Einzelnen; auf die Zahlen kam ihm wenig an, wenn sie nur zuletzt die Summe: Sieg ergaben.

Wenn es auch im Anfange nicht recht gut ging, das beunruhigte ihn nicht im Geringsten, ihn, der sich für den Herrn und Besitzer des Endes hielt; er verstand in objectiver Ruhe zu warten und unterhandelte mit dem Geschick wie mit seines Gleichen. Er schien zu ihm zu sagen: »Du wirst es nicht wagen!«

Halb Licht, halb Schatten fühlte sich Napoleon im Guten beschützt, im Ueblen tolerirt. Er hatte oder glaubte wenigstens eine Nachsicht, ja man könnte beinahe sagen eine Mitschuld der Ereignisse für sich zu haben, was wohl die Bedeutung und Geltung der antiken Unverwundbarkeit ist.

Wenn man indeß die Beresina, Leipzig und Fontainebleau hinter sich hat, sollte man wohl vor Waterloo auf der Hut sein. Ein geheimnißvolles Stirnrunzeln wird sichtbar im Hintergrunde des Himmels.

In dem Augenblick, als Wellington eine rückgängige Bewegung machte, zuckte Napoleon zusammen. Er sah das Plateau von Mont-Saint-Jean plötzlich frei werden und die Front der englischen Armee verschwinden. Sie sammelte sich wieder, entzog sich aber den Blicken. Der Kaiser richtete sich in den Steigbügeln halb empor. Der Blick des Sieges schoß aus seinen Augen.

Wellington, an den Wald von Soignes gedrängt und vernichtet, das hieß soviel als die endliche Unterwerfung Englands durch Frankreich, die Rache für Crecy, Poitiers, Malplaquet und Ramillies. Der Held von Marengo hat Azincourt ausgewetzt.

Da musterte der Kaiser nachdenkend noch einmal durch sein Fernrohr alle Punkte des Schlachtfeldes. Seine Garde, Gewehr bei Fuß hinter ihm, betrachtete ihn von unten mit einer Art religiöser Verehrung. Er dachte nach; prüfte die Abhänge, merkte sich das Steigen und Fallen des Terrains, durchforschte die Baumgruppe, das Getreidefeld, den Fußweg; jeden Busch schien er zu zählen. Mit besonders festem Blicke betrachtete er die englischen Barrikaden auf den beiden Chausseen, zwei gewaltige Verhaue von Bäumen: die auf der Chaussee von Genappe oberhalb La Haie-Sainte mit zwei Kanonen, die einzigen der ganzen englischen Artillerie, welche mitten ins Schlachtfeld hineinreichten und die auf der Chaussee von Nivelles, wo die holländischen Bayonnette der Brigade Chassé blitzten. In der Nähe dieser Barricade bemerkte er die weißangestrichene alte Kapelle des heiligen Nicolaus, welche an der Stelle steht, wo sich der Weg nach Braine l’Alleud abzweigt. Er neigte sich zu dem Führer Lacoste und sprach halblaut zu ihm. Der Führer machte mit dem Kopf ein, wahrscheinlich falsch und hinterlistig, verneinendes Zeichen.

Der Kaiser richtete sich wieder in die Höhe und dachte weiter nach.

Wellington war zurückgewichen.

Es war nur noch nöthig, dieses Zurückweichen durch Vernichtung zu vollenden.

Napoleon drehte sich plötzlich um und sendete eine Staffelte in gestrecktem Galopp nach Paris, um zu melden, daß die Schlacht gewonnen sei.

Er war eines jener Genies, aus denen der Donner hervorgeht. Er hatte seinen Blitzstrahl gefunden.

Er befahl den Kürassiren Milhauds, das Plateau von Mont-Saint-Jean zu nehmen.

IX. Das Unerwartete.

Es waren dreitausend fünfhundert Mann, eine Front von einer Viertelmeile, Riesen auf Pferde-Colossen. Es waren sechsundzwanzig Schwadronen. Hinter sich hatten sie als Stütze die Division Lefevbre-Desnouettes, die hundert sechs Elite-Gensd’armen, die Garde-Chasseurs, 1197 Mann, und die Garde-Lanciers, 880 Lanzen. Sie trugen einen Helm ohne Haarbusch, einen Küraß von geschmiedetem Eisen, Sattel-Pistolen in den Halftern und einen langen geraden Säbel. Am Morgen hatte sie die ganze Armee bewundert, als sie um neun Uhr, beim Klange der Trompeten, welche das Lied » Veillons au salut de l'empire« spielten, in dichter Colonne gekommen waren, eine ihrer Batterieen zur Seite, die andere in ihrer Mitte, sie sich in Doppelreihen zwischen der Chaussee von Genappe und Frischemont entfaltet, und als sie ihren Schlachtplatz in der starken zweiten Linie eingenommen, welche Napoleon so klug gebildet hatte, links am Ende die Cuirassiere Kellermann, rechts am Ende die Cuirassiere Milhaude, gewissermaßen zwei eiserne Flügel.

Der Adjutant Bernard überbrachte ihnen den Befehl des Kaisers. Ney zog den Degen und stellte sich an die Spitze. Die ungeheuren Schwadronen setzten sich in Bewegung.

Da sah man ein ungeheures Schauspiel.

Diese ganze Cavallerie rückte mit geschwungenen Säbeln, mit flatternden Standarten und Trompetengeschmetter, in Divisionscolonnen, in Einer Bewegung, wie Ein Mann, mit der Präcision eines Widders von Erz, der eine Bresche bricht, den Hügel von Belle-Alliance hinunter, hineinreitend in den furchtbaren Thalgrund, wo bereits so viele Menschen gefallen waren, verschwand daselbst im Rauche, kam dann aus diesen Schatten an der anderen Seite des Thals wieder heraus, immer compact und gedrängt, ritt im Trabe durch eine Kartätschenwolke, die über ihr sich ausschüttete, den entsetzlichsten kothigen Abhang des Plateaus von Mont-Saint-Jean hinan. Sie ritten ernst, drohend, unerschütterlich dahin; zwischen dem Geknatter der Gewehre, dem Donner der Kanonen hörte man das colossale Getrappel. Da es zwei Divisionen waren, so bildeten sich zwei Colonnen, die Division Wathier den rechten, die Division Delord den linken Flügel. Man glaubte von fern zwei ungeheuere Stahlschlangen sich nach der Höhe des Plateau’s hinaufwinden zu sehen. Wie eine gespenstische Erscheinung zog das durch die Schlacht.

Seit der Erstürmung der großen Schanze von Moskwa durch die schwere Reiterei hatte man nichts ähnliches gesehen! Nur Murat fehlte, Ney aber war da. Es schien, als wenn diese ganze Masse ein großes Ungeheuer geworden wäre, als wenn sie nur eine Seele hätte. Jede Schwadron ringelte sich und schwoll wie der Ring eines Polypen. Man bemerkte sie durch die hier und da zerrissenen ungeheuren Rauchwolken: ein Pêlê-Mêle von Helmen, Geschrei, Säbeln, stürmischen Sätzen der Pferde unter Kanonendonner und Fanfaren, ein geordneter und schrecklicher Tumult und darüber die Kuirasse wie die Schuppen der Hydra.

Es klingt wie eine Erzählung aus einem anderen Zeitalter. Etwas Aehnliches zeigte sich wohl in den alten Epopeen, die von den Pferdemenschen erzählten, jenen Titanen mit Menschengesicht und Pferdeleib, die im Galopp den Olymp erstiegen, grauenhaft, unverwundbar, erhaben; halb Götter halb Thiere.

Seltsames numerisches Zusammentreffen! Sechsundzwanzig Bataillone gingen sechsundzwanzig Schwadronen entgegen. Hinter dem Kamme des Plateau’s, im Schatten einer maskirten Batterie, wartete die englische in dreizehn Carrés zu zwei Bataillonen formirte Infanterie in zwei Reihen, sieben auf der einen, sechs auf der zweiten, mit angelegtem Gewehr schußfertig auf das, was da kommen sollte, ruhig, stumm, unbeweglich. Sie sah die Cuirassire nicht, diese sahen sie nicht. Sie hörte nur die Menschenflut emporsteigen Sie hörte das stärker und stärker werdende Schnauben von dreitausend Pferden, den abwechselnden regelmäßigen Tritt der Hufe im Trabe, das Rasseln der Kuirasse, das Klappern der Säbel, wie eine Art gewaltigen nahenden Sturmes. Es herrschte eine schauerliche Stille; dann erschien plötzlich eine lange Reihe gehobener Arme, Säbel schwingend über dem Kamm, darauf die Helme, die Trompeten und Standarten und dreitausend Köpfe mit grauen Schurrbärten, die riefen: »Es lebe der Kaiser.« Diese ganze Cavallerie betrat das Plateau; es war wie der Anfang eines Erdbebens.

Mit einem Male – tragisches Ereigniß! – bäumte sich plötzlich auf dem linken Flügel der Engländer, auf dem rechten der Franzosen, mit entsetzlichem Lärmen die Spitze der Colonne der Cuirassire. Als die Cuirassire in unbändigster Wuth auf der höchsten Spitze des Kammes angelangt waren, bemerkten sie plötzlich, daß zwischen ihnen und den Engländern ein gewaltigen Graben lag. Das war der Hohlweg von Ohain.

Der Augenblick war furchtbar. Die Schlucht war da, unerwartet senkrecht gähnend, zwei Toisen tief, unmittelbar unter den Füßen der Pferde; die zweite Reihe drängte die erste, die dritte die zweite; die Pferde bäumten sich, warfen sich zurück, warfen die Reiter ab, traten sie mit Hufen. Es war unmöglich umzukehren oder zurückzuweichen, die ganze Colonne war wie ein Wurfgeschoß, dessen Kraft und Gewalt sich jetzt statt auf die Engländer auf die Franzosen stürzte. Die unerbittliche Schlucht mußte ausgefüllt werden, sonst war sie nicht zu passiren. Im grausamen Durcheinander stürzten Reiter und Pferde, sich schrecklich über einander tummelnd, hinein. Als der Graben mit lebenden Menschen und Pferden ausgefüllt war, gings hinüber. Beinahe ein Drittel der Brigade Dubois stürzte in den Abgrund.

Von da an beginnt der Verlust der Schlacht.

Einer örtlichen Tradition zufolge, welche jedoch jedenfalls übertreibt, wurden in diesem Hohlwege von Ohain zweitausend Pferde und fünfzehnhundert Mann begraben. Wahrscheinlich sind unter dieser Zahl auch alle diejenigen Leichname mit inbegriffen, welche man den Tag nach der Schlacht in den Hohlweg warf.

Napoleon hatte zwar, ehe er den Cuirassieren Milhauds jenen Befehl gegeben, das Terrain untersuchen lassen. Es war aber kein Hohlweg, auch nicht einmal die unbedeutendste Terrainfalte bemerkt worden. Durch die kleine weiße Kapelle, welche an der Biegung der Chaussee nach Nivelles steht, aufmerksam gemacht, hatte er, wahrscheinlich weil er hier ein Hinderniß vermuthete, seinen Führer Lacoste allerdings hierüber befragt. Derselbe hatte aber seine Frage verneint. Man könnte beinahe behaupten, daß mit jenem verneinenden Kopfschütteln eines Bauern die Katastrophe Napoleons begonnen habe.

Andere verhängnißvolle Ereignisse kamen dazu.

Und es war auch gar nicht möglich, daß Napoleon diese Schlacht gewinnen konnte. Warum nicht? Weil Wellington oder Blücher ihm gegenüber stand? Nein; – weil es Gott nicht wollte.

Es stand in dem Gesetz des neunzehnten Jahrhunderts nicht geschrieben, daß Napoleon der Sieger von Waterloo sein sollte. Eine andere Reihe von Thatsachen bereitete sich vor, in welcher Napoleon keinen Platz mehr hatte. Es war Zeit, daß dieser riesenhafte Mann fiel. Das ungeheure Gewicht desselben in der Schale des menschlichen Geschicks störte das Gleichgewicht. Wenn sich auf die Dauer alles Blut und alle Lebenskraft der menschlichen Civilisation in diesem Kopfe eines einzigen Individuums gesammelt hätte, so mußte dies tödtlich werden. Wahrscheinlich fingen die Prinzipien und Elemente, von denen die Regelmäßigkeit der Bewegungen sowohl in der moralischen, wie materiellen Weltordnung abhängen, zu leiden an. Das rauchende Blut so vieler getödteter Menschen, die überfüllten Kirchhöfe, die weinenden Mütter – das sind fürchterliche Ankläger. Wenn die Erde unter einer Ueberlast duldet, so hört der Abgrund geheimnißvolles Gestöhn des Schattens.

Napoleon war angeklagt, sein Untergang war beschlossen.

Er war Gott unbequem.

Waterloo ist keine Schlacht, es ist die Veränderung des Aussehens des Universums.

IV. A.

Diejenigen, welche sich die Schlacht von Waterloo genau vorstellen wollen, brauchen nur in Gedanken ein großes A auf den Boden zu machen. Der linke Schenkel dieses A ist die Straße von Nivelles, der rechte jener von Genappe und der Querstrich der Hohlweg von Ohain nach Braine-l’Alleud. Die obere Spitze des A ist Mont-Saint-Jean, wo sich Wellington befindet; die untere linke Spitze ist Hougomont mit Reille und Hieronymus Bonaparte; die untere rechte dagegen Belle-Alliance mit Napoleon. Etwas unterhalb des Punktes, wo der kleine Strich des A den rechten Schenkel trifft und schneidet, ist Haie-Saint. In der Mitte dieses Querstrichs liegt die Stelle, wo das letzte Wort der Entscheidung der Schlacht gesprochen wurde. Dorthin hat man auch den Löwen gestellt, das unfreiwillige Symbol des höchsten Heroismus der kaiserlichen Garde. Das Dreieck in der Spitze des A zwischen den beiden Schenkeln und dem Querstrich ist das Plateau von Mont-Saint-Jean. Der Kampf um dieses Plateau war die ganze Schlacht.

Die Flügel der beiden Armeen dehnten sich rechts und links von den beiden Straßen von Genappe und von Nivelles aus, d’Erlon gegenüber Picton, Reille gegenüber Hill.

Hinter der oberen Spitze des A, hinter der Hochebene von Mont-Saint-Jean, liegt der Wald von Soignes.

Man stelle sich die Ebene als ein großes Terrain vor, in welchem immer die, eine Erhöhung die nächstfolgende beherrscht. Alle Hügel steigen nach Mont-Saint-Jean zu auf und enden im Walde.

Zwei feindliche Truppen auf einem Schlachtfelde sind zwei Kämpfer, wovon der Eine den andern niederzuwerfen sucht. Man klammert sich an Allem an! Ein Gebüsch ist ein Stützpunkt, eine Mauerecke eine Schulterwehr. Ein Regiment weicht, weil es keinen Stützpunkt hat: eine Senkung oder Erhebung des Terrains, ein Querweg, ein Baum, eine Schlucht können den Fuß dieses Riesen, welchen man Armee nennt, aufhalten und ihn hindern sich zurückzuziehen. Wer das Feld verläßt ist geschlagen. Deshalb liegt dem verantwortlichen Chef die Notwendigkeit ob, die geringste Baumgruppe zu prüfen, die unscheinlichsten Terrainverhältnisse genau zu untersuchen.

Die beiden Generäle hatten die Ebene von Mont-Saint-Jean, welche heut zu Tage die Ebene von Waterloo heißt, aufmerksam studirt. Schon im Jahre vorher hatte sie Wellington als ein mögliches Schlachtfeld mit voraussehendem Scharfblick einer Untersuchung unterzogen. Auf diesem Terrain und zu diesem Duell vom achtzehnten Juni hatte Wellington die gute, Napoleon die schlechte Seite. Die englische Armee stand oben, die französische unten.

Es wäre wohl überflüßig, wollten wir hier von dem Aussehen Napoleons eine Skizze entwerfen: wie er auf seinem Pferde, mit dem Glase in der Hand, beim Anbruch des achtzehnten Juni auf der Höhe von Rossomme sich befand. Jedermann hat ihn schon gesehen. Dieses ruhige Profil unter dem kleinen Hute der Schule von Brienne, die grüne Uniform, die weißen, den Stern verdeckenden Aufschlage; der Oberrock, welcher die Epauletten verbirgt, das Stück des rothen Ordensbandes unter der Weste, die ledernen Beinkleider, das weiße Pferd mit seiner purpurnen Sammetdecke, in deren Ecken N’s mit Krone und Adler eingestickt sind, die Reitstiefeln über seidenen Strümpfen, die silbernen Sporen, der Degen von Marengo – diese ganze Gestalt des letzten Cäsars lebt in der Vorstellung eines Jeden, von Einigen bewundert, von Anderen mit strengen Blicken betrachtet.

Diese Gestalt stand lange ganz im Lichte. Das hing mit einer gewissen legendenhaften Verdunkelung zusammen, welche den größten Theil der Heroen ergreift und längere Zeit mehr oder weniger die Wahrheit verschleiert. Heute aber spricht die Geschichte, heut ist es Tag geworden.

Diese Klarheit, die Geschichte, ist unerbittlich. Sie hat das Eigenthümliche und zugleich Göttliche, daß sie, obwohl oder vielmehr weil sie Licht ist, daß sie da, wo man sonst Strahlen sah, Schatten wirft. Aus demselben, Menschen macht sie zwei verschiedene Gestalten, wovon die eine die andere angreift: die Finsterniß des Despoten kämpft mit dem Glanze des Feldherrn. Daraus folgt ein wahrer Maaßstab für die endgültige Schätzung der Völker. Das verletzte Babylon verkleinert Alexander, das gefesselte Rom verkleinert Cäsar, das getödtete Jerusalem verkleinert Titus. Die Tyrannei folgt dem Tyrannen. Es ist ein Unglück für den Mann, welcher die Nacht seiner Gestalt hinter sich läßt.

V. Das quid obscurum 1 der Schlachten.

Jeder kennt die erste Phase dieser Schlacht: ein wirrer, ungewisser, stockender, drohender Anfang für beide Armeen, und zwar mehr noch für die Engländer, als die Franzosen.

Es hatte die ganze Nacht geregnet, der Boden war durch den Guß aufgeweicht, da und dort hatte sich, wie in Trichtern, in den Vertiefungen der Ebene Wasser gesammelt, auf einzelnen Stellen sanken die Trainwagen bis an die Achse, die Bauchriemen der Pferde trieften von flüssigem Koth. Wenn nicht der durch die Menge der Wagen niedergetretene und niedergefahrene Weizen und Roggen die Gleise ausgefüllt und unter den Rädern nicht Streu gemacht hätte, so würde jede Bewegung, besonders in den Thälern nach Papelotte zu, unmöglich gewesen sein.

Die Schlacht begann erst spät. Napoleon hatte, wie wir auseinandergesetzt haben, die Gewohnheit, die ganze Artillerie wie eine Pistole in seiner Hand zu halten, womit er bald nach diesem, bald nach jenem Punkte der Schlacht zielte. Er wollte warten, bis die bespannten Kanonen frei und im Galopp sich bewegen konnten. Deshalb mußte die Sonne erst ihre trocknende Wirkung ausüben. Die Sonne aber wollte nicht erscheinen. Es war kein Austerlitz. Als der erste Kanonenschuß fiel, sah der englische General Colville auf seine Uhr und constatirte dadurch, daß die Schlacht um 11 Uhr 35 Minuten ihren Anfang genommen.

Dieselbe begann mit Wuth, vielleicht mit mehr Wuth, als der Kaiser wünschte, und zwar auf dem linken französischen Flügel gegen Hougomont.

Zu gleicher Zeit griff Napoleon das Centrum an, indem er die Brigade Quiot auf La Haie-Saint stürzte, während Ney den rechten französischen Flügel gegen den linken englischen drängte, welcher sich auf Papelotte stützte. Der Angriff auf Hougomont war ein verstellter; der Plan hierbei war, Wellington nach links zu ziehen. Der Plan wäre auch gelungen, wenn die vier Compagnien der englischen Garde und die braven Belgier der Division Perponcher die Position nicht so tapfer vertheidigt hätten, so daß Wellington, statt sich daselbst in Massen zu sammeln, nur nöthig hatte, zur Unterstützung vier andere Compagnien der Garde und das Bataillon Braunschweig hinzusenden.

Der Angriff des rechten französischen Flügels auf Papelotte hatte folgenden Zweck: den linken englischen Flügel über den Haufen zu werfen, die Passage nach Brüssel abzuschneiden und den Preußen dieselbe zu versperren, Mont-Saint Jean einzunehmen, Wellington auf Hougomont, von da auf Braine-l’Alleud, dann auf Hal zurückzudrängen – nichts feiner als das. Einige Zwischenfälle abgesehen, gelang dieser Angriff auch. Pavelotte wurde genommen, ebenso La Haie-Saint.

Hier ist eine Einzelheit zu notiren. In der englischen Infanterie, namentlich in der Brigade Kemp, gab es sehr viele Rekruten. Diese jungen Soldaten hielten sich vor den gefürchteten französischen Infanteristen aufs tapferste. Ihre Unerfahrenheit zog sich unerschrocken aus der Affaire, vorzüglich leisteten sie als Tirailleure ausgezeichnete Dienste. Der Soldat wird als Tirailleur so zu sagen sein eigener General. Jene Rekruten zeigten etwas von der Erfindungsgabe und der Wuth der Franzosen, sie enwickelten Feuer. Das mißfiel Wellington.

Nach der Einnahme von La Haie-Sainte schwankte die Schlacht.

Dieser Tag hatte in der Zeit von Mittag bis 4 Uhr einen dunklen Zwischenraum: die Mitte dieser Schlacht ist undeutlich und hat einen Theil der Dunkelheit eines Handgemenges.

Die Dämmerung tritt ein. In dem trüben Scheine derselben nimmt man ein gewaltiges Wogen und Schwanken, eine Schwindel erregende Luftspiegelung, die damalige, jetzt beinahe unbekannte Kriegsrüstung wahr: die Colpacks, die fliegenden Säbeltaschen, das über der Brust gekreuzte Lederzeug, die Patrontasche mit den Granaten, die Dolmans der Husaren, die rothen Stiefeln mit tausend Falten, die schweren, mit Gold- und Silberraupen besetzten Tschakos, die fast schwarze braunschweigische Infanterie mitten unter den rothen Engländern, die um die Achseln, statt der Epauletten, dicke, runde, weiße Wülste hatten, die hanoverschen Chevaulegers mit den länglichen, kupferbeschlagenen Lederhelmen und den rothen Pferdehaarbüscheln, die Schotten mit bloßem Knie und carrirten Plaids, die großen weißen Gamaschen der französischen Grenadiere, – ein Gemälde, nicht strategische Linien, etwas für Salvator Rosa, nichts für Gribeauval.

Eine Portion Sturm mischt sich immer in ein Schlachtengetümmel. Quid obscurum, quid divinum. (Etwas Dunkles, etwas Göttliches.) Wie. auch die Kombination der Generale sein mag, der Zusammenstoß bewaffneter Massen hat unberechenbare Flutungen, denn bei der Ausführung greifen die Pläne der beiden Feldherren in einander ein und verschieben sich. Die Schlachtlinie schwankt, schwimmt und kriecht wie ein Faden, das am Boden dahinfließende Blut rieselt wie Bäche dahin und dorthin, die Armeefronten schwanken hin und her, die kommenden und gehenden Regimenter bilden Vorgebirge und Meerbusen, Alles schäumt auf und nieder, vor und neben einander. Wo Infanterie war, kommt Artillerie; wo diese stand, stürzt Cavallerie an die Stelle. Die Bataillone sind Rauchwolken. Hier stand Etwas. Es ist nicht mehr da, es ist verschwunden! Die lichten Stellen verschieben sich, die dunkeln Falten schreiten vor und weichen zurück. Eine Art Grabeswind treibt, stößt, blast und zerstreut diese tragischen Mengen. Was ist ein Handgemenge? Ein Hin und Her. Die Unbeweglichkeit eines mathematischen Schlachtplanes drückt eine Minute und nicht einen Tag der Schlacht aus. Um eine Schlacht zu malen, bedarf es gewaltiger Maler, welche das Chaos im Pinsel haben. Rembrandt ist besser als Vandermeulen. Vandermeulen ist zu Mittag genau, um drei Uhr lügt er. Die Geometrie täuscht, der Orkan allein ist wahr. Das giebt Folard das Recht, Polybius zu widersprechen. Dazu kommt, daß es immer einen gewissen Augenblick giebt, in welchem die Schlacht in einen Kampf ausartet, sich vereinzelt und sich in unzählige Details zersplittert, welche, um sich der eigenen Ausdrucksweise Napoleons zu bedienen, »mehr der Biographie der Regimenter, als der Geschichte der Armee angehören.« Der Geschichtsschreiber hat in diesem Falle offenbar das Recht zu resumiren, zusammen zu fassen. Er kann nur die allgemeinen Umrisse des Kampfes ergreifen und es ist, so gewissenhaft wie er auch sein mag, nicht jedem Erzähler gegeben, die Gestalt jener schrecklichen Wolke, welche man Schlacht nennt, ganz genau festzuhalten.

Was von allen großen bewaffneten Zusammenstößen gilt, ist insbesondere auf Waterloo anwendbar.

Am Nachmittage jedoch, in einem gewissen Augenblicke, gewann die Schlacht eine deutliche, präcise Gestalt.

  1. (gewisse Dunkel)

III. Unglück zu Unglück wird Glück.

Beim Anbruch des folgenden Tages saß Johann Valjean noch an dem Bette Cosetten’s. Hier wartete er unbeweglich und sah sie erwachen.

Etwas Neues zog in seine Seele ein.

Johann Valjean hatte niemals etwas geliebt. Seit fünfundzwanzig Jahren war er allein in der Welt. Er war nie Vater, Geliebter, Gatte, Freund gewesen. Im Bagno war er schlecht, finster, keusch, unwissend und wild. Das Herz des alten Sträflings war noch vollständig jungfräulich. Von seiner Schwester und den Kindern derselben waren ihm nur schwache und ferne Erinnerungen geblieben, welche endlich sich fast verlöschten. Er hatte Alles aufgeboten, um sie ausfindig zu machen und da es ihm nicht gelungen, sie vergessen. So ist die menschliche Natur. Die andern zarten Regungen seiner Jugend, wenn er dergleichen gehabt, waren in einen Abgrund gefallen.

Als er Cosette sah, als er sie genommen, entführt und befreit hatte, war sein ganzes Innere in Bewegung. Alles was Leidenschaftliches und Zärtliches in ihm war, erwachte und stürzte sich auf dieses Kind. Er trat an das Bett, wo es schlief und zitterte vor Freude; wie eine Mutter fühlte er und wußte nicht was es war. Denn es ist etwas Geheimnißvolles und Süßes jene große und wunderbare Regung eines Herzens, das zu lieben beginnt.

Armes, altes und zugleich neues Herz!

Da er indessen fünfundfünfzig Jahre und Cosette nur acht Jahre alt war, so zerfloß alles, was er an Liebe in seinem ganzen Leben hätte haben können, in einen unbeschreiblichen Glanz.

Es war dies die zweite weiße Erscheinung, der er begegnete. Der Bischof ließ an seinem Horizonte die Morgenröthe der Tugend, Cosette die der Liebe sich erheben.

Die ersten Tage vergingen in diesem geblendeten Zustande.

Auch Cosette ihrerseits wurde unbewußt eine andere, das arme kleine Wesen! Sie war so klein gewesen, als ihre Mutter sie verlassen, daß sie sich derselben nicht mehr erinnerte. Wie alle Kinder, die gleich jungen Rebenschößlingen an Alles sich anklammern, hatte sie zu lieben versucht. Es war ihr nicht gelungen. Alle hatten sie zurückgestoßen, die Thenardiers, die Kinder derselben, andere Kinder. Sie hatte den Hund geliebt, der starb; dann hatte Nichts und Niemand etwas von ihr wissen wollen. Es ist traurig zu sagen und wir haben es schon angedeutet, sie hatte in ihrem achten Jahre noch ein kaltes Herz. Ihre Schuld war es nicht; es fehlte ihr nicht die Fähigkeit zu lieben, ach! nur die Möglichkeit. Deshalb drängte auch vom ersten Tage an Alles was in ihr dachte und fühlte dahin, diesen guten Mann zu lieben. Sie fühlte, was sie noch nie empfunden hatte, ein Gefühl der Entfaltung.

Der gute Mann machte auf sie nicht den Eindruck, daß er alt oder arm sei. Sie fand Johann Valjean schön, ebenso wie sie das Loch, in dem sie wohnten, schön fand.

Das sind Wirkungen der Morgenröthe, der Kindheit, der Jugend, der Freude. Hier gilt die Neuheit der Erde und des Lebens noch etwas. Nichts ist so reizend, wie der farbige Wiederstrahl des Glückes in einer Dachwohnung. Wir Alle haben in unserer Vergangenheit eine solche Dachkammer.

Die Natur, fünfzig Jahre Zwischenraum, hatten eine tiefe Trennung zwischen Johann Valjean und Cosette gelegt. Diese Trennung füllte das Schicksal aus. Das Schicksal vereinigte und traute plötzlich, mit seiner unwiderstehlichen Macht, diese beiden entwurzelten, dem Alter nach so verschiedenen, durch die Trauer mit einander ähnlichen Existenzen. Die eine vervollständigte in der That die andere. Der Instinkt Cosetten’s suchte einen Vater, wie der Instinkt Johann Valjeans ein Kind suchte. Sich begegnen hieß sich finden. In dem geheimnißvollen Augenblick, in welchem ihre beiden Hände sich berührten, erkannten sie sich. Als diese beiden Seelen einander bemerkten, erkannten sie einander als nöthig und umschlangen sich innig.

Wenn man die Worte in dem umfassendsten und absolutesten Sinne nimmt, so könnte man sagen, daß Johann Valjean, von Allem durch Grabesmauern getrennt, Wittwer war, wie Cosette eine Waise. Aus diesem Umstande wurde Johann Valjean in himmlischer Weise der Vater Cosetten’s.

Und in Wahrheit, der geheimnißvolle Eindruck, den es mitten im Walde von Chelles auf Cosette gemacht, als Johann Valjean in der Dunkelheit ihre Hand erfaßte, war keine Täuschung, sondern eine Wahrheit. Der Eintritt dieses Mannes in das Schicksal dieses Kindes war die Ankunft Gottes gewesen.

Uebrigens hatte Johann Valjean sein Asyl gut gewählt. Er befand sich da in einer, vielleicht gänzlichen Sicherheit.

Das Zimmer mit dem Cabinet, das er mit Cosetten inne hatte, war das, dessen Fenster auf den Boulevard ging. Dieses Fenster war das einzige in dem Hause, kein Nachbarblick, weder von vorn noch von der Seite, war zu fürchten.

Das Erdgeschoß des Hauses Nr. 50 und 52, eine Art verfallener Schuppen, diente Kräuterleuten als Niederlage und stand mit dem oberen Stock nicht in Verbindung. Es war von demselben durch die Decke getrennt, welche weder Fallthüre noch Treppe hatte. Die erste Etage enthielt mehrere Zimmer und einige Bodenkammern, von denen nur noch eine einzige und zwar von einer alten Frau bewohnt war, welche Johann Valjean die Aufwartung machte. Alles Uebrige war unbewohnt.

Diese alte Frau, welche die ehrenvolle Bezeichnung »Hauptmietherin« hatte und in Wahrheit mit den Functionen einer Portiere des Hauses betraut war, hatte ihm die Wohnung am Weihnachtstage vermiethet. Er hatte sich ihr gegenüber für einen durch spanische Papiere ruinirten Rentier ausgegeben, der hier mit seiner kleinen Tochter wohnen wolle. Er hatte auf sechs Monat voraus bezahlt und der Alten aufgetragen, Zimmer und Kabinet so wie wir gesehen haben zu möbliren. Diese Alte war es auch gewesen, welche am Abend ihrer Ankunft den Ofen geheizt und Alles vorbereitet hatte. Wochen vergingen. Diese beiden Wesen lebten in dem armseligen Gemache ein glückliches Leben.

Vom frühesten Morgen an lachte, plauderte und sang Cosette. Die Kinder haben ihren Morgengesang wie die Vögel.

Manchmal kam es vor, daß Johann Valjean ihre kleine rothe und aufgesprungene Hand ergriff und küßte. Das arme Kind, das daran gewöhnt war, geschlagen zu werden, wußte nicht, was dies bedeuten sollte und ging ganz verschämt bei Seite. Bisweilen wurde sie ernsthaft und betrachtete ihr schwarzes Kleidchen. Cosette trug keine Lumpen mehr, sie ging in Trauer. Sie trat aus der Noth heraus und in das Leben ein.

Johann Valjean unternahm es sie lesen zu lehren. Manchmal, indem er das Kind buchstabiren ließ, dachte er daran, daß er im Bagno mit der Absicht lesen gelernt habe, um Böses zu thun. Diese Absicht hatte sich jetzt dahin gewandt, daß er nun ein Kind im Lesen unterrichten konnte. Da lächelte der alte Züchtling mit dem gedankenvollen Lächeln der Engel. Er fühlte, daß sich darin eine Vorbestimmung von oben, der Wille eines Wesens zeige, das nicht Mensch sei und er versank in Träumereien. Die guten Gedanken haben ihre Abgründe wie die schlechten.

Cosette lesen zu lehren und sie spielen zu sehen war fast das ganze Leben Johann Valjeans. Und dann erzählte er ihr von ihrer Mutter und ließ sie beten.

Sie nannte ihn Vater. Einen andern Namen kannte sie für ihn nicht. Stunden lang sah er ihr zu wie sie ihre Puppe aus- und ankleidete und hörte sie plaudern. Das Leben erschien ihm von nun an voller Interesse. Er hielt die Menschen für gut und gerecht, er machte in seinen Gedanken Niemandem mehr einen Vorwurf, und er sah keinen Grund, warum er nicht sehr alt werden sollte, da dies Kind ihn liebte. Er sah seine Zukunft durch Cosette wie durch ein liebliches Licht erhellt.

Die Besten sind nicht frei von einem selbstsüchtigen Gedanken. Es gab Augenblicke wo er mit Freude daran dachte, daß sie häßlich werden werde.

Es ist dies nur eine persönliche Meinung, aber um das, was wir über diesen Punkt denken, ganz auszusprechen, müssen wir gestehen, daß es uns nicht bewiesen ist, ob Valjean damals, als er Cosetten zu lieben anfing, dieser Neubelebung nicht bedurfte, um im Guten auszuharren. Er hatte unter neuen Anblicken die Schlechtigkeit der Menschen und das Elend der Gesellschaft gesehen, unvollständige Anblicke, welche verhängnißvoll nur eine Seite des Wahren zeigten: das Schicksal des Weibes, dargestellt in der Person Fantine’s, die Behörde in der Person Javerts. Er war in den Bagno zurückgekehrt, diesmal weil er Gutes gethan; neue Bitterkeiten hatte er gekostet; der Ekel und der Ueberdruß erfaßten ihn, die Erinnerung an den Bischof sogar begann vielleicht auf Augenblicke sich zu verdunkeln, wenn auch nur um später leuchtend und triumphirend wieder zu erscheinen, endlich aber schwächte sich doch diese heilige Erinnerung ab. Wer weiß ob Johann Valjean nicht am Vorabend der Entmuthigung und des Rückfalls stand? Er liebte und wurde wieder stark. Ach, er war nicht weniger schwankend und hatte nicht weniger eine Stütze nöthig als Cosette. Er beschützte sie und sie kräftigte ihn. Ihm dankte sie es, daß sie ins Leben eintreten, ihr dankte er es, daß er in der Tugend fortwandeln konnte. Er war die Stütze dieses Kindes, das Kind sein Stützpunkt. O unergründliches göttliches Geheimniß in den sich ausgleichenden Kräften des Schicksals.

IV. Die Bemerkungen der »Hauptmietherin«

Johann Valjean besaß die Klugheit, niemals am Tage auszugehen. Alle Abende, in der Dämmerung, promenirte er eine Stunde oder zwei, manchmal allein, oft mit Cosette, wobei er sich die einsamsten Alleen des Boulevards aufsuchte und erst wenn es Nacht geworden, in die Kirchen hineinging. Gern ging er nach St. Medard, der nächsten Kirche. Wenn er Cosette nicht mit sich hatte, so blieb sie bei der alten Frau; für die Kleine war es aber die größte Freude mit ausgehen zu dürfen. Eine Stunde mit ihm zog sie sogar den reizenden tête-à-têtes mit ihrer Katharine vor. Wenn sie gingen, hielt er sie an der Hand und sagte ihr allerlei Liebes.

Cosette war sehr heiter.

Die Alte wartete auf, besorgte die Küche und kaufte ein.

Sie lebten mäßig, hatten zwar immer etwas Feuer, aber wie Leute, denen es knapp geht. Johann Valjean hatte an dem Mobiliar vom ersten Tage nichts geändert. Er ließ nur die Glasthür des Cabinets Cosettens durch eine volle Thüre ersetzen.

Er trug immer seinen gelben Rock, seine kurzen, schwarzen Hosen und seinen alten Hut. Auf der Straße hielt man ihn für einen Armen. Bisweilen drehten sich gutherzige Frauen um und gaben ihm einen Sous. Johann Valjean nahm ihn an und verbeugte sich tief. Manchmal traf er auch auf einen Armen, der seine Mildthätigkeit ansprach, dann sah er hinter sich, ob ihn Jemand sehe, näherte sich verstohlen dem Unglücklichen und gab ihm ein Geldstück, oft eines von Silber, und entfernte sich rasch. Das hatte seine Unannehmlichkeiten. Man fing an ihn in der Gegend unter der Bezeichnung »der Bettler der Almosen giebt« zu kennen.

Die alte »Hauptmietherin«, ein widerwärtiges Geschöpf, das, dem Nächsten gegenüber, aus der Aufmerksamkeit der Neidischen steinern zusammengesetzt war, beobachtete Johann Valjean sehr, ohne daß er etwas davon ahnte. Sie war etwas taub, was sie geschwätzig machte. Aus ihrer Jugendvergangenheit waren ihr zwei Zähne geblieben, einer oben, der andere unten, welche sie immer gegen einander schlug. Sie hatte Cosetten ausgefragt, die ihr nichts sagen konnte, weil sie nichts wußte, außer daß sie aus Montfermeil gekommen. Eines Morgens bemerkte die Lauscherin, daß Johann Valjean mit einer Miene, welche der Gevatterin eigentümlich vorkam, in einen der unbewohnten Theile des alten Hauses ging. Sie schlich ihm wie eine alte Katze nach und konnte, ohne gesehen zu werden, durch eine Thürritze sehen. Johann Valjean wendete, aus Vorsicht ohne Zweifel, der Thür den Rücken zu. Die Alte sah, daß er in seiner Tasche suchte und ein Etui aus dieser herausnahm mit einer Scheere, Nadel und Zwirn. Darauf trennte er sich das Futter eines seiner Rockschöße auf und nahm aus der Oeffnung ein Stück gelbliches Papier, das er auseinanderschlug. Die Alte erkannte mit Staunen, daß es eine Tausendfrancsnote sei. Sie war die zweite oder dritte, die sie im Leben gesehen. Erschrocken lief sie davon.

Einen Augenblick darauf ging Johann Valjean zu ihr und bat sie, ihm dieses Tausendfrancsbillet wechseln zu lassen. Es sei der halbjährige Betrag seiner Rente, die er am Tage vorher bekommen, wie er hinzufügte.

»Wo?« dachte die Alte. »Er ist erst um sechs Uhr Abends ausgegangen und zu dieser Zeit ist die Regierungskasse gewiß nicht mehr auf.« Die Alte wechselte das Papier und erging sich in allerlei Vermuthungen. Diese Tausendfrancsnote führte zu einer Menge hitziger Gespräche unter den Klatschweibern der Straße Vignes St. Marcel, wo dieselbe vielfach commentirt wurde.

An den folgenden Tagen ereignete es sich, daß Johann Valjean, in Hemdsärmeln, auf dem Corridor Holz sägte. Die Alte war in der Stube und fegte aus. Sie war allein, Cosette war damit beschäftigt, das Holz, das gesägt wurde, zu bewundern. Da sah sie den Rock an einem Nagel hängen und untersuchte ihn. Das Futter war wieder angenäht. Sie begriff es aufmerksam und glaubte in allen Futtertheilen dichtes Papier zu fühlen. Gewiß lauter Tausendfrancsbillets.

Sie bemerkte außerdem noch, daß er allerlei Dinge in den Taschen hatte, nicht nur Nadeln, Scheere und Zwirn, was sie gesehen, sondern auch ein dickes Portefeuille, ein sehr großes Messer und – höchst verdächtig! – mehrere Perrücken von verschiedener Farbe. Jede Tasche dieses Rockes schien Etwas für unvorhergesehene Fälle zu enthalten.

So gelangten die Bewohner des alten Hauses in die letzten Tage des Winters.

V. Ein Fünffrancsstück fällt auf die Erde und macht Geräusch.

Bei St. Medardus kauerte ein Armer, dem Johann Valjean gern Almosen gab. Er ging selten an ihm vorüber, ohne ihm einen Sous zu reichen. Manchmal sprach er auch mit ihm. Die Neider dieses Bettlers sagten, er sei »von der Polizei«. Es war ein alter, fünfundsiebenzigjähriger Mann, der immer Gebete murmelte.

Eines Abends, als Johann Valjean hier vorüberging, Cosetten hatte er nicht bei sich, sah er den Bettler auf seinem gewöhnlichen Platze unter der Laterne, die eben angezündet worden war. Wie gewöhnlich schien der Mann zu beten und war tief gebückt. Johann Valjean trat zu ihm und gab ihm sein gewöhnliches Almosen. Der Bettler schlug, plötzlich die Augen auf, sah Johann Valjean scharf an und ließ dann schnell den Kopf wieder sinken. Diese Bewegung war wie ein Blitz, Johann Valjean empfand ein Zucken. Es kam ihm vor, als habe er beim Scheine der Laterne nicht das bleiche, todte Gesicht des alten Bettlers, sondern ein wohlbekanntes schreckliches gesehen. Er hatte den Eindruck, den man empfinden würde, wenn man sich plötzlich im Dunkel einem Tiger gegenüber sehen möchte. Erschrocken und wie versteinert wich er zurück; er wagte kaum zu athmen, weder zu reden, noch zu bleiben, noch zu fliehen, betrachtete den Bettler, der seinen mit einem Lumpen bedeckten Kopf wieder hatte sinken lassen und gar nicht zu wissen schien, daß er noch da sei. In diesem sonderbaren Augenblick bewirkte ein instinktmäßiges Gefühl, vielleicht der geheimnißvolle Instinkt der Selbsterhaltung, daß Johann Valjean kein Wort sprach. Der Bettler hatte dieselbe Größe, denselben zerlumpten Anzug, dasselbe Aussehen wie alle Tage. – »Bah!« sagte Johann Valjean, »ich bin ein Narr, ich träume! Es ist unmöglich.« Als er nach Hause kam, war er jedoch sehr beunruhigt.

Er wagte kaum sich zu gestehen, daß das Gesicht, welches er gesehen zu haben glaubte, das Javerts sei.

In der Nacht, als er weiter nachgedacht, bedauerte er an den Mann keine Frage gerichtet zu haben, um ihn so zu veranlassen, den Kopf noch einmal in die Höhe zu richten.

Am andern Tage mit Beginn des Abenddunkels ging er wieder hin. Der Bettler befand sich auf seinem Platze. »Guten Abend, guter Mann,« sagte Johann Valjean entschlossen, und gab ihm einen Sous. Der Bettler sah empor und antwortete mit schmerzlicher Stimme: »Ich danke, mein guter Herr.« Es war der alte Bettler.

Johann Valjean fühlte sich vollständig beruhigt und lachte über sich. »Wie zum Teufel konnte ich nur Javert sehen?« dachte er. »Bin ich denn blind gewesen?« Er dachte nicht weiter daran.

Einige Tage nachher, es konnte Abends acht Uhr sein, befand er sich in seiner Stube und ließ Cosette laut buchstabiren. Da hörte er die Thür des alten Hauses auf- und wieder zumachen. Das kam ihm sonderbar vor. Die Alte, welche allein mit ihm das Haus bewohnte, ging immer zeitig zu Bette, um kein Licht zu brauchen. Johann Valjean winkte Cosette zu schweigen. Er hörte die Treppe heraufkommen. Streng genommen konnte es die Alte sein, die vielleicht krank geworden und in die Apotheke gegangen war. Johann Valjean horchte. Der Tritt war schwer und klang wie der Tritt eines Mannes. Die Alte trug freilich schwere Schuhe und nichts gleicht dem Tritte eines Mannes so sehr wie der einer alten Frau. Johann Valjean blies indeß das Licht aus.

Er hatte Cosetten ins Bett geschickt, indem er ganz leise zu ihr sagte: »Lege Dich ganz still nieder!« Während er sie auf die Stirne küßte, waren die Schritte stehen geblieben. Johann Valjean blieb still und unbeweglich, den Rücken der Thür zugekehrt, auf dem Stuhle sitzend, von dem er sich nicht wegrührte und dabei den Athem im Dunkel anhielt. Nach ziemlich langer Zeit, als er nichts mehr hörte, drehte er sich ohne ein Geräusch zu machen um, und als er nach der Thür des Zimmers hin blickte, sah er durch das Schlüsselloch ein Licht. Dieses Licht sah aus wie ein unheimlicher Stern in der dunklen Thür. Es war offenbar Jemand mit einem Lichte in der Hand da und horchte.

Es vergingen einige Minuten und das Licht verschwand. Er hörte aber kein Geräusch mehr, was anzudeuten schien, daß derjenige, welcher an der Thür gehorcht, die Schuhe ausgezogen hatte.

Johann Valjean warf sich ganz angekleidet auf sein Bett und konnte die ganze Nacht kein Auge zuthun.

Mit Anbruch des Tages als er vor Müdigkeit einschlummerte, wurde er durch das Knarren einer Thür erweckt, welche am Ende des Corridors an einer Dachkammer sich öffnete, dann hörte er denselben männlichen Tritt, welcher am Abend vorher die Treppe heraufgekommen war. Der Tritt näherte sich. Er sprang aus dem Bette auf, legte das Auge an das Schlüsselloch, das ziemlich groß war, in der Hoffnung im Vorbeigehen den zu sehen, der des Nachts in das alte Haus gekommen war und an seiner Thür gehorcht hatte. Es ging in der That ein Mann, diesmal aber ohne stehen zu bleiben, an der Thür des Zimmers Johann Valjeans vorüber. Der Corridor war noch zu dunkel, als daß man sein Gesicht hätte erkennen können. Als aber der Mann an die Treppe kam, ließ ihn ein von Außen kommender Lichtstrahl wie eine Silhouette hervortreten, so daß ihn Johann Valjean von hinten vollständig sehen konnte. Der Mann war hoch gewachsen, trug einen langen Rock und einen Stock unter dem Arm. Es waren die fürchterlichen Umrisse Javerts.

Johann Valjean hätte es versuchen können, ihm von dem Fenster aus nachzusehen. Er hätte aber das Fenster öffnen müssen, das wagte er nicht.

Der Mann war offenbar vermittelst eines Hausschlüssels hineingekommen, als wenn er da wohnte. Wer hatte ihm diesen Schlüssel gegeben? Was sollte dies heißen?

Um sieben Uhr früh, als die Alte zur Aufwartung kam, warf ihr Johann Valjean einen durchdringenden Blick zu, er fragte sie aber nicht. Die gute Frau war wie gewöhnlich.

Beim Auskehren sagte sie zu ihm:

»Haben Sie vielleicht in der Nacht Jemanden kommen hören?«

Acht Uhr Abends heißt nämlich auf diesem Boulevard zur damaligen Zeit Nachts.

»Ach ja, es ist wahr,« antwortete er mit dem unbefangensten Ausdruck. »Wer war es denn?«

»Ein neuer Miether, den wir im Hause haben.«

»Wie heißt er?«

»Ich weiß es nicht so recht, Dumont oder Daumont, so ungefähr ist der Name.«

»Und was ist der Herr Dumont?«

Die Alte sah ihn mit ihren kleinen Marderaugen an und antwortete:

»Ein Rentier, wie Sie.«

Sie hatte vielleicht keine Absicht gehabt, Johann Valjean glaubte aber eine zu erkennen.

Als die Alte fort war, packte er etwa hundert Francs, die er in einem Kasten hatte, in eine Rolle und steckte sie in die Tasche. Wie vorsichtig er auch dabei zu Werke ging, daß man ihn mit dem Gelde nicht wirthschaften höre, ein Hundertsousstück fiel ihm aus der Hand und rollte geräuschvoll auf dem Boden hin.

In der Abenddämmerung ging er hinunter und sah sich auf dem Boulevard aufmerksam nach allen Seiten um. Er bemerkte Niemanden. Der Boulevard schien ganz verödet zu sein. Freilich kann man sich hier hinter den Bäumen verstecken.

Er ging wieder hinauf.

»Komm!« sagte er zu Cosette.

Er nahm sie bei der Hand und sie gingen Beide fort.

 

Ende des dritten Bandes.

X. Wer Besseres sucht, kann Schlechteres finden.

Die Thenardier hatte ihrer Gewohnheit gemäß, ihren Mann machen lassen. Sie erwartete große Ereignisse. Als der Mann und Cosette fort waren, ließ Thenardier eine gute Viertelstunde vergehen, dann nahm er sie bei Seite und zeigte ihr die fünfzehnhundert Francs.

»Weiter nichts?« fragte sie.

Es war das erste Mal, seit dem Anfange ihres Ehestandes, daß sie eine Handlung des Herrn zu kritisiren wagte. Der Schlag wirkte.

»In der That, Du hast Recht,« sagte er; »ich bin dumm gewesen. Gieb mir meinen Hut.«

Er faltete die drei Banknoten zusammen, steckte sie in seine Tasche und ging eilig fort. Anfangs irrte er sich und ging rechts. Einige Nachbarn, die er befragte, brachten ihn auf die Spur; man hatte den Mann und die Lerche in der Richtung nach Livry zu gehen sehen. Er folgte dieser Andeutung. Er lief schnell und hielt dabei folgendes Selbstgespräch:

»Der Mann ist offenbar ein gelb gekleideter Millionär und ich bin ein Vieh. Anfangs hatte er zwanzig Sous, dann fünf Francs, dann fünfzig, dann funfzehnhundert gegeben, und immer mit der größten Leichtigkeit. Er hätte fünfzehntausend gegeben. Aber ich hole ihn ein!«

Seltsam war auch das Packet mitgebrachter Kleidungsstücke für die Kleine. Dahinter mußte etwas Geheimnißvolles stecken. Geheimnisse läßt man nicht so leicht los, wenn man sie einmal hat. Die Geheimnisse der Reichen sind goldgefüllte Schwämme, die man zu drücken verstehen muß. Alle diese Gedanken wirbelten in seinem Kopfe. »Ich bin ein Vieh!« sagte er.

Ist man aus Montfermeil hinaus und hat man die Krümmung erreicht, welche die Straße nach Livry macht, so sieht man sie sehr weit vor sich hin auf der Höhe sich entfalten. Dort angekommen, meinte er, müßte er den Mann mit der Kleinen sehen. Er schaute so weit als sein Auge reichte und sah nichts. Er erkundigte sich weiter. Dabei verlor er Zeit. Vorübergehende sagten ihm, daß der Mann und das Kind, welche er suche, nach dem Walde, nach Gagny zu, gegangen seien. In dieser Richtung ging er eiligst hin.

Sie hatten einen Vorsprung vor ihm, aber ein Kind geht langsam und er ging rasch. Und dann war ihm auch die Gegend genau bekannt.

Plötzlich blieb er stehen und schlug sich an die Stirne, wie Jemand, der etwas Wesentliches vergessen hat und bereit ist wieder umzukehren.

»Ich hätte meine Flinte mitnehmen sollen!« dachte er.

Thenardier war eine der Doppelnaturen, die bisweilen mitten unter uns, ohne daß wir es wissen, erscheinen und verschwinden, ohne daß wir sie erkannten, weil das Geschick sie nur von einer Seite gezeigt hat. Viele Menschen haben das Schicksal, so halb versenkt zu leben. In einer ruhigen und gewöhnlichen Lage besaß Thenardier Alles was zum Geschäft gehört – wir sagen nicht zu einem Mitgliede der Gesellschaft – zu einem honetten Geschäftsmann. Gleichzeitig hatte er aber auch, wenn gewisse Umstände gegeben gewesen, wenn gewisse Stöße seine untere Seite emporgekehrt hätten, Alles, was zu einem Bösewicht gehört. Er war ein Budiker, in dem ein Ungeheuer steckte. Satan mußte manchmal sich in einen Winkel der Stube kauern, in der Thenardier hausete, und vor diesem Meisterstück des Häßlichen nachdenken.

Nachdem er einen Augenblick gezaudert, dachte er:

»Bah, sie hatten Zeit zu entkommen.«

Er setzte seinen Weg fort, ging sehr schnell, beinahe mit der Miene der Sicherheit, mit dem Scharfsinn eines Fuchses, der ein Volk Rebhühner wittert.

In der That, als er über die Teiche hinausgekommen, bemerkte er über einem Gebüsch einen Hut. Es war der Hut des Mannes. Das Gebüsch war niedrig. Thenardier sagte sich, daß der Mann mit Cosette da saß. Das Kind sah er wegen der Kleinheit desselben nicht, den Kopf der Puppe aber konnte er wahrnehmen.

Thenardier täuschte sich nicht. Der Mann saß da, um Cosetten ein wenig ausruhen zu lassen. Der Wirth ging um das Gebüsch herum und erschien plötzlich vor den Blicken derer, welche er suchte.

»Verzeihung, ich bitte um Entschuldigung, mein Herr,« sagte er ganz außer Athem, »aber hier sind Ihre fünfzehnhundert Francs zurück.«

Während er dies sagte, hielt er dem Fremden die drei Banknoten hin.

Der Mann sah auf und fragte:

»Was heißt das?«

Thenardier antwortete respectvoll:

»Das heißt, mein Herr, daß ich Cosetten wieder haben will.«

Cosette zitterte und schmiegte sich an den Mann.

Dieser sah Thenardier tief ins Auge und antwortete, indem er jede Silbe betonte und dehnte:

»Sie nehmen Cosette zurück?«

»Ja, mein Herr, ich nehme sie zurück. Ich will es Ihnen sagen. Ich habe mir die Sache überlegt. Ich habe eigentlich gar nicht das Recht, sie wegzugeben. Sehen Sie, ich bin ein ehrlicher Mann. Die Kleine ist nicht mein Kind; sie gehört ihrer Mutter. Ihre Mutter hat sie mir anvertraut, nur dieser kann ich sie zurückgeben. Sie sagen vielleicht: ihre Mutter ist todt. Gut. In diesem Falle könnte ich das Kind nur einer Person geben, die mir ein von der Mutter unterschriebenes Schreiben brächte, ich solle das Kind dieser Person überliefern. Das ist doch klar.«

Ohne ein Wort zu antworten, suchte der Mann in seiner Tasche. Thenardier sah das Portefeuille mit den Bankbillets wieder zum Vorscheine kommen.

Der Wirth empfand ein Zittern der Freude.

»Gut!« dachte er. »Festhalten! Er will mich bestechen!«

Ehe der Mann das Portefeuille öffnete, sah er sich um. Der Ort war ganz einsam. Nicht eine Seele ließ sich weder in dem Walde, noch in der Ebene sehen. Der Mann öffnete das Portefeuille und nahm, nicht die Handvoll Banknoten, was Thenardier erwartete, sondern ein kleines Papier heraus, das er auseinanderschlug und offen dem Wirthe mit den Worten hinhielt:

»Sie haben Recht. Lesen Sie.«

Thenardier nahm das Papier und las:

M. am M. den 25. März 1823.

Herr Thenardier!
Ich ersuche Sie, dem Ueberbringer Dieses Cosetten zu übergeben. Die Kleinigkeiten, welche etwa noch Rest sind, werden bezahlt werden.

Ich habe die Ehre, Sie mit aller Achtung zu grüßen.

Fantine.

»Sie kennen diese Unterschrift?« fragte der Mann. Es war allerdings die Unterschrift Fantine’s. Thenardier erkannte sie. Es ließ sich darauf nichts sagen. Er empfand einen doppelt großen Verdruß, den Verlust der gehofften Bestechung und den, geschlagen zu sein.

Der Mann setzte hinzu:

»Das Papier können Sie als Quittung behalten.«

Thenardier zog sich in guter Ordnung zurück.

»Die Unterschrift ist gut nachgemacht,« murmelte er zwischen den Zähnen.

»Es mag sein!«

Er machte noch eine verzweifelte Anstrengung.

»Es ist gut, mein Herr, da Sie der Ueberbringer sind. Aber es heißt, ›die Kleinigkeiten‹, welche etwa noch Rest sind, sollen bezahlt werden. Man ist mir aber viel schuldig.«

Der Mann richtete sich hoch auf und sagte, während er mit dem Finger Staub von seinem abgeschabten Rockärmel wegschnippte:

»Herr Thenardier, im Januar berechnete die Mutter, daß sie Ihnen hundert und zwanzig Francs schuldig sei; im Februar schickten Sie ihr eine Rechnung über fünfhundert Francs. Ende Februar erhielten Sie dreihundert und dreihundert Anfang März. Seitdem sind neun Monate zu dem verabredeten Preise von fünfzehn Francs vergangen; das macht einhundert und fünfunddreißig Francs. Es blieben Ihnen also fünfunddreißig gut. Jetzt habe ich Ihnen fünfzehnhundert gegeben.«

Thenardier empfand, was der Wolf in dem Augenblicke empfindet, wenn er sich von der stählernen Falle gefaßt und gefangen fühlt.

»Welcher Teufel ist der Mann?« dachte er.

Er that was der Wolf thut: er schüttelte sich.

Die Keckheit war ihm schon einmal gelungen.

»Mein Herr – ich weiß nicht, wie Sie heißen« – sagte er entschlossen und dieses Mal alle Rücksichten der Achtung bei Seite setzend, »ich nehme Cosetten zurück oder Sie geben mir tausend Thaler.«

Der Fremde antwortete gelassen:

»Komm, Cosette.«

Er faßte sie mit der linken Hand, mit der rechten nahm er seinen Stock vom Boden auf.

Thenardier sah den dicken Knüppel und die Einsamkeit des Ortes.

Der Mann drang mit dem Kinde in das Gehölz weiter hinein und ließ den Wirth unbeweglich und verblüfft dastehen.

Während sie sich entfernten, betrachtete Thenardier die breiten, ein wenig gewölbten Schultern und die großen Fäuste des Mannes. Dann fielen seine Blicke auf seine eigenen schwächlichen Arme und hageren Hände.

»Ich muß wirklich ganz dumm sein, daß ich meine Flinte nicht mitgenommen habe, da ich doch auf die Jagd ging.«

Der Gastwirth ließ indeß seine Beute noch nicht los.

»Ich will wissen, wohin er geht,« sagte er und machte sich daran ihm von Weitem zu folgen. Zweierlei war ihm geblieben: ein Spott, das Stückchen Papier mit der Unterschrift »Fantine,« und ein Trost, die fünfzehnhundert Francs.

Der Mann führte Cosette in der Richtung nach Livry und Bondy hin. Er ging langsam, mit gesenktem Kopfe, in nachdenklicher und trauriger Haltung. Der Winter hatte den Wald kahl gemacht, so daß ihn Thenardier nicht aus den Augen verlor, obschon er ziemlich weit zurück blieb. Von Zeit zu Zeit drehte sich der Mann um und sah, ob man ihm folge. Plötzlich gewahrte er Thenardier. Sofort trat er mit Cosette in ein Dickicht, wo sie beide verschwinden konnten.

»Teufel!« sagte Thenardier und beschleunigte seine Schritte.

Das Dickicht nöthigte ihn sich wieder zu nähern. Als der Mann gerade im tiefsten Dickicht war, drehte er sich um. Wie Thenardier sich auch in den Aesten versteckte, er konnte es nicht hindern, daß der Mann ihn sah. Dieser warf ihm einen unruhigen Blick zu, warf den Kopf verächtlich in die Höhe und setzte seinen Weg fort. Der Gastwirth folgte immer weiter nach. So machten sie zwei- bis dreihundert Schritte. Plötzlich wendete sich der Mann noch einmal um. Er bemerkte den Wirth. Diesmal sah er denselben mit einem so finsteren Blicke an, daß Thenardier es für »unnütz« hielt, weiter zu gehen. Thenardier machte Kehrtum.