Viertes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Der Scheik ul Islam hatte seine letzten Worte so laut und mit solchem Nachdrucke gesprochen, daß sie von der Decke dumpfgrollend wiederhallten. Seine Gestalt schien gewachsen zu sein. Er hielt den Kopf herausfordernd zurückgeworfen und strich sich mit beiden Händen den langen, dünnen Bart, als ob in diesen Haaren die Kraft gelegen habe, endlich einmal den Mut der Aufrichtigkeit zu zeigen. Seine Leute verhielten sich zuwartend. Der Aemir – ja, was war denn das? Der setzte sich ganz ruhig auf den nächsten Stein, putzte die Schuppen von den Kerzen und sagte in einem Tone, als ob er ein höchst gleichgültiges Gespräch fortzusetzen habe:

»Es ist also nicht nötig, daß ich dir hier noch Etwas zeige?«

»Nein, keineswegs!« antwortete der Andere, noch immer scharf.

»Dann könnte ich ja gehen!«

»Allerdings!«

»So möchte ich vorher wissen, wie diese deine Leute hier hereingekommen sind! Wir ließen sie am Bach zurück, wo unsere Pferde jetzt noch stehen!«

»Ich liebe die Geheimniskrämerei ebenso wie du. Darum sage ich dir: Ich verwandelte sie in Geister und rief sie durch die Mauern,« antworte der Scheik ul Islam höhnisch.

»Das klingt sehr leicht begreiflich. Du treibst also als Scheik ul Islam Hokuspokus! Eine neue, sehr interessante Seite von dir! Jedenfalls bist du ein außerordentlich begabter Mensch! Wahrscheinlich lässest du sie ganz in derselben Weise, wie sie gekommen sind, auch wieder gehen?«

»Ja.«

»Und was geschieht mit dir selbst?«

»Nichts Anderes. Ich werde Geist und lasse mich verschwinden.«

»Darf man das sehen?«

»Nein, denn du bist noch nicht so unsterblich wie wir. Für Euch Irdische ist so Etwas nicht!«

»Wirklich nicht? Solltest du dich da nicht irren? Auch wir Irdische verstehen Etwas von Eurer Magie, wenn auch nicht Alles. Ich habe es zwar nicht so weit gebracht, mich selbst verschwinden zu lassen, aber mit Andern bringe ich es doch schon fertig. Und ich verfahre dabei nicht so geheimnisvoll wie du. Wenn ich nächstens einmal meinen Zauberstab schwingen werde, so lade ich dich dazu ein. Ja, ich bin sogar sehr gern bereit, dich selbst verschwinden zu lassen. Zunächst aber haben wir uns morgen bei den Taki drüben zu treffen?«

»So wurde ausgemacht, und so hat es zu bleiben!«

»Und Freitag auf den Dschebel Adawa?«

»Auch da. Du natürlich als Aemir!«

»Den du aber nicht kennst?«

»Sei unbesorgt! Es liegt in meinem eigenen Interesse, keinen Menschen erfahren zu lassen, daß ich dich entlarvte.«

»Und diese Leute hier?«

»Sind verschwiegen!«

»So gehe ich jetzt!«

Er stand vom Steine auf.

»Meine Pistole!« gebot er, die Hand ausstreckend.

Der, welcher sie noch in der Hand hielt, gab sie ihm.

»Hier liegt meine Maske und dort meine Peitsche. Soll ein Kaiser sich bücken?«

Das klang so zwingend, daß man beide aufhob und ihm gab. Er steckte Larve und Waffe zu sich, hieb mit der Peitsche verächtlich hinter sich und sagte:

»Also nun los mit dem Hokuspokus! Hier und überall! Ich aber liebe den festen Weg zum Pferde. Wollen sehen, wer eher in den Sattel kommt, Ihr oder ich! Vergeßt aber nicht, die Lichter zu entfernen! Ihr seid ja Dunkelmänner. Und wenn auch nur der geringste Schimmer zurückbleibt, entdeckt man Euer Tun und Treiben und klopft Euch auf die Finger. Also macht es finster – finster – finster!«

Er schwippte noch einmal mit der Peitsche und ging.

»Nun schnell diese Tür wieder auf!« gebot der Scheik ul Islam. »Wir wollen ihm doch zeigen, daß wir noch eher bei den Pferden sind als er; ich sehe nach, ob er sich auch wirklich entfernt.«

Bei diesen Worten eilte er hinter dem Aemir her. Wir hörten unter uns dasselbe Steinschlürfen und sahen die drei Männer nicht mehr. Sie standen unter der Empore bei der Bundeslade. Da kam er wieder herein und berichtete:

»Er ist wirklich fort; ich sehe ihn schon nicht mehr. Merkt Euch hier Folgendes! Die Dschamikun werden natürlich glauben, daß wir von außen kommen. Demzufolge besetzen sie die Zugänge zu dem Tale. Wir aber dringen durch diesen Gang heimlich in die Ruinen, verbreiten uns da leise, bis alle beisammen sind, und fallen dann über sie her. Nun weg mit den Kerzen, und rasch fort durch den heiligen Stein! Wer weiß, wie Vielen er schon als letzte Ausflucht diente, wenn sich die Menschen hier von Zeit zu Zeit die Auserwählten Allahs nicht mehr gefallen lassen wollten!«

Es wurde dunkel; die Steine schliffen wieder, und dann war nichts mehr zu hören. Die Vorsicht gebot mir, noch zu warten.

»Effendi, es ist vorbei. Wollen wir nicht gehen?« fragte der Aschyk halblaut herüber.

»Nein« antwortete ich. »Der Aemir verhielt sich zuletzt derart, daß ich seine Rückkehr vermute. Also still!«

Es verging nach meiner Schätzung wohl über eine halbe Stunde, und schon griff ich in meine Tasche, um die Kerze herauszunehmen und anzubrennen. Da gab es draußen ein Geräusch. Man blieb dort stehen, um Licht zu machen, und kam dann herein. Es waren zwei Männer, beide mit unverhüllten Gesichtern. Der Eine war der Aemir. Der Andere trug das Licht. Wahrscheinlich war er der von dem Aemir ausgestellte Wächter, von dem gesprochen worden war. Er mußte das Vertrauen Ahrimans in hohem Grade besitzen und in Alles eingeweiht sein, weil der Letztere die Larve nicht wieder vorgenommen hatte, um sich unkenntlich zu machen.

»Zu denken, daß ich zurückkehren und nachforschen werde, dazu war der Kerl trotz seiner sonstigen Geriebenheit zu dumm!« fuhr der Aemir in dem jedenfalls draußen und unterwegs geführten Gespräch fort. »Ich entfernte mich gar nicht, sondern stellte mich einfach draußen hinter die Wasserbeckensäule, um welche ich nur langsam zu kreisen brauchte, als er nach vorn ging, um hinauszuschauen. Es genügte ihm, daß er mich nicht mehr sah. Da ging er wieder hinein. Ich folgte ihm bis an die Tür, wo ich alles sah und jedes Wort verstand.«

»So kennen wir also die Geheimnisse dieses alten Gemäuers doch noch nicht ganz genau!« meinte der Andere.

»Nein. Aber ich habe es mir auch nicht eingebildet, daß wir sie alle kennen. Diese Taki sind so voller Ränke und Schliche, daß man allwissend sein möchte, um hinter Alles zu kommen. Es ist nicht Zeit, ihr bisheriges Verhältnis zu diesen Ruinen zu erörtern. Heut gilt es nur, zu erfahren, was sie jetzt mit ihnen bezwecken. Da habe ich denn gehört, daß sie heimlich hereinbrechen wollen durch den Gang, welcher hier mündet. Das ist aber ganz gegen meine Verabredung mit dem Scheik ul Islam. Er will mich betrügen, mich, uns, Euch! Nach unserm Plane werden die Dschamikun mit einem Schlage und von allen Seiten überfallen, ohne daß sie vorher Etwas ahnen. Ich komme mit meinen Schatten von Osten. Sollte unsere Absicht durch irgend einen Zufall verraten werden, so besetzen sie die Pässe des Hasen und des Kuriers. Von dort drängen wir sie in den Duar zurück. Die Taki kommen von Nordwest und die Dinarun über die neue Zugbrücke am Tale des Sackes. So nehmen wir die Dschamikun von allen Seiten. So drängen wir sie rund um den See zusammen und treiben sie in das Wasser. Sie können der gänzlichen Vernichtung unmöglich entgehen. In Betreff der Ruinen aber habe ich extra die strenge Bedingung gestellt, daß sie von Niemand berührt werden dürfen, weil ich sie als unser Eigentum betrachte. Die Massaban, welche von den Dschamikun von hier vertrieben wurden, gehörten zu uns; sie sind mir untertan. Ich habe sie in ihr Eigentum zurückzuführen. Der Scheik ul Islam ist auf diese Bedingung eingegangen. Er hat mir zugesagt, daß keiner seiner Takikurden die Ruinen betreten werde. Vorhin nun stellte er aber, als ich ihn zur Offenheit zwang, plötzlich die Behauptung auf, daß der Taki-Orden diese Bauten errichtet habe und noch heut der Eigentümer ist. Er bezeichnete die Taki als die wirklichen Personen, uns aber als ihre Schatten, ihre Insekten, die für sie zu arbeiten und zu sammeln haben. Und als er glaubte, daß ich fort sei, sagte er zu seinen Begleitern, daß die Taki durch den Gang hier kommen würden, um die Ruinen zu besetzen. Wozu dieser heimliche Plan gegen meine Bedingung? Der Besitz der Ruinen ist ihm wichtiger als sein gegebenes Wort und der Sieg über alle Dschamikun. Sie, sie will er vor allen Dingen haben. Und zwar aus Angst, daß wir doch noch entdecken möchten, was wir bisher noch nicht gefunden haben. Das laß ich mir um keinen Preis gefallen! Besetzt er sie, besetze ich sie auch! Und tut er es geheim, so greife ich zu derselben Heimlichkeit und komme ihm dabei sogar zuvor. Verläßt er sich auf den geheimen Gang, so werden wohl auch wir die Mittel finden, noch eher da zu sein, als er mit seinen Leuten!«

»Stellt das nicht unser ganzes Werk in Frage, Aemir?«

»Wieso?«

»Muß es nicht infolge dieser gegenseitigen Eigenmächtigkeiten hier in den Ruinen zwischen dir und ihm zum blutigen Kampfe kommen? Wenn die Verbündeten in dieser Weise beginnen, sind die Dschamikun gerettet, und das ganze Land wartet vergeblich auf den Schlag, welcher den Schah entthronen soll!«

»Wie irrig! Du behauptest, mich zu kennen und traust mir doch noch Knabenstreiche zu! Ich sehe weiter als du. Ich habe das Naheliegende festzuhalten, um das Fernerliegende zu erreichen. In den Ruinen hier spielt nur die erste Episode. Die eigentliche Frage ist: Wer soll der Herrscher sein? Der Scheik ul Islam oder ich? Der Taki-Orden oder meine Schatten? Der Scheik hat mir frech in das Angesicht gesagt, daß ich nichts, als nur sein Geschöpf bedeuten werde. Ich schwieg dazu, doch stand es augenblicklich fest in mir, daß er mit diesem Wort sich selbst gerichtet habe. Er glaubt, mich fest in seiner Hand zu haben, und krümmt sich doch schon unter meiner Faust! Wie schnell gehorchte er doch meinen Zähnen, die ich ihm zeigte, um sein Inneres aus ihm herauszulocken! Die Krallen waren augenblicklich da! So läßt sich nur der Schwächling übertölpeln! Ich war dann um so ruhiger, je drohender er sprach!«

»Aber wenn du dich gleich anfangs mit ihm verfeindest, geht dir die Hilfe seines ganzen Ordens und Aller, die zu ihm halten, verloren!«

»Das glaube nicht! Nur darf die Feindschaft keine halbe sein. Sie darf nicht zögern, keine Ausflucht lassen. Sie muß sofort die Faust zusammendrücken, daß Alles kracht, was sich in ihr befindet! Wenn er mit seinen Taki hier erscheint, so fasse ich ihn stracks bei dem Genick und schüttle ihn wie eine tote Katze da unten über unserm Wasserloch. Ich sage dir, er wird um Gnade heulen und alles tun, was ich von ihm verlange!«

»Es aber dann nicht halten!«

»Nicht? Du denkst, ich lasse ihn so auf Versprechen frei? Daß ich ein solcher Tor, ein solcher Stümper wäre! Ich hänge ihn am glatten Felle auf, bis ich die lieben Seinen nicht mehr brauche, und werfe ihn dann immer noch ins Wasser! Doch sprechen wir hierüber späterhin. Ich halte dir hier eine lange Rede und sehe doch, daß unser Licht dabei nur kleiner wird!«

»Ich habe noch einige.«

»Dann gut! Schau dir diesen Stein an! Er scheint massiv zu sein, ist es aber nicht. Ich sah ihn offenstehen, und zwar nach innen. Leuchte nieder, daß wir ihn betrachten!«

Weder ich noch der Aschyk konnten sehen, was sie jetzt taten. Aber wir hörten ihre Worte, und das war genug.

»Hier diese Vorderseite hat ringsum an den Kanten ein Relief, fast wie ein Bilderrahmen,« sagte der Aemir. »Die eingefaßte Platte aber ist vollständig glatt. Es fehlt Alles, was auf Bewegbarkeit schließen läßt. Folglich ist es nur der einfache Druck, dem sie gehorchen wird. Versuchen wir es!«

Wir hörten ein lautes Atmen, wie wenn sich Jemand anstrengt, und dann das schon bekannte Schleifen der Steine.

»Sie weicht!« rief der Aemir. »So, jetzt ist sie völlig offen! Der Gang kann nicht unbequem sein, denn als ich jenseits an den Bach kam, wo mein Pferd bei den ihrigen stand, waren alle vier schon da, und der Scheik ul Islam höhnte mich damit, daß ich ihn immerhin verschwinden lassen möge; er werde sicher ebenso schnell wieder erscheinen wie jetzt. Krieche hinein, und untersuche die Innenseite!«

Der Andere tat es. Wir hörten seine dumpfe Stimme:

»Hier hat die Platte eine Handhabe.«

»Das konnte man sich denken. Und der Gang? Ist er niedrig?«

»Warte!«

Er hatte, wie wir am Schatten sahen, das Licht mit hineingenommen und untersuchte. Dann kam er wieder an die Oeffnung und berichtete:

»Nur drei Schritte niedrig, dann aber gleich ziemlich hoch, höher als ein Mann. Das scheint ein natürlicher Innenriß des Berges zu sein, dessen Mündung man vermauerte, um ihn zu diesen Heimlichkeiten auszunützen.«

»Und die Luft?«

»Wie es scheint, besser als drin bei dir.«

»So geh zurück; ich komme!«

Ein leises Rascheln, hierauf das Schlürfen der Platte, welche zugeschoben wurde, dann war es wieder finster und still im Allerheiligsten. Ich wartete diesmal nur kurze Zeit; dann machte ich Licht.

»Jetzt fort?« fragte der Aschyk.

»Ja.«

»Nicht warten, bis sie fertig sind, und dann den Gang auch untersuchen?«

»Nein. Wer weiß, was sie alles noch tun und wann sie wiederkommen. Ich halte diese Luft hier nicht mehr aus. Ich muß hinaus!«

Wir stiegen hinab und löschten das Licht aus. Er nahm seine Leiterstange; wir gingen. Draußen blieb ich stehen und holte mit Wonne Atem. Die Luft da drin im einstigen Heiligtum war nichts als Gift gewesen! Noch war der Mond nicht hinter dem Berg verschwunden. Die Ruinen lagen in seinem gelblich silbernen Glanze. Ein Lauscher war nicht zu sehen. Wir gingen nach dem Steinbruche, wo wir uns zu trennen hatten, blieben aber noch einige Minuten im Schatten beieinander stehen.

»Ehe ich den Scheik ul Islam durchschaute, mußte ich Dich für einen Sill halten,« sagte ich. »Was aber bist du nun?«

»Weder Sill noch Taki. Mein Wunsch aber ist, ein Dschamiki werden zu dürfen.«

»Fürchtest du nicht den Leumund, wenn man erfährt, was du gewesen bist?«

»Was man verachtet, kann man doch nicht fürchten! Gute Menschen verzeihen; was die Andern tun, kommt nicht in Betracht. Sobald Ihr mich hier nicht mehr braucht, werde ich mich bei der Behörde zur Strafe melden, der ich mich durch die Flucht entzogen habe. Ist sie verbüßt, so kehre ich als neuer Mensch zurück. Vielleicht nimmt mich dann der Ustad auf!«

»Ist das dein Ernst, dein wirklicher Ernst?« fragte ich.

»Ja, Effendi. Ich habe es mir reiflich überlegt. Ich bin dazu entschlossen und tue es unbedingt.«

»Aber bedenke! Es stehen dir mehrere Jahre Gefängnis bevor, schweres, bitteres Gefängnis! Du kannst das sehr leicht vermeiden, indem du dich einfach nicht meldest. Es sucht ja kein Richter und keine Polizei mehr nach dir. Das Gesetz hat dich also aufgegeben. Und hier, wo du dich befindest, ist dein Name unbekannt. So laß ihn doch gestorben sein, und nimm einen andern an! Dann bist du auch ein anderer Mensch, und deine Vergangenheit ist vollständig vergessen!«

Es versteht sich ganz von selbst, daß ich das nur sagte, um ihn zu prüfen. Er schüttelte den Kopf und antwortete:

»Ich kann nicht glauben, daß deine Worte wirklich so gemeint sind, wie sie klingen. Ich muß mich ausliefern; ich muß, ich muß, ich muß! Noch bis vor wenigen Tagen hätte ich diesen Gedanken freilich für Wahnsinn gehalten, für die blödeste Albernheit, die es nur geben kann. Aber da unten, neben dem Gerippe, in der schrecklichsten aller Finsternisse, in der innerlich laut heulenden tiefen Stille, die äußerlich um mich lag, an der zwar nur leise, leise, aber umso entsetzlicher in sich knirschenden Säule, die von Augenblick zu Augenblick über mir einzustürzen und mich zu zerschmettern drohte, ist mir das rechte, wahre Licht hierüber aufgegangen. Ich will und will und will die Strafe haben, um mit mir selbst, mit meinem Gewissen quitt zu werden. Indem ich ihr entgehen wollte, habe ich mir eine noch viel fürchterlichere auferlegt. Ich flüchtete mich doch nur aus dem einen in das andere Gefängnis, in die Gefangenschaft des Bösen. Und was das heißt, und welche Qualen das bringt, davon hast du keine, keine, keine Ahnung, Effendi!«

Er bewegte den tief gesenkten Kopf schwer und langsam hin und her und fuhr dann fort:

»Der Scheik ul Islam versprach mir, sich für meine Begnadigung zu verwenden. Dieser Tor! Wie unverzeihlich dumm ist er doch in Beziehung auf die Menschenseele, er, der doch behauptet, daß ihm tausende von Seelen von Allah anvertraut worden seien! Oder war es nicht Dummheit, sondern gewissenslose Hinterlist? Neue Verbrechen zu den alten fügen, um Gnade zu erlangen! Dann wäre mir zwar die äußere Strafe erlassen worden, aber die zur Gigantin erwachsene Schuld in mir hätte nur um so lauter nach Rache, nach Vergeltung aufgebrüllt! Aeußerlich gerettet, innerlich aber für immer verloren, so hätte es mit mir gestanden! Ja, ich weiß es, und ich fühle es: die Gnade ist der Sühne gleich, der vollständigen Sühne. Sie hat vielleicht sogar noch größere Macht als diese Sühne; aber es ist ganz unmöglich, daß sie auf bösem Wege zu uns niederkommen kann. Wenn mir der Scheik ul Islam heut, jetzt, die Erlassung meiner Sünden und meiner Strafe brächte, ich würde sie nicht annehmen!«

»Wirklich nicht?«

»Nein; denn eine Gnade aus solcher Hand wäre nichts als Spiegelfechterei, die mich um mich selbst betrügen würde!«

»So sag, was würdest du wohl tun, wenn ein Anderer sie dir brächte? Nicht auf bösem, sondern auf gutem Wege?«

»Ein Anderer? Wer könnte das wohl sein?«

»Das weißt du nicht?«

»Nein!«

»Weil man dir weisgemacht hat, daß die Gnade nur durch ein Vermittelungsgeschäft zwischen dir und dem Schah-in-Schah zu erlangen sei! Es kann sie dir nur Einer bringen, ein Einziger, und der bist du selbst! Bleib nur nicht stehen! Geh auf dem Wege weiter, den du jetzt beschritten hast! Er ist gut, und die Augen des Schah-in-Schah sind scharf. Es bedarf keines Menschen, der sich mit seinem erlogenen Einflusse auf den Schah vor dir und Andern brüstet. Ich sage dir vielmehr, und du kannst es mir glauben, denn ich bin wohlunterrichtet: Der Herrscher kennt den Scheik ul Islam ganz genau. Die Fürbitte grad dieses Mannes wäre nicht etwa zu deinem Heile, sondern zu deinem Verderben ausgefallen. Sie hätte dich als sein Geschöpf bezeichnet und damit nur bewiesen, daß du der Gnade gar nicht würdig seist.«

Er senkte den Kopf noch tiefer als vorher. Dann hob er ihn mit einem schnellen, energischen Ruck empor und sagte:

»Also so steht es, so, so, so! Wohlan, Effendi, ich gehe diesen neuen, guten Weg! Ich gehe ihn selbst! Ich lasse mich nicht führen! Von keinem Menschen, auch nicht von dir! Allah will das Gute, nur das Gute, und er gibt jedem Menschen die nötige Kraft, es zu tun. Ich will doch sehen, ob er nicht auch mir diese Kraft verliehen hat, es zu vollbringen, ohne daß ich sie mir von Andern zu leihen und zu borgen brauche! Er sei mein Schutz und meine Hilfe, er allein, in Zeit und Ewigkeit!«

Er schluchzte. Da konnte ich mich nicht halten; ich legte ihm die Hände an beide Wangen und sprach:

»Das ist das einzig Richtige! Laß es dir nicht wieder nehmen; von keinem, keinem Menschen! Es wächst jetzt eine Säule in dir auf, in der es nie und nie so knirschen wird wie in der andern unten in dem Wasser. In ihr liegt Gottesstärke. Vertraue ihr und ihm!«

Ich ging.

»Gottesstärke –!« erklang es hinter mir. »Das war sie – das ist sie – schon jetzt, schon jetzt – die Gnade!«

Auf dem Nachhauseweg war mir nicht wohl. Ich hatte das Gefühl des Schwindels, und meine Lunge war nicht mit mir einverstanden. Meine Beine schienen Kraft verloren zu haben, obgleich ich die ganze Zeit über doch nur gesessen hatte. Ich dachte darum an nichts, als nur daran, mich schnell niederzulegen, und freute mich, als dies geschehen war, über die gute, reine Luft, welche durch Türen und Fenster freien Zutritt hatte. Aber ich konnte nicht einschlafen. Der Grund lag wohl weniger in dem, was ich gesehen und gehört hatte, denn das konnte mich nicht beunruhigen, sondern die Ursache war eine körperliche, keine geistige. Und als der Schlaf dann erst gegen Morgen kam, war er kein ruhiger und erquickender. Ich wachte von Zeit zu Zeit immer wieder auf, und weil das quälender als das Wachen war, so zog ich es vor, das Lager zu verlassen.

Als ich hierauf den Weg nach dem Brunnen hinunterstieg, fühlte ich ein wirkliches, ausgesprochenes Unwohlsein. Da traf ich Schakara. Ich sah, daß sie bei meinem Anblicke erschrak.

»Was ist mit dir, Effendi?« fragte sie hastig. »Dein Gesicht ist ganz graugelb, und deine Augen liegen tief. Du bist krank!«

»Ich war heut Nacht mehrere Stunden lang drüben im Allerheiligsten,« antwortete ich. »Das scheint mir nicht gut bekommen zu sein.«

»Mehrere Stunden lang? Im Allerheiligsten?« rief sie aus. »Diese Luft hält kein Gesunder aus, viel weniger ein Genesender! Du kannst dir sehr leicht einen Rückfall in den Typhus geholt haben, und dann, dann ist es nicht möglich, dich zu retten! Komm, wir müssen sofort zum Ustad!«

Sie führte mich hinauf zu ihm. Er hatte mein spätes Heimkommen gehört und darum auch schon Sorge gehabt. Schakara brauchte ihm gar nicht zu sagen, weshalb wir zu ihm kamen; mein Aussehen schien sprechend genug zu sein. Auch er zeigte sich, sobald wir eintraten, sofort über dasselbe bestürzt. Ich mußte mich hinsetzen und erzählen. Als ich mit meinem Berichte zu Ende war, sagte er sehr ernst:

»Effendi, was du gehört und gesehen hast, beunruhigt mich nicht im Geringsten, aber daß du gezwungen gewesen bist, die krankheitsschwangere Atmosphäre des Sacrosanctum einzuatmen, das kann Folgen nach sich ziehen, denen wir sofort vorzubeugen haben. Dein Blut ist bereits wieder mit Stoffen geschwängert, welche unbedingt entfernt werden müssen. Zum Glück ist Alles vorhanden, was wir dazu brauchen. Ich bitte dich, mich wieder als deinen Arzt zu betrachten! Denke von jetzt an nur an dich selbst, an deine Genesung; alles Andere schlage dir aus dem Sinn! Das bist du dir, mir und uns Allen schuldig!«

»Aber der Aschyk? Mein Syrr? Der verborgene Gang, welcher untersucht werden muß?« warf ich ein.

»Das ist es eben, woran du jetzt nicht denken sollst!« antwortete er. »Ich gebe dir die Versicherung, daß du dich nicht zu sorgen brauchst. Habe ich während meiner Abwesenheit dir vertraut, so vertraue du nun auch mir!«

Er hatte Recht, und so ließ ich denn mit mir machen, was er für geboten hielt. Er verordnete zunächst ein Bad, so heiß wie möglich. Während desselben hatte man mein Lager heraus auf die Plattform geschafft, damit ich nur die beste Luft atmen möge. Ein Leinendach war angebracht worden, um Schatten zu geben. Der für seine Muttersprache begeisterte Germane nennt so ein Dach »Marquise«. Dort legte ich mich nieder und trank einen Tee, welcher alle Poren öffnete und mir aber dafür die Augen schloß. Ich schlief ein.

Als ich erwachte, war es Nacht. Veilchen dufteten, drüben an der Balustrade saß Schakara, vom Monde hell beleuchtet. Ich sah, daß sie die Augen auf mich gerichtet hielt.

»Dschanneh, wo sind die Veilchen her?« fragte ich. »Im Garten und auf der Weide blühen sie nicht mehr.«

»Ich ließ sie von hoch oben holen,« antwortete sie.

»Jenseits des Alabasterzeltes hören sie gar nicht auf, zu blühen und zu duften. Du hast sehr gut geschlafen und sehr regelmäßig geatmet. Nun sag, kannst du klar und deutlich denken? Oder macht es dir Mühe, Gedanken zu fassen und festzuhalten?«

»Gar keine Mühe! Es liegt Alles bestimmt und scharf vor meinem Geiste. Ich könnte dir ohne die geringste Anstrengung jedes einzelne Wort wiederholen, welches drüben im Allerheiligsten gesprochen worden ist.«

»Das ist gut, sehr gut! Deinem geistigen Körper sind die Ansteckungsstoffe also fern geblieben, und aus dem leiblichen werden wir sie schnell wieder herausbekommen.«

»So ist also wohl kein Rückfall zu befürchten?«

»Da es so steht, nicht. Der Ustad ist derselben Meinung wie ich. Er war öfters hier; erst wieder vor einigen Minuten.«

»Nun aber schläft er wohl?«

»Schlafen? Was nennst du Schlaf, Effendi? Ich schlafe wohl auch, indem ich hier bei dir wache; aber so oft du die Augen öffnest, wirst du die meinen auch offen sehen. Du nennst mich ja Dschanneh!«

Das waren so tiefe Worte! Sie sagten so viel über Leib und Geist und Seele. Ich dachte über sie nach und schloß dabei die Augen. Da rauschte Schakara’s Gewand. Sie war aufgestanden, kam zu mir her, legte mir die Hand auf die Stirn und sagte:

»Ich fühle, daß mein Bruder denkt. Er will den Sinn ergründen, der in meinen Worten liegt. Das ist aber nicht möglich, weil er noch so viele Stufen zu steigen hat, bis er dahin kommt, wo er mich verstehen kann. Und, weißt du, vergebliches Bemühen des Geistes bereitet der Seele Schmerzen. Darum zog es mich von dort auf und zu dir her. Bitte, denke nicht mehr darüber nach! Wir gehen ja, sobald hier Alles vollendet ist, hinauf zu unserer Marah Durimeh! Das sind die Stufen, die du zu steigen hast. Sind wir oben, so wirst du sie und mich und dann wohl auch dich selbst begreifen. Jetzt schlaf – schlaf wieder ein! Dschanneh will es; du wirst es also tun!«

Ich verstand jedes ihrer Worte, war also vollständig wach. Ich fühlte, daß von ihrer Hand ein süßer Friede, eine selige Ruhe auf meine Stirn herüberfloß und sich von da aus über mein ganzes Wesen breitete, und wenn man das so deutlich, so scharf beobachtend empfindet, so kann man doch wohl nicht schon eingeschlafen sein! Und aber doch und doch – denn ich führte meine Hand zur Stirn, um sie auf die ihrige zu legen und ihr zu danken, da sagte sie:

»Effendi, ich berührte dich, um dich zu wecken. Es nahen uns Gäste, die du vielleicht gern kommen sehen möchtest.«

Die Augen wieder aufschlagend, sah ich sie im hellsten Sonnenlichte vor mir stehen. Es war fast Mittagszeit!

»Du staunst?« fragte sie, schalkhaft lächelnd. »Du wirst dich wohl noch öfters wundern, bis du weißt, was Dschanneh ist und was sie kann! Agha Sibil ist mit seiner Familie angekommen und hat schon begonnen, sein Zelt zu errichten. Und vor einigen Minuten berichtete ein Bote aus dem Grenzduar, daß deine Bagdader Freunde dort übernachtet haben und gegen Mittag hier sein werden. Wenn du sie sehen willst, darfst du aufstehen, doch nur für ein Stündchen, und ohne hinunter zu gehen oder sie heraufkommen zu lassen.«

»Kennt Agha Sibil die Zeit ihrer Ankunft?«

»Nein, wir verschwiegen es ihm. Er wird zwar in seinem Zelte wohnen, ist aber für heute Mittag unser Gast. Wir richten es so ein, daß ihn sein Schwiegersohn hier in der Halle beim Essen überrascht.«

»So stehe ich freilich auf und mache es wie Hadschi Halef, der sich jedenfalls auch ganz vorn aufs Dach postieren wird, um unseren „früheren Bimbaschi und jetzigen Mir Alai“ zu begrüßen.«

»Und ob er das tun wird!« antwortete sie heiter. »Er sitzt wohl schon jetzt bereit, denn Hanneh war im Hofe, als der Bote kam, und hat es ihm sofort berichtet. Der Ustad ist mit Dschafar Mirza dem Mir Alai entgegengeritten. Errätst du, auf welchem Pferde?«

»Auf der Sahm?«

»Nein, sondern auf dem Assil Ben Rih.«

»Wirklich, wirklich?« fragte ich, nicht verwundert und nicht erstaunt, aber außerordentlich erfreut.

»Ja; er hat den Rappen gleich schon gestern vorgenommen, als du hier oben eingeschlafen warst. Er muß sich doch für den Fall vorbereiten, daß du auf jede Teilnahme am Rennen zu verzichten hast, und grad auf Assil sind Hoffnungen gesetzt, die wir nicht täuschen dürfen. Jetzt gehe ich hinab, um dir dein Frühstück zu bereiten und Syrr für dich mit Aepfeln zu erfreuen.«

»Syrr! Daß ich nicht zu ihm hinunterdarf!«

»Sorge dich nicht um ihn. Er steht in meiner ganz besonderen Pflege und – er denkt an dich.«

Ich lächelte. Da fuhr sie fort:

»Er war während des gestrigen Tages unruhig, weil er dich nicht zu sehen bekam. Am Abend wollte er sich nicht niederlegen. Da holte ich deine Kamelhaardecke, unter welcher du so oft geschlafen hast. Ich hielt sie ihm zusammengefaltet vor die Nüstern. Da schnaubte er froh und leckte mir dankbar die Hand; hierauf tat ich sie auf den Boden, doch ohne sie auszubreiten. Da ließ er sich sogleich nieder und legte den Kopf auf sie. Als ich heute früh wiederkam, lag er noch ebenso und hatte aber den Kopf bis an die Augen in die Decke hineingewühlt. Und schau hierher!«

Sie ging dorthin, wo meine arabische Jacke lag, und zog drei Aepfel aus jedem Aermel.

»Die bringe ich ihm jetzt hinab,« sagte sie. »Das habe ich gestern zweimal und heut auch schon einmal getan. Diese frißt er; aber andere mag er nicht, auch wenn sie von demselben Baume sind. Nun wirst du glauben, daß er dich nicht vergessen hat.«

Sie ging. Als sie fort war, stand ich auf. Da sah ich denn, daß man unten am See sehr fleißig gewesen war. Man hatte am Fuße des nördlichen Berges die für uns bestimmte Tribüne vollständig fertiggestellt. In ihrer Nähe wurde jetzt das große Verkaufszelt Agha Sibils errichtet. Auf den höchsten Punkten der umliegenden Gebirgszüge waren Leute beschäftigt, mächtige Holzstöße für die geplante Höhenbeleuchtung aufzuhäufen. Auch an tiefer liegenden, aber hervorragenden Punkten wurde das Gleiche getan. Um den See kreisten die verschiedensten Reittiere in lebhaftester Uebung. Kamele trugen Holzscheite zum Beit-i-Chodeh hinauf, denn auch der Tempelplatz sollte erleuchtet werden. Was ich von meinem Dache aus nicht sehen konnte, schloß ich aus dem Umstande, daß ich viele auch mit Brennstoff beladene Maultiere und Esel auf dem steilen Pfade nach dem Alabasterzelte erblickte: Dort sollten ebenfalls die Festesflammen lodern.

Ein Teil der Tribüne war jetzt von der Dschemma besetzt, welche sich unter dem Vorsitze des Pedehr in einer, wie es schien, sehr wichtigen Beratung befand. Vor ihr hielten wohl über zwanzig mir unbekannte, sehr wohlbewaffnete Männer, welche von ihren Pferden gestiegen waren und dem Chodj-y-Dschuna zuhörten, der eifrig zu ihnen sprach. Das waren die Anführer der verschiedenen, nicht seßhaften Abteilungen des Dschamikun, die von unserm »Kriegsminister« ihre Instruktion entgegennahmen. Zu meiner Genugtuung bemerkte ich dort auch den Scheik der Kalhuran, der also nun genesen war und sich wieder an die Spitze seiner mit uns verbündeten Krieger stellen konnte.

Grad unter mir erschien jetzt Schakara, welche nach dem Weideplatze ging, um Syrr die Aepfel zu bringen. Er nahm einen nach dem andern, langsam und prüfend, nachdem er jeden vorher erst berochen hatte. Sie schaute zu mir herauf und nickte mir zu. Als der letzte verzehrt worden war, faßte sie den Kopf des Glanzrappen und richtete ihn so, daß er nach oben, herauf zu mir sehen mußte. Ich hatte die Jacke angezogen und den Fez aufgesetzt. Um den Blick des Pferdes auf mich zu lenken, bewegte ich die Arme. Syrr sah es; er stutzte. Seine Ohren begannen zu spielen; der prächtige Schweif wurde gehoben. So stand er eine kleine Weile prüfend still; dann schob er die Vorderbeine breit auseinander und schmetterte mir ein so frohes Wiehern herauf, daß gar nicht daran zu zweifeln war: er hatte mich erkannt. Aber hiermit war es noch nicht genug; er jubelte wieder und wieder, so daß ich mich gezwungen fühlte, zurückzutreten und mich seinem Auge zu entziehen, damit seine weithin schallende Stimme nicht die Aufmerksamkeit Unberufener auf ihn lenken möge.

Während ich dann frühstückte, richtete Schakara mir einen so hohen Sitz her, daß ich über die Brüstung hinunter in den Hof sehen konnte, ohne stehen zu müssen. Hierauf ließ sie mich allein, weil ich es so wünschte. Der Mittag war nahe. Da kam Agha Sibil mit den Seinen. Sie wurden in die Halle gewiesen.

Nur kurze Zeit später bemerkte ich, daß im Duar eine Bewegung entstand, die sich südwärts richtete. Sie galt den Bagdader Gästen, welche nun eingetroffen waren. Der kleine Zug kam den Berg herauf und dann durch das Tor geritten. Voran der Ustad und der Mirza, in ihrer Mitte mein alter Freund, der Mir Alai. Hinter ihnen einige Packpferde mit den Effekten des Offiziers. Hierauf ein Kamel mit der größten Sänfte, welche man hatte auftreiben können. Sie war rundum verhangen. Wer nicht wußte, wer drin saß, mußte also denken, daß es sich um etwas »ewig Weibliches« handle. Hintendrein die Dschamikun, welche den Besuch geholt hatten.

Weil die Aufmerksamkeit des Agha Sibil nicht sofort auf die Ankömmlinge gelenkt werden sollte, war befohlen worden, ihr Eintreffen hier oben in aller Stille und möglichst unbeachtet geschehen zu lassen; aber die liebe Neugierde hatte trotzdem zwei Personen herbeigezogen, die sich den ersten Anblick der Erwarteten auf keinen Fall versagen wollten – Tifl und Pekala.

Als die ersten drei Reiter zum Tore hineinkamen, flog der scharfe Blick des Ustad zu mir herauf. Er sah mich. Ich winkte ihm schnell, den Polen nicht auf mich aufmerksam zu machen. Er nickte mir zu, daß er mich verstanden habe. Dann legte er beide Schenkel an, stemmte die Hände in die Seiten und ließ Assil in der prächtigsten Natnata el mutarid, die ich jemals gesehen habe, über den Hof hinüber und nach der Weide gehen, wo er abstieg. Er tat dies meinetwegen. Ich sollte sehen; daß Assil bei ihm gut aufgehoben sei. Wer eine so schwere Natnata in so meisterhafter Weise zu reiten vermag, dem kann man auch das kostbarste Pferd gern anvertrauen.

Dschafar Mirza und der Mir Alai stiegen ab. Der Erstere war unterrichtet. Er nahm den Letzteren bei der Hand und führte ihn nach der Halle, in welcher es gleich darauf sehr laut zu werden begann. Auch die begleitenden Dschamikun waren abgestiegen, um sich zunächst mit den Packpferden zu beschäftigen. Da rief ihnen Pekala zu:

»Und das Kamel laßt Ihr stehen? Man sieht doch, daß eine vornehme Harema drin sitzt! Soll diese Madama etwa warten, bis es Euch beliebt?«

Die Angeredeten lachten! Darum wendete sie sich an Tifl und sagte:

»Gib dem Kamele das Zeichen zum Niederknieen; du verstehst das besser als ich! Die Madama darf von keiner Männerhand berührt werden. Ich werde ihr also selbst heraushelfen.«

Tifl tat, wie ihm befohlen worden war; das Kamel gehorchte. Die hohe Sänfte bekam die drei bekannten, fürchterlichen Rucke; dann lag sie wieder still. In ihrem Inneren grunzte es. Pekala schob den Seitenvorhang auf, schaute hinein und meldete dann:

»Sie schläft. Aber ich muß sie wecken, sie mag es mir übelnehmen oder nicht.«

Sie griff hinein und zupfte am Gewande. Da bewegte es sich drin.

»Ich bitte dich, steig aus; du bist am Ziel!« rief sie hinein. »Du brauchst nur langsam herabzurutschen; ich helfe dir dabei!«

Indem sie das sagte, trat sie einen Schritt zurück und breitete die Arme weit aus, um ihr Versprechen wahr zu machen. Da ächzte es in der Sänfte; da stöhnte es; da murmelte es. Dann kamen zwei große, rote Pantoffel zum Vorscheine. Ein weites, faltenreiches Gewand wurde Falte um Falte herausgestopft. Man erkannte trotz dieser Falten die Umrisse von zwei Knieen. Hierauf wurde die Sache immer breiter und immer umfangreicher. Nun entwickelten sich mit Mühe und Not zwei Arme. Ueber ihnen erschien ein rotes, gelb befranstes Keffije, welches vorn nur um eine Lücke geöffnet war. In dieser Lücke gab es einen Mund und eine Nase; sonst sah man weiter nichts.

Jetzt war die »Madama« auf dem »toten Punkte« angekommen. Sie lag im vollsten Gleichgewicht mit dem Rücken auf der unteren Sänftenkante. Der nächste Augenblick hatte darüber zu entscheiden, ob sie herunterrutschen oder rücklings wieder hineinfallen werde. Da bat die Festjungfrau in ermunterndem Tone:

»Fasse Mut. Gieb dir nur noch den einen kleinen Ruck, dann sinkst du grad in meine Arme. Ich fange dich auf!«

Das half! Der »Ruck« stellte sich ein. Was von der Gestalt noch in der Sänfte steckte, das quoll vollends heraus. Die Sache kam in Schuß. Zuerst die Pantoffel, doch allerdings separat. Dann tat es einen gewichtigen Plumps. Die Masse stand auf den nackten Füßen, genau zwischen den beiden Pantoffeln. Sie wankte hin und her, ungewiß, nach welcher Seite sie sich zu neigen habe. Die Arme streckten sich aus, um sich irgendwo festzuhalten. Da trat Pekala schnell wieder näher, und im nächsten Augenblicke hielten sich Beide innig umschlungen, so fest und so lange, als ob sie nie, nie wieder von einander lassen dürften. Erst nach einer Weile klang es aus der Umarmung heraus:

»Wie glücklich bin ich, daß du gekommen bist! Niemand soll dich mir wieder nehmen! Komm mit mir, du Liebling meiner Seele! Ich führe dich in meine Küche!«

»Küche – Küche – Küche?!« fragte es da schnell und dreimal hinter einander.

»Ja. Beeile dich, sonst nimmt man dich mir weg!«

»Mich? Dir? Niemals, niemals, niemals! Komm schnell; ich habe Hunger – Hunger – Hunger!«

Die Umarmung ging nur halb auseinander. Die Hände hielten wie unzertrennlich zusammen. So schritten beide, eng aneinander geschmiegt, die eine Gestalt strahlend vor Wonne und Glück, die andere unter dem Keffije hustend und pustend, in seliger Eintracht über den Hof hinüber, um in der Sphäre zu verschwinden, der sie mit Leib und Seele angehörten. Ich aber lächelte ihnen mit innigster Befriedigung nach. Wer seinen Lebenszweck im niedern Stoffe sucht, den läßt man gern in diesem Stoff verschwinden!

Tifl stand da und schaute die Pantoffel an. Sie lagen noch da, weil Kepek, der Dicke, vor Freude über das Wort »Küche« gleich barfuß fortgelaufen war. Das »Kind« machte ein höchst bedenkliches Gesicht und kratzte sich unter der Spinnenmütze. Er war mit irgend Etwas nicht einverstanden, aber womit, das sagte er den Pantoffeln nicht. Er hob sie schließlich auf, betrachtete sie hin und her, warf sie wieder hin, hob sie abermals auf, schüttelte den Sand heraus und trug sie dann langsamen Schrittes nach der Küche, den einen in der rechten und den anderen in der linken Hand, beide aber nur mit den äußersten Fingerspitzen festhaltend.

Da kam der Ustad durch den Garten.

»Wie geht es dir?« fragte er zu mir herauf.

»Gut, sagte Schakara,« antwortete ich.

»So darf ich ruhig nach der Halle gehen?«

»Ganz unbesorgt. Widme dich deinen Pflichten und deinen Gästen. An mich soll man nicht denken, doch grüße den Mir Alai von mir!«

Hierauf sah ich Schakara nach der Weide gehen. Sie fütterte den Syrr und dann auch den Assil Ben Rih, nachdem sie ihm das Reitzeug abgenommen hatte.

Einige Zeit später erschienen vier fremde Reiter auf dem Hofe, welche nach dem Ustad fragten. Sie waren Dinarun, wie ich nachher erfuhr. Ihr Scheik Ben Hidr befand sich selbst dabei. Sie waren unten im Duar von dem Pedehr als vermutliche Feinde sehr kurz behandelt und herauf an den Ustad gewiesen worden. Darum stiegen sie gar nicht ab, als dieser aus der Halle trat, und Ben Hidr rief ihm in beinahe verletzender Weise die Meldung zu, daß sie gekommen seien, ihre Teilnahme am Wettrennen anzusagen, weiter nichts! Jeder Andere als der Ustad hätte sie nun in ganz derselben Weise sofort entlassen. Dieser aber war menschenfreundlich und klug genug, sich zu beherrschen. Er ging auf sie zu, reichte ihnen die Hand und lud sie ein, mit hinauf in seine Wohnung zu kommen. Das überraschte sie. Sie sahen einander fragend an und sprangen dann doch von ihren Pferden, um ihm zu folgen.

Sie waren wohl zwei Stunden lang bei ihm in seinem Zimmer. Auf den Balkon führte er sie nicht, weil sie Syrr nicht sehen sollten. Ich hatte mich inzwischen wieder niedergelegt und hörte ihre Stimmen unter mir, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Als sie sich entfernt hatten, kam er herauf zu mir und sagte mir, wer diese Leute gewesen seien und was er mit ihnen verhandelt habe.

»Das sind die sogenannten Klugen,« fügte er hinzu. »Sie lächeln nach beiden Seiten und sagen einstweilen zu Allem „Ja“, um abzuwarten, nach welcher Seite sich der Zeiger neigen werde. Dann aber sind sie die Schlimmsten, die Unerbittlichsten, die keine Schonung kennen. Ich bin überzeugt, daß sie unsern Feinden ihre Hilfe zugesagt haben, und daß sie aber dennoch heut zu uns kamen, um nachzuschauen, ob es nicht vielleicht doch geraten sei, sich den Weg zum Rückzuge offen zu halten. Ich habe sie bedient, wie man so unsichere Kantonisten zu bedienen hat: Kein Wort zu wenig, aber auch keins zu viel. Sie werden sich zum Rennen einstellen; ob sie sich aber dann auch beteiligen, steht noch in Frage. Erst waren sie zornig über den Empfang, den sie im Duar gefunden hatten; dann wurden sie immer freundlicher und zutraulicher, um von mir so viel wie möglich zu erfahren, was ihnen aber natürlich nicht gelang, und zuletzt bot mir Ben Hidr die Hilfe seines ganzen Stammes an, die ich aber sehr höflich ablehnte, weil ich an die Feinde, von denen er gesprochen habe, unmöglich glauben könne. Noch am Schlusse behauptete ich mit aller Bestimmtheit, daß es ganz gewiß keinen einzigen Menschen gebe, der die Absicht habe, uns hier zu belästigen oder gar zu überfallen. So sind sie also in der festen Ueberzeugung fortgeritten, daß wir von der Gefahr, die sich in diesen Tagen um uns zusammenziehen soll, nicht das Geringste ahnen. Aber ich habe ihnen die goldene Karte des Schah-in-Schah gezeigt und sie dann noch viel Wichtigeres ahnen lassen. Nun haben sie Angst!«

Wir unterhielten uns noch einige Zeit, besonders über Assil Ben Rih, für den er ganz begeistert war. Dann kam Schakara, um mir die Grüße des Mir Alai zu bringen. Er ließ mir sagen, er sehe nun ein, daß es nichts Herrlicheres gebe als so einen Glauben und so ein unerschütterliches Gottvertrauen, dem nichts auf Erden widerstehen könne.

Sehr erfreulich war es mir, daß der Ustad sich über mein Befinden höchst befriedigend äußerte, doch behauptete er, mich erst Freitag, also übermorgen, aus seiner Behandlung entlassen zu können. Ich hatte mich zu fügen und tat es gern.

Als es dunkel werden wollte, nahm ich mein Abendessen ein und sank dann dem auch in Kurdistan und Persien sehr wohlbekannten Morpheus in die Arme. Er hielt mich möglichst fest, konnte es aber doch nicht verhindern, daß ich, grad wie gestern in der Nacht einmal für kurze Zeit erwachte. Das geschah auf eine ganz eigentümliche Weise. Ich träumte nämlich nicht, und doch war es, als flüstere mir Jemand leise in das Ohr, aber nicht in das äußere, sondern in das innere:

»Wache auf! Ich komme nur für einige Augenblicke wieder, um dir Etwas zu zeigen, worüber du dich herzlich freuen wirst!«

Das hörte ich ganz deutlich. Da schlug ich die Augen auf. Die Sterne leuchteten hell. Ich schaute hinüber, wo Schakara gesessen hatte. Da kniete Einer im Gebete. Er hatte die gefalteten Hände auf die Ballustrade gelegt und das Gesicht emporgehoben. Ich erkannte ihn. Ich sah sogar, daß er die Lippen bewegte. Es war der Aschyk. Ich wußte genau, daß ich wach sei, und doch hörte ich die leise Stimme in meinem Ohre weitersprechen:

»Er betet für dich! Das ist der beste Dank, den wir in Euerm Erdenleben kennen. Schlaf wieder ein!«

Weiter vernahm ich nichts. Die Lider wurden mir plötzlich so schwer, daß sie niedersanken. Dann wußte ich nichts mehr, weder von mir noch von sonst Etwas. Man nennt das »Schlaf«. Das richtige Wort hierfür hat sich erst noch zu finden!

Dann war es, grad auch wie gestern, gegen Mittag, als ich wieder erwachte. Jetzt saß Schakara da. Sie sah mich an, nickte mir lächelnd zu und sagte:

»Noch eine solche Nacht, Effendi, dann ist die Gefahr vollständig überstanden.«

»Hast denn auch du dich ausgeruht?« fragte ich.

»Ich wollte nicht. Dschanneh wacht gern für dich. Ich saß schon hier. Da kam der Aschyk vom Glockenwege herüber. Er hatte Einiges für dich aufgeschrieben und wollte es dir in das Zimmer legen. Er bat so nachhaltig und so rührend, meine Stelle hier einnehmen zu dürfen, daß ich es ihm erlaubte. Bist du mir bös darüber?«

»O nein! Ich wachte auf und sah ihn beten. Dann schlief ich sogleich wieder ein.«

»Und ich kam gegen Morgen wieder, als er fort mußte. Da sagte er mir, daß er für dich gebetet habe. Es sei dann ein Gefühl des Glückes über ihn gekommen, wie fast noch nie in seinem ganzen Leben.«

»Wo ist das, was er für mich aufgeschrieben hat?«

»Ich trug es dem Ustad hinunter, weil du mit solchen Dingen jetzt noch nicht behelligt werden sollst. Horch! Was ist das für ein Rufen im Hofe? Es kommt Jemand, den man begrüßt.«

Sie stand auf und schaute hinab.

»Kara Ben Halef!« fuhr sie fort. »Aber der Reitknecht des Mirza ist nicht bei ihm, sondern ein Anderer. Man sieht ihm an, daß er kein Diener, sondern ein Herr ist, und zwar ein vornehmer. Kara ist stehend abgesprungen; das andere Hedschin aber muß sich legen, damit der Fremde bequem herunter kann. Jetzt kommt der Ustad. Er staunt, doch ist sein Erstaunen ein freudiges. Sie kennen einander. Ihre Begrüßung ist eine herzliche. Jetzt schaut der Ustad herauf. Er sieht mich. Er winkt, daß ich kommen soll. Ich muß also fort, Effendi, werde dir aber bald berichten.«

Sie ging. Es dauerte über eine Stunde, ehe sie wiederkam. Sie hatte dem neuen Gaste die im Wartturme unter Dschafars Wohnung liegenden Gemächer herrichten müssen. Nun sagte sie:

»Es ist ein Hauptmann der kaiserlichen Leibwache. Er besitzt das Vertrauen des Schah-in-Schah und wurde von ihm gesandt, um sich unter den Befehl des Ustad zu stellen. Es kommen hundert Mann der Leibgarde nach, lauter auserlesene Krieger, die hoch im Range stehen. Der Reitknecht des Mirza wird ihr Führer sein, weil er den Weg nun kennt. Kara ist sehr gut aufgenommen und auch mit einem Ehrenkleide beschenkt worden. Er hat ein eigenhändiges Schreiben an den Ustad mitgebracht und der Hauptmann ein ebensolches an Dschafar Mirza. Den Inhalt wird dir der Ustad selbst mitteilen. Jetzt speisen sie. Dann wird ein weiter Außenritt rund um das Tal gemacht, denn der Hauptmann will hinter den Bergen rekognoszieren, weil dies jetzt noch unbemerkt geschehen kann. Die Gegner sollen nämlich erst im letzten Augenblick erfahren, wer er ist und wozu er sich bei uns befindet. Der Ustad wird jetzt nicht zu dir kommen. Ich habe ihm Bericht über dein Befinden erstattet und soll dir sagen, daß du dich als genesen betrachten darfst. Doch hat er Gründe, zu wünschen, daß du noch für krank gehalten wirst. Er läßt dich also bitten, dich den Leuten so wenig wie möglich zu zeigen, bis er dich hier aufsucht und dir Alles sagt. Er gab mir eine große, starke Papierrolle mit, die ich dir herein auf den Tisch gelegt habe. Es sei, um dich zu beschäftigen, meinte er.«

Jawohl, es war eine Beschäftigung, und zwar was für eine! Als Schakara wieder gegangen und ich aufgestanden war, öffnete ich die Rolle, welche aus mehreren größeren und kleineren Blättern bestand. Das erste große Blatt war eine Federzeichnung, welche die jetzige westliche Seite des Sees darstellte, von der Mitte desselben aus gesehen. Unten der Duar, links der Weg nach dem Tale des Sackes und rechts der Pfad nach den Gebieten der Takikurden und der nördlichen Dschamikun. In der Mitte, am Berge aufsteigend, die Ruinen, trotzig, düster, verschwiegen, ohne eine Spur innern oder äußern Lebens. Südlich von ihnen das Haus des Ustad, auf hoher Gigantenmauer, den Stürmen ausgesetzt. Von ihm ausgehend der Glockenpfad hinauf zum Alabasterzelt. Indem ich dieses Blatt betrachtete, kam mir der Gedanke, es zeige viel zu viel und dennoch fehle Alles! Ich griff also zum zweiten.

Was sah ich da? Nicht mehr die massige Materie, sondern an ihrer Stelle das Geistige, das Seelische. Die Veränderung erstreckte sich nur auf die Ruinen, und doch hatte sie alles Fehlende gebracht. Die Hand des Menschen hatte dem Gestein eine andere Gestalt und mit ihr ein neues Leben gegeben. Da, wo jetzt der Landeplatz lag, führten hier sehr breite Stufen durch die geöffnete Mauer nach dem freien Platze, der durch den Wegfall der Etagen entstanden war. Rosen, viele Rosen, nichts als Rosen blühten hier, grad wie drüben vor dem Beit-y-Chodeh. Alle Wege, die es zwischen ihnen gab, führten nach einer gradezu imposanten, prächtigen Säulenhalle, zu deren Bau die sämtlichen Kolossalquader der Ruinen verwendet worden waren. Ich dachte an Baalbek, an den Kailafa von Ellora, an die aztekischen Teocalli; aber alle diese berühmten Bauten schienen von dieser einen Halle in den Schatten gestellt zu sein. Ihr Hintergrund bildete eine hohe, runde, dunkle Nische mit einem Riesenpostamente, welches jedenfalls bestimmt war, eine entsprechend große Figur zu tragen.

Die Halle trug kein eigentliches Dach, sondern, ähnlich wie die schwebenden Gärten der Semiramis, eine zweite, umfangreiche Blumenanlage, aus welcher zu meinen frohen Erstaunen ganz genau jenes kleine Dorfkirchlein emporstieg, dessen Bild in meiner Schlafstube hing, darunter die kindlich einfachen Worte:

»Kirchlein mein, Kirchlein klein,
Könnt so fromm wie du ich sein!
Deine Höhe zu erreichen,
Will ich dir an Demut gleichen.
Kirchlein mein, Kirchlein klein,
So wie du will stets ich sein!«

Man sollte denken, daß diese kirchliche Bescheidenheit sich auf so gigantischer Unterlage gradezu lächerlich habe ausnehmen müssen; das war aber keineswegs der Fall. Es schien mir vielmehr ganz im Gegenteile, als ob es gar nicht anders sein könne. Ein von Gottes Felsen getragenes Menschenwerk wird nur dann lächerlich, wenn es sich mit dem Anscheine brüstet, auch aus Gottes Felsen zu bestehen!

Das war die Mitte des Berges, von dessen Höhe, genau über der Spitze des Kirchturmes, das Alabasterzelt herniederschaute. Auf den beiden Flanken lagen in fruchttragenden Gärten zwei villenähnliche, freundlich blickende Häuser. Unter dem einen war das Wort »Pfarrhaus«, unter dem andern aber »Schulhaus« zu lesen.

Die übrigen Blätter enthielten die architektonischen Risse und Zeichnungen zu diesen drei Gebäuden. Sie interessierten mich dermaßen, daß ich mich sofort hinsetzte und sie zu studieren begann. Zu einer so klaren, liebevollen Beantwortung alter, düsterer Ruinenfragen kann man doch wohl keinen Augenblick lang gleichgültig sein! Ich ließ mich darum nur kurze Zeit durch das Essen stören und saß noch gegen Abend rechnend, messend und kalkulierend da, als der Pedehr kam, um, wie er sagte, mir etwas Wichtiges mitzuteilen.

Es war nämlich ein Bote dagewesen, welcher gemeldet hatte, daß der Scheik ul Islam und Ahriman Mirza gemeinschaftlich und in höchster Eintracht mit einander den hochverdienten Ghulam el Multasim zum Ustad der Taki-Kurden ernannt hätten. Man gebe uns das zu wissen, weil er beim Rennen auch erscheinen werde und dieser seiner Würde entsprechend von uns zu empfangen und zu behandeln sei. Unser Ustad war von seinem Ritte noch nicht heimgekehrt, und so hatte der Pedehr es für geboten erachtet, diese Neuigkeit herauf zu mir zu bringen. Ich sagte ihm:

»Das hat nicht die geringste Wichtigkeit für uns. Man mag diesen »Henker« zum Kaiser von China oder gar zum Dalai Lama ernennen, so ist es uns doch im höchsten Grade gleichgültig. Er kann dem Schicksale, welches er sich selbst bereitet hat, durch keine Spiegelfechterei entgehen. Er griff zum Messer, um mich zu vernichten. Womit man sündigt, damit wird man bestraft. Wir haben es noch hier, unten in der Rumpelkammer. Warten wir ruhig ab, was geschieht!«

Da ging er wieder. Hätte mich Jemand gefragt, warum ich ihn grad mit diesem Bescheide gehen ließ, so wäre es mir wohl nicht gelungen, eine zufriedenstellende Erklärung abzugeben. Es soll vorkommen, daß der Mensch grad dann am klarsten spricht, wenn er sich selbst ein Rätsel ist!

Bald darauf sah ich, daß der Ustad mit dem Hauptmann heimkehrte. Er ließ sich nach dem Abendessen für kurze Zeit bei mir sehen. Wir sprachen nur über den geplanten Kirchenbau; alles Andere wurde vermieden. Doch bevor er ging, sah er mir lächelnd in das Gesicht und sagte:

»Ich belästige dich nicht mit Dingen, die ich verpflichtet bin, auf mich selbst zu nehmen. Du sollst nicht Arbeiter sein bei mir, sondern mein lieber, hochwillkommener Gast, den ich nur dann mit der Bitte um Hilfe belästige, wenn ich sie nötig habe. Die geistige Gastfreundschaft hat genau dieselben Rücksichten zu nehmen wie die materielle. Ich weiß, daß du verstehst, was ich meine, und bin deiner Approbation gewiß!«

Da reichte ich ihm die Hand und antwortete:

»Du denkst da ebenso tief wie richtig. Du fragtest mich früher einmal, wer ich eigentlich sei; jetzt höre ich, daß du es weißt. Wollte man doch endlich einmal begreifen, daß der soi-disant Menschengeist kein Spezialblock ist, an dem die sogenannte Erziehung herummeißeln kann, wie es ihr beliebt! Wir sind mit einander verbunden und dennoch nicht nur Einer. Sobald du mich brauchst, bin ich du!«

Er sah mich an, sann einige Augenblicke nach, nickte dann und sprach:

»Sehr richtig! Du treibst doch immer und immer Psychologie! Bisher war ich mir ein Rätsel. Kamst du, um mich zu lösen?«

»Ein Jeder löse sich selbst! Er hat ja Augen und Ohren und um sich herum eine ganze, ganze Welt, die ihn über sich selbst belehren soll und kann! Jetzt, gute Nacht, mein Freund. Du hast außer mir noch andere Gäste, deren Hände gestalten helfen, was zu gestalten ist. Hoffentlich sind es nur gute!«

»Sie sind es. Mit den bösen rechnen wir in den nächsten Tagen ab. Du hörst, ich psychologiere nun auch!«

Soll ich nun wieder erzählen, daß und wie ich geschlafen habe? Es ist eigentlich eine Schande, von Tag zu Tag sagen zu müssen, daß man erst gegen Mittag aufgewacht sei; aber ich muß dieses Geständnis schon wieder machen, wünsche aber, zum letzten Male. Jedenfalls war mir dieses ausgiebige Schlafen sehr nötig gewesen; der Erfolg bewies es mir. Nun aber war es genug! Ich ging hinab, ohne erst um Erlaubnis zu fragen.

Zu wem? Natürlich zunächst zu Syrr, nach welchem ich mich förmlich sehnte. Wer aber kam da eiligen Schrittes gelaufen? Der Ustad!

»Willst du gleich wieder hinauf!« lachte er. »Schau dir die Welt von oben an! Unten darf man ja noch gar nicht wissen, wie gesund und energisch du bist!«

»Ja, richtig; daran hatte ich gar nicht gedacht! Aber arretiere mich nicht sofort, sondern erlaube mir, Syrr vorher einige Aepfel zu holen!«

»Das werde ich tun, und zwar bringe ich seine Lieblingssorte. Schakara hat sie mir verraten.«

Während er nach dem Garten ging, war es gradezu rührend für mich, zu sehen, wie der Glanzrappe sich darüber freute, daß ich wieder einmal bei ihm war. Er gab mir das nicht etwa in drolliger Weise zu erkennen, sondern so still, so ruhig, fast möchte ich sagen, so innig oder so herzlich, als ob es eine menschliche Anmaßung sei, daß Tiere absolut keine Seele haben sollen. Man pflegt ihnen höchstens sogenannte »psychische Funktionen« zu gestatten. Nun wohlan, die psychischen Funktionen meines Syrr waren ehrlich, aufrichtig und ohne eine Spur von Falschheit oder Verstellung. Hoffentlich ist das bei den Menschenseelen in entsprechend höherem Grade ebenso der Fall!

Als er wiederkam, reichte er Syrr einen der Aepfel hin. Das Pferd roch die Frucht gar nicht einmal an. Es legte die Ohren nach hinten und wich einige Schritte zurück. Der Ustad tat einen zweiten Apfel zu dem ersten und folgte nach. Syrr ging abermals rückwärts, und der Ustad avancierte wieder, ihm die Aepfel hinhaltend. Da drehte sich der Rappe um und hob den hintern Fuß, zum Zeichen, daß er sich nun wehren werde.

»Was? Schlagen will er mich!« verwunderte sich der Ustad. »Er ist also wirklich edler als Assil, der keinen Unterschied macht zwischen mir und dir!«

»Ja. Der höchste Adel zeigt sich eben darin, daß er distinguiert, nicht aber in den Fransen und Quasten, mit denen der Herr ihm Zaum und Sattel behängt. Teilen wir die Früchte zwischen beide Pferde!«

Wir taten es. Der Ustad gab Assil die eine Hälfte; die andere bekam Syrr von mir. Er nahm sie jetzt ohne Weigern, und ich liebkoste ihn dafür. Indem wir dann fortgingen, sagte der Ustad:

»So; nun gehst du wieder hinauf, doch nicht, ohne daß ich dich für deine Folgsamkeit belohnen werde. Du sollst dich am Tage so wenig wie möglich zeigen; aber heut Abend reiten wir im Dunkel mit Kara zusammen nach dem Dschebel Adawa, um zu versuchen, Etwas über die dortige Zusammenkunft zu erfahren. Ist dir das recht?«

»Sogar sehr, falls du glaubst, daß ich nicht zu schwach zu diesem Ritte bin.«

»Zu schwach?« fragte er lächelnd. »Nach einer so ausgiebigen Schlafmützigkeit? Uebrigens wird es interessant, auch wenn wir nichts Neues sehen und hören. Du reitest den Syrr, ich den Assil und Kara den Barkh. Das gibt heimwärts ein Vorrennen, welches uns zeigen wird, wie weit wir in unsern Berechnungen gehen dürfen.«

Ich war mit dem geplanten, abendlichen Ritte natürlich sehr gern einverstanden. Man wird sich erinnern, daß der Fürst der Schatten seine Päderan für heut um Mitternacht nach dem Dschebel Adawa, dem »Berge der Feindschaft«, bestellt hatte, um ihnen seine letzten Weisungen zu erteilen. Zwar kannten wir die Stelle nicht, an welcher diese Unterredung stattfinden sollte, doch bot uns der alte Hollunderbaum, in dem Kara die Agraffe gefunden hatte, einen Halt, den wir benutzen konnten. Als ich das dem Ustad jetzt sagte, antwortete er:

»Das ist ganz derselbe Gedanke, den auch ich verfolgen will. Ahriman Mirza wird kommen, um seine Agraffe abzuholen. Wenn wir uns vorher dort verstecken und ihm dann heimlich nachschleichen, wird er unser Führer sein, ohne es zu ahnen.«

»Aber die Gefahr, in welche wir uns begeben?«

»Gefahr? Wie drollig dieses Wort klingt, wenn man es aus deinem Munde hört! Wo du nicht ängstlich bist, kann ich es doch ebensowenig sein. Uebrigens bewaffnen wir uns gut und legen andere Kleider an.«

»Welche?«

»Die Anzüge vom Schah. Ich habe ja auch einen. Du sagtest, Ahriman Mirza sei genau so gekleidet gewesen. Er wird es wahrscheinlich wieder sein. Ich glaube zwar nicht, daß man uns sehen wird. Aber sollte es doch geschehen, so wird man vermuten, daß wir zu der persischen Begleitung gehören, die mit ihm bei den Taki angekommen ist. Es ist dann sogar möglich, daß man glaubt, er selbst habe – Ah,« unterbrach er sich da, »vielleicht ein guter Gedanke: Ich nehme seine Reitpeitsche mit, in welcher die schwarze Larve steckt! Kommt dann noch die Agraffe dazu, so kann man jede Gefahr in ihr gerades Gegenteil verwandeln, indem man sich für den Aemir-y-Sillan ausgibt. Meinst du nicht auch?«

»Welch eine Idee! Woher mag sie dir gekommen sein? Derartige Gedanken sind niemals Sondergeburten irgend eines menschlichen Gehirnes, sondern sie stammen aus einem verborgenen Zusammenhange, in welchem ihre Resultate vorherberechnet werden und dann einzufügen sind. Tue es, mein Freund, tue es! Ich bin überzeugt, daß du damit einer Absicht folgst, die weiter schaut als wir.«

Er ging, und ich stieg zu mir hinauf. Wie kam es doch nur, daß ich nun während des Tages so oft an diese unsere Verkleidung denken mußte? Ich legte sie an und wieder ab – um sie zu probieren, redete ich mir ein. Der Mensch sieht eben nicht weiter, als er kann! Als Schakara mir das Abendessen brachte, lächelte sie mich verständnisvoll an. Ich hatte mich nämlich schon umgezogen, und sie kannte den Grund, der ihr vom Ustad mitgeteilt worden war.

»Sobald du gegessen hast, wird er kommen, um dich abzuholen,« sagte sie. »Die Pferde werden von Kara heimlich gesattelt.«

»Mein Syrr aber nicht,« fiel ich ein. »Sage ihm das! Ich tue es selbst. Bereithalten mag er das Zeug; angelegt wird es nur von mir.«

Ich hatte meine geladenen Revolver bereitgelegt. Als der Ustad kam, steckte ich sie zu mir. Er war der Verabredung nach gekleidet und hatte den langen Bart unter den Anzug geknöpft und das Haupthaar unter die Lammfellmütze emporgekämmt, so daß beides nicht zu sehen war. Die Reitpeitsche des Mirza steckte im Gürtel. Eben wollten wir gehen, da erschien der Aschyk unter der Tür. Er erschrak, als er uns stehen sah, denn er hielt uns im ersten Augenblicke für wirkliche Perser. Als er uns aber erkannte, rief er aus:

»Allah sei Dank! Fast glaubte ich, Ahriman Mirza sei mit hier! Warum tragt ihr diese Kleidung, Effendi?«

»Um nicht erkannt zu werden, falls man uns sehen sollte,« antwortete ich. »Wir wollen nach dem Dschebel Adawa hinüber.«

»Und ich komme geraden Weges von dorther! Ich bringe zwei wichtige Neuigkeiten, eine schriftliche und eine mündliche. Der Scheik ul Islam glaubt, ich sei hier Euer Gast und komme nur zu ihm, um Euch zu verraten. Ich besitze darum sein Vertrauen und habe Euch aufgezeichnet, was ich heut von ihm erfuhr. Es sind die Orte, an denen losgeschlagen werden soll, sobald der Streich gegen Euch gelungen ist. Auch die Namen der Anführer stehen dabei, lauter fromme, hochangesehene Männer.«

Er reichte auf meinen Wink das Verzeichnis dem Ustad hin und fuhr dann fort:

»Die andere Nachricht wird Euch wahrscheinlich noch mehr erfreuen. Ist Euch ein junger Taki-Kurde bekannt, welcher Ibn el Idra heißt?«

»Sehr gut sogar,« antwortete der Ustad. »Du nennst ihn jung, er sitzt aber schon seit Jahren in der Dschemma. Sein Vater, der reichste Mann des Stammes, ließ ihn in Teheran studieren und dann weite Reisen machen. Er ist unterrichtet, klug und ehrlich. Man sagt, daß er ein heimlicher Gegner des Scheik ul Islam sei und unter den Taki einen nicht unbedeutenden Anhang besitze. Er war schon einigemale hier, mein Gast, und ich meine, daß wir beide Wohlgefallen an einander gefunden haben.«

»Hältst du ihn einer Hinterlist für fähig?«

»Nein, auf keinen Fall.«

»So kann ich dir sagen, daß er eine Unterredung mit dir wünscht.«

»Wann?«

»Heut.«

»Wo? Hier bei mir?«

»Nein. Dazu hat er keine Zeit, wegen der wichtigen Sitzungen, welche die Dschemma jetzt fortwährend hat, sogar heut nach Mitternacht. Auch soll diese Unterredung eine heimliche sein. Er läßt dich bitten, zwei Stunden nach Mitternacht an den Bach des Dschebel Adawa zu kommen, du allein und er allein. Von der Quelle an zählst du die fünfte große Windung des Wassers. Dort steht ein einzelner hoher Baum, unter dem er dich erwarten wird.«

»Sonderbar! Wie kommst du zu diesem Manne? Wäre es ein Anderer, so würde ich einen Hinterhalt befürchten, obgleich ich nicht wüßte, wozu ihm das nützen sollte!«

»Ich kann dir nicht zürnen, wenn du an mir zweifelst. Aber ich darf dir auch nicht antworten, denn ich habe Ibn el Idrak Verschwiegenheit geloben müssen, um Euch nützen zu können. Behalte mich hier, und gib Befehl, daß ich erschossen werde, wenn dir Etwas geschieht!«

»Daß ich ein Tor wäre! Ich glaube dir und ihm und werde also kommen.«

»Ich danke dir! Auch dein jetziger Anzug paßt. Es gibt jetzt am Dschebel Adawa mehr Leben und Verkehr als sonst. Man könnte dich sehen und erkennen. Darum sollte ich dich bitten, nicht deine gewöhnliche Kleidung anzulegen. Ich kam auf einem seiner Pferde herüber. Darf ich wieder zurück, um ihm Nachricht zu bringen?«

»Ja. Sag ihm, daß ich kommen werde, zwei Stunden nach Mitternacht, an die betreffende Stelle. Bin ich verhindert, pünktlich zu sein, so soll er dennoch warten. Ich bleibe nicht aus.«

Hierauf entfernte sich der Aschyk. Auf meinem Tische lag der Chandschar, den ich von Dschafar geschenkt bekommen hatte. Der Ustad sah ihn und fragte:

»Nimmst du den Dolch nicht mit?«

»Nein,« antwortete ich. »Ich wollte, halte es aber nun doch nicht für nötig.«

»So erlaube ihn mir! Ich kann vielleicht in eine Lage kommen, in welcher eine still wirkende Klinge besser ist als ein laut krachender Schuß. Geh jetzt immer hinab. Ich will erst das Verzeichnis vom Aschyk zu mir tragen, um es einzuschließen. Dann komme ich nach.«

Er schob den Chandschar in den Gürtel und ging hinaus. Ich aber steckte fürsorglich einige Lichter zu mir, obgleich ich keinen Grund hatte, sie für nötig zu halten, und stieg dann den Glockenweg zum Weideplatze hinunter, wo ich Kara, persisch gekleidet, bei den Pferden fand.

Assil und Bark waren schon gesattelt, Syrr noch nicht. Ich tat es selbst. Sonderbar! Als ich ihm das Mundstück einschieben wollte, weigerte er sich, seine Zähne zu öffnen. Ich bat ihn; er tat es trotzdem nicht; ihn aber zu zwingen, fiel mir gar nicht ein. Der Ustad kam grad dazu, als ich Kara beauftragte, den einfachen Halfter zu holen.

»Bloß mit Halfter willst du ihn reiten?« fragte er. »Des Nachts? Dort hinüber, wo vielleicht sehr viel davon abhängig ist, daß wir unserer Pferde vollständig sicher sind?«

»Laß Syrr seinen Willen!« antwortete ich. »Ich habe nur nötig, ihn zu dem meinigen zu machen, dann kann uns nichts geschehen. Ein Reiter, der sich weniger auf das Pferd als vielmehr auf die Zäumung verläßt, bringt schließlich auch trotz dieser letzteren nichts fertig. Ein edles Pferd, welches Grund hat, den eisernen Zwang zu fürchten, kann seinen Herrn unmöglich liebgewonnen haben.«

»Fast hättest du gesagt – kann ihn nicht achten!« lächelte der Ustad. »Natürlich denkst du hierbei neben dem Pferde an noch etwas ganz Anderes. Ich kenne dich!«

Syrr bekam also nur den Halfter; dann ritten wir fort, über die Ruinen, an den Steinbrüchen hinunter und dann nach links, wo es hinauf zur jenseitigen Ebene ging, welche der Dschebel Adawa hoch überragte. Der Ustad war schon so oft dort gewesen, daß wir uns auf seine Terrainkenntnis vollständig verlassen konnten.

Er schlug klugerweise nicht die gerade Richtung ein. Wir ritten erst nach Norden und bogen dann in einem rechten Winkel nach Westen. Falls wir nun ja gesehen wurden, hatte es nicht den Anschein, als ob wir von den Dschamikun herüberkämen. Und das war gut. Denn wir hatten noch kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, so bemerkten wir auf der mondbeschienenen Fläche vor uns einen Reiter, welcher zwar stutzte, als er uns erblickte, aber doch nicht aus seiner bisherigen Richtung wich. Er mußte uns begegnen. Wir taten natürlich, als ob auch wir ihn nicht zu scheuen hätten, und hielten still, als er uns erreichte und grüßte.

»Wo kommst du her?« fragte der Ustad.

»Von daher, wo Ihr hinreitet,« antwortete er. »Man sieht Euch doch gleich an, daß Ihr zu Ahriman Mirza gehört. Bringt Ihr gute Nachrichten aus Isphahan?«

»Vortreffliche. Man braucht dort nur noch die Zeit zu erfahren, so fährt der Säbel aus der Scheide.«

»Das klingt gut! Und die Zeit ist mir bekannt. Ich habe sie soeben von dem Mirza gehört und den Massaban von Feraghan entgegenzutragen, welche schon auf dem Wege sind. Wißt Ihr vom Rennen bei den Dschamikun?«

»Wir wissen Alles. Das Fest beginnt am Sonntag. Das Vorrennen findet am Montag statt, und das Hauptrennen wird am Dienstag sein.«

»Das stimmt. Nun aber komme ich mit meiner wichtigen Kunde: Nämlich die Umschließung der Dschamikun findet am nächsten Tage, also Mittwoch, statt. Sie muß am Donnerstag früh vollendet sein. Sobald der Tag graut, schlagen wir von allen Seiten auf sie los. Diese Nachricht habe ich den Massaban zu bringen, und zwar eilig. Darum verzeiht, daß ich nicht länger halten kann!«

Er ritt weiter; wir ebenso. Keiner von uns bezweifelte, daß wir diese hochwichtige Nachricht nur unsern persischen Anzügen zu verdanken hatten.

Nun kam es darauf an, den Gefahren des Gesehenwerdens für uns vorzubeugen. Die Helligkeit erlaubte es nicht, uns etwaigen Beobachtungen vom Dschebel Adawa aus zu entziehen. Unser einziger Schutz bestand in der Vortäuschung, daß wir vom Lager der Takikurden nach dem Berge kämen. Daher umritten wir ihn in einem weiten Bogen, bis wir an seine westliche Seite gelangten, wo auch das Wasser floß, an dem sich Ibn el Idrak einstellen wollte. Dieser Bach war weit hinaus mit Buschwerk besetzt und bot uns also die beste Gelegenheit, uns unter guter Deckung anzunähern. Das glückte uns aufs Beste. Wir folgten den Windungen des Wassers und kamen also auch an diejenige, wo die Unterredung mit Ibn el Idrak stattfinden sollte. Es stimmte, daß ein einzelner, hoher Baum da stand. Nun brauchte der Ustad diesen Ort nicht später erst zu suchen.

Jetzt handelte es sich zunächst um eine verborgene Stelle für unsere Pferde, bei denen ich zu bleiben hatte, weil Kara mit hinauf mußte, um dem Ustad den hohlen Hollunderbaum zu zeigen. Sie sollte sich bald finden. Als wir eine Strecke längs der Südseite des Berges geritten waren, schnitt eine schmale Schlucht tief in die Felsenmassen ein. Sie war nicht offen, sondern durch eine hohe, starke, uralte Mauer abgesperrt, deren obere Kante höchst unregelmäßig verlief, weil die Werkstücke von dort herabgestürzt waren und nun unten wirr durcheinander lagen. Diese Mauer hatte zu ebener Erde eine schmale Toröffnung, auf welche der Ustad zuritt, indem er sagte:

»Das ist die Diwar-y-Mugasa. Weshalb sie so genannt wird, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat sie einst als eine Art von Talsperre gedient. Jetzt ist dieser Ort so verrufen, daß man ihn am hellen Tage meidet, wie viel mehr also jetzt, des Nachts. Du wirst hier ungestörter sein als an jeder andern Stelle, Effendi. Man behauptet, wenn der Teufel eine Seele hole, so schaffe er sie des Nachts hierher, um sie zu zerreißen.«

»Angenehme Wartestation!« lachte ich. »Bei der bekannten Leichtgläubigkeit der frommen Taki-Kurden bin ich da allerdings im höchsten Grade vor menschlichen Besuchen sicher. Andere aber können mich nicht stören.«

Wir stiegen ab, führten unsere Pferde zwischen den Steinen hindurch dem Tore zu und befanden uns, als wir dasselbe passiert hatten, zunächst in einem oben zugebauten Raume, in dem es vollständig dunkel war.

»Daran habe ich nicht gedacht,« fuhr der Ustad fort. »Wir hätten Licht mitnehmen sollen.«

»Habe ich,« sagte ich, indem ich eines aus der Tasche nahm und anbrannte.

Man hatte einen viereckigen, mit einem Dache versehenen Anbau an die Mauer gefügt. Hinten ging eine Oeffnung in die Schlucht; sie war von außen dicht verwachsen. In der Mitte der Dunkelkammer lag eine große Steinplatte. Weiter war nichts zu sehen. Da uns die Vorsicht verbot, die Pferde gleich hier unterzubringen, wo es im unerwünschten Falle weder ein Verbergen noch ein Entrinnen gab, versuchten wir, durch die Oeffnung hinaus in das Freie zu dringen, doch ohne die hindernden Büsche, welche diese Tür verstopften, in auffälliger Weise zu verletzen. Es gelang. Draußen war es halbdunkel, denn die Sterne fehlten dieser schmalen Schlucht, deren Felsenwände ganz beträchtlich in die Höhe stiegen. Es war keineswegs ein einladender Ort, an dem wir uns befanden. Seine Düsterheit stimmte ganz zu der teuflischen Idee, von welcher der Ustad gesprochen hatte. Wir führten die Pferde ein beträchtliches Stück in die Enge hinein und ließen sie sich niederlegen. Dann wurde es für Kara und den Ustad Zeit, ihren Gang nach der Bergeshöhe anzutreten. Ich bat sie, das Gebüsch an der Tür zu schonen, damit wir nicht durch abgebrochene Zweige verraten würden; dann entfernten sie sich. Ich aber setzte mich zu Syrr, doch so, daß ich jeden Nahenden eher bemerken konnte, als er mich.

Es verging Viertelstunde um Viertelstunde. Die Mitternacht kam. Also befanden sich meine beiden Kameraden jetzt wahrscheinlich oben auf ihrem Lauscherposten. War es ihnen gelungen, den Ort der Zusammenkunft zu entdecken? Eben legte ich mir diese Frage vor, da sah ich zwei Gestalten, welche langsamen Schrittes von der Mauer her nach hinten kamen – persisch gekleidet; sie waren es. Da stand ich auf.

»Bleib ruhig sitzen!« sagte der Ustad. »Wir haben über eine Stunde zu warten, ehe ich nach dem Bache gehen kann.«

»Eure Absicht ist nicht gelungen?« fragte ich.

»Nein,« antwortete er, indem wir uns niedersetzten. »Wir lagen gut versteckt beim Hollunderbaum. Da kam Ahriman Mirza mit noch Einem. Wahrscheinlich war dies der Vertraute, den du in unsern Ruinen bei ihm gesehen hast, denn der Mirza hatte sich nicht vor ihm verhüllt. Sie sprachen miteinander, nicht lange und auch nicht laut, doch so, daß wir jedes Wort verstanden.

Ahriman hatte die Reitpeitsche in der Hand. Er mußte erst kürzlich einmal hier gewesen sein, denn er nahm eine Larve aus dem hohlen Baume, die nicht drin gewesen ist, als Kara ihn untersuchte. Er band sie vor das Gesicht und zog dann eine Agraffe aus der Tasche seines Rockes, um sie an die Mütze zu stecken. Dabei sagte er:

„Die habe ich noch von drüben, bei den Dschamikun. Ich fand keine Zeit, sie zu verstecken, weil ich wegen des Scheik ul Islam schnell um den Berg herum zu meinem Pferde mußte. Die hiesige kann also steckenbleiben, vielleicht für immer, denn ich glaube nicht, daß ich sie hier noch einmal brauchen werde. Heut mache ich es kurz. Die Befehle zur Umzingelung am Mittwoch Abend sind schnell gegeben. Dann gehe ich im »Utaq-y-Scheijtan« noch einmal die beiden Dokumente durch, ehe ich dem Scheik ul Islam das seinige in der Dschemma wiedergebe. Jetzt komm! Dieser Lieblingsesel Allahs ahnt gar nicht, daß er sich mit der Unterschrift der Kaiserurkunden vollständig in meine Hand geliefert hat!“

»Sie gingen, und wir krochen aus unserm Versteck hervor, um ihnen zu folgen. Da dies aber höchst leise und vorsichtig geschehen mußte, taten wir es nicht schnell genug und suchten dann vergeblich, eine Spur von ihnen zu sehen oder zu hören. Um wenigstens nicht ganz ohne Resultat zu dir zu kommen, kehrten wir zum Hollunder zurück, aus dem wir die Agraffe genommen haben.«

»Warum? Wozu? Kann das nicht üble Folgen haben?«

»Möglich! Aber ich hatte das Gefühl, daß ich dieses glitzernde Ding nicht steckenlassen dürfe. Ich kenne diese Empfindung; sie hat mich immer richtig geführt. Denke an unsere Anzüge, ohne welche wir von dem Boten jedenfalls nichts erfahren hätten!«

»So mag es sein. Auch ich folge derartigen Eingebungen stets gern. Ist dir der Name Utaq-y-Scheijtan bekannt?«

»Nein. Ich habe ihn noch nicht gehört. Aber ich habe jetzt unterwegs darüber nachgedacht und vermute, daß er hier mit dieser Mauer in Verbindung zu bringen sei. Der Name »Teufelsstube« harmoniert mit dem Aberglauben, daß der Teufel hier die von ihm geholten Seelen zerreiße. Sollte Ahriman Mirza mit diesem Utaq-y-Scheijtan den finstern Raum dort gemeint haben, durch den wir mußten, um hierher zu kommen?«

»Mir kommt dies fast wahrscheinlich vor.«

»Mir ebenso! Er will da die beiden Kaiserdokumente noch einmal prüfen. „Kaiserurkunden“! Also das Allerwichtigste, was man ihm entreißen könnte! Aber entreißen? Nein. Es müßte klüger angefangen werden. Bitte, sprecht jetzt nicht auf mich! Es kommt mir ein Gedanke. Könnte er richtig ausgeführt werden, so wäre er unvergleichlich!«

Er schwieg hierauf, um nachzudenken. Darum waren wir auch still. Nach einiger Zeit sprang er plötzlich auf und sagte:

»Was das nur ist? Es läßt mir keine Ruhe. Komm mit, Effendi! Ich muß vor an die Mauer. Es ist Etwas in mir, was mir sagt, daß Ahriman Mirza bald erscheinen wird.«

Wir gingen mit einander nach vorn, bis zu der mit Büschen besetzten Tür. Wir schoben das Gesträuch mit den Händen zurück, um in den Raum zu treten. Da flüsterte der Ustad:

»Da – da – da, schau! Wie recht die Stimme in mir hatte! Siehst du ihn?«

Allerdings sah ich ihn. Er war soeben gekommen und stand draußen vor dem Eingange, im Sternenschein, um sich umzusehen. Die Reitpeitsche in der Hand, die schwarze Maske vor dem Gesicht, die Agraffe an der Mütze. In seinem Gürtel flimmerte der Griff seines Chandschar, welcher dem meinigen glich. Das war Alles sehr deutlich zu sehen. Da fragte mich der Ustad leise:

»Kennst du die Sage vom Chodem des Menschen?«

»Ja,« antwortete ich ebenso leise.

»Ich weiß, daß der Mirza an diese Sage glaubt, und werde ihn bei ihr fassen. Halte die Büsche zurück, wenn ich zu ihm hineinschlüpfe und auch dann, wenn ich wiederkomme!«

Er nahm die Maske aus dem Peitschengriffe und band sie sich vor das Gesicht. Dann holte er die Agraffe aus der Blechkapsel und steckte sie an die Mütze. Hierauf steckte er auch meinen Chandschar genau so, wie der Mirza den seinigen im Gürtel trug. Und nun wartete er.

Ich wußte nicht eigentlich, was er beabsichtigte, obwohl ich die Bedeutung des Chodem kannte. Chodem ist das persische Wort für »ich selbst«. Die dortigen Metaphysiker aber bezeichnen mit diesem Worte etwas noch Anderes, ungefähr so eine Art dessen, was wir »Doppelgänger« nennen, aber in viel höherem, edlerem Sinne. Sie lehren, daß der Mensch zwar auch einen Geist besitze, den die Seele nach und nach aus den Stoffen des Körpers heraus- und emporzubilden habe, aber dieser rein menschliche Geist sei abhängig und werde geleitet von einem Geiste aus höheren Regionen, der Gott mit seinem eigenen Schicksale dafür verantwortlich sei, daß der ihm anvertraute Mensch seine Bestimmung erreiche. Dieser hohe Geist eigne sich sämtliche Aggregatszustände seines Menschen an und sei also imstande, ihm und auch Anderen persönlich zu erscheinen, und zwar ganz genau in derselben Gestalt und Kleidung wie der Betreffende selbst. Erscheine er Andern, so habe das nichts Schlimmes zu bedeuten; lasse er sich aber vor seinem eigenen Menschen sehen, so sei das ein sicheres Zeichen, daß er ihn für immer verlassen werde, also entweder des nahenden Wahnsinns oder des zu erwartenden Todes. Denn ein Mensch, der von seinem höhern Geiste, von seinem Chodem aufgegeben wird, muß entweder sofort sterben oder in geistiger Nacht langsam versiechen.

Das ist die Sage oder die Lehre, auf welche der Ustad sein jetziges Verhalten stützen wollte.

Ahriman Mirza kam herein. Er brannte ein mitgebrachtes Licht an und ging an die Steinplatte, um es dort fest anzutropfen. Als dies geschehen war, zog er zwei zusammengefaltete, große Papierbogen aus der Tasche, schlug sie auseinander und beugte sich zum Lichte, um zu lesen. Da schob sich der Ustad leise, zwischen Gebüsch und Wand hinein, schlich unhörbaren Schrittes zu ihm hin, bis er hinter ihm stand, und berührte ihn mit der Reitpeitsche. Der Mirza zuckte zusammen, richtete sich schnell auf, drehte sich um und – stieß einen Schrei aus, wie ihn nur der größte Schreck oder gar das wirkliche Entsetzen aus der Lunge zu pressen vermag. Dann stand er starr wie Stein, vollständig bewegungslos.

Mir selbst, der ich doch wußte, woran ich war, erschien die Szene beinahe grauenhaft. An der gespenstigen »Mauer der Vergeltung« – in der »Teufelsstube«, wo der Satan die von ihm geholten Seelen zerreißt – ein kleines Licht, nur zwei, drei Schritte weit schimmernd – ein Menschen- und ein höherer Geist – sich schwarz aus der Schwärze des ringsum herrschenden Dunkels herausgestaltend – nicht nur einander ähnlich, sondern von unbedingt ganz gleicher Wesenheit – der Eine ganz genau das Augenbild des Andern – vom Kopf bis zu dem Fuß herab ein einziges »Ich« und doch in zwei Personen! Wenn es mich dabei wie kalt überlief, wie mochte es da erst dem Mirza zu Mute sein!

Sonderbarer, aber psychologisch doch ganz richtiger Weise gab er seinem Entsetzen nach dem ersten Schrei nicht etwa einen Totalausdruck, sondern er richtete es auf Einzelheiten, die ihn an sich selbst irr machten.

»Meine Agraffe!« rief er aus, mit der Hand nach des Ustad Mütze deutend. »Meine Larve – mein Chandschar – meine Peitsche!«

Seine Finger öffneten sich. Die beiden Papierbogen flatterten zur Erde nieder. Ich sah ihn zittern. Seine Kniee wankten; sie brachen zusammen. Er sank zu Boden, hielt sich am Steine fest, hob die andere Hand abwehrend empor und schrie:

»Mein Chodem – mein Chodem – mein Chodem! Was hast du mir zu bringen?«

Der Ustad antwortete, und seine Stimme klang genau so dumpf wie diejenige des Mirza unter der Larve hervor:

»Keine Krone und kein Kaiserreich! Wähle: Tod oder Wahnsinn!«

»Den Tod? Nicht ihn, nicht ihn! Ich will nicht sterben, nicht sterben! Ich muß leben, leben – leben!«

»So hast du gewählt. Der Wahnsinn sei der Geist, der dich nun packt wie alle deine Schatten! Hinaus mit dir, hinaus! Such Schutz bei deinen Massaban! Knie vor den heiligen Scheik des Islam nieder! Verlaß dich auf die ganze Macht der Lüge! Er hat die Faust soeben ausgestreckt. Er faßt dich beim Genick wie eine tote Katze. Er schleppt dich hin, bis wo der Abgrund gähnt, und schüttelt dich hoch über –«

»Tote Katze, tote Katze!« unterbrach ihn der Mirza, indem er schaudernd aufbrüllte, als er diese seine eigene Drohung hörte. »Du weißt Alles, Alles, Alles! Aber ich mag deinen Wahnsinn nicht; ich will ihn nicht! Behalte ihn hier bei dir; ich aber eile fort, fort – fort!«

Er schnellte sich auf und sprang zur Tür hinaus. Der Ustad hob die Dokumente auf, faltete sie zusammen und steckte sie zu sich. Dann trat er vorsichtig in das Freie hinaus, um dem Fliehenden nachzuschauen.

»Komm, mein Freund!« forderte er mich dann auf. »Komm, wenn du einen Menschen sehen willst, der vor dem Wahnsinn flieht und ihm aber nun ganz unmöglich entgehen kann!«

Ich ging zu ihm hin. Der Mirza rannte, wie von Furien gejagt, geraden Weges in die Ebene hinaus, wo er doch nicht das Geringste zu suchen und zu finden hatte.

»Ist das nicht schon geistige Störung?« fragte der Ustad. »Jeder Andere würde dahin gehen, wo er seine Leute trifft; dieser aber weiß schon nicht mehr, was er tut! Für uns aber ist es geraten, uns schleunigst zu entfernen. Holen wir die Pferde!«

Wir taten es. Dann ritten wir fort, ohne das Licht ausgelöscht zu haben. Der Ustad wollte es so.

Er führte uns um den Berg herum und dann weit gegen Norden, wo wir nicht gesehen werden konnten. Dort stiegen wir ab und setzten uns nieder, denn die Zeit der Unterredung mit Ibn el Idrak war noch nicht da.

Keiner von uns sprach. Ich hatte kaum Raum genug für die Gedanken, welche mir kamen und gingen. Ist es wirklich nur Sage, oder giebt es einen Chodem für Jeden, der ein geistiges Leben führt? Da legte der Ustad seine Hand auf meinen Arm und sagte:

»Du denkst, und ich weiß, worüber. Grüble nicht, sondern warte! Der Mensch ist ja gewöhnt, nur das zu glauben, was er mit seinen körperlichen Augen sieht. Weißt du noch, daß ich Hadschi Halefs Seele durch die besondere Betonung seines vollständigen, langen Namens zurückrief. Hätte ich das nicht getan, so wäre er gestorben, so aber zwang ich ihn, „sich auf sich selbst zu besinnen“, wie man sich leider auszudrücken pflegt. Meinst du vielleicht, daß nur die Seele zu zwingen sei? Warte es ab! Die sogenannte „Erziehung“ zwingt Millionen Geister in Schablonen. Sollte es denn gar so unmöglich sein, von diesen Millionen wenigstens einen einzigen aus dieser Schablone wieder herauszuzwingen?«

Wie das so eigenartig klang! Ich sollte nicht denken, sondern warten. Wer das wohl fertig brächte!

Als die Zeit gekommen war, ritten wir wieder näher an den Berg und dort in eine kleine Bodenvertiefung hinab, die uns vor unberufenen Augen schützte. Dort hatte ich mit Kara zu bleiben. Der Ustad aber ging zu Fuß hinüber nach dem Bach, wo Ibn el Idrak wahrscheinlich schon auf ihn wartete. Ich war nicht ganz ohne alle Besorgnis um den Freund, doch versicherte er, es mit einem ehrlichen Manne zu tun zu haben. Das mußte ich gelten lassen. Natürlich hatte er Larve und Agraffe schon längst wieder abgelegt.

Es verging weit über eine Stunde; da kam er wieder, mit schnellen, kräftigen Schritten, wie Jemand, der eine gute Botschaft bringt.

»Dieser Aschyk ist ein Prachtmensch geworden!« rief er uns zu, noch ehe er uns erreicht hatte. »Ich muß ihn dem Schah-in-Schah unbedingt zur Begnadigung empfehlen, und zwar sofort, wenn wir jetzt heimgekehrt sind. Denn es muß wieder ein Eilbote fort.«

»So hast du also Gutes gehört?« fragte ich.

»Sehr Gutes! Wir müssen noch vor Tages Anbruch daheim sein, damit man deinen Syrr nicht sehe. Darum habe ich mich jetzt nur kurz zu fassen. Unsere Renngegner treffen heut schon ein, um ihre Pferde mit der Bahn vertraut zu machen. Was ich nur ahnte, ist mir jetzt gewiß: Ibn el Idrak hat einen so bedeutenden Anhang unter den Taki, daß er im Stande ist, die Pläne des Scheik ul Islam zu durchkreuzen, und dazu ist er unbedingt entschlossen. Von ihm ist der Gedanke ausgegangen, daß ich Ustad der Taki werden soll, und er hält ihn sogar jetzt noch fest. Der Scheik ul Islam hat ihm aber in schlauer Weise vorgegriffen, um entweder die Ausführung ganz unmöglich oder mich zu einem seiner willigen Geschöpfe zu machen. Seit er seinen Ghulam als Ustad eingeschmuggelt hat, haben mehrere stürmische Sitzungen stattgefunden. Zu ihm halten die denkschwachen Fanatiker, welche Fatima noch über Muhammed selbst setzen, und die jüngeren Babi, die den Kaiser tief unter sich wissen wollen. Das sind unsere Gegner, die sich zunächst am Rennen und dann auch am Kampfe beteiligen werden. Ich will sie einstweilen die Ultra-Taki nennen. Die Andern sind die Friedfertigen. Sie haben uns beobachtet und nie eine Ueberhebung, eine Falschheit bei uns gefunden. Sie verlangen, uns als Menschen achten zu dürfen, nicht aber um des Glaubens willen uns hassen und befeinden zu müssen. Sie wollen Mohammed verehren, aber nicht den Scheik ul Islam anbeten. Sie wollen dem Schah-in-Schah gehorchen und keine willenlose Puppe an seiner Stelle sehen. Sie haben Ibn el Idrak beauftragt, diese ihre Wünsche in der Dschemma vorzutragen, sind aber mit einer so hochmütigen und beleidigenden Rücksichtslosigkeit abgewiesen worden, daß sie beschlossen haben, nun auch ihrerseits nicht die geringste Rücksicht mehr zu nehmen und ihre Wege ebenso heimlich zu gehen wie die Andern. Die erste Folge dieses Entschlusses ist die jetzige Unterredung mit mir. Ich bin mit Ibn el Idrak so aufrichtig gewesen, wie es mir geboten erschien. Er staunte über das, was er erfuhr. Als ich ihm schließlich aber auch noch mitteilte, daß ihr neuer Ustad der blutige, gewissenlose Henker der Sillan sei und daß der Oberste der Schatten Kaiser werden solle, war er ganz außer sich über dieses betrügerische Spiel und nahm sich vor, diese Hinterlist mit gleicher Münze zu bezahlen. Die Ultra-Taki werden also nicht das Geringste von dem erfahren, was die Friedfertigen und Regierungstreuen zu tun gesonnen sind. Der gegen sie gerichtete Schlag wird über sie kommen wie ein Blitz aus wolkenlosem Himmel.«

»Und worin wird dieser Schlag bestehen?« fragte ich.

»Man wird kein Wort gegen den Kampf mit uns sprechen, sie aber im letzten Augenblick einfach sitzen lassen. Greifen sie uns dann trotzdem an, so geschieht ihnen, was sie verdienen. Das sind die allgemeinen Gesichtspunkte; über das Besondere sprechen wir später. Jetzt müssen wir fort, denn der Osten wird schon licht.«

»Also nun der Proberitt! Ich denke, es wird noch Niemand so schnell hinübergekommen sein, wie gegenwärtig wir. Reitet ihr voran!«

»Voran? Warum?«

»Weil ihr mich sonst bald aus den Augen verlieren würdet!« lachte ich.

»Uebermut! Willst du Kara’s Barkh und sogar deinen Assil kränken?«

»Nein. Darum eben bitte ich Euch, eine Vorgabe anzunehmen.«

»So sei es! Aber ich sage dir: Wir wenden, um uns nicht einholen zu lassen, sogar das Geheimnis an, und dein Syrr hat ja keines!«

»Er braucht keins, weil er selbst Geheimnis ist. Macht los! Ich steige nicht eher auf, als bis ich Euch nicht mehr sehen kann; dann aber komme ich!«

Sie schwangen sich über die Bügel, nahmen gleichen Anlauf und ritten in die Ebene hinaus, westwärts, schneller, immer schneller, bis ich sie in fliegenden Galopp fallen sah. Syrr war verwundert. Er sah bald mich an, bald hob er den Kopf, um den Forteilenden nachzuwinden. Er warf ihn auf und nieder; er schüttelte ihn. Er schnaubte; er scharrte den Boden. Er wieherte endlich gar. Da streichelte ich ihn, und sofort wurde er vollständig ruhig. Aber er richtete die Augen unablässig nach vorwärts, wo die beiden Reiter immer kleiner und kleiner wurden.

Nun verschwanden sie. Ich setzte den Fuß in den Bügel. Da drehte Syrr den Kopf herum und ließ jenen tiefen, fast grunzenden Baßton hören, dem man es deutlich anhört, daß er sagen soll: »Na, endlich, endlich, endlich! Aber nun!« Noch saß ich nicht fest, so flog ich schon. Ich brauchte nichts zu sagen, ich brauchte nichts zu tun. Er wollte ja selbst, was er sollte! Ein solcher Ritt läßt sich leider nicht beschreiben. Wenn ich die Augen schloß, war es mir, als ob ich nur so schwebe!

Schon nach einigen Minuten sah ich den Ustad und Kara wieder. Sie ritten noch beisammen. Ich näherte mich ihnen zusehends. Jetzt mußten sie sich umgeschaut und mich bemerkt haben, denn ich erkannte aus den Bewegungen ihrer Pferde, daß die Geheimnisse in Anwendung kamen. Da bog ich mich vor und berührte Syrrs Hals, leise streichelnd. »U – u – u!« machte er und griff sodann in einer Weise aus, als ob die bisherige Schnelligkeit so viel wie nichts gewesen sei. Wir rückten vor, kamen näher, immer näher. Kara war schon zurückgeblieben, denn mein Assil war dem Barkh überlegen. Noch zehn Pferdelängen – noch fünf, noch drei, noch eine – Jetzt hatte ich ihn eingeholt und ritt neben ihm.

»Ma’assalami – lebe wohl, Kara!« lachte ich ihm zu. »Gieb dem Barkh doch das Geheimnis!«

»Ich gab es ja bereits!« antwortete er.

»So komm hübsch langsam nach!«

Syrr wieherte, als ob er diesen Scherz verstanden habe, in sich hinein, schnellte sich mit zwei, drei fast unbegreiflichen Sprüngen über Barkh hinaus, warf den Kopf für einen Augenblick herum, um zu sehen, ob er ihn auch wirklich überholt habe, und nahm dann nur noch Assil in die Augen. Dieser war ungefähr zwanzig Pferdelängen voran.

»Sabah bil-cher – guten Morgen!« rief ich nun dem Ustad zu. »Mach schnell, sonst wird es Tag!«

Er antwortete nur, indem er den Arm in die Luft warf, denn etwas Anderes hätte den Lauf seines Pferdes leicht hemmen können. Dennoch wurden aus den zwanzig Längen fünfzehn – zehn – fünf – zwei  – eine – jetzt hatte ich ihn! – wieder einige federschnellende Sprünge meines Syrr – da war ich voraus –

»Gibst du zu, daß du bald weit hinter mir sein wirst?« fragte ich.

»Warum das ausdrücklich zugeben?« antwortete er.

»Weil ich dann innehalte. Ich möchte meinen Assil nicht kränken. Er schämt sich, wenn er überholt wird.«

»Das ist brav von dir! Ja, dein Syrr ist uns über, sogar weit über. Hemmen wir also den Lauf!«

Indem wir dies taten, holte uns Kara schnell ein. Da war es geradezu rührend, daß alle drei Pferde vor Freude darüber, daß sie nun wieder beisammen waren, laut aufwieherten, eines wie das andere, fast »wie aus einem Munde«, wie man zu sagen pflegt. Und nun sahen wir, wie unglaublich schnell uns dieses Proberennen vorwärts gebracht hatte: Die Ebene war zu Ende; die Berge der Dschamikun lagen vor uns. Wir hatten nur noch hinunter in das Tal und drüben wieder hinaufzureiten, um an den Steinbruchweg und also heimzukommen. So leicht, so schnell kommt der Mensch vom Bösen auf das Gute, wenn er die Kräfte zu benutzen weiß, die ihn nach oben und heim zu tragen haben!

Wir konnten mit dem Resultate dieses Proberittes im höchsten Grade zufrieden sein. Hatten wir uns schon vorher nicht vor dem Rennen gefürchtet, so waren wir nun vollständig überzeugt, wenn nicht alle, so doch wenigstens die Haupttouren sicher zu gewinnen. Bei uns angekommen, sorgten wir zunächst für die herrlichen Tiere; dann trennten wir uns. Ich ging sogleich schlafen und wachte erst am späten Morgen auf.

Als Schakara mir das Frühstück brachte, sagte sie mir, daß noch während der Nacht ein Eilbote des Schah gekommen und dann mit der Antwort des Ustad wieder fortgeritten sei. Er habe sich absichtlich so gekleidet gehabt, daß Niemand erraten konnte, wer oder was er sei. Der Herrscher hatte nichts weiter als den Befehl geschickt, womöglich Blutvergießen zu vermeiden. Der Ustad war erfreut gewesen, bei dieser Gelegenheit dem Schah zunächst das von dem Aschyk erhaltene Verzeichnis und sodann auch die heut nacht erlangten beiden Kaiserdokumente senden zu können. Damit waren der Scheik ul Islam und Ahriman Mirza ein für allemal vernichtet. Und zugleich hatte er auch ein Gnadengesuch für den Aschyk beigelegt. Ich dachte, als ich dies hörte, an seinen Ausspruch, daß der Aschyk ein prachtvoller Mensch geworden sei. Er hatte sich hierüber nicht weiter geäußert; nun aber erfuhr ich von Schakara, daß der Aschyk sich Ibn el Idrak freiwillig zur Verfügung gestellt und eine gradezu erstaunliche Geschicklichkeit und Ausdauer entwickelt habe, die Taki zu überzeugen, daß man durch lichtscheuen Ungehorsam gegen den Schah nichts als den eigenen Untergang erreiche. Uebrigens sei der Ustad der Meinung, daß die dortigen Ultra’s den Mut nicht haben würden, den sie zeigten, wenn sich nicht grad jetzt der Scheik ul Islam, der Mirza und die Gul-i-Schiras bei ihnen befänden, in deren Interesse es liege, diese Leute in ihrem stupiden Fanatismus zu bestärken.

Ich war noch nicht draußen auf meinem Freidache gewesen. Jetzt bat mich Schakara, mit ihr hinauszukommen, weil sie mir Interessantes zu zeigen habe. Sie meinte da zunächst ein großes, herrschaftliches Zelt, welches, schon fast fertig, drüben in den Ruinen errichtet worden war. Nicht weit davon sah ich andere Leute beschäftigt, ein zweites, auch großes, aber nicht so prächtiges herzustellen. Auf meine Frage, für wen diese beiden Zelte seien, antwortete sie:

»Das so schön ausgeschmückte ist für die Gul-i-Schiras bestimmt. Sie handelt da jedenfalls im Auftrage des Ahriman Mirza, der hierdurch der Besetzung der Ruinen durch die Taki vorauskommen will. Ihre Leute kamen schon kurz nach Tagesanbruch hier an, um den Bau sogleich zu beginnen. Der Scheik ul Islam scheint so etwas gewußt oder wenigstens geahnt zu haben, denn er hat sich beeilt, auf diesen Schachzug einen ähnlichen zu tun. Seine Diener kamen mit dem zweiten Zelte, und wie du siehst, wird sich nun die himmlische Tugend eng neben dem irdischen Laster niederlassen, und zwar beide, ohne uns vorher um unsere Ansicht hierüber gefragt zu haben.«

»Will das der Ustad dulden?«

»Er wartet noch. Kommt seine Zeit, so wird er zu handeln wissen. Und nun schau dort hinaus, jenseits des Sees! Da baut man ein drittes, großes Zelt. Das ist für Ahriman Mirza. Er hat, auch ohne zu fragen, diese Stelle gewählt, weil seine Schatten und Massaban von jener Seite heranziehen werden. Der Anfang zu der Umzingelung wird also schon heut gemacht. Aber ebenso von heute an sind auch schon unsere nahen und fernen Posten ausgestellt, welche dafür sorgen, daß wir jede feindliche Annäherung rechtzeitig erfahren. Die sämtlichen Dschamikun stehen bereits unter Waffen, wenn sie es auch nicht sehen lassen, die hiesigen wie auch die auswärtigen. Ebenso auch die Kalhuran, mit denen wir verbündet sind. Sie haben bereits ihre besten Reiter und Rennpferde gesandt. Da schau hinab, wie sie schon üben! Was der Ustad für einen Verteidigungsplan entworfen hat, das weiß ich nicht; aber er sagte mir, ich solle Marah Durimeh nicht um Hilfe bitten; wir seien stark genug. Diese Zuversicht ist höchst beruhigend. Ich habe aber trotzdem einen Boten an sie gesandt, und ihre noch nie besiegten, wohlgewappneten Reiter werden zur rechten Zeit erscheinen. Du weißt ja,« fügte sie lächelnd hinzu, »die Seele ist selbst dann noch gern für den Geist besorgt, wenn er meint, seiner Sache vollständig sicher zu sein!«

Eben als sie dies sagte, bemerkten wir eine lebhafte Bewegung, welche sich schnell über den ganzen Duar verbreitete. Die Ursache war ein jetzt aus dem Osten angekommener Reiter, welcher allen, die es hören wollten, eine Neuigkeit verkündete und dann herauf zum hohen Hause lenkte. Als er durch das Tor kam, erkannten wir ihn. Es war der Reitknecht unseres Dschafar Mirza. Er hatte der Hilfe des Schah als Führer gedient und war ihr eine Strecke vorausgeritten, um zu melden, daß hundert Mann der Ghulman-i-Schahi im Anzuge seien. Er brachte das Pferd des Hauptmanns mit. Zu gleicher Zeit kam die Gul-i-Schiras mit ihrem Hofstaate auf unserm gestrigen Wege links heraufgeritten, und in kurzem Abstande folgte ihr der Scheik ul Islam mit seinem hochtrabenden weltlichen und geistlichen Stabe. Sie ritten direkt nach den Ruinen, von denen sie Besitz ergriffen, als ob sie da zu Hause seien. Ihre Rennpferde wurden ihnen nachgeführt.

Schon nach einigen Minuten schien sich zwischen den beiden Parteien ein Streit über den Platz entspinnen zu wollen, kam aber für dieses Mal nicht ganz zum Ausbruche, weil die Aufmerksamkeit der sich Entzweienden nach Osten abgelenkt wurde, wo jetzt die Leibwache auf der Bildfläche erschien. Diese außerordentlich gut berittenen und bewaffneten, glänzend uniformierten Hundert erregten Verwunderung. Wie kam der Ustad zu der noch nie dagewesenen Auszeichnung, vom Kaiser eine so direkte Unterstützung zu empfangen?! Aber diese Verwunderung verwandelte sich wohl gar in Schreck, als hinter dieser Leibkavallerie noch ein Artilleriezug von zwanzig Zambureks erschien, dem eine ganze Reihe Bagage und Munition tragender Kameele folgte. Zwanzig Kanonen! Wenn auch nur so kleine! Wenn solche Abwehrmittel den Dschamikun zur Verfügung standen, so war es doch wohl nicht so leicht, mit ihnen anzubinden, wie man gedacht hatte! Und wozu oder warum waren dem Ustad diese Truppen geschickt worden? Er wußte doch nicht das Geringste von dem geplanten Angriff gegen ihn! Er sollte doch vollständig überrascht werden! Sollte er doch vielleicht Etwas erfahren haben? Aber von wem? Es galt vorsichtig zu sein! Vor allen Dingen gegen die eigenen Verbündeten!

Jetzt stieg der Hauptmann hier oben zu Pferde, um hinabzureiten und die zwar kleine, aber kriegerisch gewichtige Schar zu empfangen und seinen Absichten gemäß unterzubringen. Ihre Ankunft hatte auch da draußen bei Ahriman Mirza Aufsehen erregt. Er kam am See herbeigeritten, anscheinend um der Prinzessin seinen ersten Besuch in ihrer neuen Wohnung zu machen, denn er hatte sein Gefolge bei sich, genau dieselben Personen, die am Sonntag voriger Woche drüben am Beith-y-Chodeh mit ihm unser Fest gestört hatten. Das war eine Art von Demonstration, die wir ihm gönnen konnten, da er uns unvorsichtiger Weise durch sie verriet, daß seine Unteranführer bei ihm angekommen seien. Er ritt, ohne im Duar anzuhalten, direkt nach den Ruinen. Als er vor dem Zelte abstieg, kam die Gul heraus, ihn zu begrüßen. Hierbei sah ich sie zum ersten Male. Sie führte ihn hinein. Seine Begleiter blieben im Freien. Nach einiger Zeit ließ man den Scheik ul Islam kommen. Auch er verschwand in dem Zelte.

Nun bemerkte ich erst, daß Syrr nicht zu sehen war. Ich fragte Schakara nach ihm, fast beschämt über diese meine Unaufmerksamkeit. Man hatte ihn im Garten untergebracht, damit er von den Zelten da drüben aus nicht gesehen werden könne. Ich bat meine »Seele«, ihn ja gut zu versorgen.

Jetzt traten die drei hohen Persönlichkeiten wieder aus dem Zelte und gingen mit einander quer durch die Ruinen, dem Glockenwege zu.

»Sie wollen herüber zu uns!« sagte Schakara. »Das muß ich dem Ustad augenblicklich melden. Unser liebes Haus muß rein von solchem Zuspruch bleiben! Er wird sie abweisen!«

»So bitte ihn, dies womöglich hier unter meinem Dach zu tun. Ich möchte die Gul kennen lernen und darum gern hören, was und wie sie spricht.«

Schakara eilte hinab. Ich beobachtete die Nahenden, doch so, daß sie mich nicht sahen. Die Prinzessin war eine hohe, volle Gestalt. Sie hatte ihre Kleidung überreich mit Schmuck beladen. Einen Schleier trug sie nicht, hatte sich also von der in ihrem Kreise gebotenen, schamhaften Zurückhaltung emanzipiert. Ihr Haar war vorn abgeschnitten und bedeckte die Stirn, ganz nach Art unserer sogenannten Simpelfransen, zuweilen auch Ponyfrisur genannt. Die persischen Haremsfrauen lieben es nämlich sehr, ihrem Gesichte hierdurch einen zwar geistlosen, dafür aber um so begehrlicheren Ausdruck zu geben.

Hinten hingen die Zöpfe fast bis auf den Boden herab. Sie waren mit goldenen Schnuren, Fransen und Trotteln durchflochten, also sehr wahrscheinlich nicht echt. Bezeichnenderweise trug sie in der Hand eine Reitpeitsche, ganz so, wie Ahriman Mirza auch. Sie schwippte mit derselben im Gespräche bald hin und bald her und war überhaupt in allen ihren Bewegungen so lebhaft, so bestimmt und so gebieterisch, so wegwerfend und, ich möchte sagen, so keck, wie ich bisher noch keine einzige Orientalin zu sehen bekommen hatte.

Sie erreichten die Pferdeweide und blieben einige Zeit bei Assil, Barkh und Sahm stehen. Sie sprachen dabei sehr lebhaft über die Pferde. Was, das konnte ich nicht hören, aber ihren Gestikulationen nach konnte es nicht sehr lobend sein. Da trat die Prinzessin zu Assil heran und faßte ihn am Maule, um es zu öffnen und seine Zähne zu sehen. Er wollte das nicht dulden. Da schrie sie ihn zornig an und schlug ihn an die Ganaschen. Im nächsten Augenblicke lag sie am Boden, von einer kräftigen Kopfbewegung des Rappen niedergeschleudert. Sofort sprang Ahriman Mirza hinzu, hob die Peitsche empor und holte aus, um ihn zu züchtigen – kam aber nicht dazu. Assil war schneller als dieser Mensch. Er machte eine blitzschnelle Schwenkung, warf sich hinten in die Höhe und schlug nach ihm aus. Der Huf traf den Kopf des Persers, welcher mit einem lauten Schrei zusammenbrach. Der Hengst wieherte herausfordernd auf und stellte sich zur weiteren Gegenwehr bereit. Der Scheik ul Islam aber und auch die Prinzessin, welche sich wieder aufgerafft hatte, traten zu Ahriman hin, um zu sehen, mit welchen Folgen er getroffen worden sei. Er stand mit ihrer Hilfe wieder auf, hielt aber den Kopf in beiden Händen. Es schien glücklicher Weise nur ein Streifhieb gewesen zu sein. Der Kopf wurde betastet, begutachtet und endlich wieder freigegeben. Dann setzten sie den unterbrochenen Weg zu uns fort, sichtlich im höchsten Grade erzürnt, aber langsam, sehr langsam, weil Ahriman nur schwankend und nicht schneller gehen konnte.

Schakara hatte den Ustad geholt. Sie standen mit einander grad unter mir und hatten den Angriff auf das Pferd und dessen Verteidigung gesehen. Nun kamen die Drei heran. Sie blieben vor ihnen stehen. Ein eigenartiges Zusammentreffen! Es wurde zunächst kein Wort gesprochen; aber Auge tauchte sich in Auge. Dann begann die Prinzessin zu fragen:

»Von wem werden wir hier empfangen? Wer bist du?«

Ihre Stimme klang hart, hochmütig, verächtlich.

»Ich bin der Ustad der Dschamikun,« antwortete er gelassen.

»Und wer ist das Geschöpf an deiner Seite?«

»Geschöpf?« wiederholte er ihren beleidigenden Ausdruck, aber lächelnd. »Ja, du hast recht gesagt, ohne es zu wollen: Sie ist ein Geschöpf Gottes, des Allerhabenen, des Allreinen; sie wurde von ihm erschaffen in seiner Weisheit und Güte. Du aber bist kein Geschöpf. Du wurdest nicht von dieser Weisheit und Güte erschaffen, sondern von sündigen Menschen in Sünde erzeugt und geboren. Darum wird sie, die körpergewordene Reinheit der Frauenseele, sich jetzt von uns entfernen, weil die Tugend geht, sobald das Laster naht!«

Er trat zur Seite, um Schakara an sich vorüberzulassen. Sie senkte errötend das liebe Gesicht und ging. Die Prinzessin schien vor Erstaunen über diese Verwegenheit keine Worte finden zu können. Sie schnappte förmlich nach Luft. Ihre Augen funkelten; ihre Lippen bebten; die Peitsche zitterte in ihrer Hand; die Antwort aber blieb aus. Da nahm sich der Scheik ul Islam der Beleidigten zornig an:

»Du scheinst nicht zu wissen, wen du vor dir hast. Diese hochgeborene, edelgepriesene Fürstin ist unsere allverehrte Schahsadeh Khanum Gul, welche gekommen ist, dich mit ihrer beglückenden Gegenwart zu erfreuen.«

»Das weiß ich wohl. Ich weiß sogar noch mehr, nämlich daß auch du sie kennst und dich trotzdem nicht schämst, ihre Gegenwart beglückend zu nennen. Wehe dem Volke, dessen geistliche Väter, deren Obersten einer du bist, sich mit den Töchtern des Fleisches verbinden, um dann die Männer beherrschen zu können! Scheik des heiligen Islam lässest du dich nennen? Und nimmst dich, schlau berechnend, des geraden Gegenteils von heilig an? Erscheint dir die Schande nur deshalb so verdienstlich, weil du sie durch die goldene Naddara betrachtest, mit welcher du leichtsinnige Köchinnen zu belohnen pflegst? Dort steht die Tür zu meiner Küche offen. Deine Freundin Pekala und dein Vertrauter Tifl sind bereit, den Segen des heiligen Mannes und des unheiligen Weibes zu empfangen! Du brauchst dich ihnen nicht wieder in der Demut des Schreibers zu nahen. So dumm sie sind, als Meisterstück des Islam erkennen sie dich an!«

Sein Gesicht erbleichte. Er krallte mit den Händen in seinen langen, dünnen Bart, als ob er sich da festhalten wolle. Er stand wie ein Schulknabe da, der Prügel bekommen hat und sich noch extra dafür bedanken soll. Eine Erwiederung fand er nicht. Dafür aber ergriff nun der Mirza des Wort. Er hatte sich mit den Händen wiederholt nach der schmerzenden Stirn gegriffen. Jetzt sammelte er sich und brach los:

»Mensch, was ist mit dir, daß du es wagst, in dieser Weise mit uns zu reden! Die Allerhöchsten des ganzen Reiches stehn vor dir! Ist denn hier bei Euch Alles verrückt geworden, die Menschen sowohl wie auch die Tiere? Wir sind es nicht gewöhnt, daß jede Bestie nach uns schlägt! Sei froh, daß ich jenes Vieh dort nicht sofort erschossen habe!«

Er zog bei diesen Worten als nachträgliche Drohung seine Pistole halb aus dem Gürtel. Da schüttelte der Ustad lächelnd den Kopf und sagte:

»Heb diese deine Kugel für Euren Iblis auf! Es ist doch –«

»Iblis?« unterbrach ihn da der Mirza schnell. »Wer hat dir verraten, daß ich den Iblis, den Unbesieglichen, mitgebracht habe? Wer, wer?«

Da bohrte sich des Ustad Blick in seine Augen, und langsam, schwer, bedeutungsvoll erklang die Antwort:

»Dein eigener Chodem sagte es dem meinigen!«

Da fuhr sich der Mirza mit beiden Händen schnell wieder an den Kopf und rief aus:

»Mein Chodem – Chodem – Chodem! Auch hier wieder, auch hier! Warum läßt er mir seit dieser Nacht keine Ruhe! Ich bin doch fort von ihm! Ich habe ihn stehen lassen! Warum läuft er mir nach, überall, überall! Warum dieser Schlag des Pferdes an meinen Kopf! Der war von ihm, von ihm! Ich soll wahnsinnig werden, verrückt, verrückt! Ich werde es auch, wenn er mir keine Ruhe läßt. Fort, fort! Ich lasse ihn wieder stehen! Mag verrückt werden, wer da will, aber nur nicht ich, nicht ich!«

Er drehte sich um und lief von dannen, »mit gleichen Beinen,« wie man zu sagen pflegt, mehr als eilig und immer mit der Peitsche um sich herumfuchtelnd, über die Weide – aber dann nicht nach dem Wege – sondern er kletterte, als ob er gejagt werde, gleich an der Mauer nach den Ruinen hinunter – rannte nach dem Zelte der Khanum Gul, warf sich dort auf sein Pferd und jagte derart davon, daß ihn sein sofort auch aufbrechendes, verwundertes Gefolge unmöglich einholen konnte.

Was aber die Prinzessin und den Scheik ul Islam betrifft, so machten auch sie sich wieder von dannen, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, Beide besiegt und beschämt, wie vielleicht in ihrem ganzen Leben noch kein einziges Mal. Dann schaute der Ustad herauf zu mir und fragte:

»Denkst du noch an meine Worte? Dieser Geist beginnt bereits seine Schablone zu verlassen. Wie bald, so haben wir es nur noch mit einem stupiden Menschen zu tun. Das ist das Schicksal aller Fürsten der Schatten!«

Er kehrte in das Haus zurück, und ich kam mit ihm heut gar nicht mehr zu sprechen. Seine Zeit war zu sehr in Anspruch genommen, doch ließ er mich durch Schakara über alle Geschehnisse schnell und ausführlich unterrichten!

Zu meiner Ueberraschung wurde mir heut das Mittagessen nicht von ihr allein gebracht. Pekala kam mit. Sie hatte das gewünscht, um mir Etwas mitteilen zu können. Da stand sie nun vor mir, glühend vor Verlegenheit und nach den passenden Worten suchend. Als ich ihr Mut machte, begann sie endlich:

»Effendi, ich bitte dich, es mir zu glauben: Ich dachte, daß es eine Madama sei, eine echte, richtige, wirkliche Madama! Sie war ja so dick! Aber als sie sich in der Küche niedersetzte, gleich auf den Boden, mit einem solchen Plumps, da nahm ich ihr das Tuch vom Kopfe und – und – und da erschrak ich so fürchterlich, daß ich ganz gewiß auch niedergefallen wäre, wenn ich mich nicht an ihr festgehalten hätte – nein, nicht an ihr, sondern an ihm, denn sie war ein Mann. Denke dir! Und sie hatte solchen Hunger! Und er aß so schön, und so schnell, und so viel! Und dann schlief sie ein! Und dann aß er weiter und schlief wieder ein! Sie aß mir fast Alles weg, was ich für Andere machte, denn er war ganz ausgehungert von der Reise. Nun ist sie endlich satt, und weil es ihm bei mir so schmeckt, sind wir mit einander übereingekommen, daß wir uns niemals, niemals wieder trennen werden. Was sagst du dazu, Effendi? Bist du einverstanden?«

»Du bist doch deine eigene Herrin und kannst also machen, was du willst!«

»Das weiß ich wohl. Und ich würde mir auch nicht dreinreden lassen; aber die Höflichkeit erfordert doch, daß ich wenigstens so tue, als ob ich frage. Darum bin ich schon beim Ustad gewesen. Er hat mich freigegeben, vollständig frei. Nun komme ich auch zu dir. Lässest auch du mich gehen?«

»Sehr gern!«

»Aber ich komme nicht wieder, gar nicht!«

»Das wünsche ich auch!«

»So! Also auch du! Ich dachte, man würde weinen. Aber es fällt keinem Einzigen ein, es zu tun. Und ich habe doch so gut gekocht! Darum räche ich mich. Ich gehe nämlich sofort. Agha Sibil hat einige Retourkamele nach Isphahan zu schicken. Da setzen wir uns auf, ich, mein Kepek und auch mein Tifl. Es geht schon in einer Stunde fort. Mein Kepek hat seit heut früh immerfort gegessen und wird es also aushalten bis zur nächsten Station. Ich will also Abschied von dir nehmen, für immer und für ewig, und reiche dir meine Hand!«

»Behalte sie! Sie gehört nicht mir, sondern deinem Kepek, für immer und für ewig.«

Diese völlige Gleichgültigkeit schien sie zu erzürnen. Sie ging nach der Tür, blieb dort noch einmal stehen und sagte:

»Es gibt hier Keinen, der ein edles Frauenherz begreift. Mein Kepek ist der Einzige. Aber der Ustad hat mir meinen Lohn gegeben und auch noch ein großes Bakschisch dazu. Nun bin ich mit Euch allen quitt und mag nie wieder Etwas von Euch wissen. Mich seid Ihr los, ganz gründlich, gründlich los!«

So ging sie hinaus.

Wie das so schnell gekommen war! Ob ein Aschyk oder ein Kepek, ist ganz gleich; nur die Kochkunst muß er bewundern, und erziehen muß er sich lassen! Auch eine Art derjenigen weiblichen Wesen, welche sich rühmen, die »Seelen« oder gar die »Engel« ihrer Männer zu sein! Genau eine Stunde später sah ich, daß ihre Sachen hinunter nach Agha Sybils Zelt geschafft wurden. Dann gingen sie selbst, Pekala an ihres Kepek Seite, eine voluminöse Eßwarenliebe, voran Tifl, der dünn Aufgeschossene. Nicht lange Zeit hierauf humpelten die Lastkamele aus dem Duar, welche die »Festjungfrau« mit ihrem neuen, erkochten Glück von dannen trugen. Kein einziger Dschamiki gab ihnen das Geleite. Das war die ganz natürliche Folge ihrer unbedachten Schwätzereien!

Am Nachmittag erfuhr ich durch Schakara, daß der Ustad den geheimen Weg vom Allerheiligsten auch untersucht hatte. Er war sogar auch unten im Bassin gewesen, hatte mir aber nichts davon mitgeteilt, um mich nicht über ihn zu beunruhigen.

Ich hatte mir die Dschamikun in einer gewissen, nicht sehr hohen Zahl vorgestellt. Als sie sich aber heut, am Vortage der morgenden Feier, einstellten, einzeln, in größeren Trupps und in ganzen Scharen, sah ich zu meinem Erstaunen, wie dicht bevölkert diese so abgelegene Gegend war und wie bedeutend der geistige Einfluß, den der einsame Duar rundum gewonnen hatte. Man sah die Zelte, Jurten, Laubhütten und offenen Lager überall und eng aneinander entstehen. Sie bedeckten nach und nach das ganze Tal, stiegen an allen Höhen empor, krochen unter die Bäume der ringsum ragenden Wälder und kletterten über die Berge hinüber, um sich über die Hochebene dort weit auszubreiten. Man hatte mir nicht zuviel gesagt; es kamen Tausende, und selbst als es schon dunkel geworden war, hörte dieser Zufluß noch nicht auf.

Am Abend ließ der Ustad mir sagen, daß ich möglichst zeitig schlafen gehen möge, weil er beabsichtige, mit mir in frühester Morgenstunde auszureiten. Ich tat es und erwachte, als es noch nicht vier Uhr morgens war. Der Tag begann, leise zu grauen. Von meinem Vorplatze aus sah ich, daß er schon unten bei den Pferden war. Er sattelte die Sahm. Daher beeilte ich mich, zu ihm hinabzukommen, wo ich erfuhr, daß ich den Syrr reiten sollte. Sitz und Halfter lagen schon bereit; ich brauchte beides nur an- und aufzuschnallen.

»Heut wirst du die Sahm kennen lernen,« sagte er. »Dein Assil hat sie besiegt. Wollen aber sehen, wie du nach einigen Stunden hierüber denkst.«

»Stunden?« fragte ich, denn ich bemerkte, daß die Satteltaschen mit Proviant gefüllt waren. »Willst du an diesem Gedenktage so lange von hier fortbleiben?«

»Hierüber später,« antwortete er, indem er aufstieg.

Ich folgte diesem Beispiele; dann ritten wir – nicht etwa durch das Tor oder über die Ruinen, sondern den steilen, schmalen Glockenweg empor zum Alabasterzelt, er voran, ich hinterher, ein nicht ganz ungefährlicher, aber wunderbarer Ritt!

Das Tal war noch nicht erwacht. Kein Mensch schaute zu uns empor. Die Sahm ging unter ihm so leicht, so sicher, als ob sie Flügel habe und ausgleiten dürfe, ohne je zu stürzen. Und Syrr? Er tat, als ob er jeden Schritt dieses kühnen Weges kenne. So fest und dabei so elastisch federnd stieg doch die Stute nicht!

Hoch oben wich der jetzige Pfad von dem früheren ab, welcher quer über die schon einmal erwähnten, lockern Geröllmassen geführt hatte. Diese waren in Bewegung gekommen und hatten sich so weit vorgeschoben, daß sie in die Tiefe zu stürzen drohten.

»Das macht mir schwere Sorge,« sagte der Ustad. »Dem Zelte zwar kann nichts geschehen, denn es steht auf unerschütterlichem Felsen; aber wenn diese gewaltigen, haltlosen Massen rechts und links von ihm aus irgend einem Grunde einmal in Schuß geraten, so steht für die Ruinen da unten eine Katastrophe bevor, der sie nicht widerstehen können. Ich vermute, dann ist es mit der ganzen, steinernen Vergangenheit zu Ende! Ich nehme an, daß du gern hin zum Zelte möchtest, bitte dich aber, für heute zu verzichten. Da, schau, es ist von Holzstößen umgeben, welche angebrannt werden sollen. Das muß man von unten aus sehen, nicht von hier.«

Wir ritten also von weitem vorüber, bis auf die zurückliegende, höhere Kuppe des Berges, von welcher aus man das ganze Gebiet der Dschamikun im ersten Morgenlichte liegen sah.

»Mein liebes, kleines Reich!« sagte er. »Man will es mir nehmen. Wie töricht das ist! Fast eine Hanswurstiade! Man zieht von allen Seiten bewaffnet gegen uns heran. Darum starren nun auch wir in Waffen; mein guter, kriegerischer Chodj-y-Dschuna hat es so gewollt. Wie überflüssig! Die Rädelsführer befinden sich ja ganz in meinen Händen. Ich brauchte sie nur festzunehmen und abzuliefern, wie ich die Beweise abgeliefert habe. Aber wie mich die Liebe der Meinen gezwungen hat, zu der heutigen Gedenkfeier ein Ja zu sagen, so will ich ihnen auch den Willen lassen, zu zeigen, daß sie nicht nur in guten, sondern auch in gefährlichen Tagen treu zu mir stehen. Es würde von mir undankbar sein, ihnen die Vorfreude auf den Sieg zu zerstören. Aber für heut verlasse ich sie. Wir kommen erst am Abend wieder. Man mag gegen mich schreien und zetern, gegen mich schreiben und sprechen, gegen mich lügen und schwindeln, fälschen und verzerren, fabeln und fingieren – ich weiche keinen Schritt, keinen einzigen, von dem Platze, den mir der Unverstand nicht gönnen will. Aber wo ich gelobt oder gar gefeiert werden soll, da ist meine Stätte nicht. Die Erfahrung hat mich gewitzigt. Ich kenne das Lob der Menschen, welche nur rühmen, um auszunützen. Die Huldigung wird schnell zur Eloge, der Triumphbogen zum kaudinischen Joch, welches den soeben Gefeierten zwingt, beim nächsten Schritte den stolzen Nacken vor ihnen zu beugen. So lobte mich der Scheik ul Islam gegen dich, damit ich seine Kreatur, der Prügeljunge seiner Partei werden möge. Die Liebe meiner Dschamikun ist zwar echt; sie kommt direkt aus vollen, ehrlichen Herzen und scheut sich keinen Augenblick, sich für mich aufzuopfern. Die Dankbarkeit eines Jeden von ihnen ist für mich reines, lauteres Gold; ihr Wert tut meinem Herzen wohl, wenn es im Stillen zu mir kommt, wie der Duft von einer Blume, die nicht redet. Heut aber will man mir öffentlich danken. Tausende wollen sprechen, laut, nur von mir, von mir! Das ist grad das Gegenteil von dem, wonach ich strebe! Ich konnte die Erlaubnis zu diesem Feste nicht verweigern; aber als ich sie erteilte, wußte ich, daß ich heut nicht daheim sein dürfe, weil es mir eine Profanation dessen bringt, was ich im tiefsten Innern sorgsam pflege. Darum bin ich geflohen.«

Ich wollte eine Bemerkung machen, doch schnitt er sie mir schnell ab, indem er fortfuhr:

»Habe keine Sorge! Ich bin nicht leichtsinnig gegangen, denn ich weiß am Besten, wie nötig ich grad jetzt da unten bin. Es ist Alles wohl besorgt. Der Umstand, daß ich mich scheinbar ganz unbedenklich entfernt habe, wird im Gegenteile unsere Feinde nur noch sicherer machen. Sie ahnen nicht, was ich inzwischen tue. Wir umreiten nämlich heut unser ganzes Gebiet. Ich besichtige die ausgestellten Posten. Das ist unumgänglich nötig. Also komm!«

Um an der andern Seite des Berges hinabzukommen, mußten wir die Pferde führen, bis wir den Bach im Tale erreichten, wo er mir die verborgene Stelle zeigte, an welcher der geheime Gang aus dem Allerheiligsten hier mündete. Dann ging es drüben wieder bergan, nach der Taki-Hochebene, und auf dieser nach Norden. Da trafen wir in gewissen Abständen je zwei Dschamikun, welche bei ihren Pferden saßen und uns Bericht erstatteten. Beim nördlichsten dieser Doppelposten begrüßte uns ein Kurde von Schohrd in voller Kriegsausrüstung. Er war soeben erst angekommen und meldete uns, daß die Hilfstruppen Marah Durimehs nur einen Tagesritt von hier ständen und um Weisungen bäten. Das überraschte den Ustad; ich teilte ihm aber mit, was Schakara mir gesagt hatte, und so gab er den Befehl, Dienstag Abend hier an dieser Stelle einzutreffen und das Weitere zu erwarten.

Von da wendeten wir uns ostwärts. Das war das Gebiet der nördlichen Dschamikun. Wir fanden da Alles so, wie wir es wünschten. An das äußerste ihrer Lager schloß sich die Wachtlinie der Kalhuran, welche hinter den Pässen des Hasen und des Kuriers nach Süden verlief. Hier erteilte der Ustad die Weisung, die Massaban und die Sillan hindurchzulassen, ihnen aber heimlich zu folgen, um den Ring immer enger zu schließen. Um die Mittagszeit machten wir an einem Wasser halt, um uns auszuruhen, zu essen und die Pferde grasen zu lassen. Dazu ließen wir ihnen zwei volle Stunden Zeit. Hierauf ging es weiter, quer über jenes unbewohnte Land, durch welches ich und Halef mit den Massaban gekommen waren. Da trafen wir auf die breite Fährte der Dinarun, die nordwärts nach unserm Lager führte, und auf einen einzelnen Reiter, welcher auf dieser Fährte zurückgeritten kam. Es war zu unserer Verwunderung der Scheik der Dinarun selbst.

Auch er erstaunte, als er den Ustad erkannte, schien aber hierüber nicht unerfreut zu sein. Die Höflichkeit erforderte, abzusteigen und uns mit ihm niederzusetzen. Im hierauf folgenden Gespräch erfuhren wir etwas für uns sehr Erfreuliches. Er war nämlich heut früh mit seinem Trupp bei uns angekommen und hatte sofort den Scheik ul Islam aufgesucht, welcher sich, ebenso wie Ahriman Mirza, grad bei der Ghul befand. Hier erhielt er seine Weisungen für die folgenden Tage, und da stellte sich denn heraus, daß er mit seinen Dinarun nur ausersehen war, mit auf uns einzuschlagen, natürlich bloß um der lieben Religion willen; einen praktischen Nutzen aber schlug man ihm rund ab. Dazu kam, daß man ihn von hoch oben herunter behandelt hatte, wie einen Menschen, für den es eine Gottesgnade ist, mit solchen Auserwählten überhaupt nur reden zu dürfen. Er hatte klugerweise zu Allem Ja gesagt, sich aber in seinem Grimm hierüber augenblicklich vorgenommen, die Lanze umzudrehen und zu uns überzugehen. Um sich aber das Für und Wider vorher reiflich und ungestört überlegen zu können, hatte er sich später auf das Pferd gesetzt und den einsamen Ritt gemacht, auf dem er hier mit uns zusammengetroffen war.

Da gab es denn für uns kein Bedenken mehr. Der Ustad legte seine Zurückhaltung ab und erzählte ihm Alles, Alles. Wie staunte dieser Mann! Er hatte ja nicht geahnt, für was für Menschen er das Blut seiner Dinarun vergießen sollte, um nicht die geringste Entschädigung dafür zu erhalten, nicht einmal ein höfliches Wort! Für jetzt war er nur mit den Rennpferden und der dazu gehörigen Mannschaft gekommen; seine eigentliche Kriegerschar aber hatte nachzufolgen. Er bot sie uns an und hielt uns beide Hände hin, in welche wir sehr gern die unseren schlugen. Da er nun wußte, welchen Zweck unser Ritt hatte, bat er, uns begleiten zu dürfen; der Ustad willigte ein.

Es ging also nun zu Dreien weiter, westwärts, zu den südlichen Dschamikun, die sich ebenso wohlverbreitet zeigten wie alle Andern. Hierbei wurde das Gesicht des Scheikes immer ernster. Was er bisher von uns nur gehört hatte, das sah er nun, nämlich die große, tödliche Schlinge, welche sich hinter ihm und seinen Leuten zusammengezogen hätte, wenn er auf der Seite unserer Feinde geblieben wäre. Auch in Beziehung auf das Rennen wurde er bedenklich. Die Sahm ging unvergleichlich. Welch ein Unterschied zwischen heut und damals, als der Pedehr sie ritt! Der Araber sagt: Das Pferd ist ein Prozeß; wird er gut oder schlecht geführt, so wird er gewonnen oder verloren! Und nun gar der Syrr! Nur am Halfter! Der Scheik war ganz Bewunderung für ihn, fragte aber nur einmal und dann nicht wieder, als er hörte, daß hier ein Geheimnis obwalte, von welchem nicht gesprochen werden dürfe.

Unsere Runde war grad beendet, als es dunkel zu werden begann. Wir kamen durch das Tal des Sackes und hielten hüben an, weil drüben die Brücke aufgezogen war, der jetzigen Unsicherheit wegen. Es hatte ein Posten drüben zu stehen; wir riefen hinüber; er war aber nicht da.

»So müssen wir hier warten, bis er kommt,« sagte ich, über diese Nachlässigkeit erzürnt.

»Ja, warten wir,« lächelte der Ustad. »Ich erzähle dem Scheik inzwischen von dem verwegenen Sprunge, den nur dein Assil glatt zuwege brachte.«

Er gab den Bericht, ohne von seinem Pferde zu steigen. Als er bei dem betreffenden Augenblicke angekommen war, lenkte er die Sahm nach der Stelle, an welcher wir zum Sprunge ausgeholt hatten. Sich immer noch stellend, als ob er nur erzählen wolle, sprach er weiter. Dann aber warf er plötzlich den Arm hoch empor und rief ganz dasselbe Wort wie wir: »Jatib, jatib, ia Sahm – spring, spring, o Sahm!« Da schoß die Stute vorwärts, packte die Kante des Abgrundes mit sicherem Hufe und flog über ihn hinüber, so glatt, so frei, so leicht, daß der Schrei des Schreckes, den ich ausstoßen wollte, sich in einen jubelnden Ruf der aufrichtigsten Bewunderung verwandelte. Dann stieg er drüben ab, ließ die Brücke nieder und forderte uns auf, gemächlich nachzukommen.

»Nun, was sagst du jetzt zu meiner Sahm?« fragte er mich, indem seine Augen froh in die meinen glänzten.

Ich umarmte ihn; das war genug; eine andere Antwort hatte ich nicht. Der Scheik der Dinarun aber schüttelte sich noch nachträglich vor Entsetzen und versicherte:

»So Etwas sah ich noch nie! Da mag man immerhin das beste Pferd von Luristan und auch den vielgerühmten Iblis bringen, Ihr reitet sie doch nieder. Meine Dinarun aber können froh sein, daß Ihr mir auch noch dieses zeigtet. Wir werden uns hüten, gegen Euch zu wetten!«

Hierauf baten wir ihn, allein nach dem Duar zu reiten und aber ja den Syrr gegen Niemand zu erwähnen. Das Uebrige war schon vorher besprochen worden. Wir beide dagegen blieben auf dem Bergwege durch den Wald und kamen unbemerkt bei unserm Wartturme an. Im Hofe war kein Mensch. Wir ritten schnell über ihn hinweg, brachten unsere Pferde an Ort und Stelle und schlichen uns dann wohin? Hinauf zu unserm Hadschi Halef Omar, wo wir erwartet wurden, denn Schakara war da, welche von dem Ustad in das Vertrauen gezogen worden war. Sie hatte gesagt, daß wir diesen Abend hier im Verborgenen zubringen wollten, und dann den Hof für uns so frei gehalten, daß Niemand von unserer Heimkehr Etwas merkte.

Wir aßen da. Wovon und wie wir uns dabei unterhielten, kann man sich denken. Halef wußte, daß er morgen zum ersten Male hinunter in den Duar dürfe. Es war für ihn auf der Tribüne ein besonderer, höchst bequemer Platz errichtet worden, wo er mit seiner Hanneh das ganze Tal überschauen konnte, ohne sich anstrengen zu müssen. Er freute sich wie ein Kind darauf.

Als die Zeit dazu gekommen war, ging der Ustad mit hinauf zu mir. Wir setzten uns auf das Vordach, um die nun beginnende Höhenbeleuchtung von diesem allerbesten Punkte aus zu genießen. Sie geschah unter einem allgemeinen Feuerwerke, an dem sich Jedermann nach Kräften beteiligte. Der Kurde liebt es ebenso wie der Perser, bei derartigen Veranlassungen, Pulver und Bärlapp nicht zu schonen. Wir blieben vollständig unbeachtet, denn man nahm an, daß der Ustad noch nicht heimgekommen sei. Darum konnte das, was wir sahen, ohne Störung auf uns wirken.

Es wurde Licht allüberall, wohin wir schauten. Die Nacht erhellte sich. Was oben brannte, brannte auch im See. Und all die Menschen, die das Tal erfüllten, erschienen uns wie Wesen einer Welt, die sich im Licht von oben nach aufwärts reflektiert. Und wir zwei Einsamen, die wir hier oben blieben, obgleich man unten auf uns wartete? Nur nicht ins Lob der Tiefe niedersteigen; dann findet sich ihr Tadel nicht herauf! Wir sahen zwar zu, aber was wir dabei mit einander sprachen, das war nicht bestimmt, wie Feuerwerk zu verknallen oder wie totes Holz zu Asche zu verbrennen. Und als die Feuer nach und nach erloschen und Licht um Licht im Tal verglimmen wollte, da stand der Ustad auf, gab mir die Hand und sprach:

»Nun gehn auch wir zur Ruhe. Zur Ruhe! Glaubst du das? Schließ dreifach dich in deinem Zimmer ein, und lege leiblich dich zum Schlafen nieder! Ich komme doch zu dir, wie ich heut morgens kam, und hole dich zum Flug um unsere Grenzen. Auch dort hält mancher Posten für uns Wacht, um uns Bericht und Auskunft zu erstatten. Und kehren wir von unserm Fluge heim, so lassen wir vor Menschen uns nicht sehen, ganz so, wie wir es jetzt am Abend taten. Denn was für diese Welt der Abend ist, das ist für jene andere der Morgen. Schlaf wohl, doch – komme mit.« –

Als ich am andern Morgen auf mein Vordach trat, sah ich, daß der gestrige Tag die vorherige Zahl der Menschen verdoppelt hatte. Draußen an Ahriman Mirza’s Zelt waren die Pferde zu sehen, welche von ihm, den Schatten und den Massaban zum Rennen gestellt wurden. In den Ruinen standen diejenigen des Scheik ul Islam und der Takikurden. Unten am See, rechts, konnte man die Renner der Dinarun besichtigen, und links, unweit der Tribüne, waren die unserigen untergebracht. An diesen Orten wimmelte es von wirklichen und eingebildeten Kennern, welche es für höchst nötig fanden, ihre Urteile hören zu lassen. Mit Ibn el Idrak und dem Scheik der Dinarun hatte der Ustad gleich heut früh das heimliche Abkommen getroffen, daß sie alle ihnen abgenommenen Pferde zurückbekommen würden. Sie konnten also ruhig den Anschein beibehalten, daß sie unsere Gegner seien. Zu bemerken ist, daß die eigentlichen Matadore des Rennens, wie die Sahm, Assil, das »beste Pferd von Luristan« etc. etc. sich nicht bei diesen heut schon ausgestellten Pferden befanden. Weil der Feind seine Trümpfe nicht sehen ließ, taten auch wir es nicht.

Es gab mir Spaß, daß ich Hadschi Halef mit Hanneh schon unten auf seinem Platze sitzen sah. Der Gute hatte es nicht aushalten können. Und womit war er bekleidet? Natürlich mit dem Ehrengewande vom Schah-in-Schah! Auch hatte er alle seine Waffen bei sich. Ich sah später sogar die bekannte Nilpferdpeitsche in seiner Hand. Sie kam dem »Henker« dann zu statten!

Nach dem Frühstück ging ich zu meinen Pferden und dann zum Ustad, bei dem ich den Hauptmann der Leibgarde fand. Sie sprachen über den, den ich soeben erwähnt habe, nämlich über Ghulam el Multasim, den Henker. Diesem dreisten Patrone war alles bisher gegen uns Unternommene noch nicht genug gewesen. Er hatte zunächst drüben bei den Taki öffentlich und in der schandbarsten Weise gegen den Ustad gesprochen und dieses gestern sogar bei uns hier fortgesetzt. Er war mit seinem Anhange bald hier, bald da im Tale aufgetaucht und hatte immer ganz genau dieselbe einstudierte Rede gehalten, in welcher der Ustad als ein Mensch bezeichnet wurde, vor welchem man Andere nur warnen müsse. Dieser Ustad gebärde sich als ein treuer Anhänger des Schah-in-Schah, sei es aber nicht. Auch gebe er sich den Anschein, daß ihm nur das Wohl der Dschamikun am Herzen liege, sei aber in Wahrheit nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Vor solchen Leuten habe man sich mehr zu hüten, als selbst vor den allerschlimmsten Massaban, und so möge man sich nicht darüber wundern, daß er – nämlich der Henker – es für seine Pflicht erachte, diesen höchst gefährlichen Verführer des Volkes endlich einmal zu entlarven. Er fordere hiermit sämtliche Dschamikun auf, ihren Ustad fortzujagen, der sich zwar rühme, Menschen glücklich machen zu wollen, aber höchstens nur imstande sei, unglückliche, beulige und schwärige Pferde in die Welt zu setzen. Er – nämlich der Henker, – werde das am Kiss-y-Darr beweisen!

Weil ich erst am Schlusse dieser Unterredung kam, teilte mir der Hauptmann das Resultat derselben mit:

»Ich habe den Ustad gebeten, sich ja nicht an diesem unsaubern Patron zu beschmutzen, sondern die Sache lieber mir zu überlassen, der ich die Polizei des Schah-in-Schah vorstelle. Für eine so zügellose und „abgrundtiefe“ Anmaßung und Frechheit ist einzig nur die Peitsche richtig. Er wird sie bekommen, ganz bestimmt! Wann und in welcher Weise, das lehrt der Augenblick. Gebt mir nur die von ihm zurückgelassenen Kleidungsstücke, bei denen sich auch das Messer und das geheime Alphabet befindet. Weiter brauche ich nichts.«

Er bekam diese Gegenstände, und dann ging ich mit dem Ustad und Dschafar Mirza hinunter an den See, weil die Zeit gekommen war, die Preisrichter zu wählen. Das ging sehr schnell. Oberrichter wurde der Hauptmann der Leibgarde. Die Andern waren Dschafar, Hadschi Halef, Ibn el Idrak und der Pedehr. Andere Konkurrenten gab es nicht, ein sehr triftiger Grund, auf allen Seiten mit dieser Wahl einverstanden zu sein.

Hierauf wurden die Bedingungen vereinbart. Sie waren sehr einfach: jede Aufforderung ist gegenseitig anzunehmen, weiter nichts! An diesen Verhandlungen nahmen auch der Scheik ul Islam, Ahriman Mirza und die Khanum Gul teil. Letztere hatte ihren Tribünenplatz zwischen den beiden Erstgenannten, doch nicht in unserer Nähe. Besonders aber war der Henker wegen des beabsichtigten Mordanschlages auf Dschafar Mirza stets von uns fern und unter strenger, aber unbemerkbarer Aufsicht zu halten.

Punkt zwölf Uhr sollte das Vorrennen beginnen, zunächst das heitere. Die Lastkamele, Esel, Ziegenböcke, Schafe und sonstige Konsorten standen schon bereit. Neben der Tribüne war ein erhöhter Stand errichtet worden, von welchem aus die einzelnen Touren angesagt werden sollten. Eine Kärna hatte das Zeichen dazu zu geben. Eben erscholl der Ton dieses trompetenartigen Hornes, und der Ausrufer wollte hinansteigen, da blieb er aber unten stehen, weil er verhindert wurde. Nämlich von Ghulam el Multasim, dem Henker, welcher auf seinem turkmenischen Tiukihfuchs6 geritten kam und grad an dem erhöhten Stand halten blieb. Er führte an einer langen Leine ein zweites Pferd, welches einen ebenso lächerlichen wie traurigen Anblick bot. Lächerlich war die Art und Weise, in der man es herausgeputzt hatte, traurig aber der Körperzustand, in dem es sich befand. Sein Alter betrug wohl sicher über zwanzig Jahre. An Schwanz und Mähne absichtlich dünn gerauft, trug es an diesen Stellen anstatt der Haare nur angebundenes Gerstenstroh. Kopf, Leib und Beine waren mit Dutzenden von Pflastern beklebt. Einen Sattel hatte es nicht, und so sah man, wie fürchterlich wund es geritten war. Aber in das Maul hatte man ihm eine jener fürchterlichen Trensenkandaren gezwängt, mit deren Hilfe man sogenannte »Pferdeteufel« entweder zum Gehorsam oder zum Tode reitet.

»Allah verfluche diesen Schinder!« hörte ich des empörten Hadschi Stimme hinter mir. Und Kara, sein neben ihm sitzender Sohn, fügte in gleichem Abscheu hinzu: »Darf man das dulden? Vater, gib mir deine Kurbadsch 3)! Ich fühle, daß ich sie brauchen werde!«

So dachte und fühlte der »unzivilisierte« Sohn der Wüste, nicht aber der sich hoch über ihm dünkende Renegat der christlichen Kirche, denn das war der Multasim! Er schwang sich von seinem Turkmanen, stieg an Stelle des Ausrufers die Stufen hinauf, so daß er von Jedermann zu sehen war, und rief mit lauter, weithin schallender Stimme:

»Das Zeichen wurde gegeben; das lustige Rennen beginnt. Der Scheik ul Islam hat mich beauftragt, den Anfang zu machen, mich, den die Gunst des Schah-in-Schah erfreut, und der ich zugleich die vereinigte Stimme aller rechtgläubigen Anhänger des Propheten bin. Ich fordere jeden Dschamiki hiermit zum lächerlichen Kampf heraus, vor allen Dingen ihren Ustad selbst, von dem ich Euch folgendes zu erzählen habe.«

Und nun begann er, abermals jenen auswendig gelernten Vortrag zu halten, welcher schon mehr als genügend bezeichnet worden ist. Seine Rede strotzte förmlich von Lügen, Verdrehungen und Beleidigungen. Man hörte jedem seiner Worte an, daß es nur daraufhin überlegt und angebracht worden war, der gewissenlosesten Gehässigkeit zu dienen und der ekelhaftesten Freude am Skandal willen zu sein. Es wurde mir fast zum Erbrechen übel! Wie bewunderte ich die Ruhe und Selbstbeherrschung unserer Dschamikun, die ihn vollständig ausreden ließen, ohne daß es einem Einzigen einfiel, ihn auch nur anzurühren! In unserem hochgesitteten Abendlande hätte man solcher Niederträchtigkeit wohl sehr schnell Einhalt getan! Denn da wacht, Gott sei Dank, besonders die öffentliche Presse darüber, daß solchen Prangerknechten und Ehrenhenkern so schnell wie möglich das geschieht, was ihnen zuzukommen hat. Hier aber verhielt man sich bis zum letzten Wort des Vortrages vollständig still. Dann ließ der Scheik ul Islam ein schmetterndes »Ssyhaßyh = bravo, herrlich!« hören. Ahriman schrie: »Chähi, chähi!« was ganz dieselbe Bedeutung hat. Die Ghul schlug die fetten Hände zusammen und rief: »Bäh, bäh!« der gebräuchliche Bewunderungsruf für Taschenspielerkunststücke. Einige nahestehende Taki, Massabahn und Schatten stimmten wohl oder übel mit halber Tonkraft ein; im übrigen aber herrschte Schweigen; kein einziger Laut des Mißfallens war zu hören. Anstatt dieses allgemeine Schweigen kluger Weise für bedrohlich zu halten, nahm der Henker in seiner beispiellosen Verblendung an, daß es ein Zeichen der Zustimmung sei, und fuhr fort:

»Schaut hin! Da sitzt nun dieser Ustad mitten unter Euch, auf Eurem schönsten Platze! Ich frage Euch: Was tut er wohl, indem ich ihn vernichte und zermalme? Er lächelt, lauscht und schweigt! Ich weiß, dies Lächeln soll Euch imponieren, jedoch bei mir verfehlt es diesen Zweck. Es soll den Anschein geben, als ob er mich verachte, ist aber nichts, als nur Verlegenheit! Und warum dieses Schweigen? Wozu hat er den Mund? Wer angegriffen wird und sich nicht schuldig fühlt, der hat doch wohl die Pflicht, sich zu verteidigen! Er aber sagt kein Wort. Er hat geschwiegen und schweigt immer weiter, als ob –«

Er kam nicht weiter. Der Hauptmann der Leibgarde, der sich mit einigen seiner Leute dem Ausruferstande unauffällig genähert hatte, sprang jetzt zu ihm hinauf, faßte ihn beim Genick und rief:

»Er hat geschwiegen, weil er sicher wußte, daß jede faule Frucht von selbst vom Baume fällt! So falle denn! Hinab mit dir, denn deine Zeit ist da!«

Er schleuderte ihn seinen Leuten zu, die ihn sofort packten und in ihr naheliegendes Zelt führten. Da sprang der Scheik ul Islam ebenso wie Ahriman Mirza auf.

»Was soll das sein?!« rief der Erstere aus. »Wer gibt dir das Recht, dich an diesem Ehrenmanne zu vergreifen?! Er steht unter meinem Schutz!«

»Schutz?« lachte der Hauptmann ihm von oben herunter zu. »Wenn du nur fähig wärest, dich selbst zu schützen!«

»Auch unter dem meinigen!« behauptete Ahriman Mirza drohend. »Was hast du überhaupt hier bei den Dschamikun zu suchen?«

»Das will ich dir gern sagen: Ich suche nach dem Obersten der Schatten, der hier seit kurzer Zeit sein dunkles Wesen treibt. Ich denke, daß ich ihn bald finden werde, da ich nun seinen Freund und Henker habe! Setzt Euch nur augenblicklich wieder nieder! Ich möchte sehen, ob es Euch wohl gelänge, so still zu sein und so bewußt zu lächeln, wie es dem Ustad vorgeworfen wurde!«

»Welch eine Frechheit! Ich bin ein kaiserlicher Prinz und kann dich augenblicklich köpfen lassen, von deinen eigenen Leuten!«

»Versuche es!« Er zog den kleinen Lederumschlag aus der Tasche, hielt ihn empor und fuhr fort: »Kennst du wohl dieses Täliq-Alphabet, mit dessen Hilfe ich gewisse Briefe lese? Ich las auch folgenden: An Ghulam el Multasim, meinen Henker! Es ist die Zeit gekommen, daß die Gul-i-Schiraz auf der Brust von Dschafar Mirza zu erblühen hat. Das soll am fünften Tage des Monates Schaban geschehen, zur Zeit des Abendgebetes, keine –«

»Wo hast du das her, woher?!« brüllte Ahriman ihm mitten in den Satz hinein, indem er sich über die Spitze der Tribüne schwang, um ihm das Alphabet zu entreißen.

Da stand der Ustad auf, nahm ihn fest und scharf in das Gesicht und rief ihm zu:

»Schau her zu mir, Mirza; ich kann es dir sagen! Dein Chodem war bei ihm und hat es ihm verraten! Wer aber seinen Chodem von sich läßt, der ist verrückt – verrückt – verrückt!«

Da blieb Ahriman halten, fuhr sich mit der Hand schnell an die Stirn, als ob er da geschlagen worden sei, stieß einen Schrei aus, sprang von der Tribüne herab und verschwand fliehend in der Menge der dastehenden Leute. Es gab nur Wenige, die diese rasche, stille Flucht begriffen.

Das geschah, als der Henker eben wieder aus dem Zelte gebracht wurde. Er war nur mit der Hose bekleidet, und man hatte ihm den Oberkörper und die Arme mit Oel eingerieben. Einer der Trabanten trug den Kleiderpack und das Messer hinter ihm her. Der Hauptmann befahl, diese Sachen zum Scheik ul Islam hinzubringen, und sagte diesem:

»Du nahmst den „Ehrenmann“ in deinen Schutz. Wir haben Mann und Ehre so genau getrennt, wie er es tat, um Henkersknecht zu werden. Der Mann entfloh; die Ehre aber ließ er weislich liegen. Wir hoben sie ihm auf, weil wir ja wußten, daß er wiederkäme. Nun ist er da, und abermals als Henker, mit Oel gesalbt, ein schlüpfriger Gesell! Ich lasse ihn jetzt peitschen, vor aller Derer Augen, vor deren Ohren er die hochberühmte Rede hielt, die du mit deinem Ssyhaßyh belohntest. Heb ihm inzwischen seine Ehre auf, da er dein Schützling ist. Hat dann der Mann die Hiebe überstanden, so ziehe ihm die Ehre wieder an, und gib den Taki ihren Ustad wieder!«

Der Scheik ul Islam sagte kein Wort, als ihm die Sachen hingelegt wurden. Er wäre wohl wie gern fortgegangen, mußte aber bleiben, weil seine Entfernung ihn ja erst recht blamiert hätte. Auch der Henker war still.

Er stand zwischen zwei Trabanten, mit zusammengepreßten Zähnen und funkelnden Augen, deren Blick vergeblich nach Hilfe suchte. Da geschah Etwas, was ihm Gelegenheit zur Flucht zu bieten schien. Er hatte wahrscheinlich schon daran gedacht, sich ganz unerwartet auf sein Pferd zu werfen und davon zu reiten; aber dieses hing ja mit dem »Schundroman« zusammen, und ehe es ihm gelungen wäre, die lange Leine zu lösen, hätte man ihn wieder festgehabt. Da stand nun jetzt der gute, mitleidige Kara Ben Halef von seinem Platze auf und begab sich nach vorn, um nach den Gebrechen des armen Tieres zu sehen. Er untersuchte zunächst die Druckwunden und dann die bepflasterten Stellen.

»Das ist ja alles Lüge!« rief er endlich aus, nachdem der Ausdruck seines Gesichtes immer erstaunter geworden war. »Es ist eine gradezu bodenlose, abgrundtiefe Albernheit, uns diesen »Kiss« als »Darr«, uns diesen »Roman« als »Schund« vorzuführen! Der einzige Schund an diesem zwar alten, aber sonst ganz vortrefflichen Pferde sind die betrügerischen Pflaster, diese frech aufgeklebten Behauptungen, unter den man vergeblich nach gültigen Beweisen sucht. Wäre es nicht so wund geritten, so setzte ich mich jetzt auf, um zu zeigen, daß –«

»Zeige es doch, zeige es!« unterbrach ihn da der Henker. »Deine Dummheit macht mich frei!«

Kara hatte nämlich während seiner Untersuchung des Pferdes die Leine gelöst. Nun sprang der Gefangene zwischen den Trabanten hervor, schwang sich auf seinen Fuchs und jagte davon, auf der Bahn dahin, die für das Rennen vollständig freilag. Jedermann sprang auf, und fast auch Jedermann schrie. Kara aber war nicht im Geringsten verblüfft. Die Kurbadsch seines Vaters noch von vorhin in der Hand, schnellte er sich sofort auf den sattellosen Kiss und rief:

»Ich bin schuld; darum bringe ich ihn auch wieder!«

Ein scharfes, aufforderndes »Chchchchchhhhh« trieb das Pferd vorwärts. – Das erste Rennen begann, aber freilich ein ganz anderes, als wir vermutet hatten.

Nur Diejenigen, welche sich in Hörweite von der Tribüne befanden, wußten, um was es sich handelte, die vielen, vielen Andern aber nicht. Sie hielten die ganze Bahn rund um den See besetzt und drängten sich nur noch enger und dichter zusammen, als sie die beiden Reiter kommen sahen, voran der Henker, für den es erst an dem Ende des Sees eine Aussicht gab, durch die Menschen zu brechen und dann nach einem der Pässe zu entkommen. Hinter ihm Kara, der dies sehr wohl erkannte und sich darum bemühte, ihn vorher einzuholen. Der langbeinige Turkmene griff weite Sätze; der kleinere zierlichere Kiss aber ging trotz seines Alters leichter und schneller. Hierzu kam ein Umstand, an den der Henker nicht gedacht hatte; er schleppte nämlich die lange Leine nach, und da diese am Ringe des Brustschildes festgebunden war, konnte er sich ihrer nicht entledigen. Sie kam dem Fuchs wiederholt zwischen die Beine. Das störte ihn. Er wurde vorsichtig, dann gar bedenklich. Auch die Zuschauer machten ihn irr. Diese sahen, daß der Reiter halb nackt war. Sie sahen ebenso den sonderbaren Aufzug des Kiss und die drohend geschwungene Peitsche des Verfolgers. Diese Umstände sagten ihnen, daß es sich nicht um eine Wette, sondern um eine wirkliche Flucht handle. Sie schrieen einander zu, den Henker nicht etwa ausbrechen zu lassen. Und dieser Lärm machte den Fuchs scheu, nicht aber den anders gearteten Kiss.

So kam es, daß der Letztere dem Ersteren immer näher rückte und ihn grad da einholte, wo es die einzige Möglichkeit gab, zwischen den Bergen hinauszukommen. Kara war klug. Er ritt an der äußeren Seite und hieb mit der Nilpferdpeitsche so auf den nackten Henker ein, daß dieser auf der innern bleiben mußte und also dem See immer wieder zugedrängt wurde. Es hagelte Hieb auf Hieb. Was dabei für Worte fielen, das erfuhren wir erst später. Der Henker bot Himmel und Hölle auf, Kara zu bewegen, ihn entkommen zu lassen, bekam aber als einzige Antwort nur Hiebe und immer nur Hiebe. So wurde er nach der andern Seite des Sees und dieser entlang gepeitscht und getrieben, uns wieder näher und immer näher, rund auf der Bahn, am Tempelweg vorbei, durch den Duar und endlich bis her zur Tribüne. Er war fast von Sinnen. Er schäumte. Da trieb Kara den Kiss noch einmal an, kam vor, entriß Jenem den Zügel, gab einen Ruck, daß beide Pferde sich bäumten. Der Henker mußte herunter; Kara ihm nach, indem er rief:

»Schuft, ich schlage dich tot, wenn du nicht antwortest. Ist Kiss ein Schund oder nicht?«

Der Gefragte stand da, an allen Gliedern zitternd. Er brachte kein Wort hervor.

»Schund oder reines, edles Blut?« wiederholte Kara, indem er ihm die Peitsche über das Gesicht herüberstrich.

»Kein Schund, kein Schund! Edles, reines Blut!« klang da nun das Geständnis.

»Von Euch zum Schund gelogen?«

»Ja – gelogen!« stammelte der Henker aus Angst vor der wieder drohenden Peitsche.

»Das bittest du dem Ustad ab! Sofort, sofort!«

Ein neuer Hieb sauste nieder.

»Ja doch – ja doch – ich bitte; ich bitte!«

Er faltete beide Hände und hob sie flehend empor. Was bildete er doch jetzt, hier unten, für eine ganz andere Figur als vorhin dort oben, wo er auf der schamlos angemaßten, hohen Stufe stand und wie eine unfehlbare Gottheit vom Himmel niederschmetterte! Tausende und Abertausende hatten gedacht, an ihn glauben zu müssen, weil sie Wunder meinten, was ein gefährlicher Multasim zu bedeuten habe, gegen dessen Rachsucht man keine Waffe besitze. Und nun kam hier ein ganz einfacher, junger Mensch und zeigte vor ebenso tausenden von Augen, wie es um die Wichtigkeit dieser Personage eigentlich stehe: Nur der Stand hatte sie verhüllt; in ihrer jetzigen, entlarvten Blöße aber war sie weniger, viel weniger als – nichts!

»So bin ich mit dir fertig. Marsch, fort, zu deinem Richter!« sagte Kara, indem er ihn mit der Peitsche hin zum Hauptmanne trieb, welcher ihn mit den Worten empfing:

»Die Prügel hast du bekommen. Du holtest sie dir selbst. Nun geh zum Scheik ul Islam, deinem Beschützer! Der zieht dich wieder an, um den »Ehrenmann« von Neuem herzustellen. Dann hängen wir dich auf. Der Mir Dschassab steht schon bereit – der Henker für den Henker!«

Das brachte eine seltsame Wirkung auf den Multasim hervor. Sein bisher angstverzerrtes Gesicht nahm einen ganz anderen Ausdruck an. Er kroch in sich zusammen und fragte:

»Gehenkt? Gehenkt soll ich werden? Wirklich?«

»Ja, und zwar sofort, damit ich Dschafar Mirza rette!«

»So flüchte ich mich in den Schutz des Scheik ul Islam, der mich verteidigen muß, wenn er nicht selbst zugrunde gehen will. Ich würde Alles verraten!«

Er rannte hin zu ihm. Dieser aber streckte beide Hände abwehrend gegen ihn aus und rief:

»Bleibe mir fern, du Unvorsichtiger! Warum hast du dich entlarven lassen! Wer nicht einmal das Alphabet der Sillan geheim zu halten weiß, der ist auch imstande, die Absichten des heiligen Islam an das Laientum zu verraten! Du bist ein abtrünniger Christ, also überhaupt Verräter gewesen, seit ich dich kenne. Nun drohst du auch mir mit Verrat. Hebe dich weg! Ich sehe mit Freuden dich hängen!«

Da brüllte der Henker laut auf. Er trat, anstatt sich zu entfernen, ganz nahe an ihn heran, ballte die Fäuste und sprach, infolge seines nicht zu überwältigenden Grimmes in die unbeschränkteste Offenheit verfallend:

»Ja, du hast recht; ich bin ein Verräter, ein Verräter überhaupt! Ich habe nicht nur die Menschen verraten, sondern auch Gott und mich selbst. Ich verriet meinen christlichen Glauben. Ich täuschte sodann den Beherrscher. Ich betrog den Fürsten der Schatten. Ich täuschte auch dich, genau so, wie du selbst täuschest. Aber einmal lüge ich nicht, nämlich jetzt, wenn ich öffentlich beichte! Soll ich gehangen werden, so hänge man gleich Zwei! Die Dritte und den Vierten wird man wohl laufen lassen. Dir aber knüpfe ich die wohlverdiente Schlinge!«

Er wendete sich von ihm ab, zu uns, richtete sich hoch auf und wollte sprechen. Da griff der Scheik ul Islam nach den vor ihm liegenden Kleidungsstücken, bei denen auch das Messer des Henkers lag, faßte es, zuckte es gegen ihn und drohte:

»Schweig, Wahnsinniger, sonst stirbst du an deiner eigenen Klinge!«

»Ob Strick oder Klinge, das ist nun Alles gleich; aber ich spreche!« entgegnete der Multasim, schnell zugreifend, um sich zu wehren.

»Dann fahre hin, und rede in der Hölle, aber nicht hier!«

Im nächsten Augenblicke hatten sie sich gefaßt. Die Khanum Gul schrie vor Entsetzen auf, gab Raum und eilte fort. Niemand schaute ihr nach, denn aller Augen waren auf die beiden Kämpfenden gerichtet, welche einander niederzerrten und dann unter den Sitzen weiterrangen, still, lautlos, wie zwei ineinander verbissene, wilde Tiere.

Da plötzlich gab es einen Blitz und hoch über uns einen lauten Krach. Der Donner rollte. Unsere ganze Aufmerksamkeit war so ausschließlich hier unten festgehalten worden, daß wir die schweren Wetterwolken gar nicht beachtet hatten, welche hinter dem Ruinenberge aufgestiegen waren und nun über dem Alabasterzelte drohend kulminierten. Wir kannten diese Art von Wetter, welche sich in jenen Bergen ganz unerwartet zusammenziehen und alle Gewalt der Elemente entfesselt zu haben scheinen7. Darum wußten wir sogleich, daß wir auf unser lustiges Vorrennen wenn nicht ganz, so doch für jetzt zu verzichten hatten. Es fielen schon gleich einzelne schwere, erbsengroße Regentropfen.

Da war der Kampf auf Leben und Tod zu Ende. Der Scheik ul Islam kam unter den Sitzen hervorgekrochen und richtete sich auf, ganz ermattet, langsam, blutend. Er sah sich mit stierem Blick im Kreise um und rief mit heiserer Stimme:

»Es kam so, wie ich sagte: Er ist zur Hölle gegangen. Dort mag er reden, was er will, so wird es doch nichts schaden. Die Teufel glauben nicht so schnell wie die Menschen! Ich bin verwundet. Bringt mich nach meinem Zelte!«

Einige Taki eilten hinzu, um ihm zu helfen. Man zog den Multasim hervor. Er war tot. Das Messer steckte bis an den Griff in seiner nackten Brust. Da blitzte und krachte es abermals, und der Regen begann in einer solchen Weise sich zu ergießen, daß ich schleunigst nach dem Zelte Agha Sybils eilte, wo ich, der längst Erwartete, von meinem alten Bagdader Freunde und all den Seinen mit herzlicher Freude aufgenommen wurde.

Mein Erstes war, gute Plätze für Halef, Hanneh und Kara zu reservieren, welche natürlich nicht auf sich warten ließen, und dann geschah der Freundschaft und der Vergangenheit ihr Recht, mochte es draußen gießen oder strömen und hier innen tropfen oder träufeln, wie es wollte. Auch Kepek wurde erwähnt. Man hatte ihn wegen seiner unbehilflichen Körperfülle so schnell wie möglich als Fracht nach Isphahan gesandt, wo sein Herr sich für die Zukunft mit ihm niederlassen wollte. Die »Festjungfrau« war als lebenslängliche Köchin in Aussicht genommen, und Tifl hatte dabei als Pendant zu Kepek tüchtig mitzuessen.

Der Regen währte ausnahmsweise stundenlang. Als er einmal eine Pause machte, schickte Schakara für mich und Kara Pferde, für Halef und Hanneh aber eine Doppelsänfte, mit deren Hilfe wir schnell nach Hause kamen. Der Ustad folgte erst später. Wie umsichtig Schakara war, bewies sie jetzt auch wieder dadurch, daß sie unsere Pferde aus dem schweren Regen in das bereits wohlbekannte Gewölbe gerettet hatte.

Der Ustad kam mit Dschafar Mirza, eben als das zurückgekehrte Gewitter mit einer zweiten, noch längeren Entladung einsetzte. Sie hatten im Hause des Chodj-y-Dschuna ein bequemes Unterkommen gefunden und von dort aus Alles beobachtet und nach Kräften dirigiert. Sie nahmen den von dem Unwetter angerichteten Wirrwarr nicht von der tragischen, sondern von der komischen Seite, und so fiel es auch mir nicht ein, mir um irgend Etwas betrübte Gedanken zu machen. Als ich nach der Leiche des Henkers frug, erfuhr ich, daß man sie nach den Ruinen geschafft und dort dem Scheik ul Islam vor das Zelt gelegt habe. Sein Pferd war vom Hauptmanne konfisziert worden; den Kiss-y-Darr aber hatte der Ustad jetzt mitgebracht, um ihn wieder gesund zu pflegen.

Der Regen ließ auch für später nicht nach. So war nichts mehr zu machen, und wir gingen in der Hoffnung schlafen, daß er sich bis morgen ausgegossen haben werde. – Es legte sich heut wohl kein Mensch so hochbefriedigt, so stolz nieder wie Hadschi Halef und Hanneh. Ihr Sohn war unbedingt der Held des heutigen Tages gewesen, und ich hatte ihnen gesagt, daß dies nicht etwa Zufall, sondern in der vortrefflichen Begabung Kara’s begründet sei. Das war eine Wonne für meinen Hadschi, der, als ich am andern Morgen aufstand, soeben in die Sänfte stieg, um sich nach der Tribüne tragen zu lassen, denn Ahriman Mirza und der Scheik ul Islam hatten einen Zusammentritt des Preisgerichtes und der Dschemma gefordert, weil sie gleich heut früh einen wichtigen Antrag zu stellen hätten. Bei einer solchen Beratung mußte der »Scheik der Hadeddihn« natürlich gegenwärtig sein, und wenn er noch so schwach gewesen wäre! Der gestrige Tag aber war ihm außerordentlich gut bekommen, natürlich infolge der Freude über das brave Verhalten seines Sohnes.

Nach einer Stunde, als die Verhandlung vorüber war, welche der Ustad geleitet hatte, kam dieser selbst nach dem Hause herauf, um mich aufzusuchen und abzuholen. Da erfuhr ich denn, welche Wünsche Ahriman Mirza und der Scheik ul Islam vorgebracht hatten. Diesen beiden Herren schien nämlich der Gedanke, sich nach der gestrigen Blamage den ganzen heutigen Tag den Blicken einer so großen Volksmenge auszusetzen, sehr peinlich zu sein. Sie hatten sich also schon am frühesten Morgen darüber geeinigt, daß das Rennen, wenigstens für sie und ihre Zwecke, so kurz wie möglich abzumachen sei. Daher ihr Antrag. Dieser lautete: Die edlen Pferde, welche eigentlich laufen sollten, laufen nicht, werden aber als Gewinne gestellt. Wirklich rennen werden von jeder Seite nur drei. Wer in zwei Rennen siegt, gewinnt sämtliche Pferde. Keiner von diesen drei Matadoren darf zweimal laufen, und sie vorher vorzuzeigen, ist nicht nötig. Die Preispferde müssen gegenseitig von gleichem Werte sein.

Was ich nun erwartete, das war auch geschehen: Die Dschamikun hatten diesen Antrag einstimmig angenommen, und man war unten am See jetzt schon sehr fleißig dabei, die Preise zu taxieren und zu vergleichen. Diese Bedingungen bezogen sich auch auf ein voranzugehendes Kamelrennen, bei welchem die Chancen der Dschamikun freilich nicht günstig standen, weil ihre Tiere mehr in die Berge als für den Schnellauf in der Ebene paßten, während dem Aemir-y-Syllan jedenfalls die besten Eilkamele seiner Schatten und Massaban zur Verfügung standen. Dieser Mangel aber wurde, zumal unter den neuen Bedingungen, durch die beiden Leibkamele unserer Hanneh vollständig ausgeglichen.

Da wir nur Syrr verbergen, sonst aber mit unsern Matadoren nicht Verstecken spielen wollten, gab der Ustad Befehl, die Letzeren für unsere Boten bereit zu halten. Syrr jedoch wurde mit alten Decken behangen und ganz heimlich hinunter zum Chodj-y-Dschuna gebracht und in dessen Hof gestellt, den Niemand betreten durfte. Als wir dann gehen wollten, fragte Schakara, ob sie dieses gewiß seltene Rennen mit ansehen dürfe, und wir freuten uns darüber, ihr einen guten Platz zwischen uns Beiden versprechen zu können.

Was das Wetter betrifft, so war es so, wie wir es uns gar nicht besser hätten wünschen können. Es hatte zwar bis spät nach Mitternacht »wie aus Flußmulden« gegossen; alles Buschwerk hing von der Schwere des herabgestürzten Wassers tief niederwärts; die Stauden und Gräser lagen hart am Boden, und gar mancher Baum war mitsamt den Wurzeln ausgewuchtet worden; aber die Flut hatte sich vollständig in den See verlaufen; die Wege waren schnell wieder getrocknet, und die Rennbahn lag sogar noch besser da als gestern, weil die Wucht der Regenmassen von ebnender Wirkung gewesen war.

Als wir mit Dschafar Mirza, der nun wahrscheinlich seines Lebens wieder sicher sein konnte, hinunterkamen, sahen wir, wie sehr Ahriman und der Scheik ul Islam sich beeilt hatten, ihre Preise zu stellen. Sie waren beide persönlich da, um darüber zu wachen, daß ihnen nur Gleichwertiges gegenübergesetzt wurde, denn es lag ja in ihrer Absicht, uns alles Gute abzugewinnen und dann über den zurückgebliebenen Schund zu lachen und zu lästern. Dadurch hatten sie aber auch sich selbst gezwungen, nur ihr Bestes daranzuwagen, und ich war sehr neugierig darauf, wie dieses »Beste« sich wohl ausnehmen und bewähren werde.

Was zunächst nicht die Pferde und Kamele sondern die beiden genannten Personen betrifft, so machte der Scheik ul Islam heut fast denselben Eindruck, den gestern der »Schundroman« gemacht hatte, ja einen fast noch schlimmeren, weil die vielen Schnittwunden und Schmarren, welche er im Kampfe mit seinem eigenen Schützling erhalten hatte, keine gefälschten, sondern wirkliche waren. Das Messer schien ihm wiederholt entrissen und gegen ihn selbst gerichtet worden zu sein. Besonders hatte er das Gesicht sehr arg bepflastert, und an der einen Wange und dem Kinn fehlte ihm ein großes Stückchen Haut mitsamt dem Bart. Der Rest des letzteren war nun nicht mehr eine Zierde für ihn, sondern vielmehr eine Schande. Er gab sich aber die Miene, als ob ihm das im höchsten Grade gleichgültig sei. Ahriman Mirza zwar war sehr still und in sich gekehrt. Bald hatte sein Gesicht einen geradzu blöden Ausdruck; bald funkelten seine Augen in grimmiger Energie. Alles, was er tat, war unsicher und überhastet, und sehr oft horchte er ängstlich auf oder schaute wie erschrocken hinter sich, als ob er sich von etwas Unsichtbarem ärgerlich beobachtet und beeinflußt fühle.

Sie hatten über dreißig Kamele gestellt. Diese waren vortrefflich, einige davon sogar ausgezeichnet, ausnahmslos nur echte, hochrassige Schuturi Ba’aud. Der Umstand, daß die Dschamikun nur Bergkamele besaßen, die aber als solche von ganz demselben, vielleicht noch höherem Werte waren, wurde von ihnen bereitwillig durch die Zahl ausgeglichen: Sie stellten zehn Stück mehr dagegen. In Beziehung auf die Taki und Dinarun war dies nicht nötig. Diese brachten gegen vierzig Stück zusammen, was die Dschamikun mit ebenso vierzig erwiderten.

In Betreff der Pferde lagen die Verhältnisse umgekehrt. Die Gegner mochten in Beziehung auf ihre Matadore denken, was sie wollten; der Durchschnitt aber stellte sie tief. Sie konnten nicht einmal so tun, als ob sie das leugnen wollten. Ihr Aerger hierüber war groß; sie verschluckten ihn aber im stillen. Sie brachten mit den Dinarun und Taki zwar gegen sechzig Stück »edles Blut« zusammen, wie sie es nannten, mußten es sich aber gefallen lassen, daß wir mit nur vierzig parierten.

Nach Abschluß dieser Verhandlungen wurde das Resultat bekannt gegeben und schnell über das ganze Tal verbreitet. Nun schickten wir nach den beiden Eilkamelen, welche von einem der mitgebrachten Hadeddihn und von Hanneh geritten werden sollten; sie tat das nicht anders; sie wollte auch einmal zeigen, daß man kann, wenn man will! Unser drittes war das schnellste Kamel der Dschamikun, leider aber schon ziemlich alt und dabei eigenwillig. Als die Gegner ihre drei Trümpfe brachten, sahen wir freilich, daß es nicht leicht war, gegen solche Kamele aufzukommen. Der Scheik ul Islam und der Mirza gebärdeten sich sehr siegesgewiß; der alte, bigotte Scheik der Taki ebenso. Sie lachten, als der Dschamiki mit dem seinigen kam. Und sie lachten noch lauter, als unsere Bischarihn-Hedschihn gebracht wurden und sie nun erfuhren, daß eines derselben von einem Weibe geritten werden solle.

Es wurde eine Schnur quer über die Bahn gezogen. An ihr hatten sich die sechs Kamele in einer Reihe neben einander niederzulegen. Sie wurden bestiegen. Sobald das Zeichen gegeben wurde, hatte man die Schnur zu entfernen. Es handelte sich hier um einen Gesamtlauf, während die Pferde zu zweien rennen sollten.

Unsere Hanneh schwang sich mit einer Miene in den Sattel, als ob es sich um etwas ganz Alltägliches handle. Sie hatte nur den dünnen Medrek in der Hand, ein leichtes Stäbchen, mit welchem man dem Hadschihn zeigt, nach welcher Seite es sich zu halten habe. Die Gegner aber waren mit schweren, schmerzenden Hetzpeitschen versehen.

Da ertönte die Kärna. Die Schnur verschwand. Sechs Zurufe erschollen. Aber nur fünf Kamele gehorchten. Dasjenige des Dschamiki sprang nicht auf. Es blieb liegen. Es brüllte vor Zorn über die große Menschenmenge, vor der es sich produzieren sollte. Das paßte ihm nicht. Unsere Gegner lachten; wir aber auch. Der Dschamiki lachte schließlich ebenso mit, stieg ab und gab seinem Kamele so lange gute Worte, bis es aufstand und sich von ihm fortbringen ließ.

Inzwischen waren die drei Gegner sofort im eiligsten Laufe davongeritten, Hanneh und der Hadeddihn aber erst langsam hinterher. Der Scheik ul Islam jubelte laut, denn der Abstand, den es gab, war nach seiner Ansicht bei der nur einmaligen Runde, die es gab, fast gar nicht einzubringen. Aber die Schnelligkeit unserer Hedschihn vergrößerte sich; sie vergrößerte sich auch dann noch, als sie diejenige der Vorläufer erreicht hatte; sie nahm zu, immer zu, als ob sie sich bis in das Unheimliche steigern wolle. Jetzt war der hinterste Gegner erreicht; er wurde überholt. Bald auch der zweite. Der erste war weiter voran. Er schaute sich wiederholt nach dem Verhängnisse um, dem er so gern entrinnen wollte und doch nicht konnte. Es kam; es kam! Es flog an ihm vorüber, weiter, immer weiter, den Geisterhedschahn gleich, von denen man in den Steppen des Sudan erzählt – jenseits am See zurück, vom brausenden Jubel der staunenden Menge begleitet, herbei, herbei, um endlich bei uns zu halten.

Hanneh wartete das Niederknieen ihres unübertrefflichen Tieres gar nicht ab. Sie schwang sich von oben herunter, ging leuchtenden Auges dorthin, wo der Scheik ul Islam und der Mirza saßen, schlug mit ihrem Stabe laut auf die Bank vor ihnen und sagte:

»Ihr lachtet über das Weib; das Weib lacht nicht, aber es siegt!«

Hierauf kehrte sie an ihren Platz zurück, von Mann und Sohn mit Händedrücken empfangen. Ihr Hadeddihn führte die siegreichen Tiere fort. Dann erst kamen die Gegner, einer immer später als der andere. Wir hatten von drei Nummern zwei Gewinner und also die siebzig Kamele und auch die drei Matadore gewonnen. Der Pedehr sorgte dafür, daß sie sofort in Sicherheit gebracht wurden.

Das hatten die Feinde nicht erwartet. Aber anstatt klug und still zu sein, verfielen sie in das Gegenteil und rühmten sich, mit den Pferden Rache nehmen zu wollen. Der Scheik ul Islam rief nach seinem »besten Pferd von Luristan«, gegen welches zunächst zu reiten sei. Es wurde ihm schnell gebracht, und so bekamen wir dieses vielgepriesene Wunder nun endlich einmal zu sehen.

Es war Taki-Zucht, nicht Araber, doch auch nicht Perser, von jeder Rasse ein Muskel oder ein Knochen. Aber gut, sehr gut sah der Kerl aus! Doch nicht für die Augen des Kenners, der sich vielmehr sagen mußte: Trügerische Formen, Paraderenner, aber nicht für den Ernst!

»Den nehme ich getrost mit meiner Sahm!« sagte der Ustad. »Er verdient keinen berühmten Gegner.«

Wir hatten nach Hause geschickt und unsere »Trümpfe« kommen lassen. Sie standen in der Nähe und wurden von den Gegnern in ausgiebigster Weise behaßäugelt. Der Scheik ul Islam erklärte, daß er sein Pferd selbst reiten werde, und so stellte sich ihm der Ustad mit der Sahm als Gegenpartner vor. Beide Pferde und beide Reiter wurden ausgerufen, und es ging wie ein Rauschen von Mund zu Mund und laut um den See, wen man jetzt im Kampfe zu sehen bekommen werde. Beide Reiter warfen ihre Oberkleider ab und stiegen auf. Sie hielten neben einander. Der Hornist hob die Kärna zum Munde, um das Zeichen zu geben. Noch aber erscholl es nicht, so jagte der Scheik ul Islam schon davon. Es galt für die drei Pferderennen je eine Doppelrunde.

Man schrie laut auf über diese Unehrlichkeit; aber der Ustad rief:

»Ich protestiere nicht! Aber ich reite ehrlich! Heraus mit dem Zeichen!«

Die Kärna schmetterte. Die Stute ging regelrecht fort, erst Schritt, dann Trab, dann Galopp. Es sah aus, als reite der Ustad nur spazieren. Das »beste Pferd von Luristan« aber flog da draußen, als sei es aus einem Böller geschossen worden, denn der Scheick ul Islam hatte das Geheimnis schon gegeben. Tiefe Stille herrschte. Die Sahm lag jetzt in glattem Galopp. Ich sage mit Absicht, sie »lag«. Wie eine jener einst so hochberühmten amerikanischen Briggs mit ihrer Schonertakelage, die man nicht »gehen« sieht, wenn sie vor dem Winde »liegt«, und aber doch nie einzuholen ist! Und sie »blieb liegen!« Die Entfernung der beiden Pferde blieb die gleiche, fort und fort, und um den See. Das Rennen kam von drüben wieder herüber – an uns vorbei. Der Scheik ul Islam, mit tiefgeröteter Gesichtshaut zwischen den weißen Pflastern. Sein Pferd troff von Schweiß, und weiße Flocken flogen ihm vom Maule. Dann der Ustad, mit unveränderter Miene, uns vertraulich zunickend. Die Sahm war trocken und noch ganz bei Atem. Sie arbeitete nicht, sondern sie »lag« noch immer.

»Er siegt!« sagte Schakara neben mir. »Er hat das Geheimnis ja noch gar nicht angewendet!«

Es war, als ob er in innerer Verbindung mit der Sprecherin sei, denn kaum hatte sie es gesagt, so warf der Ustad den Arm hoch empor, und die Sahm bekam einen Ruck, dessen Schnellkraft nicht etwa verschwand, sondern von jetzt an ununterbrochen weiterwirkte. Und nun begann der bisherige Abstand, sich zusehends zu verringern. Das »beste Pferd von Luristan« war zu früh gezwungen worden, herzugeben, was es hatte. Die Kräfte ließen nach; die Lunge versagte den Dienst. Der fliegende Galopp verwandelte sich in ein unregelmäßiges Springen. Die Sahm aber »lag« nun wieder, aber im Geheimnisse! Sie holte den Gegner ein; sie schoß an ihm vorüber. Noch eine kleine Weile, so nahm der Ustad das Geheimnis wieder ab, um sie zu schonen, denn er hatte zurückgeschaut und bemerkt, daß das Pferd des Scheikes nun nicht mehr rannte, sondern sich gegen seinen Reiter sträubte, weiter zu gehen. Er schlug mit der Peitsche zwar unbarmherzig auf das arme, so töricht ausgepumpte Tier los, aber vergeblich. Es blieb einfach stehen, so daß er ihm schließlich seinen Willen oder vielmehr Unwillen lassen mußte und langsam durch den Duar herbeigeritten kam. Als er die Tribüne erreichte und abstieg, saß der Ustad schon längst wieder an seinem Platze! Der Besiegte ließ »das beste Pferd« stehen, ging, ohne ein Wort zu sagen, zu seinem Sitz und sank ermattet auf demselben nieder. Ahriman Mirza aber sprang auf, warf ihm einige grimmige Worte in das Gesicht und verkündete hierauf laut, daß jetzt der unbesiegbare Iblis erscheinen und uns eines ganz Anderen belehren werde!

Natürlich war man allgemein gespannt, dieses Pferd zu sehen. Es wurde gebracht. Wir gingen hin. Ahriman stand bei ihm und pries es mit überschwenglichen Worten. Schakara sah ihn dabei aufmerksam an und sagte uns dann leise:

»Nehmt Euch in acht! Ich fühle eine schlimme Absicht, die er hat; nur weiß ich nicht, welche.«

Wir wußten, daß der Iblis eine Khorassan-Schecke sei. Dieses Pferd hier war eine Schecke, ja, aber auf keinen Fall aus Khorassan stammend! Freilich, man konnte uns falsch berichtet haben, und sie war dann doch der Iblis. Aber da sagte der Mirza, daß sein »Freund« sie reiten werde, und da stand es bei uns fest, daß ein Betrug oder wenigstens eine List beabsichtigt werde. Der Ustad war der Meinung, man wolle uns verleiten, unsern besten Trumpf an dieses vorgeschobene Pferd zu verschwenden, und es stellte sich dann auch heraus, daß dies richtig war. Da keiner der Matadore zweimal rennen durfte, hätte dann der echte Iblis keinen ebenbürtigen Gegner gehabt. So wenigstens hatte Ahriman gerechnet, dabei aber nicht angenommen, daß schon das erste Rennen für ihn verloren gehen könne. War er denn gedankenschwach geworden? Er sah doch unsere Rappen stehen, gegen welche diese Schecke unmöglich aufkommen konnte! Wenn sie dieses zweite Rennen verlor, wurden wir Sieger und brauchten gar nicht weiter mitzumachen! Wir fragten unsern Kara, ob er es übernehmen wolle, den angeblichen Iblis mit dem Barkh behaglich um die Ecke zu reiten, und er war mit Wonne bereit dazu.

So wurden also diese beiden Pferde und ihre Reiter ausgerufen. Wir sahen, daß der »Freund« jener Vertraute war, der mit dem Obersten der Schatten den geheimen Gang in den Ruinen untersucht hatte. Er stieg auf und schaute von seiner Schecke herab, als ob er die Absicht habe, seinen Gegner sofort in Grund und Boden zu reiten. Es kam aber anders!

Hatte nämlich der Ustad mit dem Geheimnisse gespart, so tat Kara jetzt das Gegenteil. Kaum waren nach dem gegebenen Zeichen die Pferde in Gang, so gab er es und war schon in der nächsten Minute dem »Freunde« so weit voraus, daß alle Zuschauer staunten. Und das wuchs und wuchs! Die Schecke lief gut; sie lief, was sie nur konnte; aber sie kam gegen unsern Rappen nicht vorwärts, trotz ihres guten Willens. Auch der Reiter gab sich alle Mühe, doch umsonst. Als Kara, die zweite Runde beginnend, an uns vorüberkam, hatte er das Geheimnis bereits wieder ausgelöst; die Schecke war aber noch jenseits draußen vor dem Duar, dessen ganze Ausdehnung also schon zwischen ihnen lag. Und nun tat Kara weiter nichts, als daß er diesen Abstand unausgesetzt erhielt, bis er nach der zweiten Runde das Ziel erreichte.

Zwei Touren gewonnen von Dreien! Wir waren also Sieger! Da aber erhob Ahriman Mirza von dem Ausruferstand, den er bestieg, lauten Einspruch. Das erste Rennen gelte nichts, weil der Scheik ul Islam unehrlich gewesen und vorgeritten sei. Er beschimpfte also seinen eigenen Partner und drang auf die dritte und letzte Tour. Nur wer diese gewinne, sei Sieger, sonst aber Keiner! Die Preisrichter nahmen diese Frage vor und entschieden für uns, denn man könne die Unehrlichkeit doch nicht belohnen und der Ustad habe ausdrücklich erklärt, daß er nicht protestiere. Die Gegner aber standen zum Mirza und wollten sich nicht fügen. Schon standen wir in Begriff, mit Gewaltmaßregeln zu drohen, da geschah etwas sonderbar Seltsames. Schakara verließ nämlich, ohne uns vorher hierüber zu verständigen, ihren Sitz, stieg die Stufen zum Stand hinauf und winkte Schweigen. Das Erscheinen eines Mädchens da eben verwunderte. Man war still. Da begann sie zu sprechen, kurz, klar, bestimmt. Sie forderte Ahriman Mirza auf, seinen Chandschar mit zu den Preisen zu legen, dann werde das dritte Rennen sofort stattfinden, und wer es gewinne, der habe gesiegt. Sie tat sogar noch mehr: Sie setzte gegen den Dolch die bereits gewonnenen Kamele, so daß also dem Sieger dieser letzten Tour der ganze Gewinn und dazu der Chandschar zu gehören habe.

Wir staunten! Der Mirza auch! Woher nahm dieses sonst so bescheidene, zurückgezogene Mädchen den Mut, hier in dieser Weise öffentlich aufzutreten? Uns allen in einer so wichtigen Sache ohne Erlaubnis vorzugreifen? Da drückte mir der Ustad die Hand und sagte:

»Erschrecke nicht! Du weißt, sie kommt von Marah Durimeh! Sie hat geheime Gründe! Wenn der Mirza darauf eingeht, tue ich es gern. Du hast ja den Syrr!«

Da verließ Ahriman seinen Platz. Mit weit geöffneten Augen Schakara anstarrend, schritt er langsam zu ihr hin, löste den Chandschar vom Gürtel und reichte ihn ihr hinauf. Sie nahm ihn. Nun legte er sich beide Hände vor die Augen und stand eine Weile still, doch mit zuckendem Körper. Hierauf nahm er die Hände hinweg, richtete sich kerzengerade empor, warf beide Arme in die Höhe und rief aus:

»Meinen Chandschar, meine Waffe, mein Höchstes! Nicht um ein Reich zu beherrschen, sondern für Pferde und Kamele! Aber ich muß, ich muß! Sie hat ihre Augen! Sie hat ihre Gestalt, ihre Stimme! Und sie hat auch ihre Gedanken und ihre Macht! Da bin ich nichts; da muß ich gehorchen! – Wohlan! Holt mir den Teufel! Aber den echten, den wahren, den wirklichen, nicht den falschen, den gelogenen! Es gilt ein Reiten, wie es wohl noch nie geritten worden ist! Denn wenn Marah Durimeh mich zwingt, in den Sattel zu steigen, um meinen Chandschar zu retten, so stellt sie mir auch jenes von der Hölle gehaßte Geschöpf, aus dessen Haar beim Ritt die Funken springen! Also den Teufel her, den Iblis! Und schnell, denn es hat Eile!«

Wen oder was meinte er mit jenem »Geschöpf, aus dessen Haar die Funken springen«? Hatte er das nur figürlich gemeint? Oder war er bereits verrückt? Vielleicht das Letztere, denn sein Gebaren glich augenblicklich ganz dem eines Irren, der auf Etwas warten muß und es doch nicht erwarten kann. Und als man das verlangte Pferd brachte, sprang er auf dasselbe zu, schnellte sich in den Sattel und rief aus:

»Das ist er, das, der schnellste aller Teufel! Und ich bin Ahriman, sein Meister und sein Herr! Wo ist der Mensch, der sich an mich und diesen Satan wagt?«

Wir gingen hin, um das Pferd in Augenschein zu nehmen, konnten uns aber nicht ganz nähern, denn die Bestie duldete das nicht. Sie biß und schlug nach Jedem, den sie erreichen konnte. War das natürliche Bosheit oder Dressur? Ja, diese Schecke war ein echtes Khorassanvollblut, starrsinnig und bis zur Glühhitze kalt, wie das Klima ihrer heimatlichen Salzwüsten! Die Ohren groß, mit hängenden Spitzen, wie die gewissen Hunderassen. Die Stirn verschwindend niedrig, doch knochig, höckerig und überbreit. Das Auge boshaft, aus dem Weißen schielend. Das knorpelige Maul mit Borsten stark besetzt. Die Brust sehr schmal, das Ideal einer Rennerlunge andeutend. Die Muskeln der Vorarme und Schenkel vortrefflich geübt und gestählt. Die Beugesehnen, Kötengelenke, Fesseln, Kronen und Hufe geradezu unvergleichlich. Schopf, Mähne und Schwanz aber häßlich dünn, ohne Glanz, mit absterbenden Haarspitzen. Das Alles zusammen ein Pferd, welches ein Fragezeichen für jeden Kenner war, sobald es ruhig stand, dann aber schon bei der kleinsten Bewegung ahnen ließ, daß höchst wahrscheinlich ganz Ueberraschendes in ihm stecke.

Ich hatte, sobald der Mirza nach seinem Teufel rief, Kara fortgeschickt, auch Syrr zu bringen. Er kam mit ihm, grad als Ahriman die Frage, wer mit ihm anzubinden wage, zum zweitenmal wiederholte. Da trat ich vor und sagte nichts, als – »ich!« Da lachte er fast brüllend auf und rief zu seiner Khanum Gul hinüber:

»Hast du es gehört? Er – er – derselbe! Fast dachte ich es mir! Denn dieser Mensch scheint mir dazu geboren, stets da zu sein, wo ihn kein Teufel braucht!« Er strich mit der Reitpeitsche quer gegen mich hernieder und fuhr dann fort: »Kein Anderer käme mir so recht wie du! Ein Ausgestoßener des Abendlandes, der uns das schöne Morgenland vergällt, um sich in seiner Heimat wieder einzuschmeicheln! Du wärst der Mann, den Chandschar mir zu nehmen! Ich habe wohl gehört von deinem Rappen, mit dem du prahlst, wohin du immer kommst. Assil Ben Rih, der Hengst der Hadeddihn, der dort bei euern andern Kleppern steht! Hol ihn herbei! Ich weiß, er ist doch Eure letzte Hoffnung!«

»Er?« antwortete ich. »Nein, den reite ich nicht.«

»Wen sonst? Etwas Besseres habt Ihr ja nicht!«

»Wir haben nicht nur ihn, sondern auch seinen Chodem. Den reite ich. Schau dich um!«

Da fuhr er scharf zusammen, riß seine Schecke herum und starrte Syrr an, der, von Kara gehalten, hinter ihm gestanden hatte. Man sah, wie er erschrak, als er ihn erblickte.

»Syrr! Der Syrr! Das Lieblingspferd des Schah!« entfuhr es tonlos seinen Lippen. »Oh, nun weiß ich Alles! Das ist dein Werk, Marah Durimeh, das deinige! Du, du und nur du kannst den Schah-in-Schah veranlaßt haben, den Syrr zum Chodem des Assil zu machen! Aber, sei es denn! Er geht ja keinen Schritt mit einem Fremden! Und gar den Halfter nur, nicht Trense und Kandare! Verrückt, verrückt, verrückt! Fast sollte ich mich schämen, des Teufels Ruhm mit einem Sieg zu schänden, den jedes Kind vorauszusehen hat. Doch, weil es meinem Chandschar gilt, bin ich gezwungen, diese Tour zu reiten, blamiert vom Syrr, der stehenbleiben wird!«

Er trieb den Teufel an die Schranke. Ich stieg auf, um ihm zu folgen. Syrr aber ging keinen Schritt. Wollte er heut nicht! Oder war ihm die Schecke so zuwider, daß er sich weigerte, sich in gleiche Linie mit ihr zu stellen! Als Ahriman dieses Weigern bemerkte, lachte er siegessicher auf und gebot, das Zeichen zu geben. Er hatte schon gleich im Anfange wenigstens fünfzehn Pferdelängen voraus. Die Spannung, welche ringsum herrschte, war eine ungeheure. Die Namen wurden verkündet.

Wir sahen und hörten, daß sie weitergetragen wurden, uns voraus. Dann ertönte die Kärna, und der Teufel flog sofort im Galopp auf die weite, offene Bahn hinaus.

Noch stand Syrr still. Ich trieb ihn an, doch ohne Erfolg. Fast wollte es mir Angst werden. Da streckte er den schönen Kopf aus, ließ seine schmetternde Stimme hören und – ja, was war denn das? Ritt ich, oder flogen alle die doch unbeweglich stehenden Menschen auf mich zu, um hinter mir zu verschwinden? Ich fühlte nichts, als nur den Wunsch, den Teufel zu besiegen, und es war, als säße ich nicht auf einem Pferde, sondern auf diesem Wunsche, dem die Erfüllung entfliehen wollte und aber doch mit immer wachsender Schnelligkeit entgegenkam. Am Ende des Sees war ich dem Iblis schon so nahe, daß ihn der Mirza zu peitschen begann. Im Duar holte ich ihn ein. An der Tribüne fluchte Ahriman schon hinter mir. Bald darauf hörte ich schon den Hufschlag des Teufels nicht mehr. Ich drehte mich nicht um. Aber als ich zum zweiten Male um den See gebogen war; sah ich den Mirza erst an der Biegung ankommen. Er hatte die Peitsche umgedreht und bearbeitete den Kopf der Schecke mit dem schweren Griffe. Der Schmerz veranlaßte sie zu einer letzten Anstrengung; sie kam mir wieder näher. Da gab mir Syrr durch sein tiefes »U – u – u – uh« zu verstehen, daß er das auch sehe, und griff derart aus, daß ich glaubte, ihn zügeln zu müssen. Wieder im Duar angekommen, ließ er schnell nach, ging in hohem parierendem Galopp am Landeplatz vorüber und kam dann, gemächlich schreitend, bei der Tribüne an.

Wie gönnte ich ihm den brausenden Jubel, dessen Bedeutung er gar wohl verstand, wie mir seine spielenden Ohren verrieten. Aber der Kuß, den ich ihm gab, sobald ich abgestiegen war, schien ihm doch lieber zu sein, denn er küßte mich wieder, auf die Wange, fuhr mir in das Haar, nahm bald meine eine, bald meine andere Hand in das Maul, kurz, zeigte mir auf alle mögliche Weise, daß er nur für mich da sei, für nichts Anderes. Und doch war er es, auf dem Aller Augen bewundernd ruhten, nicht etwa auf mir, und das war auch ganz selbstverständlich und richtig!

Und da kam nun auch Ahriman mit dem Teufel, oder vielmehr der Teufel mit Ahriman, denn er ging mit ihm durch; infolge der Hiebe mit der Peitsche. Die Zügel hingen vorn herunter; die Bügel waren leer; der Reiter lag nach vorn und klammerte sich am Halse fest. Aber dieses Durchbrennen war kein gewöhnliches. Es geschah nicht etwa in vollem Jagen und ging auch nicht stets in derselben Richtung, sondern das Pferd verfolgte die sehr bemerkbare Absicht, den Reiter aus dem Sattel und unter die stampfenden Hufe zu bringen. Es bockte und schlingerte, sprang bald nach rechts, bald nach links, rannte dann eine Strecke geradeaus, blieb stehen, um mit gefletschten Zähnen nach rückwärts zu beißen, lief wieder fort, kehrte um, drehte sich im Kreise, kurz, es wollte den Mirza herunterhaben, um sich zu rächen. Den Grund sahen wir, als es sich uns näherte. Es hatte nur noch ein gesundes Auge. Das andere hing aus der blutenden Höhle. Ahriman hatte es ihm ausgeschlagen! Er befand sich in ganz derselben Stimmung wie sein Teufel: Scham, Wut, Rache! Als er uns erreichte, stand die Schecke für einen Augenblick still, um eine neue Tücke vorzubereiten. Da richtete er sich auf und rief:

»Der Chandschar ist verloren, und so sei es denn dieser Satan auch! Ihr habt ihn gewannen. Wohlan, da nehmt ihn hin! Aber nur als Aas für den Schinder!«

Er zog die Doppelpistole aus dem Gürtel, spannte die Hähne, hielt die Läufe an die zwischen den Nickwirbeln liegende Stelle und gab die beiden Schüsse rasch hinter einander ab. Er hätte jetzt schnell abspringen müssen, war aber in seinem Rachedurste für die Vorsicht blind. Der Iblis zuckte unter den Kugeln. Das übriggebliebene Auge schloß sich; der Kopf sank niederwärts, und die Kniee schienen brechen zu wollen. Da aber sammelte sich seine sterbende, dämonische Kraft. Er warf den Kopf empor, ging mit allen Vieren in die Luft, faßte wieder Boden, warf sich aus freier Hand grad auf den Rücken, sprang wieder auf und packte den nun an der Erde liegenden Peiniger mit den Zähnen, und zwar am Kopfe, dessen oberer Teil in dem weit, weit geöffneten Rachen ganz verschwand. Dabei überkam ihn ein Zittern, welches über seinen ganzen Körper lief. Den Kopf des Prinzen festhaltend, brach er zusammen – er war tot!

Man eilte hin. Die schreckliche Gruppe war vor den hilfeleistenden Menschen für einige Zeit nicht zu sehen. Dann teilte es sich. Man hatte Ahriman aus den Zähnen der verendeten Bestie befreit. War es Besinnung oder etwas Anderes, daß er sich aus seiner Ohnmacht halb aufrichtete, um zu sprechen? Er hob die geballte Faust empor, schüttelte sie und rief:

»Mein Kopf, mein Kopf! Immer nur mein Kopf, mein Kopf! Das war der Chodem wieder, der Chodem, der mich aufgegeben hat! Ich soll verrückt werden, verrückt, verrückt! Ich habe gekämpft mit ihm – von der „Mauer der Vergeltung“ an bis hierher! Vergeblich! Er empörte den Teufel gegen mich – er warf mich unter ihn nieder – er faßte mein Gehirn mit des Satans Zähnen – der Biß ging durch und durch – durch den Geist und durch die Seele – es ist aus; es ist aus; es ist aus!« Mit einer letzten, großen Anstrengung aufspringend, schrie er, indem seine Stimme überschnappte: »Freut Euch, Ihr Dschamikun, denn hört, was ich Euch sage – der Fürst der Schatten ist von jetzt an nur ein Aas – ein verwesendes Aas für den Schinder – genau wie der Satan hier – schleppt uns fort; schleppt uns fort – alle Drei, alle Drei – nicht nur die Aase, sondern auch den Verrückten!«

Er ließ den erhobenen Arm sinken, schüttelte sich wie vor innerem Grauen und fiel dann, wieder ohnmächtig, auf den scheckigen Kadaver des Teufels nieder. Auch uns graute; wir wendeten uns ab. Schakara’s Augen aber strahlten in glänzender Freude. Sie reichte mir den gewonnenen Chandschar des Mirza und sagte:

»Nimm sie hin, die Waffe der Feinde, die sich von nun an nur gegen sie selbst zu richten hat! Sie ist in unsere Hand geraten, doch wollen wir den Frieden. Stecke sie in die Scheide! Nimmt man diesen Frieden aber nicht an, so fährt sie wieder heraus. Dann aber gibt es kein spielendes Rennen wie heut, nur um dem Volke den Satan figürlich zu zeigen, sondern wir machen das Spiel zum tödlichen Ernst! Wen unser Rennen nicht warnt, weil er den Geist nicht besitzt, zu begreifen, was es bedeutet, der treibe die Feindschaft weiter, sich selbst zur schließlichen Schande!«

Man räumte den Teufel aus dem Wege und schaffte auch Ahriman fort. Als ich nach den Sitzen der Khanum Gul und des Scheik ul Islam hinüberschaute, waren Beide verschwunden. Die gewonnenen Pferde wurden in Sicherheit gebracht, doch verständigte der Ustad den Scheik der Dinarun und den Takikurden Ibn el Idrak davon, daß sie heut Abend die ihrigen und ebenso auch ihre Kamele heimlich zurückbekommen würden. Die Gegner wurden von jetzt an unsichtbar, einer nach dem andern. Es versteht sich von selbst, daß wir uns unseres Sieges freuten, am meisten aber wohl mein kleiner Hadschi Halef. Er strahlte geradezu vor Glück. Sein Kara ein mehrfacher Sieger! Und gar auch Hanneh, die »lieblichste Blume der Frauen«, ein großes Rennen gewonnen! Das ging ihm über Alles, was er bisher erlebt hatte, sogar auch über das Ehrengewand vom Beherrscher des persischen Reiches!

Großen Jubel gab es, als die Kärna ertönte und dann der Ausrufer verkündete, daß jetzt das gestern verregnete, lustige Rennen beginnen werde. Während dieses vorbereitet wurde, trat die Dschemma mit den Preisrichtern zu einer schnellen Beratung zusammen, um noch mehrere bedeutende, aber friedliche Rennen zu veranstalten, zu denen sich nur Freunde melden durften. Kara bat mich hierzu um den Assil und bekam ihn natürlich sehr gern. Ich aber ritt den Syrr nach Hause, nicht ohne befriedigt über die Worte zu sein, welche Dschafar mir mitgab. Er hatte nicht gewußt, daß Syrr mir gern gehorchte, und war daher auf das Heftigste erschrocken, als ich den Glanzrappen gegen den Teufel stellte. Umso größer aber war nun sein Entzücken über den Sieg, und er nahm sich vor, dem Beherrscher sehr ausführlich Bericht zu erstatten.

Es war rührend, wie wohl sich Syrr fühlte und wie deutlich er seine Freude äußerte, als er aus der Menschenmenge herauskam. Auch ich bin am liebsten allein, und so beschloß ich, bei ihm zu bleiben und mir die nun noch folgenden Ereignisse des Tages von oben anzuschauen. Auf der Pferdeweide angekommen, sattelte ich ab, gab ihm Wasser und Gerste, holte ein Gericht Aepfel für ihn und setzte mich neben ihn dahin, wo ich eine gute Aussicht über das Tal hatte. Später gesellte sich Schakara zu mir. Um es kurz zu machen, sei gesagt, daß der Ustad mit der Sahm einen Preis gewann und Kara mit Assil und Ghalib auch je einen. Das war mehr als genug.

In und bei den zwei herrschaftlichen Zelten drüben in den Ruinen war es während des ganzen Nachmittages sehr still. Der Scheik ul Islam ließ sich nicht sehen und die Khanum Gul auch nicht. Hier und da ritt ein Bote zwischen ihnen und Ahriman Mirza hin und her. Das Gefolge schien nach auswärts gegangen zu sein, jedenfalls um bei der Vorbereitung zu der morgenden Umzingelung mit tätig zu sein.

Gegen Abend kam der Ustad und fragte mich, ob ich ihn zu einer genauen Wiederholung unsers Sonntagsrittes begleiten wolle. Es gelte aber heut nicht, die Posten zu revidieren, sondern die erwähnte, berühmte Umzingelung wieder zu umzingeln. Ich war natürlich sofort und gern bereit. Syrr wurde von Neuem gesattelt, und dann ging es, der Ustad auf der Stute, abermals den Berg zum Alabasterzelte hinan.

Als wir da oben ankamen, blieben wir betroffen, ja beinahe erschrocken halten. Die Wucht und Masse des gestrigen, langen Regens war hier von unheilvoller Wirkung gewesen. Sie hatte das ganze Erdreich von der zurückliegenden Bergkuppe herabgeschwemmt und, mit schweren Steinen vermischt, in eine Art von Moräne verwandelt, welcher das abschüssige Terrain keinen Stillstand erlaubte. Man sah an der glatten Bahn dieses Rutsches ganz deutlich, welchen Weg er bereits zurückgelegt hatte. Es war zwar noch ziemlich weit von ihm bis zu dem schon wiederholt erwähnten, gefährlich lockern Steingeröll; aber wenn er es erreichte, so mußte sein Druck sofort die Katastrophe herbeiführen, welche der Ustad am Sonntage nicht nur erwähnt, sondern sogar befürchtet hatte.

Jetzt freilich war hier nichts zu unternehmen, denn der Abend nahte schon; aber für morgen früh nahm sich der Ustad vor, dem Weiterschreiten der Moräne schnellsten Einhalt zu tun. Wir mußten von hier oben fort, um noch vor Nachts hinüber auf die Nordebene zu kommen. Das gelang uns auch.

Genau an derselben Stelle, wo wir den Boten von Marah Durimehs Hilfstruppen gefunden hatten, erwarteten uns diese, angeführt von dem unternehmenden Scheik von Schohrd, der sich herzlich freute, mich wiederzusehen. Seine Truppen waren mehr als genügend, die Ultra-Taki von hinten zu packen. Er erhielt die nötigen Weisungen für alle möglichen Fälle und dazu das Versprechen, daß wir ihm den uns freundlich gesinnten Taki Ibn el Idrack schicken würden. Dann ritten wir weiter.

Im Norden standen die dortigen Dschamikun nicht mehr zerstreut, sondern schon festgeschart. Sie hatten Fühlung mit dem Scheik von Schohrd und mit den Kalhuran im Osten. Als wir diese erreichten, fanden wir sie in zwei Treffen geteilt, um die von den Kundschaftern bereits erspähten Massaban und Schatten hindurchzulassen und sich dann hinter ihnen wie zwei Torflügel zu schließen.

Im Süden freuten wir uns über die dortlagernden Dinarun, die sich so schnell aus Feinden in Freunde verwandelt hatten. Ihr Scheik war soeben bei ihnen angekommen, hatte ihnen Alles erzählt und war soeben dabei, ihnen auch zu sagen, daß er die verwetteten Pferde und Kamele bereits zurückerhalten habe, und zwar unter Aufsicht des Pedehr, dem dies von dem Ustad übertragen worden war. Als wir ihnen mitteilten, daß es besten Falles gar keinen Kampf geben werde, versicherten sie uns, daß dies ganz gegen ihre Absicht sei, da sie wünschten, uns ihre Freundschaft durch die Tat beweisen zu können.

Wir brachten sie in Fühlung mit den südlichen Dschamikun, die sich im Rücken der Taki und mit dem Scheik von Schohrd zu verbinden hatten. So war unser Ring also geschlossen, mit Ausnahme der Durchzugsstelle für die Massaban und Schatten. Wenn sie so töricht waren, diese Tür zu benutzen, so gerieten sie in eine Falle, aus welcher es kein Entrinnen gab!

Es war mitten in der Nacht, als wir heimkehrten, und doch wartete Schakara auf uns. Sie sagte, sie habe vor Sorge nicht schlafen können, um uns eine Beobachtung mitzuteilen, die vielleicht sehr wichtig sei. Sie war, ehe sie sich zur Ruhe legen wollte, noch einmal zu den Pferden gegangen und hatte sie in einer ganz auffälligen Unruhe gefunden. Besonders waren die Tiere nicht dazu zu bewegen gewesen, sich zu legen. Das deutete auf irgend eine Gefahr, die unter ihnen in der Erde lag. Schakara dachte nach, und indem sie so still dastand und sann, hörte sie, scheinbar unter ihren Füßen, ein dröhnendes Geräusch, dem ein fortrollendes Donnern und Beben folgte. Das machte sie besorgt, und darum beschloß sie, nicht schlafen zu gehen, bevor sie es uns mitgeteilt habe.

»Wir müssen hinunter« – »in das Bassin!« sagte der Ustad und sagte auch ich, beide wie aus einem Munde. Wir holten Fackeln und begaben uns, begleitet von Schakara, die nicht ohne uns bleiben wollte, nach dem Landeplatze, stiegen in das Boot und ruderten nach dem Kanale. Es gab keinen Menschen, der uns sah. Weil der Ustad auch schon hier gewesen war, wußte er Bescheid. Wir bemerkten sofort, daß das Wasser in Folge des langen, bedeutenden Regengusses viel höher stand als früher. Die Ranken waren hier oben dichter; sie ließen uns nur schwer hindurch. Dann brannten wir sogleich zwei Fackeln an und stakten und ruderten uns durch den Kanal in das vordere Becken.

Heut konnten wir die Decken über uns erkennen, wohl wegen des Wasserhochstandes. Diese Flut mußte drücken und heben. Gleich an der ersten Säule sahen wir, daß an ihrer Basis ein großes Stück ausgewuchtet worden war; oben aber prasselte es. Dennoch wagten wir uns weiter. Es bröckelte überall, und zwar in beängstigender Art und Weise. Stein auf Stein fiel klingend oder gluchzend in die Flut. Es war wirklich verwegen, nicht umzukehren! Wir kamen dahin, wo die Säule mit dem Gerippe gestanden hatte. Sie war verschwunden. Nur der untere Stein stand noch, mit dem Skelett darauf. Von hinterher kam ein Aechzen, Knarren und Prasseln. Schakara war bisher still gewesen, überwältigt von der unheimlichen Schrecknis dieser Unterwelt; jetzt aber schrie sie auf und bat uns, Gott ja nicht länger zu versuchen, sondern sofort umzukehren und zu flüchten. Wir taten es, ohne erst noch nachzusehen, ob vielleicht nicht nur diese eine, sondern noch mehrere Säulen zusammengestürzt seien. Die Folge sollte zeigen, daß dies sehr wahrscheinlich der Fall gewesen war.

So standen wir also zwischen zwei drohenden Gefahren: Oben am Alabasterzelte rückte die Moräne vor, und unter uns brach das Innere der Erde zusammen. Glücklicher Weise lag sowohl der Duar als auch unser Haus mit dem Garten und dem Weideplatze zwar nahe, aber doch außerhalb des Bereiches der beiden Katastrophen, von denen nur die Ruinen betroffen werden konnten! Wir waren weder Geologen noch Architekten von Fach, aber es stand dennoch für uns außer allem Zweifel, daß kein Leben bedroht sei außer demjenigen, welches sich von jetzt an noch in das alte Gemäuer wagte.

Darum ließ der Ustad gleich in der Morgenfrühe den Zutritt zu den Ruinen allgemein und bei hoher Strafe verbieten. Auch schickte er Boten nach den beiden Zelten hinüber, um die Bewohner derselben zu warnen. Man ließ ihm aber antworten, daß man die feindseligen Gründe dieser albernen Warnung kenne und über sie nur lache! Hierauf stieg eine Menge Arbeiter zum Alabasterzelte hinauf, um den Absturz der Erd- und Steinmassen zu verhindern. Da sandte uns der Scheik ul Islam ein Stück Papier, auf welchem folgende Zeilen standen:

»Gebt Euch keine Mühe, weder von oben noch von unten! Wir glauben keinen Lügen! Wir halten die Ruinen fest bis morgen; dann werden Alle gehen, die nicht hierher gehören! Hierauf mein Wort als Scheik ul Islam!«

Was unsere Festgäste betrifft, so hatten alle, denen nicht zu trauen war, sich wohlweislich entfernt. Von den andern aber fiel es keinem ein, den Ustad zu verlassen. Sie verhielten sich so, als ob sie vollständig ahnungslos seien, waren aber alle sehr wohl unterrichtet und warteten mit Ungeduld auf den nächsten Morgen, der die Entscheidung zu bringen hatte. Im Verlaufe des Nachmittages kamen Boten zu verschiedenen Zeiten, und als es dunkel geworden war, brachte der letzte von ihnen die Nachricht, daß die Massaban und Schatten in die Falle gegangen seien.

Was die Taki betrifft, so hatte sich Ibn el Idrak schon früh bei dem Ustad eingestellt, um sich mit ihm für Weiteres zu besprechen. So sehr dieser Stamm an seinen alten Vorurteilen hing und so von Allah bevorzugt sich die Angehörigen desselben betrachteten, dieser vermeintlichen Ueberlegenheit ein blutiges Opfer zu bringen, zumal so friedfertigen Nachbarn gegenüber, das erschien ihnen doch als zuviel verlangt. Nur die kleine, halsstarrige Corona, welche sich in den Strahlen des Scheik ul Islam sonnte, hielt fest zu ihm, sonst aber Niemand weiter. Und diese Verblendeten waren es auch, die in den geheimen Gang eindringen sollten, um uns zu überrumpeln. Der Ustad beschloß, sie trotz alledem zu schonen, aber sie in diesem Gange derart festzustopfen, daß sie sich nicht zu rühren vermochten. Ibn el Idrak war hiermit außerordentlich gern einverstanden und ritt dann fort, um den Scheik von Schohrd aufzusuchen. Infolge dessen gingen bei Anbruch des Abends zwei Abteilungen Dschamikun heimlich ab, die eine um von außen her bis zur Hälfte des Ganges vorzudringen, ihn zu verstopfen und sich hinter dieser Barrikade aufzustellen. Der hierzu bestimmte Punkt war natürlich so gewählt, daß ihn keine der beiden zu erwartenden Katastrophen berühren konnte. Die andere Abteilung sollte die Feinde alle eindringen lassen und dann den Ausgang besetzen, um ihnen die Rückkehr unmöglich zu machen. Wenn dies gelang, konnten die Eingeschlossenen keine andere als nur noch eine höchst lächerliche Rolle spielen, und es sei gleich hier gesagt, daß es so gut gelang, wie es gar nicht besser gelingen konnte.

Hiermit waren diese Feinde also kaltgestellt, und es handelte sich nur noch um die Massaban und Schatten, vor denen es uns ebenso wenig bange wie vor Jenen war, denn wir hatten sie ja fest und konnten sie erdrücken, sobald es uns beliebte.

Man hatte während des ganzen Tages wieder Reisig und Holz auf sämtliche Häupter und Vorsprünge der Berge geschafft. Wie das Fest mit einer Höhenbeleuchtung begonnen hatte, so sollte es auch mit einer solchen enden. So wurde gesagt. Die Eingeweihten aber wußten, daß das Aufflammen dieser Feuer für die Umschließung der Feinde das Zeichen sei, daß die Entscheidung einzutreten beginne. Nur eine einzige Stelle war von dieser Bedeutung ausgenommen, nämlich die Kuppe des Alabasterzeltes. Man hatte dort den ganzen Tag sich mit der größten Anstrengung bemüht, der Moräne Stillstand zu gebieten, doch ohne den gewünschten Erfolg. Sie war trotz aller künstlichen Hemmnisse weiter und weiter vorgerückt, um die vorlagernden Geröllmassen zu ergreifen. Das verheerende Schicksal von oben war also mit Gewißheit zu erwarten, doch sah man sich außer Stande, die Zeit genau zu berechnen. Darum standen nun Wächter oben, welche die dortigen Holzhaufen anzubrennen hatten, sobald der gefährliche Augenblick im Nahen sei. Das war es, was die Feuerzeichen von diesem Punkte aus zu sagen hatten.

In Erwartung aller dieser Dinge versicherten wir uns unserer Pferde, welche in das Gewölbe gebracht wurden. Auf der ganzen Breite der Pferdeweide standen Posten, um uns von den Ruinen abzuschließen. Im Hofe etablierte der Ustad eine Art Hauptquartier, zu welchem alle geltenden Personen gehörten, doch aber nicht Ibn el Idrak und die Scheike der Dinarun und Kalhuran, welche sich bei ihren Stämmen befanden und genau wußten, wie sie zu handeln hatten. Je weiter der Abend vorrückte, umso stiller wurde es unten im Tale. Alle Dschamikun verließen den See und stiegen bergauf in die Höhe. Die Schatten sollten kommen dürfen, ohne den geringsten Widerstand zu finden. Aber der Duar selbst blieb umso schärfer besetzt, an jeder Flanke sechs Kamelkanonen, um den Zugang von beiden Seiten des Sees her zu bestreichen. Schon diese Geschütze allein genügten, den Schatten ihre Ohnmacht gegen uns zu beweisen. Die übrigen acht waren zu beiden Seiten des Sees auf dominierende Punkte verteilt, von denen aus wir mit ihnen die ganze Rennbahn beherrschten. Für den Bedarfsfall hatte der Ustad eine Menge von Fackeln verteilen und anfertigen lassen, und draußen am Ende des Sees lagen Späher versteckt, um das Zelt Ahrimans zu beobachten und uns das Erscheinen der Massaban zu melden. Er wollte ja mit diesen die Ruinen besetzen, und so waren sie viel früher als die Schatten zu erwarten.

Als wir die Zeit dazu gekommen glaubten, gingen wir hinunter in den Duar und erfuhren dort, daß der Pedehr so gewissenhaft gewesen war, die Bewohner der Zelte noch einmal zu warnen, und zwar in eigener Person, von ihnen aber ebenso höhnisch abgewiesen worden war wie die vorherigen Boten. Damit hatten wir den Pflichten der Menschlichkeit genügt. Auf dreimaliges Vermahnen nur Spott; mochte für sie nun kommen, was da wollte!

Am Himmel waren die Sterne verschwunden, nicht etwa infolge von Regenwolken, sondern es schien, als habe er sich in einen dichten, undurchdringlichen Schleier gehüllt, um nicht sehen zu müssen, was sich hier unten ereignen werde. Es nahte eine zwar nicht vollständig dunkle, aber fahl obskure Mitternacht, so recht geeignet für Schemen, Phantome und Chimären. Auf dem See bildeten sich Nebel. Sie lagen erst in unbestimmten Umrissen auf dem Wasser. Dann lösten sie sich von ihm, um sich in einzelnen Fetzen aufzurichten und zu individualisieren. Hierauf verdichteten sie sich zu allerlei gespenstischen Gestalten und trachteten dem Lande zu, um, feucht und kalt, wie Geister von Ertrunkenen, sich auf uns zuzuschleichen.

Da tauchte aus ihnen einer der Späher auf und teilte uns mit, daß die Massaban bei Ahriman Mirza angekommen seien. Und bald darauf stellte sich ein zweiter mit der Nachricht ein, der Mirza habe sich an ihre Spitze gestellt und komme mit ihnen anmarschiert, doch leise, ohne Pferde, wie es seine Absicht ja erfordere. Der Ustad wiederholte seine für diesen Fall schon vorher gegebene Weisung, sich so weit zurückzuziehen, daß man nicht bemerkt werden könne, und den Heranschleichenden den Weg nach den Ruinen vollständig freizugeben.

Es dauerte nicht lange, so kamen sie, von den Nebeln gedeckt, die aber auch uns ihnen verbargen. Sie glaubten den Duar im friedlichen Schlafe und zogen vorüber, ohne daß Etwas geschah, was ihnen diesen Glauben benahm. Wir kehrten also in unsere vorherige Stellung zurück. Einige Zeit später erklang in den Ruinen über uns ein lauter, aber kurzer, abgerissener Schrei. Hierauf war es, als ob jemand mit unterdrückter Stimme irgend Etwas kommandiere. Dann war es wieder still.

So ungefähr eine Stunde nach Mitternacht erfuhren wir, daß die Vorhut der Schatten von den Pässen her nahe und draußen in der Ebene halte, um die ganze Horde herankommen zu lassen; die Unteranführer des Mirza seien ihnen entgegengeritten, um sie dann nach dem See zu führen. Und nach einer längeren Pause meldete man uns von der andern Seite des Berges, daß die Ultra-Taki in das Garn gegangen seien und nun in dem Gange stäcken, ohne rück- oder vorwärts zu können; Ibn el Idrak aber habe die ganze Vollzahl der verständigen Taki zu dem Entschlusse gebracht, sich dem Scheik von Schohrd anzuschließen und gegen Morgen bei uns einzutreffen.

Dieser Bote hatte sich eben entfernt, so kam Jemand, an den wir jetzt am allerwenigsten gedacht hätten, nämlich der – Aschyk. Er war oben im Hause gewesen, um uns zu sprechen, und hatte erfahren, wo wir uns befanden. Was er uns mitteilte, war noch interessanter als sein völlig unerwartetes Erscheinen.

»Ich bin öfters bei Euch gewesen, als Ihr denkt,« sagte er, »und von Allem sehr gut unterrichtet. Der Scheik ul Islam hat mich bis heut als seinen Spion betrachtet, der sich in Euer Vertrauen geschlichen habe, um Euch an ihn zu verraten. Darum erntet er aber nun selbst das Unkraut, welches er für Euch säete! Ich war oben auf dem Berge und habe mich überzeugt, daß die Lawine nicht mehr zu halten ist. Ich hielt es für meine Menschenpflicht, es ihm zu sagen, damit er sich entfernen möge. Da lachte er mich aus. Ja, er wurde sogar mißtrauisch, von mir dieselbe Warnung zu hören, wie von Euch, doch durfte ich bei ihm bleiben. Er wanderte unruhig zwischen seinem Zelte und dem Allerheiligsten hin und her, um nachzusehen, ob seine Taki durch den Gang angekommen seien. Sie stellten sich aber nicht ein. Auch seine Bedienung habe ich gewarnt. Sie steht auf dem Sprunge, sich zu retten.«

»Und sein Gefolge?« fragte ich. »Der Heilige, der Selige, der Imam und die Generale!«

»Die sind bei den Taki geblieben und bleiben auch dort, bis der Kampf vorüber ist.«

»Das ist ja höchst bezeichnend!« sagte der Pedehr, der bei uns stand. »Früchte auflesen, aber ja nicht mit schütteln! Wie leicht könnte eine treffen, vielleicht gar eine faule! Sprich weiter! Hast du die Khanum Gul gesehen?«

»Nicht nur gesehen, sondern sogar mit ihr gesprochen. Diese beiden Personen verkehren notgedrungen sehr höflich miteinander, hassen sich aber grimmig. Sie glaubt ebenso wie der Prinz, daß ich der Schatten des Scheik ul Islam sei, und schmeichelt mir, um Gefährliches über ihn zu erfahren. Das zwingt sie, auch ihrerseits mitteilsam gegen mich zu sein, und so werde ich von beiden Seiten unterrichtet, ohne diesen Unterricht selbst bezahlen zu müssen. Mit heut ist aber hierin eine Aenderung eingetreten. Die Khanum Gul hat mir nämlich den Antrag gestellt, in ihren Dienst zu treten. Sie sagte, es gehe mit dem Scheik ul Islam zu Ende und sie werde mir die beste Garantie für meine Zukunft geben, falls ich geneigt sei, Alles zu sagen, was ich über ihn wisse. Das war gegen Mitternacht, denn sie hatte mich für diese Zeit zu sich bestellt, weil sie da Ahriman bei sich erwarte. Er kam, aber nicht allein, sondern mit den Massaban. Als er hörte, worüber wir verhandelt hatten, forderte er mich auf, sofort mit ihm zu gehen, um bewiesen zu sehen, daß es besser für mich sei, zu ihm und zur Khanum Gul, als zu dem Scheik ul Islam zu stehen, der sich grad eben in seinem Zelt befand. Er ließ dieses von den Massaban umzingeln und trat mit den Anführern hinein. Ich durfte mit. Da ich die Unterredung dieser beiden Männer im Allerheiligsten mit belauscht hatte, ahnte ich, was es nun für eine Szene geben werde, und wie ich dachte, so geschah es auch: Der Fürst der Schatten nahm den Scheik ul Islam beim Genick, nicht nur bildlich, sondern auch wörtlich, und schüttelte ihn so lange ab, bis auch der letzte Rest von Hochmut herausgeschlottert war. Dann warf er ihn hin und befahl, ihn auf das Strengste hier zu bewachen, bis der Kampf vorüber sei, und ihn dann zur weiteren Bestimmung vorzuführen. Natürlich trat er während alles Dessen, was ich erzähle, nur als Ahriman Mirza, nicht aber als der Fürst der Schatten auf und gab kluger Weise zu ahnen, daß dieser Letztere sich bei den heranziehenden Sillan befinde. Er ließ hierauf das Allerheiligste besetzen, um die Taki nicht in die Ruinen zu lassen, und kehrte dann nach dem Zelte zurück. Ich hatte vor demselben zu bleiben, bei der Dienerschaft, der ich dann half, Decken und Kissen nach der Vorderkante des Stockwerks zu schaffen, wohin der Mirza und die Gul sich beim ersten Grauen des Morgens setzen wollen, um von diesem allerbesten Platze aus dem Abschlachten der Dschamikun zuzusehen. Das gab mir Gelegenheit, mich zu entfernen. Ich eilte nach Eurem Hause hinüber und wurde da zu Euch hierhergeschickt.«

»Und was tust du nun?« fragte der Ustad.

»Das weiß ich nicht. Gib mir einen Platz, damit ich für euch kämpfe!«

»Wir haben Krieger genug. Bist du ein guter Reiter?«

»Ja.«

»So eile nach dem Hause zurück, und sag Kara Ben Halef, daß schnell gesattelt werden soll. Der Barkh für ihn, der Ghalib für dich und der Assil für mich. Dem Syrr mag Schakara den Sitz auflegen; er ist für den Effendi, doch nur mit Halfter. Dann kommt Ihr herab!«

»Wohin soll es gehen?« fragte ich, indem sich der über diesen Auftrag erfreute Aschyk entfernte.

»Hinauf nach dem Beit-y-Chodeh. Dieser Gedanke kam mir erst soeben. Es gibt kein edles Waffenspiel, keinen Kampf zwischen gleichwertigen Männern, sondern nur ein völlig gefahrloses Kesseltreiben auf niedriges Gezücht. Der Kessel ist gestellt, und Jedermann kennt seinen Posten und das, was man von ihm erwartet. Der Hauptmann mag an meine Stelle treten; er weiß Bescheid für alles Mögliche. Wir aber reiten dort hinauf, weil wir vom Beit den besten Ausblick haben. Sehen wir, daß man uns braucht, so können wir in zwei Minuten wieder unten sein. Nötigenfalls dienen Kara oder der Aschyk uns als Boten.«

Das hatte meinen Beifall, besonders deshalb, weil der zu erwartende Bergsturz, falls er nicht später kam, von dem Säulentempel aus viel besser als an jeder andern Stelle beobachtet werden konnte. Der Hauptmann bekam also seine Weisung, und wir gingen nach dem Bergwege, wo Kara mit dem Aschyk und unsern Pferden sehr bald eintraf.

Der Himmel hatte noch die stumpfe, bleierne Farbe, und auch die Nebel zogen noch dicht über den See und das Tal. Sie waren jetzt so kompakt, daß man nur wenige Schritte weit sehen konnte. Dann aber hörten sie plötzlich auf. Wir waren ihrer Grenze entstiegen und befanden uns in freier, durchsichtiger Morgenluft. Es war zwar noch nicht Tagesanbruch, aber im Osten dämmerte es schon leise, und die Linien unserer Bergesspitzen wurden – Bergspitzen? Ah! Auf der dort im Westen flammten hochlodernde Feuer. Waren sie erst jetzt angebrannt worden, oder hatten wir sie wegen des Nebels vom Tale aus nicht sehen können! Das waren die Warnungszeichen auf der Höhe des Alabasterzeltes. Die Lawine holte zum schrecklichen Sturze aus!

Am Beit-y-Chodeh angekommen, stiegen wir ab. Der Aschyk blieb bei den Pferden; wir andern Drei betraten das Innere und gingen nach vorn, wo wir uns niedersetzten. Da sagte der Ustad:

»Hier war es, hier an diesem Orte, wo der Feind uns herausforderte, so soll es nun auch hier sein, von wo aus wir sehen, was er vermag. Der frechste von ihnen damals, der Henker, ist schon dahin, beseitigt durch sich selbst, durch seine eigene Waffe. Du, auf dessen Person er die Blutrache warf, brauchtest gar nicht einzugreifen. So nun auch ich; ich lasse es dem Verhängnis über!«

Wir waren nicht etwa allein hier oben. Ich habe bereits gesagt, daß sich die ganze, große Menge der heut bewaffneten Festgäste auf die ringsum liegenden Höhen zurückgezogen hatte. Sie waren auch hier am Beit. Sie füllten den ganzen, freien Platz. Ihre Linie lief nach beiden Seiten in den Busch, in den Wald hinein. Und als es nun nach und nach heller zu werden begann und unser Blick über den See hinüberreichte, sahen wir sie auch drüben stehen, fast Kopf an Kopf, den ganzen See entlang – auch eine Lawine, welche bereit war, hernieder zu fahren, in den ethischen Abgrund, in das Heer der Sillan hinein. Diese Gefahr für die Feinde war zwar von hier oben, aber noch nicht von unten aus zu sehen. Denn die Nebel rückten enger und enger zusammen, und immer neue und neue kamen dazu. Sie machten für die Tiefe den Blick nach oben unmöglich. Es war, als ob sich die heranziehenden Schatten in dieses dunstige Geschwader verwandelt hätten, um ihren Angriff vom Lande auf das Wasser zu verlegen. Denn der erste Hauch des Morgens war gekommen, von Osten her, wo die Kalhuran mit den nördlichen Dschamikun nun standen, und schob die Nebel, zunächst langsam zwar, doch unwiderstehlich vor sich her, der Ruinenseite zu. Dort wirrten und wühlten sie sich an den alten Mauern empor, wickelten und wirbelten zu den Türmen hinauf und wagten sich sogar über diese hinüber, wo sie an der Kühle und Ruhe des Felsens erstarben.

So wurde es da draußen gegen Aufgang von ihnen frei und zugleich am Himmel immer heller und heller. Schon wurde die Ebene klar, die nach den Pässen führte. Da sahen wir sie reiten, die Schatten. Sie hatten sich am Zelte des Mirza geteilt, um an beiden Ufern gleichzeitig vorzudringen. Ihre Spitzen steckten schon tief in den Nebeln, aber ihre Zahl war so groß und ihre Kolonne so lang, daß nur ein sehr scharfes Auge den hinterherziehenden Troß zu erkennen vermochte. Wehe ihnen, wenn Ahriman den Befehl gegeben hatte, daß diese ganze Menge den See besetzen solle! Sie konnte sich ja nicht rühren! Sie war genau so eingestopft wie die Ultra-Taki im geheimen Gange, nur daß hier die Flucht nach rückwärts offen stand! Aber was für eine Flucht!

Während wir da hinausschauten, um sie heranziehen zu sehen, kam er hinter ihnen her – der Tag! Er folgte ihnen; er hing die Vorhut seines Lichtheeres an ihre Fersen und sandte uns, hoch über ihnen, den Odem seines Grußes zu. Dieser kraftvolle Atemstrom brach sich am Berge der Ruinen und wühlte dort die Nebel auseinander, um das Gemäuer, wenn auch nur vorübergehend, unsern Blicken preiszugeben. Da lagen die beiden Zelte. Das eine war von den Massaban umzingelt. Bei dem andern sahen wir Niemand. Aber vorn, auf der Mauerkante, saß Ahriman Mirza neben der Khanum Gul, und hinter ihnen standen die Diener. Die Stelle, welche sie sich gewählt hatten, lag so weit zurück, daß es ihnen selbst auch ohne die Nebel nicht möglich gewesen wäre, unsere Aufstellung unten im Duar zu bemerken. Sie befanden sich also noch immer in dem Glauben, daß die Dschamikun in tiefem Schlafe lägen.

Da wieherte bei den Schatten ein Pferd. Ein anderes antwortete – noch eines und noch eines. Das war in der Stille des Morgens weithin zu hören und für Ahriman ein Zeichen, daß seine Schatten angekommen seien. Er hatte sie schon des Nachts erwartet und war ungeduldig geworden. Warum den Duar erst leise und schleichend besetzen, wenn es nur einiger weniger Augenblicke bedurfte, ihn in schnellem Ansturm zu überrumpeln? Der Morgenhauch war zum Winde geworden, welcher die Dünste zur rascheren Bewegung zwang. Er begann, sie zu drängen, zu zerreißen, zu peitschen. Sie flatterten auseinander. Sie stoben nach allen Seiten. Sie flohen in alle Lüfte, um dort zerrissen zu werden. Der lichte Morgen war am See erschienen und räumte mit ihnen auf. Von den Ruinen verschwanden sie zuerst, weil der von der Felsenwand zurückkehrende Luftstrom dort doppelt wirkte. Da sahen wir Ahriman stehen. Er hatte sich hoch und gebieterisch aufgerichtet und eine Pistole in der Hand, um das verabredete Zeichen zu geben. Er schaute hinaus, über den See. Er sah nur Schatten, nichts als Schatten, welche nun alle herangekommen waren und in dichtgedrängter Menge das Tal besetzt hielten. Er sah nicht die Dschamikun auf den Höhen, weil sie sich hinter Felsen, hinter Bäumen und Sträuchern verbargen. Und er sah, wie bereits erwähnt, auch nicht unsere kanonenstarrende Aufstellung unten an der vordersten Ruinenmauer. Darum gab er sein Signal; die Pistole krachte.

Nun war er selbstverständlich überzeugt, daß die Schatten sofort von beiden Seiten in das Dorf dringen würden. Das geschah aber nicht, jedenfalls zu seinem größten Erstaunen. Ihre Spitzen waren nahe genug herangekommen, um zu sehen, was vor ihnen lag. Sie hatten beim Anblicke der ihnen entgegengähnenden Geschütze ihre Bewegung eingestellt, und die Führer schienen sich zu beraten. Da schoß Ahriman den zweiten Lauf ab und winkte mit beiden Armen, indem er laute Befehle rief. Man sah seinen Bewegungen an, daß er zornig geworden war. Jedenfalls hatte er befohlen gehabt, sein Zeichen zu erwidern, denn die Päderan gaben nun auch ihre Schüsse ab, je einen auf beiden Seiten. Weiter vorzurücken aber unterließen sie, indem sie wiederwinkten und nach dem Dorfe zeigten. Ihre Schüsse schienen ein vielstimmiges und nicht enden wollendes Echo erweckt zu haben, und Aller Augen richteten sich nach oben, von wo es herunterklang. Da brannten die Warnungsfeuer zwar noch, aber blaß und fahl im Tageslichte. Die Wächter hatten sich auf dem sichern Felsen am Alabasterzelte zusammengezogen und sagten uns durch die Stimmen der mit hinaufgenommenen Gewehre, daß die Moräne zum Sturze auszuholen beginne. Und zu gleicher Zeit griff nun der Hauptmann in die Szene ein. Seine kommandierende Stimme erscholl. Auf seinen beiden Flanken donnerte je ein Geschütz, für dieses eine Mal nicht scharf geladen, und die acht rund um den See verteilten Kanonen fielen augenblicklich ein. Und nun sprangen auf allen Höhen die Dschamikun hinter ihren Verstecken hervor und ließen ihre Stimmen erschallen und ihre Gewehre ertönen. Das war wie ein einziger Schrei und wie ein einziger Krach, unter dem das ganze Tal und der See in ihm erbebte. Dann trat jene tiefe, den Atem anhaltende Stille ein, welche nur entscheidenden oder gar fürchterlichen Ereignissen voranzugehen pflegt.

Kein Mensch, so weit man sah, schien sich bewegen zu können, mit Ausnahme von nur einem. Das war der Chodj-y-Dschuna. Er ging nach dem Landeplatze, stieg in das Boot und ruderte es so weit vom Lande ab, daß er von Ahriman gesehen werden konnte. Dieser stand, noch immer hoch aufgerichtet, aber wie zu Stein erstarrt, auf seinem Platze. Begriff er das, was vor ihm lag? Oder konnte er überhaupt nichts mehr begreifen? Da erhob sich der brave Lehrer der Dschamikun von der Ruderbank und rief mit weithin hörbarer Stimme zu ihm hinauf:

»Ahriman! Die Sterbestunde deines Reiches naht. Die Mauern unter dir beginnen schon, zu wanken, und über dir will die Lawine stürzen; man gab von dort das Zeichen, daß sie kommt. Du willst dem Schah-in-Schah die Herrschaft stehlen und –«

Ein schmetterndes Gelächter schnitt ihm die Rede ab. Aber nicht der Mirza lachte, der sich immer noch nicht regen zu können schien, sondern die Gul war aufgesprungen, um in dieser Weise zu zeigen, daß das Weib in den Augenblicken der Gefahr oft hoch über dem Manne stehe. Sie riß dem vollständig Ratlosen den Säbel aus der Scheide, trat bis ganz an den Rand der hohen Mauer vor und schrie herab:

»Erzähle keine Fabeln, sondern schau dich nach der Wahrheit um! Die Lawine will nicht erst kommen, sondern sie ist schon da. Sie wird Euch packen, sofort, sofort! Heran, ihr Leibscharen des neuen Schah-in-Schah, heran! Hier blitzt der Stahl; ich rufe Euch zum Siege! Yallah – yallah – yallah!«

Sie schwang den Säbel hoch empor, indem sie diesen Ruf ebenso hinausschmetterte, wie vorher das Gelächter und – war das tollkühne Absicht oder die Folge des unvorsichtigen, zu weiten Vortretens? Sprang sie, oder stürzte sie? Ließ sie die Klinge fallen, oder hielt sie sie fest? Man konnte das nicht unterscheiden, aber – bei dem dritten Yallah flog sie von der Mauer herunter. Das sah genauso aus, als tue sie das, um durch diesen verwegenen Sprung in die Feinde herunter die zögernden Schatten zum Angriff zu begeistern. Und es wirkte!

»Yallah, yallah!« riefen die Päderan, indem sie vorwärts stürmten. »Yallah, yallah!« schrien die ihnen nachdrängenden Schatten. »Yallah – yallah – yallah!« brüllte es, weiterlaufend, rund um den ganzen See. Die beiden Kolonnen drängten nach vorn. Da winkte der Chodj-y-Dschuna vom Boote aus dem Hauptmanne zu. Dieser gab das Zeichen. Es wurde zu beiden Seiten gesehen, und die Geschütze begannen, den Tod in die Feinde zu sprühen, nicht nur die zwölf im Duar, sondern auch die übrigen acht.

Der Donner der Kanonen riß den Mirza aus seiner Erstarrung. Er fuhr sich mit beiden Händen nach dem Kopfe und trat, so wie vorher die Khanum, ganz an den Rand der Mauer vor, um ihr nachzublicken. Aber unsere Augen wurden durch etwas Anderes von ihm und von der Wirkung der Schüsse ab- und in die Höhe gezogen.

Wir konnten vom Beit-y-Chodeh aus das ganze abschüssige Terrain am Alabasterzelte übersehen. Die Moräne hatte das lockere Geröll erreicht und schob es vor sich her. Sie wuchtete selbst die größten Blöcke aus, welche infolge ihrer Schwere ins Rollen kamen und der eigentlichen Lawine vorausstürzten. Das geschah gerade in der Pause nach dem ersten Krachen unserer Kanonen. Die Massaban schauten von der Kampfesszene weg, hinauf nach der Bergeskuppe. Sie wußten von dem Aschyk, daß ein Bergsturz erfolgen werde, und als sie nun Stein auf Stein herniederfallen sahen, ergriffen sie schleunigst die Flucht. Der Duar lag zu nahe am Berge; von ihm aus konnte der Eintritt der Katastrophe noch nicht bemerkt werden. Aber den Schatten draußen am Wasser mußte er unbedingt in die Augen fallen. Sie hielten im Vordrängen wieder inne. Sie schrien nicht mehr »yallah«, sondern ganz anders. Sie richteten ihre Blicke nicht nach vorn, obgleich da unsere Geschütze weiterdonnerten, sondern nach oben, wo die Moräne sich am Felsen des Zeltes in zwei breite, wirbelnde Ströme geteilt hatte und nun herniederschoß. Noch ehe sie unten auftraf, erscholl von allen Punkten des Tales ein vieltausendstimmiger Schrei, dann –

Das war kein Krach, den es gab, kein Schlag, kein Knattern und Prasseln, kein Dröhnen und Rasseln, kein Knirschen und Tosen, kein Brausen und Saufen, kein Zerbersten, Zerspringen und Zerplatzen, kein Knallen, kein Beben, kein Zittern, kein Rollen, und doch aber war es dieses Alles, Alles, Alles, aber in so entsetzlicher und betäubender Weise vereint, daß es ganz unmöglich beschrieben werden kann. Die Wucht des Sturzes dieser schweren Massen erregte einen Luftdruck, der uns hier hüben wie ein unsichtbarer Schlag an die Köpfe traf, drüben aber Alles, was da stand, zu Boden warf. Ahriman Mirza wurde von der Mauer hinweg und weit in die Luft hinausgeblasen. Wohin er fiel, das sahen wir nicht, weil aus der höllischen Verwirrung eine Staubwolke aufstieg, welche zunächst die ganze Ruinenseite des Tales verhüllte und sich dann in der Weise weiter verbreitete, daß wir nur mit Vorsicht atmen konnten. Die Atmosphäre wurde in solcher Höhe und Weite von diesem Staube erfüllt, daß noch einige Tage später der Bergwald am äußersten Ende des Sees aus Grün in Grau verwandelt lag. Das Auftreffen der Lawine hatte eine Bodenerschütterung zur Folge, die als Zittern weiterlief und von einem Geräusch begleitet wurde, als ob ein Kegeljunge alle seine Kugeln auf der Laufrinne hinunterrollen lasse.

Obgleich wir auf dieses Ereignis vorbereitet gewesen waren, konnten wir uns dem Eindrucke seiner elementaren Gewalt doch nicht entziehen. Wie mußte es da erst bei Denen wirken, die es unerwartet traf! Wir sahen das zwar nicht, aber wir hörten umso mehr. Das war kein Lärm, der zu uns heraufdrang, sondern ein überlaut zeterndes Getöse. Menschliche Stimmen erschallten in jeder Klangfarbe des Entsetzens. Pferde wieherten überall, aber in einer mir bisher ganz fremden Weise. Kamele brüllten; Hunde heulten. Auch im Walde wurde es laut. Die ganze Tierwelt, die zahme und die wilde, schien sich in der größten Aufregung zu befinden. Wir mußten hin zum Aschyk eilen, weil unsere Pferde durchgehen wollten.

Als wir sie beruhigt hatten und wieder an unsern Platz kamen, stieß der Ustad einen Ruf der Ueberraschung aus, indem er dort hinüber deutete, von woher die Lawine gekommen war. Auch wir staunten, Kara und ich. Die Staubwolke hatte nicht bis zur Bergeskuppe steigen können, und hier bei uns begann sie, dünner zu werden. Darum sahen wir zwischen den beiden Wegen, welche die Moräne genommen hatte, einen freien, nackten, starken Felsenarm weit in die Luft hinausragen, in dessen gewaltiger Faust die glänzend weiß blinkende Alabasterkrone ruhte. So, genau so hatte ich es mir gedacht, als ich mich zum ersten Male auf dem See befand8. Meine damalige Idee war also keine schnell und spurlos zerplatzende Gedankenblase gewesen!

Wie da drüben die eine Lawine niedergegangen war, so schickte sich nun auch die andere, die kriegerische, an, zu Tale zu rollen. Ueberall, wo der Staub es nicht verhüllte, sahen wir, daß die Dschamikun die Höhen verließen, um in die von der Katastrophe unterbrochene Aktion einzugreifen. Es war vorherbestimmt worden, daß sie nach den ersten Kanonensalven sich unter guter Deckung an die Schatten machen sollten, um sie unter ihr Gewehrfeuer zu nehmen, welches bei den hier gegebenen Verhältnissen denselben Erfolg haben mußte wie ein Hagelwetter auf ein schutzlos stehendes Feld. Dann hatte die zu beiden Seiten des Duar versteckte Reiterei hervorzubrechen, um die Uebriggebliebenen niederzurennen oder, einer unheilvoll wirkenden Schaufel gleich, in den See zu werfen.

Wir erwarteten, daß das Schnellfeuer dieser tausende von Schützen jetzt beginnen und mit seinem ununterbrochenen Rollen jedes andere Geräusch verschlingen werde, bekamen aber nichts zu hören als das dumpf herauftönende Stampfen eilig laufender Pferde. Kein Schuß wollte fallen, weder aus einer Kanone noch aus einem Gewehre. Was war das? Welchen Grund hatte dieses für uns rätselhafte Schweigen?

Unser Freund, der Morgen, beantwortete uns diese Frage. Wie vorher in die Nebel, so fuhr er mit seinem Winde nun auch in die Staubwolke. Er trieb sie vom See hinweg nach dort, woher sie gekommen war, nach den Ruinen, und drückte sie derart gegen die Felsenwand, daß sie zu ersticken begann. Das Tal lag infolge dessen vollständig frei vor unseren Augen, und da erkannten wir, daß uns unser so wohlüberlegter Plan auf das Gründlichste verdorben worden war. Wir sehen einander an und wußten nicht, ob wir lachen oder uns ärgern sollten.

Wie lächerlich von uns, geglaubt zu haben, daß die Schatten unter dem Schutze des Alles verhüllenden Staubes unsern Kanonen standhalten würden! Sie waren nämlich gar nicht mehr da, diese unstäten, schreckhaften Memmen! Wo Lawinen stürzen, bleiben nur herzhafte Männer stehen, nicht aber feige Gesellen, denen das Rückgrat fehlt! Wie aber war das gekommen? Und wie hatte es geschehen können, daß eine so dicht zusammengedrängte Menge sich zu entfernen vermochte, ohne unter sich selbst auch nur eine Spur von Verwirrung anzurichten? O, sehr einfach und leicht! So kompakt sich ihre Masse vorerst zusammengeschoben hatte, es war doch schnell, sehr schnell Platz geworden. Die Hintertreffen hatten gleich bei den ersten Kanonenschüssen das Weite gesucht, denn für eine so grobe Behandlung ist kein Schatten zu haben. Dadurch waren ganz naturgemäß neue Hintertreffen entstanden, welche ganz derselben Meinung waren und auch ganz dasselbe taten; sie machten ebenso Kehrt. So hatte sich ein Hintertreffen nach dem andern gemütvoll abgelöst, um heimlich nach rückwärts zu gehen. Wir sahen diese einzelnen Geschwader schon außerhalb des Tales reiten, um sich dort einträchtig und wohlbehalten wieder zusammenzufinden. Wenn auch nicht ganz, aber doch so ziemlich nahe befanden sich nur noch die beiden lieben Vordertreffen. Sie hatten ganz unerwartet und zu ihrem größten Erstaunen bemerkt, daß sie nun nicht mehr vorn, sondern hinten waren, und sich augenblicklich umgedreht, um wieder nach vorn zu kommen. Ihre Pferde waren es, deren galoppierenden Hufschlag wir gehört hatten. Sie strebten soeben von beiden Seiten dem Zelte Ahriman Mirza’s zu und jagten, als ob ihnen unsere ganze Macht im Nacken säße.

»Schatten!« sagte der Ustad in einem Tone, als ob es ihn ekele. »Und mit solchem Gesindel will man nicht nur uns, sondern sogar dem Schah-in-Schah imponieren! Wie töricht von uns, solche Vorbereitungen zu treffen, wo es sich jetzt herausstellt, daß es keines einzigen Mannes von uns bedurfte. Fast schäme ich mich!«

Wir sahen, daß man unten im Duar ebenso erstaunt war, wie wir hier oben, doch zögerte man nicht, sich der neuen Situation sofort anzubequemen. Die Reiterei brach hervor, um die Verfolgung aufzunehmen. Drüben erschien der auf dem Nordwestwege versteckt gewesene Scheik von Schohrd mit seinen Leuten, und ihm folgte Ibn el Idrak mit den Takikurden, die er hatte anmelden lassen. Hüben brachen die südlichen Dschamikun aus dem Wege nach dem Tale des Sackes hervor, hinter ihnen die Dinarun, von ihrem Scheike angeführt. Sie ritten, was ihre Pferde nur laufen konnten, auf der Rennbahn zu beiden Seiten des Wassers hin, um die Schatten den vereinigten Kalhuran und nördlichen Dschamikun entgegen zu treiben. Auch der Hauptmann der Leibgarde warf sich auf sein Pferd; der Chodj-y-Dschuna ebenso. Dschafar Mirza eilte nach dem Hause hinauf, um sich beritten zu machen. Die Dschamikun alle, welche im Niedersteigen begriffen gewesen waren, kehrten schnell wieder um, weil sich jenseits der Höhen die Plätze befanden, wo ihre Pferde einstweilen untergebracht worden waren. Von dort aus war es ihnen leicht, im Osten hinabzukommen und die Umzingelung der Schatten zu verstärken. Es schien, als ob Jedermann von einer Art von Verfolgungsfieber ergriffen worden sei, ausgenommen die Leute des Schah-in-Schah, welche nun nach der Entfernung des Hauptmannes ein Najyb-y-Aewwäl kommandierte.

Auch wir fühlten uns nicht berufen, wegen fliehender Schatten unsere Pferde anzustrengen; wir blieben. Zudem wurden wir von dem Anblicke festgehalten, den der Ruinenplatz jetzt bot. Die Lawine war, wie bereits erwähnt, in zwei Hälften herabgestürzt. Die beiden hohen, gewaltigen Erd- und Steinhaufen, welche sich hierdurch gebildet hatten, lagen im Hintergrunde vereinigt, vorn aber nicht. Es gab da eine schmale Einbuchtung der Trümmer, durch welche die Tür zum Allerheiligsten freigelassen worden war. Dort hatte ein Teil der Massaban gestanden, um den geheimen Gang zu bewachen. Wie sich später herausstellte, war es ihnen gelungen, sich durch die Flucht zu retten und einstweilen zu verbergen. Und doch gab es Leute dort. Sie traten aus der Tür, Einer nach dem Andern, und zeigten durch ihre Bewegungen, wie sehr sie über den Anblick erschraken, der sich ihnen bot. Es folgten Mehrere, und als sie weiter nach vorn kamen, sahen wir, daß es unsere Leute waren, welche in dem Gang postiert gewesen waren, um die Ultra-Taki nicht hindurchzulassen. Sie hatten das Aufschlagen der Lawine und die erdbebenartige Erschütterung sehr deutlich gespürt und einen Kameraden herausgeschickt, um nachzusehen, was geschehen sei. Er meldete es ihnen, und nun kamen sie Alle, um sich zu retten. Sie wußten ja, daß die Säulen unter den Ruinen einzubrechen begannen, und waren überzeugt, daß die Decke die niedergestürzten Massen nicht zu tragen vermöge. Wenn sie einbrach, so mußte Jeder, der sich im bedrohten Teile des Ganges befand, verloren sein. Darum hatten sie sich geflüchtet und beeilten sich, in der schnellsten Weise herunter in den Duar zu kommen.

Hinter ihnen erschienen die eingeschlossenen Taki, Allen voran der Selige, der Heilige, der Imam und die Generale. Sie waren sehr wohl bedacht gewesen, die Gefahr des Kampfes zu meiden, und aber nun in eine viel größere geraten. Wie behend sie klettern konnten! Wie sie sprangen und rannten, ganz gegen alle früher gezeigte Würde! Nur um den lieben, irdischen Leib in Sicherheit zu bringen! Nach diesen drängten sich die Andern aus der Tür, alle die Feinde, die wir bei den Taki hatten. Sie schoben sich; sie stießen sich; sie trieben einander mit den Fäusten vorwärts. Ihre Zahl wuchs mehr und mehr. Und wie sie so dem Dunkel der Erde entquollen und schreiend, fluchend, stolpernd, über einander stürzend, in sinnloser Hast zu entrinnen und nur zu entrinnen suchten, kamen sie mir vor wie fliehende Ratten, welche von ihren Schiffe nichts mehr wissen wollen, weil es zu sinken beginnt. Sie waren so voller Angst und so Hals über Kopf verwirrt und verschüchtert, daß sie sofort Alles, was sie an Waffen bei sich trugen, wegwarfen, als der Oberleutnant ihnen unten entgegentrat und sagte, daß er sie als Feinde gefangen zu nehmen habe. Trotz dieser Bereitwilligkeit aber erklärten der Selige, der Heilige, der Imam und die beiden Generale, sofort mit dem Ustad sprechen zu müssen. Weder sie noch die hier anwesenden Taki hätten je irgend Etwas gegen uns unternommen, und es sei also eine schreiende Ungerechtigkeit von uns, sie als Gefangene zu betrachten und zu behandeln. Als sie hörten, daß der Ustad hier oben am Beit-y-Chodeh sei, verlangten sie, hinaufgeführt zu werden, damit diese wichtige Sache sogleich entschieden werde. Er hielt es für keinen Fehler, auf dieses Verlangen einzugehen, und so sandte er uns die ganze Cohorte zu, von einer Anzahl Leibgardisten als Wache begleitet.

Als sie oben anlangten, kamen sie alle in den Tempel herein und stellten sich hinter uns auf. Der Selige trat vor, um zum Ustad zu sprechen; dieser aber forderte ihn auf, jetzt noch zu schweigen und hinüber nach den Ruinen zu sehen, wo soeben ein Anderer zu sprechen beginne, der über allen Seligen erhaben sei und dessen Rede man nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen bekommen werde.

Er hatte mit diesen Worten nicht zuviel gesagt, denn was sich jetzt da drüben vorbereitete, mußte Jeden, der es sah, mit Grauen erfüllen. Es war im Osten vollständig morgenrot geworden, und die Sonne stand dem Aufgange nahe. Die Alabasterkrone hoch oben lag bereits in vollster, goldiger Glut. Sie flimmerte wie von millionen Diamanten und Rubinen. Aber tief unter ihr war es unheimlich, denn da begann es sich zu regen und zu bewegen, und man konnte doch nicht deutlich erkennen, wo und wie. Es war wie ein langsames Wiegen hin und her. Hier und hier und dort und da schütterte und verschwand der Boden in sich hinein, in die Tiefe, wie durch sich bildende Schächte. Wir hörten einen Knall, als ob die Erde von innen heraus auseinandergesprengt werde. Es folgte ein steinernes Knacken und Prasseln, wie von einem gigantischen Ungeheuer, welches Berge verzehrt und die Felsenknochen derselben mit den Zähnen zermalmt. Und da – da – da tat sich vor unsern Augen da drüben ein furchtbarer Rachen auf und begann die Ruinen mitsamt den herabgestürzten Höhenmassen zu verschlingen! Und während sie in diesem heißhungrigen, gefräßigen Schlund verschwanden, schoß ihm das emporgetriebene Wasser der Tiefe über die Lefzen und wurde zu gleicher Zeit mit einer solchen Gewalt aus dem Kanal in den See gepreßt, daß es sich wie ein beutegieriger, springender Leviathan über seine Fläche stürzte und erst weit draußen verendend niedersank.

Wir aber achteten weder auf den jetzt plötzlich in hohen Wellen gehenden See, in den sich der ganze Inhalt der unterirdischen Bassins zu ergießen hatte, noch auf sonst etwas Anderes, sondern nur auf eine einzige Stelle, die unsere Aufmerksamkeit in fast wunderbarer Weise gefangennahm. Wir sahen von den Ruinen nur noch die vordere Mauer. Alles, was hinter und über ihr gelegen hatte, war verschwunden, in ein vollständig ebenes Feld verwandelt, fast genau so, wie es von der Kirchenzeichnung des Ustad dargestellt wurde. Und grad da, wo auf dieser Zeichnung im Hintergrunde der Säulenhalle das leere Postament stand, leuchtete uns die herrliche Alabastergestalt des durch die Katastrophe nun endlich erlösten »verzauberten Gebetes« entgegen. Vom dunkeln Hintergrunde der Nische uns doppelt hell gezeigt, streckte es seine emporgehobenen Arme dem Aufgange der Sonne entgegen, um mit offenen Händen den Segen zu nehmen und zu spenden, in den der tausendjährige Fluch verwandelt worden war. Und wie sie nun emporstieg, die ersehnte Sonne, so kam ihr Licht von der funkelnden Alabasterkrone hernieder, wie auf Engelsschwingen getragen, die sich hold und froh zur Erde senken. Sie küßte die Stirn, die Wangen, den Mund des genau unter dieser Krone stehenden Gebetes und floß dann über das ganze Tal, um zu verkünden, daß es bisher nur Morgen gewesen, nun aber endlich und wirklich Tag geworden sei.

Der Ustad sprach kein Wort. Er hatte meine Hand ergriffen und drückte sie mir so, daß es allerdings keiner Worte bedurfte, ihn zu verstehen. Um so lauter waren die hinter uns Stehenden. Ihr Dogma zwang sie, die auf so rätselhafte Weise erschienene Figur als einen Greuel zu betrachten, denn Allah hat verboten, von beseelten Wesen Bilder anzufertigen. Wer vor Bildern betet, ist ein Götzendiener. Wer aber gar Bilder selbst beten läßt, der ist ein Gotteslästerer, wie es keinen größern geben kann. Sie sagten das ganz ungeniert und in so scharfen Ausdrücken, daß ich die Selbstbeherrschung des Ustad bewunderte, der sich zu ihnen umdrehte und sie fragte, was sie eigentlich hier an dieser Stelle zu suchen hätten. Da öffnete der Selige den Mund und hielt seine Rede, deren Grundgedanke die Behauptung war, daß kein Einziger von ihnen jemals daran gedacht habe, irgend etwas Feindseliges gegen die Dschamikun zu unternehmen. Sie seien keine Feinde und also augenblicklich freizulassen. Zur Bekräftigung gebe er im Namen Aller sein Ehrenwort, daß er die Wahrheit gesprochen habe.

»Im Namen Aller? Wirklich?« fragte der Ustad, indem er sie anschaute und sein Auge auf jedem Einzelnen ruhen ließ.

Da erhoben sie ihre Hände zum Zeichen der Bejahung, keiner von ihnen ausgenommen. Der Ustad nickte mir und Kara zu, ihm zu folgen. Er ging, ohne Antwort zu geben. Wir bestiegen unsere Pferde und ritten nach dem Duar. Unten angekommen, teilte er dem Oberleutnant mit, daß die Gefangenen frei seien, aber das Gebiet der Dschamikun sofort zu verlassen hätten.

»Frei?« rief Kara, der sich doch nicht halten konnte, fast zornig aus. »Sie haben ja bei ihrer Ehre gelogen, alle, alle! Der Selige, der Heilige, der Imam, die Generale und sämtliche Taki, vom Ersten bis zum Letzten!«

»Das weiß ich ebenso gut, wie sie es selbst auch wissen,« antwortete der Ustad lächelnd. »Aber grad darum gebe ich sie frei, denn solche Ehrenmänner möchte ich nicht einmal als Gefangene bei mir haben! Verstehst du mich nun?«

Das Erste, was wir nun taten, war, uns nach Ahriman Mirza und der Khanum Gul zu erkundigen. Denn daß die Katastrophe mit den Ruinen zugleich auch den Scheik ul Islam vernichtet hatte, das bedurfte ja keiner Frage. Der Oberleutnant sagte, daß wir im Hofe des Chodj-y-Dschuna die Antwort finden würden. Dort angekommen, sahen wir Beide. Die Khanum war tot, in den Säbel gestürzt. Der Mirza saß neben ihr, unbeschädigt am Körper, aber mit stumpfem Gesicht und leeren Augen. Er kannte uns nicht mehr. Er schien auch sich selbst nicht mehr zu kennen und leierte, wir mochten sagen, was wir wollten, nur immer und immer den Satz vor sich hin: »Ahriman Mirza ist der Fürst der Schatten, und wenn er stürzt, ist es mit ihnen aus. Ahriman Mirza ist der Fürst der Schatten, und wenn er stürzt, ist es mit ihnen aus –!« Der Ustad hat es also erreicht: Ihn nur mit dem einen Worte »Chodem«, am richtigen Orte und zur rechten Zeit angewendet, aus der »Schablone« herausgetrieben, die nichts und nichts als Lüge war! Da hatten wir sie vor uns, nicht die seidene, sondern die eigentliche schwarze Larve des Aemir-y-Sillan. Und dieses psychologische Präparat wurde nun durch die Macht des Verhängnisses gezwungen, nichts und nichts weiter mehr zu tun, als die bisher so sorgfältig verhüllte Wahrheit ganz offen und nur immer und immer vor sich herzuleiern!

Als wir aus dem Hause traten, trafen wir auf Agha Sybil und die Seinen, welche vor dem Nahen der Schatten ihr vollständig ausverkauftes Zelt abgebrochen und sich hinauf zu uns geflüchtet hatten. Sie kehrten zu dem verlassenen Platz zurück. Auch kamen von allen Seiten die Angehörigen der Festgäste und die Frauen und Kinder unserer heimischen Dschamikun herbei. Sie hatten sich selbstverständlich zurückziehen müssen und nun aber die Nachricht erhalten, daß sie sich wieder einstellen könnten. Man kann sich das Erstaunen denken, als sie die Veränderung sahen, welche mit dem Ruinenplatze vor sich gegangen war. Wir warnten sie, die gern sogleich hinaufgestiegen wären. Ehe man dies wagen konnte, hatte sich die Masse erst noch zu beruhigen und zu senken. Zugleich langten diejenigen von unseren Leuten an, mit denen an der andern Seite des Berges der geheime Gang von außen besetzt worden war. Auch sie hatten die Detonationen gehört und die Erschütterung der Erde gespürt. Als sie dann später bemerkten, daß sich die Ultrataki gar nicht mehr in dem Gange befanden, hatten sie geglaubt, ihren Posten verlassen zu dürfen. Sie kamen eben von der einen Seite in den Duar, als die von ihnen eingeschlossen Gewesenen von der andern, der Seite des Tempelberges, sich näherten. Diese Letzteren gingen mit würdevoll abgemessenen Schritten und hochgetragenen Häuptern stolz zwischen den Dschamikun hindurch, um jenseits in der Schlucht des Baches zu verschwinden! Den Ersteren aber sagte der Ustad, daß die nicht gebrauchten Signalflammen sich heut Abend in Freudenfeuer zu verwandeln hätten, wobei auch die verteilten Fackeln mit zu verwenden seien. Das brachte die schnellste Bewegung auch in die Menge der Frauen und Kinder. Man ging sofort an das Werk, alles vorhandene Brennmaterial zusammenzusuchen und die Zahl der Holzstöße zu vermehren, denn heut Abend müsse es im Tale so hell wie am Tage sein.

Hierauf wurde beschlossen, einen Ritt um den See zu machen, um nach den gefallenen Schatten zu sehen. Sie lagen nur an den Stellen, welche von den Kanonen bestrichen worden waren. Wir fanden nicht nur den Vertrauten des Mirza, sondern auch sämtliche Pädäran, welche an jenem Sonntage des Gottesdienstes mit dem Mirza und dem Henker als Bluträcher zu uns gekommen waren. Der Ustad beschloß, diese Leichen alle den Ultra-Taki hinüberzuschicken, um nach dem von dem Scheik ul Islam vorgeschriebenen Dogma und Ritus begraben werden zu können. Das solle eine Todeskarawane werden, welche wirkliche Verstorbene, nicht aber Gewehre für Empörer transportiere.

Als wir das andere Ende des Sees erreichten, stand das Zelt Ahrimans verlassen, gänzlich menschenleer. Wir gingen hinein. Es war fürstlich ausgestattet. An der hintern Wand stand zwischen einem Diwan und einem langen Speiseserir eine köstlich gearbeitete, verschlossene Truhe. Ueber ihr hing ein kleines Bild und ein vergoldeter Schlüssel dabei. Der Ustad trat hinzu, um nachzusehen, was für ein Bild es sei. Kaum fiel sein Blick darauf, so stieß er einen Ruf der Ueberraschung aus. Er nahm es herab und ging zum Eingang, um besser sehen zu können. Dann öffnete er vorn sein Gewand und zog eine Perlenkette unter demselben hervor, an welcher auch ein Bild, von ganz derselben Form und Größe, hing. Er hielt beide neben einander, um sie zu vergleichen. War das seinige vielleicht dasselbe Bild, von welchem Pekala mir erzählt hatte, daß er es an einem einzigen Tage des Jahres auf seinem härenen Gewande trage?

Nach einiger Zeit kehrte er zur Truhe zurück und versuchte, ob der Schlüssel passe. Es war der richtige. Sie schien nur Papiere zu enthalten. Er griff hinein, um zu sehen, was für welche. Er las, griff weiter und las wieder. Dann drehte er sich zu mir herum und sagte:

»Befremdet es dich, wenn ich Euch bitte, mich jetzt zu verlassen? Ich muß allein sein, muß suchen und lesen. An der Verfolgung der Schatten beteiligte ich mich nicht; sie widerte mich an. Nach dem aber, was ich hier sehe, möchte ich, daß keiner von ihnen entkomme, kein einziger. Ich habe sie alle zu fassen, alle, und dem Beherrscher auszuliefern. Das Reich muß frei werden von ihnen, gänzlich frei! Darum bitte ich Euch, reitet unsern Leuten nach und sorgt dafür, daß man ja nicht nachsichtig oder gar sorglos verfahre! Ich vermute, daß ich lange Stunden brauche, bis ich hier fertig bin; für mich habt Ihr Euch also mit Eurer Rückkehr nicht zu beeilen.«

So stiegen wir Drei also wieder auf und ritten nicht nach dem Duar zurück, sondern nach Osten, gegen die Pässe. Die dorthin führende Ebene lag frei. Kein Mensch war auf ihr zu sehen. Die sehr flüchtig berittenen Schatten hatten keine Nachzügler oder gar Marode zurückgelassen, und die Verfolger waren ebenso schnell hinterher gewesen. Als wir in der Nähe des Gebirgszuges angekommen waren, sahen wir, daß man sich geteilt hatte, um gleichzeitig durch beide Pässe zu gehen. Wir wählten den südlichen, den des Hasen, durch welchen Kara damals mit Tifl geritten war. Auf seiner Höhe angekommen, sahen wir die herrenlose, steppenähnliche Fläche unter uns liegen, auf welcher Kara den von den Bluträchern gejagten Scheik der Kalhuran und seine Frau gerettet hatte. Sie war die festgeschlossene Falle, in welcher sich die Sillan jetzt befanden.

Sie bildete ein großes, von der Natur mit Bergeszügen abgeschlossenes Viereck, dessen Seiten folgendermaßen besetzt waren: Auf der Westseite, also grad unter uns, die Duardschamikun, die Gewappneten von Schohrd und die verbündeten Taki; auf der Nordseite alle unsere männlichen Festgäste, welche zur rechten Zeit gekommen waren, mit eingreifen zu können; im Osten die nördlichen Dschamikun und die Kalhuran, und im Süden die südlichen Dschamikun mit den Dinarun. Die Einschließung war also außerordentlich exakt und genauso ausgeführt worden, wie der Ustad sie entworfen hatte. Die Schatten befanden sich in der Mitte; keiner fehlte. Sie kamen nicht auf den Gedanken, sich zu einer Phalanx zu vereinigen, um einen Durchbruch zu versuchen, denn dazu waren sie zu feig, sondern sie ritten in getrennten Trupps oder Rudels ganz ratlos hin und her und ließen sich immer enger zusammenschnüren.

Unweit der Stelle, an welcher der Hasenpaß in die südwestliche Ecke der Falle mündete, hatten sich unsere sämtlichen Führer zu einer Beratung zusammengefunden, zu welcher sich soeben auch der Scheik der Kalhuran von dem entferntesten Punkte unserer Aufstellung einstellte. Wir ritten hinab. Es war aber ein sehr steiler Weg, und wir schonten unsere Pferde. Darum kamen wir erst unten an, als diese kurze Besprechung soeben zu Ende war. Der Scheik der Kalhuran, der die Gegend genau kannte, hatte einen Vorschlag gemacht, welcher einstimmig angenommen worden war. Es handelte sich um die beste Art und Weise, in welcher die Schatten schnell zu entwaffnen und dann leicht zu bewachen seien. Ich fügte da nachträglich den Befehl des Ustad hinzu, ja Niemand entkommen zu lassen. Nun gab es drüben an der nördlichen Seite eine große, weite Felsenkluft, deren Wände so steil und so hoch waren, daß kein Mensch an ihr emporsteigen konnte. Sie war nur durch einen schmalen Riß zugänglich, welcher hier heraus auf unsere Ebene mündete. Die Schatten mußten nach diesem Risse getrieben und dort entwaffnet werden. Waren sie dann in der Kluft, so gab es für keinen Einzigen ein Entrinnen.

Die Anführer kehrten infolge dieses Beschlusses an ihre Plätze zurück, um der Aufstellung die erforderliche neue Gestalt zu geben, was sehr schnell geschehen konnte, weil mehr als genug Platz zu den erforderlichen Bewegungen vorhanden war. Unser bisheriges Viereck verwandelte sich in ein Dreieck, dessen offene Spitze nach der Kluft führte. Als dies geschehen war, wurde der Feind auf diese Spitze zugedrängt. Wir sahen, daß er zögerte, diesem Stoße zu folgen. Es schien, daß er endlich nun einmal den Mut fasse, wenigstens so zu tun, als ob er die Absicht habe, sich zur Wehr stellen zu wollen. Da machte der energische Scheik von Schohrd kurzen Prozeß. Er gebot seinen Gewappneten, blank zu ziehen, setzte sich mit entblößtem Schwerte an ihre Spitze, ritt mit ihnen bis ganz an die Schatten heran und begann zu sprechen. Wir konnten nicht hören, was er sagte, aber es hatte den beabsichtigten Erfolg: Die Hinteren drängten unwiderstehlich nach vorn, und die Vorderen rückten weiter. Da auf der Flucht die vorn Befindlichen niemals die Mutigen sind, so sahen sie sehr vernünftiger Weise ein, wie überlegen wir ihnen waren und daß Widerstand nichts als nur Dummheit sei. Sie stiegen ab, lieferten ihre Waffen und Pferde aus und verschwanden dann in der Kluft.

Das Beispiel wirkt, und was der Eine kann, das kann der Andere auch! Während wir von den andern Seiten immerfort nachdrängten, gab es auf der Ostseite mehr als vollauf zu tun, die erbeuteten Waffen und Rosse aus der Linie zu bringen. Aber der einzige Zugang zu dem Massengefängnisse war so schmal, daß die Unterbringung der Schatten viel langsamer vor sich ging, als wir es wünschten. Uebrigens nahmen sie ihr Schicksal nicht sehr tragisch auf. Schatten denken ja heut so und morgen so! Als es ihnen mit der Zeit im Sattel zu unbequem wurde, stiegen sie ab und machten es sich auf der Erde gemütlicher. Und wenn dann unsere Leute kamen, um die Pferde wegzunehmen, so bekamen sie die Gewehre, Pistolen und Messer ganz ohne Widerrede obendrein. So kam es, daß wir die Beute schon alle beisammen hatten, als noch fast die Hälfte der Schatten im Freien saßen und darauf warteten, untergebracht zu werden.

Was diese Beute betraf, so hatte der Ustad im Namen sämtlicher Dschamikun auf sie verzichtet. Sie sollte nur unsern Verbündeten zufallen, und diese ernannten sogleich an Ort und Stelle eine Kommission, welche die einzelnen Stücke zu taxieren und gerecht zu verteilen hatte. Das geschah denn auch, und grad als der letzte Schatten in der Ritze der Kluft verschwunden war, hatte auch das letzte ihrer Pferde seinen neuen Herrn bekommen und die letzte ihrer Waffen ihre neue Stelle gefunden. Da war es nun aber auch beinahe Abend.

Die Bewachung der Gefangenen wurde den Kalhuran anvertraut, von deren Scheik man sicher sein konnte, daß er dieser seiner Pflicht genügen werde. Was hier nun noch zu geschehen hatte, konnte mir gleichgültig sein. Darum beschloß ich, heimzureiten, und Dschafar Mirza gesellte sich zu demselben Zweck zu uns. Da sahen wir weit draußen im Osten einen Kamelreiter kommen. Sein Tier war kein gewöhnliches. Es entwickelte eine Schnelligkeit, welche Dschafar zu dem Ausrufe veranlaßte:

»Das kann nur ein Eilbote sein! Vielleicht wieder vom Schah-in-Schah!«

Er hatte ganz richtig vermutet. Wir ritten so, daß der Mann auf uns treffen mußte, und erfuhren da, daß er vom Beherrscher komme und je einen Brief an Dschafar Mirza und an den Ustad der Dschamikun habe. Der Erstere bekam seinen Brief und las ihn sofort. Es war ein langer, schmaler, starkbesiegelter Zettel dabei. Dschafar lächelte, sagte aber jetzt noch nichts. Wir ritten weiter, mit dem Kuriere Schritt haltend. Aber meinem Syrr schien der Geruch des Kamels unangenehm zu sein. Er schüttelte den Kopf wie gegen einen lästigen Mückenschwarm und drängte seitwärts ab. Das half nicht genug. Da bäumte er sich unwillig auf und setzte sich dann in einen Galopp, der mich weit, weit eher als die Andern vor das Zelt Ahriman Mirzas brachte. Der Ustad war noch da. Er sagte, daß er soeben erst mit dem Lesen fertig geworden sei und mir erst morgen mitteilen werde, was er hier so ganz unerwartet gefunden habe. Ich erzählte ihm, in welcher Weise die Schatten entwaffnet und untergebracht worden waren, und dann kam der Kurier, welcher das Schreiben abgab.

Es war inzwischen so dunkel geworden, daß wir im Zelte Licht anbrannten, damit der Ustad es lesen könne. Es enthielt zwei Bogen, beide mit dem Siegel und der eigenhändigen Unterschrift des Beherrschers. Den einen gab er mir mit dem Bemerken, davon Gebrauch zu machen, sobald es mir beliebe. Es war – die volle, bedingungslose Begnadigung des Aschyk. Den andern steckte er ein, ohne jetzt schon über seinen Inhalt zu sprechen. Es war ihm zunächst um den Transport der Truhe zu tun, die er unmöglich hierlassen könne. Es sei nicht nur Wahnsinn, sondern geradezu Verrücktheit, derartige Papiere nicht besser aufzubewahren als der Prinz. Da erbot sich der Kurier, die Truhe mit auf sein Kamel zu nehmen. Er mußte ja mit nach dem Duar, um dort zu warten, bis der Bericht des Ustad und die Antwort Dschafars fertig waren. Sie wurde ihm hinaufgegeben und oben festgebunden, und dann ritten wir heim.

Heim! Ja, es ist Heimatsgefühl, welches mir dieses Wort aus der Feder fließen läßt. Wer sich bei guten Menschen nicht daheim fühlt, für den gibt es überhaupt keine Heimat, weder hier noch dort. Er hat sie sich erst zu – ersühnen! Und wer da nicht weiß, daß es auch geistige und seelische Stätten gibt, welche köstlicher und heiliger sind als jedes irdische Vaterhaus, der ist ärmer als selbst der Bettler, dem die kleinste Herberge einen Platz zum Ruhen gewährt. Zu so einer heiligen Stätte war mir das Haus des Ustad geworden, und der Duar hier im Tal zu einem Wohnsitz von lieben Verwandten. Darum war der Tag ihrer Befreiung von Schatten und Schemen nicht bloß für sie, sondern auch für mich ein Freudentag, und ich horchte froh auf, als jetzt ganz da vorn eine krachende Salve von allen Kanonen ertönte und mit ihrem Donner die Feuer der Höhen erweckte.

Wir ritten langsameren Schrittes, um den sich entwickelnden Anblick hastlos zu genießen. Da stiegen zuerst drüben am Beit-y-Chodeh die Flammen auf, als ob dort ein Jesaias stehe, der sein »Mach dich auf, und werde Licht!« in Feuergluten erschallen lasse. Und das ganze Tal gehorchte; die Berge »machten sich auf«, und auf allen Höhen »wurde Licht«. Und hoch über diesen Bergen zündete auch das Firmament jetzt seine Leuchten an und ließ »das Licht von oben« niedersteigen. Die Alabasterkrone erschien, uns im Sternenscheine gezeigt, als ob sie der Erde vom Himmel entgegengestreckt werde, weit hinaus in das Dunkel der Bergestiefe ragend. Da machte sich auch dieses Dunkel auf, gehorsam zu sein. Es begannen Fackeln zu leuchten, von fröhlichen Kindern im Duar herumgetragen. Hierauf strebten auf der stehengebliebenen, vordern Cyklopenmauer, zu beiden Seiten des heut entstandenen Kirchenplatzes, zwei gewaltige Flambeaus in die Höhe, von mächtigen Holzstößen erzeugt, welche Schakara hier hatte aufhäufen lassen, um den Bereich der Vernichtung zu illuminieren. Das gab eine solche Fülle von Licht und tagesähnlicher Helle, daß die Finsternis enteilte und, sich in ängstlich zitternde Schatten auflösend, an der Bergwand emporkletterte. Und mitten aus diesem häßlichen, zappelnden Schreck trat in erhabener Schönheit und imponierender Ruhe die makellose, herrliche Gestalt des Gebetes hervor, einer Offenbarung gleich, einer Manifestation der frohlockenden Menschheitsseele. Der Eindruck dieser Erscheinung war so unmittelbar packend und so unwiderstehlich, daß der Ustad sein Pferd anhielt, auch dem meinigen in den Halfter griff und, aber nur leise, sagte:

»Halt – warte! Laß die Andern fort; sie stören!«

Sie ritten weiter. Wir aber stiegen ab und standen lange, lange, in die Gedanken versunken, oder richtiger, die Gedanken förmlich atmend, mit denen uns die Seele des aus dem Fluche erlösten Gegners überflutete.

»Mein liebes, kleines, längst gewünschtes Kirchlein!« unterbrach der Ustad endlich und tief aufatmend unser Schweigen. »Nun kann und darf ich dich wohl endlich bauen! Ich habe nichts, gar nichts hinwegzuräumen vom Platze, den ich mir dachte; ein Anderer tat es für mich. Die Wasser der Bassins sind in den See gewichen und werden dort verbleiben. Die versunkenen Quader geben mir den allerbesten Grund. Die riesigen Würfel und Rundstücke zu den Pfosten und Säulen der Halle sind zwar aus dem Neuen herzustellen, doch ist hier überall das reichste Material dazu vorhanden. Aufs leere Postament wird dieses Bild gehoben, und wenn dann meine Dschamikun begreifen, daß Beten eine Kunst, und zwar die allerhöchste ist auf Erden, obgleich Natur sie schon den Kindern lehrt, so ist die Einsicht und Erkenntnis da, selbst mit dem kleinsten Kirchlein gern fürlieb zu nehmen. Schon sehe ich den Ort der Andacht ragen, der zeigen soll, wie groß, wie groß der Herr, wie aber winzig, winzig klein das arme Menschlein ist. Schon höre ich dort am Berg die Glocken hell erklingen, die übers ganze Tal – horch!«

Er hielt inne, denn hinter uns waren die Freudensalven zu hören, mit denen die heimkehrenden Krieger den im Wiederscheine der Flammen strahlenden See und den schimmernden Duar begrüßten: Darum schwangen wir uns wieder auf und eilten, den letzteren zu erreichen. Wir hielten dort gar nicht an, sondern ritten direkt hinauf zum Hause. Noch vor dem Tore holten wir Dschafar und Kara mit dem Kurier und dem Aschyk ein, die sich unten etwas verweilt hatten. Im Hofe angekommen, wurden wir von der noch immer hier postierten Besatzung mit Jubel begrüßt und erfuhren, daß die Katastrophe auf dieser Seite des Berges nicht den geringsten Schaden angerichtet habe. Der Kurier wurde diesen Leuten als Gast übergeben. Der Ustad ließ die Truhe nach seiner Wohnung tragen und folgte auf dem Fuße hinterher, so wichtig war sie ihm. Dschafar ging nach der seinigen, um sich umzukleiden, denn wir hörten, daß ein festlicher Schmaus für uns und die sämtlichen Anführer vorbereitet werde. Kara eilte zu Vater und Mutter. Er wollte zwar vorher die Pferde besorgen, doch nahm ich das auf mich; der Aschyk half mir dabei.

Als wir sie durch den Hof und nach der Weide führten und dabei an der offenen Küche vorüberkamen, sah ich, daß da drin die in der Kochkunst wohlerfahrene Frau des Chodj-y-Dschuna als heutige Gebieterin waltete. Sie hatte das große Werk übernommen, den Hunger aller unserer Diplomaten und Feldherren zu befriedigen. Schakara’s Aufgabe aber war gewesen, »die prunkende Tafel zu decken«. Da ich sie nicht sah, so vermutete ich sie in der Halle, wo gegessen werden sollte.

Ich überließ die andern Pferde dem Aschyk, versorgte nur Syrr und ging dann hinauf zu mir, nicht durch das Haus, sondern von außen. Noch hatte ich die Plattform nicht erreicht, so sah ich Schakara, welche oben an den Stufen stand, mich zu begrüßen. Wie kam es doch, daß wir einander nur die Hände reichten und nichts dazu sagten? Sie zog mich zur Balustrade und zeigte hinab, auf das Gebet. Wir sahen es von hier aus in noch vollerer Gestalt als von unten, auch den Sockel. Warum erschien es mir jetzt noch schöner, erhabener und eindrucksvoller als vorher? Ich faltete die Hände. Da fragte Schakara:

»Effendi, kennst du die Sage von Chodeh, dem Eingemauerten?«

Schon wollte ich antworten: »Du hast sie mir ja selbst erzählt!« Aber ihr Gesicht stand im alabasternen Schimmer des Gebetes, und da sah ich, daß sie schalkhaft lächelte. Darum blieb ich still. Nach Kurzem fragte sie abermals:

»Effendi, kennst du die Sage von dem verzauberten Gebete?«

Natürlich antwortete ich auch dieses Mal nicht. Da fuhr sie fort:

»Bevor du kamst, stand ich hier und dachte darüber nach, ob diese beiden Sagen wohl ganz dasselbe meinen. Ich glaube, ja. Und wenn das richtig ist, so habe ich den Berg gefunden, den ich suchte.« –

  1. Siehe Band III pag. 518
  2. Siehe Band III pag. 79.
  3. Siehe pag. 244.

Drittes Kapitel.

Drittes Kapitel.

Am nächsten Morgen vermaß ich mit Karas Hilfe die Ruinen, so unauffällig wie möglich. Die Aufmerksamkeit der Dschamikun war derart auf den Rennplatz gerichtet, daß sie uns gar nicht beachteten. Ich fand, daß meine Vermutungen mich nicht getäuscht hatten. Die Seitenkanäle lagen genau unter den sich amphitheatralisch erhebenden einzelnen Stockwerken. Und das Alabasterzelt stand, allerdings in viel größerer Höhe, ebenso genau über der Nische des hintern Bassins.

Nachdem ich dieses festgestellt hatte, machte ich einen Spazierritt, ja, einen Spazierritt, freiwillig, ohne daß ich vom Pferde dazu gezwungen wurde. Es ging vortrefflich, rund um den See, hübsch langsam und bedächtig, bis Assil auf den Gedanken kam, doch auch mal einen Trab mit mir zu versuchen. Das schukkerte ein bißchen, und ich kam einige Male etwas schief auf die Seite; aber ich konnte mich doch unmöglich vor meinem eignen Pferde blamieren und so hielt ich es nolens volens aus. Da kam mir eine Schar von Jungens entgegen, welche, hier wie überall, den künftigen Ereignissen vorzugreifen suchten. Die kleineren saßen auf alten Ziegenböcken, die größeren auf Eseln. Laut schreiend, lachend, jubelnd kam mir diese Bande entgegen, mit allen Beinen zappelnd und mit allen Händen in der Luft. Sie füllten den ganzen Weg und Keinem fiel es ein, mir auszuweichen. Das sah Assil ebenso gut wie ich. Er wollte sie nicht über den Haufen rennen, prallte mitten im Trabe auf die Seite und stand fest. Das gab für mich zwei ganz unerwartete Stöße, die mich allerdings nicht im geringsten geniert hätten, wenn ich schon wieder bei vollen Kräften gewesen wäre. So aber war ich nicht stark genug, mich in den Bügeln zu halten. Ich verlor die Balance und wäre wohl herabgestürzt, wenn ich nicht schnell den zweiten Stoß benutzt hätte, in möglichst unlächerlicher Weise aus dem Sattel zu kommen. Ich schwang mich auf den Sattelknopf stützend, das eine Bein über das Kreuz des Pferdes auf die andere Seite herüber, um der Sache den Anschein zu geben, als ob ich absichtlich habe hinabgleiten wollen, doch hatte ich diesem Schwunge trotz meiner Entkräftung oder noch wahrscheinlicher grad wegen derselben zu viel Kraft gegeben und kam darum nicht nur ganz elegant vom Pferde herab, sondern setzte mich noch viel eleganter auf den Boden nieder.

Für einen Augenblick war ich ganz starr darüber, daß mir, mir, mir so Etwas hatte geschehen können. Auch Assil drehte den Kopf herum, hob sehr verwundert den Schweif und spielte mit den Ohren, als ob er diese ganze, kolossale Fatalität für gar nicht wahr, sondern nur für eine ausgesonnene Geschichte halte. Dann stand ich auf und gab mir Mühe, ein möglichst unbefangenes Gesicht zu machen, ungefähr so, wie ein Pudel, der beim heimlichen Milchtrinken ertappt worden ist und sich noch schnell den weißen Schnurbart abwischen will, aber doch nicht kann. Es verfing auch nicht im Geringsten.

Die Zeugen meiner »öffentlichen Sitzung« waren halten geblieben, und alle Ziegenböcke, Esel und Jungens richteten ihre Augen auf mich. Von den ersteren Kreaturen will ich nicht reden; auch die Knaben gaben sich aus Ehrfurcht vor dem »Effendi« alle Mühe, nicht laut aufzulachen, aber in ihren Gesichtern lachte es um so deutlicher; mehrere kicherten. Das war schon aufrichtiger. Der Aufrichtigste aber war ein lang aufgeschossener, wahrscheinlich etwas vorlauter »Hans in allen Gassen,« der vor Wonne von seinem Esel sprang und, mit den Armen windmühlend, in ein schallendes Gelächter ausbrach, in welches erst die nur Kichernden und dann auch alle Andern sich bewogen fühlten, einzustimmen.

»Abgerutscht, abgerutscht!« schrie der Schlingel, indem er einen Freudensprung tat und dabei in die Hände klatschte.

Er schien der Anführer und Vergnügungsdirektor dieser lustigen Erynnien zu sein, denn

»Abgerutscht, abgerutscht!« ertönte es nun aus allen Kehlen, wobei alle Beine sprangen und alle Hände klatschten.

»Herunter hat er gemußt, herunter!« jubelte er vor.

»Herunter hat er gemußt, herunter!« triumphierte der ganze Chor ihm nach.

»Und gesetzt hat er sich sogar, gesetzt, so wie ich hier!«

Er ließ sich bei diesen Worten niederplumpsen. Im nächsten Augenblicke saß die ganze Räuberbande an der Erde, und Alles schüttelte sich vor Vergnügen und schrie dazu:

»Gesetzt hat er sich sogar, gesetzt, so wie ich hier!«

Natürlich lachte ich mit. Nun aber kam es schlimmer:

»Dann stand er stolz wieder auf, mit einem solchen Gesicht!«

Bei diesen Worten krebste sich der Naseweis langsam in die Höhe und ahmte nach, wie unbefangen ich hatte erscheinen wollen, aber so übertrieben, daß es auch für mich selbst eine Wonne war, ihm zuzusehen.

»Dann stand er stolz wieder auf, mit einem solchen Gesicht!« frohlockte es in allen Tonlagen, deren eine jugendliche Kehle fähig ist. Ein Jeder erhob sich zunächst auf alle Viere, balancierte sich dann langsam und vollends in die Höhe und versuchte hierauf, das vorgezeichnete Gesicht so treffend wie möglich nachzumachen. Der Eindruck keines Lustspieles, keiner Posse kann so hinreißend sein wie die Wirkung dieser improvisierten, höchst wohlgelungenen Burleske. Was ein Anderer an meiner Stelle getan hätte, geht mich nichts an. Der Knabe war begabt, war originell. Ich fragte ihn:

»Bist du wohl im Reiten ebenso schnell wie mit dem Munde?«

»Noch schneller!« versicherte er.

»So? Dann höre, was ich dir sage, mein Junge! Ich sehe, daß Ihr Wettrennen macht. Hier fangt Ihr wieder an und reitet bis zur letzten Bucht hinunter. Wer zuerst ankommt, der erhält ein großes Pul-i-Säfid von mir. So steigt also wieder auf, und reitet los!«

Da waren sie alle im Nu auf ihren Ziegenböcken und Eseln. Ich hob die Hand, und die frohe Hetze begann. Natürlich waren die Esel den gehörnten Rennern schon sehr bald weit voraus. Das gab ein tolles Schreien und Strampeln, um doch noch nachzukommen! Ich aber stieg vergnügt wieder auf und folgte langsam hintendrein. Das Seeufer machte weiterhin eine Biegung, welche mir den Anblick der Rennenden entzog. Als ich diese Stelle erreichte und um sie gebogen war, sah ich gar nicht weit von mir das ganze »Feld« wieder eng beisammen. Man war abgestiegen und schien die Burleske hier zu wiederholen, wie ich an den Bewegungen bemerkte und an dem Gelächter, welches zu mir her scholl.

Mich nähernd, sah ich den langen Improvisatore am Boden sitzen. Er rieb sich hinten das Kreuz und machte ein unaussprechlich jämmerliches, elendes Gesicht. Um ihn herum fielen soeben alle seine Genossen nieder und riefen lachend durcheinander:

»Er wollte auf, setzte sich aber wieder nieder!«

Und einer von ihnen, der das Amt des Vorsprechers übernommen hatte, fuhr fort:

»Nun scheuert er sich da in dieser Gegend!«

Indem er dieses sagte, fuhr er sich mit beiden Händen nach dem Kreuze und begann, zu reiben. Die Andern machten es ihm schleunigst nach und wiederholten lachend:

»Nun scheuert er sich da in dieser Gegend!«

»Und schneidet dabei folgendes Gesicht!« fügte er hinzu, indem er das Minenspiel des vom Esel Gestürzten nachahmte.

»Und schneidet dabei folgendes Gesicht!« repetirte die lustige Gesamtheit, indem auf den Gesichtern aber alle möglichen Uebergangsstaffeln von der einfachen Betrübnis zur höchsten Verzweiflung zu sehen waren.

In diesem tragikomischen Augenblicke erreichte ich die jubelnden Bewunderer meiner Reiterkünste.

»Was ist denn geschehen?« fragte ich.

Sie standen höflich auf. Auch mein Kritikaster kam langsam und seufzend in die Höhe.

»Der Esel hat mich abgeworfen, Effendi,« antwortete er, fast weinend über die von dem Tiere an ihm verübte Niederträchtigkeit.

»Ohne daß dir der Weg versperrt worden ist, wie Ihr es bei mir tatet?«

»Ja, ohne!« gestand er, indem er nun wirklich und laut zu heulen begann.

»Beruhige dich, mein Junge. Das ist weiter nichts! Du bist nicht der Erste und wirst nicht der Letzte sein, der über Andere kritisiert und dann vom eigenen Esel abgeworfen wird. Damit ist das Rennen zu Ende. Aber trotzdem sollt Ihr Euer Pul-i-Säfid haben. Hier; teilt Euch drein, Jungens!«

Ich griff in die Tasche und warf das Silberstück unter sie hinein. Sie stürzten sich alle über dasselbe her, am schnellsten der soeben noch heulende Schlingel. Seine Kreuzschmerzen wurden durch den Anblick des Geldes augenblicklich kuriert. Ich aber ritt vergnügt von dannen, um, daheim angekommen, zu meinem Hadschi Halef hinaufzusteigen. Er war wach, und zwar noch munterer als gestern. Kara hatte ihm erzählt, was ich in Beziehung auf meine etwaige Beteiligung am Rennen gesagt hatte, und er war darüber so begeistert, daß er mich mit den Worten empfing:

»Hamdulillah, wir werden das Rennen gewinnen, Sihdi!«

»Wer behauptet das?« fragte ich.

»Ich, Hadschi Halef Omar, der Scheik der Hadeddihn vom großen Stamme der Schammar! Du reitest ja mit, und da werden wir auf alle Fälle siegen!«

»Nicht so laut, mein Halef, sonst wirst du ausgelacht!«

»Warum? Von wem?«

»Weil ich soeben vom Pferd gefallen bin.«

»Du? Kara Ben Nemsi Effendi, der jedes Pferd hinwirft, aber es nicht ihn?!«

»Ja, ich!«

Nun setzte ich mich nieder und erzählte. Ich war bei guter Stimmung, und so gelang mir mein Bericht derart, daß der brave Hadschi sich in ein Lachen verwickelte, aus welchem er gar nicht wieder herauskommen konnte. Sich vorzustellen, daß sein Sihdi vom Pferde »gerutscht« sei, war das Allerlustigste, was er sich nur denken konnte.

»Wieder eine Arznei!« sagte er, als er sich endlich beruhigt hatte. »Das kuriert! Alle Tage zweimal so lachen, Vormittags einmal und Nachmittags einmal, da werde ich in kürzester Zeit gesund und mache das Rennen auch noch mit! Denn, weißt du, Sihdi, der Frohsinn ist der allerbeste Arzt. Ueber ihn kommt kein Hekim und Hekimbaschi. Darauf kannst du dich verlassen!«

Nach dem Mittagsschläfchen, welches ich mir gönnte, kam ein Kalhuri-Reiter, welcher mir eine Botschaft von dem Ustad brachte. Es war eine gute. Der Schah befand sich zur Zeit nicht in Isphahan sondern auf seinem uns viel näher liegenden Schlosse Mihribani, und zwar mit fast seinem ganzen Hofstaate, ein Umstand, welcher die Abwesenheit des Ustad ganz bedeutend abkürzen konnte. Der Bote suchte dann seinen Gebieter, den Scheik der Kalhuran auf, dem er eine wichtige Mitteilung zu machen hatte. Wie ich dann erfuhr, betraf sie die Bruderhilfe von Seiten sämtlicher Kalhuran, falls die Dschamikun von irgend einer andern Seite angegriffen werden sollten. Der Ustad schien also unterwegs Beobachtungen gemacht oder Dinge erfahren zu haben, welche sich hierauf bezogen.

Später saß ich, in einem seiner Werke lesend, auf meinem platten Dache, da sah ich Schakara. Sie war drüben in den Ruinen, auf dem wüsten Vorhofe der zweistöckigen Etage, über deren schmaler Tür sich die zwei zerbrochenen Tafeln befanden. Da ich grad am Schlusse eines Kapitels angekommen war, legte ich das Buch weg, um sie zu überraschen. Sie hatte ein Gefäß in der Hand und schien Brom- oder Himbeeren zu pflücken, die es dort in Masse gab. Daß dieser Vorhof voll dorniger Sträucher und Stachelranken war, habe ich bereits gesagt.

Ich stieg also meine Stufen zum Glockenwege hinüber und ging von hier aus auf dem schmalen Ruinenfelde nach dem Turme, in welchem wir den Aschyk festgenommen hatten. Hier war eine Treppe gewesen, welche in den Vorhof, wohin ich wollte, hinuntergeführt hatte. Jetzt war sie kaum noch zu erkennen, verwittert, zerbröckelt und mit allerlei Geröll ausgefüllt, aber für bedächtige Füße doch noch gangbar. Ich glitt mehr, als ich stieg, diese Steilung hinab und wand mich zwischen den Beerenranken hindurch, um zu Schakara zu kommen. Da sah sie mich. Sie deutete nach der entgegengesetzten Seite und sagte:

»Wärest du doch von daher gekommen; da ist es viel bequemer. Da findet man sich sogar des Nachts zurecht!«

Ich sah freilich, daß von dem breiten Steinbruchwege der Zugang zu diesem Vorhofe ein viel kürzerer und leichterer war. Das hatte nichts Auffälliges. Dennoch hielt ich ihre letzten Worte fest und fragte, als ich sie erreichte:

»Des Nachts? Weißt du das so genau?«

»Wie aufmerksam du bist und Alles gleich bedenkst!« antwortete sie, indem sie das Gefäß zu Boden setzte. Es waren wirklich Hubub darin. »Ich bin allerdings schon hiergewesen, des Nachts.«

»Allein?«

»Allein und doch nicht allein. Von unsern Leuten war Niemand hier, dafür aber Andere.«

»Wer?«

»Ja, wer das wüßte! Ich wollte dir es später sagen, weil du dich schonen sollst. Aber weil du nun einmal hier bist und auch gleich fragst, will ich es dir nicht länger vorenthalten. Du weißt, daß ich mich bei den Dschamikun befinde, um zu beobachten; was, das sage ich dir schon noch. Ich gehöre nicht zu den Frauen, welche vor der Nacht erschrecken und sich fürchten, wenn es dunkel ist. Wer nur das Gute will, braucht nirgends Angst zu haben. Und ich liebe grad das Sternenfirmament und den guten Mond, der so verschwiegen tut und doch so gern erzählt, wenn man ihn nicht verachtet.«

»Ich auch.«

»Auch du? Wieder ähnlich! Das war also der Mond, mein alter lieber Freund, der kam zu mir, als ich nicht weit vom Garten saß, und zeigte mir die magische Gewalt der alten Mauern, der man kaum widerstehen kann, wenn sie in seinem Glanze wie erzittern. Ich mußte mich erheben und mit ihm hier herüber. Wie kam es doch, daß er mich grad bis dort zur Ecke führte, wo der Gedanke auf mich wartete, mich in den tiefen Schatten hinzusetzen? Der Abend war so schön. Er wartete auf seine Mitternacht. Und als sie kam, floß silbern ihr Gewand, und auf dem Haupte trug sie alle Sterne. Doch hinter ihr kroch leise es heran, verstohlen, heimlich, jeden Laut vermeidend, fast so, wie ich mir ein Gewissen denke, das sich durchs Leben nur noch schleichen kann. Es waren Menschen. Sie kamen nicht zusammen, sondern einzeln. Dort von dem breiten Pfad nach hier herüber und huschten alle nach der engen Tür, in welcher sie verschwanden. Der Letzte kam nach einer längern Pause. Sein Angesicht war schwarz; wovon, das konnte ich nicht sehen, weil ich so fern von seinem Wege saß. Er war sodann der Erste, der, wie mir schien, nach einer halben Stunde den Bau verließ und nach den Brüchen ging. Nach wieder einer Pause erblickte ich den Nächsten, der ihm folgte. Sie kamen allesamt zurück, doch ebenso vereinzelt wie vorher. Ich hatte sie gezählt und schlich dem Letzten nach. Er stieg nicht ganz hinunter. Er wandte sich zur Seite, um den Duar herum, als ob er ihn vermeiden müsse und doch hinüberwolle nach dem See. Das lenkte meinen Blick hinaus ans Wasser. Ich habe scharfe Augen, und günstig war mir meines Freundes Licht. Ich sah, daß Reiter sich von dort entfernten, genau so einzeln wie die Fremden hier.«

»Hat sich diese Beobachtung später wiederholt?« fragte ich.

»Nein. Ich sah es nur einmal.«

»Wieviel Personen waren es?«

»Sechs, mit dem Letzten.«

»Kannst du dich vielleicht auf den Tag besinnen?«

»Sehr genau. So Etwas merkt man sich. Am nächsten Montag werden es vier Wochen.«

»Sprachst du mit irgend Jemand schon davon?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich schwieg, weil das mit meinem Zweck zusammenhängt, doch dachte ich sehr oft darüber nach. Ich wollte an demselben Mondestag mich wieder dorthin an die Ecke setzen, um zu erfahren, ob sie kommen würden.«

»Schakara!« rief ich da aus.

»Was, Effendi? Worüber bist du so überrascht?«

»Daß du so deutlich ahnst! Daß das in dir so klar am Tage liegt, was ich aus der Verborgenheit mit aller Mühe zerre! Du sollst die Seele sein und bist sie wirklich! Dschanneh, Dschanneh, die sicherer empfindet und überzeugender das Ferne schaut, als es dem Geist, dem stolzen, möglich ist!«

»Dschanneh?« fragte sie. »Hast du dieses Wort von Marah Durimeh gehört? Es ist mein Kosename. So nannte sie mich stets, wenn sie mich zärtlich, lobend an sich zog und mir das Haar mit Mutterlippen küßte.«

»Wirklich? Wirklich? Kosename? Mein Kind, wenn Marah Durimeh in solchem Augenblick dir einen Namen gibt, so liegt in diesem Kosen tiefste Wahrheit. Man ruft dich „Schakara“, damit du „dankbar“ seist. Wofür? Nicht nur Dschanneh zu heißen, es wirklich auch zu sein!«

»Ich verstehe dich nicht, Effendi, und doch fühle ich, daß du nichts Falsches sagst. Ich sprach von meiner Wiederkehr nach jener Ecke dort. Ich wollte gern erfahren, ob sich in dieser Mäjmä-i-Yähud vielleicht ein –«

»Mäjmä-i-Yähud?« unterbrach ich sie schnell. »Sonderbar, höchst sonderbar! Wie kommst du auf diesen Namen für grad diese Etage?«

»Ich weiß es nicht. Ich halte sie dafür. Das kommt mir so empor und auf die Zunge!«

»Ja, ich verstehe. So muß es sein! Du ahnst und darfst nicht ahnen! Dschanneh, Dschanneh, das unbewußte Wissen! Wir gehn gleich jetzt nach dieser deiner Ecke und setzen uns dort nieder. Ich habe zu erzählen. Du wirst sie kommen sehen, am hellen Tageslicht, die Schatten alle und zuletzt die Männer, die du des Nachts damals gesehen hast.«

Wir gingen hin. Es gab jetzt nicht Mondes- sondern Sonnenschatten dort. Ein großer, niedriger Stein lag da; der diente uns als Bank. Ich begann meinen Bericht da, wo ich am Tigris die Sillan belauscht und zum ersten Male das Wort Mäjmä-i-Yähud gehört hatte, und berichtete ihr Alles, was dann geschehen war und bestimmt zu sein schien, grad mich, den Fremden, den eigentlich ganz Unbeteiligten, als den gefährlichsten Feind der Schatten heranzuziehen. Sie hörte still zu, ohne Unterbrechung, wie das so ihre liebe, verständige Weise war. Als ich geendet hatte, holte sie tief Atem und sagte:

»Effendi, liegt nicht in dem Allen ein fester, zielbewußter und sicher vorwärtsschreitender Wille? Kein Fatum, kein Kismet, sondern eine Führung, eine Oberleitung, welche zwar dich erkoren hat, ihre Absichten auszuführen, aber dir doch jeden möglichen Spielraum für deine eigenen Gefühle, Gedanken und Entschlüsse läßt? Wer hat dies angeordnet, und wer sind all die Guten, Mächtigen, die dich in jeder Not beschützen und stetig dafür sorgen, daß deine Augen immer weiter und immer klarer sehen dürfen? Du gehst den Weg, den du den deinen nennst; er ist es auch, jedoch zugleich der ihre. Weich ja nicht von ihm ab! Laß dich nicht auf die Pfade Anderer hinüberlocken! Du würdest diesen starken Schutz verlieren und nicht Gebieter, sondern Sklave sein! Das ist dieselbe Führung, die auch mich, sobald du kamst, zum hohen Hause brachte. Das sehe ich jetzt ein. Wir reichen uns die Hände, zum Heil der Dschamikun. Und nun ich dieses weiß, kann ich jetzt offen sprechen: Hast du Zeit, Effendi?«

»Für meine Seele stets. Das bist du ja – Dschanneh!«

»Wie mich das freut, daß dieser liebe Name mir auch aus deinem Brudermunde klingt! Du weißt, daß ich von Marah Durimeh beauftragt bin, im Stillen hier zu forschen. Der Ustad sollte zwar nichts davon wissen, doch aber dann das Resultat erfahren. Du ahnst es nicht, wie weit sie blickt, die hohe Frau im ärmlichen Gewande! Und ihre scheinbar schwache, kleine Hand, wie ist sie doch so mächtig, wenn es gilt, den Guten zu bewahren vor dem Bösen! Sie kennt die Schatten, kennt auch ihr Gebahren und läßt sie nicht aus ihrem scharfen Auge. Für diese Gegend hier soll ich dies Auge sein. Darum mein stilles Wandeln überall und auch mein Forschen hier in den Ruinen.«

»Sogar des Nachts! Hast du denn wirklich keine Furcht?« fragte ich.

»Furcht? Fürchtest du dich wohl, Effendi?«

»Nein.«

»So sag, warum soll die Seele Angst haben, wenn nicht einmal der Geist sich ängstiget? Kennst du denn diese beiden noch so wenig, daß du wohl ihn für riesenstark, doch aber sie für hilfsbedürftig hältst? Ich bitte dich, glaub an das Gegenteil! Denk an die Seele deines eignen Volkes! Laß alle, alle Geister Eurer Weltgeschichte sich gegen sie, die Wunderbare, wappnen, was wird sie tun? Nur lächeln? Angst aber gibt es nicht! Vor wem denn auch?! Du weißt es ja, ich wollte wiederkommen, um jene sechs Geheimen zu belauschen, was jedenfalls nicht ganz gefahrlos wäre, und doch ist mir dabei nicht eingefallen, an Furcht auch nur zu denken. Ich ging am Tag nach der erwähnten Nacht dann wieder her, die Spuren zu betrachten. Sie führten in das Allerheiligste, wo man gesessen hatte, doch jeden Falles zu Beratungszwecken.«

»Sahst du noch Weiteres?«

»Nein.«

»Wo liegt das „Allerheiligste“, von dem du eben sprachst?«

»Es ist der zweite Raum durch jene schmale Tür.«

»Ich bitte dich, ihn mir zu zeigen.«

»Jetzt?«

»Ja.«

»So warte! Es ist vollständig dunkel drin; ich aber hole Licht.«

»Im Hause drüben?«

»Nein. Ich habe Kerzen hier versteckt, weil ich sie öfters brauche.«

Sie entfernte sich, kam jedoch schon nach kurzer Zeit wieder. Ihr Versteck lag also in der Nähe. Wir gingen nach der erwähnten, schmalen Tür. Von weitem sah es so aus, als ob der Gestrüpphaufen vor derselben ganz undurchdringlich sei; aber er war an der Mauer hin so vollständig niedergetreten, daß man gut passieren konnte. Und das schien gar nicht selten zu geschehen!

Als wir eingetreten waren, befanden wir uns in einem quadratischen, hohen Raume, welcher drei Türöffnungen besaß, natürlich ohne Türen. Durch die eine waren wir gekommen. Links führte die zweite in einen langen, schmalen Saal, grad vor uns die dritte in das Allerheiligste. Auch rechts war eine Tür gewesen, aber schon längst vermauert worden. Ich habe diese Etage zweistöckig genannt. Von außen schien sie es zu sein, der untere Stock ohne, der obere mit Fenstern, schmale, wagerecht liegende Lichtlöcher, wie man sie in Deutschland zuweilen an alten Scheunen sieht. Von einer Innenbeleuchtung durch die Sonne hatte da keine Rede sein können. Die Versammlungshalle, in welcher wir uns befanden, ging durch beide Stockwerke. Die Decke wurde durch eine einzige, überaus starke Mittelsäule getragen, welche aus einem großen, steinernen Wasserbottich zu steigen schien, der jetzt natürlich aber trocken war. Hatte man sich in diesem steinernen »Meer« gereinigt, wie später in dem gegossenen? Der Boden bestand aus großen Platten, die aber vor Schmutz nicht zu sehen waren.

Wir brannten eine Kerze an und gingen nach der gegenüberliegenden Tür, um in das Allerheiligste zu treten. Wie war Schakara zu diesem Worte gekommen? Kannte sie die Bibel? Diese Abteilung war kleiner und niedriger als die vordere und vollständig fensterlos. Es gab da eine schwere, schlechte Luft. Drei Wände waren kahl; die hintere nicht. Dort stand Etwas, was ich für einen Altar hielt. Ein Israelit hätte es wahrscheinlich für eine Nachbildung oder gar für das Uroriginal der Bundeslade gehalten. Und darüber zog sich, so breit wie diese Hintermauer war, eine Art von Empore hin, zu welcher früher eine Treppe geführt hatte, die aber nicht mehr existierte. Man sah die Stellen noch, wo die einzelnen Stufen an die Seitenwand gestoßen hatten. In der Mitte sahen wir dreimal drei steinerne, einst für die Priester bestimmte Sitze. Auch hier bestand der Boden aus Platten. Der auf ihnen liegende Schmutz war noch größer als draußen.

Schakara bewies mir, daß die sechs fremden Männer auf diesen Steinen gesessen hatten. Wir sahen die Stellen, wo die Talglichter, die sie mitgehabt hatten, festgetropft und dann wieder losgerissen worden waren. Der zurückgebliebene Talg war noch so sauber, daß diese fettigen Flecke nicht über vier Wochen alt sein konnten. Und als wir genauer suchten, fanden wir ähnliche, aber viel ältere Flecke in Menge. Das stimmte ganz genau mit dem, was wir wußten und was wir uns dachten.

Nun nahm ich Schakara das Licht aus der Hand, um nach weiteren Spuren zu suchen. Sie konnte hierin doch nicht die Erfahrung besitzen, die ich hatte. Ich fand nichts, als menschliche Fußstapfen. Aber endlich, als ich eben aufhören wollte und in die letzte, hintere Ecke leuchtete, sah ich einen andern Eindruck im tiefen, mehligen Staube. Das war von keinem Fuße, sondern von einer starken Stange oder etwas Aehnlichem, welche hier eingestoßen und oben an die Empore gelehnt worden war. Und gar nicht weit davon lagen zwei losgebrochene, kurze Holzästchen, die ich aufhob und aufmerksam betrachtete.

»Warum so nachdenklich, Effendi?« fragte Schakara. »Zwei Stückchen Holz, weiter nichts! Wer weiß, wie sie hierhergekommen sind!«

»Wer? Ich weiß es. Und – weiter nichts, sagst du? Es ist viel, sehr viel! Als ich diesen Raum sah, in welchem die Päderan ihre geheimen Versammlungen abhalten, dachte ich sogleich daran, in welcher Weise man sie belauschen könne, wenn sie Montag wiederkommen. Man müßte vorher da hinauf auf die Empore steigen. Das war mein Gedanke. Jetzt sehe ich, daß ich nicht der Erste bin, dem dieser Einfall gekommen ist. Sie sind schon belauscht worden.«

»Von wem?«

»Das sagen mir diese beiden Aestchen leider nicht. Man hat eine Leiter oder wenigstens eine Stange gebraucht, um die Empore zu erreichen, aber keines von beiden gehabt. Darum ist man in den Wald gegangen, um sich ein passendes Baumstämmchen zu holen. Die Aeste wurden abgeschnitten. Einige dürre Zweigreste aber blieben. Das stemmte man hier unten in den Boden und legte es oben an. Beim Hinaufklettern wurden die beiden Aestchen abgebrochen. Sie und das Loch hier verraten mir das. Wenn man in dieser Weise hinaufklettert und die Stange nach sich zieht und sie lang niederlegt, kann man fast sicher sein, nicht entdeckt zu werden.«

»Das leuchtet mir ein, Effendi. Wer mag wohl der Betreffende gewesen sein?«

»Ein Dschamiki keinesfalls, denn ein solcher hätte es nicht nötig gehabt, zu einem solchen Behelfe zu greifen.«

»Kein Dschamiki –!« sagte sie nachdenklich. »Effendi, da fällt mir Etwas ein. Ich habe eine solche ganz roh zugeschnittene Stange gesehen.«

»Wo?«

»Droben in dem Quaderturme, wo Ihr den Aschyk ergriffen habt.«

»Wann?«

»An dem Morgen, an welchem ich hier nach diesen Spuren suchte. Ich ging dann durch die obere Etage, auch in den Turm. Da sah ich ein Fichtenstämmchen liegen, ganz so, wie du es beschrieben hast. Auch die Länge stimmt. Ich dachte, ein Dschamiki sei hier gewesen; darum fiel es mir nicht auf. Am Nachmittage kam ich wieder hin; da war es weg.«

»Ah der Aschyk! Er! Er belauschte die Päderan! Also gehört er nicht zu ihnen! Falls er ein Sill ist, ist er nur ein gewöhnlicher! Hat er dem Scheik ul Islam hierüber zu berichten? Oder tut er es nur, weil er zu den Sillan gehört, die sich gegen ihren Aemir empören wollen? Es gilt, nicht allzu schnelle Schlüsse ziehen. Wir haben ja Zeit, hierüber nachzudenken. Komm!«

Wir gingen. Draußen wendeten wir uns nach der dritten Tür, die nach dem langen, schmalen Saale führte. Wir fanden nichts Auffälliges. Aber als wir an sein Ende kamen, gab es keine Wand, sondern einen Schutthaufen, der nicht ganz bis hinauf zur Decke reichte.

»Schakara!« rief ich laut und verwundert aus. »Mein Traum, mein Traum! Das ist das Geröll, ganz genau das Geröll, von welchem herunter mich der „Zauberer“ beobachtete! Mich dünkt, ich müsse seinen Kopf da oben erscheinen sehen. Das ist doch sonderbar!«

»Sonderbar?« fragte sie. »Effendi, Effendi, du weißt wirklich noch gar nicht viel von deiner Seele! Und doch seid Ihr auf Euer Müdschewwedet so stolz! Suchst du nicht auch nach der Treppe, auf welcher du im Traum hinaufgestiegen bist zum Schatten an der offnen Tür?«

»Die liegt drüben auf der andern Seite, die zugemauert ist.«

»So laß dort öffnen, und ich bin überzeugt, daß sie vorhanden ist!«

»Das werde ich wohl tun, jedoch zu seiner Zeit. Jetzt möchte ich hinaus, nur wieder an die Sonne! Aber warte; da fällt mir Etwas ein. Da hinter diesem Schutt geht es ja tief hinunter in das Wasser, wo der Aschyk ist. Ich muß ein Lebenszeichen von ihm haben!«

Ich kletterte hinauf. Sie folgte mir sogleich, indem sie mein Gewand ergriff.

»Um Chodehs willen, stürze nicht hinab!« warnte sie.

»Keine Sorge! Ich bin vorsichtig!«

»Ich halte dich dennoch und lasse dich nicht los! Stürzest du, so gehe ich auch mit unter!«

»Das ist Dschanneh, Dschanneh, die Seele, die mit dem Geiste steigt und mit ihm fällt!«

Der Haufen war oben breit und fest, doch nahm ich mich in Acht. Schakara hielt mich trotzdem noch fest. Ich atmete hier eine feuchte Luft. Die Decke über mir war von Schimmel überzogen. Nun rief ich laut, wieder und wieder. Nach dem dritten Male kam Antwort, aber was für eine! Es war, als ob da unten hunderte von Stimmen zeterten und brüllten, eine Folge des vielfachen Widerhalles. Verstehen konnte ich nichts. Doch genügte es ja, zu wissen, daß er noch lebte und nicht vom Steine herabgeglitten und ertrunken war. Ich kroch also zurück und stieg hinab zum festen Boden. Da wischte Schakara sich den Schweiß von der Stirn und bat:

»Effendi, nie, nie wieder so etwas Fürchterliches! Das mußt du mir versprechen!«

»Ich denke, du hast weder Furcht noch Angst?« antwortete ich.

»Nur um mich selbst! Für Andre aber kann und muß ich zittern! Komm schnell hinaus! Ich muß dich draußen sehen!«

Sie zog mich fort und gab mich erst dann wieder los, als wir den Vorhof erreicht hatten. Sie konnte nicht anders; es lag in ihrem Wesen. Nun atmete sie auf, tief und froh, und sprach:

»Da drin sah ich nichts als den Untergang, als das Verderben! Die Zeit ist da; es kracht schon überall! Hier aber stehe ich im klaren Sonnenlicht und sehe schon von fern die Hilfe kommen. Im Osten sind bereit die Kalhuran, und dort, wo sich die höchsten Berge öffnen, erscheint die Hilfe Marah Durimehs. Ich brauche ihr das Zeichen nur zu geben, so sendet sie die kampfgewohnten Scharen, die sie bereit hält gegen unsre Feinde.«

»Sie hält Hilfe bereit?« fragte ich schnell. »Das wäre ja köstlich für uns! Sie ist also überzeugt gewesen, daß es zum Kampfe kommt?«

»Ja. Und sie hat sich vorbereitet. Ihr sollt Euch auf den Schah-in-Schah verlassen, ja. Er hat euch lieb und ist der Herrscher dieses Reiches. Aber die, welche sich seine „Hohen“ nennen, verwandeln seine Liebe unterwegs in Haß und spiegeln aller Welt die große Lüge vor, er habe ihnen die Gewalt gegeben, die doch nur er allein besitzen kann. Der Ungehorsam schließt sich ihnen an und macht sie scheinbar stark, dem Herrn zu widerstehen. Wer still des Herrschers gute Wege wandelt, wird angefeindet, möglichst unterdrückt. Wer aber sich vor jenen „Großen“ beugt, aus Dummheit, oder auch des Vorteils wegen, den unterstützen sie auf jede Art und Weise. Der Schah ist gütig, aber auch gerecht. Er straft nicht gleich. Doch kommt dann seine Zeit, so fällt das Wort, das wie ein Hammer schmettert. Der kluge Untertan greift ihm nicht vor. Die Trägheit nur braucht immerwährend Hilfe. Für Jeden aber, der Charakter hat, ist es wohl Mannesseligkeit, zu wissen, daß er sich füglich selber helfen könne. Effendi, komm; Charakter ist vorhanden! Wir greifen gern mit eignen Händen zu. Und wenn der Schah das sieht, wird er sich freun. Denn darin grad, daß wir es selbst vollbringen, liegt seine größte Macht: direkte Volkesliebe!«

Sie hatte sehr ernst gesprochen. Nun nahm sie das Gefäß auf und fügte mit herzlichem Lächeln hinzu:

»Diese Beeren pflückte ich für dich und den kranken Hadschi. Natursäfte! Besser als Alles, was die Kochkunst unverständig mischt!«

»Gib sie ihm alle, Schakara! Ich habe Charakter und pflücke mir jetzt selber!«

Da verwandelte sich ihr Lächeln in jenes kurze, wohlklingende Lachen, welches ich so gern von ihr hörte.

»So gehe ich voran,« sagte sie. »Hanneh weiß, daß ich komme.«

Ich blieb noch eine ganze Weile, um mir die großen, weißen Himbeeren schmecken zu lassen. Da hörte ich meinen Namen rufen. Als ich mich umdrehte, sah ich Kara Ben Halef, welcher an der schon einmal erwähnten Mauerstelle herabgeklettert und dann auf mich zugeeilt kam.

»Sihdi, ich bringe dir Besuch, sehr hohen Besuch,« sagte er.

»Wen?«

»Das darf ich dir nicht sagen.«

»Woher?«

»Auch das soll ich verschweigen. Du sollst selbst kommen und sehen.«

»Etwas Gutes?«

»Sehr, sehr!«

Da ich jetzt noch nicht klettern wollte, gingen wir zum Glockenweg hinauf. Unterwegs erzählte mir der junge Hadeddihn:

»Ich machte meinen Uebungsritt, dieses Mal nach dem Hasenpasse. Da kam mir ein Reitertrupp entgegen, bei dem sich einer der Dschamikun befand, die mit dem Ustad fortgeritten sind. Der Anführer war ein sehr vornehmer Perser. Er wußte, daß der Ustad verreist ist, und fragte nach dir; er habe dich zu besuchen. Ich kehrte selbstverständlich mit ihnen um und bin soeben angekommen. Er hat mit Schakara gesprochen und auch mit dem Pedehr. Beide beeilten sich sofort, die obere Etage des Wartturmes aufzuschließen, wo sich einige Stuben für besondere Gäste befinden. Da soll er wohnen. Jetzt ist er in der Halle.«

»Wieviel Dienerschaft?«

»Nur drei Stallburschen für die Pferde.«

»So ein vornehmer Herr? Und in dieser unsichern Gegend!«

»Für seine Sicherheit hatte er gesorgt. Es hatte ihn eine Schar von Kalhuran bis an den Paß begleitet und war dort von ihm entlassen worden. Es sind im ganzen acht Pferde, vier zum Reiten, drei für das Gepäck und ein lediges, welches wertvoll zu sein scheint, denn es ist ganz und gar in einen Anzug geschnallt, der nur die Hufe, die Nüstern und die Augen sehen läßt. Sogar der Schweif ist sorgsam eingewickelt, in einen leichten, dünnen Schleierstoff, wie vornehme Damen ihn vor dem Gesicht tragen. Ist das nicht sonderbar?«

»Hiernach scheint das Pferd allerdings von größtem Wert zu sein. Wir werden ja sehen!«

Als wir in den Hof kamen, befanden sich die Pferde schon nicht mehr da. Sie waren einstweilen in das Gewölbe gebracht worden, in dem sich die gefangenen Soldaten befunden hatten. Ich ging in die Halle. Da saß der Fremde mit dem Pedehr. Er trug einen persischen Reiseanzug. Als er mich kommen sah, sprang er auf. Er erkannte mich und ich ihn.

»Dschafar!« rief ich aus.

»Mein Retter!« klang es aus seinem Munde.

Dabei eilte er auf mich zu, schlang die Arme um mich und küßte mich fünf, sechs, acht mal, auf den Mund, auf die Stirn, auf die Wangen, wohin er nur gleich kam! Ich war damals in den Vereinigten Staaten zuweilen etwas streng gegen ihn gewesen; das schien er aber vollständig vergessen zu haben. Er strahlte förmlich vor Freude; die meinige war ebenso herzlich, aber stiller, und doch dauerte es längere Zeit, bis alles schnell fragende Hin und Her vorüber war und wir uns niedersetzten. Der Pedehr war so vernünftig, zwei Hukah’s kommen zu lassen. Das Rauchen derselben und das stete Bemühen, sie nicht ausgehen zu lassen, zwang uns zum ruhigeren Gespräche. Da wir uns jetzt nicht im »wilden Westen« sondern im innersten Oriente befanden, nannten wir uns nach der Sitte dieser Gegend sofort du. Sonderbarer Weise schien er um keinen Tag gealtert zu sein, und von mir behauptete er, daß ich jetzt jünger aussehe als damals. Der persischen Anstandslehre zu gehorchen, hielt ich ihm gegenüber nicht für nötig. Man hat geduldig zu warten, bis dem Andern die ersehnte Mitteilung beliebt. Das fiel mir aber gar nicht ein. Ich fragte ihn sehr einfach, woher er wisse, daß ich mich hier bei den Dschamikun befinde. Da sah er mich kopfschüttelnd an und fragte:

»Hast du denn nicht gewußt, daß ich ein Bekannter des Ustad bin?«

»Doch!«

»Und da hast du dir nicht gedacht, daß es sein Erstes war, mich zu benachrichtigen, als du hier angekommen warst? Ich hatte erzählt, was ich dir zu verdanken habe, und wie sehr ich wünsche, dich einmal wiederzusehen! Er hat mich wiederholt über dein Befinden unterrichtet, dir aber nichts davon sagen dürfen, weil ich dich hier überraschen wollte. Nun bin ich endlich da! Und habe dich zu grüßen! Von wem?«

»Nun?« fragte ich.

»Vom Schah-in-Schah.«

»Von – dem?!« rief ich erstaunt aus.

»Da gibt es doch nichts zu verwundern! Es ist vielmehr sehr einfach! Ich erzählte ihm von dir. Und nicht nur einmal, sondern öfters. Du hieltest mich da drüben in Amerika für einen Unwissenden, einen unvorsichtigen Träumer. Aber –« fügte er mit seinem Lächeln hinzu – »diese Träumerei war Tebdil, war Haßlama, obgleich ich zugebe, daß ich die Verhältnisse allerdings nicht kannte, sondern sie erst studieren wollte und mir dabei zuviel zugetraut hatte. Meine Aufgabe war – doch davon vielleicht später! Kurz, der Schah lernte dich aus meinen Erzählungen kennen, und nicht bloß kennen, sondern mehr. Er erfuhr Alles, was ich von dir wußte. Und kürzlich stellte sich auch noch ein Anderer ein, der ihm noch mehr als ich von dir erzählen konnte. Das war ein Engländer, welcher David Lindsay heißt und –«

»Lindsay ist in Isphahan?« unterbrach ich ihn schnell.

»Nicht mehr, sondern schon wieder fort.«

»Wohin?«

»Zunächst nach Jesd hinüber, so viel ich weiß. Dann will er hierher, um mit dir weiter zu reisen. Ich glaube aber nicht, daß er dazu kommen wird. Ein Verwandter, der bei ihm ist, nämlich ein General, aber kein Original, hat ihn so in Beschlag genommen, daß du wohl kaum hoffen darfst, deinen sonderbaren Freund jetzt wiederzusehen. Er wurde mir vorgestellt und erzählte mir von dir, aber so viel und so interessant, daß ich ihn bat, mich zu besuchen. Ich machte den Schah auf ihn aufmerksam. Die Folge war ein sehr unterhaltender Abend zu Dreien. Der Gegenstand des Gespräches waren seine Reisen mit dir und die Absichten, welche du mit diesen Reisen verbindest. Du wirst wissen, daß der Schah Bücher schreibt. Auch ich bin Schriftsteller. Man nennt mich sogar Dichter. Da ist es begreiflich, daß er sich sehr lebhaft für dich interessierte und sich freute, dich jetzt hier in seinem Lande zu wissen. Als er erfuhr, daß ich dich besuchen werde, gab er mir seine Grüße mit und außerdem noch zweierlei. Ueber das Eine wirst du dich freuen, denn es ist ein Zeichen seiner Huld. Das Andere aber ist etwas so Eigentümliches, daß es dich wahrscheinlich befremden wird. Ich bin nicht ermüdet, bedarf also nicht der Erholung von dem heutigen Ritte und halte es darum für das Beste, mich dieser beiden Aufträge sofort zu entledigen. Hast du Zeit, Effendi?«

»Ja.«

»So komm mit mir jetzt dorthin, wo ich wohnen werde!«

Wir gingen nach dem Turme, zwei steinerne Stiegen hinauf. Die Reitknechte hatten das Gepäck bereits heraufgebracht. Es war Niemand da als Schakara, welche ordnete. Sie wollte sich sofort entfernen, ich bat sie aber, zu bleiben. Während er eines der Pakete öffnete, trat ich an das Fenster. Es gab hier eine fast ebenso schöne Aussicht wie drüben bei mir.

Nun war das Paket aufgemacht, und er begann, auszulegen. Ich sah eine lange, weite Sirdschameh von kostbarer, blauer Seide, ein weißseidenes Pirahen, ein Alkalok von feinster, dunkelblauer Baumwolle, mit engliegenden, silbernen Knebeldressen, eine ebensofarbige Käba aus dünner, aber unverwüstlicher Kaschamira, einen wenigstens sechs Meter langen Kemär, fast spinnwebenfein, als Gürtel um den Leib zu winden, eine Dschubbeh mit köstlichem Pelzwerk verbrämt, eine hohe, schwarze Lammfellmütze von jener Art, die nur ein Kaiser verschenken kann, ein Paar Pantoffel, ein Paar Schuhe und ein Paar Reitstiefel von weichstem Gazellenleder.

Schon die Bibel spricht von »Feierkleidern«, welche die Könige verschenkten. Es ist das eine orientalische Sitte, die man in einigen Ländern bis heute beibehalten hat. Besonders liebte es der Schah, in dieser Weise seine Gunst zu zeigen.

»Schau her!« forderte mich Dschafar auf. »Dieses Ehrenkleid habe ich dir vom Beherrscher zu überbringen. Es wurde von ihm eigenhändig ausgewählt, nachdem ich ihm deine Gestalt beschrieben hatte. Aus den Stoffen magst du ersehen, ob diese Ehrung eine gewöhnliche ist oder nicht. Du bist gewohnt, tiefer zu blicken. Ich weiß, daß dieser Anzug für dich mehr bedeutet, als er für einen Andern sein würde. Allah gibt seinen Geistern verschiedene Gewänder, scheinbar schöne und scheinbar häßliche. Man nennt sie alle „Leib“. Vor ihm ist nur das Schlechte häßlich und nur das Gute schön. Nur auf den Menschen kommt es an, ob er die Kleidung würdigt oder nicht!«

So Etwas hatte ich ja ganz unmöglich erwarten können! Meine Freude wurde verdoppelt, als Dschafar ein zweites Paket öffnete, welches einen ähnlichen Anzug für meinen Hadschi Halef enthielt. Ich sah den braven Freund schon jetzt im Geist in Wonne schwimmen! Das war ja noch nie, noch nie passiert, daß ein Hadeddihn vom Schah-in-Schah geehrt worden war, und noch dazu in dieser Weise!

Es ist nicht meine Art, den Dank, den ich gern still empfinde, in viele laute, wohlklingende Worte zu kleiden. Ich verstand die beiden Geber des Geschenkes, und Dschafar verstand auch mich, obwohl ich nur wenig sagte.

»Und nun das Zweite, das Sonderbare!« begann er wieder. »Ich lenkte meinen Ritt hierher zunächst nach dem Schlosse Mihribani, wo sich der Herrscher jetzt befindet. Eine Tagesreise, nachdem ich es verlassen hatte, traf ich mit dem Ustad zusammen, der zu ihm wollte. Er bat mich, zu warten und dann mit ihm zu reiten, wenn er zurückkehren werde; ich ging aber nicht hierauf ein. Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir Vieles, wenn auch nicht Alles, was hier geschehen ist. Ich erfuhr auch, daß du von Syrr gehört hast, dem angeblichen Geschenk des Schah-in-Schah, dem rätselhaften Pferde. Ich bitte dich, mir mitzuteilen, was du jetzt von ihm weißt!«

Ich sagte ihm, was ich über Syrr erfahren hatte; es war nicht viel und klang ziemlich dunkel.

»Man hat dir Wahres und Falsches berichtet,« sagte er dann. »Es war ein köstlicher Gedanke vom Beherrscher, sein bestes, grad sein allerbestes Pferd ganz im Verborgenen und ohne jeden Zeugen so zu schulen, wie es mit Syrr geschehen ist. Es trägt nur ihn allein. Zu dem alten Kunststück mit dem Abwerfen Anderer ist es zu gut, zu edel. Aber es gehorcht eben nur dem Schah-in-Schah. Setzt sich ein Anderer auf, so bleibt es eben stehen. Am Zügel führen läßt es sich, reiten aber nicht. Damit es nicht durch seine vielen Stallbediensteten und die Mucken anderer Pferde verdorben werde, hat er es zu mir getan, wo es nicht belästigt wird. Mein kleiner aber schöner Stall steht fast ganz leer, und weil ich nicht das bin, was man einen »Reiter« zu nennen pflegt, ist Syrr nicht der Gefahr ausgesetzt, daß ich ihn behellige. Ich habe ihn also nicht geschenkt bekommen; dieses Gerücht ist falsch. Wenn der Herrscher ihn braucht, kommt er zu mir und stellt ihn dann auch selbst wieder ein. Aber er ist keineswegs dagegen, sondern es macht ihm vielmehr Spaß, wenn angebliche Reitvirtuosen mich bitten, beweisen zu dürfen, daß Syrr ihnen gehorchen müsse, er möge wollen oder nicht. Es ist noch Keiner dagewesen, der dies fertiggebracht hat, sondern es hat ein Jeder mit Beschämung abziehen müssen, weil er das Geheimnis zwischen dem Schah und diesem Pferde nicht entdecken konnte. Du schaust mich an, Effendi. Du lächelst. Glaubst du etwa, daß du es entdecken würdest?«

»Es käme auf eine Probe an,« antwortete ich.

Da fiel er rasch ein:

»Die sollst du machen!«

»Wann?«

»Wann es dir beliebt!«

Da sah ich ihn freilich noch ganz anders an als vorher.

»Dschafar!« rief ich aus. »Ich hörte, Du habest ein vollständig verhülltes Pferd mitgebracht. Soll ich etwa gar vermuten, daß –«

Ich empfand es als Wagnis, den begonnenen Satz auszusprechen. Er aber lachte fröhlich auf und tat es an meiner Stelle:

»Daß dieses Pferd der Syrr des Herrschers ist? Ja, er ist es. Ich habe ihn mitgebracht.«

Da sagte ich kein Wort. Ich war fast erschrocken. Dann kam mir die Sprache wieder:

»Welche Kühnheit von dir! Was wird der Schah-in-Schah tun, wenn er es erfährt! Er stellte den Syrr bei dir ein, damit er unbelästigt bleibe, und du schleppst ihn so viele Tagereisen weit hierher zu uns, allen, allen den Gefahren ausgesetzt, vor denen dieses kostbare Pferd grad durch dich bewahrt werden sollte!«

Nun lachte er noch herzlicher als vorher und antwortete:

»Eine Strafrede statt des Lobes! Du bist ja förmlich zornig, Effendi! Aber ich nehme das als gutes Zeichen und will dich beruhigen. Wisse, daß ich nichts, gar nichts gewagt habe. Wir wurden, nämlich Syrr und ich, von einer Abteilung der Leibgarde bis zu den Kalhuran und dann von diesen Euren Freunden bis fast ganz hierher gebracht. Es konnte uns also unterwegs nichts geschehen. Und grad um das Pferd nicht anzustrengen, habe ich nicht auf den Ustad gewartet, sondern bin langsam vorausgeritten. Und wenn ich sage Leibgarde, so soll das heißen, daß ich es nicht ohne die besondere Erlaubnis des Beherrschers tat. Ja, er selbst ist es, der den Gedanken angeregt hat, Syrr mit nach hier zu nehmen!«

»So bin ich starr!«

»Starr? Ich werde dich sofort wieder lebendig machen, indem ich dir sage, daß ich den Syrr für Niemand bringe, als für dich allein!«

»Für mich? Sei ernst!«

»Ja, ja; für dich! Und das kam so: Daß du ein guter Reiter seist, das hatte ich erzählt, doch ist das nicht der Grund. Die Andern alle, welche nichts erreichten, hatten ja geglaubt, nicht nur gute, sondern sogar virtuose Reiter zu sein. Aber ich hatte auch von deiner Findigkeit gesprochen, von deiner Aufmerksamkeit für alles Tiefere und von deiner Liebe zu den Tieren. Lindsay erzählte so viel von dir und deinem Rih, dem herrlichsten Pferde der Hadeddihn. Der Schah erfuhr, wie du dich zu den Pferden und überhaupt zur Kreatur verhältst, und als ihm dein Sprung über die Verräterspalte und gar das gräßliche Wagestück berichtet wurde, daß du, vorn und links den Abgrund, rechts die Felswand, hinter dir die Feinde und unter dir den kaum vier Fuß breiten Stein, durch einige liebe Worte dein zitterndes Pferd bewegtest, sich vorn zu erheben, den halben Körper über der Tiefe, und langsam umzuwenden – da rief er aus, daß du es vielleicht sein könntest, dem Syrr außer ihm gehorchen würde, weil ein freundliches Wort von dir genügt habe, die Todesangst des Pferdes in ruhiges Vertrauen zu verwandeln. Und als er hörte, daß ich dich besuchen werde, ging er mit sich zu Rate, ob er mir den Syrr anvertrauen solle oder nicht. Ich selbst riet ihm ab, weil ich nicht glaubte, eine solche Verantwortlichkeit auf mich nehmen zu können. Aber grad mein Widerstand schien ihm die Gewähr zu bieten, daß das Pferd nicht nur daheim, sondern auch während dieser Reise in guten Händen sei, und so befahl er mir, es mitzunehmen. Ich sage, er befahl; so durfte ich mich nicht länger weigern.«

»Dschafar – Mirza – vor allen Dingen, wie soll ich dich titulieren?«

»Du nennst mich einfach Dschafar; ich will es so. Die Andern mögen immerhin Mirza sagen!«

»Ich danke dir! Nun wieder zu dem Pferde! Ich kann mir nicht denken, daß dir der Schah den köstlichen Syrr bloß aus reiner Neugierde anvertraut hat, nur um zu erfahren, ob es mir gehorchen werde. Es muß noch ein anderer, höherer oder tieferer Grund vorhanden sein.«

»Der ist auch da! Bezeichne ihn, wie du willst; ich nenne ihn psychologisch. Der Herrscher nannte es ein Problem, und zwar ein wichtiges Problem. Er ist nicht etwa neugierig, sondern gespannt! Das ist doch wohl ein Unterschied! Er sagte sogar, Syrr sei zwar unbezahlbar, aber keineswegs ein zu hoher Preis für die Lösung, doch wolle er warten, ehe er hiervon spreche. Effendi, Effendi, merkst du, was der Beherrscher will?«

»Ja.«

»So gieb dir Mühe!«

»Mühe? Dschafar, Dschafar! Mühe tut es am allerwenigsten; ja, sie würde nur verderben! Wenn mich das Pferd nicht gleich beim ersten Anblick liebgewinnt, brauche ich gar nicht zu probieren; es würde doch vergeblich sein. Sag mir, was frißt es wohl am allerliebsten?«

»Sein größter Leckerbissen ist ein Apfel.«

»Hat es irgend eine Untugend, welche zu schonen ist, wenn man es nicht erzürnen will?«

»Nein, keine einzige.«

»Irgend eine empfindliche Körperstelle, die man nicht berühren darf?«

»Auch nicht. Effendi, ich höre, du bist Kenner. Du fängst es richtig an, ganz anders als jene Virtuosen, die nur das Vieh im edlen Pferde sehen!«

»Nun, das liegt eben im Virtuosentum. Noch deutlicher im Wort Dressur! Liebt Syrr den Stall?«

»Nein. Das Freie ist ihm lieber, sogar des Nachts.«

»Hat er Eigenheiten in Beziehung auf das Wasser, auf das Futter?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»So will ich die Probe wagen. Aber ich bitte dich um Eins!«

»Um was?«

»Von diesem Augenblicke an bin ich der Herr des Pferdes. Kein Mensch darf es ohne meine Erlaubnis berühren, auch du selbst nicht!«

Da wurde er ernst.

»Weißt du, was du da auf dich nimmst, Effendi?« fragte er.

»Alles!«

»Jeden Andern würde ich abweisen, denn das Pferd ist nicht mein, sogar den Ustad, den ich doch so kenne! Dir aber will ich vertrauen. Syrr sei dein Eigentum, natürlich nur für die Zeit meines Aufenthaltes hier. Bist du zufrieden?«

»Ja, ich danke dir!«

»So geh hinab zu ihm, indessen ich es mir hier wohnlich mache!«

Das war auch für Schakara das Zeichen, sich zu entfernen. Sie nahm mein »Feierkleid« mit, um es hinauf zu mir zu tragen. Halefs Anzug wollte Dschafar selbst überbringen.

»Denn ich kenne ihn aus Lindsays Erzählungen,« sagte er lächelnd. »Es hat höhern Wert für ihn, den Boten des Schah-in-Schah persönlich zu empfangen.«

Unten ging ich sofort in das Gewölbe, in welchem die Pferde standen. Die Reitknechte waren da.

»Weiß hier schon Jemand, daß Ihr den Syrr mitgebracht habt?« fragte ich.

»Nein,« lautete die Antwort. »Dschafar Mirza hat uns verboten, davon zu sprechen.«

»So verschweigt es auch weiterhin. Niemand soll es wissen. Jetzt ist er mein. Ich werde ihn selbst bedienen; es hat ihn von jetzt an kein Anderer zu berühren. Wie ist er gesattelt, wenn er den Schah-in-Schah trägt? Wohl Reschma?«

»Nein, sondern arabisch.«

»Wie verhält er sich zu andern Pferden?«

»Er mag sie nicht; er ist stolz; aber er tut ihnen nichts. Wenn sie ihm nahe kommen, geht er fort. Er hat sich noch von keinem berühren lassen, auch selbst noch keines berührt.«

»Kannst du das so genau wissen?«

»Ja, denn ich bin Dschydd und habe Syrr von Anfang an gepflegt.«

»So werde ich mich an dich wenden, wenn ich Etwas wissen will. Liebt er das kalte Wasser?«

»Es ist ihm sogar eine Wonne. Er lächelt froh, wenn man ihn wäscht. Der Beherrscher hatte ihn einmal mit am Narghis-See. Da war er noch jung und lief frei herum, das schönste Füllen, das es auf der Erde gab. Da war er fast gar nicht aus dem Wasser herauszubringen. Effendi, ich bitte dich, nimm ihn in Acht! Ich habe ihn so lieb!«

»Sei unbesorgt; er ist in guten Händen! In welcher Sprache redest du mit ihm? Persisch natürlich?«

»Nein nicht persisch, sondern meine Muttersprache. Ich bin ein Dschubeileh-Araber.«

Da ließ ich mir diejenigen Worte und Ausdrücke aufzählen, welche dem Syrr geläufig waren, und nahm ihn dann aus dem Gewölbe heraus, um ihn hinter nach der Weide zu führen. Schakara hatte den Anzug hinaufgebracht und kam jetzt wieder herunter. Sie war bei meinem Gespräch mit Dschafar zugegen gewesen, hegte das lebhafteste Interesse für das Pferd und bat mich, mitgehen zu dürfen. Als wir durch den Garten kamen, pflückte ich zwei Aepfel, einen gewöhnlichen Küchenapfel und einen edlen, nach Rosinen duftenden Sib-y-Kischmisch-Apfel. Jeden in einer Hand, hielt ich dem Pferde beide zugleich vor. Es faßte nicht etwa hastig zu, sondern es beroch sie mit Bedacht und griff dann zu dem duftenden. Da sagte Schakara:

»Effendi, das ist kein „Vieh“. Es beherrscht den Appetit; es wählt; es folgt nicht der Gier, sondern dem prüfenden Sinne. Und schau, wie langsam es kaut, fast wie ein Mensch, der eine Delikatesse genießt. Ein anderes Pferd hätte schon längst nach dem zweiten Apfel gelangt. – Nun nimmt es ihn, fast leise, zögernd, als ob es dir einen Gefallen tun wolle, indem es nun auch den weniger guten frißt. Syrr ist edel, sehr edel. Ich habe ihn schon lieb!«

Sie klopfte ihm mit der flachen Hand den Oberschenkel, so, wie man Pferde kräftig zu liebkosen pflegt. Da hob er den einen Vorderfuß und zuckte mit dem eingewickelten Schwanze. Dieses »Klatschen« war ihm also unangenehm. Für mich ein wichtiger Fingerzeig! Als wir an die Quelle kamen, ließen wir ihn trinken. Er versuchte erst den Geschmack des Wassers und trank dann mit sichtlichem Behagen, zuweilen eine Pause machend, wie ein Weinkenner, der eine seltene Nummer nicht gleich hinunterstürzt. Dann führte ich ihn hinter in das Gras und begann, die Hülle aufzuschnallen. Da sah ich denn, daß Syrr auch ein Rappe war, aber was für einer! Ein Rappe mit Doppelmähne! Ohne das geringste helle Fleckchen! Der volle, vornehm getragene Schwanz reichte fast bis zur Erde nieder. Die Behaarung war seidenweich und biberfein, fast schwärzer noch als schwarz, aber die Spitze jedes einzelnen Haares wie in eine Brillanttinktur, in lichten Fluß getaucht und darum leise, aber doch ganz deutlich schimmernd. So Etwas hatte ich noch nie gesehen. Schakara schlug verwundert die Hände zusammen und rief aus:

»Ein Mischki en Nur! Das Märchen hat also Recht! Es gibt Rappen, welche dunkler sind als Kohle und doch wie Demant glänzen! Wenn die Alten am Lagerfeuer sitzen und von jenem Wunderpferd erzählen, welches des Nachts von Stern zu Stern galoppiert, um einen Geist zu suchen, der es reiten könne, so ist es stets ein Mischki en Nur. Der Glanz der Sterne wurde seinem Haar zu eigen; einen würdigen Reiter aber hat es bis heut noch nicht gefunden.«

Diese Spitzenfärbung war umso erstaunlicher, als sie sich nicht nur bei den kurzen Härchen des Körpers sondern auch bei den langen Haaren der Mähne und des Schwanzes zeigte. Wenn er den Letzteren bewegte, so war dieses leise Flimmern, um mich so auszudrücken, eine wahre Augenfreude. Aber nun erst die Gestalt, der Körperbau des Hengstes! Ich habe Rih beschrieben und auch Assil Ben Rih, seinen Sohn, zu beschreiben versucht. Das war ein Fehler. So wenig, wie man die Schönheit einer Blume, einer Frau, eines Kunstwerkes beschreiben kann, ebenso wenig läßt sich durch Worte eine Anschauung von der Schönheit eines Rassepferdes geben. Ich werde mich also hüten, meinen Fehler zu wiederholen, indem ich Syrr beschreibe. Zudem weiß ich sehr wohl, welche Vorurteile im Abendlande gegen den ächten Araber herrschen. Der Europäer bezeichnet den Beduinen als den größten Dieb und Lügner im Pferdehandel, verbreitet aber doch die »Lügen«, welche man ihm aufgehängt hat, und glaubt sie auch selbst! Die Beduinen wissen sehr wohl, was es heißt, wenn fremde Völker den Europäern ihre Schätze zeigen und ihnen erklären, worin der Wert derselben besteht. Die Folgen solcher Aufrichtigkeiten liegen allüberall so zu Tage, daß sie gar nicht zu übersehen sind. Wenn der größte Reichtum des Arabers in seinen edlen Pferden liegt, so fällt es ihm gar nicht ein, jeden Franken über Alles, was diese Pferde betrifft, bereitwilligst zu unterrichten. Die bösen Erfahrungen, welche Andere gemacht haben, zwingen ihn zu Ausflüchten, Täuschungen und Unwahrheiten, durch welche er zwar seinen Ruf verschlechtert, aber fremde Gelüste von sich weist. Was man in Büchern über das arabische Pferd zu lesen bekommt, ist häufig ein Beweis für diese Täuschungen. Selbst berühmte Hippologen behaupten in ihren Schriften, daß der Araber selten Rappen züchte, weil er die schwarze Farbe für ordinär halte, daß eine volle Mähne und ein voller, langer Schweif für häßlich gelte, und was dergleichen Dinge weiter sind. Hiernach wäre Syrr als ein unschönes, gemeines Pferd zu bezeichnen. Wenn ich höflich sein und dies als Wahrheit gelten lassen will, so muß ich begeistert hinzufügen, daß der Bau seines Körpers noch viel, viel häßlicher und gemeiner war als seine Farbe!

Ich trat ein Stück von ihm zurück, um diese herrlichen Formen zu betrachten, die jeden Kenner oder Pferdefreund entzücken mußten. Ich suchte nach Fehlern, scharf und unerbittlich, fand aber keinen, keinen einzigen, nicht den allergeringsten! Dieser Syrr war körperlich ideal. Ob auch in Beziehung auf seine innern Eigenschaften – fast hätte ich Geist oder Seele gesagt; das ist mir aber für Tiere streng verboten worden – das hatte sich noch zu zeigen. Da sah Assil mich stehen. Er kam herbei, um mir zu zeigen, daß er auch noch vorhanden sei. Ich liebkoste ihn wie immer. Da ging er weiter, hin zu Syrr. Auch er machte niemals Gemeinschaft mit andern Pferden. Er schritt langsam, prüfend vorwärts. Er hob die sich erweiternden Nüstern, so daß die Linie von den Ganaschen zur Kinnkettengrube eine wagerechte wurde. Seine Ohren spielten. Der Schweif hob sich. So kam er näher, immer näher – zwei Vollbluthengste! Was wird wohl geschehen! Syrr stand still. Er bewegte keine Muskel. Kein Haar zuckte. Aber seine innen rosagefärbten Nüstern öffneten sich mehr und mehr, und seine großen Augen schienen noch größer zu werden. Nun war Assil da. Er legte die Ohren grad nach vorn, sog den Atem des neuen Kameraden ein, wieherte kurz und wie vor Freude auf und – gab Syrr einen Kuß.

Ja, Pferde küssen! Wer das nicht weiß, der hat sie noch nicht beobachtet!

Eine solche Vertraulichkeit erschien dem Rappen des Schah-in-Schah wohl unerhört. Er hob schnell auch den Kopf, legte die Ohren ganz nach hinten und öffnete die Lippen so, daß das prächtige, elfenbeinene Gebiß zu sehen war. Dann wieherte er ebenso, schloß die Lippen wieder und – küßte Assil Ben Rih auch.

»Wie schön, wie gut, Effendi!« sagte Schakara. »Ich befürchtete schon, es werde eine gewaltige Schlägerei beginnen. Sie haben sich aber erkannt. Edel zu edel, hoch zu hoch, echt zu echt, das gibt niemals Konflikt!«

»Möchtest du mir einige weiche Lappen besorgen?« bat ich sie. »Er ist unter der engen Hülle ganz verdunstet. Ich will ihn waschen.«

»Auch Machassa und Furscha?« fragte sie.

»Nein. Heut nicht. Es könnte das der neuen Bekanntschaft schaden.«

Sie ging, das Verlangte zu holen. Ich war nun mit Syrr allein und begann, mich bei ihm einzuschmeicheln. Fast hätte ich mit der bekannten Redensart gesagt – ihm seelisch näher zu treten. Ich strich ihm leise das Haar, nicht Mähne oder Schwanz, sondern nur das kurze, und zwar genau in der Richtung, in der es lag. Wo es einen Bogen machte, folgte auch ich ihm mit der Hand. Wo sich bei Gliederbeugen zwei verschiedene Haarrichtungen begegneten, beachtete ich das wohl und folgte mit einer Hand der einen, mit der zweiten Hand der anderen. Wo ein Wirbel gebildet wurde, wirbelte ich auch. In dieser Weise ging ich über den ganzen Körper, von hinten nach vorn. Es fiel mir nicht ein, Etwas zu tun, womit ich Syrr belästigt hätte, etwa wie die Hufe zeigen zu lassen oder das Gebiß zu untersuchen. Den Kopf behandelte ich mit besonderer Aufmerksamkeit. Es gab da am Oberauge einige herabragende Borstenhaare, welche den Blick unausgesetzt belästigen mußten. Ich schnitt sie mit meiner kleinen Taschenmesserschere sofort weg. Auch ein Pferd merkt so Etwas sogleich und ist dankbar dafür! Nur kann es leider nicht sagen »Ich danke Ihnen ergebenst, Herr Rollfuhrmann oder Herr Droschkenkutscher!« So gab es schließlich am ganzen Körper keine Stelle, die ich nicht berührt hatte, lieb, streichelnd und alle Derbheit oder Hast vermeidend. Wäre es kein Pferd sondern ein Mensch gewesen, so würde ich sagen, Syrr sollte bei sich denken: Der hat Verstand; der ist aufmerksam und gütig; den muß man liebhaben!

Dann legte ich ihm die Hände an die Backen, ließ ihm meinen Atem fühlen und sprach freundlich mit ihm. Zu verstehen brauchte er kein Wort. Er sollte nur den Ton meiner Stimme hören und meine Augen betrachten dürfen, denen es nicht einfiel, sich zu einem »Pferdebändigerblick« zu verschärfen. Er hatte sich zu alledem sehr ruhig wie abwartend verhalten – reserviert, sagt man bei Menschen. Da sah ich Schakara zurückkommen und trat einen Schritt von ihm zurück. Sofort tat er diesen Schritt auf mich zu, nahm meinen Arm zwischen die Zähne und hielt mich fest, doch ohne mir wehe zu tun. Da berührte ich zum ersten Male seine Mähne. Ich strich liebkosend an ihr herab und sagte:

»Ich gehe nicht fort; sei ruhig, Syrr!«

Aber was war denn das? Schon während des Berührens seines Körpers hatte ich ein eigentümliches Prickeln in den Händen gefühlt, ganz leise nesselartig, wie ein feiner, wohltuender elektrischer oder galvanischer Reiz. Ich verspürte ihn jetzt noch. Er kam vom Pferde. War er nur einseitig oder gegenseitig? Bekam ihn Syrr etwa auch von mir? Und als ich jetzt mit der Hand an der Mähne niederfuhr, wurde er stärker, und ich hörte es in den Haaren knistern, freilich nicht etwa laut, sondern schwach, aber doch recht gut vernehmlich.

»Horch!« bat ich Schakara, als sie uns erreicht hatte, und strich etwas kräftiger.

Sie lauschte einige Augenblicke. Dann fragte sie:

»Fühlst du Etwas, Effendi?«

»Ja. Es ist wie irgend eine Kraft, die meine Hand berührt und in den Nerven weitergeht.«

Da ließ sie die mitgebrachten Lappen fallen, legte die Hände zusammen und rief aus:

»Das Knistern, das Knistern! Weißt du noch, was ich dir von der „verlorengegangenen Poesie“ erzählt habe? Von dem Rosse, dessen Mähne Funken sprüht? Wie lichtgewordene Strophen um die Stirn des Reiters? Effendi, ich bitte dich, nimm deinen Fez vom Kopfe! Berühre erst die Mähne und dann hierauf dein Haar! Ich muß wissen –«

Sie hielt inne.

»Was?« fragte ich.

»Ob – ob – ob du dann Etwas fühlst.«

Ich tat ihr den Gefallen, nahm den Fez ab, strich einige Male mit der Hand an der Mähne herunter und legte sie mir dann auf den Kopf. Die Wirkung war eine ganz eigenartige. Das Prickeln verschwand sofort aus meiner Hand und ging auf die Kopfhaut über, wobei es in den Haaren leise, leise knisterte. Indem ich Schakara dies mitteilte, stand ich vorn bei Syrr. Dieser öffnete die Nüstern, sog die Luft laut ein, kam mit dem Kopfe zu mir herum und faßte mich am Haare, nicht mit den Zähnen, sondern ganz weich, nur mit den Lippen. Da ging über Schakaras Gesicht ein frohes, glückliches Lächeln. Sie hob die Lappen wieder auf und sagte:

»Nun komm nach dem Wasser, wenn du ihn waschen willst. Ich gehe; du aber reitest!«

Diese Aufforderung befremdete mich nicht im Geringsten. Es war auch mir ganz so, als ob sich das Pferd gegen mich nicht abweisend verhalten werde. Ich stieg also auf, vorsichtig, schmerzhaften Druck vermeidend. Kaum oben, legte ich beide Fersen an, die rechte etwas weiter vor als die linke. Syrr drehte sich sofort links um und ließ sich von mir nach der Quelle reiten. Dort sprang ich wieder ab und belohnte ihn mit einem Kusse. Da warf er den Kopf hoch in die Höhe und wieherte so triumphierend, daß Schakara, laut lachend, sagte:

»Das ist Jubel! Er tut, als habe er dich besiegt anstatt du ihn! Also ein Doppelsieg mit gegenseitigem Wohlgefallen hinterher! Was wird Dschafar Mirza dazu sagen?!«

»Nichts, denn er erfährt noch nichts,« antwortete ich. »Ich bitte dich, Schakara, sei verschwiegen! Ehe ich Etwas sage, muß ich Syrr vollständig kennengelernt haben, und das hat heimlich zu geschehen. Es ist vielleicht zu kühn, aber ich denke hierbei auch an das Rennen. Wenn Syrr das ist, was ich von ihm erwarte, so lache ich über jeden Gegner, den man ihm zu stellen wagt.«

Hierauf begann die Wäsche. Schakara hätte wohl gern mitgeholfen, doch gab ich es nicht zu. Der Glanzrappe mußte erfahren, daß ich nicht nur sein Herr sein wollte, sondern auch gern mit eigenen Händen für ihn sorgte. Dieses Waschen war kein rücksichtsloses Begießen, Reiben und Scheuern; es geschah genau so vorsichtig und schonend wie das vorhergehende Streicheln. Als Syrr abgetrocknet war, machte ich eine weitere Probe. Zu den Ausdrücken, welche er verstand, gehörte auch, wie der Stallknecht mir gesagt hatte, das Wörtchen »komm«!

»Ta‘ al!« sagte ich darum und ging vom Wasser fort.

Er kam zu meiner Freude sogleich hinter mir her. Ich führte ihn nach der Weide, doch nicht geraden Weges. Um ihn zu prüfen, wich ich einige Male scharf ab, nach rechts oder links. Er machte diese Schwenkungen mit und blieb eng hinter mir, bis ich endlich stehen blieb. Zum Lohne hierfür holte ich ihm dann noch einige Aepfel und gab ihm auch selbst seine Abendgerste, worauf ich ihn mit der Ueberzeugung verlassen konnte, daß wir gute Freunde geworden seien.

Als ich in den Hof trat, stand Hanneh oben auf der Halle und winkte mir, hinaufzukommen. Ich tat es gern. Halef lag nicht, sondern er saß, im Rücken gestützt von einigen Polstern. Das »Feierkleid« war vor ihm ausgebreitet. Auf seinem Gesichte glänzte die Freude und mit ihr neue Lebensfarbe.

»Sihdi, mir ist ein großes, großes Heil widerfahren,« sagte er. »Dschafar Mirza, der Abgesandte des Schah-in-Schah, war bei mir, um mir dieses Geschenk der Ehrung zu überbringen. Ich weiß gar wohl, ich verdanke es nicht mir, sondern nur dem Umstande, daß ich dein Begleiter bin. Aber ich freue mich doch unendlich darüber und werde mich, so oft ich es trage, nach seinen ernsten Farben richten!«

Diese letzte Wendung kam mir nicht ganz unerwartet. Krankheiten machen eben ernst, und Genesungsfreude und Besserungsfreude sind zwei liebe Schwestern. Es war ihm anzusehen, daß dieses Geschenk ihn wieder einen bedeutenden Schritt vorwärts gebracht hatte.

Hierauf ging ich zum Abendessen mit Dschafar, dem Pedehr und dem Chodj, den ich dazu geladen hatte. Dieser Mann war es wert, daß man ihn nicht bloß arbeiten sondern auch mit beraten ließ. Nach Tische nahm ich Dschafar mit hinauf zu mir. Wir saßen im Freien und erzählten. Von dem Mordanschlag auf ihn sagte ich ihm noch nichts. Die Gefahr war jetzt noch nicht da, und ich wollte ihm den Aufenthalt bei uns nicht gleich am ersten Tage mit Sorgen vergällen. Daß er wenigstens bis zum Rennen bleiben werde, verstand sich ganz von selbst. Er hatte zwar behauptet, von der Reise nicht ermüdet zu sein; aber trotz der Lebendigkeit unserer Unterhaltung erklärte er gegen Mitternacht doch, nun schlafen gehen zu müssen. Ich begleitete ihn bis hinunter an seinen Wartturm und kehrte dann zu mir zurück, um mich auch niederzulegen. Der Mond schien hell, und ich sah von meiner hohen Plattform aus, daß die Pferde alle lagen, das eine etwas abseits von den andern; das war Syrr.

Als ich mich niederlegte, fiel mir ein, daß heut vor einer Woche, am Freitag, zum ersten Male vom »Feste der fünfzig Jahre« und von dem Rennen zu mir gesprochen worden war. Was hatte sich in dieser Woche alles ereignet, und wie unerwartet schnell war es während dieser Zeit mit meiner Genesung vorwärts gegangen! Wie vortrefflich war die Anstrengung des Sonntages und des hierauf folgenden Nachtgespräches überstanden worden! Ich hatte dann allerdings volle vierundzwanzig Stunden fest geschlafen, aber wundersam war diese schnelle Erholung nach einer so langen Krankheit jedenfalls.

Als ich früh aufstand, schlief Dschafar noch. Ich besuchte zunächst die Pferde. Die drei anderen begrüßten mich von Weitem. Assil kam schnell heran zu mir, um sich an mir zu reiben. Syrr war zurückhaltender. Seine noch nassen Vorderbeine bewiesen mir, daß er trinken gewesen und dabei direkt in die Quelle gestiegen war. Ich holte ihm einige Aepfel, die er langsam und bedächtig verzehrte. Dann leckte er mir die Hand. War das, weil sie noch nach den Aepfeln rochen? Oder war es Dankbarkeit, vielleicht schon Liebe? Ich brachte ihm nun seine Morgengerste und suchte dann den Pedehr auf, um mit ihm über die Sicherheitsmaßregeln zu sprechen, welche wir in Beziehung auf Dschafar zu treffen hatten. Wir mußten umso besorgter sein, als er jetzt noch nichts erfahren sollte. Die Wächter des Duars hatten ihre Aufmerksamkeit von jetzt an zu verdoppeln, zumal die Zeit des Rennens immer näher rückte und der Fremdenzufluß nun bald beginnen würde. Dies brachte ihn auf die Wege, welche zum Duar führten, und auch auf den, auf welchem wir nach dem Sprunge über den Abgrund nach dem hohen Hause gebracht worden waren.

»Bist du schon wieder dortgewesen, Effendi?« fragte er.

»Nein,« antwortete ich. »Wie weit ist es bis hin?«

»Nur eine Viertelstunde.«

»Nur? Hast du Zeit?«

»Ja. Wir haben zwei Wege; einen vom Dorfe aus, und einer führt von hier aus um den Wartturm herum. Beide treffen später zusammen. Hast du Lust, zu gehen?«

»Ja. Komm!«

Das Tal der Dschamikun stand nach drei Seiten hin mit der Außenwelt in Verbindung. Ostwärts ging es nach dem Hasen- und Kurierpaß. Nordwestlich nach dem Gebiete der Takikurden, zugleich aber auch zu den im Norden halbansässigen Dschamikun. Und südwärts nach dem Daraeh-y-Dschib, dem Tale des Sackes. Durch das letztere waren wir, von Nordwesten aber Hanneh und Kara gekommen. Der Weg nach dem Tale des Sackes führte zwischen dem Tempel- und dem Ruinenberge hindurch. Beide traten hier so eng zusammen, daß sie nur durch eine schmale Schlucht geschieden wurden. Unten lief der Duarpfad, etwas höher derjenige, auf dem wir uns befanden. Er führte durch einen steil ansteigenden Wald. Tief unten eilte rauschendes Wasser nach dem See. Es kam aus dem Felsenrisse, über den wir mit unsern Pferden gesprungen waren. Nach einiger Zeit stieg der Duarweg zu uns heran, und dann hatten wir nur noch eine kurze Strecke bis zu der Stelle, wo wir unser Leben gewagt hatten, um den Massaban zu entkommen. Es war jetzt eine neue Brücke da. Als ich auf ihr stand, in die Tiefe schaute, in welche sich von drüben her das Wasser stürzte, und die Breite des Risses mit den Augen maß, überkam mich nachträglich die Angst, von der ich damals keine Spur empfunden hatte. Wie war es doch nur möglich gewesen, sich ein solches Wagnis zuzutrauen!

Der Pedehr mochte meine Gedanken erraten, denn er sagte:

»Das hat Euch keiner vorgemacht und wird Euch wohl auch Keiner nachmachen! Schau dir die Brücke an, Effendi! Bemerkst du Etwas?«

»Natürlich! Sie ist zum Aufziehen.«

»Ja. Nach den Erfahrungen mit den Massaban konnten wir uns nicht zu einem neuen, festen Uebergang entschließen, der im Kriegsfalle immer zerstört werden muß. Der Ustad ließ von unserem Nälbänd Ketten machen und vom Najjar die starken Rollen dort an der Eiche. Jetzt genügt die Kraft eines einzelnen Mannes, die Brücke aufzuziehen. Das ist ein Wunder, welches ich nicht begreife, denn sie ist ja zehnmal schwerer als der Mann selbst.«

»Es ist kein Wunder, sondern sehr einfach. Diese Rollen bilden ein Suhulet, durch welches die Kraft des Menschen derart vervielfältigt wird, daß ein Einzelner genügt, die Brücke zu heben. Der Ustad kennt dieses Naturgesetz sehr wohl.«

»Und hältst du so eine Brücke für gut?«

»Ja. Doch wie diese liegt, hat man dafür zu sorgen, daß man nicht einmal selbst auch abgesperrt wird!«

Als wir zurückkehrten, wählten wir den Weg nach dem Duar. Dort angekommen, konnten wir Dschafar beobachten, welcher nun schon unten war und uns nicht sogleich bemerkte. Er hatte gehört, daß ich mit dem Pedehr fortgegangen sei, und war darum auch gegangen, um uns vielleicht zu treffen. Er hatte das Boot am Landeplatz entdeckt und sich den Chodj-y-Dschuna holen lassen. Nun segelten sie bei gutem Winde mit einem halben Dutzend Lastkamelen um die Wette, welche, hoch mit Heu beladen, für das Wettrennen eingeübt wurden. Wie man sich erinnern wird, hatte der Pedehr auf Halefs Frage, was für Pferde laufen würden, folgendermaßen geantwortet: »Es werden nicht bloß Pferde sein. Wir lassen alle Arten der Tiere laufen, die es bei uns gibt, Schafe, Ziegen, Esel, Maultiere, Lastkamele, Reitkamele, gewöhnliche Pferde, und zum Schlusse wird es mehrere Rennen zwischen Tieren edelster Rasse geben.« Der Wettkampf sollte also scherzhaft beginnen, um ernst und würdig zu enden. Als man diese Disposition traf, hatte man nicht geahnt, daß sich aus dem beabsichtigten Rennen unter Freunden ein erbitterter Wettkampf zwischen Freund und Feind entwickeln werde, war aber trotzdem bei der ursprünglichen Bestimmung geblieben, daß der Anfang heiter zu sein habe, möge er enden, wie er wolle. Daher jetzt die Uebung mit den Lastkamelen.

Es konnte hierbei nicht etwa von Tierquälerei die Rede sein. Die Dschimal waren zwar so hoch und so breit beladen, daß von ihnen nur die Beine zu sehen waren, aber man hatte das Heu so leicht und duftig gepackt, daß es für die starken Tiere nichts weniger als eine Last zu nennen war. Vorn gab es in dem Heuballen eine Oeffnung aus welcher über dem sonderbaren Maule die Konvexbrillenaugen des Tieres den Weg überschauen konnten. Hoch oben war nur der Kopf des tief im Heu vergrabenen Führers zu sehen, der sein Kamel nur durch Zurufe zu leiten hatte. Es war also vorauszusehen gewesen, daß sich die Sache höchst drollig ausnehmen werde, und die jetzige, erste Probe zeigte, daß man sich hierin nicht getäuscht hatte. Wir sahen die langen Beine, die großen, plumpen Füße und sämtliche Heubündel in eiligster Bewegung, als ob es beabsichtigt sei, binnen zwei Stunden dreimal rund um die Erde zu jagen. Da blieb plötzlich eines der Kamele mitten im Laufe stehen, um in der größten Gemütsruhe sich ein Maulvoll aus der eigenen Last zu raufen und gemächlich zu verzehren. Der Kopf hoch oben begann zu bitten, zu flehen, zu jammern, zu schimpfen, zu drohen. Da besann sich das Kamel auf seine Pflicht und warf die Beine wieder vorwärts, daß der Staub nur so flog, bis es an ein anderes prallte, welches in derselben guten, aber für den Reiter höchst ärgerlichen Absicht stehengeblieben war. Weiter vorn sahen wir zwei Heuladungen im größten Eifer und eng neben einander herrennen, bis der Weg zwischen Berg und See zu eng wurde und sie beide miteinander stecken blieben. Der allerschnellste dieser Renner war den andern weit vorausgekommen und schien nun der guten Ueberzeugung zu sein, seinen Zweck erreicht zu haben. Er hatte sich also gemütlich auf die Mutter Erde niedergelassen und ließ Alles, was aus dem Munde seines Besitzers kam, in größter Seelenruhe über sich ergehen, ohne weiter ein Glied zu rühren. Das gab selbstverständlich Veranlassung zur größten Heiterkeit. Die liebe Jugend machte natürlich mit, was aber keineswegs dazu beitrug, die zwei Dutzend Kamelbeine von dem Werte der kostbaren Zeit zu überzeugen. Dschafar segelte mit dem Chodj-y-Dschuna nebenher, um das Schauspiel aus sichrer Entfernung zu genießen, bis sich alle Kamele niedergelegt hatten und keines weiter fortzubringen war. Da kam er nach dem Duar zurück und versicherte uns, noch nie im Leben so gelacht zu haben wie heut. Nachdem er diesen Ausgang des Kampfes gesehen habe, verspreche er sich von dem Rennen nun überhaupt sehr große Dinge und sei erfreut, grad am »Feste der fünfzig Jahre« zu den Dschamikun gekommen zu sein!

Der Chodj-y-Dschuna teilte mir mit, daß man mich als Rekonvaleszenten bisher nicht habe belästigen wollen. Nun aber bitte er mit dem Pedehr um die Erlaubnis, mich über Alles, was sich auf das Fest beziehen sollte, unterrichten und fragen zu dürfen. Wir gingen infolgedessen nach seiner Wohnung und hielten das ab, was man in Deutschland, wo es bekanntlich keine Fremdwörter gibt, als eine Komiteesitzung bezeichnen würde. Es gab keinen einzigen Punkt, dem ich nicht zustimmen konnte, was den braven Chodj-y-Dschuna so erfreute, daß er den Mut bekam, uns zum Essen einzuladen. Das war um die Mittagszeit, und so nahmen wir es an. Ich ging aber vorher hinauf, um Syrr zu füttern und beauftragte Kara, mir dann meinen Assil und das Pferd des Mirza herabzubringen, weil ich einen etwas weiteren Spazierritt versuchen wolle, an dem auch er teilnehmen möge.

Wir dehnten diesen Spazierritt auf über zwei Stunden aus, ohne daß ich mich, als ich heimkehrte, von ihm ermüdet fühlte. Ich glaubte also, mir für heut Abend auch noch eine weitere Anstrengung zumuten zu können, und sagte Kara also, daß wir gegen Mitternacht den Aschyk aufsuchen würden; er solle sich also bereithalten und alles dazu Nötige besorgen.

Bis zu dieser Zeit geschah nichts, was einer besonderen Erwähnung bedarf. Ich brachte die Zeit nach dem Abendessen absichtlich bei Dschafar zu, weil ich da gehen konnte, wenn es mir beliebte. Wäre aber er bei mir gewesen, so hätte ich warten müssen, bis er sich entfernte. Kara stand bereit. Der Weg durch das große Eingangstor wäre kürzer gewesen; aber ich hatte Gründe, den Umweg über die Ruinen zu wählen. Ich wollte ihn mir in allen seinen Einzelheiten so einprägen, daß ich ihn später des Nachts nicht nur gehen sondern auch sicher reiten konnte. Ich hatte nämlich die Absicht, Syrr heimlich einzuüben, und das war nur dann möglich, wenn alle Leute schliefen.

Wir gingen also im Mondscheine über das Gemäuer und dann den Steinbruchweg hinunter nach der Landestelle. Das Boot war da. Wir kamen in den Kanal und aus diesem in das vordere Bassin, ganz so wie die vorigen Male. Ich hatte erwartet, daß unser Gefangener vor Freude laut aufschreien werde. Es blieb aber still, obgleich wir so laut ruderten, daß die Schläge wie Meeresrauschen von den Säulen widerhallten.

»Er ist tot!« sagte Kara. »Herabgefallen und ertrunken!«

»Möglich. Wir werden ja sehen.«

Wir kamen schnell näher. Er mußte trotz der tiefen Finsternis nun auch unser Licht sehen. Und doch hörten wir nichts von ihm! Nun sahen wir die Säule und den Stein. War der Aschyk noch da? Ja. Er saß oben. Still. Hüben das Gerippe und drüben er. Wir hatten absichtlich nicht eine, sondern zwei Fackeln brennen. Es war also so hell, daß wir sein Gesicht, seine Züge deutlich erkennen konnten. Er lehnte mit dem Rücken an der Säule. Seine Augen waren geschlossen. Als das Boot stand und wir die Ruder einzogen, sagte er in mir ganz unbegreiflich ruhigem Tone:

»Ihr kommt wieder. Ich wußte es! Ahnst du, was ich da tat ? Nein! – Ich habe gebetet!«

Wie kam es doch, daß dieses Wort, dieses letztere, mich innerlich so packte, als ob in mir Etwas hierauf vorbereitet gewesen sei! War es infolge des Traumes, an den ich sogleich dachte? Mußte sich hier, in dieser tiefen, dunkeln Verlassenheit, denn Alles, Alles, selbst die ärgste Verkalkung und Verhärtung, schließlich doch und doch noch zum Gebet verwandeln? Nicht nur im Traume, sondern auch in der Wirklichkeit? Er wartete ein Wenig, und als ich nichts antwortete, fuhr er fort:

»Effendi, ich will beichten – beichten – beichten! Ich will nicht nur, sondern ich muß – ich muß – ich muß!«

»Doch wieder wohl nur Lügen!« sagte ich.

»Lügen? Hier? Effendi, hier hat jede Lüge entweder zum Wahnsinn zu werden oder sich in Wahrheit zu verwandeln. Außer diesen beiden gibt es kein Drittes. Nun prüfe, ob ich wahnsinnig geworden bin! Wenn nicht, so ist nur Wahrheit zu erwarten!«

»So sag vorerst, wie du zu dieser mir ganz unverhofften Ruhe kommst!«

»Wie –? Welch eine Frage! Wenn nicht hier, wo soll man dann wohl ruhig werden! Hier wird ja Alles, Alles, Jedermann zu Stein! Entweder zum gemeinverkalkten Tode, oder zum edlen Alabaster, an dem die aus dem Kalk erlösten Geister arbeiten, bis er – beten lernt! O, Effendi, ich schlief hier ein, ermüdet vom Rufen, Schreien, Brüllen. Da kam ein Traum – ein Traum! Ich hatte tausend Jahre, tausend Jahre lang hier im Wasser gelegen, verhärtet und verkalkt in meinen Sünden. Niemand wollte mich retten, und ich selbst konnte es nicht. Da kam ein Ruf von oben, einmal – zweimal – dreimal; der weckte mich. Ich antwortete, daß alle Säulen klangen. Da war es oben still; aber in mir, in mir, tief unten, da wurde es laut und laut und immer lauter! Da kamen die Tage mein Lebens, einzeln, furchtbar einzeln, einer nach dem andern! Sie klagten mich nicht an, nein nein, nein nein! Das tat ich ja schon selbst! Sie gaben gute Worte! Ein jeder, jeder, jeder von ihnen kniete im Büßergewande neben mir nieder, griff nach meiner Hand und drang in mich, mit ihm zu beten, zu beten, zu beten! Und als sie alle um mich lagen, alle, alle, vom ersten bis zum letzten, da kniete ich inmitten meines Lebens und faltete die Hände wie sie alle. Und als ich sprach: „Vergieb mir meine Sünden!“ Da hörte ich erst Eure Ruderschläge, und dann sah ich auch Eures Lichtes Schein! Was Ihr mir bringt, das habe ich zu nehmen. Doch bitte ich, seid nicht auch Ihr von Stein!«

Als er geendet hatte, lauschte ich noch immer. Es war, als ob das, was aus ihm gesprochen hatte, nun in mir weiterrede. »Tausend, tausend Jahre hier im Wasser gelegen!« hatte er gesagt. Nur zwei Erdentage, für den Geist, die Seele aber tausend, tausend Jahre! Welcher Mensch kann behaupten, gerecht zu richten! Der Buchstabe des Gesetzes behandelt alle gleich. Aber die Gerechtigkeit liegt nicht im gleichen Strafquantum; in diesem ist vielmehr ihr Gegenteil, die Ungerechtigkeit zu suchen. Denselben Tatbestand vorausgesetzt, wird der Eine nicht durch zwanzig Jahre Zuchthaus gebessert, der Andere aber schon durch einen einzigen Tag Gefängnishaft. Hätte für den Letzteren dann nicht die Strafe aufzuhören? Es war von mir die füchterlichste Strenge gewesen, den Aschyk hierher an diesen Ort zu detinieren. Ich sah und hörte jetzt, daß es genau die beabsichtigte Wirkung hervorgebracht hatte. Eine Verlängerung seiner Qual wäre nicht nur Grausamkeit, sondern geradezu Unmenschlichkeit gewesen. Darum antwortete ich ihm jetzt:

»Der Menschheitsjammer muß sogar den Stein erbarmen, warum nicht auch den Menschen selbst! Wenn du gebetet hast, so ist mein Zweck erreicht. Ich führe dich hinaus.«

»Das wolltest du? Du, Du, der von mir betrogen werden sollte, wie kaum vorher ein Anderer?«

»Was du an Andern tatest, das habe nicht ich zu richten. Was du mit mir vorhattest, da sei dir gern vergeben. Hier hast du meine Hand. Komm herab!«

Ich richtete mich auf und streckte sie ihm entgegen, um ihm herabzuhelfen. Er griff nicht sofort zu, er sagte:

»Warte noch, Effendi! Ich habe dir doch vorher zu beichten!«

»Nicht hier! Hier hattest du nur dir allein zu beichten. Nun wartet draußen jetzt ein Anderer auf dich.«

»Ein Anderer?« fragte er schnell. »Effendi, reicht dein Blick in mein Inneres? Wenn ich in den Ruinen stand und drüben Euren Tempel stehen sah, so lachte ich der Albernheit, die solche Häuser baut für Einen, den es nie gegeben hat und niemals geben werde. Hier aber griff er in die Finsternis und stellte meine Seele vor mich hin, die ich mir aus der Brust gerissen und weggeworfen hatte. Da kam ein Drang, ein Sehnen über mich, ein innerlicher und doch lauter Schrei nach diesem Tempel. Er klingt noch jetzt, laut, überlaut, Effendi. Erhöre ihn! Laß uns hinauf zum Beith-y-Chodeh steigen! Das ist der einzig rechte Ort zum Beichten!«

»So komm!«

Er griff knieend nach meiner wieder ausgestreckten Hand, küßte sie und kletterte dann herab in das Boot. Als wir zu den Rudern griffen, schaute er noch einmal nach dem Stein hinauf und sagte:

»Dort laß ich das Gerippe! Mir ist, als ob es mein eigenes Skelett sei, mein früheres. Ich habe jetzt ein neues. Das ist nicht starres Knochenwerk, aus dem mir das Vergangene, die Zähne fletschend, in die Augen grinst, sondern ein fester, froher Wille, der vor Freude jauchzt, gutmachen zu können, was ich verbrochen habe.«

Er saß in der Mitte des Bootes zwischen uns beiden, mit dem Rücken nach vorn. Während wir nach dem Kanale ruderten, schaute er bald rechts, bald links an mir vorüber nach den bewegten Wellen hinter uns.

»Sie kommen!« sagte er, sich nach den Augen greifend.

»Wer?« fragte ich.

»Die Geister meiner Lebenstage, alle, alle, alle! Ich sehe sie. Sie schwimmen hinter uns her. Ihre Köpfe ragen aus dem Wasser.«

Ich dachte an meinen Traum und an die Geister, welche mir hinaus in den See gefolgt waren. Als wir uns im Kanale befanden, wiederholte er:

»Sie folgen auch hier, eng bei einander, Kopf an Kopf!«

»Beruhige dich,« antwortete ich; »es ist das Phantasie!«

»Meinst du? So laß sie mir! Die Tage meines Lebens sollen mit mir hinauf zum Tempel steigen. Sie, meine Ankläger, sollen mit mir beten und werden dann verschwinden; so hoffe ich!«

Draußen empfing uns der helle Mondschein! Ich lenkte zunächst geradeaus, ganz so, wie es im Traume geschehen war. Es lag Etwas in mir, was mich bestimmte, so und nicht anders zu tun. Da fragte der Aschyk:

»Sind es die Wellen unseres Bootes, welche immer breiter werden? Ich sehe noch immer Kopf an Kopf. Sie kommen aus dem Berge. Die Schar wird breiter und immer breiter. Aber die Vordern folgen uns, und die Andern kommen hinter ihnen her.«

Nun befanden wir uns an der Stelle, wo wir im Traume gehalten hatten. Da gab ich dem Fahrzeuge die Richtung nach dem südlichen Ufer, nach derselben Stelle, wo die erlösten Geister an das Land gestiegen waren. Da verließen auch wir das Boot und zogen es ein Stück an das Ufer, weil es hier nicht angebunden werden konnte. Die Fackeln waren natürlich ausgelöscht worden. Da hielt der Aschyk mir seine Hände hin und forderte mich auf:

»Binde mich, Effendi!«

»Wozu?«

»Daß ich dir nicht entfliehen kann, während wir zum Beit-y-Chodeh gehen.«

Da legte ich ihm die Hand auf die Achsel, sah ihm in das Gesicht und antwortete:

»Zu wem willst du? Hinauf zu Gott? Und da soll ich dich fesseln? So lange die Erde steht, ist es noch keinem Menschen gelungen, mit seiner Stimme Gott wirklich zu erreichen, wenn ihm die Hände des Gebetes gefesselt waren! Steig auf zu ihm, aber frei!«

»Frei – frei!« jubelte er, die Hände hoch erhebend. »Du hast das Richtige gewählt, Effendi. Ich werde nicht fliehen, sondern eng bei dir bleiben, wie ein Hund, der seinem Herrn gehorcht, weil er ihn liebt – liebt – liebt!«

»Du wirst nicht eng bleiben, denn ich gehe nicht mit.«

»Also wohl Kara Ben Halef?«

»Auch nicht. Wir bleiben hier. Du gehst allein.«

»Allein?!«

Er trat einige Schritte zurück und staunte mich mit großen Augen an.

»Ihr geht nicht mit?« rief er aus. »Keiner von Euch? Ist das wahr – ist das wahr?«

»Ja.«

»Effendi – Sihdi – Emir! Ich bin ein Dieb, ein Fälscher, ein Betrüger, ein Helfershelfer der Mörder! Ich habe dich und Euch alle mit vernichten wollen. Ich habe Pekala verführt und Tifl verführt, welche gute Menschen waren und noch gute Menschen sind, welche Euch liebten und immer, immer lieben werden! Und du giebst mich frei, vollständig frei? Weißt du, ich habe dich vorhin da drin im Berge angelogen. Ich habe nicht gebetet. Ich bin nicht besser, sondern schlechter geworden. Ich werde jetzt gehen und mich an dir rächen! Bedenke das, bedenke!«

»Still; sei still! Wo und wann du gelogen hast, das weiß ich vielleicht besser als du selbst. Ich kenne dich, wie du früher warst, und ich kenne den, der du jetzt geworden bist. Du steigst jetzt ganz allein hinauf und wirst dann wiederkommen. Grad deine Warnung gibt mir die Gewähr, daß ich dir mein Vertrauen schenken darf. Mich zu täuschen, warst du niemals fähig, und von jetzt an kommt es dir auch gar nicht in den Sinn!«

Da sank er in den Sand des Ufers nieder, griff nach meiner Hand, drückte sie an sein Herz und an seine Lippen und sprach:

»So holt sich Allah den Verlornen wieder, den die Gerechtigkeit des Menschen noch tiefer in den Abgrund stoßen würde! Effendi, ich bin gar wohl im Stande, deine Güte in ihrer ganzen Tiefe zu wiegen und zu wägen. Ich gehörte nicht zu den Armen und Elenden des Landes. Ich war berufen, gut und groß zu werden. Mein Vater stand hoch, in nächster Nähe des Schah-in-Schah. Ich eiferte ihm nach, und er hatte seine Freude an mir. Da kamen sie, vom Schlage derer, die bei dir waren, um sich einen Ustad der Taki-Kurden zu erschwindeln. Ich war zu jung, sie zu durchschauen. Sie brauchten mich, und darum mußte ich sinken, tiefer, immer tiefer, bis ich im Wasser des Verbrechens untersank. Schon war ich am Ertrinken, da kamst du und holtest mich heraus – in Liebe, in Liebe! Du kennst die Menschenseele, Effendi! Wie ich dir danke, werde ich nicht sagen, sondern – zeigen!«

Er stand wieder auf und ging den Tempelpfad hinan. Wir aber setzten uns nieder, um zu warten. Kara war einige Zeit still. Er wischte an den Augen herum. Dann sagte er:

»So rettet man Menschenseelen! Spricht jetzt nicht mit mir, Effendi. Der Aschyk steigt hinauf, um mit Allah zu sprechen. Ich kann hier unten jetzt nichts Anderes tun. Ich – bete auch!«

Ich glaube, es betete noch ein dritter!

Die Zeit verging. Nach einem kleinen Stündchen kehrte der Aschyk zurück.

»Da bin ich wieder,« sagte er. »Erlaube mir, daß ich mich niedersetze, um Euch Alles zu erzählen, was ich zu berichten habe!«

»Nicht hier,« antwortete ich.

»Wo denn?«

»Komm wieder in das Boot!«

Wir stiegen ein und fuhren über den See hinüber nach dem Landeplatze. Von dort gingen wir nach dem hohen Hause. Im Hofe verabschiedete ich Kara; den Aschyk aber nahm ich mit hinauf zu mir. Wir hatten unterwegs kein Wort gesprochen. Jetzt brannte ich die Lampe an. Er stand, ganz wie betreten, im Mittelzimmer und schaute sich um.

»Sind das die Räume, welche du bewohnst, Effendi!« fragte er.

»Ja,« antwortete ich.

»Ich brauchte eigentlich nicht zu fragen, denn ich wußte es schon. Ich kenne Euer ganzes Haus; ich kenne Alles, Alles. Es war mir auch nicht unbekannt, daß im Wartturme noch leere Stuben sind; aber ich tat gegen Pekala so, als ob ich das nicht wisse, denn ich wollte hierher, oder doch wenigstens hinunter in die Wohnung des Ustad. Warum, das wirst du erfahren.« Er trat an den Tisch, um die helle Schrift des Lampenschirmes zu lesen.

»Die Liebe hört nimmer auf, steht da geschrieben,« sagte er. Dann drehte er sich mir wieder zu und fuhr fort: »Effendi, ich treffe in dir den ersten Menschen, der diese Worte nicht bloß liest, sondern auch nach ihnen handelt! Warum gibt es so viele Verlorene? Sie müssen verloren gehen, weil man ihnen schon den ersten, kleinen Fehltritt nicht verzeiht. Warum spricht man nur von Gerechten und nur von Ungerechten? Weil in der Mitte zwischen ihnen Diejenigen fehlen, welche Menschen sein würden, wenn es welche gäbe! Ich meine die Menschen, welche ihrer Natur nach zuweilen sündigen dürfen, ohne sofort ausgestoßen zu werden! Sage mir, warum hast du mich hierherauf zu dir geführt?«

»Um dir zu zeigen, daß ich dir vertraue und daß bei uns kein Arg zu finden ist. Du wolltest dich hier einwohnen, um heimlich zu forschen und uns zu schaden. Nun schau dich um und frag nach Allem, was dir beliebt! Ich bin bereit, dir Alles zu zeigen und dir jede Auskunft zu erteilen.«

Da senkte er den Kopf.

»Wie du mich beschämst, Effendi! Wir wußten nur zu gut, daß nichts Arges oder gar Böses hier zu finden sei, nämlich jetzt. Desto sicherer aber später, denn – es sollte gefälscht werden. Und diese Nachahmungen und betrügerischen Verdrehungen sollten nicht nur dem Schah-in-Schah vorgelegt, sondern auch dem ganzen Lande bekannt gegeben werden. Es gibt zwei Parteien, welche es auf die Vernichtung des Ustad abgesehen haben. Ich diente nur der einen, der frommen, weil sie besser belohnte als die andere; aber ich kenne auch diese andere, denn ich habe sie scharf beobachtet und bin ihren Anführern lange heimlich nachgestiegen, um hinter ihre Absichten und Geheimnisse zu kommen. Beide bekämpfen einander unerbittlich; aber sobald es sich um den Ustad handelt, gehen sie fein brüderlich Hand in Hand, jedoch dabei ruhmneidisch auf einander, wer von ihnen am gewissenlosesten gegen ihn gehandelt habe. Wenn du wüßtest, was Alles ich dir von ihnen erzählen kann!«

»Glaubst du etwa, daß ich mich fürchte, es zu hören?« frage ich.

»O nein! Im Gegenteil! Sie, sie sind es, die sich zu fürchten haben, wenn ich dir Alles sage! Der Ustad schreibt ja Bücher! Ein einziges Buch von ihm, mit den Beweisen, die ich bringe, ganz so, wie sie es mit ihren Fälschungen wollten, dem Schah-in-Schah vorgelegt und über das Reich verbreitet – was würden für sie wohl die Folgen sein!«

»Das habe ich bereits gewußt, denn ich bin beiden schon lange auf der Spur.«

»Spur, nur Spur! Was ich dir bringe, sind nicht bloß Spuren, sondern Beweise, Handschriften, Briefe, Dokumente. Diese vernichtenden Waffen liegen bei mir drüben in den Ruinen. Die eine Partei war zu aufrichtig mit mir; die andere hielt mich für dumm. Nun habe ich beide in den Händen. Ich hole dir Alles herüber, um sie dir auszuliefern. Dann mache mit ihnen, was dir beliebt, Effendi. Man ging auf Fälschungen aus, um sagen zu können, daß man Euch entlarve. Nun sollt aber Ihr entlarven können, ohne fälschen zu müssen, denn was ich Euch gebe, ist echt!«

»So bringe es mir! Aber nur dann, wenn es dein Gewissen erleichtert! Ich finde auch ohne Verrat die sämtlichen Blößen des Gegners.«

»Das traue ich dir wohl zu; ich erfahre es ja an mir selbst! Aber Spuren sind doch nur Spuren. Laß mich jetzt zu dir reden; dann wirst du deutlicher sehen!«

»So komm heraus ins Freie! Diese Zimmer sind mir zu heilig für solche Dinge.«

Wir gingen auf die Plattform und setzten uns da nieder, genau so, wie ich im Traume mit dem »Zauberer« gesessen hatte. Und wie dieser, so begann nun auch der Aschyk zu erzählen: Ein Menschenleben nur, und aber doch ein Menschheitsleben! Vom »Zauberer« hatte ich erfahren, warum es Schatten geben muß. Heut nun erfuhr ich, wie diese Schatten wirken und wie man sich verhalten sollte, um sie so klein wie möglich zu machen. Dieser Aschyk hatte im tiefsten Schatten unserer Feinde gelegen und sie genau studiert. Er schonte sich selbst nicht im Geringsten, aber er schonte auch keinen Andern. Und als er fertig war, lag nicht bloß er allein, sondern lagen auch alle Die, von denen er gesprochen hatte, so durchsichtig vor mir, daß ich sie nun wahrscheinlich besser kannte als er selbst. Hierbei befriedigte es mich, daß sich alle meine Vermutungen als richtig herausstellten. So war er es auch wirklich gewesen, der die sechs Fremden drüben in der Mäjmä-i-Yähud belauscht hatte, und er berichtete mir jedes Wort, welches von ihnen gesprochen worden war.

Nun stand er von seinem Sitze auf.

»Fertig – für heut!« sagte er. »Jetzt kennst du mich in allen meinen Sünden; nun sprich mein Urteil aus! Das meinige habe ich da unten gefällt, im Wasser, auf dem Steine. Mit Allah habe ich da drüben in Eurem Beith-y-Chodeh gesprochen. Ich glaube, er verzeiht. Wende dich hinüber, und lausche!«

Es hatte sich im Ost ein starker Morgenhauch erhoben; der wehte durch den offnen Rosenpark und brachte dann den Duft zu uns herüber.

»Das soll mir von da drüben Antwort sein!« nickte der Aschyk. »Und nun noch du! Du bist ein Christ; ich bin ein Muselmann; so sprich als Mensch nun dein Erkenntnis aus. Die Menschheit sollst du nicht etwa vertreten; die kenne ich; ich mag sie gar nicht hören! Sprich zu mir als der Mund des Menschentums; die Menschlichkeit ists, die ich hören will. Und was du sagst, soll über mich entscheiden!«

Da hielt ich ihm meine Hand hin und sprach:

»Greif zu! Die Menschlichkeit, die du jetzt hören willst, hat schon durch mich gesprochen: Ich verzeihe!«

»Ganz?«

»Ganz!«

Erst jetzt faßte er zu. Er hatte mit gesenktem Kopfe vor mir gestanden; nun hob er ihn empor und sagte:

»Da drüben, unterhalb des Tempels, habe ich vor dir gekniet. Ich tat es gern, denn dort war ich Verbrecher. Jetzt aber bin ich wieder Mensch. Ich darf dir also frei ins Antlitz sehn und kann dir danken, ohne mich zu beugen. Sag mir, was hast du über mich beschlossen?«

»Nichts. Du bist frei, dein eigner Herr!«

»So kann ich gehn – in diesem Augenblick – sofort?«

»Ja.«

Da trat er an die Balustrade vor und sah hinab zum See, dann weit hinaus. Hierauf drehte er sich wieder zu mir um, räusperte sich wie verlegen und sprach:

»Effendi, gewähre mir das Glück, das allergrößte, welches es für mich hier bei dir geben kann!«

»Wenn es mir möglich ist, wohl gern.«

»Ich möchte nach so langer, langer Zeit gern wieder einmal fühlen, wie es ist, wenn ein Mensch dem anderen vertraut. Verschließest du hier diese Tür, wenn du dich schlafen legst?«

»Nein.«

»Das Fenster?«

»Auch nicht.«

»Du denkst nicht klein und wirst mich drum verstehen. Ich war dein Feind; dein Leben galt mir nichts. Ich sah drin auf dem Tisch ein Messer, Scheren und noch Andres liegen, was in des Mörders Hand zur Waffe werden kann. Geh trotzdem jetzt hinein, und lege dich zur Ruhe, obgleich hier Alles offenstehen bleibt. Ich aber setze mich hier auf das Kissen nieder und denke mich in meine Jugendzeit, in der ich rein von Schuld, ein gutes Kind, ein braver Mensch noch war. Ich will es wieder sein!«

Da reichte ich ihm abermals die Hand und sagte nichts als:

»Gute Nacht! Ich gehe schlafen!«

Er richtete sich hoch auf. Ich ging, durch das Mittelzimmer, wo ich die Lampe auslöschte, und dann nach der Schlafstube. Dort drehte ich mich noch einmal nach ihm um. Er stand genau so, wie der »Zauberer« im Traume, draußen vor der Tür und schaute mir nach.

»Gute Nacht!« sagte ich noch einmal.

»Gute Nacht! Allah segne dich, Effendi!« klang es zurück. Dann ging ich weiter, in die Stube hinein.

Ich schlief sehr gut und sehr lang. Als ich erwachte, schaute mir die Sonne freundlich in die Augen. Ich dachte sogleich an die Gestalt des Aschyk, wie sie draußen an der Tür gestanden hatte, kleidete mich schnell an und ging hinaus. Er war nicht mehr da. Die Stufen, welche von meiner Plattform aus hinüber nach dem Glockenwege führten, hatten es ihm ermöglicht, sich zu entfernen. Aber er war dann noch einmal hiergewesen, denn auf dem Tisch des Mittelzimmers lag ein Paket, welches nur von ihm sein konnte. Als ich den Umschlag auseinander genommen hatte, sah ich, was es war: die Beweise, Handschriften, Briefe und Dokumente, welche mir über das Treiben unserer Gegner von ihm versprochen worden waren. Ich erstaunte zunächst über die Menge dieser Sachen, sollte aber später, als ich sie las, über ihren Inhalt noch viel mehr erstaunen!

Jetzt zu lesen, war keine Zeit, denn heut war Sonntag, und ich sah schon einzelne Dschamikun nach dem Beith-y-Chodeh steigen. Ich tat also diese Beweise an einen sichern Ort und ging dann hinten hinab, um mich zunächst den Pferden zu zeigen. Assil kam auf mich zugesprungen. Syrr blieb zwar stehen, wieherte aber kurz und freudig auf und erwiderte meine Liebkosungen. Ich holte ihm einige Aepfel und seine Gerste, nahm hierauf mein Frühstück ein und suchte hernach Dschafar Mirza auf, um ihn zu fragen, ob er mit nach dem Tempelberge gehen wolle. Er war mit großem Interesse bereit dazu, und so schlossen wir uns dem Pedehr an, welcher in gleicher Absicht im Hofe mit uns zusammentraf.

Welch ein gottesdienstlicher Sinn unter diesen Dschamikun! Es gab noch keinen Priester, und doch stieg Alles, was nicht unbedingt im Duar bleiben mußte, den Berg hinauf, zur Laienandacht, die erst später, bei gesicherteren Zuständen, von berufenerer Hand geleitet werden sollte. Sie verlief unter zweimaligem Glockenklang derjenigen ähnlich, welcher ich am vorigen Sonntage beigewohnt hatte, nur unterblieb heute alles Weitere.

Auf dem Rückwege blieben wir an derselben Stelle stehen, von welcher aus mir Tifl die jenseits liegenden Ruinen gezeigt hatte. Heute waren sie mir bekannter noch als ihm. Ich erklärte Dschafar, wie man sich die Entstehung und den Zweck dieser Bauten zu denken habe, und freute mich darüber, daß er mich leicht begriff. Da fragte mich der Pedehr:

»Hat der Ustad schon von unserer Kirche zu dir gesprochen?«

»Von einer Kirche? Nein,« antwortete ich. »Das muß noch in weitem Felde liegen, sonst hätte er mir sicher Etwas davon gesagt. Wohin soll sie zu stehen kommen?«

»Eben dort hinüber in die Ruinen. Grad in der senkrechten Linie des Alabasterzeltes.«

»Woher aber der Platz! Ah, ich verstehe. Die Ruinen sollen ja abgetragen werden! Die frommen Herren aus Chorremabad sträuben sich dagegen. Aber dann auch welch ein großartiges Material zum Kirchenbau! Nur müßte auch der Plan dieses Materiales würdig sein!«

»Das ist er auch; Effendi, das ist er auch! Der Ustad hat ihn selbst entworfen und jahrelang daran gezeichnet. Es wurde längst dazu gesammelt und gesteuert. Wir haben weit mehr zusammengebracht, als wir erwarten konnten, aber es reicht noch nicht einmal zum Beginn, viel weniger zur Vollendung. Die Bewältigung solchen Materials erfordert viel Zeit und sehr bedeutende Mittel.«

Da sagte Dschafar schnell:

»Mittel? Darf ich tausend Tuman beitragen?«

»Du? Als Moslem?« fragte der Pedehr erstaunt und erfreut zugleich.

»Warum nicht? Wäre das ein Hindernis? Wir sagen Allah, und Ihr sagt Chodeh. Der Engländer sagt God und der Franzose Dieu. Aber es ist doch ganz gewiß derselbe Gott gemeint! Ich habe schon oft meine Hand geöffnet, um den Bau einer Moschee zu ermöglichen, denn sie ist ein Gotteshaus. Ich gab auch schon zum Baue einer Synagoge. Warum soll ich nicht auch für eine Kirche geben, in der man doch keinem andern Gotte dient? Oder würde meine Gabe Eure Kirche entweihen, weil Eure Verehrung eine etwas andere ist, als die unserige? Würdet Ihr Euch weigern, einen Beitrag des Schah-in-Schah anzunehmen?«

»Des Landesherrn? Auf keinen Fall!«

»So! Er ist Moslem, und ich bin auch einer, habe also das gleiche Recht! Es bleibt bei den tausend Tuman, und mit dem Schah werde ich in Eurem Interesse sprechen, sobald ich wieder zu ihm komme! Man nennt uns Schiiten unduldsam; wir sind es aber nicht, wenigstens die gebildeten. Nur bitten wir um gleiche Toleranz!«

Das war sehr freundlich, aber auch sehr energisch gesprochen. Er gab sich hier überhaupt ganz anders als drüben im wilden Westen. Hier wußte man, was er war und was er wollte; drüben hatte man das aber nicht gewußt. Daher damals das mangelnde, jetzt aber das scharf ausgeprägte Sicherheitsgefühl!

Als wir dann beim Mittagsessen saßen, hörten wir im Hofe Pferdegetrappel und schlürfende Kamelschritte, und ehe uns Jemand meldete, wer es sei, wer kam da mit schnellen Schritten zu uns herein? Der Ustad! Unsere Freude war umso größer, als wir ihn nicht so schnell zurückerwartet hatten. Ich hielt diese rasche Wiederkehr für ein gutes Zeichen, und es stellte sich heraus, daß ich da ganz richtig vermutet hatte. Als die frohe Begrüßung vorüber war, sagte er:

»Ihr werdet wißbegierig sein. Ich will Euch antworten, ehe Ihr fragt, einstweilen nur kurz und bündig: Es steht sehr gut und sehr schlecht, sehr gut für uns und sehr schlecht für die Andern. So! Damit habt Ihr Euch für jetzt zu begnügen, denn ich habe Hunger und setze mich gleich mit her!«

Indem er es sagte, tat er es. Seine Stimmung war eine glückliche, eine heitere. Er sah so wohl und so munter aus, als ob er einige Jahre jünger geworden sei. Es ist etwas so Köstliches um die Freude. Wollte man sie doch allen Menschen gönnen!

Den Nachmittag brachten wir auf seinem Balkon zu, von welchem aus wir das lebhafte Treiben, welches im ganzen Tale herrschte, vorzüglich beobachten konnten. Wir waren nur zu Dreien, er, Dschafar und ich. Er erzählte vom Schah, der gegen ihn sehr gütig gewesen war, in anderer Beziehung sich aber sehr streng gezeigt hatte.

»Er weiß mehr, als ich dachte,« sagte er; »ja, er scheint sogar noch mehr zu wissen als wir selbst. Ich habe von ihm erfahren, daß es sich nicht nur um unsere Existenz, sondern auch um die seinige handle. Es wird ein allgemeiner Aufstand der Babi vorbereitet. Der erste Schlag soll hier bei uns fallen. Das Volk soll glauben, daß wir ihm gefährlich sind und daß der Schah ein Verräter am Glücke seiner Untertanen ist, weil er in jeder Beziehung sich als unser Gönner zeigt. Man will sich als Retter des Vaterlandes aufspielen, indem man den ersten Hieb gegen uns richtet. Hierauf wird der Schah-in-Schah abgesetzt. Das weiß er, und zwar ganz genau. Nur hat er nicht erfahren können, wer sein Nachfolger werden soll.«

Nach dieser Mitteilung sah uns der Ustad an, als ob er die höchste Ueberraschung bei uns erwarte. Dschafar aber sagte sehr ruhig:

»Das wußte ich schon Alles. Der Schah hat es mir erzählt.«

»Und du, Effendi?« fragte der Ustad. »Auch du tust, als ob dir diese aufregende Nachricht höchst gleichgültig sei!«

»Sie ist mir weder gleichgültig, noch überrascht sie mich. Ich bin nämlich in die Verschwörung eingeweiht, vollständig eingeweiht.«

»Du, du?« riefen beide zugleich.

»Ja, ich! Ich weiß sogar, wer der Nachfolger des Beherrschers sein soll.«

»Wer denn, wer, wer?«

»Nur langsam! Ich weiß noch immer mehr. Wollt Ihr vielleicht auch den Namen der neuen Kaiserin hören?«

»Kaiserin –?« fragen beide gleich erstaunt und wie aus einem Munde.

»Nicht wahr, das klingt für Persien sonderbar, ist aber trotzdem Faktum. Wenn Euch ihr Name nicht genügt, so doch vielleicht ihr Bild. Ich besitze es nämlich.«

Da sahen sie mich sprachlos an. Ich mußte lächeln und fuhr fort:

»Der Schah hat zwar Recht, wenn er von einem Babiaufstande spricht, und doch ist es noch anders. Man hat nämlich die Babi nur zu dem Zwecke mit herbeigezogen, um die Schuld, falls der Aufstand mißlingen sollte, ihnen in die Schuhe schieben zu können. Auch ist man auf einige Forderungen der Babi zurückgekommen, weil sie den Zwecken der eigentlichen Macher gut entsprechen. So soll das neue Reich ein Wahlreich sein, in welchem nach 19, der heiligen Babizahl, neunzehn Hohepriester nach Ableben des alten den neuen Herrscher zu wählen haben. Und ebenso soll die Stellung der Frau eine freiere sein, ja noch viel freier, als die Babi jemals gefordert haben. Die Haremswirtschaft hat aufzuhören, weil man Eingang in die Familie und Einfluß auf die Frauen haben will. Darum ist auch dem neuen Kaiser, wie jedem seiner Untertanen, nur eine einzige öffentliche Frau erlaubt, welche den Titel Kaiserin zu führen hat, nachdem sie von den Hohenpriestern für ihn gewählt worden ist. Die erste Kaiserin ist schon gewählt. Ich trage sie hier in meiner Tasche.«

Ich legte bei diesen Worten die Hand auf die Brusttasche meiner Jacke. Dort steckte nämlich das Bild Dschafars und der Schahzadeh Khanum Gul, welches ich im Birs Nimrud zu mir genommen hatte. Als wir von dem Ustad aufgefordert worden waren, mit zu ihm zu kommen, hatte ich mir gedacht, wovon wir sprechen würden, und war hinauf zu mir gegangen, um es mit herabzunehmen. Der Ustad kannte meine damaligen Erlebnisse ganz genau und also auch dieses Bild. Er mochte ahnen, daß ich es meinte, denn er warf einen besorgten Blick auf den Mirza. Dieser aber fragte im Tone der höchsten Spannung:

»In deiner Tasche, Effendi? Darf man es sehen?«

»Ein Fremder nicht; dir aber bin ich sogar verpflichtet, es zu zeigen.«

»Verpflichtet? Wieso?«

»Schau selbst!«

Ich nahm es aus der Tasche und reichte es ihm hin. Er zog es mir aus der Hand, sah es an und – sprang sofort von seinem Sitze auf, als ob er von einer Natter gestochen worden sei. Dann ließ er die Hand mit dem Bilde sinken, sah mich mit einem ganz eigenartigen Blicke an und fragte:

»Effendi, bist du hierhergekommen, um mich abermals zu retten? Aus einer noch viel, viel größern Gefahr, als alle die damaligen waren? Woher hast du dieses Bild?«

»Aus dem Birs Nimrud, von dem ich dir ja schon erzählte. Es lag im Schatz der Sillan, und ich versteckte es, weil ich dich sogleich erkannte.«

»Welch ein Glück, welch ein Glück für mich! Dieses Weib hat es hergegeben, um mich zu verderben, weil ich nichts mehr von ihr wissen wollte! Du lieber, lieber Freund, der du mir bist, wer mag da deine Hand geleitet haben! Man wollte jedenfalls beweisen, daß ich an der Empörung mit beteiligt sei. Denn nun weiß ich es: sie soll die Kaiserin und Ahriman Mirza der Kaiser sein! Ist es so oder nicht, Effendi?«

»Genau so,« nickte ich.

»Aber wie hast du das erfahren können? Du, du, der Fremde!«

»Setz dich wieder her! lch will es dir erzählen. Und nicht nur das allein. Du mußt nun Alles erfahren, Alles. Der Ustad wird es mir erlauben.«

Nun weihte ich ihn in unsere Geheimnisse ein. Er hörte ruhig zu und zeigte selbst dann nicht die geringste Aufregung, als ich ihm mitteilte, daß und für wann sein Todestag bestimmt worden sei. Er öffnete vorn den Alkalok und das seidene Pirahen. Da sahen wir ein wunderbar gearbeitetes Panzerhemde schimmern.

»Du siehst, Effendi,« sagte er, »daß Ahriman Mirza nicht der Einzige ist, der die Notwendigkeit der Vorsicht kennt. Er trachtet mir nach dem Leben; das habe ich schon längst gewußt, und ich werde Euch hierüber noch sehr Interessantes berichten. Neu ist mir nur, daß der Tag, an dem ich sterben soll, so genau festgesetzt worden ist. Ich bin an diesem Tage hier bei Euch, Ahriman auch, der Mörder ebenso. Das ist eine Schalkhaftigkeit des Schicksales, für welche ich herzlich dankbar bin. Wer da noch vom starrsinnigen Fatum oder vom blinden Kismet sprechen kann, der ist ein Tor, der niemals klüger werden wird. Aber das beantwortet mir doch Alles noch nicht meine Frage, woher du erfahren hast, wer Kaiser und wer Kaiserin werden soll!«

»Ich hatte dir erst das Vorangehende zu sagen. Nun kommt die eigentliche Antwort, welche auch den Ustad interessieren wird, weil er noch nicht weiß, was sich während seiner Abwesenheit hier ereignet hat. Ihr sollt es jetzt hören.«

Ich gab meinen Bericht, auch über den Traum, und verschwieg nichts, als nur den einen Umstand, daß mir Syrr gleich bei dem ersten Versuche gehorsam gewesen war. Die beiden Zuhörer folgten meinen Worten mit der größten Spannung, der Ustad still, Dschafar Mirza aber mit ganz besonderer Lebhaftigkeit. Als ich fertig war, tat es der Letztere nicht anders, ich mußte sofort die Beweise holen, welche der Aschyk mir ausgeliefert hatte.

Das tat ich natürlich gern; ich hatte sie ja selbst noch nicht durchsehen können. Das taten wir nun gemeinschaftlich. Ich kann sagen, daß sie alle unsere Erwartungen weit übertrafen. Was wir über Ahriman Mirza Neues erfuhren, war zwar von ganz bedeutender Wichtigkeit für uns und mußte ihm unbedingt verderblich werden, konnte uns aber nicht verwundern. Wenn seine Mittel auch als noch so verwerflich bezeichnet werden mußten, und wenn seine Ziele auch noch so unerlaubte waren, so hatte er seinen Haß doch immer Haß genannt und war zu stolz, fast möchte ich sagen, zu ehrenhaft gewesen, zu verbergen, daß er wühle. Das hat man selbst am ärgsten, am schlimmsten Feinde anzuerkennen und wird ihn, wenn es möglich ist, hiernach behandeln. Was aber den Scheik ul Islam und seine von Allah zur Alleinseligkeit berufene Partei betrifft, so waren wir geradezu empört über das, was wir da lasen und erfuhren. Das klang Alles so mild und freundlich, so leutselig und demütig, so tiefreligiös und gottgefällig, so edel und erhaben, so hart und unerbittlich, so dünkelhaft und hochmütig, so pfauenstolz und truthahneitel, so fanatisch und bigott, so ekelhaft feierlich und weihevoll und darum so schändlich, gemein und niederträchtig, daß Dschafar sich schließlich nicht länger beherrschen konnte. Er sprang auf, spuckte dreimal aus und sagte:

»Das ist schändlich, nichtswürdig und infam! Diese Schurken geberden sich, als ob sie den Herrgott zu beschützen und seine ganze Menschheit zu behüten und zu bewahren hätten. Dabei aber retten sie nur immer sich, sich, sich und keinen andern Menschen! Weil sie weder Geist noch Vernunft besitzen, glauben sie sich von jedem vernünftigen Worte angegriffen und schlagen ihre mißverstandenen Kuransprüche Jedem an die Backen, der besser, tiefer und höher denkt als sie! Wehe dem, der daran zweifelt, daß sie die Einzigen sind, die Allahs Licht erleuchtet! Sie können sich leicht bescheiden stellen, denn sie sind geistig dumm! Und sie können ebenso leicht erhaben und unfehlbar tun, weil sie leider nicht die einzigen geistig Dummen sind! Und diese Menschen nehmen es dem Schah-in-Schah übel, daß bei uns die Familie ein Heiligtum ist, vor dessen Tür sie mit ihren salbungsvollen Schritten innehalten müssen! Der Hausherr soll nicht mehr Herr des Hauses sein, sondern sie, sie, sie wollen es regieren! Besonders aber haben alle Frauen durch das geheimnisdüstre und verschwiegene Bab zu gehen, von welchem diese Babi ihren Namen herleiten! Oh, ich kenne diesen Scheik ul Islam von Feraghan aus! Dieser Schwachkopf ist überzeugt, daß er zur Belohnung von dort nach Chorremabad versetzt worden sei. Er ahnt nicht, daß sein treues Luristan das Bab sein soll, aus dem man ihn mit einem gänzlich unerwarteten Fußtritt werfen wird! Er ist so tölpelhaft, es sich selbst zu öffnen, jetzt eben, jetzt, und wir sind es, wir, von denen er den Fußtritt zu bekommen hat! Es werden noch viele, viele Andere mit ihm fliegen!«

Nun setzte er sich wieder nieder, hatte sich aber seines Zornes noch nicht ganz entledigt. Er fuhr fort:

»Wie gut, daß ich durch dich, Effendi, diesen tiefen und klaren Einblick gewinne! Es gehen also eigentlich zwei Empörungen gegen den Schah neben einander her. Die eine leitet der Fürst der Schatten, die andere der Scheik ul Islam, welcher aber nicht weiß, wer dieser Fürst der Schatten ist. Der Aschyk sollte es erspähen. Für beide ist Ahriman Mirza als zukünftiger Herrscher in Aussicht genommen. Auf welche Weise dieser Prinz den Scheik ul Islam für sich gewonnen hat, das ist für uns jetzt Nebensache. Beide Heerlager wollen sich vereinigen und hier bei uns beginnen. Welch eine Vereinigung! Die Frommen mit den Gottesleugnern, die Grundehrlichen mit den Fälschern und Betrügern, die Auserwählten Gottes mit den Auserkorenen des Teufels! Die Einen haben sich stets als die Aristokraten des Glaubens und der Religiosität und die Andern als Farmasonha, als niedrige Demokraten, als ketzerisches Gesindel bezeichnet; nun aber schließen sie mit ihnen Bruderbund, um sie zum Dank dann anzuspein und wieder wegzuwerfen! Effendi, ich bitte dich, mir diese Beweise anzuvertrauen, nicht für immer, sondern nur für einige Stunden. Ich weiß, wie wertvoll sie Euch zur Entlarvung Eurer persönlichen Gegner werden können; aber ich muß sofort einen Bericht für den Schah-in-Schah anfertigen und dabei ihren Inhalt vor mir liegen haben. Wirst du mir diese Bitte gewähren? Sie sind in meinen Händen sicher, und du bekommst sie dann sogleich zurück.«

»Nimm sie mit,« antwortete ich. »Dir und dem Ustad kann ich sie gern anvertrauen; ein Anderer aber bekäme sie wohl nicht. Wann willst du diesen Bericht schreiben? Du sagst, sofort. Hältst du das für nötig?«

»Allerdings. Es eilt. Darum werde ich ihn, sobald er fertig ist, durch einen zuverlässigen Boten nach Mihribani senden. Aber – freilich – ich habe nur Reitknechte mit. Ich konnte nicht an die Notwendigkeit einer solchen Botschaft denken und muß darum Euch um einen Mann ersuchen, der sich eher totschlagen läßt und meinen Bericht vorher verschlingt, ehe er ihn in falsche Hände kommen läßt.«

Der Ustad sah mich fragend an. Es gab unter den Dschamikun wohl Manchen, der geeignet war, aber er kam dennoch nicht sogleich auf einen bestimmten Namen. Da sagte ich:

»Unser Kara Ben Halef! Er besitzt alle Eigenschaften, welche hierzu erforderlich sind. Trotz seiner Jugend können wir ihm wohl am meisten vertrauen. Außerdem stehen ihm die echten Eilkamele der Hadeddihn zur Verfügung. Es giebt also für ihn nicht die geringste Gefahr, denn kein Mensch würde ihn einholen können. Er braucht nicht mehr als zwei Tage hin und zwei her. Wenn Ihr ihm einen Mann mitgebt, der den Weg nach Mihiribani kennt, so kann er am Donnerstag Abend wieder hier sein. Muß er aber auf Antwort warten, dann allerdings erst am Freitag.«

Dieser Vorschlag fand solchen Anklang, daß ich mich gleich aufmachte, um mit Kara zu sprechen. Dschafar begleitete mich nach unten. Die Dokumente in der Hand, ging er nach seinem Turme.

Kara befand sich bei seinen Eltern. Als ich hinaufkam, saß Halef aufrecht im Bette, nur ganz leicht gestützt.

»Willkommen, Sihdi!« rief er mir mit ziemlich kräftiger Stimme entgegen. »Du schaust so eilig aus?«

»Es ist auch eilig, mein lieber Halef. Ich komme, um dir den Sohn für mehrere Tage zu nehmen. Er muß eine Botschaft übernehmen, welche ich nur dem Zuverlässigsten, den ich hier kenne, anvertrauen kann.«

»Dem Zuverlässigsten? Hältst du unseren Kara dafür?«

»Ja.«

»Allah segne dich! Das ist wieder Arznei! Das hilft; das stärkt! Das macht mich schnell gesund! Wo soll er hin?«

»Zum Schah-in-Schah.«

»Zum –!«

Das Wort blieb ihm vor Freude und Staunen im Munde stecken.

»Ja, zum Schah-in-Schah!« wiederholte ich. »Mit höchst wichtigen Depeschen!«

»Zum Schah – in – Schah –!« brachte er jetzt hervor, indem er die Hände selig zusammenschlug.

»Mit höchst wichtigen Depeschen!« fügte Hanneh hinzu, die vor Wonne strahlte, denn das war wieder Etwas, was noch nicht dagewesen war, eine Ehrung sondergleichen.

Kara aber war still. Er sagte nichts. Das war so seine Art!

Ich erklärte ihnen die Angelegenheit. Da ging Kara, um die Eilhedschihn zu füttern und zu tränken. Halef aber hielt mir seine Hand hin und sagte:

»Sihdi, das kommt von dir. Ich weiß es, daß du ihn vorgeschlagen hast, denn ich kenne dich. Du weißt allerdings, daß Kara der richtige Bote ist, aber du hast dabei auch an uns, seine Eltern gedacht. Das ist abermals Arznei! Wenn das so fortgeht mit den frohen Botschaften, so springe ich noch heut von meinem Lager auf und laufe in einer Tour den ganzen Berg hinunter! Seit ich hier oben im Freien liege, werde ich wie im Galopp gesund!«

Von hier aus ging ich zu den Pferden. Schon war ich an der Küchentür vorüber, da hörte ich mich hinter mir rufen. Ich drehte mich um. Pekala kam mir nach. Sie tat sehr heimlich.

»Effendi, weiß du, daß heute Sonntag ist?« fragte sie halblaut.

»Natürlich!«

»Und daß da mein Aschyk kommen wollte?«

»Ja.«

»Er kommt aber nicht!«

»So? Warum nicht?«

»Er hat sich anders besonnen und läßt dich bitten, nicht auf ihn zu warten.«

»So war er aber doch wohl da? Denn du hast mit ihm gesprochen?«

»Ja, er war da.«

»Wann?«

»Heut früh. Des Sonntags stehe ich immer eher auf als sonst, weil ich, wenn die Glocken läuten, mit der Arbeit fertig sein will. Heut war es nun noch zeitiger als gewöhnlich. Ich ging in den Garten, um Soghanlar zu holen; da stand mein Aschyk plötzlich vor mir und sagte, daß er schon jetzt gekommen sei, weil er heute Abend nicht dasein werde.«

»Wo will er da wohl hin?«

»Das weiß ich nicht. Ich konnte ihn nach gar nichts fragen, weil er keine Zeit hatte, mir zu antworten. Aber es war sehr rührend, als er ging, sehr!«

»Wieso?«

»Er ergriff meine Hand und streichelte mir mit seiner anderen Hand über den Kopf, so – so –«

Sie zeigte mir, wie er es gemacht hatte, und fuhr dann fort:

»Und dazu sagte er: „Pekala“, sagte er, „wir haben im letzten Jahre viele, sehr viele Lügen gemacht, und der Ustad und der Effendi sind doch so liebe und so gute Menschen, die man auf keinen Fall belügen oder gar betrügen sollte. Versprich mir, daß du ihnen von heute an die volle Wahrheit sagen willst, wenn sie dich nach mir fragen!“ Da habe ich es ihm versprochen und ihm auch die Hand darauf gegeben, daß ich es halten werde, denn –«

Sie hielt inne, weil ihr die Tränen kamen. Da wischte sie sich die Aeuglein und auch das kleine Näslein an die Schürze und fuhr hierauf fort:

»Denn mit dem Lügen ist es – verzeihe mir, Effendi! Ich nehme dann nachher zum Kochen gleich eine andere, eine neue Schürze – denn mit dem Lügen ist es eine schlimme Sache. Man kann nämlich nicht schlafen, wenn man dich oder den Ustad belogen hat, und so will ich dir denn jetzt ganz offen sagen –«

Sie wischte sich jetzt abermals, und zwar sehr nachhaltig, was sie jetzt nun doch wohl durfte, weil sie ja nachher eine neue Schürze nehmen wollte, und sprach weiter:

»– – will dir ganz offen sagen, daß die Sache anders gewesen ist, als ich dir erzählt habe. Es muß vom Herzen herunter, sonst halte ich es nicht aus! Mein Aschyk ist nämlich nicht nur alle Monate gekommen, sondern –«

Da unterbrach ich sie:

»Laß das jetzt, Pekala! Ich wünsche nicht, daß du dir wehe tust.«

»Ich soll es dir nicht erzählen?«

»Nein.«

»Aber da bringe ich es doch nicht herunter und kann heute Nacht wieder nicht schlafen!«

»Doch, doch! Es ist nämlich genau so gut, als ob du es erzählt hättest. Der Ustad und ich verzeihen es dir. Wenn wir es einmal wissen wollen, werden wir dich schon selbst fragen. Dann aber mußt du uns freilich die volle Wahrheit sagen, keine Lüge mehr!«

Da wurden ihre Aeuglein wieder klar; das Näslein verlor die Lust, sich kummerfeucht zu zeigen, und sie antwortete schnell:

»Lüge? Nie wieder, nie, niemals! Wir sind wahrscheinlich selbst auch belogen worden, besonders vom Scheik ul Islam, der gesagt hat, daß er bloß sein Schreiber sei! Von ihm hat mir mein Aschyk eine Schlechtigkeit mitgeteilt, die ganz unerhört ist!«

»Ich denke, er hat gar nicht viel mit dir gesprochen!«

»Das ist auch wahr, aber dieses doch! Denke dir, dieser armselige Scheik des Islam hat behauptet, meine Nase sei zu klein, mein Maul zu groß und mein Gang wie Elefantentrab! Der soll mir einmal wiederkommen! Ich warte schon darauf! Was so eine Lüge anrichtet, das glaubst du gar nicht, Effendi! Ich habe diesen ganzen Tag daran denken müssen und mich vor Aerger wenigstens hundertmal vergriffen. Dem Pedehr habe ich seinen Kaffee nicht von Bohnen, sondern von Pfefferkörnern gekocht. Denke dir sein Gesicht, als er trank! Den Leuten habe ich Salz anstatt Zucker in die Limonada geschüttet! Und in dem Eierkuchen, den ich für mich selbst gebacken habe, fand ich einen Strang schwarzen Nähzwirn, vier Knöpfe und eine bleierne Flintenkugel. Ist das nicht geradezu fürchterlich, was solche Lügen für schreckliche Folgen haben? Meine Nase zu klein! Wenn dieser Mensch sich wiedersehen läßt, bekommt er den ganzen Eierkuchen ins Gesicht, den ganzen, gleich auf einmal! Ich hebe ihn mir auf! Der liegt bereit, alle Tage, und schwapp, da hat er ihn!«

Sie machte mir mit den Händen die betreffende Bewegung vor. Ich mußte lachen; sie aber meinte es ernst. Der Aschyk schien seine Pekala zu kennen. Er hatte dem Scheik ul Islam diese Sünden gegen die weibliche Schönheit in den Mund gelegt und damit mehr erreicht, als er durch alle möglichen Warnungen und Ermahnungen hätte erreichen können. Ich durfte überzeugt sein, daß sie den frommen Herrn niemals wieder um eine Naddara bitten werde! Sie fuhr fort:

»Nur den Lügen dieses Scheik ul Islam ist es zuzuschreiben, daß mein Tifl fortgegangen ist, obgleich ich ihm so gute Worte gab, bei uns zu bleiben. Er hatte ihm weißgemacht, hier bei uns werde er es doch zu nichts bringen; wenn er aber mit ihm gehe und beim Rennen den Kiss-y-Darr reite, werde er sofort unter die Aeltesten der Taki-Kurden aufgenommen; in einem Jahre könne er schon Scheik geworden sein, und dann werde sich kein Ustad mehr weigern, die Dschamikun durch einen Bund mit den Taki-Nachbarn so mächtig zu machen, daß sich kein Feind mehr an sie wagen könne.«

»Ah, so! Das, das ist die Leimrute gewesen, an welcher Tifl hängen geblieben ist! Er glaubte, es gut mit uns zu meinen?«

»Wie denn anders, Effendi? Denkst du etwa, daß Tifl im stande sei, jemals unsern Schaden zu wollen? Das „Kind“ ist eben noch dumm. Ich habe es zu erziehen. Später, wenn diese Erziehung vollendet ist, wird es keinem Scheik ul Islam mehr gelingen, ihm Sand in die Augen zu streuen. Und das „Kind“ ist nicht bloß dumm, sondern auch gescheidt und klug. Es wird sich drüben bei den Taki-Kurden umschauen und sehr bald einsehen, daß man es dort nur an der Nase führen will. Dann kommt es wieder. Darauf kannst du dich verlassen, Effendi. Ich freue mich schon darauf!«

»Wie hieß das Pferd, welches er gegen uns reiten soll?«

»Kiss-y-Darr.«

»Sonderbarer Name! Was ist das für ein Pferd?«

»Das weiß ich nicht. Tifl hat ihm weiter nichts gesagt, als daß es eigentlich das Eigentum des Ustad sei. Nun aber muß ich in die Küche, Effendi, weil es heut eine große Sukdscha mit Zucker und Zitrone gibt. Die hat der Ustad mich gelehrt, zu machen. Sie ist eines seiner Leibgerichte in der warmen Jahreszeit, und so soll er sie heut bei seiner Heimkehr haben.«

»So hüte dich, wieder Salz anstatt Zucker zu nehmen!«

»Allah verhüte es! Aber mein Aerger ist noch nicht heraus, und so wäre es wohl kein Wunder, wenn ich es täte!«

Sie kehrte in ihr Reich zurück, und ich setzte meinen unterbrochenen Weg nach der Pferdeweide fort, wobei ich mich mit einigen Aepfeln versah, nicht nur für Syrr, sondern auch für Assil. Denn, so lächerlich es auch klingen mag, weil es sich doch nur um Tiere handelt, es erschien mir ungerecht, dem einen, wohlverdienten, Etwas vorzuenthalten, was das andere bekam, ohne schon auch nur Aehnliches geleistet zu haben. Sie standen bei einander, fast zärtlich Kopf an Kopf. Ich gab ihnen die Aepfel nicht direkt, sondern ich legte sie vor sie hin in das Gras. Beide senkten die Köpfe zu gleicher Zeit, hoben sie aber auch zugleich wieder in die Höhe. Warum? Aus Neidlosigkeit. Edles Blut! Keine Spur von Habgier. Jedes von ihnen sah, daß das andere die Früchte haben wollte und zog darum den Kopf bereitwillig zurück. Keines langte wieder nieder. Syrr aber rieb sein Maul an Assils Hals. War das eine Aufforderung, zu nehmen und zu fressen? Ich hob die Aepfel auf und gab jedem das Seinige. Da langten beide zu – Tiere!

Von jetzt an versorgte ich auch Assil wieder mit eigener Hand. Er war das so gewohnt und hatte es verdient.

Eben als ich beiden Pferden ihre Abendgerste gab, sah ich drüben jenseits der Ruinen einen Reiter kommen, den Duar vermeidend, über Stock und Stein, aus dem hintern Tal herauf quer auf die Brüche zu. Das war fast wagehalsig! Als er den obern Steinbruch erreichte, erkannte ich ihn; es war – Tifl. Als ob das Wort seiner Pekala ihn herbeigezogen hätte! Er lenkte nach dem Glockenwege und dann linksab zu mir. Der Schritt seines Pferdes wurde immer langsamer und zögernder, je näher er mir kam. Endlich hielt er ganz an, wohl über zehn Pferdelängen von mir entfernt.

»Effendi, darf ich wiederkommen?« fragte er.

Ich antwortete nicht. Er wartete eine kleine Weile und fuhr dann verlegen fort:

»Da drüben ist die Hölle! Ich mag nichts von ihr wissen!«

Natürlich blieb ich still.

»Und heut kam der Sonntag! Am Freitag plärrten sie den ganzen Tag. Das klang so kindisch. Fast habe ich mich an ihrer Stelle geschämt! Nun betete ich heut. Sie sahen es. Ich tat es still; ich plärrte, plapperte und murmelte nicht wie sie. Da lachten sie mich aus und schimpften mich einen Kafir. Ich dachte an unsere Glocken, an unsern Sonntagsgesang, an unser Beit-y-Chodeh, an meine gute Pekala, an den Ustad, an dich, Effendi, an Alles, Alles, Alles! Da hielt ich es nicht länger aus. Ich mußte fort, nur fort! Ich kann die Gesichter da drüben nicht leiden. Sie sind so sanft, so fromm und doch so unverschämt! Als ob sie lauter heilige Engel seien und ich ein ganz verlorenes, von Gott verstoßenes Subjekt! Sie wollten mir meinen Chodeh nehmen, den ich verehre. Sie sprachen schlecht von meinem Ustad, den ich liebe. Und sie sprachen von den Dschamikun wie von ganz albernen Geschöpfen, denen man ihren Ustad verbieten müsse, wenn man brauchbare Menschen aus ihnen machen wolle. Das ergrimmte mich so, daß ich sie hätte erwürgen mögen, diese Dummköpfe. Aber ich kämpfte meinen Zorn nieder, ging heimlich aus dem Duar, holte mir mein Pferd von der Weide und – nun bin ich wieder da, Effendi!«

Das war eine lange Rede. Er hatte sie nicht etwa fließend gehalten, sondern seine Sätze von Pause zu Pause wie mit Gewalt herausgestoßen. Nun wartete er, ob ich endlich Antwort geben werde. Ich tat es nicht. Da trieb er sein Pferd etwas näher heran, stieg ab, kam auf mich zu und sagte:

»Sprich doch, Effendi, sonst fange ich an, zu weinen! Es war falsch und dumm von mir, daß ich ging. Sei gut wie immer, und verzeihe mir! Was willst du denn auch anders mit mir machen; ich bin doch Euer alter, treuer Tifl!«

Ich war im Stillen gerührt, zeigte ihm dies aber nicht, sondern deutete nach dem Hause und sagte:

»Der Ustad ist wieder da; er mag entscheiden. Geh zu ihm!«

Da holte er sein Pferd. Indem er es an mir vorüberführte, hingen seine Augen an Syrr, mit einer Bewunderung, als ob er etwas Ueberirdisches sehe. Er getraute sich aber nicht, noch Etwas zu sagen.

Ich schaute ihm nicht nach, hörte aber gleich darauf eine weibliche Stimme jubeln. Die Festjungfrau nahm ihr Herzens- und Schmerzenskind wieder in Empfang. Das war eine neue Aufregung für sie, infolge deren die ebenso bedenkliche wie berechtigte Frage in mir auftauchte: Was wird nun wohl aus der Kalteschale werden ?!

Als ich dann wieder vor auf den Hof kam, stand Kara mit den Kamelen zum Aufbruche bereit. Er war gut bewaffnet. Einer von Dschafars Reitknechten sollte ihn begleiten. Der Bericht an den Herrscher war aber noch nicht fertig. Der Ustad stand auf seinem Balkon; er winkte mir, hinaufzukommen. Tifl lehnte an einer der Säulen vor der Halle. Als ich an ihm vorüberwollte, sagte er:

»Effendi, unser Ustad hat mir verziehen; ich darf hierbleiben. Willst du nicht auch so gütig sein wie er?«

»Hat er vergeben, so habe auch ich es getan,« antwortete ich. »Wie du über den Scheik ul Islam denkst, das hast du mir gesagt, und ich hoffe, daß du nicht wieder anderer Ansicht wirst. Wie aber steht es mit Ahriman Mirza? Wer hatte ihm damals Alles über mein Lager hier in der Halle mitgeteilt?«

»Ich war es,« gestand er aufrichtig. »Der Aschyk hatte uns gesagt, daß Ahriman ein großer Freund der Dschamikun sei; er dürfe es sich jetzt nur noch nicht merken lassen. Darum beantwortete ich alle seine Fragen. Ich hielt mich für klüger und unterrichteter, als Ihr alle seid. Ich war überzeugt, daß Ihr mir später rechtgeben und meine Umsicht bewundern würdet. Ich bin aber ein Schaf, Effendi, das allergrößte Schaf, daß es gibt, so weit das Gras hier auf den Bergen wächst!«

»Da hast du Recht, Tifl! Du solltest bei den Takikurden geschoren werden. Sei froh, daß du mit dem Felle davongekommen bist!«

Als ich hinauf zum Ustad kam, empfing er mich mit den Worten:

»Du wirst mich nach Tifl fragen wollen. Mir liegt aber zunächst etwas Anderes auf dem Herzen, wovon du in Dschafars Gegenwart nicht gesprochen hast, nämlich Syrr. Er zeigte mir das Pferd, als ich ihn unterwegs traf, und auch der Schah sprach sogleich mit mir davon.

Als wir in jener Nacht hier bei mir von Syrr sprachen, konnten wir nicht ahnen, daß er sich eine Woche später bei uns befinden werde. Ich sehe unserm Rennen mit Zuversicht entgegen; aber diese Zuversicht würde sich verzehnfachen, ja verhundertfachen, wenn Jemand hier wäre, der ihn reiten könnte. Der Schah ist sehr gespannt darauf, ob du es fertig bringst. Er hält es sogar für nicht unwahrscheinlich, daß es dir gelingen werde. Aber die Tatsache, daß er dich aufsitzen läßt und dich trägt, wohin du willst, genügt doch für so ein Rennen nicht. Du hättest ihn erst wochen-, vielleicht sogar monatelang zu studieren, um seine Schule zu entdecken. Sodann bist du ja noch krank. Es müßte also ein Anderer sein, und den gibt es nicht.«

»Was du da sagst, ist Alles, Alles Nebensache, mein Freund,« antwortete ich. »Die Hauptsache ist doch wohl, ob wir uns anmaßen dürften, Syrr zum Rennen zu benützen.«

»Unbedingt, unbedingt!«

»Du meinst, daß der Schah nichts dagegen hätte?«

»Dagegen? Er würde sich sogar freuen, herzlich freuen, zeigen zu können, daß seine Schule alle andern Schulen schlägt. Der Kampf würde aber ein heißer, sogar ein entscheidender werden, denn wisse, der „Teufel“ wird gegen uns geritten, und Ahriman reitet ihn selbst!«

»Der Teufel? Was ist das für ein Pferd?«

»Eine Khorassan-Schecke von wunderbarer Schnelligkeit und Ausdauer. Sie gewann noch jedes Rennen, und zwar spielend, selbst gegen die berühmtesten Pferde. Man hält sie für unbesiegbar und wagt es schon seit Jahren nicht mehr, gegen sie zu setzen. Es heißt „Teufel“ und ist ein Teufel, der oberste aller Teufel. Darum heißt die Schecke nicht bloß Schetan oder Scheitan, sondern „Iblis“. Und bezeichnender Weise ist dieser Iblis nicht im Besitze eines Mannes, sondern eines Weibes. Du wirst staunen. Seine Herrin ist nämlich jene Schahsadeh Khanum Gul, die sich „Rose von Schiras“ nennen läßt und, wie wir jetzt wissen, Kaiserin von Persien werden will.«

»Höchst kurios! Aber wundervoll!«

»Wundervoll? Das klingt ja, als freutest du dich darüber?«

»Natürlich freue ich mich! Mir ist nur bange, ob man diesen „Iblis“ auch wirklich bringen wird. Von Schiras bis hierher ist ein weiter Weg!«

»Schiras? Ah, ich vergesse, daß du ja noch nicht weißt, was ich von Tifl erfahren habe. Ahriman Mirza und die Khanum Gul sind jetzt nämlich in Chorremabad, als Gäste des Scheik ul Islam.«

»Das würde für uns erstaunlich sein, wenn uns ihre Zwecke unbekannt wären. Aber er und sie mögen stecken, wo sie wollen; das ist mir in diesem Augenblicke unendlich gleichgültig. Ich frage nur nach dem Teufel!«

»Der ist auch in Chorremabad. Die Gul reist stets mit Hofstaat und trennt sich nie von ihrem Lieblingspferde.«

»So kommt der „Iblis“ also sicher?«

»Ganz gewiß! Er soll uns unser ganzes Vollblut abgewinnen, uns vollständig zuschanden machen!«

»So bin ich zufriedengestellt. Ich reite also den Syrr! Aber kein Mensch darf es vorher ahnen, ausgenommen du und Schakara!«

»Effendi!« rief er aus, indem er einige Schritte von mir zurückwich.

»Ja, ich reite ihn!« versicherte ich. »Das war bis jetzt noch ungewiß; nun aber ist es fest bestimmt.«

»Duldet er dich denn?«

»Mit Vergnügen!«

»Aber du kennst doch seine Schule nicht, und kein einziges seiner Geheimnisse!«

»Er hat weder das Eine noch das Andere. Er hat nie zu Diensten einer Schule oder Wissenschaft gestanden, welche zwar alte Mähren reitet und mißratenes Voll- und Halbblut dressiert, aber niemals ein wirklich edles Pferd gehorsam machen wird, weil sie beharrlich seine Seele leugnet. Und Geheimnis? Ich behandle Syrr nach dem großen und liebevollen Geheimnisse der Natur. Er hat sich gleich beim ersten Versuche einverstanden gezeigt. Ich habe mich nur mit ihm zusammenzuleben. Das Fest beginnt Sonntag. Der Montag ist für die Vorrennen bestimmt. Der Hauptwettlauf folgt Dienstag. Das sind noch neun Tage, also genug Zeit, mich körperlich vollends zu erholen und Syrr ganz für mich zu gewinnen. Ich kenne den „Teufel“ dieser Khanum Gul noch nicht. Wer weiß, auf welche Kniffe und Finessen er läuft. Aber wenn ich dir sage, daß ich ihn selbst mit Assil nicht fürchten würde, viel weniger mit Syrr, so kannst du ruhig sein!«

Da lächelte er mir fröhlich ins Gesicht, gab mir die Hand und antwortete:

»Da steht für uns ja Alles, Alles gut, sogar vortrefflich! Ich reite meine Sahm und du den Syrr –«

»Vielleicht auch noch den Assil!« fiel ich ein. »Kara soll ihn bekommen. Aber wenn ich es für nötig halte, setze ich mich selbst auf.«

»Dann iß nur, iß, und pflege dich, mein Freund! Denn ich merke, du wirst es sein, der den Ausschlag zu geben hat.«

»Nicht essen, sondern üben ist die Hauptsache. Ich werde damit gleich heute noch beginnen.«

»Dafür ist es zu spät!«

»Nein, denn ich übe nur des Nachts. Es soll Niemand den Syrr eher sehen, als bis zum letzten Augenblick. Man wird uns den „Teufel“ nur erst zum letzten, Alles entscheidenden Rennen stellen und meinen, uns damit perplex zu machen. Dann bringe ich meinen Glanzrappen, nicht eher! Bist du deiner Stute sicher?«

»Ein halber Tag im Sattel, so ist sie wieder mein!«

»Schön! Was aber hat es für eine Bewandtnis mit dem sogenannten „Kiss-y-Darr“, von welchem Pekala gesprochen hat?«

»Das ist eine Gemeinheit, eine Infamie sondergleichen gegen mich von Seiten des Scheik ul Islam. Dieses Pferd ist eigentlich mein, ja, ohne allen Zweifel mein; man hat mich darum betrogen, und nun es vollständig niedergeritten worden ist, will man mich mit ihm beschimpfen und blamieren. Laß dir erzählen, Effendi!«

Sein bisher heiteres Gesicht beschattete sich, als er begann:

»Der Name lautet eigentlich nur „Kiss“, bekanntlich das arabische Wort für „Roman“. Warum ich das Pferd, als es geboren wurde, grad so und nicht anders genannt habe, brauche ich nicht dir zu erklären, der du auch Bücher schreibst. Das „y-Darr“, den „Schund“, hat man erst jetzt hinzugefügt! Kiss stammte von edeln Eltern. Er war ein Hellbrauner von besten Eigenschaften und versprach, diesen Eltern und auch mir Ehre zu machen. Eben, als er sich zu einem reitbaren Pferde entwickelt hatte, traf ich mit einem Scheik der Kutubikurden zusammen, der mich bat, ihm dieses Pferd zu seiner Aufzucht gegen eine zu vereinbarende Gebühr zu leihen. Er wolle gern seine Rasse veredeln und sei überzeugt, daß Kiss sich am besten hierzu eigne. Dieser Mann sprach so rechtschaffen, so ehrlich, so bieder, daß ich ihm mein Vertrauen schenkte. Ich lieh ihm Kiss; er ging auf alle meine Bedingungen ein, gab mir Handschlag und Wort und zahlte auch die erste Rate der Leihgebühr. Die übrigen Gratifikationen aber blieben aus. Das war vor zwanzig Jahren. Seit dieser Zeit habe ich trotz aller Fragen und Mahnungen weder eine Gebühr erhalten noch mein Pferd zurückbekommen können. Der Mann ist gestorben. Seine Erben haben Kiss verkauft. Sie und der Käufer behaupten, das Pferd gehöre nicht mir, obwohl sie wissen, daß man solche Rasse überhaupt niemals verkauft. Es ist jedem Kutubikurden bekannt, daß man derartige Pferde höchstens nur gegen eine fortgesetzte und langjährige Rente aus den Händen gibt. Ich habe Kiss nur ein einziges Mal wiedergesehen, vor gar nicht langer Zeit. Er war über zwanzig Jahre alt, abgetrieben, entstellt, verletzt, verhunzt, besudelt, beinahe zur Karrikatur gemacht, und nun hat ihn der Scheik ul Islam sich von dem Käufer schicken lassen, um ihn in dieser Heruntergekommenheit öffentlich gegen mich auszuspielen. Die Karrikatur eines Pferdes sollte von der Karrikatur eines Menschen, nämlich Tifl, hier vorgeritten werden, um vor aller Augen den Beweis zu liefern, welchen verderblichen Einfluß ich auf die Erziehung von Mensch und Tier besitze! Vor allen Dingen aber soll das arme, absichtlich mißhandelte Tier vor dem Rennen nicht als „Kiss“, sondern als „Kiss-y-Darr“, also nicht als „Roman“, sondern als „Schundroman“ ausgerufen werden. Du siehst, mit welchen Mitteln diese „Ebenbilder Gottes“ gegen mich kämpfen!«

»So ist es also, so!« sagte ich. »Nun ist ihnen aber Tifl entgangen. Vielleicht verzichten sie aus diesem Grunde auf den beabsichtigten Streich?«

»Das denke nicht! Es wird sich schon ein feiler „Taki“ finden, dem es eine Wonne ist, sich auf dem Schundroman vor aller Welt zu brüsten, weil ihn ein andres Pferd sofort vom Sattel werfen würde! Nicht etwa, daß ich mich hierüber ärgere, o nein; ich freue mich sogar auf diese Hanswurstiade, denn, denn – ich habe Etwas vor!«

»Was?«

»Kiss war edel und ist noch heute edel, trotz seines Alters und trotz seiner Entstellung. Der Kenner sieht sofort, was ursprüngliche Natur und was Verhunzung ist. Ich werde aus diesem Humbug einen Ernst zu machen wissen, an den zu denken, ihnen Geist und Grütze fehlen! Du wirst es wohl erraten?«

»Allerdings. Wenn sie sich einbilden, uns mit ihrem „Schund“ schlagen zu können, so werden sie es sein, die beschämt abziehen müssen. Du oder ich, ganz gleich; wir haben uns beide nicht zu schämen!«

»Ich höre, du hast mich verstanden. Uebrigens scheint dieser Plan mit Kiss-y-Darr in demselben Gehirn entsprungen zu sein, aus welchem die famose Karawane des Pischkhidmet Baschi5 stammt. Sie sind einander so ähnlich. Mit dem Pferde wollen sie mich blamieren; mit jener Karawane, die auch nur Humbug war, sollte die Ehre des Schah-in-Schah an den heiligen Orten untergraben werden.«

»Woher weißt du das?« fragte ich verwundert, weil auch ich mir schon so etwas Aehnliches gedacht hatte.

»Der Herrscher hat es mir selbst erzählt. Es ist ihm über diese Karawane berichtet worden. Er hat nicht das Geringste von ihr gewußt, und unter seinen Kammerherren befindet sich nicht ein einziger solcher Dummkopf, wie jener sogenannte Pischkhidmet gewesen ist. Darum hat er nachforschen lassen. Die Spuren führten zum Scheik ul Islam, und es stellte sich auch wirklich heraus, daß dieser der Unternehmer des ganzen Schwindels gewesen ist.«

»Und ich habe den Pseudo-Kammerherrn beschützt!«

»Trotz seiner Frechheit und Undankbarkeit! Laß dich das nicht reuen! Dank kennt nur der Gute, aber so ein Mensch doch nicht! Uebrigens kam während dieses Gespräches mit dem Beherrscher noch eine andere Episode vor. Ich war nämlich zweimal bei ihm. Beim ersten Male erzählte ich ihm Alles und zeigte ihm auch den Brief des Aemir-i-Sillan an den Henker und las ihm die Zeilen vor. Da sagte er, daß dieser Henker uns jetzt ganz nahe sei, denn er befinde sich auch hier, habe um eine Audienz gebeten und sei für die jetzige Zeit herbeibefohlen worden. Als ich dann ging, stand der Multasim auch wirklich im Vorzimmer und mußte sofort eintreten. Er hatte seinen Balapuschi abgelegt, und der günstige Augenblick erlaubte mir, den Brief in eine Tasche desselben zu schieben, in welcher schon ein Notizbuch steckte; er ist also ganz sicher gefunden worden. Bei der Abschiedsaudienz erfuhr ich vom Schah, daß dieser Mensch die Stirn gehabt habe, mich wegen Mordanschlages und widerrechtlicher Gefangennahme bei ihm anzuklagen und um strengste Bestrafung zu bitten. Der Herrscher hätte ihn am liebsten sofort festnehmen und aufhängen lassen mögen, war aber in Anbetracht unserer Pläne so bedacht gewesen, ihm den ruhigen Bescheid zu erteilen, daß er das Resultat seiner Zeit erfahren werde. Hierauf hatte Ghulam el Multasim angenommen, daß er seinen nächsten Aufenthaltsort nennen müsse, und gesagt, daß er jetzt nach Chorremabad gehe, um dort der Gast des Scheik ul Islam zu sein. Hätte er geahnt, was der Schah über diesen Würdenträger wußte und dachte!«

»So haben wir also die lieben Freunde jetzt in unserer Nähe, und wahrscheinlich kommen noch immer mehr hinzu!«

»Ja; es drängt nun Alles auf die Entscheidung hin, und unser Rennen wird der Anfang vom schnellen Ende sein!«

»Dann los! Heut Abend, wenn mir Niemand mehr begegnen kann, reite ich zum ersten Male mit Syrr aus.«

»Wohin? Zur Rennbahn?«

»Jetzt das noch nicht. Ich muß ihm zunächst Freiheit geben, weiten Spielraum. Vielleicht wähle ich den Weg nach den Pässen hin.«

»Da müßtest du durch den Duar, den du doch wohl besser vermeidest. Wende dich lieber nach Norden. Drüben den Steinbruchweg hinab, links um den Berg herum und dann über die breite, grasige Talsenkung rechts. Da kommst du bald auf eine Ebene, wo man sogar in finstrer Nacht gefahrlos galoppieren kann, weil der Boden so glatt und sicher ist wie hier die Bretterdiele.«

Hier mußte unsere Unterredung ein Ende nehmen, denn wir sahen Dschafar aus dem Wartturme kommen, den Brief an den Schah in der Hand. Da gingen wir hinab, um Kara noch einige Worte und Wünsche mitzugeben. Sein Vater hatte sich das Bett ganz vor an den Rand des Daches schaffen lassen, um den Sohn fortreiten zu sehen.

»Allah begleite dich, mein Liebling!« rief er herab. »Sag dem Schah-in-Schah unsern Dank. Den nächsten Brief werde ich ihm selber bringen! Nun geh, und komm zurück, wie du gegangen bist: gesund und mit einem Schreiben!«

Nur wenige Minuten später stand ich hinten bei den Pferden. Ich schaute zum See hinab. Da sah ich Kara und seinen Begleiter schon weit über demselben draußen. Es ist fast unglaublich, was so ein ächtes, gutgezogenes Bischarikamel zu leisten vermag!

Hierauf ging es zur Kalteschale. Sie war vortrefflich. Wenigstens hatte sie nichts von der Aufregung an sich, in welcher ich mir ihre festjungfräuliche Zubereiterin noch immer dachte. Dann pflegte ich der Ruhe, bis es oben und unten still geworden war und ich kein Licht mehr brennen sah. Da holte ich mein Sattelzeug und ging zu Syrr hinab.

Er lag mit Assil abseits von den andern Pferden. Der Mond schien. Als sie den Sattel sahen, standen sie beide auf. Sobald ich aber Syrr zu zäumen begann, legte Assil sich wieder nieder. Er war so sehr verständig!

Ich war natürlich neugierig auf das nun Folgende. Würde es gelingen? Ich stieg auf. Die Füße in die Bügel. Eben wollte ich die Unterschenkel anlegen; da ging der Rappe auch schon vorwärts. Es gab bis in die Ruinen mehrere Biegungen. Kaum dachte ich an die Schwenkung, so war sie schon gemacht. Welch ein feines Empfinden! Und dieser ruhige, sichere Schritt! Leichter, hochgraziöser Rhythmus auf fester Baßunterlage! Drüben ging es am Turm vorüber, auf die Steinbrüche zu. Da stand rechts dichtes Strauchwerk. Bei demselben angekommen, blieb Syrr stehen, ohne angehalten worden zu sein.

»Wer ist hier?« fragte ich, den Blick scharf auf die Büsche richtend.

»Du bist es, du, Effendi,« antwortete es. »Da darf ich hervorkommen. Ich glaubte nicht, daß du schon wieder reiten könntest, und hielt dich darum für einen Andern.«

Es war der Aschyk.

»Hattest du hier zu tun?« fragte ich.

»Ja,« antwortete er. »Ich wache! Hast du mein Paket gefunden? Kannst du es verwerten?«

»Sehr gut. Ich danke dir!«

»So bitte ich dich, mich still gewähren zu lassen! Du sollst nicht herabgezogen werden, in das Gemeine, wo du nicht hingehörst. Laß das mir lieber über; mir schadet der Schmutz nicht so wie dir! Ich bin ihn ja gewöhnt. Ich vermute, daß du morgen die Päderan belauschen willst. Auch das ist Schmutz, vielleicht der allergrößte. Wirst du trotzdem kommen?«

»Ganz bestimmt!«

»So beschwere dich mit nichts. Ich bin sicher da und helfe dir herauf in das Versteck.«

»Verkehrst du noch mit unsern Gegnern?«

»Laß mich hierüber schweigen, Effendi! Ich darf dein Gewissen nicht beschweren. Aber wenn ich dir einen Wink gebe, so folge ihm mit Vertrauen. Es nahen schwere Zeiten. Ich will sie dir erleichtern. Und dann, dann geht mir vielleicht der größte Wunsch in Erfüllung, den ich in meinem Herzen trage.«

»Welcher?«

»Bei uns ist der Hund verachtet. Bei euch im Abendland aber wird er geschätzt. Da ist er der Freund, der Wächter, der Beschützer der Menschen. Effendi, prüfe mich jetzt, und wenn du mich als treu befunden hast, so laß mich dein Wächter sein, dein Hund, der dich begleitet, so lange du in diesen Gegenden bist! Der mit dir hungert und dürstet, im Regen und im Sonnenbrande vor deinem Zelte liegt, jeden Feind zerreißt, der sich an dich drängen will, und lieber stirbt, als daß er dir ein Leid zufügen läßt! Willst du?«

»Da du es wünschest, werde ich dich – nicht prüfen, denn das ist nicht mehr nötig; ich vertraue dir – aber meinen Freunden Zeit geben, dasselbe Vertrauen wie ich zu dir zu fassen. Dann – doch hierüber später!«

»Das ist mehr, als ich erwartete. Allah vergelte es dir!«

Bei diesen Worten entfernte er sich, nicht hinter das Gesträuch zurück, sondern nach dem Steinbruche hin, an welchem ich dann vorüberritt, um hinab auf den Weg nach Nordwest zu kommen. Ich folgte ihm genau so, wie der Ustad mich bedeutet hatte und war nach einer Viertelstunde oben auf der Ebene, die wie ganz besonders für meinen Zweck gebildet war.

Und nun ging ich an die Arbeit. Arbeit? Falsch, grundfalsch! Ein Vergnügen ist es, ein hochdankbares Studium, die Gedanken eines edlen Pferdes zu erraten und sie mit ihm auszuführen! Ich habe wohl viele, viele Reiter kennen gelernt, gute und schlechte, unter ihnen aber nur einen einzigen, der mit mir darin einig war, daß das Pferd auch einmal Etwas selbstwollen dürfen muß. Das war mein Winnetou. Es hat ja Willen, wie jedes Tier. Und es besitzt auch Intelligenz, diesen Willen entweder für richtig oder für falsch zu halten. Es merkt sofort, wenn der Reiter einen Fehler macht, und zeigt die Absicht, diesen Fehler zu verbessern. Aber das ist ihm verboten. Es muß sich den gefühllosesten, unverständigsten Bengel gefallen lassen, der keine Ahnung von der zarten Empfindsamkeit und von dem Ehrgefühle, der Auffassungskraft, der Ueberlegsamkeit und dem Gedächtnisse eines guten Pferdes hat und es einfach zum innerlich und äußerlich steifen Gaul herunterrackert! Ich kam einst mit einem solchen Menschen scharf zusammen. Er hatte von Nachmittag bis Mitternacht in der Kneipe beim Kartenspiele gesessen und einen Grog nach dem andern getrunken, denn es war ein sehr strenger Wintertag und selbst in der Stube kalt. Draußen aber stand sein Pferd angebunden, nicht zugedeckt, fast klappernd vor grimmiger Kälte. Es war ein gutes, fünfjähriges Halbblut. Der dünnspitzige Schnee, welcher wie Nadeln fiel, bedeckte es handhoch. Die Haut besaß nicht mehr die nötige Wärme, ihn wegzutauen. Das Pferd hatte während dieser ganzen Zeit weder Futter noch Trank bekommen und den lieben Herrn dann noch volle drei Stunden weit heimzutragen. Das ergab einen Wortwechsel zwischen mir und ihm, den er mit der Zurechtweisung schloß: »Das Vieh gehört mir, nicht Ihnen. Sie haben mir gar nichts zu sagen! Und mit Ihren sogenannten Gefühlen kommen Sie mir erst recht nicht! Zu behaupten, daß die Tiere, die Pferde eine Seele haben, ist eine Sünde und von den Geistlichen verboten. Das habe ich von meinem Pfarrer, und der hat es aus der Bibel! Na, also.« Hierauf spielte er ruhig weiter. Er ritt erst gegen Morgen fort, kam aber nicht ganz heim. Er mußte das arme Tier unterwegs einstellen. Es hatte so stark verschlagen, daß es eine unheilbare Lähmung davontrug. Da gab er es dem Schinder!

Syrr war nicht nur edel, auch nicht nur hochedel; er war mehr. Ich hatte mir für heut eine große Fläche, einen weiten Spielraum zum Reiten gewünscht. Warum? Weil ich nicht sofort den Herrn und Gebieter spielen wollte. Der Rappe sollte zunächst ganz seinen eigenen, freien Willen haben. Er sollte gleich am ersten Tage herausfühlen, daß ich nicht so dumm sei, seine Natur, seine Gaben, seine Vorzüge zu knechten und zu knebeln. Das war doch ja das beste Mittel, diese Gaben und Vorzüge kennen zu lernen! Er merkte auch sehr bald, daß er mir zwar bis hierher habe folgen müssen, nun aber tun könne, was er wolle. Er wartete zunächst auf eine Willensäußerung von mir. Es erfolgte keine. Da blieb er überlegend stehen. Ich saß ohne Regung, denn er hätte der geringsten sofort gehorcht. Nun hob er den Kopf und windete, nach vorn, nach rechts, nach links. Wie fein sein Geruchssinn war, hatte er mir unten in den Ruinen gezeigt, als er des Aschyk wegen stehen blieb. Das schätzte ich sehr hoch, denn ein Pferd ohne diese Sinnesschärfe hätte ich überhaupt nicht brauchen können. Nun schien er überzeugt zu sein, daß uns nichts stören werde. Da drehte er den Kopf halb zu mir herum und ließ ein leises, kurzes Halbwiehern hören. Das klang fast wie eine Frage, als ob er sagen wolle: »Na, darf ich denn auch wirklich?« Ich streichelte ihm den Hals. Das war die Antwort. Da ging er vorwärts, langsam, quer tänzelnd, eine ganze Weile, die Kniee zierlich werfend, als ob er zunächst die Sehnen und Gelenke prüfen wolle. Dann fiel er in Trab. Aber was war das für ein Trab! Ich staunte! War dieses Pferd nur Muskel? Das ging so weich, so geschmeidig, so elastisch, so nachgiebig, biegsam und federnd – mir fehlt das rechte Wort, das Richtige zu sagen! Dieser Trab war kein Laufen, sondern ein Fließen!

Und nun folgte der Galopp. Erst kurz, graziös, feierlich stolz, paradierend, wie wenn ein König am Balkon der Königin vorüberreitet. Und doch so natürlich und so ungesucht, die reine, sehr wohl erlaubte Freude über sich selbst! Dann aber nicht mehr hoch, sondern weiter ausgestreckt. Das war fast wie der Flug eines Adlers, dessen Schwingen man sich nicht bewegen sieht. Und doch hatte ich das Gefühl, daß Syrr jetzt erst im Beginnen sei, seine Schnelligkeit zu zeigen! Er griff nach und nach immer weiter aus. Der Galopp ging ins Rennen über. Kilometer um Kilometer verschwand hinter uns. Die Sterne leuchteten, und der Mond lächelte freundlich zu dem guten Verhältnisse zwischen Mensch und Tier. Die jenseitigen Berge kamen schnell näher. Das Terrain wollte sich zu Tale senken. Syrr bemerkte es ebenso wie ich. Er schlug ganz von selbst einen Bogen, um zurückzulenken. Er wollte in bekannter Gegend bleiben, denn das, was er zeigen wollte, hatte er noch nicht gezeigt. Es sollte erst noch kommen.

Es schien, daß diese Karri ère ihm Vergnügen, keinesweges aber eine Anstrengung sei. Wie aber stand es da mit mir, dem Abgeschwächten, dem Rekonvaleszenten? Was Schwachheit, und was Rekonvaleszent? Lächerlich! Ich war gesund, ganz plötzlich gesund, und aber wie gesund! Erschlaffung und Entkräftung? Auf einem solchen Pferde? Setzt einen Toten in diesen Sattel, und er muß wieder lebendig werden, unbedingt! Denn jetzt war es, als ob Alles, Alles verschwinden müsse, was lebenswidrig, was körperlich hindernd war. War Syrr jetzt Geist geworden, nur Geist, vollständig ohne Fleisch und Bein? Er lief nicht mehr; er galoppierte und rannte nicht mehr, und – er flog nicht mehr! Nein! Sondern wir standen still. Aber die Ebene, die ganze Erde um uns war in rasender Bewegung. Sie schoß auf uns zu und rechts und links und unter Syrrs lang ausgestrecktem Leib hinweg nach hinten. Es war, um schwindelig zu werden! So laufen arabische Pferde allerersten Ranges, wenn der Reiter das sogenannte „Geheimnis“ in Anwendung bringt – auf Leben und Tod! Aber weder der berühmte Rih noch sein gleichwertiger Sohn Ben Rih hatten trotz ihrer bewundernswerten Leistungen diesen köstlichen Syrr erreicht, der den Raum, die Zeit und die Materie bloß nur in Gedanken verwandelte, ohne daß es nötig gewesen war, ihn durch irgend einen Kunstgriff dazu anzuspornen. Er durchmaß die Ebene zurück und wieder hin und wieder zurück in stets gleicher Rapidität, so daß ich besorgt um ihn wurde und ihm das Wörtchen »wakkif!« zu hören gab. Er gehorchte sofort. Zwar schoß er noch eine kurze Strecke weiter, überwand aber die Beharrung außerordentlich schnell und stand dann still.

Da sprang ich ab, nahm seinen Kopf in beide Arme und drückte ihn an mich. Ich streichelte ihn mit einer Wonne, die keinesweges die bekannte Wonne der Redensarten war. Sein Atem ging ganz ruhig. Nicht der geringste Anflug von Schweiß war zu spüren; kein Flöckchen Schaum war zu sehen. Die Flanken lagen still und nur das Herz schien in etwas schnellerer Bewegung zu sein als wie gewöhnlich. Aber in den Haaren der Mähne und des Schwanzes knisterte es mit doppelter Vernehmlichkeit, als ich über sie hinwegstrich.

»Bist ein Prachtkerl, Syrr, bist unvergleichlich!« rief ich begeistert aus. »Dich hat uns nicht nur der Schah gesandt, sondern ein noch Höherer! Er wollte, daß wir durch dich gerettet würden!«

Da rieb er seinen schönen, feinen Kopf an meiner Schulter, kniff mir mit den Lippen einige Male in das Haar und leckte mir dann die Hand. Dann stieg ich wieder auf, um ihn nicht der scharfen Nachtluft ohne Bewegung auszusetzen. Ich saß still, ohne die auf dem Sattelknopfe liegenden Zügel aufzunehmen und ohne seinen Leib unterhalb des Sinpusch zu berühren. Auch er stand unbeweglich. So warteten wir auf einander, ich lächelnd, er aber, um zu gehorchen. Als aber von meiner Seite so gar nichts geschah, drehte er den Kopf abermals zu mir herum und ließ dasselbe Halbwiehern vernehmen wie gleich nach unserer Ankunft hier, nur nicht so kurz, sondern länger und in mehreren Intervallen. Es klang fast so, als ob er mir eine kleine Rede halte: »Was soll denn nun werden? Ich habe meinen Willen gehabt. Du kennst mich jetzt. Nun bist du wieder der Herr. So rühre dich also!«

Hierauf streichelte ich ihm wieder den Hals, nahm die Zügel auf und legte die Schenkel an. Da warf er befriedigt den Kopf in die Höhe und ging vorwärts. Wir ritten vollends über die Ebene hinüber, den Berg hinab und auf demselben Wege heim, den wir gekommen waren. Assil stand auf, um uns zu begrüßen und legte sich dann wieder nieder. Nachdem ich abgezäumt und abgesattelt hatte, holte ich einige Aepfel und die Lappen, welche Schakara mir besorgt hatte. Syrr schwitzte nicht; er besaß keine Spur von übergewöhnlicher Wärme. Ich rieb ihn aber trotzdem sorgfältig ab, trug dann das Sattelzeug an Ort und Stelle und ging hinauf zu mir.

Von meinem platten Dache schaute ich noch einmal hinab. Syrr hatte sich auch niedergelegt, eng neben Assil. Sie hatten die Köpfe nebeneinander. Da hörte ich unter mir ein Geräusch, auf dem Balkon des Ustad. Er hatte dagesessen, stand auf und ging hinein. Das war die Liebe zu mir. Der Gute!

Als ich am andern Tag erwachte, war es hell; aber ich sah die Sonne nicht, obgleich der Himmel keine Wolken hatte. Da stand ich schnell und ahnungsvoll auf. Dann auf die Plattform hinaustretend, sah ich sie zwar, aber es war, als ob sie schelmisch über mich lache. Da, wo sie stand, pflegte sie ungefähr um 4 Uhr Nachmittags zu stehen!

»Bist du munter?« klang die Stimme des Ustad vom Balkon herauf. »Ich höre, daß du nicht mehr schläfst.«

»Soeben aufgestanden! Vier Uhr nach dem Mittag!« antwortete ich. »Ist das nicht eine Schande?«

»Nein, sondern eine Notwendigkeit! Folge des Rittes – hast dich mehr angestrengt, als du solltest. Das gleicht die Güte der Natur wieder aus. Wie ist der Ritt gelungen?«

»Zur größten Zufriedenheit! Ich erzähle es dir nachher. Aber meine armen, armen Pferde! Zweimal nicht gefüttert. Alles verschlafen!«

»Sei unbesorgt! Als du nicht aufstandest, habe ich es an deiner Stelle getan. Wasser, Gerste, Aepfel. Sie sind zufriedengestellt, ließen mich aber bemerken, daß du ihnen lieber gewesen wärst als ich. Was tust du jetzt?«

»Ich gehe zu ihnen, bade dann und sehe hierauf, wo es Etwas zu essen gibt.«

»Natürlich bei mir. Ich habe mit dem Mittagsbrote auf dich gewartet.«

»Wo ist Dschafar Mirza?«

»Unten im Duar. Man sieht ihn dort sehr gern. Sein freundliches, gütiges Wesen hat ihm die Herzen schnell gewonnen. So komm also dann zu mir; ich werde das Essen befehlen!«

Als ich nach der Weide kam, sprang mir nicht nur Assil, sondern auch Syrr entgegen. Das war bei Letzterem das erste Mal. Ich sah: nun war er mein!

Der ungewöhnlich lange Schlaf belehrte mich, daß der nächtliche Ritt doch anstrengender für mich gewesen war, als ich gedacht hatte. Auf einem gewöhnlichen Pferde hätte ich so Etwas doch noch nicht wagen können. Ich hatte ihn in diesem Abend wiederholen wollen, nach dem Gange in die Ruinen, beschloß aber aus Vorsicht, für heut zu pausieren. Meine Hauptaufgabe war, am Tage des Rennens zur Teilnahme fähig zu sein. Da war ein Ueberstürmen der Natur unbedingt zu vermeiden. Uebrigens entwickelte ich beim Ustad einen solchen Appetit, daß er über mich, den sonst so genügsamen Esser, beinahe erstaunte und, sich darüber freuend, lächelnd sagte:

»So ist es recht, mein lieber Freund. Nur tüchtig essen und tüchtig schlafen, sonst kannst du das nicht wieder werden, was du gewesen bist! Ich bin ja nun wieder da und nehme dir alles Andere ab. Du wirst von mir über Alles unterrichtet und hast sonst nur für dich und Syrr zu leben, damit Ihr beide uns beim Rennen nicht etwa versagt!«

»Gut! Ich trete dir also Alles ab, bitte dich aber, mir dafür den Aschyk zu überlassen. Oder wolltest heut du zu ihm hinüber, um bei der Zusammenkunft der Päderan zu sein?«

»Nein. Auf dieses Gebiet darf ich dir doch nicht folgen. Aber nimm dich in Acht! Die Sache ist höchst gefährlich, denn diese Sillan sind zu Allem fähig, und den Aschyk hast du doch vielleicht noch nicht ganz sicher!«

»Ich habe ihm mein Vertrauen zugesagt und pflege Wort zu halten. Uebrigens liebe ich es nicht, unvorsichtig zu sein. Ich werde meine beiden Revolver laden und nehme sie mit. Da bin ich für alle Fälle gerüstet.«

»Also doch Waffen!« lächelte er. »Darum gab ich sie dir zurück. Der Kampf mit geistigen Waffen ist der höhere, der edlere; aber es denken nicht alle Gegner ebenso hoch und edel. Gegen Niederträchtigkeiten hilft kein geharnischtes Sonett, kein Distichon und kein Alexandriner; da sind nur Drehpistolen gut, die mit Patronen auf „Patrone“ schießen, denn was nicht kracht, das wirkt bei ihnen nicht!«

Er nahm, als er mich dann zu mir hinaufbegleitete, meine Gewehre aus der Rumpelkammer und hing sie oben in dem Mittelzimmer auf. Wir luden die Revolver. Er legte mir sogar das lange Messer hin und zeigte sich erst dann befriedigt, als ich ihm versprach, auch dieses zu mir zu stecken.

Es war des Abends nach zehn Uhr, als ich mich auf den Weg machte, einige Lichte und die dazugehörigen Zündhölzer in der Tasche. Der Mond leuchtete mir hinüber bis an die schmale Tür. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich diesen Gang nicht offen, nicht unvorsichtig machte, denn ich hatte mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sich irgend einer der Sillan schon hier befand. Ich ging also nicht, sondern ich schlich, hielt mich so viel wie möglich im Schatten und machte meine Schritte unhörbar. So war ich, als ich die Tür erreichte, überzeugt, von Niemand bemerkt worden zu sein, hatte aber auch selbst Niemand gesehen.

Da ich das Innere schon kannte, hätte ich mich im Dunkel wohl zurecht gefunden; aber ich brannte dennoch eine der Kerzen an und nahm das Messer in die rechte Hand, um mich sofort wehren zu können, falls ein Gegner hier versteckt sei. So ging ich durch den vordern Raum nach dem Allerheiligsten. Der Schein meines Lichtes trug nicht weit; darum leuchtete ich zunächst nach der Mitte hin und dann auch noch entlang an allen Wänden. Dann blieb ich an dem Steine stehen, der einem Altare oder einer Bundeslade glich, und hielt die Kerze in die Höhe. Da erklang es von oben herab:

»Du bist es, Effendi? Bei einem einzelnen Lichte sieht man nur schwer. Wenn sie dann kommen, wird es heller. Ich werde dir meine Stange hinunterlassen und oben festhalten. Sie ist extra für deine Bequemlichkeit zugeschnitten. Es sind starke Aststumpfe daran. Du brauchst also nicht zu klettern, sondern kannst steigen.«

Er gab sie von oben herab. Ich stemmte sie fest ein. Die Stumpfe waren stark genug, mich zu halten. Er brannte oben sein Licht an. Ich löschte das meine aus, um beide Hände frei zu haben, und stieg hinauf zu ihm. Wir zogen die Naturleiter wieder empor, legten sie lang auf den Boden der Empore und dann sah ich mich auf dieser um. Es befand sich Niemand da, außer uns. Nun löschten wir aus und setzten uns nieder, nicht neben sondern entfernt von einander, damit der Eine sehen könne, was dem Andern durch die Säule verdeckt wurde. Ich hatte volles Vertrauen zu dem Aschyk, zog aber dennoch das Messer, welches ich eingesteckt hatte, wieder heraus. Das wurde mir von der Vorsicht geboten, der man in jeder Lage und auf alle Fälle zu gehorchen hat.

Es war unheimlich, hier in diesem Dunkel. Fast tat die schlechte Luft der Lunge weh. So recht ein Ort, um Böses auszubrüten! Glücklicher Weise hatten wir nicht lange zu warten, so kam der Erste. Er machte draußen Licht und brachte es herein. Er war seiner Sache so sicher, daß er sich gar nicht die Mühe gab, den Raum erst zu untersuchen, sondern er schritt gleich auf die Mitte zu, tropfte seine Kerze dort fest an und setzte sich da nieder.

Dann kam der Zweite, der Dritte, der Vierte. Sie alle machten es ebenso wie der Erste. Keiner grüßte. Niemand sprach ein Wort. Nun gab es vier Kerzen, aber ihr Schein reichte nicht hin, von unserer Entfernung aus die Gesichter zu erkennen, welche aber unverhüllt waren. Da trat der fünfte ein. Das änderte die Szene. Sie standen alle auf, und Einer fragte schnell:

»Ist der Aemir vielleicht schon draußen?«

»Nein,« antwortete er. »Sein Pferd hängt noch nicht am gewohnten Baume. Aber der Spion steht da, der aufzupassen hat, ob wir so kommen und so gehen, wie uns vorgeschrieben ist. Das muß ein Ende nehmen!«

Diese Stimme kam mir bekannt vor. Er bückte sich nieder, um sein Licht auch zu befestigen. Dadurch kam sein Gesicht zur Beleuchtung, und ich erkannte – Ghulam, el Multasim, den Bluträcher, den Henker der Schatten!

»Lassen wir nur erst den Putsch vorüber!« sagte der vorige Sprecher. »Dann rechnen wir mit ihm ab!«

»Aber ob er gelingen wird, dieser Putsch!« warf ein Anderer ein.

»Unbedingt! Das weiß ich genau!« versicherte Ghulam. »Heut bringt der Aemir den Scheik ul Islam mit, um uns zu beweisen, daß die frommen Lichter mit den gottlosen Schatten Hand in Hand gehen werden, den Herrscher zu entthronen. Ich komme soeben fast direkt vom Schah. Er hat keine Ahnung von der ihm drohenden Gefahr. Auch sein Liebling Dschafar, dem er den Ehrentitel ›Itemad‹ verliehen hat, ahnt nicht, daß schon in einigen Tagen die Gul-i-Schiraz auf seiner Brust zu blühen hat, und es –«

»Er soll sterben?« wurde er unterbrochen. »Wie? Wann? Wo?«

»Das ist meine Sache. Wenn ich, ich es sage, so wißt Ihr, daß es unbedingt geschehen wird. Ich fand den Brief mit dem Befehl in meiner Tasche, so geheimnisvoll, wie der Aemir es immer liebt. Er fängt es darauf an, allgegenwärtig zu erscheinen. Aber wenn wir nur erst wissen, wer er eigentlich ist, so blüht ihm seine Rose auch! Es fällt uns gar nicht ein, die seit Jahrhunderten hier aufgestapelten Schätze mit ihm zu teilen! Nur erst den Putsch, damit wir die Dschamikun wieder von hier loswerden, und Ahriman Mirza auf den Thron! Bei so einem Herrscher sind wir vor jeder Bestrafung sicher! Die Verbündeten sind, über das ganze Land verbreitet, zum Losschlagen bereit. Der Schah weg; Dschafar, sein Ratgeber, weg und Ahriman, der selbst Halunke ist, auf dem Throne, so mag die Macht des Aemir noch so groß sein, mit seinem Tode hört sie auf; wir teilen unter uns und sind mit diesen Reichtümern dann öffentlich, was wir bisher nur heimlich waren – die Herren des ganzen Landes! Doch jetzt still! Die vorgeschriebene Pause im Kommen wird gleich vorüber sein. Wir haben nicht mit einander gesprochen!«

Es vergingen hierauf vielleicht zehn Minuten. Da hörte man draußen wieder Schritte. Dieses Mal kam nicht ein Einzelner, sondern es waren Zwei, doch ohne Licht in ihren Händen. Der Eine, welcher geführt worden zu sein schien, blieb vorn am Eingange stehen. Der Andere kam näher, jedoch nicht ganz heran. Ich sah zu meiner Ueberraschung, daß sein Anzug genau ein solcher war, wie ich von dem Schah bekommen hatte. In der rechten Hand hielt er eine Reitpeitsche. Sein Gesicht steckte hinter einer schwarzen Larve, und an seiner Mütze funkelten trotz des wenigen Lichtes, wenn er sich bewegte, die Steine einer dort befestigten Agraffe. Die Anwesenden waren ehrfurchtsvoll aufgesprungen. Er forderte durch eine stolze, gebieterische Armbewegung Aufmerksamkeit und sprach:

»Schon wieder befinden wir uns fern von unserer sichern Majmä-i-Yähud und kommen hier zusammen, von wo uns dieser Ustad mit seinen Dschamikun vertrieben hat. Nun aber ist der Tag der Rache nahe, der uns das fast Verlorne wieder gibt und diese Christenbande auseinanderreißt, um sie in alle Lüfte zu zerstreuen. Dann sind wir wieder Herren unsers Dunkels und lassen niemals mehr ein Licht in die Ruinen scheinen. Der letzte Tag des Soldes fand nicht statt, weil wir ja fern von der Yähudeh waren, und auch den nächsten werden wir versäumen, weil wir hier mit dem Ustad abzurechnen haben. Es gibt ein Rennen hier, das uns gelegen kommt. Es bietet uns den Anlaß, zu erscheinen, und doch durch unsre Zahl nicht aufzufallen. Wir bringen unsre schnellsten Renner mit und werden dieses Vorspiel unbedingt gewinnen.«

Hier machte er eine Pause. Er verstellte seine Stimme, wobei ihn seine Larve und der dumpfe Widerhall dieses Raumes unterstützten. Auch bemühte er sich, in Beziehung auf seine Gestikulationen Alles zu vermeiden, was ihn verraten könne. Aber die eigenartige, hochmutsstolze Haltung war nicht wegzubringen; auch die Figur stimmte ganz genau, und so war ich überzeugt, Ahriman vor mir zu haben. Er fuhr fort:

»Dem Vorspiel wird sofort die Handlung folgen; wir lassen keine Zwischenzeit entstehen. Ihr kennt den Plan und seid zum Schlag bereit. Doch kann ich Euch die Stunde noch nicht sagen. Ihr habt für nächsten Freitag, grad um Mitternacht, hinauf zum Dschebel Adawa zu kommen; dort fällt das letzte Wort, das Urteil, die Entscheidung. Heut aber bring ich Euch den Scheik ul Islam mit, um Euch durch sein Erscheinen zu beweisen, daß wir in Wirklichkeit verbündet sind und also uns der Sieg nicht fehlen kann.«

Er winkte. Da kam der Scheik ul Islam herbei. Sein Gesicht war nicht verhüllt, sondern frei. Er zeigte sich nicht im Geringsten durch die Situation gedrückt oder gar verlegen, sondern tat ganz so, als ob er in seinem Elemente sei, gütig, menschenfreundlich, salbungsvoll. Er sagte Jedem einige verbindliche Worte, reichte dem Henker sogar die Hand und trat dann wieder auf die Seite. Die Vorstellung war beendet, und Ahriman Mirza sprach weiter, doch nur noch wenig:

»Für heut sind wir nun also fertig. Zieht Euer Volk so nahebei heran, daß es mit einem Marsche von zwei Tagen das Tal der Dschamikun erreichen kann; doch muß das völlig unbemerkt geschehen! Die andern Päderan sind übers Land verteilt und warten nur auf hiesigen Erfolg, um ihrerseits sofort auch loszuschlagen. Jetzt geht! Ihr seid entlassen!«

Dieser Befehl schien sie zu verwundern. Der Henker fragte:

»Heut wir voran? Du gingst doch stets zuerst!«

Da fuhr der Aemir zornig auf:

»Was hast du noch zu fragen, wenn ich befohlen habe! Ihr geht – ich bleibe noch! Soll ich dich etwa um Erlaubnis bitten? Du weißt es: Wenn ich bitte, geschieht es nur mit solchen Lippen hier!«

Er zog ein Pistol hervor und zielte ihm nach der Stirn. Da wendete sich der Bedrohte schnell ab und griff nach seiner Kerze, um sich zu entfernen.

»Die Lichte laßt Ihr hier!« gebot der Aemir. »Ich werde sie dann später selbst verlöschen. Ihr geht wie gewöhnlich – in den vorgeschriebenen Pausen – kein Wort wird gesprochen –. Hinaus!«

Der Henker verschwand sofort. Die Andern folgten ihm nach und nach. Erst als der Letzte gegangen war, steckte der Aemir die Pistole zu sich, lachte verächtlich auf und sagte:

»Lumpenpack! Das ist nur zu gebrauchen, wenn ihm die Angst durch alle Knochen zittert!«

»Ich halte es anders,« antwortete der Scheik ul Islam. »Bei mir regiert die Liebe!«

»Aber was für eine! Ich kenne sie! Wir beide wollen uns doch gegenseitig nicht etwa Etwas weißmachen! Meine Unerbittlichkeit ist offen, ist ehrlich; die Scham verbietet ihr, sich zu verstellen. Eure Liebe ist aber der Eigennutz in allerhöchster Potenz. Sie vernichtet in einem einzigen Jahre mehr Existenzen, als ich in einem ganzen Jahrhundert zerstören könnte! Du weißt, daß ich dich kenne. Darum hast du auch niemals versucht, mir gegenüber deine heilige Maske festzuhalten!«

Da trat ihm der Scheik ul Islam näher, richtete sich hoch auf und sprach:

»Ja, dir gegenüber stehe ich Mann gegen Mann, Geist gegen Geist. Du bist die vernichtende Verneinung; ich bin die zerstörende Uebertreibung der Bejahung. Ich bejahe nur für mich, für mich; was aus der Menschheit wird, ist mir vollständig Schnuppe. Darum hassest du mich – grimmig – zum Zerreißen!«

»Hassen?« lachte der Aemir. »Noch mehr, noch schlimmer: Ich verachte dich! Zum Hasse ist nur Eure leutselige Liebe fähig, weiter Niemand. Ich will Edles erreichen, indem ich das Gemeine knechte. Ihr aber wollt das Niedrige erheben, indem Ihr das Hohe bekämpft! Ich spreche und handle offen und ehrlich mit dir. Du aber hast sogar gegen mich die Falschheit im Nacken und willst mich zertreten, sobald du mich nicht mehr brauchst. Ist es so oder nicht?«

Da senkte der Scheik ul Islam den Kopf und sagte in begütigendem Tone:

»Mein Freund, mein lieber, bewunderter Freund, ich versichere dir bei Allah, daß ich nicht –«

»Laß deinen Allah aus dem Spiele; er steht dir doch um keinen einzigen Gedanken höher als mir!« grimmte ihn der Aemir an. »Wir haben uns nicht verbündet, um uns gegenseitig anzulügen. Wir sind Feinde, Todfeinde, und reichen einander für kurze Zeit die Hand, um Dritte zu vernichten, welche so unglücklich sind, uns Beiden im Wege zu stehen. Ist das vorüber, so beginnt der Kampf zwischen uns von Neuem. Ich bin nur mit Ueberwindung auf unser Bündnis eingegangen. Ich habe mit Ueberwindung Ahriman Mirza bewogen, morgen zu dir, zu den Taki zu kommen. Ich bestellte dich nur mit Ueberwindung für heut an die Stelle am Bach, wo ich dich traf, um dich hierher zu führen. Und auf der kurzen Strecke bis hierher hat es mich Ueberwindung gekostet, deine frommen Reden zu hören und bei deinen scheinheiligen Versicherungen nicht zu zerplatzen. Pfui! Darum brauchst du dich nicht zu wundern, daß ich jetzt in diesem Tone zu dir spreche. Ich bin geladen wie eine aufrichtige Kanone, die ihren Schuß niemals in Schweigen hüllt. Willst du, daß unser Zusammengreifen zum guten Ende führe, so sorge dafür, daß ich dich ertragen kann! Sei wenigstens gegen mich auch äußerlich der Mann, der du in deinem Innern und ebenso vor deinem Allah bist! Ist deine Feigheit denn gar so groß, daß du es nicht wagst, mir die Tigerkrallen an deinem Schlangenkörper zu zeigen?«

Da fuhr der Scheik ul Islam einige Schritte zurück, zog die Ellbogen nach hinten, ballte die Fäuste und rief aus:

»Mensch! Schurke! Weißt du, wo du dich befindest? Ich kann dich vernichten – hier, sofort – auf der Stelle!«

»So ist’s recht! Das wollte ich haben!« lachte der Sill. »Jetzt kommen die Krallen! Sprich in diesem aufrichtigen Tone weiter, so ist es möglich, daß wir einig bleiben! Du fragst mich, ob ich wisse, wo ich sei. Lächerlich! Ich bin hier in meinem Reiche, als unbeschränkter Gebieter desselben.«

»In deinem Reiche, deinem?« höhnte der Scheik ul Islam auf. »Ja, du glaubtest, mich hier einzuführen, um mich zunächst deinen Sillan vorzustellen und mir dann die hier aufgehäuften Schätze zu zeigen, damit ich sähe, welch eine Mitgift du dem neuen Kaiser geben kannst. Aber du irrst, du armer, machtloser „Fürst der Schatten“! Ich bin hier längst eingeführt. Ich kenne jeden Stein, jeden Winkel, auch das Wasser da unten in der Tiefe!«

»Du – du – du?« fragte der Aemir erstaunt.

»Ja, ich! Denn diese Ruinen sind nicht dein Reich, sondern mein oder vielmehr unser Reich. Wir, wir, wir sind die Baumeister, die nach der alten Sage den Herrn einmauern wollten, aber den Teufel eingemauert haben!«

»Wer sind diese wir?«

»Die Männer des Taki-Ordens, welcher bei der Grundlegung dieses Baues entstand, vor ungezählten Jahrhunderten, eine Ewigkeit vor Zoroasters Zeit. Wir bauten aber nicht für uns, sondern für Euch, für unsere Schatten! Wir bauten den Bienenstock, für Euch, für unsere Insekten. Wir waren die Herren von Anbeginn bis heut, ihr aber die Knechte, welche ernten, wo sie nicht gesäet haben, um Honig für uns zu sammeln. Du arme, arme Drohne! Du wolltest mir Eure Schätze zeigen, die du die Deinigen nennst. Ich aber kenne sie besser als du! Diese von Allah verdammten Dschamikun kamen uns überraschend. Wir hatten anderswo zu tun und konnten sie damals nicht hindern, sich hier festzusetzen. Es ging uns grad wie Euch! Nun aber werfen wir sie wieder hinaus, und ihr, ihr habt mit Euern Stacheln dabei zu helfen. Du sendest Ahriman zu den Taki-Kurden; ich bin von morgen an bei ihnen. Dich aber treffe ich am Freitag wieder – auf dem Dschebel Adawa.«

»So! Mich triffst du wieder?« fragte der Aemir, die Arme über die Brust zusammenlegend. »Das klingt ja ganz, als ob nur du, nur du zu bestimmen hättest!«

»Das ist allerdings der Fall! Der Herr bin ich, die wirkliche Person; du aber bist der Schatten!«

»Und wenn ich nun – am Freitag nicht erscheine? Und auch du dann nicht erscheinen kannst?« fragte der Sill in drohendem Tone, indem er sein Pistol wieder hervorzog.

»So spreche ich mit dir eher!« antwortete der Scheik ul Islam in unerwarteter Ruhe.

»Wo?«

»Hier!«

»Wann?«

»Jetzt!«

»Ah, ich verstehe! Auch du hast Waffen mit!«

»Nein, keine einzige!«

Er schlug seinen Mantel auseinander, um zu zeigen, daß er die Wahrheit sage.

»Und willst dich aber wehren, wie ich aus deinen Worten vermute? Sind uns etwa die drei bewaffneten Taki heimlich gefolgt, welche du mitbrachtest, als du zum heutigen Stelldichein kamst? Mein „Freund, mein lieber, bewunderter Freund“, diesen Schachzug muß ich betrachten! Wahrscheinlich stehen sie da draußen!«

Er nahm eines der Lichter und ging mit demselben hinaus. Da gab es unter uns, grad in der Mitte, wo der Altar stand, ein Geräusch, wie wenn Steine aneinander gerieben werden, und hierauf ein leises Flüstern; dann war es wieder still. Und schon war der Aemir wieder da. Er war nur vor dem Eingange stehen geblieben, um hinauszuleuchten. Er drehte sich wieder um, kam zurück und sagte:

»Niemand draußen! Ich habe mich geirrt!«

»Ja, du irrtest dich, wie immer!« antwortete der Scheik. »Steck deine Waffe ein! Sie ist überflüssig!«

»Was für ein Ton! Das klingt ja wie ein Befehl.«

»Es ist auch einer. Also weg mit ihr!«

»Mensch, bist du wahnsinnig?! Der Fürst der Schatten soll sich von dir befehlen lassen, was –«

Er kam nicht weiter. Drei Männer huschten aus dem Schatten der Säule auf ihn zu, entrissen ihm die Pistole und schlangen ihre Arme so fest um ihn, daß er sich nicht bewegen konnte. Er stieß einen Schrei aus, ob vor Schreck oder Wut, das konnte man nicht wissen. Da trat der Scheik ul Islam auf ihn zu, riß ihm die Larve herunter, sah ihm in das Gesicht und sagte:

»Ahriman Mirza! Ich wußte es! Unser neuer Kaiser, der oberste aller Verbrecher!«

Es war ein eigener, ganz eigener Augenblick, eigen in jeder Beziehung, auch psychologisch. Ahriman machte nämlich nicht den geringsten Versuch, sich der Umarmung zu entwinden. Ich konnte seine Züge nicht deutlich unterscheiden, aber es klang nach einem überlegenen Lächeln, als er in fast gleichgültigem Tone antwortete:

»Ja, Euer neuer Kaiser! Oder wollt Ihr ihn nun nicht? Ihr könnt mich ja mit meiner eigenen Pistole hier erschießen!«

»Daß ich ein Tor wäre!« erwiederte der Scheik ul Islam. »Du warst bisher mein Schatten und wirst nun mein Geschöpf. Kein anderer würde sich so gut wie du für unsere Zwecke eignen. Wozu wir dich machen wollten, das wirst du nun erst recht!«

»Es würde dir auch wohl sehr schlecht bekommen, wenn du mich hier ermorden ließest!«

»Das weiß ich wohl! Du bist ja umsichtig und wirst auch für einen solchen Fall deine Vorkehrungen getroffen haben. Ueberleben würde ich dich nicht lange; davon bin ich überzeugt. Aber ich will leben, und darum sollst du es auch. Und ich will herrschen; darum gebe ich dir den Thron! Bist du einverstanden, Ahriman Mirza?«

»Unter Bedingungen!«

»Die ich kenne! Jetzt sitzt dir dieselbe Falschheit im Nacken, die du mir vorgeworfen hast. Dennoch frage ich nochmals: Bist du einverstanden?«

»Ja.«

»So gieb mir Wort und Handschlag! Laßt ihn los!«

Die drei Männer gaben den Aemir frei. Der Scheik ul Islam hielt ihm die Hand hin; er schlug ein und sagte:

»Ja, hier meine Hand! Aber ich bin ehrlich und prophezeie Euch, daß Ihr sie fühlen werdet!«

»So will ich auch einmal ehrlich sein und dich warnen. Wir sind sanftmütig und von Herzen demütig, weil uns das zur Herrschaft führt. Aber hinter dieser Sanftmut steckt die Schonungslosigkeit und hinter dieser Demut der unerschütterliche Wille. Selbst der Kaiser hat sich vor uns zu beugen; wenn nicht, so muß er brechen! Fordre ja den Taki-Orden nicht heraus! Wenn er zürnt, kann er vielleicht noch verzeihen; wenn er aber wohlwollend lächelt, ist er erbarmungslos! Jetzt habe ich dir gezürnt. Laß mich nicht etwa lächeln!« –

  1. Siehe Band II pag. 27.

Erstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Es war eine eigenartige Stimmung, in welcher ich mich befand, als mich der Ustad hinauf nach der mir zugedachten Wohnung führte. Es war nicht Spannung, noch viel weniger Neugierde. Ich hatte das Gefühl, als ob eine schon längst in mir lebende und doch niemals ganz in das Bewußtsein getretene Sehnsucht nun in Erfüllung gehen werde, als ob mir ein Glück bevorstehe, auf welches ich schon längst, aber ohne mein Wissen, vorbereitet worden sei. Warum war ich dabei so ernst, als ob auf jeder der Stufen, welche wir emporstiegen, eine Gestalt aus vergangenen Tagen stehe und stumm mahnend die Hand erhebe?

Als wir oben vor der Wohnung des Ustad angekommen waren, sah ich eine zweite Treppe. Auf ihrer Biegung stand ein brennendes Licht. Er zeigte hinauf und sagte:

»Du wirst da über mir wohnen. Und doch so tief, so tief, wie ich heut nicht mehr wohnen möchte!«

Ich sah ihn fragend an. Da legte er mir die Hand auf die Schulter und fuhr fort:

»Effendi, fürchtest du dich vor Gespenstern?«

»Nein,« antwortete ich.

»Oder vor Gräbern?«

»Nein.«

»So gehe hinauf, und schaue dich um! Ich lasse dich für kurze Zeit allein, komme dir aber dann nach oben nach. Ich könnte wohl noch besser sagen: nach unten, denn, mein Freund, du wirst bei Leichen wohnen. Du bist der Erste und gewiß auch der Letzte, also der Einzige, der jene Gruft betreten darf, welche ich den Verstorbenen aus den verflossenen Tagen meines Lebens baute. Ich spreche in dunklen Worten; aber grad dieses Dunkel werde dir zum Licht! Das ist mein Herzenswunsch!«

Er öffnete seine Wohnung, nickte mir mit wehmütigem Lächeln zu und verschwand dann hinter der Thür. Ich ging weiter.

Indem ich dies that, kehrte Alles, was ich bisher aus seinem Munde gehört hatte, zu mir zurück. Wie tief, wie bedeutungsvoll war jedes Wort gewesen! Aus welcher Höhe schaute jeder Gedanke dieses Mannes auf die Oberflächlichkeit gewöhnlicher Menschen nieder! »Freund« hatte er mich genannt. Wie alles so ungewöhnlich war, so durfte ich auch dieses Wort nicht in der umgangsüblichen Bedeutung nehmen. Er meinte es ganz zweifellos nicht leer, sondern voll. Ich konnte überzeugt sein, daß ich seinen Inhalt auch in mir selbst zu suchen und zu finden haben werde.

Die zweite Treppe stieg in das Innere des Felsens hinein, an welchen sich die oberste Etage des »hohen Hauses« lehnte. Ich sah nur eine einzige Thür. Sie stand offen. Gedämpfter Lichtschein fiel heraus. Ich trat ein. Welch eine Ueberraschung, diese »Gruft«!

Das war doch allem Anscheine nach das Studierzimmer eines europäischen Gelehrten! Es sah ganz so aus, als ob der letztere soeben erst den Raum verlassen habe, um aber gleich wieder zurückzukehren. War er Geograph? Ethnolog? Den Fußboden bedeckten die Felle wilder Tiere, denen die präparierten Köpfe, Klauen und Krallen gelassen worden waren. An den Wänden hingen neben den Kriegswaffen verschiedener Völker auch allerlei friedliche, aber interessante Gebrauchsgegenstände derselben. Neben einem höchst bequemen persischen Diwan stand ein indischer Perlmuttertisch, auf welchem einige aufgeschlagene Bücher lagen, als ob vor ganz Kurzem noch in ihnen gelesen worden sei. Ich trat hin, um nachzuschauen. Ein geöffnetes neues Testament! Ein mit Tinte unterstrichener Vers: »Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten!« Daneben ein beschriebenes, nicht losblätteriges sondern eingebundenes Manuskript. Da, wo der Verfasser aufgehört hatte, lautete der Satz: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr!«

Auf dem Schreibtische brannte eine Lampe, deren Licht durch einen grünen Schirm gemildert wurde. Der letztere war von feinster Seide, von Frauenhand gestickt. Arabische Schriftzeichen, doch wohlbekannte Worte: »Die Liebe hört nimmer auf!« Als ich den Schirm emporhob, um diesen Wahrheitsspruch zu lesen, sah ich, daß es eine sogenannte Astrallampe war. Astral! Das erweckte eigentümlicherweise eine Erinnerung aus meiner Knabenzeit in mir. Ich hatte in einem alten Buche gelesen, daß es Astralgeister gebe, welche die uns unbekannten Sterne bewohnen. Meine kindliche Phantasie gab sich die größte Mühe, diesen Geistern Gestalt und Farbe zu erteilen, wobei sie natürlich zu den sonderbarsten Resultaten kam. Da hörte ich, daß der Rektor für seine Studierstube eine Astrallampe als Geburtstagsgeschenk bekommen habe. Ich ging augenblicklich hin und bat um die Erlaubnis zu einer Exkursion auf dieses geisterhafte Gebiet. Man kann sich denken, wie enttäuscht ich war, als sich bei der sehr eingehend vorgenommenen Okularinspektion keine einzige meiner sehr hoch gespannten Erwartungen erfüllte! Der Herr Rektor sah mir meine Betrübnis an und fragte nach dem Grunde. Ich teilte ihm denselben aufrichtig mit. Da lachte er und sagte: »Mein lieber Junge, das wirkliche Astrallicht strahlt von Stern zu Stern durch den ganzen Himmelsraum, damit es alle Welt im Geiste des Herrn erleuchte. Der Name dieses irdischen Lämpchens aber wurde vom Himmel herabgestohlen, damit der Klempner die Herrlichkeit Gottes zwingen könne, sich für ihn und seinesgleichen in ein gutes, einträgliches Geschäft zu verwandeln.« Da fiel ihm ein, daß meine Fassungskraft doch nicht der seinigen gleiche. Darum fuhr er fort: »Wenn du im Leben die Augen auch fernerhin so offen hältst wie jetzt, so wirst du das, was ich jetzt sagte, begreifen lernen. Dieser Klempner ist nicht der einzige Mensch, dem der Herrgott ruhig herzuhalten hat. Es giebt noch ganz andere Kostgänger, die von dem wohlgedeckten Tische des Himmels speisen, obgleich ihre Berechtigung dazu nur eine angemaßte ist. Im göttlichen Astrallichte wandeln nur erhabene Geister. Im Lichte dieser Lampen aber sonnen sich meist nur die winzig kleinen Geisterlein, welche sich bei dem Oele des Rübsamens und des Rapses einbilden, von ihrem Tische aus das ganze All ergründen zu können. Und wenn sich ja einmal ein bedeutender Mann an diesem Tische niedergelassen haben sollte, so stehen tausende der Kleinen auf der Lauer, ihm selbst auch diese Lampe auszublasen!«

Ich verstand dieses Letztere ebensowenig wie das Vorhergehende; aber das Leben hat mich dann gelehrt, den alten, erfahrenen Rektor zu begreifen. Und als ich nun hier im hohen Hause vor der Lampe des Ustad stand, da war es mir, als ob es ein vielgestaltiges Weben von lauter, lauter Geisterwinzigkeiten um mich her gebe und als ob eine unsichtbare, hundertstimmige Schadenfreude mir in die Ohren raune: »Da steht sie noch, die wir ihm ausgeblasen haben. Wir dulden Geister, aber keinen Geist!«

Ich nahm sie vom Tische weg, um die beiden Nebenräume anzusehen, welche rechts und links an dieses Zimmer stießen. Der eine war zum Schlafen bestimmt. Ein weiß überzogenes Bett. Ich fühlte das Leinen an und war geneigt, es für europäisches zu halten. Die Wände zeigten keinen andern Schmuck als nur ein einziges, primitiv eingerahmtes Bild von sehr bescheidener Größe. Es hing der Fensterseite gegenüber. Als ich die Lampe hoch hielt, um es zu betrachten, sah ich, daß es eine mit großer Liebe ausgeführte Federzeichnung war und eine auf Bergeshöhe stehende kleine Dorfkirche vorstellte. Es handelte sich hier augenscheinlich nicht um ein Werk der Phantasie, sondern dieses Gotteshäuschen war ohne allen Zweifel hier nach der Wirklichkeit wiedergegeben. Unter dem Bilde standen einige geschriebene Zeilen. Ich las:

»Kirchlein mein, Kirchlein klein,
Könnt so fromm wie du ich sein!
Deine Höhe zu erreichen,
Will ich dir an Demut gleichen.
Kirchlein mein, Kirchlein klein
So wie du will stets ich sein!«

Wer hatte das geschrieben? Und für wen war es geschrieben worden? Wenn der Schreiber ein Dichter war, so hatte es ihm hier sehr fern gelegen, mit seinem Geiste zu prahlen. Wo gäbe es wohl einen Menschen, der einem gottgeweihten Hause gegenüber sich nicht klein zu fühlen hätte! Selbst der größte der Dichter würde wissen, daß er dem prunkenden Reime zu entsagen habe, falls er im Geiste zur Kirche gehen wolle. Der wirklich Größeste wird hier am kleinsten sein.

Der Raum, den ich nun betrat, war die Bibliothek. Ihr Vorhandensein konnte mich nicht überraschen, obgleich nicht anzunehmen war, daß Pekala, die von den Büchern des Ustad gesprochen hatte, hier oben nach Belieben schalten und walten dürfe. An allen vier Wänden gab es hohe Stellagen, welche mit Büchern, Karten und wohlumschnürten Paketen gefüllt waren. Diese letzteren lagen nach Jahren und Monaten geordnet, und ihre Aufschriften sagten mir, daß sie Briefe enthielten. Es gab auch mehrere am Boden stehende, offene Kästen, welche bis an den Rand mit Briefen oder Zeitungen gefüllt waren. In der Mitte des Zimmers stand ein ungewöhnlich großer Tisch. Er war mit Büchern, Karten und Skripturen belegt und sehr bequem für einen geistig arbeitenden Mann, der es liebt, viel Platz zu haben.

Die Fenster der ganzen Wohnung waren hoch und breit, um möglichst viel Licht einzulassen. Aus dem mittelsten Gemache, welches ich zuerst betreten hatte, führte eine Thür hinaus ins Freie. Ich öffnete sie, um mich draußen umzusehen. Wie froh überrascht war ich, als ich sah, daß ich mich auf einem platten Dache befand, unter welchem jedenfalls die Wohnung des Ustad lag. Hier oben gab es nichts als nur die von mir beschriebenen drei Stuben. Sie waren von der Vorderfront des Hauses so weit zurückgesetzt, daß man diesen schönen Vorplatz gewonnen hatte, welcher mir die allerfreieste Aussicht nach Norden, Osten und Süden bot, während auf der Westseite der Weg hinauf nach der Glockenhöhle an mir vorüberführte.

Es ist eine meiner Eigenheiten, so viel wie möglich im Freien zu arbeiten, selbst auch des Abends und des Nachts. Ich kann sagen, daß ich meine glücklichsten, geistig belebtesten und fruchtbarsten Zeiten auf den platten Dächern des Morgenlandes verlebt habe. Wer des Nachts unter funkelndem Sternenhimmel von den Dächern Siuts hinauf nach der Höhe des Stabl Antar, von Jerusalem hinüber nach Mar Eljas, von Tiberias über den Genezareth, vom herrlichen Brummana des Libanon hinunter auf die Lichter und den Hafen von Berut geschaut hat, dem werden diese Stunden lebenslang im Gedächtnisse bleiben. Und nun auch hier vom hohen Hause aus der unbeschreiblich schöne Blick hinaus und hinein in die orientalische Nacht, die nicht so wie die abendländische nur vom Abend nach dem Morgen schreitet, sondern vom Paradiese nach dem Paradiese wandelt!

Da hörte ich ein Geräusch. Ich schaute mich um und sah den Ustad, welcher bei mir eingetreten war. Er bemerkte, daß ich mich auf dem Vorplatze befand, und kam heraus. Ich lehnte an der Brüstung. Er sagte nichts. Die Hände auf die Steine vor uns legend, schaute er still auf den See hinab. Ich hörte seinen Atem leise gehen. Da, nach einer kleinen Weile, wendete er sich mir halb zu und sprach, nach unten deutend:

»Der See denkt jetzt in tiefer Andacht nach,
Was er vom Herrn wohl mit der Sonne sprach.
Sie schaute ihm dabei ins Herz hinein.
Woher mag wohl der Blick gewesen sein?
Und sieht er, daß in seiner klaren Flut
Das Bild des ganzen, ganzen Himmels ruht,
So sendet er der Sonne Blick und Licht
Auch mir ins Herz als Lob- und Dankgedicht!«

Wie seltsam! Soeben waren ganz ähnliche Gedanken in mir aufgestiegen! Doch sagte ich nichts. Ich konnte kein Wort finden, welches wert gewesen wäre, jetzt gesprochen zu werden. Dieses Gedicht war im jetzigen Augenblick in ihm entstanden. Daß er es sofort in laute Worte gefaßt hatte, war mir ganz selbstverständlich. Jeder Dichter pflegt das zu thun. Er wendete sich wieder ab und sagte nach kurzer Pause, an seine letzten Worte anknüpfend:

»Es war ja heut ein Tag des Lobes und des Dankes. Er ist für mich noch nicht vorüber; er hallt noch in mir nach. Du warst dem leiblichen Sterben nahe, bist aber noch vor dem Tode wieder auferstanden. Darum zogen wir hinauf zu unserm Haus des Herrn.«

»So laß mich dafür danken, daß auch du jetzt wieder lebst,« sagte ich.

»Ich?« fragte er schnell.

»Ja. Ich war dem Tode nahe; du aber bist gestorben.«

»Wer hat es gesagt? Wer hat es dir gesagt?«

»Pekala. Durfte sie es nicht?«

»Sie weiß, daß ich vor dir kein Geheimnis haben will. Aber sie hat dich falsch berichtet.«

»Hast du ihr nicht gesagt, daß dein Sterbetag gewesen sei? Hast du nicht auch zu mir vorhin von deiner Gruft gesprochen?«

»Allerdings. Aber ich bin von euch beiden falsch verstanden worden. Meine Gruft ist nicht mein Grab.

Nur das, was in mir abgestorben ist, liegt da begraben. Mein Sterbetag war der, an dem es starb.«

»So wünsche ich dir von ganzem Herzen, daß du recht haben mögest! Ist es schon so traurig, Liebes in sich sterben zu fühlen, so muß es ja entsetzlich sein, sich zwar körperlich noch am Leben, aber als geistig vollendete Individualität bereits gestorben und begraben zu wissen!«

Er schaute mir in das Gesicht, längere Zeit. Dann strich er sich mit der Hand über die Stirn, als ob er etwas von dort zu entfernen habe, und sprach:

»Ich kann mir allerdings nichts Furchtbareres denken, als das, was du soeben sagtest. Aber trotz allem, was in mir gestorben ist, ich selbst bin mit dem, was du meine geistige Individualität nennst, noch heut bei vollem Leben.«

»Gott gebe es!«

Der Ton, den ich unwillkürlich diesen drei Worten gab, machte, daß der Ustad sein Gesicht mir abermals zukehrte. Der Ausdruck desselben war fast der eines milden Erstaunens. Dann fragte er:

»Hältst du den Tod einer vollen, vielleicht bedeutenden oder sogar großen geistigen Persönlichkeit überhaupt für möglich?«

»Ja.«

»Woran soll sie sterben?«

»An einem plötzlichen, scheinbar wohlbegründeten Entschlusse. Oder auch an einer selbstverschuldeten, langsamen Verzehrung. In beiden Fällen liegt Selbstmord vor, falls der Geist vorher gesund gewesen ist.«

»Effendi, weißt du, wie hart du sprichst?«

»Wir sprechen vom Geiste. Darum mag der Geist zum Geiste reden. Der Geist aber ist hart, vielleicht härter als alles, was wir hart zu nennen pflegen. Du wolltest meine Ansicht über den Tod hören; diese ist nicht Herzenssache. Sobald du mein Herz fragst, wird es sprechen, und zwar so gern, so gern!«

Da faltete er die Hände, hob die Augen empor und sagte: »Sollte ich ein Selbstmörder sein?! Chodeh, ich bitte dich, verhüte es!«

»Chodeh ist allmächtig; aber selbst seiner Allmacht ist es nicht möglich, etwas zu verhüten, was bereits geschehen ist.«

»So will ich mich prüfen. Ich will wissen, was ich gethan habe und ob ich etwa anders hätte handeln können oder handeln sollen.«

»Hältst du dich für einen unparteiischen Richter über dich?«

»Nein. Aber du sollst mich richten.«

»Ich? Das ist unmöglich, denn ich liebe dich.«

»So wollen wir beide es vereinigt sein. Wir wollen einander beaufsichtigen, damit das Urteil ein gerechtes werde. Ich will anfangs der Dritte sein, der Zeuge, der dir und mir der vollen Wahrheit gemäß erzählt, wie es zugegangen ist, daß die Hand des Todes mir in mein Inneres griff. Ich sage dir aufrichtig, daß ich dich hier heraufgeführt habe, um dir eine Liebe zu erweisen. Vielleicht bist du es, der sie mir erweist. Ich glaubte, dich nicht nur von dem einen, sondern auch noch von dem andern Tode erretten zu müssen. Nun werde ich zu fragen haben, ob nicht im Gegenteile dir die Aufgabe zufällt, mir zu zeigen, daß ein Toter einen noch Lebenden nicht vor dem Tode bewahren kann.«

Unser Gespräch wurde in diesem Augenblicke unterbrochen. Wir hörten Stimmen, welche vom Vorplatze heraufklangen, und die schlürfenden Schritte langsam durch das Thor kommender Kameele. Zwei Männer sprachen miteinander. Der eine war Tifl, der andere ein Fremder. Dann kam der Pedehr dazu. Dieser schien einige Fragen auszusprechen, die wir nicht verstanden; dann hörten wir deutlich, daß er sagte:

»Steigt ab, und seid willkommen! Ich werde deinen Wunsch unserm Ustad melden.«

Da beugte sich der letztere über die Brüstung vor und rief hinab:

»Wer ist es, mit dem du sprichst, Pedehr?«

»Agha Sibil und sein Enkelkind aus Isphahan,« antwortete der Gefragte herauf. »Er ist den Bluträchern begegnet und bringt uns eine wichtige Kunde.«

»Er sei unser Gast. Ich komme sogleich hinab.«

Hierauf entschuldigte er sich in einigen Worten bei mir, daß er sich für kurze Zeit entfernen müsse, und wollte gehen.

»Erlaube nur einen Augenblick,« sagte ich. »Wer ist der Angekommene?«

»Ein Kaufmann aus Isphahan, welcher von dort aus einen bedeutenden Handel nach dem Innern des Landes treibt. Er versorgt viele der freien Stämme mit allem, was sie brauchen, und ist der Hauptabnehmer auch unserer Erzeugnisse. Seine Leute sind fast immerfort mit Waren unterwegs. Zur Abrechnung aber pflegt er selbst zu kommen.«

Als er mir diese Auskunft erteilt hatte, verließ er mich. Er hatte angenommen, daß meine Erkundigung nur deshalb ausgesprochen worden sei, weil es sich um eine Nachricht von dem Multasim handelte. Ich hatte aber auch noch einen zweiten Grund. Nämlich mein Wirt in Bagdad, der nach Halefs Ausdruck »früher Bimbaschi gewesene und dann Mir Alai gewordene« Offizier Dozorca, hatte mir, wie man sich erinnern wird1, die Namen seiner Familienmitglieder genannt und dabei gesagt, daß sein Schwiegervater Mirza Sibil oder auch Agha Sibil heiße und ein persischer Handelsmann gewesen sei. Nun war ein Kaufmann dieses Namens aus Isphahan hier angekommen. Da mußte ich natürlich sofort an die vermeintlichen Toten denken, welche mein armer Wirt so lange Zeit betrauert hatte. Es lag mir fern, gleich etwas Gewisses anzunehmen; aber dieser Agha Sibil hatte einen Enkel mit, nicht etwa einen Sohn, und dieser Umstand machte den Gedanken in mir rege, daß sich hier in diesem wunderbaren »hohen Hause« gar wohl auch noch eine dritte Art von Auferstehung ereignen könne, nämlich eine Wiederkehr aus dem Lande der Totgeglaubten. Ich war darum gewillt, womöglich mit diesem Kaufmann selbst zu sprechen.

Zunächst aber war meine Zeit für den Ustad in Beschlag genommen, über dessen Vergangenheit ich jetzt einen Bericht zu erwarten hatte, der für mich so wichtig werden sollte, wie ich es jetzt, in diesem Augenblicke, gar nicht ahnte. Wir kurzsichtigen, unwissenden Menschen, die wir auf ganz verkehrten anthroposophischen Wegen wandeln, sind vollständig blind und taub gegen die große Wahrheit, daß der eine sich in dem andern zu erkennen habe. Der Gesamtmensch ist jedem einzelnen derart eigen, daß nicht nur die körperlichen und geistigen Gesichtszüge, sondern auch die Lebensführungen von Personen, die uns bei oberflächlicher Betrachtung als sehr verschieden erscheinen, doch mit absoluter Notwendigkeit große innerliche Aehnlichkeiten, ja oft sogar Gleichheiten besitzen müssen, durch welche die Menschenkenntnis ganz unbedingt zur Selbsterkenntnis werden müßte, wenn wir nicht die fatale Eigenheit besäßen, uns mehr nach bösen als nach guten Menschen umzuschauen und den Zusammenhang mit der Menschheit nur in unser eigenes Belieben zu stellen. Wie sich der Kreislauf des Blutes durch Millionen Körper auf ganz dieselbe Weise vollzieht, so pulsiert in diesen Millionen auch der Geist durch gleiche Adern, und wenn diese letzteren sichtbar vor unsern Augen lägen, so würden wir gar wohl bemerken, daß unter tausend auf den Seciertisch gelegten Geistern es nicht einen einzigen gäbe, der sich sowohl anatomisch als auch in Beziehung auf seinen Vitalismus und das, was ich vorhin Lebensführung nannte, derart von den andern unterschiede, daß es dem Professor nicht mehr möglich wäre, an ihm allein in aller Ausführlichkeit zu demonstrieren, warum alle übrigen nun jetzt mit ihm das gleiche Schicksal haben.

Wer hat jetzt noch Lust, dem kühnen oder vielleicht auch staarkranken Sprachgebrauche zu folgen und Geister zu distinguieren? Während der eine Mensch durch eine ebenso mühevolle wie langweilige Addition selbst bei einem achtzigjährigen Leben nicht dazu kommt, die Summe zu erreichen, wird der andere schon in seinem zwanzigsten Jahre durch eine schnelle Multiplikation zu dieser Summe geführt. Aber jeder einzelne der treu und gewissenhaft zusammengestellten Summanden des ersteren wiegt vor den Augen des höchsten und gerechtesten aller Geister mehr als das ganze durch eine bequemere Rechnungsart vollständig mühelos gefundene Produkt des letzteren. Der kleinste Geist kann groß trotz seiner Kleinheit, der größeste aber klein trotz seiner Größe sein. Unter den Geisterlein und sonst noch spukenden Winzigkeiten, welche mich vorhin bei der Lampe des Ustad belästigten, hat sich wahrscheinlich manche Längstvergessenheit befunden, welche damals, als man sie ihm auszublasen begann, zu den Geistesgrößen gerechnet wurde. Jetzt nun haben diese aus dem Leben geschwundenen Größen in der »Gruft« des »hohen Hauses« traurige Wache zu halten, daß die Lampe ja nicht wieder angebrannt werde!

Es ist mir im Vorhergehenden nicht eingefallen, anzudeuten, daß ich nicht an Geistesgrößen glaube. Sie waren da, sie sind da, und sie werden immer vorhanden sein; aber sie waren und sind es nur für die Menschen, doch nicht für den, der alle Nieren prüft. Er sendet die Jahrhunderte, in deren Verlaufe sich ihre Größe zu bewähren hat, und wenn sie vorüber sind, so waren sie wie ein Tag der heut vergangen ist. Für die nie versiechende Fülle der Ewigkeiten hat dann jeder, selbst der berühmteste Menschenname doch nur diesen einen Tag gelebt. Aber der Segen, den ein Menschenkind dem andern brachte, reißt sich vom Namen los, und wohl dereinst dann dem, dem es vergönnt ist, aus seiner irdischen Berühmtheit emporzusteigen, um dort in diesem Sinne namenlos zu werden!

Woher diese Gedanken? Umwehte mich hier auf dem freien Platze vor der »Gruft« eine jener geistigen Atmosphären, welche sich aus solchen namenlos gewordenen Bestandteilen zusammensetzen? Kamen die vom Staube befreiten Gedanken guter, edler, hoher Abgeschiedenen hier zusammen, um sich da oben im Alabasterzelte zur Fahrt gen Himmel zu vereinigen? Ich konnte mich nicht länger mit ihnen beschäftigen, denn der Ustad kam jetzt zurück und bat mich, mit ihm in die Bibliothek zu gehen. Er griff nach der Lampe, um sie mitzunehmen. Als er sah, daß mein Blick an der Schrift des Schirmes hängen blieb, sagte er:

»Die Liebe hört nimmer auf! Jawohl, die göttliche! Aber diese hier, sie ging für mich zu Ende. Oder hatte sie überhaupt niemals bestanden? Waren diese herrlichen Worte nicht mit dem Herzen, sondern nur mit der Hand gestickt worden? Mit dem kleinen, zarten, schönen Händchen, welches für mich zur Kralle wurde, obgleich ich es so oft, so oft an meine wahrheitstreuen Lippen gedrückt hatte?«

Hierauf trat er zu dem Perlmuttertischchen, zeigte auf das Testament und fuhr fort:

»Gott ist ein Geist! Ich suchte diesen Geist. Ich glaubte, daß er, der alles belebt, auch den Körper der Menschheit beseele. Darum forschte ich in ihr nach ihm. Ich beobachtete sie, wenn sie wachte, wenn sie schlief und wenn sie betete. Im Wachen war sie ihr eigener Gott. Im Schlafen träumte sie nur von sich allein. Und im Beten lag sie vor sich selbst auf allen Knieen! Da stand der Geist des Herrn im Morgenlande auf und ging als Hirt, der seine Herde suchte, von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Herz zu Herz. Ueberall, wohin er kam, rief man ihm Hosiannah zu; dann wurde er verworfen und gekreuzigt. Allüberall, auf jedem Golgatha, sah man den Leib des Herrn an seinem Kreuze hängen. Wo aber blieb der Geist? Der Geist, von dem wir uns in alle Wahrheit leiten lassen sollten? Wo wurde dieser Geist in dieser Wahrheit angebetet? Ich fragte hier auf Erden hin und her. Ich fand wohl manchen Stall und manche Krippe, wo Engel lobgesungen und Hirten, Könige und Weise angebetet hatten. Auch fand ich noch den Duft des Weihrauchs und der Myrrhen, die man dem Geist der Liebe dargebracht; er aber selbst, er hatte sich geflüchtet, dem Haß und seiner Waffe zu entgehen. Wohin? Man sagte: nach Egyptenland.«

Nun berührte er das Manuskript mit seiner Hand, zog sie aber schnell wieder zurück, als ob er etwas Häßliches oder gar Feindliches berührt habe, und sprach:

»Hier liegt der Leib des Geistes, mit dem ich nach dem Geiste suchen ging. Er starb und ward begraben. Er hörte auf, zu leben, als ich dieses letztgeschriebene Wort vernahm, daß des Menschen Gedanken nicht die Gedanken Gottes seien. Warum sollte ich mit den Gedanken meines Geistes noch fernerhin nach jener Wahrheit suchen, die ich mit ihnen niemals finden kann, weil sie ganz andere als die göttlichen sind!«

Er schaute mich an, als ob er eine Zustimmung von mir erwarte. Ich aber schüttelte leise den Kopf und sagte:

»Du hättest mit diesem Worte nicht aufhören, sondern mit ihm beginnen sollen. Es mußte dir sagen, daß nicht mit der Schärfe des Geistes, sondern mit dem vertrauenden Blicke des Glaubens zu suchen sei. Wärest du mit seinen offenen Augen so, wie du sagtest, „hier auf der Erde hin und her gegangen,“ so hättest du gewiß nicht leere Krippen gefunden, aus denen der Herr vor Herodes geflohen ist, sondern so manches freundliche Bethanien und so manches liebe Emmahus, wo er vor und nach der Kreuzigung bei den Seinen weilte, um mit ihnen das Brot zu brechen. Meinst du, weil du den Geist des Herrn nicht fandest, können auch andere ihn nicht gefunden haben?«

»Ich fand ihn doch! Oeffne diese Leiche, und lies das erste Wort!«

Als ich die vordere Seite des Manuskriptes aufschlug, sah ich die groß geschriebene Ueberschrift: »Der Glaube ist es, der die Welt überwindet!«

»Nun?« fragte er. »Habe ich nicht gethan, was du sagtest? Bin ich nicht mit dem Glauben suchen gegangen? War er nicht das Alpha dieses Buches? Warum bin ich nicht auf diesem Wege, sondern auf einem anderen zum Omega gekommen?«

»Dein Alphaweg war der Hosiannahweg. Du gingst vom Glauben aus, um den Herrn zu finden. Doch da trat jener Geist zu dir, der den Messias einst versuchte. Dieser siegte; du aber bist unterlegen. Es war nicht Gottes Geist, sondern dein eigener, nach dessen Ruhm du fortan suchen gingst. Du fandest ihn, den gleißnerischen, falschen. Man rief dir Hosiannah zu, obgleich es nur ein Esel war, auf welchem du durch die schreiende Menge rittest. Er trat mit seinen Hufen die Palmenzweige deines Ruhmes nieder. Sie waren es auch wert! Denn schon begannen Stimmen hinter dir das »Kreuzige« zu rufen –«

»Effendi!« unterbrach er mich erstaunt. »Du weißt es, was geschah? Wie kannst denn du es wissen?!«

»Nur ich? Das weiß doch jedermann! Wer nach der Wahrheit strebt, hat durch den Jubel sogenannter Freunde hinauf nach Golgatha zu steigen, um von ihnen verlassen, von den Feinden aber gezwungen zu werden, seinen Geist aufzugeben.«

»Seinen – Geist – aufzugeben!« wiederholte er. »Wie wahr, wie wahr das ist! Sage mir: Hat man es zu thun? Muß man es thun?«

»Warum fragst du mich, den Sterblichen? Frage den, der uns noch heut dadurch erlöst, daß er uns vorangestorben ist! „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ so rief er aus, indem er von seinen Leiden Abschied nahm. Sag mir, o Ustad, hast du dieses sein Beispiel befolgt? Hast du, als man dich deines Geistes wegen marterte, ihn so, wie er den seinen, dem Herrn befohlen? Hier liegt die Leiche; so sagtest du. Wohin aber ist ihr Geist gegangen? Hast du dich zwingen lassen, ihn aufzugeben? Hättest du ihn in die Hände seines Herrn gelegt, so würde er in diesem seinem Leibe wieder auferstehen können, wie einst Isa Ben Marryam in ganz demselben Leibe auferstanden ist!«

Da setzte der Herr des »hohen Hauses« die Lampe langsam, langsam wieder auf den Tisch.

»Warte, Effendi!« sagte er.

Dann ging er hinaus ins Freie, Schritt um Schritt, als ob er plötzlich eine schwere Last zu tragen habe. Als er schon draußen war, drehte er sich noch einmal um.

»Glaubst du an eine Auferstehung solcher Toten?« fragte er.

»Ja!« antwortete ich.

»Wirklich?«

»Ich glaube nicht nur an sie, sondern ich kenne sie sogar!«

»Du?«

»Ja, ich!«

»So wollte ich, ich wäre du!«

»Du kannst und darfst es sein; du brauchst es nur zu wollen!«

»Effendi, Effendi! Für wen wurde hier diese Lampe wieder angebrannt? Für dich? Für mich? Für uns beide? Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr! Warte! Laß mir Zeit!«

Während er nun draußen vor der Thür verschwand, nahm ich das noch offen vor mir liegende Manuskript, um es zuzuschlagen. Es fiel mir der Titel in die Augen. »Geist und Wahrheit« lautete er. Da setzte ich mich nieder, das Buch in der Hand behaltend. Es war mir, als sei ich plötzlich müd, sehr müd geworden. War es eine wirkliche, körperliche Schwäche, die mich überkommen hatte, oder mußte ich mich unter der intellektuellen Wucht dieser beiden Worte niedersetzen? Wer ist der Mensch, daß er es wagt, trotz allem, was ihm dazu fehlt, an eine solche Arbeit zu treten?! Dieses Buch war ganz gewiß in jener Zeit der Jugend begonnen worden, für welche das Land der Möglichkeit fast ohne Grenzen ist. Wenn dann das Alter alles, was unter größter Kraftanstrengung für die Unmöglichkeit geleistet wurde, als unbrauchbar vernichten soll, so geschieht dies fast nie, sondern es wird in allen Winkeln aufgestapelt, um dann irgendeinem infallibeln Pessimisten als Beweis dafür zu dienen, daß auf der Erde alles, alles eitel sei.

Es verlangte mich, dieses Manuskript lesen zu dürfen, und doch wäre ich wohl kaum mit Lust an diese Arbeit gegangen, weil ich mir ja sagen mußte, daß ich nicht damit einverstanden sein könne. So saß ich lange Zeit in beinahe trüben Gedanken da, bis der Ustad wieder hereinkam und mich abermals bat, mit ihm in die Bibliothek zu gehen.

Ich stand auf und ließ unwillkürlich einen forschenden Blick an seiner Gestalt niedergleiten. War er ein anderer geworden? Es hatte sich weder an seiner Figur noch überhaupt an seinem sichtbaren Menschen etwas verändert. Und doch war es mir, als ob er nicht mehr so vor mir stehe, wie er mir unten an meinem Lager erschienen war. Es wollte mich eine Art von Beschämung über diese meine Undankbarkeit beschleichen; aber gegen dieses Gefühl stand in mir etwas auf, was mächtiger und, wie ich jetzt weiß, auch richtiger und gerechter war und mich aufforderte: »Schmeichle nicht dir selbst, indem du ihn zu schonen scheinst. Die Sonde, welche du an ihn legst, muß dich so wie ihn schmerzen!« Er sah diesen meinen Blick auf sich ruhen und fragte mich:

»Du schaust mich an. Du hast mein Werk da in der Hand. Lasest du vielleicht darin.«

»Nur den Titel!«

»Und darum dieser dein Blick?«

»Ja.«

»Ich verstehe dich. Geist und Wahrheit! Vielleicht hätte es besser geheißen: Geist oder Wahrheit!«

»Auch das nicht.«

»Also weder „und“ noch „oder“!«

»Glaubtest du, dem Geiste, der Wahrheit durch Konjunktionen oder zufällige Konjunkturen nahetreten zu können? Indem du diesen Titel schriebst, hattest du das Werk geschrieben. Du brauchtest es gar nicht zu beginnen. Es mußte unvollendet bleiben. Aber der Geist, der sich an diese Aufgabe wagte, durfte trotz Kaiphas und Pilatus nicht von dir aufgegeben werden. Ich bin überzeugt, daß er Besseres, Edleres und Höheres erreicht hätte als alles, alles das, was hier auf diesen beschriebenen Blättern zu lesen ist. Möchte er doch nicht gestorben sein, sondern nur schlafen, um wieder erwachen zu können!«

»Ob er tot ist oder nur schläft, das wünsche ich, jetzt mit dir erfahren zu können. Ich will dir erzählen, wie er entstand und wie er von mir ging. Es wird keine lustige Geschichte sein.«

»Geschichte? Auf keinen Fall! Ist er tot, so hältst du seine Leichenrede. Gleicht er aber jenem Nichtverstorbenen, von welchem Christus sagte: unser Freund schläft, so wird es keine Erzählung, sondern eine Auferweckung sein. Da stehen wir vor der Thür des Raumes, in welchem du erzählen willst. Mir ist, als ob in mir jene Stimme klinge, welcher im Besitze des Höchsten, der da lebte, die Macht über den Tod gegeben war: Lazare, komm heraus!«

Da legte er seinen linken Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. Ich schlang meinen rechten warm um ihn, und so traten wir beide hinein, innig vereint, als ob wir eine und dieselbe Person bedeuteten.

Er stellte die Lampe auf den großen Tisch, führte mich zu einem Sitze, auf den ich mich niederließ, schob die beiden Hände in die Gürtelschnur und ging dann eine ganze Weile schweigend auf und ab. Hierauf lehnte er sich mit dem Rücken an den Tisch, so daß der Lichtschein sein Gesicht nicht traf, und sagte:

»Höre meine Einleitung, Effendi!«

Ich nickte. Da begann er:

»Die Geschichte einer jeden Anbetungsform hat eine Zeit des Martyriums, der Verfolgung um des Glaubens willen, aufzuweisen. Ich meine hier die Verfolgung mit der Todeswaffe. Wenn dem Religionshasse diese Waffe entzogen worden ist, zieht er sich, rachsüchtig grollend, in den Schutz seiner Lehrsätze zurück, um aus ihnen heraus, die er für uneinnehmbare Mauern hält, auch fernerhin die Andersgläubigen nach Möglichkeit zu schädigen. Es giebt wohl nur wenige Breitengrade der festen Gotteserde, welche nicht die Spuren davon tragen, daß der Mensch keine andere Verehrung Gottes, als nur die seinige dulden will, obgleich es doch wohl allein Gottes Sache wäre, zu bestimmen, in welcher Weise der Mensch zu ihm zu sprechen habe. Dieser aber ist so verwegen, dem Herrn vorzuschreiben, was er zu dulden oder nicht zu dulden habe, und wenn die Berechtigung zu dieser Vorschrift von irgend einem andern angezweifelt wird, so ist man schleunigst mit der Behauptung da, daß sie ja Gottes eigene Offenbarung sei. Im Besitze dieser Offenbarung gebärdet man sich, als ob man den Himmel mit seiner ganzen Seligkeit in Pacht genommen habe und nun ganz nach eigenem Gutdünken am Eingange zu demselben eine Warnungstafel anbringen müsse, auf welcher in den drohendsten Worten zu lesen ist: „Der Zutritt ist nur solchen bevorzugten Personen gestattet, welche mit einer eigenhändig unterschriebenen Erlaubniskarte seiner Pächterlichen Hochgnaden versehen sind. Wer ohne diese Bescheinigung hier einzudringen wagt, der wird augenblicklich mit dem leiblichen, geistlichen und ewigen Tode bestraft!“ – Hast du gegen diese meine Ausführung etwas einzuwenden, Effendi?«

»Soll ich aufrichtig sein?« fragte ich.

»Ich fordere es von dir!«

»So wisse: Du stehst als Personifikation deines Lebens, von dem du jetzt erzählen willst, vor mir. Es ist ein individuelles Leben. Deine Ansichten sind die Ergebnisse desselben. Ich habe sie also als individuelle Meinungen zu betrachten, nicht aber als Gottesbotschaften, die für mich maßgebend sein sollen. Ich bin, wie ich hoffe, ein vernünftiger Mensch. Als solcher habe ich nicht nur den ernsten Fleiß zu achten, mit welchem du nach Erkenntnis strebtest, sondern auch die Früchte dieses Fleißes, die du so aufrichtig bist, mir vorzulegen. Ich weiß, daß du mich nicht zwingen willst, sie zu genießen, und habe also nicht den geringsten Grund zu einem Lobe oder Tadel. Sprich also ruhig weiter!«

Wahrscheinlich hatte er eine andere Antwort erwartet. Er sagte es aber nicht, sondern fuhr gleich fort:

»Hast du vielleicht einen solchen angeblich von Gott gepachteten Himmel kennen gelernt? Ich nicht nur mehrere, sondern viele. Wie sonderbar, daß sie einander alle so außerordentlich ähnlich sind! Und weißt du, was so ein allgewaltiger Vertreter Gottes für den Pacht bezahlt? Was von dem ihm gebrachten Weihrauche übrig bleibt, das schickt er dem Herrn hinauf. Weiter nichts! Und nachdem er sämtliche Verneigungen und Verbeugungen für sich hingenommen hat, ist er so gütig, nun auch seinerseits Gott einen Knicks zu machen. Weiter nichts! Denn dieser Gott ist so ganz ewige Liebe, Gnade, Geduld und Gutmütigkeit, daß der Usurpator seines Himmels gar nicht an einen Tag der Abrechnung zu denken hat, an welchem er sicher der erste aller derer ist, die hinausgeworfen werden! Da wirst du mich fragen, wie es sich mit der ewigen Gerechtigkeit verträgt, solchen übermütigen Himmelspächter so lange, lange Zeit im Paradiese sitzen zu lassen. Mein Freund, es ist ja gar nicht der Himmel, in dem er sich festgesetzt hat, sondern jene einstige, herrliche, nun aber zur Wüste gewordene Gedankenwelt, in welcher jedes folgende Kameel genau in die Stapfen des vorangehenden zu treten hat, wenn es nicht von dem Führer gezwungen werden will, auf die Vorderbeine zu fallen, um die Peitsche zu bekommen.«

Ich wollte hier eine berichtigende oder wenigstens mildernde Bemerkung machen. Er wies sie aber durch eine rasche und energische Bewegung seiner Hand zurück und sprach weiter:

»Ich weiß alles, was du sagen willst, alles! Du hast gemeint, ich wolle als Personifikation meines Lebens vor dir stehen, als Individuum. Nun lasse es mich auch sein! Ich hatte die Absicht, anders zu sprechen. Ich wollte mit der Stimme der Menschheit reden. Du aber hast mich darauf gebracht, als Einzelwesen mich jener Zunge zu bedienen, mit welcher mich Haß und Neid aus den Straßen des Lebens hierher in diese meine Einsamkeit verwiesen. Ich danke dir, daß du mir dies ermöglicht hast! Ich werde nicht die Unwahrheit sagen, auch nicht übertreiben, sondern alles bei dem rechten Namen nennen. Aber fordere nicht von mir, zu schweigen oder gar zu beschönigen und mißzuloben, wo man gegen mich nicht einmal Nachsicht hatte. Der Gemarterte hat keine andern Töne als die, welche ihm der Schmerz erpreßt. Und wenn ich jetzt in der Erinnerung von meinen Bergen aus zurück nach jenen Gegenden steige, in denen ich die größten Qualen erduldete, die ein Mensch erleiden kann, so wundere dich nicht, daß ich nicht im Tone eines Mannes erzähle, der seine Feinde vergessen hat!«

»Ich würde es dennoch thun!« warf ich ein.

»Du? Wirklich?«

»Ja.«

»Ich glaube es dir. Christus sprach ja: Liebet eure Feinde! Aber er war der Gottmensch, und du hast mich auf das Individuum, auf meine spezielle Persönlichkeit zurückgeführt, und so soll sie es sein, welche ich jetzt sprechen lasse. Ich fordere dich auf, dich als die Gesamtheit meiner Feinde zu betrachten. Zu ihr will ich weiter reden, nicht zu dir, dem das Leben nur Sonnenschein und die Menschheit gewiß nur freundschaftliche Anerkennung gegeben hat!«

Da war ich still! Ich sagte kein Wort, kein einziges! Aber mein Gesicht schien nicht ganz so verschwiegen zu sein, wie ich es wünschte, denn er fragte:

»Was hast du für ein eigenartiges Lächeln, Effendi? Gilt es mir?«

»Nein. Bitte, sprich weiter! Du sagtest, daß du viele jener gepachteten Himmel kennen gelernt habest?«

»Ja. Indem ich dir einen von ihnen beschreibe, lernst du mit ihm auch alle anderen kennen. Also höre! Ich kam auf meinem Pferde Imtichat vom Dschebel Din herab in ebenliegendes Menschenland. Da kehrte ich ein und erfuhr, daß hier der Weg zum nahen Paradiese sei. Ich ließ mir diesen Weg zeigen und folgte ihm. Die Leute, welche mir begegneten, schienen alle sehr fromm zu sein. Sie hielten die Hände gefaltet und schlugen die Augen ganz anders auf, als man für gewöhnlich thut. Bewohnte Zelte und Häuser gab es gar nicht mehr, dafür aber lauter Gebäude, welche Allah geweiht waren, wenn auch unter anderen Namen. Ich sah Moscheen neben hochfensterigen Bauten, an denen Türme standen, indische Tempel und chinesische Pagoden, malayische Götterhäuser und amerikanische Medizinzelte, hottentottische Götzenhütten und die in die Erde gegrabenen Andachtslöcher der Australen. Viele, viele Menschen strömten vor mir her. Sie alle wollten in den Himmel. Aber fast ebenso viele kamen traurig zurück, weil sie nicht hineingedurft hatten. Ich fragte sie, warum, und erfuhr, daß sie nicht im Besitze von Erlaubnisscheinen gewesen seien. Da ritt ich weiter. Das Gewühl wurde immer größer, bis ich das Thor des Himmels vor mir sah. Da hielt die Menge an, weil sich quer über den Weg das Chabl el Milal spannte. Ich war nicht da, um schon jetzt in den Himmel zu kommen und dort zu bleiben, sondern nur, um ihn zu prüfen. Darum ging mich dieses Seil nichts an. Ich spornte mein Pferd, und es sprang darüber weg. Nun befand ich mich auf dem freien Platze vor dem Thore des Paradieses. An der sehr, sehr hohen Mauer standen herrliche Palmen, Bäume und Sträucher, welche prächtig zu blühen schienen. Aber da ich keinen Duft bemerkte, schaute ich schärfer hin, und da sah ich denn, daß es keine wirklichen, sondern nur gemalte waren. Nur ein einziger von allen war ein wirklicher Baum, aber ein höchst sonderbarer. Er war sehr niedrig, doch unendlich breit. Blüten und Früchte trug er nicht, aber Tausende von eigentümlichen Blättern, welche die Form menschlicher Köpfe hatten, die lebendig zu sein schienen, denn sie bewegten die Augen immerfort, wobei sie mit den nie schweigenden Lippen plapperten. Ich drehte mich um und fragte einen der Dastehenden, was das für eine seltsame Pflanze sei.

„Das ist der Baum El Dscharanil,“ wurde mir geantwortet. „Kennst du ihn nicht? Er wurde hierher gepflanzt, weil der Baum der Erkenntnis, der einst mitten im Paradiese stand, abgestorben ist. Seitdem muß man die Blätter des El Dscharanil fragen, wenn man wissen will, ob man das Wohlgefallen Allahs besitze oder nicht. Denn nur sie allein sind es, denen er alle Geheimnisse seines Ratschlusses anvertraut, sonst niemandem weiter auf der ganzen Erde.“

Kaum hatte ich dies erfahren, so wurde ich von einigen der Blätter gesehen. Es erhob sich erst ein unverständliches Flüstern. Dieses wurde immer lauter, je mehr Augen sich auf mich richteten, bis sich endlich alle Lippen bewegten und meinen Namen riefen. Infolge dieses vereinten Geschreies thaten sich alle in der Nähe liegenden Thüren auf, und über mich ergoß sich eine Menge von Gestalten, von denen ich erdrückt worden wäre, wenn ich nicht hoch auf dem Pferde gesessen hätte. Ich spornte es zu einigen Seitensprüngen an, so daß ich freien Raum gewann, und fragte, was man wolle. Die Antwort erklang in allen Sprachen, die es auf der Erde giebt. Die mich Umringenden waren ja auch in die Trachten aller Völker gekleidet. Jeder von ihnen hatte etwas in der Hand, was er sein „heiliges Buch“ nannte, und jeder von ihnen versicherte, daß er der einzig und allein berechtigte Aussteller der hier vorzuzeigenden Erlaubniskarte sei. Ich aber machte kurzen Prozeß mit ihnen allen und verlangte die Unterschrift dessen zu sehen, von dem man diesen Himmel gepachtet habe. Das hatte noch niemand gethan, und darum waren sie von dieser meiner Forderung so verblüfft, daß sie alle wieder in ihren Thüren verschwanden. Ich konnte also ungehindert durch das Thor des Paradieses reiten. Doch als ich an dem Baum der Neugierde und Geschwätzigkeit El Dscharanil vorüberkam, riefen alle seine Köpfe in einem und demselben Tone:

„Er kommt zwar hinein, doch niemals wieder heraus. Wer dieses Himmelreich betritt, der ist verloren. Dafür haben wir gesorgt, wir, die Gottesstimmen!“«

Hier machte der Ustad eine Pause. Welch ein Bild er mir da vor die Augen stellte! Fremdartig, aber nicht ganz unwahr. Was ich als gerecht denkender Beobachter dagegen zu sagen hatte, das hob ich mir für später auf, weil sein Gedankengang zu interessant war, als daß ich ihn in demselben hätte stören mögen. Er sprach auch sehr bald weiter:

»Sobald ich das Thor hinter mir hatte, blieb ich, mich umschauend, halten. Wie groß war mein Erstaunen, als ich nichts, aber auch gar nichts zu entdecken vermochte, was ich hätte himmlisch oder paradiesisch nennen können! Ich befand mich in einer unbeschreiblich kahlen, öden, leblosen Traurigkeit. Man hatte es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, die Innenseite der Mauer ebenso zu bemalen wie die äußere. Die Malereien da draußen waren angebracht worden, durch die mit ihnen bezweckte Täuschung die kurzsichtigen und vertrauensseligen Gläubigen anzulocken. Da man aber keinen, der das Chabl el Milal hinter sich hatte, wieder zurückkehren ließ, so hielt man es nicht für nötig, diese Beschönigungen dann im Paradiese fortzusetzen. Ich sah weder Baum noch Strauch. Kein Wasser floß. Kein Weg war zu erkennen. Nichts als verwehte Spuren im ausgetrockneten, unfruchtbaren Sande, so lag vor meinen Augen das sogenannte Eden, von welchem die „Erleuchteten des Herrn“ in hundert Zungen der Verzückung sprachen! Es mußte jedem Fuße grauen, einen Vorwärtsschritt in diese wüste Hoffnungslosigkeit zu wagen. Und doch schien man es für ganz selbstverständlich zu halten, daß jeder Angekommene diese ihn ganz unvermeidlich packende Angst zu überwinden habe. Es war dafür gesorgt, daß kein am Eingang Stehengebliebener den Nachfolgenden diese seine Bangigkeit verraten konnte. Es gab hier schnellbereite Wesen, welche ihn sofort wegzuschaffen hatten. Sie standen zu beiden Seiten des Thores, um, hinter der Mauer versteckt, bei jeder neuen Ankunft als vorzüglich auf den Mann dressierte Kameele und Esel schnell herbeizueilen, damit niemand Zeit finde, bedenklich zu werden. Auch als ich erschien, rührten sie augenblicklich die Beine. Da aber sahen sie mein Pferd. Das war genug für sie, mir fern zu bleiben. Wie bei den Menschen alles Unedle von dem Edlen abgestoßen wird, so auch hier bei diesen Tieren. Ich nahm mir Zeit, sie zu betrachten. Die Esel waren alle von tiefdunkelster Farbe, klein, fast winzig, doch mit so hochgehendem Sattelgestell, daß der Hinaufgekletterte sich wohl sehr erhaben vorkommen konnte. Anstatt des gebräuchlichen Riemenzeuges gab es nur eine kurze Aufsatzleine, welche das Maul des Esels so in die Höhe zog, daß die Augen nichts mehr von der Erde, sondern nur noch den Himmel sehen konnten. Das war so tierquälerisch, daß ich den Kopf über den Unverstand schütteln mußte, der zu dem Naturzwange, zu allem immer nur „Ja“ sagen zu müssen, auch noch diese „Köpfe-hoch-Dressur“ zu fügen weiß! Aber dieses Zuviel für das Tier hatte man durch ein Zuwenig für den Reiter ausgleichen zu müssen gemeint: Es gab für ihn keinen Zügel, um den Esel zu lenken. Er mußte einfach dorthin, wohin der letztere abgerichtet worden war.«

Der Ustad hatte während dieser Beschreibung mit gebeugtem Kopfe nur in sich hineingeschaut. Jetzt sah er mich an und fragte:

»Hast du mich verstanden, Effendi?«

»Ja,« nickte ich.

»Willst du etwas dazu bemerken?«

»Jetzt nicht, sondern später, wenn du fertig bist. Ich könnte ja nicht ganz und voll antworten, wenn ich dich nur halb sprechen ließe. Also bitte, weiter!«

»Ja weiter: die Kamele! Du kennst die edlen, herrlichen Bischarihn-Hedschihn, welche für Geld fast nie zu haben sind. Ihre Vornehmheit wird durch Stammbäume nachgewiesen. Du kennst auch das unvergleichlich nützliche bucharische oder turkistanische Kamel, ohne welches es in jenen Gegenden der Erde weder Leben noch Bewegung geben könnte. Doch kennst du auch jene tief verkommene Art des Kameles, welche bei euch in ungesunden, lichtlosen Ställen gezogen wird, um in Gesellschaft von Bären, Stachelschweinen und Murmeltieren dressierte Affen durch die Welt zu tragen? Als ich noch Knabe war, fand ich sie sehr belustigend. Seitdem ich aber edle Rasse kenne, thut mir der Anblick solcher Tiere wehe. Man sagt, daß diese Zucht vorzugsweise von Italien ausgehe. Wenigstens pflegen die Führer solcher Sehenswürdigkeiten, welche fast immer Virtuosen auf der Sackpfeife sind, nach welcher Bär und Affe tanzen müssen, meist italienischen Geblütes zu sein. Nun denke dir ein solches, im tiefsten Schmutze geborenes und mit der Peitsche erzogenes Kamel, mit Dornen und Disteln gefüttert und mit schmutzigem Wasser getränkt, nie vom Ungeziefer gereinigt, ein vom Hunger und Elend gefügig gemachtes Skelett mit haarlos geschundener Haut und wundem Gehufe, so hast du ein Bild der Kamele, die hier in dem Himmelreich standen, von fettreichen Pächtern entmagert, für die sie die Qualen zu dulden und sich schweigend zu opfern hatten! Ihre tiefhängenden Köpfe waren mit Doppelstricken an beide Kniee gefesselt, so daß sie nie den Himmel, sondern nur die Erde in den Augen hatten. Zum Kniebeugen reichten diese Stricke aus, doch nicht dazu, das Haupt emporzuheben. Und einen weiten, freien Schritt zu thun, auch das litt diese ihre Fessel nicht. Sie konnten nur behutsam vorwärtsschleichen und hatten nichts zu thun als das, was die Dressur befahl. An ihren Mäulern hingen Lippenkörbe, damit sie gegen Züchtigungen sich ja nicht wehren könnten und ja nicht von den giftigen Kräutern fräßen, an denen zwar sogar Kameele sterben, die aber für die Zwecke solcher Paradiese besonders wertvoll sind. Die Sättel waren hohe Throngestelle, mit farbenreichem Teppichwerk belegt, mit Fransen- und mit Federschmuck behangen, so daß der Reiter, falls es ihm gelang, sich auf der stolzen Höhe festzusetzen, und wenn er jene Phantasie besaß, die leidenschaftlich gern auf Höckern reitet, sich leicht als Allahs Liebling dünken konnte. – Hast du auch dieses Bild verstanden, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich. »Es ist ja deutlicher, als ich es geben möchte. Ich bitte dich, dein Pferd nun abzuwenden!«

»Ich habe es gethan. Ich ritt davon, mit offenem Auge in dieses vielgerühmte Himmelreich hinein. Fragst du mich vielleicht, wie lange es dauerte, bis ich es kennen gelernt hatte? Ein ganzes, ganzes Menschenelend lang! Soll ich beschreiben, was ich sah, was ich entdeckte? Wer kann Unbeschreibliches beschreiben! Schon gleich am ersten Tage blieb ich nicht allein. Der Menschheitsjammer kam zu mir und weinte mir aus tiefen Augenhöhlen zu. Er hat mich nicht verlassen bis zum letzten Schritt. Das Erdenweh gesellte sich zu mir. Es kroch zu mir aufs Pferd und schlang die Arme fest um meine Hüften. Des Lebens Elend faßte meinen Bügel und schleppte sich an meiner Seite weiter. Es kam die Not gerannt und griff in die Kanthare, um mich in meiner Richtung zu beirren. Wenn sich die Dämmerung senkte, tanzten die Schatten des Verbrechens vor mir her, und in der stillen Nacht begannen Schuld und Strafe hinter mir zu heulen. Ich ritt wochenlang durch Trümmerstätten, in denen mich der hohnlachende Menschenwahn als Gespenst der Vernichtung begrüßte. Ich kam über schier endlose Gräberfelder, aus deren Höhlen das irre Gekicher der Unduldsamkeit schrillte. Ich sah Tempelruinen, in denen der Unverstand im tiefsten Stumpfsinne hockte. Um die zerbrochenen Säulen einstiger Heiligtümer schlug die Narrheit ihre widerlichen Capriolen. An ausgetrockneten Quellen träumte die Gleichgültigkeit in Lumpen, die ihre Blöße kaum bedecken konnten. Die Scheinheiligkeit andächtelte vor eingestürzten Kapellen, für deren Erhaltung sie keine Hand gerührt hatte. Zuweilen tauchte am Horizonte einer jener Reiter auf, welche Einlaßkarten besessen hatten; aber sein Tier wendete sich sofort zur Flucht, sobald es sah, daß ich kein Kamel und keinen Esel ritt. Und wenn sich irgendwo noch ein anderes Wesen in diesem starren Himmelreiche zeigte, so hatte ich entweder einen listigen Fennek gesehen, der mit Lammesaugenaufschlag schnell verschwand, oder es war ein fraßgieriger Dibb, welcher mit eingezogenem Schwanze und heuchlerisch gesenktem Kopfe von weitem an mir vorüberschlich.«

Hier ließ der Ustad eine weitere Pause eintreten. Ich war ihm mit großem Interesse gefolgt. Nun fühlte ich eine Lücke in seiner Darstellung. Darum fragte ich:

»Aber alle die Unzähligen, welche Einlaß bekommen haben? Sie können dir doch nicht so einzeln erschienen und gleich wieder verschwunden sein!«

»Nein,« antwortete er. »Ich kann sie dir leider nicht ersparen. Meinst du vielleicht, dieses Paradies sei von einer himmlisch friedfertigen, sich gegenseitig liebenden und stützenden Bevölkerung bewohnt? Glaubst du, dort einen Hirten und eine Herde zu finden? Ich kenne so gut wie du das verheißende Wort: „Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, das wird von Gott bereitet denen, die ihn lieben.“ Welche unbeschreiblichen Glückseligkeiten aber waren es, welche ich zu sehen und zu hören bekam? Höre und staune! Hast du schon einmal vernommen, daß es unter den wilden Tieren welche giebt, die sich von ihresgleichen zurückgezogen haben und sie so grimmig hassen, daß sie jedes, welches in ihren Bereich kommt, sofort zerreißen oder sonst vernichten?«

»Ja. Dies ist besonders bei den Elefanten, Nashörnern, Löwen, Tigern und andern Raubtieren der Fall. Man pflegt solche Exemplare „Einsiedler“ zu nennen.«

»Nun, so wisse, daß es in diesem Himmel keine andern Bewohner als nur solche „Exemplare“ giebt! Sie wohnen nicht zusammen, sondern als Einsiedler, weil keiner dem andern traut. Jeder ist an einer besondern Kluft oder Höhle von seinem Esel oder Kamele gestiegen. Dort wohnt er nun und verteidigt sie bis auf das Blut gegen jeden, der nicht seiner Meinung über den Himmel ist. Da es aber der Meinungen so viele und so verschiedene giebt, wie Individuen vorhanden sind, so herrscht zwischen ihnen allen eine Feindseligkeit, vor welcher wir selbst im Erdenleben erzittern würden. Jede Kluft und jede Höhle ist ein Götzentempel, in welcher der Bewohner sich selbst als seinen eigenen Fetisch verehrt. Er behauptet zwar, Gott anzubeten, zwingt aber diesem Gott seine eigenen Gedanken auf und setzt sich also über ihn. Die Folge dieser Selbstübergötterung ist, daß sich keiner dieser Götter an den andern wagt, weil er sonst von ihm herausgebissen wird. Das, Effendi, das ist dieser Himmel! Ueber ihm brennt die ewig glühende Sonne der alles verdorrenden Selbstgerechtigkeit, die auf Raub ausgeht wie jener listige Fuchs und jene heimtückische Hyäne, welche selbst hier im Paradiese nur niedere Lurche oder erdfarbige Kerbtiere zum Fressen finden. Wie froh war ich, als ich meine Wanderung vollendet hatte! Ich fühlte mich wahrhaft selig, diese falsche Seligkeit verlassen zu können. Als ich das Thor wieder erreichte, warfen uns die dort stehenden Esel und Kamele Blicke des unendlichsten Neides zu, daß wir es uns gestatten durften, dieses entsetzliche Elend zu verlassen. Die Pächter aber strömten herbei, um mich ihr Paradies preisen zu hören. Ich teilte ihnen aber mit, daß ich den Menschen die volle Wahrheit sagen werde. Da erhoben sie ein lautes Wutgeschrei. Im Baume El Dscharanil begann es zu rauschen. Alle seine Augen waren drohend auf mich gerichtet. Die Köpfe schüttelten sich, und von den Lippen ertönte ein Geheul, daß das Seil El Milal vor mir zersprang. Die Esel und Kamele jenseits des Thores stimmten jammernd ein. Ich aber ritt davon, ohne ein weiteres Wort zu sagen, gleichviel, ob ich für feig gehalten wurde oder nicht. Wer sich aus einem solchen Himmel herauszuretten weiß, der muß wohl Mut besitzen!«

Er schlug bei diesen Worten die Hände zusammen, als ob er jetzt noch froh über diesen glücklichen Ausgang sei. Hierauf ging er einige Male in langsamen Schritten durch das Zimmer, blieb dann vor mir stehen und fragte:

»Hast du jemals geahnt, daß es so ein Paradies giebt, Effendi?«

»Es giebt dieser Paradiese viele,« antwortete ich, mein Auge zu ihm erhebend. »Warum hast du damals nach keinem anderen gesucht?«

»Welche Frage! Ich verstehe dich nicht!«

»Du erzähltest mir ja, daß du vom Dschebel Din herab in ebenes Menschenland gekommen seist. Warum hast du deinen „Berg des Glaubens“ überhaupt verlassen? Mußtest du das? Und wenn du es mußtest oder wolltest, was bewog dich da, das geistige Tiefland, die Ebene, die Wüste aufzusuchen, wo kein Gedanke in die Höhe strebt, sondern nur darnach, sich über die Fläche auszubreiten?«

»Maschallah!« rief er erstaunt aus. »So, also so betrachtest du das, was ich erzählte?«

»Natürlich! Wie anders denn?«

»Ich habe von Menschen gesprochen!«

»Gewiß! Aber besteht der Mensch nur aus seinem Körper? Sprechen wir einmal nicht von der Seele, sondern sagen wir, daß der Mensch aus Leib und Geist bestehe. Der Leib wird sterben, der Geist aber nicht. So lange wir sowohl auf den Körper als auch auf den Geist Rücksicht nehmen, leben wir das wohlbekannte Erdenleben, welches ich als „das erste“ bezeichnen will. Wer aber so stark gewesen ist, alle Rücksicht auf den Leib und seinen Zusammenhang mit dem Menschheitskörper zu überwinden und hinter sich zu werfen und sich nur noch als Geist zu betrachten, während der Leib für ihn gestorben ist, der lebt schon hier vor der Auflösung dieses letzteren ein anderes, neues, höheres Leben, welches ich einstweilen, aber auch nur einstweilen „das zweite“ nennen will. Denn es giebt Menschen, deren Geist sich nicht zur Individualität gestaltet. Wenn diese Stufe für mich auch ein Leben ist, so muß ich sie das „erste“ Leben nennen und die vorhin erwähnten beiden Stufen als „zweites“ und „drittes Leben“ bezeichnen. Nun sage mir, o Ustad, von welcher dieser Stufen aus, auf der du dich befindest, hast du mir jetzt soeben den allerniedrigsten Himmel beschrieben, den ich mir nur denken kann? Ich wollte, ich dürfte dir einmal einen andern Himmel, vielleicht den meinigen, beschreiben!«

»Hast du ihn gesehen?«

»Ja. Ganz so, wie du den von dir beschriebenen! Vor meinem Himmel giebt es kein Seil El Milal, keinen Baum El Dscharanil und keine Wandmalereien. Ihn hat sich auch kein Pächter angemaßt, und an der Straße, die zu ihm führt, stehen keine Götzenhäuser. Auch giebt es keine Mauer und kein Thor. Es führen so viel Wege hinein, wie es Menschen giebt. Er steht ihnen allen offen, wenn sie nur kommen wollen. In diesem meinem Gedankenparadiese ist nichts versunken, vernichtet und vergessen. Da ragen die Gottesideen vergangener Jahrtausende noch so hoch wie damals im Morgenrot empor. Und in der Abendröte erglänzen die neuen, hohen Ideale zukünftiger Jahrhunderte, um zu Wirklichkeiten zu werden, wenn die Menschheit morgen oder übermorgen sagt:

Was sprachst du von Ruinen und Gräberfeldern? Dem Geiste sind sie unbekannt! Was er einst mit der Hand des Körpers baute, war für den Körper, aber nicht für ihn. Es war ja nur das Erdenabbild dessen, was er für sich im Geisterreich gebaut. Und dieser hochgelegene Bau ist ewig. Sein Abbild mag zerfallen, das Urbild aber trifft kein Zahn der Erdenzeit. Wenn du mit deinen körperlichen Augen dein Paradies in Trümmern und im Tode liegen sahst, so breitet sich in Himmelshöhe über ihm das meine aus, und alles, was bei dir in Schutt zerfallen ist, das blieb im Originale des Meisters mir erhalten. Und so, wie jedes Werk in meinem Himmel edler ist als in dem deinigen, so sind auch alle Menschen besser als die deinen. Du richtest sie. Ich habe nichts zu richten. Vielleicht verzeihst du ihnen. Doch ich verzeihe nicht. Warum? Man hat mir nichts gethan! Vor meinem Paradiese steht jede Feindschaft still. Sie wagt sich nicht herein. Und weil sie mich also nicht treffen kann, so giebt es für mich nichts, was ich verzeihen dürfte, so gern ich es auch möchte.«

»So hat es ganz gewiß den Baum El Dscharanil für dich niemals gegeben!«

»Ich kenne ihn! Du hast ihn an das Paradies der Selbstgerechtigkeit gesetzt; das heißt, an seine rechte Stelle. Auch ich habe ihn dort stehen sehen, diesen Baum der sehenden und sprechenden Blätter, der Zeitungen, der öffentlichen Presse. Doch schaute ich ihn anders an als du. Das Reich des Geistes hat die größte Aehnlichkeit mit dem Reiche der sichtbaren Natur. Es giebt hier wie dort keine Entwicklung, die nicht von unten nach oben zu gehen hätte. Ihre Aufgabe ist die Trennung von der niederen Materie und die Gestaltung zum selbständigen, sich frei bewegenden Einzelwesen. Lächle nicht, wenn ich dir sage, daß jedes, aber auch jedes geistige Gebiet sein Mineral-, Pflanzen-, Tier- und Menschenreich besitzt! – Du wirst das sofort und überall erkennen, wenn du nur die richtigen Augen dafür öffnest.«

»Also auch das Gebiet der öffentlichen Presse?« fragte er schnell, indem sein Gesicht den Ausdruck gespannter Erwartung annahm.

»Ja, auch dieses! Der Boden, also die Materie ist gegeben. Es existiert keine Felsen- oder Gesteinsformation und keine Erdbeschaffenheit, die nicht auch hier in diesem geistigen Reiche vorhanden wäre. Oder hörst du nicht die sogenannte öffentliche Stimme von den Spitzen hoher Berge, aus den tiefsten Thälern, aus finstern Schluchten, aus sandiger Oede, auf sonniger Flur und aber auch aus häßlichen Sümpfen erklingen? Giebt es nicht zahllose Blätter, in denen nur die Materie zu sprechen hat und nur der Stoff zum Worte kommt? Aber bald regt sich das Leben, zunächst das niedrige, welches durch sämtliche Ordnungen zu steigen hat, um sich von dem Stoffe zu erlösen. Du siehst geistige Flechten und Moose erscheinen, dann Farne, deren Gestalt auf spätere Palmen hoffen läßt, freundliche Gräser und Kräuter, duftend blühende Sträucher und früchtetragende Bäume. Diese alle aber, so lieb, so gut, so nützlich sie auch sein mögen, sie haben es doch nicht vermocht, den Boden zu verlassen, auf dem das Blatt, die Zeitung, gegründet worden war. Sie klammern sich mit ihren Wurzeln in ihm fest und müssen das ja auch thun, weil es die Absicht des Verlegers ist, grad diesen Boden für sich zu kultivieren.«

»Und aber die Zoologie der Presse?« fragte der Ustad.

»Sie kann und darf nicht fehlen, denn nur in ihren Erscheinungen schreitet die Befreiung von der Materie in rapider Weise fort. Auch hier beginnt die Entwicklung mit den niederen Lebewesen. Ich sehe winzige Goldkäferchen ihre geistige Nahrung aus Blumenkelchen ziehen und leuchtende Glühflügler um urweltliche Gedanken schwirren. Freundliche Schmetterlinge gaukeln von Leserin zu Leserin. Ein niemals ruhender Ameisenfluß trägt Wort um Wort und Satz um Satz zusammen, und Bienen summen überall, um Honig heimzutragen. In den Quellen und Bächen der Tagesereignisse schießen schnelle Flossenträger hin und her. Und wenn nun gar beim Morgen- oder Abendsonnenschein des Frühlings Odem durch die Blätter weht, da erzählen tausend süße, frohe Stimmen, daß grad die liebsten und die besten Sänger zur oft verkannten „Feder“-Welt gehören! Ich kenne manchen edlen Geist, der wie in Adlersferne hoch über der Gemeinheit horstet, und manchen scharfen Denker, der, gleich dem Albatros, den Staub der Erde nie berührt. Ist dir der Ackergaul bekannt, der für wenig Hafer, aber viel Häcksel täglich seine Furchenzeilen zu ziehen und sich am Ende jeder Reihe wieder umzudrehen hat, damit er ja nicht etwa auf fremde Gedanken komme?«

»Ich habe ihn gesehen, wie oft, wie oft!« antwortete er. »Aber du hast deine Beispiele nur von der einen, von der guten Seite genommen; der Ackergaul bringt mich auf die andere hinüber. Du warst so aufrichtig, auch von Sümpfen zu sprechen. Warum hast du die Giftpflanzen, die Dornen, Quecken und anderen Wucherungen nicht erwähnt? Das Ungeziefer unter den Insekten? Die Raubfische? – Die täglich auf den Blättern ihrer Schlammpflanzen nur von ihrer eigenen Weisheit quakenden Frösche? Die Giftschlangen? Die lästigen Sperlinge? Die Käuze und Eulen, deren lichtscheuer Mordhunger nur des Nachts auf Beute ausgeht? Die aaslüsternen Geier? Die Neuntöter, welche ihre Opfer erst am Stachel quälen, ehe sie verschlungen werden? Die Falken und Stößer, die sich selbst am hellen Tag nicht scheuen, auf Fraß auszugehen. Die Mäuse, Ratten, Hamster und anderen Schmarotzer auf geistigem Gebiet? Die kläffenden oder gar bissigen Hunde, die jedem in die Waden fahren, der es wagt, an einem ihrer Gedanken auch nur vorüberzugehen? Die ganze Unzahl der reißenden Fleischfresser, die Jeden, der nicht ganz vollständig ihresgleichen ist, mit ihren Klauen packen? Die große Schar der kreischenden Quadrumanen, von der zänkischen und rachsüchtigen Meerkatze bis zum menschengefährlichen Gorilla hinauf? Warum hast du nicht von ihnen gesprochen? Soll ich dir zutrauen, daß du beschönigen willst?«

»Das liegt mir fern. Wir sprechen ja von deinem und von meinem Gedankenparadiese. Das deinige ist traurig, das meine ideal. Die gegenwärtige Wahrheit wird zwischen beiden liegen, muß aber nach ewig geltenden Gesetzen nicht deiner Wüste, sondern meinem Eden immer näher kommen. Wir addieren leider auf ganz verschiedene Weise. Dein Pessimismus zieht nach altem Brauche die Summe, indem er abwärts rechnet. Mein Optimismus aber hat gefunden, daß es besser sei, aufwärts zu gehen. Du bist, unten angekommen, mit deinem Leben fertig. Du machst den großen Strich und schreibst als die so erreichte Summe deine kahle Geisteswüste hin. Bei mir aber giebt es oben keinen Strich, denn mein Paradies sendet mir ununterbrochen neue Summanden hinzu. Sie wachsen in die Ewigkeit hinauf.

Und wenn mein Körper dieser Rechnungsweise nicht mehr folgen kann, so wird mein Geist dort einst gewiß die Summe finden.«

Er trat an das offene Fenster und schaute hinaus.

»– – dort einst gewiß die Summe finden!« wiederholte er meine Worte.

Es war für einige Zeit still zwischen uns. Ich störte ihn nicht. Dann drehte er sich zu mir um und fragte:

»Bist du mit deinen geistigen Naturreichen der Presse schon zu Ende, Effendi?«

»Nein,« sagte ich.

»Du gingst auch hier von unten nach oben. Das scheint bei dir in allen Dingen der Fall zu sein! Kommt jetzt nun noch der Mensch?«

»Ja. Im Tiere hat sich die Befreiung vom geistigen Erdboden vollzogen, und das Streben nach der Individualität tritt immer mehr hervor. Doch erreicht kann diese letztere nur vom Menschen werden.«

»Von allen?«

»Nein. Sie sollte es, wird es aber leider nicht. Es giebt so viele, welche entweder durch tausend Rücksichten aller Art noch mit dem Boden in Verbindung bleiben, oder sich durch ganz dieselben und ähnliche Bedenken derart von andern beeinflussen lassen, daß sie es nicht zur intellektuellen Selbständigkeit, zur geistigen Freiheit, zur vollen Selbstbestimmung und Selbstbewegung bringen. Tritt in die Redaktionen, und frage, welche Rücksichten die dort bestimmenden und doch so angefesselten Geister zu nehmen haben! Aber ich habe auch vollendete Persönlichkeiten gefunden, zuweilen da, wo ich es gar nicht erwartete. Wie groß war da meine Freude! Und wie gern und aufrichtig habe ich ihnen meine Anerkennung gezollt! Ein solcher Geist weiß nichts von materiellen Banden. Er hat alle Fesseln zerrissen und sie der menschlichen Selbstsucht und geistigen Kurzsichtigkeit vor die Füße geworfen. Er kennt weder Parteiinteressen noch gesellschaftliche Sondergefälligkeiten. Für ihn giebt es keine Körper, sondern nur noch Geister. Darum wird er nie ein Urteil fällen, welches aus niedrigen Erwägungen gezogen ist und mit den auf ihn gerichteten Blicken der Körperwelt liebäugelt. Es kann ihm niemals beikommen, auch nur einen einzigen Menschen zu verdammen, denn er weiß, daß dieser Mensch, geistig betrachtet, ein ganz anderer ist, als ihn die gehässigen Augen der Fama sehen, die ihre Richtersprüche nur im Erdenschmutze züchtet. Er hat den Zusammenhang des Einzelnen mit dem Ganzen begriffen und weiß, daß der Erstere nicht aus dem Letzteren gerissen werden kann, um ausgestoßen und von der geistigen Feindseligkeit abgethan zu werden. Er kennt die Strömungen und Gegenströmungen der übersinnlichen Atmosphäre, die frei von den Ausdünstungen egokranker Menschenkörper sind, und hebt jeden seiner Nächsten, bevor er ihn betrachtet, zu dieser durchsichtig klaren, reinen, keine Mißgunst kennenden Höhe empor.«

»Aber was dann, wenn es geschieht, daß er selbst einmal angegriffen, befeindet, verleumdet und verurteilt wird?« fragte der Ustad.

»So thut er eben das, was ich jetzt sagte: Er hebt die Angreifer aus ihrer Tiefe zu sich empor, um sie zu durchschauen. Da fällt der ganze Schmutz und alles, was sie sonst noch gewichtig gemacht hat, von ihnen ab. Sie werden leicht, so über oder vielmehr unter alle Maßen leicht, daß sie vor seinen Augen nach und nach in nichts zerfließen. Sie sind ja ganz nur Schmutz und ohne jede Spur von Geist gewesen, und so versteht es sich ja ganz von selbst, daß, sobald der Unflat abgefallen ist, für ihn von ihrer ganzen Existenz nichts mehr vorhanden sein kann.«

»Aber er wird doch antworten? Sich verteidigen?«

»Welch eine Frage! Ich habe dir doch soeben gesagt, daß sie für ihn in Nichts zerflossen seien. Wem soll er antworten? Diesem Nichts? Das wäre ja doch Widersinn! Oder dem Schmutze? Der geht ihn gar nichts an. Er ist der ihrige! Dem Geiste, den es bei ihnen gar nicht giebt? Ich begreife dich nicht! Würdest etwa du antworten?«

Da that er einige rasche Schritte auf mich zu und rief aus:

»Effendi, ich habe es gethan. Ich habe geantwortet – leider, leider, leider!«

»Dem Schmutze?«

»Ja.«

»Dem Nichts?«

»Nein. Ich stand ja, wie ich jetzt, erst jetzt einsehe, nicht so hoch über meinen Feinden, daß sie mir in ein Nichts zerfließen mußten. Und nun erkenne ich, daß auch ich nicht frei von Schmutz gewesen sein kann. Denn hätte er nicht auch an mir gehaftet, so wäre mein Verhalten ganz das jenes hohen, freien Geistes gewesen, von welchem du gesprochen hast. Mir scheint, ich habe Fehler einzugestehen, die mir bis zur gegenwärtigen Stunde keinesweges als Fehler erschienen sind. Du hast heut da drüben bei unserm Beit-y-Chodeh dem Pedehr gebeichtet. Ich war tief im Herzen gerührt davon. Deine mutvolle Aufrichtigkeit imponierte mir. Nun bist du rein und frei von allem, was dir angehangen hat. Ich glaubte nicht, daß auch ich mich zu reinigen haben werde. Jetzt aber weiß ich, daß es doch so ist. Ich werde denselben Mut besitzen, den du besessen hast. Auch ich werde beichten, dir, wie du dem Pedehr. Und wenn ich dann aus deinem Munde höre, daß mir verziehen werden könne, so werde ich mich für berechtigt halten dürfen, diese Verzeihung als ausgesprochen, als geschehen anzunehmen. Ich war über das hinaus, was du das „erste Leben“ nanntest. Ich stand im „zweiten Leben“, denn ich fühlte, daß sich meine geistige Individualität in mir gestalten wollte. Aber es gelang mir nicht, das „dritte“ zu erreichen. Warum? Wir werden nach den Gründen suchen, du und ich. Und ich ahne, daß ich in diesen Gründen meine mir bisher unbekannten Fehler entdecken werde.«

Als er bis hierher gekommen war, hörten wir, daß unten auf dem Vorplatze jemand dreimal in die Hände klatschte.

»Das gilt mir,« sagte er. »Der Pedehr weiß, wo ich bin und daß niemand zu uns kommen darf. Ich habe mit ihm, falls man meiner bedürfen sollte, dieses Zeichen verabredet!«

Er begab sich durch das Mittelzimmer auf das Vordach. Ich hörte ihn hinuntersprechen. Dann kehrte er zu mir zurück und sagte:

»Ich soll zum Pedehr hinabkommen und auch dich mitbringen. Es scheint sich um etwas Wichtiges zu handeln.«

»Was es ist, hat man dir nicht gesagt?«

»Nein. Ich fragte zwar, doch der Pedehr antwortete, er dürfe es mir nicht laut heraufrufen. Komm!«

Wir gingen hinunter. Der Pedehr befand sich in der Halle, in welcher ich gelegen hatte. Tifl und ein zweiter Dschamiki waren bei ihm. In dem letzteren erkannte ich den Wächter, welcher heut am Nachmittage über Stock und Stein geritten war, um uns die Ankunft der Perser zu melden. Halef schlief fest. Hanneh war auch schlafen gegangen. Sein Sohn saß bei ihm. Der Scheik der Dschamikun empfing uns mit der des Kranken wegen nur halblaut gesprochenen, aber sehr wichtigen Kunde:

»Der Bluträcher ist wieder da!«

»Wo?« fragte der Ustad im Tone der Ueberraschung.

»Das wissen wir nicht.«

»Wer hat ihn gesehen?«

»Mein Sohn,« antwortete der Wächter.

»Hat er sich nicht etwa getäuscht?«

»Nein. Er kennt ihn ja. Er hat ihn doch heute am Nachmittage durch den ganzen Duar bis an unser Gotteshaus geführt und ihn also genau betrachten können.«

»Wo ist dein Sohn?«

»Ich habe ihn mitgebracht. Er wartet draußen vor den Stufen.«

»Hole ihn!«

Ich ahnte natürlich sofort, daß irgendeine Teufelei geplant werde, und war höchst gespannt darauf, ob es uns wohl gelingen werde, zu erfahren, welcher Art sie sei. Natürlich durfte ich mir nicht erlauben, den beiden Oberhäuptern des Stammes in Beziehung auf die einzuziehenden Erkundigungen vorzugreifen. Der Sohn des Wächters hatte ein intelligentes Gesicht. Er sah sogar etwas wie pfiffig aus. Er kam mit seinem Vater bis vor den Ustad hin.

»Du hast den Bluträcher gesehen?« frage ihn dieser.

»Ja,« bestätigte der Gefragte.

»War er allein?«

»Nein. Es befanden sich noch zwei andere bei ihm.«

»Woher kamen sie?«

»Von draußen.«

»Wo sind sie hin?«

»Ich weiß es nicht.«

»Doch wohl hierher?«

»Wahrscheinlich.«

»Geritten?«

»Nein. Sie waren abgestiegen.«

Da sah der Ustad den Pedehr an, und dieser mich. Dabei sagte der letztere:

»Das ist eine ebenso unerwartete wie geheimnisvolle und bedenkliche Kunde! Was meinst du dazu, Effendi?«

»Erlaubt Ihr mir, einige Fragen auszusprechen?« erwiderte ich ihm.

»Natürlich!«

»Ich hörte, daß ein Handelsmann aus Isphahan hier angekommen sei und eine Botschaft von dem Bluträcher ausgerichtet habe. Wo ist dieser Mann?«

»Er wird nun wohl schon schlafen,« antwortete der Pedehr. »Soll ich ihn vielleicht wecken lassen?«

»Das ist nur dann nötig, wenn Ihr mir nicht sagen könnt, was ich von ihm wissen will. Woher kam er?«

»Von den nördlichen Dschamikun. Er traf mit den Persern auf der Höhe des Passes zusammen.«

»Wie verhielten sie sich zu ihm?«

»Weder freundlich noch feindlich. Sie kennen ihn. Sie fragten ihn, woher er käme und wohin er wolle. Er antwortete, daß er nach Süden zu den Kalhuran wolle. Da sagten sie ihm, daß er hierher reiten solle, um ein gutes Geschäft zu machen. Es sei ein großes Wettrennen geplant, zu welchem sich viele Menschen einstellen würden. Wenn er da sein Handelszelt aufschlage, werde er wohl viele Käufer finden. Er war ihnen für diese Mitteilung sehr dankbar und sagte ihnen, daß er ihrem Rate folgen und hierherreiten werde. Da bekam er von dem Multasim den Auftrag, den er uns ausgerichtet hat.«

»Wie lautete diese Botschaft?«

»Sie war höchst eigentümlich, uns allen unverständlich. Nämlich zwei Zeilen aus dem heute von uns gesungenen Liede: „Brich auf, mein Herz, der Rose gleich, in der sich alle Düfte regen!“ Und hinzugefügt hatte der Bluträcher: „Sage im Duar, daß die Rose noch heut aufbrechen werde!“ Ist das nicht sonderbar, Effendi?«

»Allerdings, aber nur in dem Sinne, daß überhaupt jede Unvorsichtigkeit sonderbar genannt werden muß.«

»Unvorsichtigkeit?« fragte er erstaunt.

»Ja.«

»Das begreife ich nicht. Wir haben diese Worte als einen nachträglichen Hohn gedeutet und uns dabei beruhigt.«

»Ich wollte, Ihr hättet sie mir eher mitgeteilt als jetzt! Es liegt wahrscheinlich ein Mordanschlag vor.«

»Chodeh!« fuhr der Pedehr auf, und auch die andern zeigten sich durch diese meine Deutung erschreckt. »Gegen wen?«

»Gegen mich.«

»Unmöglich!«

»Ich habe gesagt, wahrscheinlich. Und ich pflege zu wissen, was ich sage. Das betreffende Lied vergleicht Rose und Herz. Mit diesem Herzen aber ist das meinige gemeint. Wörtlich mein Herz! Es soll aufgebrochen werden! Mit dem scharfen, spitzen Stahle!«

»Aus welchem Grunde kommst grad du auf diese Idee?«

»Davon vielleicht später! Ich habe jetzt zu fragen und zu handeln. Der Bluträcher hat uns nicht für klug genug gehalten, ihn zu durchschauen. In ihm wohnt der Haß, und dieser ist bekanntlich der Bruder der Unvorsichtigkeit und Ueberhebung. Er hat später damit prahlen wollen, daß sein blutiges Werk gelungen sei, obgleich er uns vorher gewarnt habe.«

Hierauf wendete ich mich zu dem jungen Dschamiki und fragte ihn:

»Wo warst du, als du den Multasim sahst?«

»Draußen vor dem Duar,« antwortete er. »Ich hatte die Schafe in den Pferch gebracht und mich hinter einem Steine niedergelegt, um nach dem Alabasterzelte hinaufzuschauen. Man konnte mich vom Wege aus nicht sehen. Da kamen vier Reiter von Osten her. Sie blieben in der Nähe stehen und stiegen ab.«

»Drei waren es doch!«

»Diese drei, welche ich meinte, schlichen nach dem Duar. Der vierte blieb bei den Pferden.«

»Du erkanntest den Multasim?«

»Ganz deutlich. Er war einer von den dreien.«

»Was für Waffen hatten diese letzteren?«

»Sie gaben ihre langen Gewehre dem vierten, ehe sie sich entfernten. Alles andere aber haben sie noch bei sich.«

»Hast du dich sehen lassen?«

»Nein.«

»Was thatest du?«

»Ich schlich mich auf dem Boden hin, den dreien nach. Sie verließen den Weg. Sie huschten quer hinüber, um hinter den Duar zu kommen. Ich konnte ihnen nicht so schnell folgen, denn wenn ich mich aufgerichtet hätte, so wäre ich von ihnen gesehen worden. Darum verlor ich sie aus den Augen.«

»Und bist dann nicht weiter gefolgt?«

»Nein. Ich ging zum Vater und erzählte es ihm.

Hierauf sind wir sofort zum „hohen Hause“ gekommen, um es zu melden.«

»Welche Zeit ist vergangen, seit du sie von ihren Pferden steigen sahst?«

»Bis jetzt kaum eine halbe Stunde.«

Da klopfte ich ihm auf die Schulter und sagte:

»Du hast deine Sache gut gemacht. Ich muß dich loben!«

Dann fuhr ich, zu den andern gewendet, fort:

»Wir haben Zeit. Der Multasim wartet hinter dem Duar, bis hier oben bei uns kein Licht mehr brennt. Für mich steht es fest, daß er sich nicht eher heranwagt. Was er vorhat, ist verwegen, so verwegen, daß ich ihn bemitleiden muß. Ist dieser Mensch denn ein im Wildnisleben so erfahrener und gewandter Mann, daß er, ohne einen Wahnsinn zu begehen, sich zumuten kann, mit seinem Dolche hier im „hohen Hause“ ganz unentdeckt und unbestraft mein Herz zu finden?«

»Dein Herz!« sagte der Ustad. »Ich halte es noch immer für eine Unglaublichkeit!«

»Und dennoch ist es wahr!«

»Du mußt dich täuschen!«

»Nein. Ich wollte diese Angelegenheit als Geheimnis behandeln; aber da der Bluträcher nicht wartet, bis ich dich verlassen habe, sondern dein Haus zum Schauplatze dieses Mordes machen will, schon heut, gleich an demselben Tage, so halte ich es für meine Pflicht, dir mitzuteilen, was zwischen ihm und mir vorgekommen und gesprochen worden ist.«

Ich erzählte es so kurz, wie ich es für geraten hielt, legte ihnen jedes Für und jedes Wider in Beziehung auf meine Ansicht vor und überzeugte sie derart, daß der Pedehr, als ich geendet hatte, ganz entrüstet sagte:

»Du hast recht, Effendi: Es gilt einen Mord, und zwar nur dir, nur dir! Ich werde sofort die Warnungsglocke erklingen lassen und alle Bewohner des Duar zusammen –«

»Halt!« unterbrach ich ihn. »Das wirst du nicht!«

»Ja, ich werde es!«

»Nein!«

»Warum nicht?«

»Soll der Blutgierige ohne Strafe bleiben?«

»Nein! Das freilich nicht!«

»Er wird es aber. Denn sobald er den Lärm hört, den er auf sich beziehen muß, versteht es sich ganz von selbst, daß er die Flucht ergreift. Dann ist er fort und lacht uns später wegen unserer Unbedachtsamkeit aus, weil wir ihm nicht einmal die Absicht des Mordes nachzuweisen vermögen.«

»Das ist wahr; das ist richtig, Effendi! Aber was können wir anderes thun?«

»Ihn fangen!«

»Maschallah!«

»Mit der Waffe in der Hand!«

»Du meinst also, daß wir ihn kommen lassen?«

»Ja.«

»Das ist zu gefährlich!«

»Hast du nicht auch die Soldaten herankommen lassen und gefangen genommen? Ihrer waren so viele; jetzt aber sind es nur drei!«

»Auch das ist wahr!«

»Und gewiß kommt er nur allein herein; die andern beiden sind seine Wachen.«

»Herein? Hier herein, meinst du?«

»Ja.«

»Wie kommst du auf diesen Gedanken?«

»Auf die leichteste und zugleich sicherste Weise. Er will mich töten. Wann? Des Nachts. Was thue ich des Nachts? Ich schlafe. Wo? Droben in meiner neuen Wohnung, allerdings. Aber das weiß er nicht. Der heutige Wechsel ist ihm unbekannt. Er glaubt, daß ich noch hier schlafe, in der offenen Halle, in welche man sich des Nachts so leicht schleichen kann.«

»Was weiß er von deinem bisherigen Lager in dieser Halle?«

»Gewiß genug. Er hat heut am Nachmittage da drüben auf dem Berge mit mehreren Dschamikun gesprochen, doch wahrscheinlich hiervon nicht, denn seine Absicht gegen mich kann erst entstanden sein, nachdem ich die letzten Worte mit ihm gesprochen hatte. Tifl hat die Perser begleitet. Ich denke, daß er mir gar wohl eine Mitteilung machen kann, die sich hierauf bezieht.«

»Jawohl; das kann ich; das kann ich!« antwortete der Genannte.

»Nun?« fragte ich ihn.

»Ich ritt voran. Ich hatte mir vorgenommen, mit diesen Persern gar nicht zu sprechen. Das habe ich auch gehalten. Meine Leute ritten hinterher. An diese hat sich Ahriman Mirza gemacht und sich mit ihnen unterhalten. Erst über den Duar; hierauf über das „hohe Haus“, und dann über die jetzigen Gäste desselben. Als ich das später erfuhr, war ich sehr zornig darüber, daß man ihm Auskunft gegeben hat.«

»Was hat er erfahren?«

»Wo Hadschi Halef liegt; wo du schläfst; wann du dich niederlegst, und wer des Nachts noch außerdem sich in der Halle befindet. Die, welche es sagten, wußten nicht, daß du vom heutigen Abend an bei unserm Ustad wohnen werdest. Darum ist zu Ahriman Mirza gesagt worden, daß du in der Ecke rechter Hand in der Halle schläfst.«

»Was wohl noch?«

»Ob du im Schlafe Waffen in der Nähe habest.«

»Ah! Also! Was hat man geantwortet?«

»Daß sie am Fußende deines Lagers aufgehängt seien.«

»Wo sind sie jetzt? Ich habe sie in meiner neuen Wohnung nicht gesehen.«

»Erlaube, daß ich dir das später selbst mitteile!« fiel da der Ustad ein.

Ich nickte ihm zu und fuhr, zu Tifl gewendet, fort:

»Gab es noch weitere Erkundigungen?«

»Nein,« erklärte er.

»So ist das ganze Material beisammen, welches nötig war, mich zu überzeugen, daß ich mich nicht geirrt habe. Wer soll nun bestimmen, was zu geschehen hat?«

»Du,« antwortete der Ustad.

»Ja, du,« stimmte der Pedehr ein.

»So ist meine Ansicht die folgende: Der Bluträcher wird gefangen genommen, und zwar auf eine für uns möglichst ungefährliche Weise. Werden die gefangenen Soldaten bewacht?«

»Ja,« sagte der Pedehr.

»Von wieviel Personen?«

»Es sind zwei, welche vor dem verschlossenen Thore stehen. Das genügt vollständig.«

»Für heut genügt es nicht.«

»Warum?«

»Weil der Multasim jedenfalls die Absicht hat, diese Gefangenen zu befreien. Er kann mit zwei Begleitern die beiden Wachen, da sie so etwas nicht erwarten, leicht überraschen und überwältigen. Wir stellen also jetzt mehr Leute hin, damit er sich gar nicht nach dieser Seite wagen kann. Um so sicherer wendet er sich dann der Halle zu. Es wird an der Stelle, wo ich schlief, ein Lager errichtet. Doch niemand liegt darauf. Selbst wenn jemand so mutig wäre, diese Rolle zu übernehmen, so ist so ein Dolch oder Messer selbst für den stärksten Mann ein immerhin gefährliches Ding.«

Kara Ben Halef war von dem Lager seines Vaters herbeigekommen, um zuzuhören. Jetzt, bei diesen Worten, sagte er:

»Aber wenn du nicht so angegriffen von der Krankheit wärest, da wüßte ich, was geschähe, Effendi!«

»Nun, was?«

»Du würdest dich ruhig hinlegen, um die aufgehobene Hand des Mörders, wenn er zustoßen will, zu ergreifen und festzuhalten, damit er vollständig zu überführen sei.«

»Hm! Vielleicht thäte ich es! Davon kann aber jetzt keine Rede sein. Der Bluträcher darf nicht ahnen, daß er sich vollständig verraten hat. Es muß alles sorgfältig vermieden werden, was den Gedanken in ihm erwecken könnte, daß man seine Anwesenheit kenne und auf ihn vorbereitet sei. Darum dürfen wir nur so viel Personen in das Vertrauen ziehen, wie unumgänglich nötig sind. Kein weiterer darf etwas erfahren. Wie viele Wege giebt es nach hier herauf?«

»Nur den einen durch das Thor,« antwortete der Pedehr.

»Keinen verborgenen Schleichweg?«

»Keinen. Niemand kann über die Riesenmauer.«

»Also ist es auch für niemand möglich, anders als durch das Thor zu entfliehen?«

»Für keinen Menschen. Und das Thor wird ja geschlossen.«

»Man lasse es heut offen, damit der Multasim nicht darüberzuklettern braucht. Wir wollen ihm und seinen Begleitern das Kommen möglichst erleichtern, damit sie dann um so sicherer nicht ohne unsern Willen wieder fortgehen können. Ich meine, daß sie sich alle drei durch das Thor schleichen werden. Die beiden andern verstecken sich an einem passenden Orte, dem Multasim erforderlichen Falles beispringen zu können. Dieser setzt seinen Weg allein fort. Am Thore müssen sich handfeste Leute verbergen, welche die Perser zwar herein, aber nicht wieder hinaus lassen dürfen. Doch haben sie alles so still zu unternehmen, daß sie es uns nicht etwa verderben, hier oben den Multasim zu ergreifen. Hier bei uns genügen fünf bis sechs Personen, welche sich in den dunkeln Hintergrund der Halle zurückziehen, um den Mörder, sobald er sich hereingeschlichen und das Lager erreicht hat, zu packen. Wir haben schon um des Hadschi Halef willen das Geräusch zu vermeiden. Ich möchte gern haben, daß der Multasim in lautloser Stille überwältigt wird. Ich bin natürlich auch da, wenn ich auch nicht mit zugreifen werde. Wollt Ihr dabei sein, so ist es recht, denn da werden Eure Leute sich doppelte Mühe geben, alles richtig zu machen. Dort hinter der Thür müssen im Hausgange einige Personen mit brennenden Lichtern postiert sein, damit die Halle im gegebenen Augenblick sofort erleuchtet werden kann. Das ist es, was ich zu sagen habe. Hat jemand einen andern Wunsch?«

»Nein,« antwortete der Pedehr. »Denkst du, daß der Bluträcher uns lange warten lassen wird?«

»Gewiß nicht. Seine heutigen Begleiter kennen sicher alle seine Unternehmungen. Sie warten mit größter Neugierde auf seine Rückkehr. Auch den Mann mit den vier Pferden läßt er wohl nicht gern lange Zeit allein, weil jeden Augenblick sich eine Störung oder gar Entdeckung ereignen kann. Wie ich schon gesagt habe, so denke ich auch noch jetzt: Wenn kein Licht mehr hier oben brennt, wird der Multasim annehmen, daß wir schlafen, und sich unverzüglich an das Werk machen.«

»Wohlan, so wollen wir uns beeilen. In zehn Minuten soll alles zu seinem Empfange bereit sein. Gehst du einstweilen wieder hinauf in deine Wohnung, Effendi?«

»Nein. Ich bleibe hier.«

»So erlaubt, daß ich euch verlasse, die Vorbereitungen zu treffen!«

Er entfernte sich. Der Ustad ließ zwei Kissen bringen, auf welche wir uns an der Hinterwand niedersetzten, doch so, daß ich die drei Bogenöffnungen an den Säulen im Auge hatte und den Multasim, wenn er kam, sehen konnte. Kara war wieder zum Bette seines Vaters gegangen. Der Bote und sein Sohn hockten sich in unserer Nähe nieder, um im gegebenen Augenblicke mit zuzufassen. Dann kam der Pedehr mit noch vier kräftigen Männern, die sich in der hintern Ecke versteckten. Jenseits der Thür hielten einige Personen brennende Lichter. Dann wurden die unsern alle ausgelöscht. Da dachte ich an meine Lampe oben. Sie brannte ja, und ihr Schein mußte unten im Duar gesehen werden. Ich sagte das dem Ustad, der sich sofort erhob, um hinaufzugehen und sie selbst auszulöschen. Als er dann wieder kam, war alles bereit, denn der Pedehr hatte dafür gesorgt, daß sogar in der Küche alles finster war. Es schien sich jedermann im »hohen Hause« niedergelegt zu haben. Der Bluträcher konnte erscheinen!

War es nicht vielleicht sonderbar, daß ich herzlich wünschte, daß er kommen möge? Man soll doch nicht das Verlangen in sich tragen, daß sich einem das Verbrechen nahe! Aber nicht bloß das Denkvermögen, sondern auch das Gefühl hat seine Erwägungen, wenn man die logische Folgerichtigkeit derselben auch nicht so deutlich nachzuweisen vermag. Und wenn ich die Empfindung in mir trug, daß ich den Multasim herbeiwünschen müsse, so hatte sie jedenfalls ihren guten Grund. Der Bluträcher lebte; er war vorhanden. Seine Absichten richteten sich gegen mich. Sie konnten mir nur dann gefährlich werden, wenn ich auf seinen Angriff nicht gefaßt war. Ich hatte nicht ihn selbst, sondern nur die plötzliche Ueberrumpelung zu fürchten. Heut nun, jetzt, war ich auf ihn vorbereitet. Führte er seinen gegenwärtigen Plan nicht aus, so entwand er sich der Gewißheit, festgenommen zu werden, und zog alle meine Vorsicht, welche ich zu üben hatte, mit sich in die Ungewißheit hinaus. Darum mußte ich wünschen, daß nichts eintreten möge, was ihn verhindern könne, jetzt bei seinem Vorhaben zu bleiben.

Es war still in der Halle, und so dunkel, daß keiner den andern sehen konnte, obgleich wir uns so nahe waren. Der leise Schimmer der Nacht lag draußen auf den Stufen. Er konnte nicht bis zu den Säulen heran, weil er von dem Vordache über ihnen aufgefangen wurde. Darum hoben sich die drei Bogenöffnungen des Einganges zwar ganz bemerklich von dem Dunkel ab, aber der Fußboden war dem Sternenlichte so entzogen, daß ich mir sagen mußte, der Perser wäre sicher ganz unbemerkt hereingekommen, wenn wir seinen Anschlag nicht erfahren hätten. Bemerken muß ich da freilich, daß ich keinen Grund hatte, ihm diejenige Fertigkeit im Anschleichen zuzutrauen, welche zwar auch der geübte Beduine besitzt, in der aber nur die Indianer und Jäger des »fernen Westens« von Nordamerika wirklich Meister waren. Ich sollte bald erfahren, daß ich mich da geirrt hatte. Der Haß ist auf dem Schleichwege immer Meister. Er kann sich da in Beziehung auf seine Arglist und Ausdauer rühmen, unübertrefflich zu sein.

Der neben mir sitzende Ustad hatte zu mir herübergegriffen und meine Hand in die seinige genommen. Er hielt sie fest.

»Wie lieb ich dich habe, Effendi!« flüsterte er mir zu. »Ich habe es gar nicht gewußt. Aber als ich hörte, daß es sich um einen Angriff gegen dein Leben handle, erhob sich ein Gefühl in mir, als ob wir leiblich und geistig so eng verbunden seien, daß wir miteinander eine gleich denkende und gleich empfindende, vollständig unzertrennliche Einheit bilden.«

»War es wirklich ein Gefühl? Oder doch vielleicht etwas anderes?« fragte ich. »Wenn sich verwandte Geister küssen, fließen die Pulse ihrer körperlichen Herzen zu einem einzigen zusammen. Das Wort Geisterliebe klingt gespensterhaft, aber sie ist die höchste und die mächtigste, welche das Hier mit dem Dort verbindet. Indem sie das Eine zu dem Anderen emporhebt, bringt sie die Seligkeit.«

Vielleicht hätte ich noch etwas hinzugefügt, da ich mit diesem Gedanken mein Lieblingsthema berührte, aber ich verzichtete darauf, denn es war mir, als ob ich soeben etwas gehört und auch etwas gesehen habe. Es war nichts Bestimmtes, nichts für die Augen und Ohren fest Greifbares, sondern nur ein leises Rauschen oder Wehen wie von einem leichten Gewande, das schnelle Vorüberhuschen von etwas sich Bewegendem, aber gestaltlos und haltlos, von keinem wirklich existierenden Wesen rührend.

»Sahst du etwas? Hörtest du etwas?« fragte ich den Ustad.

»Nein. – Du?« antwortete er.

»Es war, als ob ein halbsichtbarer Gedanke quer durch die Halle gehuscht sei.«

»Wohin?«

»Nach der Ecke, wohin der Multasim kommen wird.«

»Den haben wir von draußen zu erwarten. Der ist nicht hier in dem Raume versteckt. Es wird eben, wie du sagtest, ein Gedanke gewesen sein.«

Das schien mir so richtig, daß ich annahm, mich wirklich getäuscht zu haben. Der, den wir erwarteten, konnte doch jedenfalls nicht aus der Ecke kommen, in welcher mein Hadschi Halef schlief. Wir hatten unsere Aufmerksamkeit nur nach dem Eingange zu richten, und das thaten wir in einer Weise, welche erwarten ließ, daß wir den Bluträcher trotz des allervorsichtigsten Anschleichens ganz gewiß und sofort sehen würden.

Es verging aber Zeit um Zeit, Viertelstunde um Viertelstunde, ohne daß wir etwas bemerkten. Da – es mochte wohl nach einer Stunde sein – gab es irgendwo ein leises Kratzen oder Scharren und hierauf ein ziemlich lautes, hastiges Atemholen, welches fast wie Röcheln klang. Der Ort, woher es kam, war nicht zu bestimmen. Ich nahm an, daß einer der versteckten Dschamikun so unvorsichtig gewesen sei, diesen lauten Atemzug zu thun, der uns sehr leicht verraten konnte; da aber erklang Kara Ben Halefs helle Stimme:

»Sihdi, laß die Lichter hereinbringen!«

Ich war natürlich außerordentlich überrascht, zumal dieser Ruf nicht von dem Bette seines Vaters her, wo er sich doch befunden hatte, erschollen war.

»Wo befindest du dich?« fragte ich ihn, selbstverständlich ebenso laut.

»Hier an deinem angeblichen Lager.«

»Welche Unvorsichtigkeit!«

»Sag lieber, welche Pfiffigkeit! Denn wenn ich nicht vorsichtiger gewesen wäre als ihr, so hätte er sich wieder fortgeschlichen. Ich habe ihn!«

»Maschallah! Ist das wahr?«

»Würde ich es sagen, wenn es anders wäre? Bringt Licht!«

Wir sprangen alle auf. Die Thür zum Hausgange wurde geöffnet, und die da draußen stehenden Leute kamen mit ihren brennenden Kerzen und Oellampen herein. Was wir nun sahen, das war allerdings verwunderlich. Ganz nahe an dem Bette, welches als das meinige gegolten hatte, lag ein Mensch, mit dem Rücken nach oben, vollständig bewegungslos. Er war nur mit der Hose bekleidet, sonst aber nackt, und hatte den Oberkörper und die Arme mit Oel eingerieben. Das ist eine Gepflogenheit der beduinischen Anschleicher, welche sich dadurch so schlüpfrig machen, daß sie, falls man sie entdeckt, nicht festgehalten werden können, weil das Oel oder Fett dem Körper eine Glätte verleiht, die jeden festen, ehrlichen Griff vergeblich macht. Bei ihm kniete Kara, welcher ihm beide Hände so fest um den Hals gelegt hatte, daß dem Ertappten die Möglichkeit der Gegenwehr vollständig genommen worden war.

»Schnell, bindet ihn!« sagte ich, alle Fragen auf später verschiebend. »Hinaus mit ihm und den Lichtern, die seinen Begleitern verraten, daß sein Vorhaben schlecht abgelaufen ist!«

Aber noch ehe man dieser Weisung nachgekommen war, traten die Folgen dieser plötzlichen Erleuchtung der Halle ein: Auf dem Vorplatze ließen sich laute Schritte hören, hierauf einige unterdrückte Rufe. Nun wurde es wieder still. Dann kam einer der dortigen Dschamikun die Stufen herauf und meldete:

»Sie sind ergriffen worden. Als sie die Lichter sahen, wollten sie schnell fort. Da nahmen wir sie fest!«

»Bringt sie uns!« sagte ich. »Ihr findet uns im Gange dort hinter der Thür.«

»Dürfen wir nicht hier bleiben, da wir sie nun doch haben?« fragte der Pedehr.

»Nein,« antwortete ich. »Die plötzliche Helligkeit dieses Raumes, auf den es abgesehen war, muß dem Perser, der sich bei den Pferden befindet, auffallen und ihn warnen. Schicke schnell deine Leute hinab, um auch ihn festnehmen zu lassen! Der junge Dschamiki, welcher weiß, wo der Ort liegt, mag sie führen!«

Während der Pedehr dieser Weisung folgte, wurde der Gefesselte hinausgetragen und die Thür hinter uns allen zugemacht, so daß es in der Halle nun wieder finster war. Erst jetzt fand ich Zeit, das Gesicht des Gefangenen zu betrachten. Wir hatten den Richtigen – Ghulam el Multasim. Er lag mit geschlossenen Augen da. War er besinnungslos, oder stellte er sich nur so? Es giebt Menschen, welche zwar den Mut des gehässigen Angriffes besitzen, weil sie zu thöricht sind, die Folgen zu bedenken, und dann, wenn diese eintreten, die Augen zumachen, als ob das genüge, die wohlverdiente und unvermeidliche Strafe von sich abzuwenden. Was äußerlich dem Mute ähnlich war, ist dann in seiner eigentlichen Gestalt als Feigheit zu erkennen.

Jetzt brachte man seine beiden Genossen zu uns; auch sie waren gebunden. Sie hatten die abgelegten Kleider des Bluträchers bei sich gehabt, auch seine Pistolen. Er war nur mit dem Messer versehen gewesen. Dieses war ihm aus der Hand entfallen, als er von Kara beim Halse genommen worden war. Der Pedehr hatte es aufgehoben und zeigte es mir.

»Das ist die Klinge, mit welcher die Rose aufgebrochen werden sollte,« sagte er. »Was soll mit diesen drei Menschen geschehen, Effendi?«

»Wer hat darüber zu bestimmen?« erkundigte ich mich.

»Natürlich du. Der Angriff war ja gegen dich geplant.«

»Wird man das auch wirklich ausführen, was ich bestimme?«

»Gewiß!«

Als ich auch dem Ustad einen fragenden Blick zuwarf, erklärte dieser, seinem Scheike beistimmend:

»Es ist uns jeder verfallen, der sich ohne unsere Erlaubnis hier mit der Waffe treffen läßt. Aber wir pflegen nicht zu töten. Es ist zwischen uns und dem Multasim ausgemacht worden, daß die Frage der Rache, welche ihn hiehergeführt hat, durch das Wettrennen beantwortet werden soll. Hast du mit ihm ein heimliches Abkommen getroffen, so geht das uns nichts an. Er erhalte die Folgen davon aus deiner Hand. Ich könnte ihn zwar dafür bestrafen, daß er sich mit dem Messer trotz unserer Vereinbarung in mein Haus geschlichen hat, trete aber dieses Recht hiermit an dich ab, Effendi. Thue mit ihm und seinen Helfershelfern, was dir beliebt. Er sei ganz nur in deine Hand gegeben!«

»So schafft diese drei Menschen einstweilen so, wie sie hier sind, zu den andern Gefangenen hinüber in das Gewölbe, und laßt sie dort bewachen! Morgen, wenn es Tag geworden ist, werden sie erfahren, was ich über sie beschlossen habe. Sie kamen bei Nacht; ich aber erwarte den Tag, denn ich will auf heimliche Anschläge keine lichtscheuen Antworten geben!«

Man kam dieser Weisung unverweilt nach. Als die Perser hinausgebracht worden waren, lagen die Kleider des Multasim noch am Boden. Der Pedehr forderte Tifl auf, nachzusehen, was sich in den Taschen befinde. Sie enthielten, wie es schien, nur die gewöhnlichen Gebrauchsgegenstände, und nur zuletzt entdeckte »das Kind« an einer verborgenen Stelle noch ein kleines Täschchen, aus dem er einen noch kleineren Lederumschlag hervorzog, in welchem einige beschriebene Papierblätter festgeheftet waren. Er gab das Büchelchen dem Pedehr, der es aufmerksam betrachtete und dann dem Ustad kopfschüttelnd mit den Worten hinreichte:

»Sonderbar! Das scheinen nur einzelne Buchstaben zu sein. Worte sind es nicht. Schau du zu, was es ist!«

Der Ustad nahm es in die Hand, sah es durch und sagte:

»Das ist das Täliq-Alphabet mit einer vorwärts gerückten Wiederholung. Ich würde glauben, es sei eine sogenannte Eselsbrücke für irgend einen Anfänger im Schreiben. Aber da auf der ersten Seite steht in derselben runden, stark nach links hängenden Schrift zu lesen: „Für Ghulam, den Dschellad„. Es ist also für Ghulam ganz besonders bestimmt. Er wird „Henker“ genannt. Weshalb? War es vielleicht ein Scherz? Dann hätte er es nicht so sorgfältig aufgehoben. Hat er es vielleicht selbst geschrieben? Was sagst du dazu, Effendi?«

»Ich kann nicht eher etwas sagen, als bis ich es gesehen habe,« antwortete ich ihm. »Ist es nur das Alphabet?«

»Dieses und die Ueberschrift, die ich vorgelesen habe. Denn die paar Buchstaben, die dann noch unter ihr stehen, können wohl kaum etwas zu bedeuten haben. Es ist ein Sa und ein Lam.«

»Weiter nichts?« fragte ich schnell.

»Noch das Verdoppelungszeichen dazwischen,« antwortete er. »Da, siehe selbst!«

Er gab es mir. Ja, das war das mir so wohlbekannte Erkennungszeichen der Sillan! Ich wußte sofort, daß dieses scheinbar ganz bedeutungslose Doppelalphabet gewiß von großer Wichtigkeit sei. Aber in welcher Weise wichtig, das war die Frage! Es enthielt zweimal alle persischen Buchstaben vom Aelyf bis zum Jäj und sogar Lam-Aelyf. Aber die gleichen Buchstaben standen nicht beieinander, sondern die zweite Reihe war weiter fortgeschoben, so daß die letzten sieben Buchstaben nicht hinten, sondern vorn ihr Ende fanden. Wenn ich versuchen will, dies durch das deutsche Alphabet zu verdeutlichen, so bekommt diese Probe folgendes Aussehen:

A b c d e f g h i k l m n o p q r s t u v w x y z –
t u v w x y z A b c d e f g h i k l m n o p q r s –

Es war mit Gewißheit anzunehmen, daß die bereits erwähnte Wichtigkeit dieser Zusammenstellung für die Sillan eine allgemeine, für den Multasim aber außerdem eine noch besondere sei. Ich wünschte sehr, hierüber Aufklärung zu erhalten. Aber von wem? Sie konnte mir nur durch eigenes Nachdenken werden. Jetzt aber gab es keine Zeit hierzu. Ich steckte also das Heftchen zu mir und sagte:

»Die Buchstaben sind wahrscheinlich das, wofür du sie hieltest, nämlich eine Eselsbrücke. Der Esel ist ohne Zweifel Ghulam selbst. Jetzt interessiert mich nur der Umstand, daß er „Henker“ genannt wird. Ihr kennt ihn besser als ich. Habt Ihr vielleicht schon einmal diese oder eine ähnliche Bezeichnung seiner Person gehört?«

»Nein, nie;« antwortete der Pedehr. »Aber dadurch, daß er als Multasim sich mit seiner unersättlichen Habsucht an die Stelle des gütigen Beherrschers setzt, ist er wohl schon Unzähligen in Wirklichkeit zum Henker geworden.«

»Hier fällt mir eine Aehnlichkeit auf,« fügte der Ustad hinzu. »Steuerpächter des Schah-in-Schah und Paradiesespächter! Hier leibliches und dort seelisches und geistiges Henkertum! Wie manchen solchen Geist- und Seelenhenker mag es geben, der seines traurigen Amtes dadurch waltet, daß er an Stelle des einfachen und ehrlichen Alphabetes, welches uns der Herr gegeben hat, ein gefälschtes setzt! Was thun wir mit den Kleidern des Gefangenen?«

»Sie mögen hier liegen bleiben, bis er sie morgen wieder bekommt. Das geschieht nicht eher, als bis ich ihm dieses Alphabet wieder in die Tasche gesteckt habe. Ich wünsche, daß er denken möge, es sei unentdeckt geblieben. Wenn eure Leute später den vierten Perser mit den Pferden bringen, so steckt ihn in ein besonderes Verließ. Der Multasim soll jetzt noch nicht wissen, daß wir auch noch diesen festgenommen haben. Und noch eins: Ich habe euch etwas zu sagen und zu zeigen. Das steckt in meiner Satteltasche. Wo befindet sich das alles, meine Sachen und die Waffen?«

»In meiner Wohnung,« antwortete der Ustad.

»Also bei dir? Ich danke dir! Das zeigt mir ja, wie wert du das Eigentum deines Gastes hältst.«

Da ging ein ganz eigenartiges Lächeln über sein Gesicht. Er machte eine den Sinn meiner Worte abwehrende Handbewegung und sagte:

»Es ist ein anderer Grund. Wenn du es erlaubst, werde ich dir ihn oben sagen. Soll auch der Pedehr mitgehen?«

»Ja.«

Der Genannte erteilte Tifl einige Weisungen in Beziehung auf den vierten Perser; dann begaben wir uns hinauf in die Wohnung des Ustad. Er führte uns nicht in die Balkonstube, sondern, nachdem er ein Licht angezündet hatte, in eine kleine, fensterlose Kammer, welche, wie es schien, für weggesetzte, unbrauchbar gewordene Gegenstände bestimmt war. Da hingen alle meine Sachen. Außer ihnen war nichts zu sehen als ein alter Kasten, dem man es ansah, daß er von Ur-Urgroßvaters Zeit herstammte. Indem der Ustad auf dieses Gerätstück zeigte, sagte er uns folgende, mir damals unverständliche Worte, die ich aber bald darauf sehr wohl begriffen habe:

»Wenn der Mensch wüßte, wie sehr ihm solche alte, anererbte Sachen schaden, die er in falscher Pietät mit sich durchs Leben schleppt! Für solche „erbliche Belastung“ ist die „Rumpelkammer“ noch viel zu gut! In solchen alten Gegenständen steckt ein ganzes Heer von geistig überkommenen Motten, Bohr- und Rüsselwürmern, welche, wenn man den Kasten öffnet, herausgekrochen und herausgeflogen kommen, um alles, was da Lebenswert besitzt, in zerfressenes Gerümpel und zernagte Lumpen zu verwandeln. Für solche Mottengeister giebt es nichts Heiliges, nichts unantastbar Hohes. Sie zerstören den königlichen Purpurmantel mit derselben Sicherheit, mit welcher sie den Hermelin der Wissenschaft zum kahlen Felle machen. Sie suchen das geistliche Gewand des Emir el Muminin ebenso heim, wie sie sich in der Filzmütze der tanzenden oder heulenden Derwische eingenistet haben. Sie sitzen im Kaftan des Näbi, im Turban des Sahibi Scheriat und in den Pantoffeln aller derer, die im Schatten solcher Vorschrift wandeln. Ganz außerordentliche Anziehungskraft aber hat auf sie das Papier, besonders das aus Lumpen fabrizierte. Man behauptet zwar, daß der Geruch der Druckerschwärze sie vertreibe, doch fand ich oft auch Druckpapier, aus welchem, wenn ich es zum Lesen auseinanderschlug, gleich eine ganze Wolke mich umnachten wollte!«

»Du sprichst in Rätseln,« sagte der Pedehr.

»Wohl dir, daß es für dich Rätsel, aber keine Erfahrungen sind! Du hast es glücklicherweise wohl nur mit materiellen, nicht aber mit solchen geistigen Schädlingen zu thun gehabt, welche es trotz ihrer Mottenarmseligkeit wagen, sich selbst allein für nützlich zu halten, jeden edlen, freien Geist aber zum Ungeziefer zu rechnen! Und an diese Verdrehung der wirklichen Verhältnisse glaubt der ganze, ganze Pelz, in dem die Motten sitzen!«

Sich hierauf mir zuwendend, sprach er weiter:

»Aus diesem Kasten war das Gedeck, von welchem du oben im Walde gespeist hast. Das wurde von dir vielleicht für eine besondere Ehrung gehalten; aber es war etwas anderes. Es ist mein Leichengedeck. Ich ließ es dir zu deinem eigenen Todesmahle vorlegen. So dachte ich! Vielleicht ist es durch dich mein Auferstehungsmahl geworden, zu welchem ich dich, ohne es zu ahnen, eingeladen habe. Und schau hierher! Da hängen deine Gewehre und alle deine Sachen. Warum ? Ich habe dich für gleich mit mir, für meinen geistigen Doppelgänger gehalten. Ich glaubte, du seist ganz denselben Weg gewandelt, den auch ich gegangen bin, und lebest jetzt in deiner „Hosiannazeit“. Ich sah für dich die Zeit kommen, in der du hinaufgeschleppt wirst nach Golgatha, wo die Kriegsknechte sich in dein Gewand und in deine Waffen teilen. Darum trug ich sie herauf und in diese meine Rumpelkammer, um dich zu bitten, ihnen hier freiwillig zu entsagen. Vor solchen Feinden ist’s um jede Waffe schade! Tritt völlig ungerüstet vor sie hin! Des Geistes Harnisch ist zwar unsichtbar, doch keine Motte und kein Rüsselwurm wird sich an ihn wagen! Dies Ungeziefer sucht sich nur an solchem Kram zu ätzen, der wohl auch ohne Mottenfraß von keiner Dauer wäre. – So dachte ich! Doch als ich zu dir kam, hinauf in meine „Gruft“, damit du dich in mir erkennen möchtest, da hörte ich aus deinem Munde Worte, die mir aus jener Welt herüberklangen, in welche ich mich gern mit dir hinüberretten wollte. Bist du vielleicht schon drüben? Hast du den Weg, den unbeschreiblich schweren, auch ohne mich gesehen und erkannt? Hast du nichts von der Menschenfurcht und feigen Scheu gewußt, die einst mich zwang, vor ihm zurückzubeben? Du sprachst so fest, so sicher, so bewußt, als hättest du schon längst erreicht, was ich erreichen wollte und dann doch fallen ließ. Sag mir auch jetzt ein festes, sicheres Wort! Du wirst wohl meine Frage kaum verstehen, doch krallt sich ihre Faust so tief in dich hinein, daß du vor Schmerzen dich zu winden hättest, wenn du in Wirklichkeit mein Doppelgänger wärest.«

Er stand hochaufgerichtet vor mir, das Licht in der Hand, und sah mir mit tief ernstem, forschendem Blicke in die Augen. So, ungefähr so muß das Gericht dem Menschen in die Augen schauen, wenn es einst von ihm sein früheres Leben fordert.

»Sprich deine Frage aus!« sagte ich.

»Du wirst erschrecken!« rief er aus.

»Versuche es!«

Wir standen Mann gegen Mann einander gegenüber. Oder war es Seele gegen Seele, Geist gegen Geist?

»Du bist Old Shatterhand?« fragte er. »Ich habe diesen Namen von meinem Freunde Dschafar gehört.«

»Ich war es,« antwortete ich ruhig aber bestimmt.

Er machte, als er hörte, daß ich sein Präsens in das Imperfectum verwandelte, eine Bewegung der Ueberraschung. Dann fuhr er fort:

»Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?«

»Ich war es,« erwiderte ich abermals.

»Bist es nicht mehr? Beides nicht mehr?«

Bei diesen Worten leuchteten mir seine Augen vor erwartungsvoller Erregung förmlich entgegen.

»Beides nicht mehr!« nickte ich.

»Seit wann? Sage es mir!«

»Seit diese beiden Namen das geleistet haben, was sie leisten sollten und leisten mußten! In diesen zwei Namen habe ich denen, die es lösen wollen, ein Rätsel aufgegeben, aus dessen Thür das von seinen psychologischen Fesseln befreite Menschheits-Ich wie ein im Freudenglanze strahlender Jüngling hervorzutreten hat. Dieses so viel verachtete und so grimmig angefeindete „Ich“ in meinen Büchern hat allen denen, welche Ohren haben, von einer neuen, ungeahnten Welt zu erzählen, in welcher Leib, Geist und Seele nicht ineinander gekästelt und ineinander geschachtelt sind, sondern Hand in Hand nebeneinander stehen und miteinander wirken. Dieses so oft verspottete und so leidenschaftlich verhöhnte „Ich“ in meinen Werken war nicht die ruhmeslüsterne Erfindung eines wahnwitzigen Ego-Erzählers, welcher „unglaubliche Indianer- und Beduinengeschichten“ schrieb, um sich von den Unmündigen und Unverständigen beweihräuchern zu lassen, sondern unglaublich, über alle Maßen unglaublich ist nur die Blindheit derer gewesen, die einen solchen Wahnsinn für möglich hielten, weil sie sich in den ihnen sehr erwünschten Irrtum hineinlogen, daß diese meine Bücher nur zur vagen Unterhaltung der unerwachsenen Jugend, nicht aber ganz im Gegenteile für die geistigen Augen klar und ruhig denkender Leser geschrieben seien. Diesem so kraftvollen und selbstbewußten „Ich“ ist es nicht eingefallen, in den Gassen des geistigen Unvermögens bettelnd an die Thüren zu klopfen, denn von dieser geistigen Armut leben ja grad diejenigen „Ichs“, welche die Lösung meines Rätsels zu fürchten haben. Dieses mein „Ich“ vermied ganz im Gegenteile alle Straßen und Häuserreihen menschenwimmelnder Städte und ging hinaus in alle Welt –«

Da unterbrach mich der Ustad, indem er meinen Arm ergriff und im Tone größter Ueberraschung ausrief:

»Hinaus in alle Welt, um aller Welt zu sagen, daß alle Welt ihr „Ich“ verloren habe? Effendi, Effendi, was höre ich aus diesem deinem Munde! Wer hätte das gedacht! Auch ich war ein „Ich“-Erzähler. Auch ich sandte meine Gedanken hinaus in alle Welt, um – doch nein; davon später! Ich kannte dich nicht. Ich ahnte nur von dir. Es war, als ob ich einem innern Befehle folgen müsse. Und nun sind wir einander gleich, so gleich, so außerordentlich gleich! Wirklich? Wenn in allem, so doch in einem nicht! Ich bin ja noch nicht fertig, dich zu fragen! Mache dich bereit, jetzt die Hauptfrage zu hören! Sie ist fast unglaublich! Soll ich sprechen?«

»Ja!«

»Hier hängt das Eigentum von Kara Ben Nemsi. Willst du mir das alles schenken? So schenken, daß ich es behalten kann? Es ist dann nicht mehr dein. Du bekommst es nie im Leben wieder in die Hände. Es bleibt für alle Zeit in dieser Rumpelkammer, und keinem Menschen wird es je gezeigt!«

Was war das für ein Blick, den er in mein Gesicht förmlich bohrte? Ich mußte an Ahriman Mirza denken, den Teuflischen! Schaute etwa dieser Verführer mich jetzt aus den funkelnden Augen des Ustad an! So höllisch erwartungsvoll! Ja, es war eine große, eine hochbedeutende Frage, welcher ich da gegenüberstand. Ich begriff den Ustad. Die ganze Hölle, gegen welche er einst vergeblich gekämpft hatte, schaute mich jetzt mit diesem seinem Blicke an. Aber ich konnte ruhig sein. Mich sollte sie nicht hindern, den Weg zu gehen, den ich mir ja schon längst vorgezeichnet hatte. Es wurde mir nicht schwer, mich zu entscheiden. Ich hielt dem Ustad meine Rechte hin, schaute ihm ruhig lächelnd ins Gesicht und sagte:

»Gieb mir deine Hand!«

»Nun?« fragte er schnell, indem er sie mir reichte. »Was hast du beschlossen?«

»Wie gern erfülle ich dir deinen Wunsch! Nimm alles hin! Es sei dein Eigentum!«

»Alles – alles?« rief er in unbeschreiblicher Verwunderung.

»Alles!«

»Aber weißt du, was du thust?! Du hörst auf, zu sein, was du warst und was du bist! Du kannst nie wieder solche Bücher schreiben, wie du geschrieben hast! Du stirbst! Du mußt ein völlig andrer werden! Hältst du trotzdem dein Wort?«

»Ich halte es!«

»Unglaublich! Ich erinnere dich noch einmal an die Folgen, Effendi! – Bist du berühmt?«

»Pah! Man spricht von mir. So lange man mich aber nicht begreift, muß es mir gleichgültig sein, was man redet. Wenn man mich falsch versteht, spricht man von einem Falschen, doch aber nicht von mir!«

»Das klingt so wahr, doch aber auch so kühl! Fast möchte ich es verächtlich nennen! Bedenke aber, Effendi: Wenn du nicht mehr in dieser deiner bekannten Weise schreibst, wird man gar, gar nicht mehr von dir sprechen! Dann bist du tot, tot, tot!«

»Du armer, armer Ustad! Was hast du doch für irrige Begriffe von dieser Art von Leben und dieser Art von Tod! Ich habe mich dir geschenkt, so, wie ich da an diesen Nägeln hänge. Diese Embleme meiner bisherigen Tätigkeit, sie sind – ich! Das Ich, welches ich war! Bin ich nun tot?«

»Ja!«

»Du irrst! Ich ging in diesem Augenblicke in ein anderes Leben über, und dieses andere wird ein höheres, schöneres, edleres, unendlich wertvolleres sein. Ich schrieb eine Menge Bücher. Ich ließ mein „Ich“ in ihnen sprechen. Ich wurde nicht verstanden. Ich gab das Köstlichste, was es auf Erden giebt, in irdenem Gefäße. Ich füllte diese Schalen mit einem Rätsel an und ließ die Menschheit trinken. Es tranken Hunderttausende daraus, doch allen war der Trank nichts als nur Wasser. Die Schale täuschte alle! Ich hatte es den Menschen zu bequem gemacht. Man trank gedankenlos und lachte mich dann aus. Das ist der große Fehler, den ich mir vorzuwerfen habe, weiter nichts! Der Sterbliche trinkt lieber Sumpfwasser aus goldenen Gefäßen, als Himmelsnektar aus nur irdenen. Da stieg in mir ein heißes Wallen auf. Es griff ein heiliger, wenn auch stiller Zorn in meine Seele. Nicht daß ich diese irdenen Gefäße nun zertrümmerte, o nein! Ich nahm mir vor, nun goldene zu geben, doch mit demselben Trank, den man für Wasser hielt. Ich habe mir das Gold dazu auf diesem Ritt geholt, der mich zum geistigen Haupt der Dschamikun geführt. Du ahnst wohl nicht, wo ich hier suchte und wo ich es fand. Von heute an werde ich im „hohen Hause“ schreiben – ganz anders als bisher. Und hat man es erkannt, wie thöricht man einst war, so wird man dann zurück nach jenen Schalen greifen, die man zur Seite stellte. Dann leben meine alten Werke auf. Man wird sie mit ganz andern Augen lesen; die Seele tritt hervor, die tief in ihnen lebt. Und wenn man erst den Geist erkennt, der mir die Feder gab, dann wird sie dieser Geist in alle Häuser tragen, in denen sie bisher noch nicht zu sehen waren. – Nun sage mir, o Ustad, ob ich mich für gestorben halten muß!«

Da streckte er mir beide Hände entgegen. Ich sah, daß seine Augen feucht waren, indem er zu mir sprach:

»Sihdi, nicht hier will ich dir sagen, was ich erkennen muß! Wir gehn hinauf zu dir. Doch sage vorher, was mit dem Briefe war, den du uns zeigen wolltest!«

»Er ist nun dein,« antwortete ich.

»Mein?« fragte er verwundert.

»Ja. Er steckt ja dort in deiner Satteltasche.«

»In – meiner – meiner – Satteltasche!« wiederholte er lächelnd meine Worte. »Also du hast mit diesem Geschenke gewiß und wirklich Ernst gemacht?«

»Ja! Es war Ernst. Ich habe dir nichts geschenkt. Du hast mich nur befreit. Soll vielleicht ich nach diesem Briefe suchen?«

»Thue es! – Dann gehen wir hinüber in mein Zimmer.«

Ich fand das Schreiben, dessen sich der Leser wohl noch erinnern wird. Ich gab es dem Ustad und ging dann hinaus, ohne mein bisheriges Eigentum noch einmal anzusehen. Da sagte der Ustad, indem sie mir beide folgten:

»Effendi, du lässest deine Berühmtheit hier zurück. Willst du fortgehen, ohne auch nur noch einen einzigen Blick auf sie zu werfen?«

»Ja,« antwortete ich. »Berühmt! Kennst du diese Art von Berühmtheit? Sie ist dämonischer Natur. Soll sie deine Freundin sein, so verzichte auf dich selbst, und gieb ihr deinen Geist und deine ganze Seele hin!«

»Wie wahr, wie wahr du sprichst!« stimmte er mir bei. »Ich kenne sie. Sie war nicht nur meine Freundin; sie war mir mehr, viel mehr. Und was hat sie von mir gefordert! Welche Opfer habe ich ihr gebracht! Jedem Laffen hatte ich mich vor die Füße zu werfen und vor jedem hohlen Kopfe mich zu verbeugen! Jedem Narren mußte ich gefällig sein, um sie nur nicht zu schädigen, und jeden Dünkel mir gefallen lassen, damit er ihr ja nicht gefährlich werden könne. Meine Tasche mußte für jede Thorheit offen sein, und wenn der Unverstand mich auch mit tausend Albernheiten plagte, ich hatte stillzuhalten nur um ihretwillen. Der Neid stand Tag und Nacht vor mir mit seinen Argusaugen; die Mißgunst schlich mir nach auf allen Wegen, und wo ich mich zur Ruhe setzen wollte, saß schon die Scheelsucht da und jagte mich von dannen. Ich durfte nicht so sprechen, wie ich wollte, und was ich schrieb, das wurde von der Feindschaft falsch gedeutet. Ich habe viel verloren, was ich jetzt schwer beklage, doch daß ich zu dem allen auch sie verlor, nach der ich einst gestrebt mit einer Gier, die ich fast Sünde nenne, das ist mir ein Gewinn, der den Verlust mich gern ertragen läßt. Doch schweigen wir hiervon! Kommt jetzt herein zu mir!«

Als wir in seine Stube traten, hörten wir durch die offenstehende Balkonthür den Hufschritt von Pferden. Die Gefangennahme des vierten Persers war also gelungen. Der Ustad stellte das Licht auf den Tisch und betrachtete den Brief.

»Keine Adresse!« sagte er. »Nur die Zeichen, welche wir vorhin auf der Vorderseite des Alphabetes sahen. An wen ist dieses Schreiben gerichtet?«

»An Ghulam el Multasim,« antwortete ich.

»Woher weißt du das?«

»Ich werde es dir erzählen.«

Wir setzten uns nieder, und ich berichtete in möglichst kurzer Weise über unsere eigentümliche Bekanntschaft mit den Sillan, von unserer Begegnung auf dem Tigris an bis auf den Kaffeewirt in Basra. Hierauf sagte ich auch noch, wen ich hier bei den Dschamikun als zu dieser geheimen Gesellschaft gehörig entdeckt hatte. Die beiden Zuhörer folgten meiner Erzählung mit großer Aufmerksamkeit. Als ich geendet hatte, sah der Ustad eine Zeitlang sinnend vor sich nieder. Dann hob er den Kopf und sagte:

»Effendi, weißt du, was du uns berichtet hast?«

»Nun, was?«

»Ereignisse aus einem Fabellande.«

»Glaubst du, daß ich dichtete?«

»O nein! Der Brief ist ja Beweis. Er liegt als ein Gegenstand, welcher unserer Körperwelt angehört, in meiner Hand. Du hast wirkliche Thatsachen erzählt, nichts hinzugefügt, sondern ganz im Gegenteile sehr viel weggelassen, wie ich vermute. Und doch sprach ich von einem Fabellande. Warum?«

Er sann wieder eine Weile nach. Dann fuhr er fort:

»Fabel und Märchen! Ich frage nicht, was andere Leute sich bei diesen Worten denken. Ich sage, was für Vorstellungen diese Begriffe in mir selbst erwecken. Was Gott den Klugen und Weisen verschweigt, weil sie es ihm nicht glauben, das läßt er den Kindern und Unmündigen erzählen, damit der widerstrebende Verstand von dem ungetrübten Glauben lernen möge. Es schweben zwischen Himmel und Erde Wahrheiten, denen der Zweifel des geräuschvollen Tages verbietet, sich zu der Menschheit herniederzulassen. Aber in der verschwiegenen Nacht, wenn die Zweifel schlafen, gleiten diese Wahrheiten an den freundlichen Strahlen der Sterne herab, um, wie alles Himmlische, wenn es die Erde berührt, sichtbare Gestalten anzunehmen, sobald sie das ihnen verbotene Land erreicht haben. Sie hoffen, in diesen Körperformen vor ihren Feinden sicher zu sein. Sie trennen sich. Die eine Wahrheit geht in Tiergestalt als Fabelwesen durch Wald und Feld, kommt vielleicht auch in Haus und Hof des Menschen, um ihm im Bilde mitzuteilen, was ihm in anderer Weise zu sagen ein Wagnis ist. Die andere ist kühner. Sie nimmt die Form des bekannten Körpers an, der als das Ebenbild Gottes so berühmt geworden ist, und sucht die Städte und Dörfer auf, wo sie sich für ein bescheidenes Märchen ausgiebt, welches man passieren lassen kann. Sie hat scheinbar so gar nicht viel zu sagen, daß man sie gern hier und da zu Worte kommen läßt. Sobald sie spricht, denkt man sich zunächst nichts dabei. Doch wenn sie fortgegangen ist, beginnt man unwillkürlich nachzusinnen. Dann kommt es freilich an den Tag, daß dieses sogenannte Märchen ein Himmelskind gewesen ist, welches, wenn man dies gewußt hätte, fortgewiesen worden wäre. Nun hat es aber doch gesprochen, und was es sprach, sitzt fest! – Du lächelst, Effendi! Warum?«

»Weil du ein Freund dieser himmlisch reinen und irdisch doch so pfiffigen Wahrheiten zu sein scheinst,« antwortete ich. »Auch ich habe sie sehr lieb. Sprich weiter!«

»Kennst du,« fuhr er fort, »das Märchen von dem Sonnenstrahl, der hier auf Erden König wurde und so mild und gut regierte, daß alle seine Unterthanen, sobald sie starben, sich in helle Sonnenstrahlen verwandelten und zum Himmel stiegen?«

»Ich kenne es.«

»Auch das andere Märchen, von dem Schatten des Strahles?«

»Nein.«

»Der Schatten wollte es dem Lichte gleichthun. Er fiel in ein tieferliegendes Land und nahm dort ganz genau die Gestalt des andern Herrschers an. Auch er machte sich zum Könige und ahmte alles wörtlich nach, was der gute Herrscher da oben that und sprach. Aber er war leider nur der Schatten dieses Herrn. Weißt du, Effendi, was ein Schatten ist?«

»Er ist das dunkle Kehrseitenbild derjenigen irdischen Wesen, welche im Lichte des Himmels stehen,« antwortete ich.

Das war freilich keine physikalisch genaue Definition, sollte das aber auch gar nicht sein. Ich ahnte, was der Ustad sagen wollte, und gab ihm die Erklärung, die er dazu brauchte.

»Richtig, sehr richtig!« stimmte er bei. »Der Schatten setzt das Licht voraus. Er ahmt die Gestalt nach, welche in diesem Lichte steht. Aber die Nachahmung ist dunkel, so treu und so genau sie im übrigen auch ausfallen mag. Die Farbenbrechungen des himmlischen Lichtes entgehen dem Schatten ganz und gar. Er ist der finstere, herz- und gewissenlose Doppelgänger von allem Lebenden, was es auf Erden giebt. Ob es wohl in der Geistes- oder Seelenwelt ebenso Schatten giebt wie in der Welt der Körper? Was meinst du wohl, Effendi?«

»Natürlich giebt es sie.«

»Wie denkst du dir das?«

»Stelle etwas Geistiges oder Seelisches an das Licht, um es zu sehen, so wird sich sofort der betreffende Schatten einfinden. Hinter jeder Tugend steht dann das betreffende Laster, welches eine ganz genaue, aber kehrseitige Nachahmung aller ihrer Vorzüge ist. Hinter der weisen Sparsamkeit erscheint dann der Geiz, hinter der Freigebigkeit die Verschwendung, hinter der Wahrheitsliebe die grobe Rücksichtslosigkeit, hinter dem edlen Erwerbsinne der ordinäre Betrug und Diebstahl, hinter der Vorsicht die Feigheit, hinter dem Mute die Unbedachtsamkeit, hinter der Beredsamkeit das Schwätzertum, hinter der Verschwiegenheit die Starrköpfigkeit. Aber ich sehe auch noch andere Schatten stehen: Die rücksichtslose Tyrannei hinter der segensreichen Macht, das Schmeichlertum hinter dem Gehorsam, die Empörung hinter der Freiheit, den Mord hinter der Notwehr, die Scheinheiligkeit hinter der Frömmigkeit, die Schleicherei hinter der Demut, die Prahlsucht hinter der Selbsterkenntnis, den Völler hinter dem Esser, den Säufer hinter dem Trinkenden, den Vagabunden hinter dem Wanderer, den Verleumder hinter dem Richter. Soll ich noch weiter fortfahren, Ustad?«

»Nein; es ist genug,« antwortete er. »Deine Aufstellung war sehr interessant, wahrscheinlich ohne daß du weißt, warum ich dies meine. Du brachtest Tugenden und Untugenden, Zustände und Regungen. Wie kommt es, daß du hieran dann Personen geschlossen hast? Ist das absichtlich geschehen? Wolltest du etwa hiermit aus dem Gebiete „des Geistes“ hinüber nach dem Reiche „der Geister“ deuten? Hast du an das für uns unsichtbare Land gedacht, an dessen Pforte die sterbende Unwissenheit ihre letzten Worte „Von hier giebt es keine Wiederkehr“ ruft? Stand dir jenes Reich vor Augen, welches der Aberglaube mit Gespenstern bevölkert, obgleich er, er, er das allereinzigste Gespenst ist, welches existiert?«

»Ich gab Beispiele,« erwiderte ich. »Eine Unterscheidung lag mir fern.«

»Wohl! Schauen wir also nicht hinüber, sondern bleiben wir bei den Menschen! Jeder, der in der Sonne steht, kann, wenn er sich von ihr abwendet, seinen Schatten sehen. Das ist physikalisch. Aber es giebt auch noch andere Schatten. Ich will ihre Arten nicht aufzählen. Aber eine von ihnen, welche ich die mythologische nenne, möchte ich dir doch zeigen. Sie wurden im alten Griechenland entdeckt und als Erinnyen oder Furien bezeichnet. Sind dir diese Schemen bekannt, Effendi, die höllischer sind, als die Hölle selbst?«

»Nur aus der Mythologie,« sagte ich.

»Du irrst dich. Du hast sie auch im wirklichen Leben gesehen. Sie laufen da allüberall herum! Du hast sie nur nicht durchschaut, nicht definiert. Wenn die Sonne genau in deinem Zenite steht, so hast du keinen Schatten. Der, den du giebst, liegt unter deinen Füßen; man sieht ihn nicht. Aber sobald sie den Gipfelpunkt verläßt, kommt der Schatten unter dir hervorgekrochen und wird umso größer, je weiter sie sich von dir entfernt. In dem Augenblicke, an welchem dein Tag dahinzusterben und die Sonne für immer von dir zu gehen scheint, ist dieser dein Schatten so weit „über alles Menschliche hinausgestiegen“2, daß er die ganze hinter dir liegende Fläche bedeckt und so vollständig verdunkelt, als ob es hier niemals in deinem Leben Licht gegeben habe. Das kannst du bei jedem Sonnenuntergange beobachten. Es giebt aber auch noch andere Sonnenuntergänge. Soll ich dir einen beschreiben? Den meinigen? Und den Riesenschatten, der da hinter mir entstand?«

Er schaute in die kleine, leise hin und her wehende Flamme des brennenden Lichtes, dann schloß er die Augen, als ob er selbst den nur matten Schein desselben jetzt nicht ersehen könne, und sprach dann weiter:

»Mein Morgen war vergangen. Ich hatte Mittagszeit. Die Sonne stand grad über mir. Rund um mich her lag Helligkeit. Es wurde mir zu heiß, so schattenlos in solchem Licht zu stehen. Ich sah mich um. Meine ganze Welt schien Glück und Frieden auszustrahlen. Nur Freundesaugen sahen mich an. Nur Freundeshände griffen nach meiner Rechten. Nur Freundesworte drangen an mein Ohr. Aber es war mir unmöglich, dieses so gänzlich ungetrübten Sonnenscheines in meinem Innern froh zu werden. Ich kannte die alte Sage von jenem neidischen „Erdengotte“, der es nicht duldet, daß der Sterbliche sich glücklich fühle. Ich schaute besorgt empor zur Spenderin all dieses grellen Lichtes. Sie lächelte mir, wie eben noch, in heller Wonne zu. Aber ich sah, daß sie ihre Stellung zu mir aufgegeben hatte. Die Linie von ihr zu mir war schief geworden. Und da begann der „Erdengott“, sich unter mir zu regen. Er hatte sich zu meiner Mittagszeit mit meiner Person so vollständig einverstanden erklärt, daß er seine Dunkelheit gänzlich aufgegeben zu haben schien. Da bemerkte ich, daß die freundlichen Blicke mich verließen und nach unten glitten. Sie schauten hinter mich. Ich blickte an mir herab, bis tief zu meinen Füßen. Was sah ich da?! Einen Kopf, der unter mir hervorgekrochen kam! Er ahmte die Bewegung des meinen nach. Wollte er mich verspotten? Oder haben die Köpfe der Schatten so gar keine Spur von eigenem Gehirn, daß sie, um existieren zu können, auf die Nachäffung lichtdenkender Menschen angewiesen sind? Werden sie, die vollständig gedanken- und urteilslosen, von jenem „Erdengotte“ gezwungen, diesen Menschen jede geistige Form und jede intellektuelle Bewegung abzustehlen und sie im Bodenschmutze zu verzerren, um selbst auch einmal für „Etwas“ gehalten zu werden? Der Kopf kam immer weiter und immer deutlicher hinter mir hervor. Er bemühte sich, dem meinen möglichst ähnlich zu werden. Es war sogar das Bestreben zu erkennen, meine Gesichtszüge wiederzugeben. Aber so oft ich ihm das Gesicht auch zukehrte, ich sah doch nur, daß ihm dies nicht gelang. Diese Schemen haben ja ein- für allemal darauf verzichtet, ein menschenwürdiges Antlitz zu besitzen! Je mehr die Sonne sich von mir entfernte, um so dreister zeigte sich das Phantom. Die Schultern, der Leib, die Arme kamen zum Vorschein, sogar auch die Beine, aber nicht als wirkliche, greifbare, lebendige Gestalt, sondern als wesenloses Trugbild, welches nur so lange stand hielt, als man sich selbst nicht bewegte. Sobald man ihm aber nähertreten oder die Hand ausstrecken wollte, um es zu prüfen, wich es sofort zurück. Dabei war zu bemerken, daß die erst vorhandene Aehnlichkeit der Umrisse sich in ganz genau demselben Verhältnisse verringerte, in welchem das Zerrbild sich vergrößerte. Es verschwanden nicht nur sehr bald diejenigen Konturen, welche möglicherweise hätten auf mich schließen lassen können, sondern die Mißgestalt wurde allmählich so unförmlich und ging nach und nach derart in das Ungeheuerliche über, daß es mir fast wie ein Wahnsinn vorkam, die Stelle, an welcher ich stand, als den Entstehungspunkt derselben zu betrachten. Freilich waren ihre Füße grad da zu sehen, wo ich mit den meinen stand; außer diesem allereinzigen Umstand aber gab es keinen zweiten Grund, anzunehmen, daß diese ultramonströse Ausgeburt in irgend einer Beziehung zu mir stehe. Ich stand auf dieser Stelle aufrecht, selbstbewußt, eine kraftvoll und unabhängig sich bewegende Persönlichkeit! Wie aber der Schatten? Er hatte sich aus dem Schmutze entwickelt, den ich mit Füßen trat! Aus ihm war er unter diesen meinen Füßen hervorgekrochen! Aus ihm hatte er versucht, sich an mir emporzurichten, wohl gar über mich hinaus ins Sonnenlicht zu ragen! Aber es giebt keinen Schatten, der nicht fallen muß! Auch dieser mein ultramonströser Schatten fiel! Er konnte und durfte nichts als fallen – fallen – fallen! Das ist das furchtbare Schicksal jedes Schattens – jeder Dunkelheit – jeder Finsternis! – Und das Selbstbewußtsein? Konnte der Kopf meines Schattens überhaupt Etwas enthalten? Ja? Nun dann aber ganz gewiß nicht ein eigenes Selbstbewußtsein, sondern nur die schattenhafte Verzerrung des meinigen! Infolge dieser Verzerrung glaubte er wahrscheinlich, mich zu haben; aber ich, ich hatte ihn! Er war Schatten; er ist Schatten, und er wird Schatten bleiben! Er braucht volle Menschheitspersonen, um durch sie zu existieren. Finden sie sich nicht ein, um ihn zu werfen, wie man eben Schatten wirft, so kann er es nicht einmal zum bloßen Schemen bringen; er ist ein – Nichts! – Und die kraftvoll und unabhängig sich bewegende Persönlichkeit?

Jeder Schatten bedeutet fehlendes Licht. Ein Mensch, der sich zum Schatten anderer macht, hat seinem Geiste und seinem freien Eigenleben entsagt. Er ist eine unselbständige Dunkelexistenz geworden, die überall, wo Licht vorhanden ist, nach Trübem, Düsterem und Finsterem hascht. Diese Lichtscheu wirkt genau so, wie die Wasserscheu. Sie giebt sich ganz und gar der Tollheit hin und folgt von Schritt zu Schritt, nur um zu – beißen!«

Der Ustad hielt nach dieser längeren Gedankenfolge inne. Man sah es ihm an, daß er keine Bemerkung von uns erwartete. Ich hätte wohl manches einzuwenden gehabt, sah aber keinen zwingenden Grund, dies augenblicklich zu thun. Gegen derartige Ansichten und Anschauungen hat man vorsichtig zu verfahren. Es giebt Meinungsverschiedenheiten, die nicht im Handumdrehen, sondern nur mit Hilfe der Zeit zu beseitigen sind, und hier schien es mir, als ob grad diese Zeit es sei, die solche bittere Gedanken in ihm befestigt hatte. Er fuhr nach dieser Pause fort:

»Hast du, Effendi, einen Mann gekannt, Hadschi Halef Omar, den Scheik der Hadeddhin vom Stamme der Schammar, der bereit war, mit seinem deutschen Sihdi alle Qualen der Erde und der Hölle zu erdulden und tausend-, tausendmal für ihn zu sterben?«

Ich nickte nur.

»Du Glücklicher! Ich hatte keinen, keinen Halef! Ich besaß nicht einen einzigen Freund, der deinem Hadschi auch nur einigermaßen ähnlich gewesen wäre! Und doch gab es so viele, viele, die sich meine Freunde nannten, als ich in der Mitte meines Sonnentages stand! Sie wollten nichts von mir; sie verlangten nichts von mir; sie forderten nichts von mir; aber sie liebten mich alle, alle, alle so wahr, so treu, so innig! Nur eins sollte ich ihnen bringen, weiter nichts, weiter gar nichts: Nämlich Opfer, wieder Opfer und immer wieder Opfer! Und ich brachte sie! Wie gern! Ich liebte ja die Menschen alle, alle! Ich glaubte, daß sie meiner Liebe wert seien. Ich wußte nicht, daß es klug sei, nicht den Einzelnen an sich, sondern die Menschheit in ihm zu lieben. Meine Freunde aber überschüttete ich mit doppelter Liebe! Da kam der Augenblick, an welchem ich bemerkte, daß meine Sonne sich schief zu mir gestellt hatte. Welche unerwartete Wirkung fand sich da ein! Auch an meinen Freunden und sonstigen Bekannten begann jetzt so vieles schief zu werden! Sie dachten schief über mich; sie sprachen schief von mir; sie sahen mich schief an! Die Sonne wich mehr und mehr von mir zurück; mein Schatten wuchs; meine Freunde wurden immer schiefer! Gegen Abend ging es schneller mit der Sonne; mein Schatten füllte hinter mir schon die ganze Strecke bis zum Horizonte aus; meine Freunde waren jetzt so sehr schief geworden, daß gar nicht ausbleiben konnte, was nun geschehen mußte: Sie verloren das Gleichgewicht; sie begannen, auch zu fallen, einer nach dem andern, ganz genau so, wie mein großer Schemen fiel! Wohin fielen sie? Natürlich hinter mich, als meine Schatten, Schatten, Schatten! Ich warf sie fort nach rückwärts, hinweg zu ihm, der sich als „Erdengott“ gebärdete. Er verschluckte sie mit wahrer Orkusgier. Sein Nichts blähte sich nach dem Fraße dieser vielen tausend Nichtse zu einem so undenkbaren Nichtse auf, daß er dünner und immer dünner und endlich ganz unmöglich werden mußte! Es kostete mich schon Mühe, ihn, den Ultradimensionalen, nur noch zu erkennen. Da wendete ich meine Augen von der ebenso still wie unvermeidlich vor sich gehenden, schattenhaften Katastrophe ab. Ich schaute empor. Soeben verschwand die Sonne. Und da geschah das, was an jedem Tag geschieht und was wir doch bis heut noch nicht mit unserm Geist ergriffen haben: Es flammte der Westen in goldener Glut. Sie sprühte gen Himmel in zuckenden Blitzen. Ich tauchte den Blick in die feurige Flut und sah sie die Berge mit Funken umspritzen. Da, als sie mir so das Geheime erschloß, da mußten die Erdenphantome verschwinden: Sie wurden zu nichts; auch das meine zerfloß, und ich ging um „das Licht ohne Schatten“ zu finden!«

Er war da, wo die Sätze sich zu reimen begannen, aufgestanden und hatte stehend gesprochen. Jetzt ging er hinaus auf den Balkon, wohl um die Gestalten, welche in ihm erwacht waren, wieder zur Ruhe zu bringen. Als er dann wieder hereinkam, fragte er mich, indem er vor mir stehen blieb:

»Hast du verstanden, wen und was ich mit diesen meinen Schatten meinte?«

»Ja,« antwortete ich.

»So wirst du durch mich vielleicht die deinen sehen lernen!«

Ich saß ruhig da. Ich antwortete nicht. Aber ich lächelte ihn an.

»Warum bleibst du still?« fragte er.

»Sind Schatten es wert, daß man von ihnen spricht?« antwortete ich.

Er sah mich erstaunt, ja fast betroffen an. Da fuhr ich fort:

»Wenn sie Nichtse sind, wie du behauptest, warum so viele Worte über sie? Für Nichtse giebt es eben nichts. Sie scheinen dir also doch mehr als nichts gewesen zu sein !«

»Das war in der Vergangenheit. Das ist vorüber!« behauptete er.

»Vorüber? – Wirklich?«

»Ja!«

»Und doch erregt dich der Gedanke an sie noch heut in einer solchen Weise, daß du soeben an der Luft gewesen bist, um dich zu beruhigen! Ustad, Ustad! Du sagtest: „Und ich ging, um das Licht ohne Schatten zu finden“! Hast du es gefunden?«

Er trat einige Schritte zurück, schüttelte leise den Kopf, warf ihn dann schnell zurück und fragte mich:

»Etwa du, Effendi?«

»Von mir ist jetzt nicht die Rede, sondern von dir!«

»Es war von dir die Rede, von deinen Schatten! Du hast jedenfalls gar nicht gewußt, daß du welche hattest!«

Da stand nun auch ich auf.

»Mein Freund,« sagte ich, »mein armer Freund! Mir scheint, du hast das Leben ganz verkehrt genommen. Die Nichtse waren bestimmend für dich, nicht aber die inhaltsvolle Wirklichkeit. Du wolltest diese Wirklichkeit beherrschen, wurdest aber leider selbst nur von leeren Schatten regiert. Darum standest du machtlos vor dem Leben, als es sein Turnier mit dir begann, und wurdest von ihm in den Sand gestreckt! Du hattest es vielleicht wohl gar herausgefordert. Du dünktest dich, ein starker Geist zu sein, und wolltest kämpfen gegen andre Geister. Weißt du, was da das Leben that, das riesenstarke, mitleidskluge Leben?«

Er schaute mich fragend an, antwortete aber nicht.

»Es kannte dich. Was wäre wohl geworden, wenn es deine Forderung für Ernst genommen hätte! Es fiel ihm gar nicht ein, sich vor dir im Harnisch aufzustellen.

Es schob dir einen seiner Schatten hin, die du ja selbst jetzt nur Phantome nennst. Was thatest du? Du warfst dein Leben, deinen Geist und deine ganze Rüstung hin, ergriffst die Flucht und gingst in diese Berge, um dich hier in der „Gruft“, in diesem Grabe deines Jugendmutes, und hinter einem fremden Namen zu verstecken! Vor wem? Etwa vor dem Leben, welches dich gar nicht angegriffen hat? Nein, sondern vor jenem Nichtse, das für dich bald ein „Erdengott“ und bald ein nichtiges Phantasma ist!«

Ich hatte in wohl ernstem Tone gesprochen. Da griff er sich mit den Händen nach dem Kopfe, schaute vor sich nieder, ließ die Arme wieder sinken, holte tief, tief Atem und sagte:

»Effendi, du schonst mich wahrlich nicht! Ich sehe und ich höre, du bist mein Freund, mein wirklicher! Solche Klarheit, wie du mir giebst, ist mir noch nie geworden! Willst du mich vernichten, um mich als einen anderen wieder aufzurichten? Wohlan, thue es! Doch erlaube mir, mich in deine Klarheit hineinzufinden! Sie kommt zu plötzlich über mich! Ein Nichts und doch ein „Erdengott“! Ja, ich habe Beides gesagt und mit Beidem dieselbe Person gemeint. Konnte sie beides sein, beides?«

»Ja; sie konnte es. Aber ich bitte dich: Denke nicht an konkrete Personen, niemals, nie! Sondern abstrahiere! Der Bauer reißt die Giftpflanzen aus der Erde und wirft sie auf den Dünger. Der Chemiker aber zieht auch aus ihnen wohlthätige Extrakte. Auch ich kenne sogenannte „Erdengötter“. Ich meine da nicht etwa die wirklich großen Menschen, sondern eben die „Götter“ der Denkfaulheit und Urteilslosigkeit. Für mich aber sind sie nur wie jene Pflanzen: Ich koche ihre Seelen für mich aus, damit die meinige an diesem Trank sich stärke. Andere Gründe ihrer Existenz kenne ich nicht. Sie gedeihen nie im geistigen Sonnenscheine, sondern immer nur da, wo das Reich der Schatten eine seiner Provinzen errichtet hat. Dort sind sie Herr und Meister! Dort giebt es keine Persönlichkeit, kein Wollen und kein Dürfen. Die kleinen Schattlein haben ja alle in den großen zu fallen, um zu huschen und zu schleichen, so, wie er schleicht und huscht. Und wenn er einmal den Mund öffnet, weil dort im Sonnenscheine eine wirkliche Existenz den Mund geöffnet hat, so schau nur hin, was da erscheinen wird! Was dort der lebendige Odem des Geistes war, das ist hier nur der Dunst des lichtlos dunklen Bodens, auf dem der Schatten liegt und kriecht. – Ich spreche im allgemeinen, denn geistige Personen giebt es hier ja nicht. Wie ich auf die Schatten anderer sehr ruhig meine Füße setze, so mögen die andern auch ganz getrost auf den meinigen treten. Sie verletzen damit keinen wirklichen Menschen. Wer ihn aber mit Fußtritten strafen wollte, der wäre ein Thor, weil bei diesen Schemen ja überhaupt kein Stapfen haftet! So lange die Erde steht, haben diese Zerrgebilde sich unter den Füßen des menschlichen Verstandes und der denkenden Vernunft herumgetrieben, aber ich habe noch nicht gehört, daß ein Schatten durch diese Fußtritte nicht Schatten geblieben, sondern Mensch geworden sei. Darum begreife ich, o Ustad, nicht, daß die deinen eine so große Macht über dich besessen haben und heut noch zu besitzen scheinen!«

»Effendi, es waren die mythologischen Schatten, die Furien!« rief er aus.

»Wenn zehnmal und wenn tausendmal! Wer sind die Furien? Giebt es welche, oder leben sie nur in unserer Einbildung? Im letzteren Falle sind sie Geschöpfe meiner Phantasie, und ich kann sie vernichten, wann, wo und wie es mir beliebt. Im ersteren Falle aber frage ich: Wer steht höher, sie oder ich? Sie, die von meinen Fehlern und Sünden leben, oder ich, der ich sie ihnen hinwerfe, um rein oder gut zu werden? Welche Furie darf sich an mich wagen eines Fehlers wegen, den ich nicht mehr habe, weil nun sie ihn zwischen ihren Krallen hält, um sich an ihm zu mästen? Sie lebt von dem, was mir widerlich geworden ist. Sie steht so unendlich tief unter mir, daß ich es gar nicht hören oder sehen kann, wenn die Knochen meiner Sünden unter ihrem Raubgebisse krachen!«

»Aber andere hören es!« warf er ein.

»Wer?« fragte ich schnell und kurz. »Doch nur solche, die ebenso tief da unten wohnen. Die werden allerdings einen zähnefletschenden Jubel erheben, darüber, daß ihresgleichen sich abermals am Sündenaase laben kann. Aber jeder Brave, dem es bekannt würde, müßte es anerkennen, daß du nichts mehr von deinen Fehlern wissen willst. Dies letztere müßtest du ihm aber dadurch beweisen, daß du sie nicht etwa verteidigst, sondern sie den Furienkrallen schweigend überlässest. Nun sag, wie hast du dich verhalten?!«

Da setzte er sich hin, senkte den Kopf, legte die Hände zusammen und antwortete:

»Effendi, ich habe mich gewehrt, gegen diese Furien gewehrt, fast bis zum letzten Reste meiner Kraft!«

»So wundere dich nicht darüber, daß sie sogar noch heute Macht über dich besitzen! Du hast ihnen nicht erlaubt, reine Arbeit zu machen. Ich sage dir: Diese Eumeniden ruhen nicht. Sie werden nicht ohne Ursache mit kralligen Fingern, gifttriefendem Munde und hervorgestreckter Zunge abgebildet. Ihr Gift wird so lange triefen und ihre Zungen werden so lange heraushängen, bis dir der letzte und auch der allerletzte Rest von dem, was nicht hineingehört, aus dem Leibe und aus der Seele gerissen worden ist!«

Da stand er rasch wieder auf, faßte mich am Arme und sagte:

»Wie richtig Effendi! Oh, du scheinst sie doch zu kennen! Weißt du, was so eine Furie tat? Nein, du kannst es nicht wissen, nicht einmal ahnen! Du wirst es für unmöglich halten, aber es ist die volle Wahrheit; du kannst es mir glauben! Als diese Eumenide meine sogenannten öffentlichen Fehler öffentlich verzehrt hatte, war sie noch nicht satt. Sie begann nun auch nach heimlichen Sünden zu suchen. Sie war so unvorsichtig Briefe zu schreiben, in denen sie fragte, ob man vielleicht etwas gegen mich wisse. Man brachte mir solche Briefe. Wenn ich sie nicht gesehen und gelesen hätte, so würde ich heute wahrscheinlich glauben, daß es gar keine Furien gebe. Du siehst also, daß sie nicht bloß mythologische Gestalten, sondern noch jetzt lebende Wesen sind! Schatten, die unhörbar leise hinter meinem Rücken schleichen, um sogar die verborgensten Bewegungen meines Lebens aufzufangen, damit man sie selbst trotz ihrer Dunkelheit für reine, lichte Wesen halte! Glaubst du, was ich dir da erzählte, Effendi?«

Er wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern fuhr fort:

»Du hast gelächelt, und jetzt lachst du gar! Und zwar so eigentümlich! Warum? Du machst mich aufmerksam! Solltest vielleicht auch du – du – du –? Doch nein! In deinem frommen Christenlande kann es ja niemals solche Furien geben! Denn, würde eine entdeckt, so müßte sich die ganze Christenheit, die volle Priesterschaft an ihrer Spitze, erheben, um entrüstet nachzuweisen, daß ihre Liebes-, Gnaden- und Verzeihungsreligion unmöglich Eumeniden dulden kann! Verzeihe mir! Verzeihe mir im Namen deiner Christenheit, daß mir auch nur der Gedanke hieran kommen konnte! Ich sehe zu meinem Erstaunen, daß ich noch Schatten werfe, sogar auf dein geliebtes Abendland hinüber!«

»Beruhige dich!« bat ich ihn. »Der König des Schattenlandes, von welchem dein Märchen erzählte, hat Unterthanen überall. Auch bei uns! Doch will ein solcher Schatten einmal zur Furie werden, so behandeln wir ihn anders, als du deine Eumeniden behandelt hast. Wir lassen ihn sein trauriges Werk vollenden. Wir stören ihn nicht. Es ist ja doch wohl mehr als Strafe genug für ihn, daß er es thut! Wir sagen ihm sogar noch Dank dafür, jedoch nur öffentlich, selbst wenn er heimlich wirkt. Du siehst, wir haben sogar für die Furien nur Liebe und Verstand! Wir Christen wissen nur zu gut: Es kommt die Zeit, in der die Schatten schwinden. Was dann aus ihnen wird, das wissen wir zwar nicht, doch sagt das heilige Buch: „Ihre Werke folgen ihnen nach!“ Und ich, ich möchte dereinst mit solchen Werken nichts zu thun haben. Ich habe mit den Menschen, selbst mit solchen Furien, nachsichtig zu sein, weil ich wünsche, daß Gott dann, wenn es sich um meine Abrechnung handelt, auch gnädig mit mir sein möge!«

Da sagte er in plötzlich ganz anderem Tone:

»Du sprichst von einem „Wir“. Etwa mit Ueberzeugung, Effendi? Spielen wir Komödie miteinander? Denken und handeln wirklich alle Christen so, wie du mit diesem „Wir“ mich glauben machen willst?«

»Komödie?« fragte ich. »Wer hat damit begonnen, ich oder du?«

»Wieso ich?«

Jetzt war er es, welcher bei diesen zwei Worten lächelte. Dieses Lächeln verriet mir, daß es ihm ganz lieb sei, von mir verstanden worden zu sein. Doch drängte ich ihn noch weiter, indem ich sprach:

»Wie war deine Bitte um Verzeihung gemeint, Ustad?«

»Ganz so, wie du willst; ganz so, wie du sie betonst. Man kann mit genau denselben Worten Glauben oder Zweifel, Vertrauen oder Mißtrauen, Lob oder Tadel aussprechen. Es kommt auf den Ton an und auf den Willen dessen, zu dem man redet. Du bist kein Kind. Ich weiß, daß ich nicht nötig habe, gegen dich auch noch in der Betonung deutlich zu sein, wenn ich es schon in den Worten, welche ich wähle, bin. Ich könnte dir eine große Ueberraschung bereiten, wenn ich dir sagte, wer und was meine Schatten, meine Furien waren. Denke jetzt einstweilen nicht an ein bestimmtes Land! Thue das nun selbst, was du mir angeraten hast: Abstrahiere einmal! Ich werde erst später hierüber sprechen. Nur eine Mitteilung, eine einzige, will ich dir heut schon machen. Sie betrifft – doch nein! Auch hierzu bist du noch nicht vorbereitet! Es muß ja alles kommen, wie es kommen soll, aber scheinbar ganz von selbst. Jede Entwickelung, welche Sprünge macht, ist eine falsche. – Bitte, kehren wir lieber und endlich, endlich wieder zu dem Briefe des Multasim zurück!«

Er hatte ihn vorhin fortgelegt. Jetzt nahm er ihn wieder in die Hand, um nun auch die Rückseite zu betrachten.

»Kein besonderes Petschaft!« sagte er. »Man hat den Brief mit einem goldenen Tuman versiegelt. Das kann ein jeder thun, der ein Goldstück besitzt, ist also gleichgültig für uns.«

»Nein,« sagte ich. »In solchen Dingen hat auch der geringste Nebenumstand Wert. Ich pflege darum alles, auch das scheinbar Unbedeutende in Betracht zu ziehen.«

»Meinst du, daß dieser Tumanabdruck uns auf irgend einen Gedanken bringen könnte?«

»Er kann es nicht nur, sondern er hat es bereits gethan.«

»Bei dir?«

»Ja. Denke an die Ringe! Silberne und goldene. Das bessere Metall bedeutet einen höhern Rang. Liegt da nicht die Vermutung nahe, daß es in Beziehung auf den Siegelverschluß ebenso ist?«

»Das ist allerdings nicht unmöglich. Hieran hätte ich nicht gedacht!«

»Je höher der Rang des Schreibenden, ein desto wertvolleres Geldstück hat er zu nehmen. Und weiter! Warum nimmt man keine Petschaft, sondern Münzen?«

»Durch das Petschaft würde man sich unter Umständen verraten. Münzen aber können keinen Anhalt geben.«

»Sehr richtig! Hieraus aber ist darauf zu schließen, daß der Inhalt dieser Art von Briefen, falls sie in falsche Hände kommen, für den Schreiber selbst gefährlich ist. Der Tuman ist die höchste Münze. Der Verfasser dieses Schreibens steht also hoch im Range. Sie ist ferner eine persische Münze. Der Brief aber wurde unten im Irak Arabi aufgegeben, wo türkisches Geld kursiert. Was ist hieraus zu folgern?«

»Daß der Schreiber ein Perser ist, und daß er dieses Goldstück als Petschaft bei sich trägt. Oder nicht?«

»Ja. Schau, wie nun auch dir Gedanken kommen!

Der Tuman wollte dir erst als gleichgültig erscheinen, und jetzt hat er dir schon so viel gesagt!«

»Aber doch ohne Erfolg! Tuman ist Tuman. Es kann nicht ein jeder, der so ein Goldstück besitzt, der Schreiber dieses Briefes sein!«

»Allerdings. Aber bei wem man dieses findet, grad dieses, den darf man doch wohl mit sehr großer Wahrscheinlichkeit für den hohen Sill halten, der ihn abgeschickt hat?«

»Gewiß! Aber von wem könnte man erfahren, daß es grad dieser Tuman, also derselbe und kein anderer sei?«

»Von dem Tuman selbst.«

»Wieso?«

»Betrachte die Siegel genau, so wirst du es wohl finden!«

Er that es, doch, wie es schien, vergeblich.

»Ich sehe nichts Besonderes an diesem Abdrucke,« sagte er dann.

»Gehe über den Rand des Goldstückes hinaus,« unterwies ich ihn. »Was siehst du da?«

»Der Lack ist dick, der Abdruck also tief. An den Rändern giebt es auch Eindrücke, kleine, die wohl zufällige sind.«

»Nein, nicht zufällig. Schau sie genau an, und zwar nicht einzeln, sondern denke sie dir zusammen! Der Tuman hängt an einem dünnen Kettchen, dessen Glieder aus den Buchstaben Sa und Lam zusammengesetzt sind. Weil bei dem Siegeln zu viel Lack genommen worden ist, haben sich einige dieser Glieder mit abgedrückt. Nun ich dir dies gesagt habe, wirst du sie wohl deutlich als die genannten Buchstaben erkennen.«

»Allerdings, allerdings,« bestätigte er. »Nun ich es weiß, sehe ich es auch. Der Tuman hängt an einem Kettchen. Er wird also getragen, um immer bei der Hand zu sein. Aber wo?«

»Suche es! Die Antwort liegt schon bereit.«

»An welchem Orte?«

»Dort auf dem Briefe.«

»Ich sehe nichts!«

»So will ich es dir sagen, damit du auch das dann siehst. Der Tuman hänge am Ringe einer Geldbörse. Das andere Ende des Kettchens ist an diesen Ring befestigt. Das Goldstück steckt stets in der Börse. Wenn er sie durch das Aufschieben des Ringes öffnet, zieht er dadurch zu gleicher Zeit den Tuman hervor. Er braucht ihn auf diese Weise nicht erst unter den andern Geldstücken hervorzusuchen und kann ihn auch nicht irrtümlicherweise ausgeben oder gar verlieren, falls er nicht etwa die Börse selbst verliert.«

»Bist du allwissend, Effendi? Ich sehe nichts von allem, was du sagst!«

»Man sieht es aber doch sofort! Wieviel Siegel hat der Brief?«

»Fünf.«

»Er wurde von rechts unten nach links oben gesiegelt. Der Lack ist ein sehr guter, weicher. Er wird nicht sofort hart. Das Kettchen ist nicht so lang wie der Brief breit ist. Als der Absender links oben das letzte Siegel machte, kam infolgedessen die Börse quer auf die drei ersten Siegel zu liegen. Indem er mit den Fingern den Tuman da oben in den Lack drückte, drückte er zu gleicher Zeit, natürlich aber ohne es zu wollen, mit dem Handballen auf die Börse. Die drei Siegel waren noch nicht ganz kalt und hart geworden, und so kam es, daß von den Maschen des Geldbeutels und von dem untern Teile des Ringes Spuren entstanden, die gar nicht schwer zu bemerken sind. Du darfst nur nicht bloß nach den Abdrücken des Tuman sehen, welche tief liegen, sondern auch die hohen, breiten Ränder des Lackes betrachten; dann wirst du ganz dasselbe bemerken wie ich.«

Er sah genauer nach, gab dann den Brief dem Pedehr und sagte:

»Schau auch du ihn an! Würdest du etwas finden, wenn du nicht gehört hättest, was der Effendi sagte? Und nun sieht man die Maschen ganz deutlich und auch die Stelle, wo der Ring gelegen hat. Und da habe ich geglaubt, sehen zu können!«

»Du konntest auch sehen, aber du dachtest und kombiniertest nicht dabei,« erklärte ich. »Es ist gar nicht so leicht, wie ihr nun vielleicht denken werdet, mit dem körperlichen Auge diese Eindrücke, mit dem geistigen dann aber auch sofort das Kettchen, die Börse und den Ring zu sehen. Nachdem ich vorwärts geschlossen und die Sache gefunden habe, ist es nun für euch nicht schwer, auf diesem meinem Wege rückwärts zu gehen und mir zu bestätigen, daß ich mich nicht geirrt habe. Dein Wunsch, Ustad, ist also erfüllt: Du weißt, wo der Tuman getragen wird.«

»Ja,« lächelte er. »Wenn ich einen Menschen sehe, an dessen Geldbeutelringe, wenn er ihn aus der Tasche zieht und öffnet, an einem Sa– und Lam-Kettchen ein persischer Goldtuman hängt, so habe ich den Verfasser dieses Briefes entdeckt! Mein lieber Effendi, habe doch die Güte, ihn mir so schnell und so sicher zu bringen, wie du uns gelehrt hast, diese Siegel zu verstehen! Kannst du zaubern?«

»Nein. Es giebt überhaupt keine Zauberei. Aber wer zur rechten Zeit und an der rechten Stelle zuzugreifen versteht, dem wird vieles gelingen, worüber andere sich dann laut verwundern. Der Schreiber dieses Briefes ist ein Perser. Wir sind in Persien. Ist es eine Unmöglichkeit, daß er uns irgendwo und irgendwann begegne? Aber ihn dann auch wirklich sehen, ihn erkennen und – dann rasch zugreifen! Das ist es, was wir dann zu thun hätten! Würden wir das?«

»Ich hoffe es!« antwortete der Ustad, indem er den Brief von dem Pedehr zurücknahm. »Aber das Schreiben ist ja noch gar nicht geöffnet! Warum nicht?«

»Weil ich nicht der Adressat bin. Verschlossene Briefe sind mir heilig.«

»Was bist du für ein Mann! War den Schatten vielleicht an dir etwas heilig? Sogar ermordet solltet ihr von ihnen werden! Und nun wagst du dich nicht an dieses armselige Papier, obwohl du weißt, daß ein Schatten es beschrieben hat und daß es höchst wahrscheinlich Dinge enthält, welche guten, ehrlichen Menschen Schaden bringen müssen! Ich werde ihn sofort öffnen!«

Er nahm ihn derart in seine beiden Hände, daß ich sah, er wolle die Siegel erbrechen.

»Halt!« rief ich ihm zu. »Nicht so!«

»Wie denn?«

»Verletze die Siegel nicht!«

»Du meinst, ich solle ihn aufschneiden?«

»Auch nicht!«

»Aber was sonst? Warum diese Einwände?«

»Weil wir Grund haben, bedachtsam zu sein! Es ist möglich, daß wir diesen Brief zu unserem Vorteile brauchen können, entweder gegen den Verfasser selbst oder gegen Ghulam, an den er gerichtet ist, vielleicht auch gegen beide.«

»Um dies zu wissen, müssen wir ihn eben öffnen und lesen!«

»Aber mit Vorsicht! Wie nun, wenn wir nach dem Oeffnen guten Grund fänden, die Schatten glauben zu machen, daß er noch unverletzt sei?«

»Maschallah! Hältst du das für möglich?«

»Gewiß! Wir haben ihn so zu öffnen, daß wir ihn genau wieder so verschließen können, wie er jetzt verschlossen ist.«

»Wer kann das thun! Ich habe kein Geschick zu solchen Dingen!«

Bei diesen Worten reichte er das Schreiben mir. Nun untersuchte ich es sorgfältiger, als ich es früher gethan hatte. Ich war der Meinung gewesen, daß es ein zusammengefaltetes Blatt sei, aus nur einem Stücke bestehend. Als ich den Brief nun gegen das Licht hielt, bemerkte ich, daß er aus zwei Teilen bestand, dem Umschlage und dem eigentlichen Schreiben, welches innen lag. Der Umschlag war kein Couvert in unserm Sinne, mit vier auf die Rückseite geschlagenen und dort zusammengeleimten Ecken, sondern einfach ein zusammengelegtes und mit den Enden ineinander gestecktes Papier, ungefähr so, wie unsere Apotheker die Papierumschläge fertigen, in denen sie ihre Pulver verkaufen. Es gab also auf der Rückseite nicht vier zusammenstoßende Ränder, sondern nur einen, der quer über die Mitte ging. Er war durch das mittelste Siegel verschlossen worden. Die andern vier Siegel erschienen also als vollständig überflüssig, obgleich anzunehmen war, daß man auch sie nicht ohne Grund angebracht hatte.

Es handelte sich also nur darum, den Mittelverschluß zu öffnen, ohne daß dies später zu entdecken war. Als ich das den beiden andern mitteilte, bat der Pedehr mich um den Brief. Er bekam ihn, hielt ihn auch gegen das Licht, griff mit dem Zeigefinger erst rechts, dann links in den Umschlag und sagte lachend:

»Wo sich Gelehrte vergeblich die Köpfe zerbrechen, da findet der ungelehrte Mutterwitz sofort das Richtige. Ich mache auf, ohne ein Siegel anzurühren!«

Er zog auf der einen Seite den nach innen geschlagenen Teil des Umschlages heraus, schob hierauf zwei Finger hinein und brachte das Schreiben hervor. Der Ustad lachte, und ich stimmte ein. Der Pedehr aber sagte ernst:

»Hier zeigt sich wieder einmal, wie wenig sich der Böse auf den Bösen verlassen kann. Und wenn der Ungerechte seine Absichten sogar fünfmal versiegelt, sie kommen trotzdem an den Tag und zwar infolge seines eigenen Leichtsinnes und seiner Unvorsichtigkeit!«

Wir schlugen das Schreiben auf. Wir waren fast begierig, es zu lesen. Wir thaten das zu gleicher Zeit, ich mit meinem Kopfe ganz neben dem des Ustad. Aber schon nach kurzer Zeit erhob er den seinen, ich den meinen. Wir sahen einander verwundert an.

»Kannst du es lesen?« fragte er mich.

»Nein,« antwortete ich.

»Ich auch nicht! Ist dir diese Sprache bekannt?«

»Nein.«

»Auch mir nicht! So können nur ganz wilde Geschöpfe sprechen. Aber die schreiben doch nicht!«

»Es ist Täliq-Schrift!«

»Ganz wohl! Dieselbe Schrift, von welcher wir vorhin –«

Er hielt mitten in der Rede inne, sprang auf, machte eine Gebärde der Ueberraschung und fuhr dann fort:

»Effendi, welch ein Gedanke! Wenn er richtig wäre!«

»So sprich ihn aus!«

»Diesen Brief hat ein Sill geschrieben. Du behauptest, der Multasim sei auch ein Sill und hältst ihn für den Adressaten. Wir haben vorhin bei ihm ein Täliq-Alphabet gefunden. Sollte dieses Alphabet sich etwa auf diesen Briefwechsel beziehen?«

Dieser Gedanke war zwar frappierend, aber ganz natürlich. Wir nahmen das kleine Heftchen vor, schlugen es auf und begannen zu vergleichen. Wie freuten wir uns, schon gleich bei den ersten Buchstaben zu sehen, daß der Ustad mit seiner Vermutung das Richtige getroffen hatte! Es stand in dem Heftchen ganz deutlich, wie das Schreiben, welches wir geöffnet hatten, zu lesen war. Wir hatten sehr einfach die Buchstaben so zu verwechseln, wie es dort angegeben wurde. Indem ich auf meine Umschreibung in das deutsche Alphabet auf Seite 62 dieses Buches zurückgreife, ist dies so zu verdeutlichen, daß t statt a, u statt b, v statt c, w statt d u. s. w. zu lesen war.

Der Ustad holte zwei Papierblätter, für sich eines und für mich das andere. Dann setzten wir uns hin, um die vorgeschobenen Buchstaben in die richtigen zu verwandeln. Als wir damit fertig waren, stellte es sich heraus, daß zwischen den beiden Schreiben nicht der geringste Unterschied bestand.

Nun hatten wir mit dem Sinne der Worte zugleich den Inhalt des Briefes kennen gelernt. Für den Uneingeweihten wäre er selbst jetzt nach der Entzifferung ein Rätsel geblieben. Aber so wenig wir über die Sillan wußten, so war es doch genug für uns, diesen Inhalt zu verstehen. Der Brief lautete folgendermaßen:

»An Ghulam el Multasim, meinen Henker!

Es ist die Zeit gekommen, daß die Gul- ï-Sch ïraz auf der Brust von Rafadsch Azrim zu erblühen hat. Das soll am fünften Tage des Monates Schaban geschehen, zur Zeit des Abendgebetes, keine Stunde früher, keine später. Du brauchst ihn nicht zu suchen. Er wird dir zugeführt, wo es auch immer sei. Du weißt, daß ich zwar unsichtbar, doch auch allmächtig und allgegenwärtig bin! Blüht sie nicht ihm, so blüht sie sicher dir!

Der Aemir-i-Sillan.«

»Welch eine wichtige Entdeckung wir da machen!« rief der Ustad aus, als diese Zeilen laut vorgelesen worden waren. »Wenn man doch wüßte, wer dieser Aemir-i-Sillan ist!«

»Greif nicht sofort zu hoch!« forderte ich ihn auf.

»Wie meinst du das?« fragte er.

»Laß uns, ehe wir Fragen aufwerfen, den Brief erst geistig anschauen! Der Inhalt ist uns verständlich; aber das, worauf er sich bezieht, kennen wir noch nicht. Wir haben es uns zu suchen, auf dem Wege des Nachdenkens. Auf den „Obersten der Schatten“ können wir nur am Ende dieses Weges stoßen. Du aber willst, um ihn sofort zu finden, den ganzen Weg überspringen und machst also einen Salto mortale in das Ungewisse hinein. Jugendlicher Stürmer!«

Da lachte er vergnügt, was ihn bei seinem hohen Alter unendlich rührend machte, und sprach die heitere Bitte aus:

»So führe mich auf diesem Wege an deiner Hand so Schritt für Schritt spazieren, wie es für schwache Greise, wie wir sind, sich geziemt!«

»Ja, komm, und hänge bei mir ein! Wir wollen nach dem Gewaltigen suchen gehen, dem Mord und Rosenduft gleichbedeutend sind, weil sich in ihm, dem schon von weitem nur nach intellektuellem Dünger Riechenden, die Empörung gegen die geheiligte Lebensordnung verkörpert.« »Ob wir ihn aber auch finden werden?«

»Wenn nicht heut, so doch wahrscheinlich morgen. Wir brauchen uns keine Zeit zu nehmen, denn wir haben ja Zeit; es drängt uns nichts! Beginnen wir also von vorn, ganz vorn bei dem Anfang unserer Kenntnis von den Schatten!«

»Das wäre also in jener Tigrisbucht, in welcher die ersten Sillan zu euch kamen?«

»Ja. Welcher Nationalität waren sie?«

»Perser.«

»Gut! Merke dir das! Welchen Titel hatte ihr Anführer?«

»Pädär-i-Baharat, Vater der Gewürze. Er klagte aber darüber, daß er jetzt nur als Sill-i-Safaran, als Schatten des Safrans zu betrachten sei. Auch das war also ein Titel.«

»Bitte, merke dir auch dieses, bis ich darauf zurückkomme! Was hatte er für einen Ring?«

»Einen goldenen. Er bekleidete also eine hohe Charge.«

»Welcher Sill war dann der nächste, den wir trafen?«

»Der Bettler, welcher mit seinem Weibe zu euch auf das Floß kam.«

»Ein Perser?«

»Nein. Er hatte einen silbernen Ring war also ein ganz gewöhnlicher Sill.«

»Weiter! Dann?«

»Der Säfir. Er war Perser und hatte einen goldenen Ring.«

»Bitte, fahre fort!«

»Ghulam el Multasim mit dem goldenen Ringe und Ahriman Mirza mit seiner noch höheren Auszeichnung ,beide aber Perser.« »Du hast die Pascher vergessen, welche wir am Birs Nimrud gefangen nahmen. Hältst du sie für Perser!«

»Nein. Denn sie wurden begnadigt, türkische Zollbeamte zu werden, was wohl nicht hätte geschehen können, wenn sie persische Unterthanen gewesen wären. Warum fragst du bei diesen allen nach der Nationalität?«

»Weil dies der Weg ist, auf dem wir jetzt miteinander spazieren gehen. Die höheren Sillan waren Perser, die niedrigen aber nicht. Du suchst aber nach dem Aemir-i-Sillan. Wenn alle höheren aus Persien kamen, wo ist da wohl mit fast untrüglicher Sicherheit der allerhöchste erst recht zu finden?«

»Natürlich auch in Persien! Das würde für mich sogar eine ganz unumstößliche Gewißheit sein, wenn es nicht einen Umstand gäbe, der gegen diese Annahme spricht.«

»Ich errate, was du meinst.«

»Nun, was?«

»Daß der Brief unten in Korna aufgegeben worden ist, so weit von hier, auf türkischem Gebiete.«

»Ja, das ist es, Effendi. Es folgt daraus, daß der Schreiber desselben entweder da unten im osmanischen Irak Arabi wohnt, oder sich zur Zeit, als der Brief geschrieben wurde, dort aufgehalten hat. Du siehst, daß auch ich mit meinen Gedanken spazieren zu gehen verstehe!«

»Allerdings! Aber man thut das doch nicht mit zugemachten Augen!«

»Höre, ich glaube, sie ganz gewiß offen zu haben! Oder nicht?«

»Nein. Wenn du sie offen hättest, müßtest du doch wohl den Säfir sehen!«

»Den Säfir? Den sehe ich ja, sogar sehr deutlich.

Er befindet sich in den Ruinen von Babylon und hat mit Esara el Awar in Korna, dem das Schreiben übergeben wurde, nichts zu thun.«

»Um so wichtiger aber ist er für die Frage, welche wir beantworten wollen. Sage mir, Ustad, was man unter einem Säfir versteht!«

»Einen Gesandten. Einen Vertrauensmann, welchen man schickt, damit er eine wichtige Angelegenheit erledige.«

»Vollständig richtig! Wer hat diesen Säfir abgeschickt?“«

»Natürlich der Aemir-i-Sillan.«

»Wohin?«

»Hinab nach Babylon.«

»Also nach dem Irak, wo auch Korna liegt und wo der Brief aufgegeben worden ist. Ich habe den letzteren in Basra bekommen. Dort aber hat er wer weiß wie lange bei dem Kaffeewirte gelegen, und von Korna ist er wohl auch nicht sofort abgegangen. Nun bitte ich dich, nachzurechnen! Du kennst unsere Erlebnisse. Frage dich: Wann erschien der Säfir in Babylon? Vergleiche hiermit die Zeit, in welcher der Brief in Korna abgegeben worden sein muß. Was findest du dann?«

»Daß diese Zeiten stimmen, daß sie dieselben sind! Effendi, es scheint, du hast die Augen offener als ich!«

»Warte nur; ich bin noch gar nicht fertig. Ich sehe noch mehr! Wann wurde der Säfir zum erstenmal erwähnt?«

»Bei der Gefangennahme des alten polnischen Bimbaschi in den Ruinen. Da war er auch schon da.«

»Sehr richtig! Er ist also schon vor Jahren und wiederholt im Irak gewesen. Er kennt die dortigen Sillan. Er mußte also auch Esara el Awar kennen, an den der Brief abgegeben wurde. Und nun kommt der Hauptpunkt: Schickt man einen Gesandten dahin, wo man sich selbst befindet?«

»Nein; gewiß nicht!«

»Ist also anzunehmen, daß der Aemir-i-Sillan zu derselben Zeit im Irak war, als sein Stellvertreter sich dort befand?«

»Schwerlich!«

»Hierzu kommt, daß es sich um höchst wichtige Dinge handelte. Die Vernichtung der Karawane des Kammerherrn, die Bestechung des Sandschaki von Hilleh und noch so manches andere erscheint mir jetzt in einem ganz andern Lichte als damals. Ich werde später hierauf kommen. Aber das alles war so wichtig, daß der Aemir-i-Sillan ganz gewiß persönlich gekommen wäre, wenn er sich zu derselben Zeit in dieser Gegend befunden hätte. Ich bin also aus diesen und noch andern Gründen vollständig überzeugt, daß er es nicht selbst war, der diesen Brief in Korna abgegeben hat. Ich nehme vielmehr an, daß dies von dem Säfir besorgt worden ist.«

»Wenn du das in dieser Weise darlegst, muß ich dir recht geben. Aber Ghulam, der Henker, welcher das Schreiben erhalten sollte, war doch in Persien. Warum wurde es ihm nicht direkt geschickt? Warum mußte es einen so weiten Weg über das Ausland machen? Ich begreife das nicht. Etwa du?«

»Ja. Ich glaube, den Grund zu kennen.«

»So bin ich wohl begierig, ihn zu erfahren.«

»Er heißt: Vorsicht! Der Aemir-i-Sillan hat sich zu verstecken. Er hüllt sich in das tiefste Geheimnis ein. Seine persönliche Sicherheit erfordert das. Du hast doch gehört, daß der Pädär-i-Baharat Empörungsgedanken gegen ihn hatte; er sprach von noch anderen, welche ganz derselben Gesinnung seien. Der „Oberste der Schatten“ hat sich also nicht nur vor dem öffentlichen Gesetze, sondern sogar vor seinen eigenen Leuten sehr in acht zu nehmen. Niemand darf erraten, wer er eigentlich ist. Wir wissen ja, daß er stets einen Kettenpanzer trägt, wenn er am „Montag des Soldes“ in die Versammlung seiner sogenannten Pädärahn tritt. Je größere Macht er einem seiner Untergebenen anvertraut, desto mehr hat er selbst ihn dann zu fürchten. Vor wem hat er sich wohl am meisten in acht zu nehmen?«

»Das weiß ich nicht!«

»Nicht? Es ist aber doch so leicht, es sich zu denken! Die Macht liegt nicht im Besitze, sondern in der Ausführung der Gewalt. Die Gewalt über Leben und Tod aber ist die höchste. Kennst du den nicht, der die hierauf bezüglichen Befehle auszuführen hat?«

»Maschallah! Jetzt weiß ich es! Ghulam el Multasim. Er ist ja der Henker! Du dachtest doch an ihn, Effendi?«

»Gewiß! Der Aemir-i-Sillan hat sich vor niemand so zu hüten wie vor seinem Henker, weil dieser der blutige Schatten seiner eigenen Verbrechen ist. Er hat sich unausgesetzt und so sorgfältig vor ihm zu verstecken, daß nicht die geringste Ahnung aufkommen kann, wer der „Fürst“ ist und wo er sich befindet. Und doch hat er ihn ebenso unausgesetzt und sorgfältig im Auge zu behalten, um stets über die Gesinnungen des Henkers genau unterrichtet zu sein. Darum schreibt er ihm hier in dem Briefe: „Du weißt, daß ich zwar unsichtbar, doch auch allmächtig und allgegenwärtig bin!“ Er wird sich also fast immer in der Nähe des Henkers befinden, teils aus Vorsicht und teils, um ihn stets zur Ausführung seiner Befehle an der Hand zu haben und dabei beaufsichtigen zu können. Wer den „Fürsten der Schatten“ finden will, muß zu Ghulam el Multasim suchen gehen!« Da klatschte der Pedehr seine Hände laut zusammen und rief aus:

»Effendi, ich war zwar still bisher, aber ich bin auch mit spazieren gegangen. Es ist ja ganz erstaunlich, was du alles siehst und zusammenholst, wenn man so mit dir geht! Doch sobald man es dann in die Hände nimmt und ganz genau betrachtet, möchte man sich fast vorwerfen, blind gewesen zu sein. Jetzt aber sind auch mir einige Gedanken gekommen, welche ich dir mitteilen möchte. Erlaubst du es?«

»Von Erlaubnis kann keine Rede sein. Ich bitte dich darum,« antwortete ich.

»Ihr habt vorhin noch einige Sillan vergessen. Nämlich die zwei Männer im Khan Iskenderijeh, wo ihr eure Pferde tränktet und von den beiden hörtet, daß die Karawane des Kammerherrn kommen werde. Sie waren keine Perser und hatten nur silberne Ringe. Auch das deutet darauf hin, daß die hohen Sillan sich nur hier in Persien befinden. Ich habe aber einen noch viel besseren Beweis hierfür. Nämlich der Pädär-i-Baharat erwähnte eine Synagoge, in welcher diese Hohen am Montage des Soldes zusammenkommen. Läge diese Synagoge da, wo man arabisch oder türkisch spricht, so hätte er sie ganz gewiß Sinawon, Chawra oder Jähudi Chawrasy genannt. Da er sie aber als Mäjmä-i-Yähud bezeichnete, so ist anzunehmen, daß sie hier in Persien liegt. Ebenso vermute ich, daß die Pädärahn ihren Wohnsitz nicht in großer Ferne von ihr haben können, weil es ihnen sonst nicht möglich sein würde, sich an dem Versammlungstage regelmäßig einzufinden. Giebst du mir da recht?«

»Ja. Grad hierauf wollte ich euch später aus ganz besondern Gründen aufmerksam machen.«

»Und nun die Gewürze,« fuhr der Pedehr fort.

»Die sind mir aufgefallen. Es wurde von einem „Vater der Gewürze“ gesprochen, von einem „Schatten des Safrans“. Auch der Saflor wurde genannt. Der Pädär-i-Baharat sagte: „Warum bin ich für alle Gewürze bestimmt und habe doch nur den Safran bekommen. Muß ich das alles dulden?“ Es scheint, daß die Pflichten und Obliegenheiten eines jeden Pädär mit dem Geruche eines bestimmten Gewürzes bezeichnet werden, und daß der Pädär-i-Baharat die Erfüllung dieser Pflichten zu überwachen habe und dafür besser bezahlt werde als die anderen. Wenn du mir doch erlaubtest, auf diesen „Wohlgerüchen“ bis zum „Rosenduft“ emporzusteigen, Effendi!«

»Thue es!« antwortete ich rasch. »Ich höre, daß du auf dem richtigen Wege bist.«

Er fuhr fort:

»Was die Sillan thun, ist Sünde, ist Verbrechen. Sie beginnen mit dem Schmuggel, den man kaum für ein Vergehen hält, und steigen bis zum Mord hinauf, der schwersten aller strafbaren Thaten. Zwischen diesen beiden liegt gewiß die ganze Reihe der Verbrechen, deren jedes mit einem besondern Geruche bezeichnet wird. Nicht?«

»Jawohl,« nickte ich. »Es giebt wohl keinen Sill, von dem man sagen könnte, daß er „in einem guten Geruche“ stehe! Sprich weiter!«

»Der Duft der Rose bedeutet den Mord. Das wissen wir, seit heute die deine aufgebrochen werden sollte. Der des Safran scheint die Schmuggelei zu sein. Habe ich recht, wenn ich annehme, daß der Brief an den Multasim den Befehl zur Ermordung eines Menschen enthält?«

»Ja.«

»So ist es doch auffällig, daß nicht von der Rose im allgemeinen, sondern von der köstlichen Gul-i-Schiraz die Rede ist!«

»Mir fällt das gar nicht auf. Es ist das einfach eine Steigerung.«

»Eine Steigerung des Mordes? Kann ich, wenn ich jemand totschlage, dies noch steigern?«

»Ich meinte es anders. Der Duft der gewöhnlichen Rose bedeutet die Ermordung einer gewöhnlichen Person. Was für eine Person wird da wohl gemeint sein, wenn man nach der herrlichsten aller Rosen greift?«

»Ah, das ist die Lösung? Es handelt sich nicht um einen gewöhnlichen, sondern um einen wahrscheinlich sehr hochstehenden Menschen!«

»So ist es; ich wenigstens denke es mir so. Du hast unsern Gedankengang mit deiner Erwähnung der Gewürze unterbrochen. Wir waren bei der Ueberzeugung angekommen, daß der Aemir-i-Sillan in der Nähe des Multasim zu suchen sei. Er traut ihm nicht. Er will ihm nicht wissen lassen, daß er nur seine Hand auszustrecken brauche, um ihn zu vernichten. Er will ganz im Gegenteile die Meinung in ihm erwecken, daß er sich persönlich sehr weit von ihm befinde, womöglich gar jenseits der persischen Grenze. Darum hat er diesen Brief durch den Säfir hinunter nach dem Irak Arabi bringen lassen, von wo er dann zurück nach Persien und zu dem Multasim zu kommen hatte.«

Da fiel der Ustad ein:

»Das klingt zwar sehr richtig, doch stößt mir dabei ein Bedenken auf!«

»Welches?« fragte ich.

»Errätst du es nicht?«

»Doch! Wenn meine Ansicht die richtige ist, so muß der Multasim jedenfalls zu erfahren haben, von welchem Orte der Brief kommt?«

»Ja, so dachte ich. Es steht aber nichts davon im Briefe!«

»Sehen wir genau nach. Vielleicht finden wir etwas. Und wenn es auch weiter nichts als nur irgend ein Zeichen wäre. Ein Personenname wird freilich nicht angegeben sein, weil dies zum Verrate führen könnte.«

Wir untersuchten hierauf beide Seiten des Briefes, konnten aber nichts entdecken, selbst gegen das Licht gehalten nicht. Darum nahmen wir hierauf den Umschlag her. Wir hatten bisher nur seiner äußern Seite Beachtung geschenkt. Als wir nun auch die innere betrachteten, da sahen wir allerdings, mit einer feinen Feder ganz an den äußersten Rand geschrieben, in kleinsten Buchstaben einige Worte gekritzelt, die jedem andern als dem Eingeweihten unbedingt entgehen mußten. Sie lauteten: »Durch den Dartschin in Korna von dem Aemir.« Dartschin ist das persische Wort für Zimt.

»Nun?« fragte ich, über diese Entdeckung erfreut.

»Ja; es scheint sich alles, was du schließest, bestätigen zu sollen,« antwortete der Ustad. »Ich habe nicht geahnt, daß man bei einem Spaziergange auf solchem Wege, an welchem fast nichts zu stehen scheint, so schöne und so wichtige Blumen sammeln könne. Es giebt jedenfalls bei den Sillan eine Vorschrift darüber, wo und wie solche Auskünfte beizufügen sind. Aber nun kommt die Hauptsache: Wer ist der, welcher ermordet werden soll?«

»Ich hoffe, daß wir auch das finden werden.«

»Mir scheint es unmöglich!«

»Mir nicht. Es handelt sich jedenfalls um einen hochstehenden Herrn. Du bist am Hofe bekannt. Du wirst die Namen aller hervorragenden Männer Persiens wissen.«

»Die weiß ich allerdings. Aber einen Rafadsch Azrim kenne ich nicht. Dieser Name klingt so arabisch und so persisch, aber einen mir bekannten Mann, der ihn trägt, giebt es nicht.«

»Vielleicht heißt er gar nicht so, sondern anders,« fiel da der Pedehr ein. »Auf dem Umschlage wurde doch auch Dartschin anstatt Esara el Awar gesagt!«

»Aber Rafadsch Azrim ist kein Gewürz!« erwiderte der Ustad.

»Sollte da das Alphabet nicht helfen können?«

Wir versuchten es; aber auch das war vergeblich. Da aber schien den Ustad ein plötzlicher Gedanke zu überkommen. Er nahm den Brief in beide Hände, las und rief dann aus:

»Ich habe es! Wie leicht, und wie aber auch wie gräßlich!«

»Nun, wer ist’s?« fragte ich gespannt.

»Lies selbst! Lies den Namen rückwärts! So leicht! Wie konnten wir nicht hierauf kommen!«

Er wollte mir das Schreiben geben; ich nahm es aber gar nicht, denn man brauchte die geschriebenen Worte nicht zu sehen, um zu wissen, daß der Name Rafadsch Azrim, wenn man ihn von rückwärts liest, Dschafar Mirza lautet.

Da sahen wir uns alle drei nicht nur erstaunt, sondern höchst betroffen an.

»Das ist doch nicht etwa Mirza Dschafar, mein Bekannter?« fragte ich.

»Doch!« versicherte der Ustad.

»Aber dieser war ja nicht Prinz!«

»Er war es. Aber er setzte während seiner großen, mehrjährigen Studienreise den Mirza nicht hinter, sondern vor seinen Namen. Er glaubte Grund zu haben, jedes Aufsehen zu vermeiden. Er reiste im Namen des Schah-in-Schah, und das sollte niemand wissen.«

»Was ist er jetzt?«

»Er hat kein besonderes Amt. Er verzichtet auf alle Ehren und Würden. Er will sich nicht unter Die reihen lassen, welche angeben, die Diener des Beherrschers zu sein, und in Wirklichkeit nur seine Gegner sind. Aber er hat ihm sein ganzes Leben und seine ganze Kraft geweiht, und wo es gilt, das Volk von der Güte und von der Gerechtigkeit seines Herrn zu überzeugen, da ist er stets vorhanden.

»So muß ihn Ahriman Mirza hassen, wenn er ihn kennt!«

»Ob er ihn kennt! Sie stehen einander gegenüber wie Feuer und Eis, wie Licht und Finsternis, wie Liebe und Haß, wie Tugend und Verbrechen.«

»Wo ist Dschafar Mirza jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Kürzlich war er in Teheran beim Schah, der sich jetzt in Isphahan befindet. Vielleicht ist er auch dort. Ich will dir nur sagen: Er ist mein Freund! Das ist genug! Ich muß ihn warnen! Sofort warnen!«

Da legte ich ihm die Hand auf den Arm und sagte:

»Nein! Du wirst ihn nicht warnen!«

»Höre ich recht? Verlange von mir alles, nur das nicht!«

»Ich verlange es!«

Da trat er von mir zurück, sah mir mit ungewissen, fast zornigen Augen in das Gesicht und fragte:

»Soll ich irr werden an dir, Effendi?«

»Werde irr! Doch sei nicht unbedachtsam!«

»Unbedachtsam? Es giebt hier nur eine einzige Bedachtsamkeit, einen einzigen Gedanken, einen einzigen Entschluß und eine einzige Pflicht für mich: meinen Freund zu retten!«

»Das sollst du auch!«

»Ohne ihn zu warnen?«

»Ja. Denn wenn du ihn warnst, so ist er zwar für jetzt zu retten, für später aber wahrscheinlich verloren!«

»Beweise es!«

Da schüttelte ich bedauernd den Kopf und sagte:

»Ich hörte aus deinem eigenen Munde, daß du mich liebest, daß du dich Eins mit mir fühlest. Das war, als ich mich in Todesgefahr befand. Da sagte ich dir, daß, wenn Geister sich küssen, es für sie fortan nur noch einen vereinten Pulsschlag gebe. Und nun? Jetzt? Ist es wirklich Liebe gewesen? Ein Kuß der Geister? Kaum eine Stunde später tritt schon eine andere Gestalt zwischen dich und mich! Die Einheit schwindet, und des Lebens Zwiespalt schiebt uns auseinander! Du willst Beweise! Kannst du nicht vertrauen? Soeben noch gingst du an meiner Hand „spazieren“. Ich zeigte dir, daß ich viel besser und viel weiter sah als du. Da kommt ein Bild aus vergangenen Tagen. Es steigt aus deiner „Gruft“ zu uns empor. Es ist der Schatten, der dich einst regierte. Kannst du ihn bannen? Ja? Versuche es!«

Er stand gesenkten Hauptes vor mir und sagte nichts. Da ließ der Pedehr seine begütigende Stimme hören:

»Zürne nicht, Effendi! Wir vertrauen dir! Wenn du willst, daß Dschafar Mirza nicht gewarnt werden solle, so wird er nicht gewarnt. Du hast deine Gründe!«

»Ja; ich habe sie und will sie euch nun sagen. Wann ist der Tag des Wettrennens, Pedehr?«

»Es ist der fünfte des Schaban,« antwortete er.

»Wann soll Dschafar Mirza ermordet werden?«

»Am fünften des Monats Scha –«

Er kam nur bis zu dieser Silbe, denn da fiel der Ustad schnell und verwundert ein:

»Maschallah! An – an ganz demselben Tage!«

»Merkst du etwas, Ustad?« fragte ich ihn.

»Nein!« gestand er.

»Noch nichts? Sein Blut wird hier bei euch vergossen werden sollen!«

»Effendi!« fuhr er auf.

»Effendi!« rief vor Schreck auch der Pedehr.

»Ich bitte euch, nicht zu erschrecken!« fuhr ich fort. »Es war das anders wohl vorherbestimmt. Als der Aemir-i-Sillan befahl, daß Dschafar Mirza am fünften Tage des Monates Schaban sterben solle, wußte er noch nicht, daß er diesen Tag hier bei euch verbringen werde.«

»Hier bei uns – hier bei uns? fragten beide wie mit einer Stimme.

»Ja, hier im Duar der Dschamikun!«

»Der Aemir-i-Sillan?« rief der Ustad.

»Er selbst?« stimmte der Pedehr ein.

»Er selbst!« bestätigte ich. »Er kommt mit seinem Henker.«

»Der ist doch hier! Den haben wir ja schon!« warf der Ustad ein. »Hast du vergessen, daß der Multasim der Henker ist? Unser Gefangener, oder vielmehr dein Gefangener, dem du es wohl verleiden wirst, jemals wieder hierher zu kommen!«

»Verleiden? Das würde der größte Fehler sein, den ich als euer Freund begehen könnte! Wenn ich mich heut oder morgen an ihm vergreifen wollte, so käme vielleicht schon übermorgen ein ganzes Heer von „Schatten“ über euch, die ich mit dieser meiner That geschaffen hätte! Wir wollen Feinde vernichten, aber keine neuen hervorrufen!«

»Willst du ihn etwa laufen lassen?« fragte der Pedehr.

»Ja,« gestand ich ein.

»Unmöglich!«

»Doch!«

»Den Henker freigeben, welcher Dschafar Mirza ermorden soll! Bedenke, Effendi!« rief er warnend aus.

»Ich habe es bedacht!«

Da sagte der Ustad in beruhigendem Tone zum Pedehr:

»Du vergissest eins: Der Multasim hat den Brief ja nicht erhalten. Er weiß also gar nicht, was der Aemir-i-Sillan von ihm verlangt, und kann es folglich auch nicht thun.«

»Du irrst!« warf ich ein. »Er wird den Brief bekommen.«

»Von wem?«

»Von uns. Wenn auch nicht direkt.«

Da waren sie beide still. Darum hob ich freundlich mahnend den Finger und sagte:

»Pedehr, Pedehr! Noch soeben hast du dich verständig meiner angenommen, und jetzt schaust du mich an, als ob du ganz und gar vergessen hättest, daß „ich wohl meine Gründe haben werde“! Ihr seid mit mir fast durch den ganzen Brief gegangen und habt die Augen immer noch nicht offen. Ich sah euch bei dem Gedanken, daß der Aemir-i-Sillan hierherkommen könne, förmlich erschrecken. Warum doch nur? Er ist ja schon hier gewesen!«

»Wann?« fragte der Ustad im Tone des Unglaubens.

»Vielleicht schon oft, nämlich heimlich. Ganz offen aber heut.«

»Heut –? Wann? Wo? Wie?«

»Mit den Persern. Er ist ja Perser!«

»Effendi, ich weiß nicht, was ich sagen soll!«

»Sage nichts, sondern suche!«

»Wo?«

»Hier in diesem Briefe und in den Reden, welche uns gehalten worden sind. Man soll nicht nur körperlich, sondern auch geistig sehen und hören lernen!«

»Ich sehe nichts, und ich höre nichts!«

»Und doch meine ich grad den Ton, in welchem dieser Brief verfaßt und jene Rede gehalten worden ist. Du sollst ihn jetzt noch einmal hören. Ich bin überzeugt, daß du mir dann sofort den Namen des Aemir-i-Sillan sagen wirst.«

Ich nahm das Schreiben mit der linken Hand hoch, las es in der beabsichtigten Weise vor und ahmte mit der Rechten die heut beobachteten, unendlich selbstbewußten Gesten nach. Kaum war das letzte Wort von meinen Lippen, so rief der Pedehr:

»Der Mirza, der Mirza, wie er leibt und wie er lebt!«

Der Ustad aber holte tief Atem. Seine Augen schienen größer zu werden. Sie schauten durch die offene Thür in die Nacht hinaus, genau mit jenem Blicke, den er in die unsichtbare Ferne gerichtet hatte, als er heut vor der Dschemma unter dem Baume stand.

»Ah – ri – man – Mir – za –!« seufzte er dann. »Wer ist von uns beiden der Hellsehende, Effendi? Als ich heut vor euch stand und diese Stimme hörte, deren Nachahmung dir jetzt so täuschend gelungen ist, da stiegen alte, ferne, ferne Bilder in mir auf. Es ging ein Schatten von mir aus, weit über diese meine geliebten Berge hinüber. Im Westen angekommen, richtete er sich auf, um Gestalt, um Farbe und um Leben anzunehmen. Ich erkannte diese Gestalt und dieses Gesicht: ich war es selbst; es war das meine! Da aber begann es, sich zu verwandeln. Es nahm andere Konturen und andere Züge an, und als sich das vollzogen hatte, als wer stand ich dann da? Als Ahriman, als Ahriman Mirza, der jetzt, in diesem Augenblick, zu meiner Dschemma sprach. Hatte dieser aus meiner Vergangenheit auftauchende Schatten hier in der Gegenwart menschliches Wesen angenommen, damit mir endlich, endlich die Erleuchtung komme, wem ich den raschen Absturz meines Lebensweges zu verdanken habe? Wer warf mich damals nieder? Wer gab mir den Gedanken ein, zu fliehen? Du sagtest, Effendi, daß es nicht das Leben, sondern mein eigener Schatten gewesen sei. Ich hatte ihn so oft, so oft gesehen, doch nie erkannt. Heut zeigte er mir endlich sein Gesicht. Heut war er Ahriman, der geistige „Weltzerstörer“, der mit dem niedern Sinn der blinden Masse kost, um alles ihm Verhaßte zu vernichten.«

»Wohl dir,« sagte ich. »Du hast den Richtigen gesehen!«

»Meinst du es auch? Den Mirza mit dem falschen Prunkgeschmeide? Den Geist der nachgemachten Edelsteine, mit deren Flimmern er der Menge imponiert? Den wohlgesinnten Schmeicheldemokraten, in Wahrheit aber grasser Demagog? Den treuen Förderer des öffentlichen Wohles, der aber nur sein eigenes erstrebt? Den immer hilfsbereiten Volkserbarmer, der aber dieses seines Volkes Seele mit egoistischer Berechnung niedertritt? Den anerkannten Feind und Richter jeder Lüge, der aber doch, sobald sie ihm nur paßt, grad vorzugsweise sie in seinem Stalle züchtet? Ich hätte ihn schon längst erkennen sollen, und bitte dich, Effendi, merk ihn dir!«

Ich machte, ohne zu antworten, ganz unwillkürlich eine Handbewegung, welche ihn zu der Frage veranlaßte:

»Wie meinst du das? Was wolltest du mit dieser Geste sagen? Ich glaubte zwar, du habest ihn bei mir zum erstenmal gesehen, doch da du schon so oft im Morgenlande warst, so ist es möglich, daß du ihm auch früher schon begegnet bist.«

»Im Morgenlande?« lachte ich. »Nein, nein! Doch kenne ich ihn auch; mehr habe ich nicht zu sagen. Du hast ihn gut gezeichnet. Wenn man dich sprechen hört, kann man sich gar nicht irren. Nun aber muß ich dich nach einem fragen: Du hast ihm heut verziehen. Aus welchem Grunde wohl?«

»Verziehen? Ich? Wieso?«

»Du gabst ihm jenes Märchen aus „Tausend und ein Tag“, in welchem selbst der Teufel selig wird. Woher nahmst du die Dichtung, daß die Hölle schon vor der Menschheit auf zum Himmel steige?«

»Verzeihung ist edler als Rache. Weißt du das nicht, Effendi?«

»Ich weiß es. Aber der Verzeihung muß die Reue vorangehen. Das ist Gottes Ordnung! Auch ich habe gefehlt, viel gefehlt. Als ich das erkannte, habe ich bereut und habe gebüßt. Ich war nur ein Mensch, also zu entschuldigen. Ich verzeihe gern, unendlich gern, weil auch mir verziehen wurde. Aber ich bin nicht Gott, der seine Ordnung ändern kann. Soll ich allein bereuen, mein Schatten aber nicht? Ich sage dir, ich hätte ihm ein ganz anderes Märchen erzählt, nicht aus „Tausend und einer Nacht“ und nicht aus „Tausend und einem Tag“, sondern jenen wunderbaren Schluß aus „Tausend und ein Narr“, in welchem der Sultan sie alle zu den heulenden und tanzenden Derwischen sperren läßt!«

Da sah er vor sich nieder, sinnend, längere Zeit. Dann sagte er, wie um sich zu entschuldigen:

»Und die Liebe, Effendi, deine christliche Liebe?!«

»Sei still, Ustad! Wende dich nicht an die meinige; du meinst ja doch die deinige! Die wahre christliche Liebe weiß nichts von Charakterlosigkeit und zweckloser Gefühlsduselei! Sie wirft sich nicht wie ein feiles Weib jedem unwürdigen Leichtsinn in die Arme. Sie lacht und lächelt nicht den ganzen Tag. Sie ist ein ernstes Himmelskind. Sie hat den Ratschluß Gottes auszuführen. Sie weiß gar wohl das, was sie soll und will. Sie trägt das Buch der Gnade in der einen, das Buch der Strafe in der andern Hand. Nun hat der Mensch zu wählen. Die Reue jubelt; die Teufel zittern. Für Narren aber hat sie weder Lohn noch Strafe. Sie läßt sie ohne jede Antwort schwatzen und giebt dem Sultan recht, der sie ermächtigte, in ihren „Tausend und ein Märchen“ vor aller Welt zu heulen und zu tanzen!«

»So, so sieht deine Liebe aus?« fragte er. »Ich denke, Gott läßt seine Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte!«

»Die Sonne da oben, den Himmelskörper, ja. Er giebt sogar dem Ungerechten alles, was er zum irdischen Leben braucht. Aber wenn er das in seiner Güte thut, so hütet er sich in seiner Gerechtigkeit, dies auch auf das andere Leben anzuwenden. Er weiß, daß dann alle Ungerechten den Himmel füllen würden, um die Gerechten nicht hereinzulassen! Nach dieser deiner Liebestheorie würde der Himmel schnell zur Hölle werden, nicht aber die Hölle zum Himmel. Ihre letzte logische Folge ist, daß alles Gute verschwinden und Gott zum Teufel werden müßte. Unsere Bibel spricht nicht ohne Grund von dem Wurme, der nie stirbt, von dem Feuer, welches nie verlischt, und von dem Orte, an welchem Heulen und Zähneklappern ist. Indem du in deinem Märchen die Hölle selig werden ließest, hast du alle diese Qualen für die armen Geschöpfe aufgehoben, die von ihr verführt worden sind. – War das etwa der Inhalt deiner Bücher, die du schriebst? Hast du jene angebliche Gottes- oder Christusliebe gelehrt, welche jedem Schuldigen die Strafe erläßt, nur damit Gott seinen Himmel nicht leer stehen zu lassen brauche? Bist du ein Verkünder jener unüberlegten Barmherzigkeit gewesen, welche die Bösen schont, damit sie gegen die Guten um so unbarmherziger verfahren können? Hast du jene pseudogöttliche Langmut gepredigt, welche das Unkraut ungehindert emporschießen läßt, bis der Weizen erstickt worden ist? Wenn du mir diese Fragen mit ja beantworten mußt, so hast du die Sünde und das Laster, die Selbstgerechtigkeit und die Heuchelei großgezogen und darfst dich nicht darüber wundern, daß diese deine Schatten schließlich dich auch selbst noch überwältigt haben! Du bist für die christliche Schwäche eingetreten, aber nicht für die christliche Liebe! Du hast diese Schwäche durch dein eigenes Leben in das Praktische übertragen und bist durch sie zum Rohre geworden, welches brechen mußte, als es sich nicht mehr tiefer beugen konnte! Du glaubtest, berufen zu sein, dich –«

»Halt ein, Effendi, halt ein!« rief er aus, indem er die Hände abwehrend gegen mich bewegte. »Du hast recht, recht, o wie so recht! Du hast vorhin von Liebesduselei gesprochen. Es war richtig! Ich dusele noch, jetzt noch, heute noch! Als du den Multasim vorhin laufen lassen wolltest, wohl um dann später seinen ganzen Anhang in die Hände zu bekommen, war ich dagegen. Ich wollte seine sofortige Bestrafung, aber mild, schonend. Ich gab ihn scheinbar ganz in deine Hände, aber wenn es deine Absicht gewesen wäre, ihn vollständig unschädlich zu machen, ihn zu vernichten, so hätte ich mich dagegen gewehrt mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen!«

»Wirklich? Das ahnte ich freilich nicht!«

»Es ist so, ganz gewiß! Du siehst, daß ich ehrlich bekenne. Du hast mich in diesen letzten fünf Minuten kuriert. Gefühlsduselei! Wie wahr, wie wahr, wie wahr! In dieser Duselei habe ich mir mein eigenes Mark aus Leib und Geist gesogen. Nun aber soll es anders, anders, anders werden! Ich bin zwar alt, sehr alt, aber noch habe ich Knochen, und noch habe ich Muskeln, nicht nur am Körper, sondern auch am Geiste. Erlaube mir, daß ich mich an dir stähle! Ich richte mich auf. Jawohl! Ich weiß, daß ich es werde! An dir will ich mich heben. Sei du die Hand, an der ich Kraft erlange! Sei du es jetzt, von dieser Stunde an! Ich gehe morgen fort, für eine ganze Woche. Ich bitte dich, an meine Statt zu treten! Du sollst der Herr im „hohen Hause“ sein. In deiner Hand weiß ich mein kleines Reich am besten aufgehoben. Hier mein Pedehr hört, was ich dir jetzt sage. Er wird, was du befiehlst, so auszuführen wissen, als ob ich selbst es ihm befohlen hätte.«

»Du willst verreisen?« fragte ich erstaunt.

»Ja,« antwortete er.

»Darf ich wissen, wohin?«

»Natürlich! Du bist ja nun der Herr, von dieser Stunde an! Ich gehe nach Isphahan, zum Schah-in-Schah. Infolge dessen, was ich heut von meinen Feinden hörte.«

»Vortrefflicher Gedanke!« stimmte ich ihm bei.

»Es freut mich sehr, daß du derselben Ansicht bist. Ich hab es ihnen ehrlich mitgeteilt, daß ich mir an der rechten Stelle Hilfe suchen werde. Sie höhnten wohl darüber. Wer sich allein auf seinen Schah verläßt und dieses ohne Furcht und offen sagt, den wird man zwar verspotten und zum Gelächter machen; doch wenn die Zeit des Schah gekommen ist, dann regt die Schar der Amdschaspands die Schwingen, und Geist um Geist fährt mit dem Schwert darein, dem Kindesglauben Himmelssieg zu bringen!«

Er hatte meine Hand ergriffen und schaute mit einem Blicke aufwärts, in welchem allerdings ein Vertrauen glänzte, dem keines Spötters Worte je imponieren konnte.

»Du willst den Herrscher selbst sprechen?« fragte ich.

»Nur ihn! Zwischen ihm und mir giebt es keine Mittelsperson. Ich sage ihm alles, alles, so wie ein Kind zu seinem Vater spricht. Es ist wie ein Gebet, bei dem ein Dritter doch nur stören würde.«

»Um was willst du ihn bitten?«

»Um nichts. Ich sage ihm, was ich zu sagen habe. Dann thut er selbst, was er für richtig hält. Ich stehe vor ihm aufrecht wie vor Gott. Ich meide jene kriecherische Weise, die auf gebeugten Knieen sich bis zum Throne schiebt, um dort den eignen Vorteil zu erschleichen und dann, wenn sie den Schah verlassen hat, die um ihr Recht Gebrachten zu verachten. Es ist mir also völlig unbekannt, was er für mich und uns bestimmen wird. Doch bin ich überzeugt, daß es weit über alle Wünsche geht, die du für mich im Herzen tragen könntest.«

»Aber der weite Weg! Fürchtest du ihn nicht?«

»Fürchten? Den Weg zu meinem Schah? Wie weit ist doch der Himmel von der Erde! Und täglich steig ich auf, um mit Chodeh zu sprechen! Dem Glauben, dem Vertrauen ist nie ein Weg zu weit und nie ein Herrscher fern! Auch mache ich diese Reise nicht allein. Ich habe Dschamikun an meiner Seite, die mich begleiten werden. Auch geht der Kaufmann mit, der heute bei uns schläft.«

»Agha Sibil?«

»Ja.«

»Sibil heißt Schnurrbart. Ist dieses Wort sein richtiger Name, oder nennt man ihn vielleicht nur seines Bartes wegen so?«

»Wahrscheinlich ist dies letztere der Fall, denn einen Bart, wie er ihn trägt, hab ich noch nie gesehen. Ich halte mich von Kaufgeschäften fern. Ich lasse das gern dem Pedehr hier über. Er kann dir Auskunft geben, wenn du willst.«

Es verstand sich ganz von selbst, daß mir erwünscht war, wo möglich Bestimmtes über den Handelsmann zu erfahren; darum fragte ich den Scheik:

»Kennst du die Verhältnisse dieses Agha Sibil?«

»Ich pflege nicht mit Leuten Geschäfte zu machen, die ich nicht kenne. Er ist reich, sehr reich, aber ehrlich und bescheiden.«

»Hat er Kinder?«

»Eine Tochter und zwei Enkel.«

»Sind die Enkel die Kinder dieser Tochter?«

»Sie sind es.«

»Wenn du die Namen wüßtest!«

»Ich kenne sie, denn wenn ich nach Isphahan komme, pflege ich sein Gast zu sein. Die Tochter heißt Aelmas. Ihr Mann war ein türkischer Offizier, der in Damaskus erschossen worden ist. Ihr Sohn, welcher heut mit seinem Großvater hier bei uns ist, heißt Ikbal, ihre Tochter Sefa.«

»Ist die Tochter verheiratet?«

»Nein. Sie will im Hause Agha Sibils bleiben.«

»Wie kommt es, daß die Tochter eines persischen Kaufmannes in Isphahan die Frau eines türkischen Offiziers in Damaskus geworden ist. Dieser letztere ist doch wahrscheinlich Sunnit gewesen, während sie Schiitin war!«

»Ich glaube, im Kreise der Familie sogar gehört zu haben, daß er vordem Christ gewesen ist. Wenn ich mich nicht irre, stammte er aus dem Lande, welches man Lehistan nennt. Er lernte den Kaufmann in Palästina kennen, wo dieser damals wohnte. Als die Tochter desselben seine Frau geworden war, kam er nach Damaskus. Agha Sibil zog mit. Bei der großen Christenverfolgung dort ereignete sich das schwere Unglück, welches die Familie traf. Der Offizier wurde wegen Ungehorsam erschossen. Agha Sibil wurde vollständig ausgeplündert und mußte als Schiit fliehen. Es gelang ihm, mit der Tochter und deren Kindern nach Persien zu entkommen, wo er ein neues Geschäft begann und es durch Fleiß und Ehrlichkeit zu seinem jetzigen Vermögen brachte. Deine Augen leuchten, Effendi. Warum? War dir von dem, was ich erzähle, vielleicht schon etwas bekannt?«

»Ja,« antwortete ich, indem ich vor freudiger Erregung im Zimmer hin und her zu gehen begann.

»Was? Oder wer?«

»Wer? Der Offizier.«

»Kanntest du ihn, ehe er erschossen worden ist?«

»Nein, sondern als er erschossen worden war.«

»So hast du seine Leiche gesehen.«

»Leiche? Hm! Ja! Denn er war eigentlich eine Leiche. Aber ich habe mit dem Erschossenen gesprochen.« »Maschallah! Tote reden doch nicht mehr!«

»Zuweilen doch! Besonders Erschossene, welche keine Kugel bekommen haben!«

»Keine – Kugel –? Effendi, du scherzest wohl!«

»Ich spreche im größten Ernste. Ich habe mit dem Toten gesprochen, und ihr beide kennt ihn auch.«

»Wir –? Daß ich nicht wüßte!«

»Ich habe euch doch von jenem alten Bimbaschi in Bagdad erzählt, welcher dann Mir Alai geworden ist!«

»Allerdings. Bei dem du wohntest, und der von dem Säfir gefangen genommen wurde?«

»Derselbe! Er ist nun ein doppelter Bekannter von euch, denn ihr kennt ihn erstens durch mich und zweitens durch den Kaufmann Agha Sibil. Ich bin sogar nun überzeugt, daß ihr ihn auch noch persönlich kennen lernen werdet. Er ist nämlich der Offizier, welcher damals in Damaskus erschossen wurde.«

Da fuhr der Pedehr von seinem Sitze auf, als ob er von einer gewaltigen, unsichtbaren Spannfeder emporgeschnellt worden sei.

»Der Christ, um den so viel geweint worden ist?« rief er aus. »Der Sunnit, dem die Schiiten treu geblieben sind, obgleich er starb? Der Mann, der von seinem Weibe angebetet wurde? Der Vater, den seine Kinder heut noch lieben, obwohl sie sich seiner Person nicht erinnern können? Der ist nicht tot? Der lebt noch? Der ist ihnen allen, allen auch ehrlich treu geblieben, trotzdem er in ein anderes Land gegangen war? Effendi, ist das wohl zu glauben! Ich weiß, daß du nicht lügst, doch bitte ich, erzähle uns, wie das gekommen ist!«

»Ja. Ich will und muß es euch erzählen. Ich will euch nicht warten lassen, bis er selbst erscheint, um euch zu beweisen, daß, wenn Gott will, der Tod nur eine leere Sage ist. Setzt euch hier vor mir nieder, und hört, was ich berichte!«

Da sie über den alten Zoll-Bimbaschi schon alles Uebrige von mir erfahren hatten, so brauchte ich jetzt nur über das zu sprechen, was mir von ihm über seine Familienverhältnisse mitgeteilt worden war. Ich schilderte hierauf seine Trauer über die scheinbar Verlorenen und erwähnte schließlich meine Bemühung, die Hoffnung in ihm zu erwecken, daß sie doch vielleicht noch leben könnten. Da stand der Ustad von seinem Sitze auf, legte die Hände langsam ineinander und sagte, indem ein tiefer Atemzug seine Brust schwellte:

»Du hast zu diesem deinem Freunde von einer Auferstehung der „Totgesagten“ gesprochen, und wir sind berufen, diese Auferstehung in das Werk zu setzen. Auch ich kenne einen Totgesagten. Er wird von Vielen, Vielen für tot gehalten. Sie glauben jetzt, daß er in ein anderes Land gegangen sei. Wie denkst du über ihn, Effendi? Du weißt ja, wen ich meine!«

Da fühlte ich, daß ein ganz seltenes Licht in meine Augen kam. Es wallte mir heiß vom Herzen nach dem Kopfe. Ich ging zu ihm hin, schlang meinen Arm um seine Schulter, legte meine Wange an die seine und fragte ihn:

»Wünschest du, daß er von diesem aufgezwungenen Tode auferstehe?«

Er nickte nur, sagte aber nichts. Doch legte er seine Hand an meinen Kopf, um ihn fest an den seinigen zu drücken.

»Wohlan!« fuhr ich fort. »Da wir einmal im Begriffe stehen, die „Auferweckung der Totgesagten“ in das Werk zu setzen, so wollen wir bei dieser Gelegenheit auch ihn mit auferstehen lassen! Ist dir das recht?«

Seine mir jetzt so nahen Augen schauten mit unendlicher Liebe in die meinen.

»Kannst du es? Willst du es?« fragte er.

»Für dich so gern!« antwortete ich.

»Denkst du, daß es geschehen kann?«

»Da wir uns lieben, ist es leicht, so leicht!«

»Wie aber wird es wohl zu machen sein?«

»Ich bitte dich, das mir zu überlassen! Leg deine Hand getrost hier in die meine! Und nun höre, was ich sage: Fühlst du den Mut, den Heldenmut in dir, mir deine Seele, deinen Geist zu schenken, so feiern wir die Auferstehung hier, indem wir ineinander uns versenken!«

Da schlug er beide Arme um mich, zog mich so fest, so fest an sich, als ob unsere Körper nur einen einzigen Leib zu bilden hätten, und antwortete:

»Ich habe den Mut; ich bin dein; nimm mich hin!«

Da verlöschte plötzlich das Licht. Es war vollständig herabgebrannt gewesen. Der Pedehr ging fort, dem abzuhelfen. Als er wiederkam, standen wir mit einander draußen auf dem Söller. Der Ustad hatte soeben mit der Hand auf die vor uns liegende, vom Himmel bestrahlte, kleine Welt gedeutet und gesagt:

»Es ist, als hätte ich das alles für dich vorbereitet, damit den Seelen meiner Dschamikun nun auch der rechte Geist gegeben werde, jener Geist der liebenden Unerbittlichkeit, der mir die Augen öffnete und uns in diesem „Schattenland“ so nötig ist! Du hast mich heut verdoppelt, und dadurch auch die Hoffnung auf den Erfolg. Zwei Ustawat, und doch ein einziger nur! Stelle zwei Kerzen nebeneinander.

Geben sie zwei Scheine? Nein. Es ist nun Doppelkerzenlicht!«

Da trat der Pedehr an die Thür und forderte uns auf:

»Ihr könnt wieder hereinkommen. Es ist nun heller als vorher.«

Wir folgten diesen Worten. Er zeigte nach dem Tische. Da standen jetzt zwei Kerzen statt der einen. Sonderbar! Der Ustad lächelte.

»Siehst du?« scherzte er mir zu. »Seien wir Autoren oder nur Autor, wir liefern die Gedanken, und er als praktischer Pedehr der Dschamikun ist schnell bereit, sie in Gestalt zu fassen. So soll es immer sein. Dann wird es im Duar bald ein bewegtes, frohes Leben geben!«

Er liebte es, in Bildern zu sprechen. Wer ihn verstehen wollte, hatte nachzudenken. So auch hier. Wen oder was meinte er mit den Dschamikun, denen sein ganzes Herz gehörte? Wo lag oder liegt wohl der Duar, über den die „Glocken des Gebetes“ für jeden Wunsch erklangen? In Persien? Ich will es nicht verraten. Die Folge wird es zeigen!

Wir waren mit unserer Besprechung noch nicht fertig, und doch mahnte der Scheik:

»Es ist jetzt wohl schon Mitternacht. Willst du nicht vor der Reise schlafen, Ustad? Und der Effendi steht noch im Genesen. Durchwachte Nächte sind ihm untersagt.«

Da antwortete der erstere: »Ich habe weder Zeit noch Lust zum Ruhen. Was in mir lebt, kennt keine Mitternacht.«

Und ich fügte hinzu:

»Mein Körper ist gewöhnt, dem Willen zu gehorchen. Ich fühle jetzt noch keine Müdigkeit. Die Seele hat die Macht, ihm, dem Geschwächten, ihre Kraft zu leihen. Ich halte aus, bis wir zu Ende sind.«

Da griff der Ustad nach meiner Hand, fühlte den Puls und sagte verwundert:

»Wie ruhig und kräftig! Genau so, wie der meine! Jawohl, ich glaube, daß wir weitersprechen können. Wo waren wir stehengeblieben? Doch wohl bei Ahriman. Der wieder erstandene Offizier brachte uns auf ihn. Willst du hier fortfahren, Effendi?«

»Ja,« antwortete ich. »Ich werde dem alten Mir Alai einen Brief nach Bagdad schreiben. Er bekommt ihn durch einige Dschamikun, welche zu ihm reiten, um ihn mit samt seinem dicken Kepek zu holen. Er hat schon vor dem Tag des Wettrennens einzutreffen. Du erlaubst seinem Schwiegervater, an diesem Tage sein Verkaufszelt hier aufzuschlagen. Ich spreche mit ihm, noch ehe du mit ihm abreisest. Er wird seine Tochter und deren Kinder mitbringen. Das giebt ein Wiedersehen, auf welches ich mich unendlich freue. Ist dir diese Anordnung recht?«

»Was du bestimmst, das ist mir immer recht! Soll Agha Sibil am Tage des Wettrennens überrascht werden, oder willst du ihm schon jetzt alles sagen?«

»Schon jetzt, alles! Es ist Grausamkeit, einem Menschen eine Freude vorzuenthalten, die man ihm sofort bereiten kann. Und so große seelische Erregungen, wie man hier zu erwarten hat, sollen möglichst vorbereitet sein.«

»Ich gebe dir recht. Ist das erledigt?«

»Ja. Nehmen wir also nun Ahriman Mirza wieder vor! Ich habe zu versuchen, den Beweis zu führen, daß er der Aemir-y-Sillan ist.«

»Den hast du schon geführt. Wenigstens für mich ist es so gut wie bewiesen.«

»Wodurch?« »Durch den Ton, in welchem du uns seinen Brief vorlasest. Dieser Ton ist nur der seine. So spricht und schreibt kein anderer. Auch hat er das höchste Sillan-Zeichen, welches wir kennen.«

»Wissen wir denn genau, daß es das höchste ist?«

»Freilich nicht. Es ist ja möglich, daß es ein noch höheres giebt.«

»Nicht nur möglich, sondern ganz gewiß!«

»Effendi! Da widersprichst du dir doch selbst!«

»Nein!«

»Gewiß! Wenn es ein höheres Zeichen giebt, so ist auch ein höherer Sill da. Der es trägt, steht also über dem Mirza!«

»Das ist ein logisch richtiger, aber ein praktisch falscher Schluß. Er trägt sie nämlich beide!«

»Beide? Das sagst du mit solcher Sicherheit? Woher weißt du es?«

»Ich bitte dich, nachzudenken. Als Oberster ist er im Besitze sämtlicher Zeichen, die es giebt. Er hat ja auch den Tuman an der Kette. Ich bin überzeugt, daß er, falls er es für nötig hält, auch den silbernen Ring ansteckt, um sich für einen gewöhnlichen Sill auszugeben. Wenn er dagegen als Aemir in der Versammlung seiner Pädärahn erscheint, wird er das höchste Zeichen tragen. Du hast aber gehört, daß er sich zu fürchten hat. Er wird in dieser Versammlung ganz gewiß sein Gesicht maskieren. Außerhalb derselben, im gewöhnlichen Leben, kann er es nicht verbergen. Wird er sich da durch das Tragen des höchsten Zeichens verraten?«

»Nein, gewiß nicht. Ein Zeichen muß er aber auch da tragen. Warum nimmt er da nicht einen gewöhnlichen Ring?«

»Alter Psycholog!« scherzte ich da. »Weißt du denn noch nicht, daß das Laster selbstgefälliger als die Tugend, die Häßlichkeit eitler als die Schönheit ist? Und grad dieser Mann besitzt eine Gefallsucht, die ihresgleichen wohl kaum wiederfindet. Du hast ja seinen Anzug und sein Pferdegeschirr gesehen. Alles an ihm ist Prunk, Flitter, Prahlerei und Flunkerei! Einen gewöhnlichen Ring wird er nur aus Hinterlist anstecken. Wenn sich solche Leute einmal herablassen, haben sie stets die Bosheit im Nacken sitzen. Für einen seiner Pädärahn gehalten zu werden, das giebt sein Hochmut, sein Eigendünkel nicht zu. Dieser Dünkel läßt sogar die Vorsicht außer Acht. Er steigt bis an die letzte Grenze der Gefahr hinauf. Wenn er sich nicht als „Fürst der Schatten“ zu erkennen geben darf, so soll man ihn aber doch für eine hervorragende Charge halten. Hast du noch nicht gehört, daß sich das Verbrechen unter seinesgleichen größer zu machen strebt, als es in Wahrheit ist? Die Sorge um sein Leben und seine Sicherheit gebietet ihm, sich kleiner zu machen; aber mehrere Schritte tiefer zu steigen, das fällt ihm gar nicht ein. Er thut wahrscheinlich nur einen einzigen. Er ersinnt ein Zeichen, welches scheinbar tiefer weist, aber auch nur scheinbar, denn ich bin überzeugt, daß nur er allein, aber kein anderer ein solches Gürtelschloß besitzt. Wer es sieht, wird ihn für einen hohen Sill halten, wenn auch nicht für den höchsten. Auf diese Weise wird er beiden gerecht, seiner Vorsicht und auch seiner Eitelkeit. Nun aber habe ich eins zu fragen: Er sagte heut vor der Dschemma: „Ihr seht mich jetzt zum ersten Male. Auch mein Name war euch bisher unbekannt. Ihr wißt also nicht, wer und was ich bin.“ Wie konnte er in dieser Weise sprechen? Waren seine Person und sein Name euch wirklich so unbekannt, wie er glaubte?«

»Nein,« antwortete der Ustad. »Er glaubte es auch nicht. Er weiß vielmehr sehr genau, daß besonders ich ihn kenne, weil ich ihn schon öfters getroffen und auch mit ihm gesprochen habe.«

»Das ist es, was ich wissen wollte! Sein Hochmut hat ihn verleitet, mehr zu sagen, als er beabsichtigte. Ihr kennt seine Person und seinen Namen. Das weiß er. Er behauptete trotzdem, ihr wisset nicht, wer und was er sei. Er muß also Jemand und Etwas sein, was außerhalb des Namens Ahriman Mirza liegt. Was ist das nun? Etwas Gewöhnliches oder etwas Bedeutendes. Ich meine das Letztere, denn er sagte in Beziehung hierauf: „Meine Freundschaft kann selig machen, und meine Feindschaft kann verdammen.“ Wer das sagen kann, muß sich für den Höchsten im ganzen Reiche halten! In welcher Beziehung aber ist er dies? In gutem oder in bösem Sinne? Im guten, in gesetzlichem Sinne ist es der Schah. Es bleibt also nur die Kehrseite des Guten, also das Böse. Wer da sagt: „Meine Feindschah kann verdammen“, ist unmöglich ein guter Mensch. Hierzu kommt die Erwägung, daß er das, was ihm seine Macht verleiht, heimlich halten muß. Es ist also etwas Verbotenes, etwas Ungesetzliches. Das sind die einzelnen Posten. Ziehen wir nun die Summe!«

»Laß mich es thun!« bat der Pedehr. »Ich will doch auch mitsprechen!«

»Gut! Thue es!« antwortete ich, weil ich mich über sein Bemühen freute, mir mit Aufmerksamkeit zu folgen.

»Das Ergebnis ist überraschend,« sagte er. »Es giebt zwei Gewalten im Reiche, eine gute und eine böse. Die gute ruht in den Händen des Schah-in-Schah; die böse übt Ahriman Mirza aus. Da aber, wie wir wissen, der Aemir-i-Sillan diese Macht in den Händen hat, so muß Ahriman Mirza der „Fürst der Schatten“ sein. Ist es so richtig Effendi?«

»So ungefähr. Sag, Ustad, bist auch du mit dieser Summe einverstanden?«

»Vollständig! Sie ist richtig!« erklärte er.

»So will ich darauf verzichten, euch weitere Beweisesgründe zu bringen, obgleich ich noch mehrere habe. Für mich sind Ahriman Mirza und der Aemir-i-Sillan eine und dieselbe Person! Auch das stimmt, daß er und sein Henker nahe beisammen sind. Er läßt ihn nicht aus den Augen. Nachdem wir uns hierüber klar geworden sind, kommt ein anderes. Nämlich die Frage: Was will der Mirza hier bei den Dschamikun? Welche heimlichen Gründe und Absichten haben ihn hierher geführt? Diese Frage giebt mir zu denken; ja, sie könnte mir sogar, wie ich fühle, Kopfschmerzen machen!«

»Warum?« fragte der Ustad. »Du siehst etwas zu schwarz!«

»Sag lieber: Ich sehe in das Schwarze! Es ist nicht zu leugnen, daß er direkt hat hierherkommen wollen. Daß er auf diesem seinem Wege auch die Kalhuran aufsuchte, geschah seinem Henker zuliebe. Was wollte er hier?«

»Die Blutrache!« warf der Pedehr ein.

»Die berührte ihn nicht, sondern nur den Multasim. Auch war er schon unterwegs nach hier, ehe es eine Veranlassung zur Blutrache gab.«

»So war es, um die Rede zu halten, die wir von ihm gehört haben!«

»Damit schießest du zwar nicht daneben, aber auch nicht in den Mittelpunkt! Er wollte euch einen andern Scheik geben. Wißt ihr, was das heißt? Er kam zu den Dschamikun, um den segensreichen, geistigen Einfluß ihres Ustad zu vernichten. Und wie glaubte er, dies am besten anfangen zu müssen? Indem er vor allen Dingen den Pedehr beseitigte, dessen Beruf es ist, den Dschamikun die geistigen Erzeugnisse ihres Ustad auf materiellem Wege zu übermitteln. Er sollte durch irgend einen Tifl ersetzt werden, der sich zwar nur einer Kerbelsuppen-Erziehung rühmen kann und einiger Pflaumen wegen die ganze Welt in Aufruhr schreit, aber doch die hochwillkommene Eigenschaft besitzt, für jeden bockbeinigen Gaul und für jede abgetriebene Mähre, die man ihm bringt, ein sattelfester Reiter zu sein! Der Mirza war überzeugt, er brauche den Dschamikun nur solche alte, hartmäulige Gäule und spatkranke Mähren vorreiten zu lassen, um aus ihnen gefügige Massaban3 zu machen!«

»Du weißt, wie er mit diesem seinem Vorschlage von uns abgewiesen worden ist,« versetzte der Pedehr. »Kopfschmerzen würden also überflüssig sein!«

»Denkst du? Er hat sich aber nicht abweisen lassen, sondern er will ihn am Tage des Wettrennens wiederholen und wird da wohl versuchen, seinen Worten in irgend einer Weise Nachdruck zu geben.«

»Es wird aber denselben Mißerfolg haben. In dieser Beziehung braucht es dir nicht bange zu sein!«

»Gewiß nicht! Als ich von dem Mittelpunkte sprach, den du nicht getroffen hast, schwebte mir etwas anderes vor. Ich erwähnte es schon einmal, als ich meine Vermutung aussprach, daß der Aemir-i-Sillan wahrscheinlich schon hier gewesen sei, wenn auch nur heimlich.«

»Solltest du dich nicht wenigstens diesmal irren?«

»Möglich! Denn ich habe keinen Beweis. Es ist nur Vermutung. Aber es giebt Vermutungen, die schon durch den Umstand, daß sie einem überhaupt kommen können, bestätigt werden! Ich habe euch auf den Umstand aufmerksam zu machen, daß euer Duar den Sillan nicht so ganz unbekannt ist, wie ihr zu glauben scheint.«

»Das wäre uns allerdings neu!«

»Mir nicht! Wie hat es der Multasim heut gemacht? Er hat die Pferde nicht weit draußen vom Duar gelassen, wie man doch thut, wenn man die Verhältnisse nicht kennt, sondern er ist erst ganz in der Nähe desselben abgestiegen.«

»Er kannte die Oertlichkeit, weil er heut am Tage zweimal dort vorübergeritten ist!«

»Das macht mich um so bedenklicher! Er traf grad dort auf den Wächter, welcher dann schnell kam, uns zu warnen. Warum hat er nicht angenommen, daß am Abende erst recht ein Wächter da sein werde? Hätte der Sohn desselben nicht zufälligerweise an seine Schafe gedacht, so wäre der Multasim nicht entdeckt worden! Dann schlich er sich quer nach der hinteren Seite des Duar. Er kannte also die Lage desselben genau. Die Häuser und Zelte liegen in zwei Reihen nach dem Aufgange zum „hohen Hause“ hin. Es war kein Mondenschein. Kann da ein vollständig Fremder unbemerkt durchkommen? Sodann der vielgekrümmte Weg herauf zum Hause! Ich kenne ihn. Rechne ich die Länge des Duar hinzu, so hätte ein im Anschleichen geschulter Indianer gewiß wenigstens zwei volle Stunden gebraucht, um bis herauf an das Thor zu kommen. Vom Verlöschen unserer Lichter an bis zum Erscheinen des Multasim war aber nur die Hälfte dieser Zeit vergangen. Der Weg scheint ihm also nicht unbekannt gewesen zu sein.«

»Er hat aber bewiesen, daß er im Anschleichen außerordentlich geschickt ist!«

»Das ändert nichts, denn ich habe einen wenigstens ebenso geschickten Indianer angenommen, und der Henker war ja nicht allein. Es befanden sich zwei Begleiter bei ihm, die durch ihre so prompt besorgte Gefangennahme bewiesen haben, daß sie es nicht einmal verstanden, sich genügend zu verstecken! Nein, nein! Dieser nächtliche Besuch kann unmöglich der erste sein! Ich werde mir den Multasim vornehmen, ehe ich ihn früh entlasse. Vielleicht gelingt es mir, etwas aus ihm herauszufragen.«

Die erwähnten Einwürfe waren mir von dem Pedehr gemacht worden. Jetzt schien der Ustad sich auf etwas zu besinnen. Er richtete die Frage an ihn:

»Wie war es doch mit jenem fremden Perser, den wir hier pflegten, bis sein verstauchter Fuß heil geworden war? Aus welchem Grunde hatte er das Mauerwerk erstiegen?«

»Um nach Altertümern zu suchen,« antwortete der Gefragte. »Er war aus Teheran und hatte dort einen Laden, in welchem solche Sachen verkauft werden. Es war an einem Dienstag früh, als wir ihn fanden.«

»Und da denke ich auch noch an jenen Arzt aus Hamadan, der an einem Montage sich so lange weigerte, bei uns zu bleiben.«

»Der hatte sich verirrt. Man traf ihn, als es schon dunkel war, und führte ihn zu uns herauf. Er wollte sich gar nicht halten lassen, obwohl er keinen wirklich triftigen Grund dazu angeben konnte. Diese beiden Personen kommen hier gar nicht in Betracht. Sie waren ehrliche Leute, aber keine Sillan. Dagegen fiel mir soeben etwas anderes ein. Erinnerst du dich der Peitsche, welche Tifl fand, als er hinüber auf die Mauern stieg um nach wildem Kekik otu für seine Küche zu suchen?«

»Natürlich weiß ich das. Es ist noch gar nicht lange her, und die Peitsche liegt dort hinter meinen Büchern. Ich schrieb den Tag, an welchem sie gefunden wurde, auf einen Zettel dazu, um dadurch vielleicht auf den Verlierer zu kommen. Sie gehörte keinem Dschamiki. Das fiel mir damals nicht auf. Jetzt aber beginne ich, bedenklich zu werden. Fällt dir sonst noch etwas ein?«

»Nein.«

»Mir auch nicht.«

Da rief ich aus:

»Es ist auch genug vollständig genug! Was seid ihr doch für liebe, gute, unbefangene Menschen!«

»Siehst du auch hier einen Grund, Verdacht zu hegen?« fragte der Ustad.

»Einen nur? Zehn, zwanzig Gründe habe ich! Bitte, zeige mir zunächst die Peitsche!«

Er holte sie. Es war eine Reitpeitsche. Am Griffe hing ein Zettel. Darauf stand: Dienstag den 9ten Ssäfär. Dieser Griff war schwarz lakiert. An einer Stelle, wo der Lack abgesprungen war, sah ich helles Blech. Er war also hohl. Der ebenso schwarze Knauf war dick und schwer, jedenfalls mit Blei ausgegossen. Ich versuchte, ihn zu drehen. Es gelang. Als ich ihn heruntergeschraubt hatte, war die Höhlung offen. Es steckte etwas Dunkles darin. Ich zog es heraus. Es war ein Stück schwarzer, dichter, zusammengerollter Seidenstoff, den ich auseinanderzog. Drei Löcher! Für Mund und Augen! Vier Schnuren, um über den Ohren und hinten am Halse zusammengebunden zu werden.

»Was ist das?« fragte ich, indem ich mir die Seide vor das Gesicht hielt.

»Eine Larve!« rief der Pedehr.

»Ja, eine Larve!« bestätigte der Ustad.

»Und von wem habe ich vermutet, daß er jedenfalls maskiert vor die Pädärahn trete?«

»Von dem Aemir-i-Sillan,« antwortete der letztere.

»Am Dienstag gefunden! Wann aber ist der „Tag des Soldes“, von welchem der Pädär-i-Baharat sprach?«

»Des Montags.«

»An was für einem Tage wollte sich der Arzt aus Hamadan nicht bei euch halten lassen?«

»Eines Montag abends.«

»An was für einem Tage wurde der Altertümerhändler mit verstauchtem Fuße angetroffen?«

»Dienstags früh.«

»Ustad! Pedehr! Seid ihr auch jetzt noch blind?«

Sie antworteten nicht. Sie sahen mir, vor Erstaunen starr, in das Gesicht.

»Glaubt ihr noch immer, daß kein Sill bei euch gewesen sei?« fuhr ich fort. »O, es ist sogar noch schlimmer, als ich dachte!«

»Noch, noch schlimmer?!« wiederholte der Ustad meine Worte.

»Ja! Leider! Drei Montage, drei Montage! Bedenkt es doch!«

»Sprich deutlicher!« forderte er mich auf.

»Noch deutlicher? Der Montag ist doch der Versammlungstag der Pädärahn!«

»Chodeh! Chodeh!« rief er da fast schreiend aus. »Auf was für einen Gedanken willst du mich bringen! Es ist unmöglich, ihn zu fassen, und es wäre Wahnsinn, ihn auszusprechen!«

»Und er muß, muß, und muß aber dennoch ausgesprochen werden! Wenn ihr es nicht wagt, so werde ich es thun: Es sind nicht nur Sillan bei euch gewesen, sondern sie verkehren ganz regelmäßig hier. Ja, die Obersten der Sillan, die man Pädärahn nennt, halten an den „Montagen des Soldes“ ihre Zusammenkünfte hier auf euerem Gebiete, wahrscheinlich in den Ruinen, in denen diese Peitsche gefunden worden ist!«

Der Eindruck dieser meiner Worte ist gar nicht zu beschreiben! Es war, als ob die beiden, zu denen ich sie gesagt hatte, vollständig sprachlos geworden seien.

»Und in diesen Versammlungen pflegt der „Fürst der Schatten“ persönlich zu erscheinen!« fuhr ich fort. »Er ist hier gewesen. Er läßt sein Gesicht niemals sehen. Er hat diese Larve getragen. Diese Reitpeitsche ist die seinige. Ob er sie verloren oder vergessen hat, das ist mir gleich. Er fand sie der Dunkelheit wegen nicht wieder, und bis zum hellen Tage konnte er nicht verweilen, weil er sonst von euch gesehen worden wäre. Kam denn der Arzt aus Hamadan zu euch geritten?«

»Nein. Als er getroffen wurde, war er zu Fuße,« antwortete der Pedehr kleinlaut.

»Aber er kann doch nicht den weiten Weg von Hamadan hierher gelaufen sein!«

»Freilich nicht. Er hatte ein Pferd.«

»Wo?«

»Es war weit draußen vor dem Duar am Ufer des Sees angepflockt.«

»Ich vermute, daß der Altertümler auch eines gehabt hat?«

»Ja.«

»Wo?

»An derselben Stelle.«

»Habe es mir gedacht! Und das ist euch nicht aufgefallen?«

»Mußten wir es nicht für einen Zufall halten?«

»Zufall! Es giebt ja überhaupt keinen Zufall.

Alles, was sich ereignet, geschieht aus gewissen Gründen oder nach einem bestimmten Willen. Wille und Gründe aber schließen jeden Zufall aus. Das sollte man doch endlich einmal einsehen! Und selbst wenn du an das Vorhandensein des Zufalles im allgemeinen glaubtest, so konnte doch in diesen beiden besonderen Fällen von ihm keine Rede sein. Man hatte die Pferde doch nicht aus Zufall zurückgelassen, sondern jedenfalls in der ganz bestimmten Absicht, sie zu verstecken, damit sie nicht gesehen werden sollten. Wenn die Pädärahn kommen, so müssen sie nach einem solchen Ritte vor allen Dingen ihre Pferde tränken. Darum steigen sie am See ab, wahrscheinlich immer an derselben Stelle. Ich werde sie mir zeigen lassen.«

»Darf ich dich hinbegleiten?« fragte er.

»Ja. Doch sage keinem Menschen etwas davon!«

»Nicht? – Warum?«

»Die Sillan, welche hier im Duar wohnen, könnten es erfahren.«

»Effendi, du bist – toll, hätte ich beinahe gesagt! Du glaubst an das geradezu Unmögliche!«

Er sagte das in größter Aufregung. Doch um so ruhiger sprach ich weiter:

»Ich bin überzeugt, daß das, was ich vermute, nicht stattfinden könnte, wenn die Feinde hier keine Helfershelfer hätten.«

»Wenn das wahr wäre, so hätten diese sich doch des am Fuße verletzten und auch des in der Nacht verirrten Sill angenommen!«

»Hatte sich der Letztere wirklich verirrt? Als er ertappt wurde, sagte er dies als Ausrede. Wer so nahe am Duar vom Pferde steigt und es an den See zur Tränke führt, der will erstens den Duar überhaupt vermeiden und könnte sich zweitens auf keinen Fall verirren, weil er die Zelte und Häuser grad vor der Nase liegen hat. Und wer in den Ruinen herumkriechen will, um nach Altertümern zu suchen, der thut dies doch wohl nicht des Nachts, nachdem er sein Pferd so sorgfältig versteckt hat. Er kommt des Tages, um sich als Fremder Auskunft, Erlaubnis und einen Führer zu erbitten! Ihr seid von einer Arglosigkeit gewesen, die geradezu kindlich ist. Du meinst, die hiesigen Sillan würden sich des Altertümerhändlers angenommen haben. Ich aber denke mir, daß sie von seinem Unfalle nichts wußten.«

»Ich kann dennoch deinen Verdacht nicht zu dem meinigen machen. Es giebt bei uns keinen Menschen, der den Ring der Sillan trägt.«

»Weißt du das so genau?«

»Beschwören freilich könnte ich es nicht. Ich weiß nur, daß ich nie einen Ring mit diesem Zeichen gesehen habe.«

»Das halte ich ja gar nicht für erforderlich. Es trägt ganz bestimmt nicht jeder Sill einen Ring. Wer einen hat, ist gewiß ein Sill. Ebenso gewiß aber ist es, daß nicht jeder Soldat, dem die Tapferkeitsmedaille fehlt, nicht als Soldat zu gelten habe.«

»Das ist ja ein neuer Gedanke! Du hältst den Ring also nicht für ein Erkennungs-, sondern für ein Anerkennungszeichen?«

»Ja. Der Fürst der Schatten wird sich hüten, jedem seiner Sillan, also auch denen, die sich noch gar nicht bewährt haben, einen Ring zu geben! Wenn du bei einem Menschen das Kainszeichen gewahrst, so darfst du getrost annehmen, daß er kein Anfänger im Bösen ist! Hat bei euch noch niemand es zu diesem Zeichen gebracht, so ist das noch kein Beweis, daß es unter euch gar keine Sillan gebe! Bei der Arglist, mit welcher der Aemir verfährt, ist es sogar möglich, daß man Sill sein kann, ohne es bestimmt zu wissen. Ja, du darfst nicht einmal von dir selbst behaupten, daß du noch nie in irgend einer Weise in seinem Dienst gestanden habest! Du hörst, daß ich keinen deiner Dschamikun direkt verdächtigen will; aber ich frage dich, ob du vielleicht behaupten willst, daß in eurem kleinen Reiche nichts als nur Licht vorhanden sei!«

»Leider ist dies nicht der Fall. Diese ganze Gegend war früher von den Massaban besetzt, jenen „Unglücklichen“, welche verführt worden waren, auf allen möglichen Irrwegen für ihre „Unterhaltung“ zu sorgen. Sie stürzten sich vollständig skrupellos über alles her, was ihnen in die Hände kam, und selbst der edle Lumpenhändler, der hier des Weges fürbaß zog, war ihnen noch willkommen und konnte dann mit leeren Händen weitergehen.«

Als der Pedehr bis hierher gekommen war, ergriff der Ustad, der zuletzt geschwiegen hatte, mit neu erwachter Lebendigkeit das Wort:

»Es war die schlimmste Wegelagerei, die man sich unter Menschen denken kann, und niemand war hier seines Eigentums sicher. Es gab bei dem Gesindel kein Bedenken und keinen Unterschied. Heute fiel man über einen Reichen her, und morgen wurde dann in ganz derselben Weise ein armer Schelm bis auf das letzte ausgeplündert. Ich glaube fast, man hätte nicht einmal das geistige Eigentum geachtet und selbst die Manen eines Schiller, Goethe um ihre „Jungfrau“, ihren „Faust“ beraubt! Am liebsten hielten sich die Massaban da drüben in den alten Mauern auf, in denen einst die Frömmigkeit verschwundener Völker wohnte. In diesem Schutze wußten sie sich sicher. Und wie sie dort gehaust, das kannst du sehen, wenn du hinüber gehst, um Heiliges zu suchen. Du findest nichts, als nur die Ueberbleibsel der Zerstörung, die alles einst Erhabene vernichtet hat!«

Jetzt warf er einen forschenden Blick auf mich und fragte:

»Hast du verstanden, was ich sprach, Effendi?«

»Ja,« antwortete ich. »Ich habe ja nach diesen Massaban nicht weit zu suchen, grad ich! Sie haben ja auch mich bis auf die Stiefel ausgezogen, obgleich ich doch kein Schiller und kein Goethe bin. Ich traute ihrem scheinbar ehrenhaften Dinarun-Gebaren. Dann aber sah ich freilich ein, daß es ihnen nur daran lag, sich meine Person und meine Waffen gegen brave Menschen dienstbar zu machen. Da begleitete ich sie denn in ihre eigene Falle, den Todessprung nicht scheuend, der über ihren Abgrund mich zu bringen hatte. Jetzt hörst du wohl, daß ich begriffen habe, wen du meintest? Sie hatten noch die Blödigkeit, mich vor diesem Sprung zu warnen, ich aber that ihn doch und ließ sie in dem „Tal des Sackes“ stecken.«

»Und rettetest dich grad in jene Gegend, von welcher aus sie einst ihr lichtscheues Rittertum betrieben hatten!« fügte der Ustad hinzu. »Könntest du den Haß ermessen, den sie auf mich warfen, als sie sich von mir aus dieser Gegend verdrängt sahen! Sie, die sich unter einander selbst nie etwas gönnten, sich unaufhörlich mit einander herumbissen und gegenseitig stets die Zähne fletschten, sie fühlten sich sofort als liebe Herzensfreunde, sobald es galt, sich gegen mich zu wenden. Du kennst ja ihren allerletzten Zug, den sie, mich zu verderben, unternahmen! Da waren alle schnell bereit, und keiner wollte fehlen! Sogar die Weiber schlossen sich mit an! Und alles, was man sonst „Bagage“ heißt, das wurde mit den Ochsen und mit den Eseln hintendrein geschleppt, um an dem leicht erhofften Siege teilzunehmen! Das ist so ganz, so recht die Weise dieser Leute, die ich zwar nur als Massaban, als „Unglückselige“ bezeichnen lasse, weil ich auch noch im Feind den Menschen sehe, doch dürften auf sie wohl auch noch ganz andre Namen passen, die weniger als dieser den Klang der milden Nachsicht haben! – Es war kein leichtes Werk, ihr einstiges Gebiet von ihnen ganz zu säubern. Sie gaben es ja nicht freiwillig auf. Wir hatten schwere Kämpfe zu bestehen. Und als sie mit Gewalt nichts mehr erreichen konnten, da griffen sie zur List. Ich bin nie den Gedanken los geworden, daß hier in den Ruinen noch etwas steckt, wovon sie angezogen werden. Vielleicht so etwas Aehnliches wie unten im Birs Nimrud, was dort von euch gefunden und an das Tageslicht gezogen wurde. Wir haben noch nach langer Zeit die Spuren fremder Füße im alten Bau gesehen, und noch bis in die Gegenwart kam es zuweilen vor, daß sich hier Leute niederlassen wollten, die ich nach stiller Prüfung wieder gehen hieß. Es waren auch Verwandte von einigen der Dschamikun dabei, die mir es, wie es scheint, nicht ganz vergessen können, daß ich den fremden Anhang nicht geduldet habe. Und das wird es wohl sein, was der Pedehr mit der Bemerkung meinte, daß auch bei uns nicht lauter Licht vorhanden sei.«

Als er dieses sein Geständnis ausgesprochen hatte, knüpfte ich schnell an dasselbe an:

»Was du jetzt gesagt hast, führt mich auf die Frage zurück: Was will der Mirza eigentlich hier? Warum ist ihm grad diese Gegend so wichtig, daß er alle seine sonstige Vorsicht vernachlässigt, nur um den früheren Einfluß wieder zu gewinnen?«

»Ich weiß es nicht. Kannst du es dir wohl denken? Vermuten kann ich auch, doch klar zu sehen ist mir noch nicht möglich.«

»Vergegenwärtige dir seine Reden! Er hat uns ja in Dreistigkeit sein bisher stets verschwiegenes Programm entwickelt. Daß er, der Schlaue, heut zu dieser Dummheit förmlich hingerissen wurde, das muß uns doch verraten, wieviel für ihn hier auf dem Spiele steht! Ihm widerstrebt die geistige und sittliche Kultur. Wo sie erblüht, hat er die Macht verloren. Er muß den Stumpfsinn pflegen, der weder sieht noch hört, und mit ihm jene Unzufriedenheit, die stets nach Hilfe schreit, weil sie zu faul und unerfahren ist, sich selbst zu helfen. Er muß den wahren, unverfälschten Gottesglauben töten, der Kraft und Mut zum Lebenskampf verleiht, dagegen aber jene Schwachkopf-Frömmigkeit beschützen, die jeden, der sie an den Wangen streichelt, sofort für einen Engel ihres Himmels hält. Da darf es auf der Erde keinen Frühling geben, der alles, was veraltet, von den Fluren fegt. Der Staub hat meterdick auf Stadt und Land zu liegen, und wo ein Wasser fließt, da muß es trüb und schleichend sein! Dann kommen jene nächtlichen Gespenster, die alles, doch nur keine Geister sind. Sie flattern überall, mit leisem Vampyrflügelschlage. Und wo sie sich aufs Volk herniederlassen, da saugen sie ihm bald die vollen Adern leer. Dann sieht man nicht mehr frohe Menschenkinder, die sich in Gottes reinem Lichte sonnen. Der Blick fällt nur auf geistge Mummelgreise, und alles ringsum wird zum – Schattenland!«

»So war es hier; so war es, wie du sagst!« stimmte der Ustad bei. »Es war die Geisteswüste, genau wie jenes Paradies, von dem ich dir erzählte, ein flaches, ödes, wüstes Schemenland! Der Stumpfsinn kroch im tiefen Bodenstaube. Der Groll schlich zähneknirschend nachts umher. Der arbeitsscheue Müßiggang schlug frömmelnd sich die Brust und schnappte gierig nach der Dummheit Brocken. Stumm lag der ausgenutzte Fleiß in dürrem Sande. Und über diesen und noch tausend andern Schatten gab es ein unhörbares Flattern dunkler Flederhäuter, für welche du den rechten Namen, Vampyr, hattest. – So, so war es um die Bewohner dieses traurigen Gebietes und also auch um meine jetzigen Dschamikun beschaffen, als ich zu ihnen kam. Ich hatte zwar schon oft von „Menschheitsjammer“ sprechen gehört und manches „Erdenleid“ an andern und auch an mir selbst erfahren, doch daß dies Elend nicht von dem Geschick bestimmt, sondern nur der Sauggier dieser Flügelhäuter zuzuschreiben sei, das war mir völlig unbekannt gewesen. Ich fragte mich, ob wohl noch Hilfe möglich sei. Wenn ich die unzählbaren Scharen sah, die es von ihnen gab, da hörte ich zu meinen eigenen Füßen die Verzagtheit stöhnen. Ich schob sie fort von mir und dachte nach. Ein Mensch, ein einzelner, war nicht zu helfen fähig, auch viele Tausend nicht. Dies nächtliche Getier stand unter einem Schutze, der mächtiger als Menschenschwachheit ist, dem Schutz der Dunkelheit. Jedoch noch mächtiger als diese ist das Licht. Gelang es mir, es dort hinüber in den Bau zu tragen, der ihm seit langer Zeit fast ganz verschlossen war, so mußten diese Sauger an die Helligkeit des Tages fliehen, wo sie von jedermann erkannt und dann gemieden werden konnten.«

Als der Ustad hier eine Pause machte, nahm der Pedehr das Wort.

»Was du jetzt sagtest, führtest du auch aus. Wir kannten dich noch nicht; du hattest keine Hilfe und wagtest dich allein in die Ruinen. Jedoch grad diese Kühnheit hat uns für dich gewonnen!«

»Es war viel leichter, als man denken sollte!« lächelte der Ustad. »Ich habe mich nicht etwa eingeschlichen. Ich kam im vollen, hellen Licht des Tages und sagte ehrlich, wer und was ich sei. Da hielt man mich erst recht für einen Schatten, der aus der Welt des Lichtes hierher in ihre Dunkelheit geworfen worden sei. Auch dies vermochte nicht, zum Trug mich zu bewegen. Ich nahm mein Licht heraus und zündete es an. Sie hatten nichts dagegen. Das kleine Flämmchen schien sogar hier Freude zu bereiten. Es konnte diese große Finsternis ja doch nur tiefer machen, und für die Menschen draußen brauchte man es als Beweis, daß man in den Ruinen das Licht zu schätzen wisse.«

Da fiel der Pedehr ein:

»Wir sahen dieses Licht. Es zog uns an. Wir kamen nach dem Bau. Erst einzeln nur, doch bald in größern Scharen. Wir drangen in den Bau. Es wurde hell in ihm, weil wir nicht ohne unsere Lichter kamen. Da ging ein schrillendes Gekreisch durch alle seine Gänge. Es flatterte und huschte überall. Wir leuchteten in alle Ecken und stöberten die Flederwesen auf. Sie flohen vor uns her auf jede Oeffnung zu. Und wer da draußen stand, der sah sie wie verscheuchte Irrgedanken aus dem Gemäuer kommen und, um die Ecken biegend, schnell verschwinden. Ob vielleicht welche, tief versteckt, sich noch im Bau befanden, das kümmerte uns nicht, weil wir doch nicht die Absicht haben konnten, ihn für uns zu benutzen. Wir bauten uns im Sonnenlichte an und haben bis zum heutigen Tag noch keinen Grund gehabt, es zu bereuen.«

»Ihr werdet auch fernerhin keinen solchen Grund finden,« sagte ich. »Für jetzt scheint es mir beachtenswert, daß du nicht genau weißt, ob damals vielleicht welche von den Massaban unentdeckt geblieben sind. Habt ihr denn die Ruinen nicht genau untersucht?«

»Doch! So weit sie nämlich zugängig waren. Es giebt auch alte, ganz oder halbverschüttete Gänge, in welche wir nicht vorgedrungen sind, weil wir keine zwingenden Gründe dazu hatten. Der Bau des Duar nahm uns so in Anspruch, daß wir keine Zeit fanden, alte Löcher neu auszugraben.«

»Wohl! Lassen wir das einstweilen ruhen! Wir haben es mit dem Aemir-i-Sillan zu thun. Er brüstete sich schamlos damit, daß die Massaban seine Beschützten seien. Er hat gesagt, daß es in seiner Macht stehe, euch das frühere Gebiet dieser Leute mit der Hilfe von Soldaten wieder abzunehmen. Er will dies aber nicht thun, falls ihr euch bewegen lasset, ihm einen bestimmenden Einfluß über euch einzuräumen. Warum das? Er muß doch Gründe haben! Sollten diese auf den Umstand deuten, daß ihr gewisse Teile der Ruinen noch nicht kennt? Wir werden diese Frage weiter verfolgen, sobald wir Zeit dazu finden. Es giebt für ihn noch eine andere, allgemeinere und noch wichtigere Ursache, euch zu stören. Ich habe sie bereits angedeutet. Er haßt die Kultur, weil sie ihn seiner Macht beraubt. Es liegt in seinem Interesse, sie zu vernichten und nicht wieder aufkommen zu lassen. Das ist ganz derselbe Geist, welcher Etage um Etage eurer Steinpyramide ihrem ursprünglichen Zwecke entzog, um sie schließlich mit gesindelhaften Menschen zu bevölkern. Grad eben, als er dies erreicht hatte und nun damit beginnen konnte, das, was ich vermute, in das Werk zu setzen, kam der Ustad, um mit Hilfe seiner Dschamikun dieses Gesindel wieder zu vertreiben –.«

»Was vermutest du?« fragte mich der Ustad.

»Davon später!« antwortete ich. »Für meinen jetzigen Gedankengang genügt die Bemerkung daß der Aemir-i-Sillan euer Gebiet als Stützpunkt seiner Pläne nicht nur betrachtet hat, sondern selbst auch heute noch betrachtet. Es ist sogar möglich, daß eure Ruinen für ihn von noch größerer Bedeutung als diejenigen des Birs Nimrud sind. Seine Pläne scheinen ihrer Ausführung entgegen zu treiben. Wäre dies nicht der Fall, so wäre er nicht in eigener Person und öffentlich gekommen und hätte es noch viel weniger gewagt, mit seinen Reden und Forderungen so aus sich herauszutreten.«

»Vielleicht giebst du dem allem eine größere Bedeutung, als es verdient,« warf der Ustad ein.

»Das glaube ich nicht. Ich überlege kalt und objektiv. Der Mirza hat heut Dinge gesagt, von denen man nur dann so deutlich redet, wenn man sie als letzte und höchste Trümpfe ausspielen will. Warum zum Beispiele dieses auffällige Eingehen auf das Wettrennen? Welchen Zweck hat dieses Rennen für ihn? Etwa euch einige Pferde oder Kamele abzugewinnen? Wirst du ihm das glauben? Ist es vielleicht deshalb, weil er dadurch eine unauffällige Gelegenheit findet, sich für einige Zeit hier aufzuhalten und herumzutreiben? Wir werden aufpassen, und ich hoffe, daß es uns gelingt, seinen Absichten auf die Spur zu kommen! Du glaubtest, Ustad, daß ich übertreibe. Bedenke doch, um was für einen Mann es sich handelt! Es ist ein großer Unterschied, ob ein gewöhnlicher Soldat oder ein hoher General geheime Pläne hegt. Wenn ein Prinz von der Bedeutung Ahriman Mirza’s euch hinter dem Rücken des Schah-in-Schah mit Vernichtung droht, mit seinen geheimen Gewalten prahlt und es unternimmt, euch verrückt klingende Anschläge zu machen, die kein vernünftiger Mensch begreifen kann, so kann es sich nicht um die bedeutungslose Subordination eines Soldaten gegen sein Korporälchen handeln, sondern die Angelegenheit muß eine höchst wichtige sein, und zwar nicht nur für dich und deine Dschamikun!«

»Willst du mich bange machen, Effendi?« fragte er besorgt.

»Nein! Ich will nur beweisen, daß wir vorsichtig zu sein haben. Wenn der Mirza fortfährt, so schwatzhaft zu sein, wie er heut gewesen ist, so denke wenigstens ich an keine Bangigkeit. Nur darf er nicht vermuten, daß wir ihn zu durchschauen beginnen. Darum dürfen wir ihn in seinem Anschlage gegen Dschafar Mirza nicht eher stören, als bis die rechte Zeit dazu gekommen ist. Wir machen also seinen Brief an den „Henker“ wieder zu. Der Multasim muß ihn auf jeden Fall bekommen.«

»Aber wie?«

»Auf irgend eine Weise, die ihn im Zweifel darüber läßt, wer der Bote gewesen ist.«

»Das kann ich jetzt in Isphahan sehr leicht besorgen. Er wohnt ja da!«

»Ja; thue das! Ich aber werde mir den Brief sofort abschreiben, und auch das Alphabet. Es kann später von großem Vorteile sein, eine Kopie zu besitzen.«

Ich machte die beiden Abschriften in mein Taschenbuch. Als ich damit fertig war, erkundigte sich der Ustad:

»Es ist möglich, daß ich Dschafar Mirza in Isphahan treffe. Ich soll ihm also nichts sagen?«

»Nein. Ich wünsche, daß er vollständig unbefangen sei, damit Ahriman Mirza gar nichts merke. Dieser wird ihn auf irgend eine Weise veranlassen, mit hierher zu reiten. Das giebt eine vortreffliche Gelegenheit, den Mord dann auf uns zu schieben, welche Ahriman sich ganz gewiß nicht wird entgehen lassen wollen. Du sagst Dschafar nur das eine, daß ich hier bin. Wenn er das hört, wird er sicher kommen. Dann sind wir wahrscheinlich genauer unterrichtet als jetzt und können ihm gleich Bestimmtes mitteilen, während er jetzt fast nur Vermutungen hören würde.«

»Durch die Erwähnung, daß man versuchen wird, Dschafar zum Wettrennen herbeizulocken, erinnerst du mich daran, daß er das edelste und beste Pferd in ganz Persien besitzt.«

»Das ist viel gesagt, sehr viel!« bemerkte ich.

»Es ist aber wahr!«

»Jedenfalls hat er es nicht selbst gezüchtet?«

»Nein. Es ist ein Geschenk des Schah-in-Schah.«

»So wird es bei Dschafar verdorben. Er ist kein Reiter und wird es auch nie werden. Das habe ich gesehen, als ich ihn kennen lernte.«

»Du bist Kenner, und doch hast du Unrecht. Dieses Pferd ist bisher weder von Dschafar selbst, noch von irgend einem andern verdorben worden. Niemand hat es noch je geritten.«

»Warum?«

»Der Grund ist eben so einfach wie unglaublich. Dieses herrlichste aller Vollblute läßt sich nämlich nicht reiten, absolut nicht!«

»Das wäre!« rief ich ungläubig aus. »Persien hat doch Reiter!«

»Allerdings! Aber die besten, die kühnsten und auch die geduldigsten haben es vergeblich versucht.«

Läßt es niemand aufsteigen, oder wirft es jeden ab?«

»Keines von beiden. Es läßt jeden hinauf und wirft keinen herunter. Es steht wie ein Lamm; aber es bleibt eben stehen. Es thut keinen Schritt, keinen einzigen! Es ist durch keine Lockung und aber auch durch keine Peitsche zu bewegen, sich von der Stelle zu rühren.«

»Aber wenn man es führt, während jemand daraufsitzt?«

»So thut es grad soviel Schritte, wie es geführt wird, doch keinen einzigen weiter. Ich habe mich schon gefragt, ob das Natur oder Dressur ist.«

»Natur – Dressur? Es kann durch keine Dressur erzwungen werden, was die Natur überhaupt verbietet. Es ist dem, was man Dressur nennt, möglich, die Grenzen des Wollens und Könnens um ein weniges zu verrücken; weiter kann sie nichts. Wenn das Tier aus Liebe zu seinem Herrn etwas thut, was gegen seine sogenannte Natur verstößt, oder wenn es sogar nach und nach selbst Freude an einem ihm angewöhnten Vorgang findet, der keine Folge seiner ursprünglichen Instinkte ist, so kann man doch wohl nicht mehr von Dressur sprechen. Es ist ein Unterschied, ob der Dresseur mit der Peitsche dasteht, oder ob das Tier etwas früher Gelerntes später ganz aus freiem Willen thut. Bei Dschafars Pferd steht niemand, der es durch heimliche Winke oder offene Drohungen zwingt, etwas zu leisten, was ihm eigentlich widerstrebt. Es denkt; es will; es folgt einem eigenen Entschlusse und führt ihn sogar mit einer so ausdauernden Energie aus, daß sich mancher Mensch ein Beispiel an ihm nehmen könnte. Es läßt sich weder durch freundliche Verführung noch durch Drohung oder gar Roheit irre machen. Das ist höchster Pferdeadel! Ein gewöhnlicher Gaul würde nur aus Angst gehorchen, so lange er die Peitsche sieht. Was der Schah-in-Schah in dieses Pferd gelegt hat, ist keine tote Angewöhnung, keine stumpfsinnige Zwangesgehorsamkeit. Es ist eine sehr liebe und sehr gütige Hand gewesen, von welcher das edle Tier dieses „Syrr“ empfangen hat, und es wird auch nur derselben Gesinnung gelingen, es zu lösen.«

»Syrr, hast du gesagt? – Sonderbar!« rief er aus.

»Warum?« fragte ich.

»Das ist der Name des Pferdes. Es heißt Syrr. Hast du vielleicht schon von ihm gehört, oder war es Zufall, daß du dieses Wort brauchtest?«

»Zufall? Du weißt doch, daß es für mich keinen Zufall giebt! Ich wußte übrigens nichts von diesem Pferde.«

»Aber du wirst doch nicht etwa behaupten wollen, diesen Namen infolge einer Fügung oder Schickung gefunden zu haben! Das wäre doch wohl lächerlich! Verzeihe mir dieses Wort!«

»Ich behaupte nichts, und ich vermute und ich folgere nichts. Ich wiederhole nur, daß es für mich diesen Freund der Oberflächlichkeit, den Zufall, nicht mehr giebt. Man nennt ihn auch das „blinde Ungefähr“. Es scheint nur „ungefähr“ zu sein, und ist auch keineswegs blind. Wer ruhig wartet und die Augen offen hält, der lernt dann ganz gewiß die verborgenen Fäden kennen.«

»Verborgene Fäden zwischen dir und diesem Syrr?« lachte er. »Effendi, Effendi, welcher Wunderglaube!«

»Wer hat sie angeknüpft? Du selbst?« antwortete ich ebenso heiter. »Du hast ein Wort betont, bei dem ich mir gar nichts dachte. Ob dieser Ton nur von dir stammt und also bedeutungslos ist, das wird sich finden. Hat denn Dschafar nicht irgend einmal wegen dieses Geheimnisses mit dem Schah-in-Schah gesprochen?«

»Doch! Er erzählte es mir. Der Beherrscher erkundigte sich einst bei ihm, wie sich das Pferd befinde. Da klagte er ihm seine Not und erzählte von den vielen vergeblichen Versuchen, welche angestellt worden waren. Hierauf lächelte der Schah wie in stiller Freude vor sich hin und sagte: „Sobald der Rechte kommt, wird es sofort und stets gehorchen, aber nur ihm allein. Es ist mein Syrr. Kein Mensch wird es ergründen!“ Dschafar verstand diese Worte nicht. Auch mir sind sie dunkel. Was denkst du dir wohl dabei, Effendi?«

»Nichts! Syrr heißt „Geheimnis“, sogar „Mysterium“. Achten wir es, indem wir nicht versuchen, an ihm herumzutasten. Das ist der Wille des Beherrschers!«

»So wollen wir für jetzt schließen. Ich bitte um die Erlaubnis, dich hinauf in deine Wohnung führen zu dürfen.«

Und indem er sich an den Pedehr wendete, fügte er für ihn hinzu:

»Bereite es vor, daß, sobald der Brief an den Offizier fertig ist, einige Boten sofort nach Bagdad reiten, um ihn und seinen Diener zu holen. Er wird sich nicht entschließen können, ohne diesen zu reisen. Für Kepek, den Gewichtigen, werden sie eine Kamelsänfte mitnehmen müssen, weil ein anderes Transportmittel für ihn gewiß zur Marter werden würde.«

Nun trennten wir uns vom Scheik. Dieser stieg in das Erdgeschoß hinab. Der Ustad aber nahm eines der beiden Lichter, um mit mir nach oben zu gehen.

Als wir aus seiner Stube traten und die Thür der Rumpelkammer vor uns hatten, machte er sie zu meiner Verwunderung auf und ging hinein.

»Komm, Effendi!« sagte er. »Tritt näher!«

»Warum?« fragte ich.

»Du hast diese Sachen mir geschenkt; aber du weißt gar wohl: Was mein ist, ist auch dein! Ich hatte vielleicht kein Recht dazu, doch folgte ich der Regung, dich zu prüfen. Du hast bestanden! Besser, viel besser, als ich erwarten konnte! Indem du mir diese Dinge alle schenktest, hast du etwas abgelegt. Was es ist, das überlege dir! Und indem ich, so bald und so oft du willst, sie dir alle wieder zur Verfügung stelle, thue ich etwas, was dich unendlich freuen muß. Was es ist, überlege dir auch das! Kamst du zu mir aus einem Land, auf dem es keine festen Wege giebt? Willst du dein Ziel von hier nur noch im Flug erreichen? Ich weiß, dir ist die Angst vollständig unbekannt. Du fühlst dich an der Hand, die keinen je verläßt, der sich ihr anvertraut. Doch, hebe deinen Fuß nicht von dem sichern Boden! Noch bist du nicht daheim! Kannst Waffen nicht entbehren! Nimm diese Warnung an! Nachdem ich dich geprüft, hab ich das Recht erworben und auch die Pflicht dazu, in diesem ernsten Ton mit dir zu reden!«

Er hob die Hand und drohte mir in liebevoller Weise mit dem Finger. Da kam es wie ein plötzliches Glück über mich, aber nicht wie ein unverstandenes, sondern wie eins, welches klar und deutlich vor einem steht und voll begriffen wird. Ich nahm ihn bei der erhobenen Hand, zog ihn heraus, machte die Thür zu und sagte:

»Komm hervor aus dieser unserer Kammer und schnell herauf zu mir! Ich muß dir etwas sagen!«

»Was?« fragte er.

»Ein Geständnis. Komm nur, komm! Ich freue mich so sehr!«

»Ein Geständnis? Und doch Freude?«

»Ja! Es ist ein Sieg, ein innerlicher Sieg, den du soeben über dich und mich, über uns beide also, errungen hast!«

Er folgte mir so schnell, wie ich ihm voranstieg. Oben bei mir angekommen, nahm ich ihm das Licht aus der Hand und brannte zunächst die Lampe wieder an, welche er der Perser wegen hatte auslöschen müssen. Als dies geschehen war, bat ich ihn, sich aufrecht vor mich hinzustellen. Ich nahm ihn mit frohem Blicke von oben bis unten in die Augen und sagte dann:

»Es ist mir mit dir grad so ergangen, wie es so manchem Menschenkind mit seinem Geist ergeht. Es kennt ihn nicht, bis ihn der Feind ihm zeigt. Ich wußte nichts von dir, bis mich die Massaban auf jene Spuren führten, an denen ich zum erstenmal den Namen Ustad hörte. Man sprach von dir als dem „Geheimnisvollen“, von dem man ja „nichts Schlechtes sagen dürfe“. Sie schienen dich nicht bloß zu achten, sondern auch zu fürchten, und dennoch hegten sie nur Feindschaft gegen dich, weil sie als „Unglückselige“ dich ja doch hassen mußten. Dann traf ich den Pedehr, der mir nicht trauen wollte. Er nahm die Flucht vor mir, doch holte ich auf meinem Pferd das deinige schnell ein. Es war fast wie bei jenem Morgenritt im Märchen Danyseh, wo das schnellste Pferd des Menschengeistes von dem silberweißen Roß der Menschenseele überholt wird. Als ich hierauf mit ihm sprach, hörte ich zum zweitenmal von dir. Ich begann, in meiner Phantasie nach einem Bild von dir zu suchen. Dann warf mich jene schwere Krankheit nieder, von der ich hier bei dir erstanden bin. Ich lag bewußtlos, ohne Thätigkeit des Geistes. Da begann ich, zu erwachen. Es legte sich eine Hand auf meine Stirn, und dabei war es mir, als ob von ihr eine gütig reine, immaterielle Kraft ausströme und dann durch mein ganzes Wesen gehe. Und eine tiefe Stimme sprach die Worte: „Der Herr behüte deinen Eingang und deinen Ausgang von nun an bis in Ewigkeit. Amen!“«

»Das war ich,« sagte der Ustad.

»Ja, du warst es. Du kamst noch oft, wenn ich nicht wachte. Dann hatte ich einen Traum. Oder war es ein Gesicht? Ich befand mich im Haine Mamre, bei der Eiche Abrahams. Da trat die hohe Gestalt des Erzvaters leuchtenden Auges vor mich hin und grüßte mich: „Friede sei mit dir!“ Und als ich das meinige öffnete, standest du vor mir, breitetest deine Hand wie segnend über mich aus und sprachst ganz dieselben Worte. Darum wuchsest du in meinen Fieber- und dann auch in den Genesungsträumen dich in mir zum Ebenbilde jenes ausgewanderten Chaldäers aus, welchem der Herr einst die Verheißung gab: „Ich werde dich zum großen Volke machen!“ Als ich mich dann so weit erholt hatte, daß ich mich erheben und draußen vor der Halle sitzen konnte, da kamst du zu mir, und was und wie du da sprachst, das war im Geist des ersten Testaments gesprochen, der sich im zweiten die Verklärung holte. Nun kam das Heut, der Dankestag. Hättest du in mir noch höher wachsen können, so wäre das da drüben bei eurem „Gotteshaus“ gewiß geschehen. Du zeigtest dich dort Ahriman nicht nur gewachsen, sondern überlegen. Ich schaute zu dir auf, fast staunend, möcht ich sagen! Es stieg der Wunsch in meinem Herzen auf, so groß zu sein und auch so rein wie du. Das war wohl auch der mir nicht klar bewußte Grund, daß ich dann jene Beichte sprach, die mich befreien sollte. Ich wollte deiner würdig sein, ganz still, in meinem Innern!«

»Mein Freund, mein lieber, lieber Freund!« rief er gerührt aus.

»Warte,« bat ich, »und höre weiter! Es wurde Abend. Da stellten sich die finstern Schatten ein. Du zogst sie aus der früheren Zeit herbei und warfst sie leider über deine Gegenwart. Das Licht verschwand.

Du wurdest mir fast dunkel. Du ließest diese deine Schatten wachsen. Sie nahmen jene Riesengröße an, von welcher du bei deinem „Sonnentage“ sprachst! Du aber wurdest kleiner, in meinen Augen immer, immer kleiner! Ich sträubte mich dagegen, doch vergeblich. Ich wollte dich, die Hochgestalt, nicht lassen. Und dennoch thatst und sprachst du alles, was dich gering und winzig machen mußte. Du warst für mich nicht mehr der „Abraham von Erz“, an dem kein Schatten fressen, kein Schemen rütteln kann. Du hattest dich in jenen schnellen Hasenfuß verwandelt, der, wenn das dunkle Abbild eines Baumes, die Sonne fliehend, auf sein Lager fällt, rasch auch die Flucht ergreift und, blind vor Angst, im allerschnellsten Lauf von dannen jagt, um seine Feigheit in den Busch zu retten.«

»Maschallah!« verwunderte er sich jetzt. »Diesen Eindruck habe ich auf dich gemacht, nur diesen?«

»Ja!« antwortete ich.

»Wie war das möglich?!«

»Möglich? Sag unvermeidlich! Du sprachst soeben davon, daß ich die Angst nicht kenne. Sie ist mir fast verächtlich. Ich kann sie nicht begreifen. Da plötzlich seh ich die Gestalt, die ehern mir erscheint, als sei sie von des Schicksals eigener Hand gegossen und auf den rechten Platz auf festestem Granit gestellt, von diesem sichern Felsen niederspringen und wie besinnungslos die Flucht ergreifen! Vor wem? Vor nichts als nur vor ihrem eigenen Schatten! Fühlst du mir denn nicht nach, was ich empfinden mußte? Ahnst du denn nicht, daß du dich da in mir zerstören mußtest? Der Ritt durch dein Gedankenparadies, wie war er doch so traurig! Nicht dieser Thoren wegen, die es verfallen ließen, nein, deiner heiligen Einfalt wegen, in welcher du aus der Erhabenheit der Berge niederstiegst, um dich in Wüsteneien durchzuhungern und dann sogar den „Baum des Schwatzes“ zu beachten! Du warst mir fast so ideal geworden wie jenes Bild von „Akhal, den Durchschauenden“, den nie ein Mensch bethört. Was aber war aus diesem Geiste der Untrüglichkeit geworden, als ich ihn, „blind vor Angst“, die Flucht ergreifen sah, gehetzt von den Phantomen, die ihn auch heut noch nicht verlassen haben!«

Da ließ er den Kopf sinken und war eine kleine Weile still. Dann warf er ihn mit einer energischen Bewegung wieder empor und sagte:

»Das war eine böse, böse Sonde, Effendi! Aber du weißt nicht, wie ich dir dafür danke! Ich fühle, daß es in mir licht werden will. Siehst du die Schatten, welche von mir weichen und da, zur Thür hinaus, die Flucht ergreifen? Nicht? Ich auch nicht. Aber ich fühle, daß sie es thun, daß sie von dir aufgestöbert worden sind und mich verlassen müssen. Du hast mir nichts gesagt als nur die Wahrheit. Nun sage mir noch eins: Glaubst du, daß ich die innere Kraft besitze, dir wieder das zu werden, was ich dir vor dem heutigen Abend war?«

»Ja! Fast bist du es schon wieder! Ich sprach von dem Geständnis und auch zugleich von meiner Freude, bevor wir hier heraufgegangen sind. Das erstere hab ich dir nun gemacht. Die letztere sollst du jetzt mit mir teilen.«

»Freude? Worüber?«

»Ueber dich! Erinnere dich der Strenge, mit welcher du da unten in der Kammer zu mir sprachst! Das war der Mann von Erz! Nicht mehr der Schattenflüchtling! Du wuchsest plötzlich wieder empor. Du setztest deinen Fuß zurück auf den Granit. Ich bitte dich: Steig wieder auf die alte, gute Stelle! Ich gebe dir mein Wort: Kein Schatten ist es wert, und wenn es selbst der allergrößte wäre, daß man um seinetwillen auch nur ein einzig Mal den Kopf nach hinten wendet!«

»Nach hinten wendet!« wiederholte er. »Nach hinten! In die Vergangenheiten! Und grad dir, dir, der du es nicht einmal der Mühe für wert hältst, auch nur den Kopf zu wenden, dir wollte ich jetzt alle, alle meine Schatten bringen! Komm heraus! Ich will dir zeigen, wo sie stecken! Ich sehe es dir an: du ahnest, was ich will. Du bist glücklich darüber. Dein Auge leuchtet! Du hast von einem Sieg gesprochen, den ich über dich und mich errungen habe. Jetzt aber ist dir ein noch viel, viel größerer gelungen: Der Sieg über die, denen ich einst unterlag, über sie alle, alle, alle! Ich bitte dich noch einmal: Komm heraus!«

Er nahm die Lampe und führte mich hinaus in seine Bücherei. Dort stellte er sie auf den Tisch.

»Hier wollte ich dir erzählen, wohl stunden-, stundenlang«, sagte er. »Vielleicht wäre ich am Morgen noch nicht zu Ende damit gewesen. Nun aber wird es kurz gemacht, so kurz, wie diese Schatten es verdienen!«

Er deutete auf eine Reihe von Büchern, welche ganz gleich eingebunden waren, und sprach weiter:

»Hier steht mein Geist, in Bände wohlzerspalten und richtig numeriert, wie das so Sitte bei den Menschen ist. Schau du hinein, und sage mir sodann, ob diese Bücher wohl auch eine Seele haben!«

Ich griff hin, um eines vom Gestell zu nehmen. Da bat er:

»Nicht jetzt! Du hast ja dazu Zeit, wenn ich verreist bin und dich niemand stört. Ich habe dir noch weiteres zu zeigen. Ich wollte dir erzählen und erklären, zu welchem Zweck ich diese Werke schrieb. Ich unterlasse es, weil ich jetzt anders denke als noch vor einer Stunde. Du wirst sie lesen. Das heißt bei dir genau so viel, als ob ich sagte: du wirst sie und auch mich verstehen und begreifen. Sie sind Skizzen, Vorarbeiten, fließende Etuden, um mich und meine Leser einzuüben. Auf was sie vorbereiten sollten, darüber schweige ich. Man sagt das durch die That! Glaubst du, daß es Menschen giebt, welche so unerfahren sind, daß sie die flüchtigen Uebungsskizzen eines Malers für vollbeendete, fertige Werke halten können? Nein? Nicht? Unmöglich? So scheine ich ein Künstler allerersten Ranges zu sein, denn es hat keinen einzigen Kritiker gegeben, welcher die meinigen als leicht bewegliche Schwalben erkannte, die „meinem Freund, dem Frühling“ voranzufliegen hatten, wie ein bekannter Dichter sagt.«

»Ein Künstler allerersten Ranges!« lächelte ich. »Wozu denn hier die Ironie, die gänzlich überflüssig ist? Man hat das Zwitschern deiner Schwalben nicht verstanden, weil man noch in dem Eis des Winters steckte und weil sie nicht nach jenen Noten sangen, die auf fünf parallelen Linien stehn! Das konnte dich verbittern?«

Er sah mich an. Erst erstaunt, dann nachdenklich; endlich lächelte er auch.

»Wenn ich doch auch das heitere Gold besäße, das jetzt im Lichte deines Auges liegt!« rief er aus. Dann fügte er, nach den Wänden deutend, hinzu: »Schau hier die Briefe! Große Kisten voll! So schrieb man mir! Es war nur Liebe drin! Doch hier die Kästen mit den Zeitungsblättern, sie sind des Hasses voll, der mich vernichten sollte. Ich bin ihm gewichen, diesem Hasse. Er wurde mir zum Ekel! Aber ich habe ihn gekennzeichnet!

Ich habe seine Gründe nachgewiesen! Ich habe mich gewehrt, gewehrt, gewehrt!«

»Mit welchem Erfolge?« fragte ich.

»Ich mußte gehen, doch, doch und doch! Mein letztes Wort an die, denen ich weichen mußte, war folgendes.«

Er trat zu einem der Kästen, nahm die obenauf liegende Zeitung heraus, faltete sie auseinander und las:

»Ich bin ein Mensch. Ihr wollt das nicht begreifen,
Weil ihr wohl schon ganz übermenschlich seid.
Wenn solche Götter mich zum Richtplatz schleifen,
So trag ich stumm mein Armesünderkleid.

Ich steig getrost auf meinen Scheiterhaufen,
Den ihr mir bautet mit selbsteigner Hand,
Und laß mich von dem Flammengeiste taufen,
Für den ihr schon so manchen Leib verbrannt.

Doch wenn ihr mir nicht folgt, wohin ich gehe,
Hab ich mit eurer Gottheit nichts zu thun,
Denn während ich im Fegefeuer stehe,
Seh ich euch stolz auf meinem Lorbeer ruhn.

Ich lasse gern die Flammen um mich schlagen,
Denn mein Metall wird nur im Feuer rein,
Doch meinen Henkern habe ich zu sagen:
Ich möchte nicht an eurer Stelle sein!«

Hierauf legte er die Zeitung wieder zusammen und an ihre Stelle zurück. Dann fragte er mich:

»Weißt du, an wen ich bei diesen letzten Zeilen jetzt unwillkürlich denken muß? An Ghulam el Multasim, den „Henker“ des Mirza! So nackt wie er liegen jetzt auch die meinigen vor meinem geistigen Auge. Auch sie waren mit der glatten Salbe eingerieben, die jeden Leib zum Aal, zur Schlange macht. Du wirst sie kennen lernen, alle, alle! Da liegen sie. Du hast ja Zeit zum Lesen!«

»Ich? Lesen? Was soll ich lesen?« fragte ich.

»Diese Zeitungsartikel über mich!«

Da mußte ich denn aber doch so laut und so herzlich lachen, daß er sichtlich in Verlegenheit geriet.

»Woher so plötzlich diese Heiterkeit?« erkundigte er sich.

»Woher? Das fragst du noch?! Wenn ich mir das sonderbare Bild ausmale, welches dir soeben vorschwebte, so muß ich unwillkürlich an gewisse „lustige Blätter“ denken, welche geistige Gebrechen persiflieren! Und es wäre eine Persiflage meiner selbst, falls ich in jenen Sumpf zurückkehren wollte, über den ich mich schon längst, schon längst hinübergerettet habe. Einst brachte eines jener lustigen Journale eine heitere Abbildung dieses Sumpfes. Er war voller Amphibien, deren Mäuler weit offenstanden. Ein Mensch schritt durch den aufspritzenden Tümpel. Darunter war zu lesen:

»Wir müssen durch den Sumpf des Lebens waten,
Und wenn dabei die trüben Wasser spritzen,
So jammern über unsre Missethaten
Die Frösche alle, die im Schlamme sitzen!«

Nun sage mir ehrlich, mein Freund! Verlangst du im Ernst von mir, diese Musik, welche ich gar wohl kennen gelernt habe, noch einmal anzuhören? Als ich damals aus dem Sumpfe stieg, drehte ich mich um und lachte herzlich über die Batrachier, die sich zum Platzen quälten, mir zu zeigen, wer und was sie seien. Dieses komische Bild schwebte mir vor, als du vom Lesen dieser deiner Makulaturen sprachst. Begreifst du mich jetzt nun?«

»Ja,« antwortete er. »Ich begreife sogar noch mehr, als du ahnst!«

»So laß sehen, ob das wahr ist. Ich habe eine Bitte.«

»Welche?«

»Schenke mir diese Zeitungen!«

»Was willst du mit ihnen thun?«

»Verbrennen! Ich pflege solche Dinge niemals aufzuheben, noch weniger zu lesen. Sie fliegen stets, sobald ich sie erhalte, in das Feuer. So kommt kein Schatten bei mir auf. Ich will dich von den deinigen befreien. Erfüllst du meinen Wunsch?«

Da ging er von Kasten zu Kasten, stieß mit dem Fuß an sie und sagte:

»Das sind die Furien, die Erinnyen, die ich dir ja beschrieben habe. Sie lügen, wie gedruckt! – Hier die schadenfrohen oder gedankenlosen Nachbeter und Nachtreter, welche bei Gott schwören, daß sie schuldlos seien, weil sie doch bloß nachgedruckt und nichts erfunden hätten! – Und da die sogenannten guten Freunde, die stets behaupten, daß sie retten wollen, und doch so ungeschickt dabei verfahren, daß sie mehr schaden, als die andern alle. – Ich schenke sie dir. Nimm sie hin! Verbrenne sie! Du hast so recht: Ich will hier reine Arbeit machen!«

»Aber ich verbrenne sie wirklich!« versicherte ich. »Ich gebe sie dir nicht zurück!«

»Das weiß ich. Es ist dir ernst! Aber auch mir! Ich will nun endlich, endlich einmal freien Geistes sein.«

»Ich danke dir! „Endlich einmal freien Geistes sein“ willst du. Weißt du, was du mit diesen Worten gesagt hast? Unfreie Geister gibt es nicht. Wer in Fesseln liegt, ist vielleicht eine Intelligenz, doch niemals Geist! Du willst also nicht mehr bloß ein denkendes, ein nach Regeln, welche von Menschen vorgeschrieben sind, denkendes Wesen sein, sondern ein Geist, für den diese Regeln nur in so weit vorhanden sind, als sie mit seinen eigenen Wegen zusammenfallen. Du willst eine jener über sich selbst bestimmenden Personen werden, welche, wie ich unten ausführte, dem „dritten Leben“ angehören. Das ist ein großer Entschluß, den du nur dann auszuführen vermagst, wenn du den Körper, deinen bisherigen Gebieter, zum gehorsamsten aller deiner Diener zu machen weißt, und wenn du deine bisherige Sklavin, die krank in dir darniederliegende Seele, zu deiner Freundin, deiner allereinzigen Freundin erhebst. Denn wisse: der Geist wird ohne Seele nie den Weg empor zum Geiste aller Geister finden! Nun also: Sei fortan nur Geist, und – such‘ dir deine Seele!«

Wir standen einander gegenüber, ich ihm erwartungsvoll in das Gesicht schauend, ob er mich begreifen werde, er aber sinnend nach seinen Büchern hinüberblickend, als ob nur dort das zu finden sei, was ich jetzt bei ihm suchte.

»Meine Seele!« sagte er. »Ich habe dich gebeten, in meinen Werken nachzuschauen, ob sie darin vorhanden sei. Seele ist darin; das weiß ich ganz genau!«

»Seele? Nur Seele? Das ist so viel wie nichts! Oder vielmehr, es ist so wenig wie „nur Geist“! Du sollst nicht Geist und sollst nicht Seele haben! Sondern du sollst Geist sein und sollst auch Seele sein! Die Person „Geist“ sollst du sein, und die Person „Seele“ sollst du sein! Eine vollständige Persönlichkeit im Reiche der Geister und eine vollständige Persönlichkeit im Reiche der Seelen, beides zu Einem vereint in dir, wie Licht und Wärme in der brennenden Flamme, das sollst du sein. Der Körper sei – der Docht!«

»Der Docht!« wiederholte er nachdenklich. »Licht und Wärme wie in der Flamme. Das ist Seele und Geist! Der Körper des Menschen ist nichts, nichts, nichts, als nur der Docht! Und das Oel, Effendi? Vielleicht erfahre ich auch dieses noch! Was alles hast du mir doch schon gesagt! Es ist so viel dabei, was ich noch nicht ganz oder noch nicht recht begreife. Vielleicht grad deshalb, weil es gar so einfach klingt. Warum? Wer hat es dem Menschengeiste vorgelogen, daß nur das seines Strebens und seines Fleißes wert sei, was ihm durch die konvuse Ausdrucksweise des Pseudo-Gelehrtentums unverständlich gemacht worden ist? Auch in mir lebt noch ein Rest jenes alten Stolzes, der sich einer eigenen Kaste und auch einer eigenen Sprache rühmt. Aber gleich daneben habe ich das heilige Buch der Bücher liegen, in dem der Geist durch Welten und durch Himmel forschen geht und doch dabei in einer Sprache redet, die jedes Kind versteht. Ist diese kindliche Einfachheit, diese Klarheit jetzt plötzlich aus mir herausgetreten, um deine Gestalt anzunehmen? Ich sehe dich vor mir stehen, als seist du jener Teil von mir, welcher durch keine dialektischen Kunstsprünge irr zu machen ist, weil er die reine, wahrheitskeusche Sprache redet, die jeden Dialekt vermeidet. Wenn ich dich in dieser Weise sprechen höre, so bist du ich selbst, nur jünger, weicher, tiefer, nur scheinbar hart und doch von einem Willen, den selbst das andere Ich von mir wohl nicht erschüttern könnte. Mir ist, als hättest du nur immer jung zu bleiben, als könnte von uns beiden nur ich zu altern haben. Ich mochte schwören, daß ich durch dich schaue, als wärest du Kristall. Und dennoch kenne ich dich noch lange, lange nicht. Du bist mir ein Geheimnis und wirst’s vielleicht auch bleiben. Kannst du mir das erklären?«

»Werde dir klar, dann kann ich es; eher nicht!« antwortete ich. »Indem du dir klar wirst, erkläre ich mich dir. Du lobtest mich jetzt; aber dieses Lob ist ein Tadel, sowohl für dich als auch für mich!«

»Klingt das nicht auch schon wieder so geheimnisvoll?!«

Da griff ich nach seinen beiden Händen und forderte ihn auf:

»Schau mir in das Gesicht!«

Er that es.

»Wer bin ich?« fragte ich.

»Mein Freund,« antwortete er.

»Nein, denn ich bin mehr, viel mehr! Ich will anders fragen: Was bin ich? Was bin ich dir?«

Er sann, doch vergeblich. Dann sagte er:

»Ich weiß es nicht. Es kommen mir zwar Worte, doch keines trifft das Richtige, und keines sagt genug!«

»Und doch giebt es eins! Ein kleines, kleines Wörtchen. Und das ist richtig! Und das sagt genug, mehr als genug!«

»Welches?«

»Du hörst es nicht von mir. Du hast es selbst zu finden. Denn sagte ich es dir, so würdest du es nicht begreifen. Aber indem du es findest, hast du es verstanden.«

»Denkst du, daß ich es finde?«

»Ja, gewiß. Ich führe dich darauf.«

»Wann?«

»Bald. Vielleicht noch heut, noch jetzt, noch ehe wir uns trennen. Ich sprach vom Licht und von der Wärme in der Flamme. Ich gab dir auch das Gleichnis von dem Docht. Du fragtest mich sogar dann nach dem Oele. Wir redeten vom Geist und von der Seele. Bist du der Geist, für welchen ich dich halte, so mußt du ganz bestimmt das kleine Wörtchen finden!«

Jetzt war ich noch deutlicher gewesen als vorher, doch schien er sich nicht von dem einmal gefaßten Gedanken losreißen zu können. Er ging hinüber nach dem Fache, in welchem seine Werke standen, nahm ein Buch heraus, brachte es mir und sagte:

»Wenn sich mein Geist und meine Seele irgendwo so zusammengefunden haben, wie du sagtest, so ist es hier in diesen Blättern geschehen. Sie sind Flamme, vollständig Flamme! Schau es dir an!«

Ich öffnete es. Der Band war nicht gedruckt, sondern geschrieben, also Manuskript. Auf dem Titelblatte las ich: »Mein Leidensweg«. Ich war enttäuscht, ja sogar sehr enttäuscht!

»Deine Biographie?« fragte ich.

»Ja,« antwortete er.

»Vielleicht gar deine Rechtfertigung?«

»Gewiß! Das war ich mir doch schuldig!«

»Wehe dir, Ustad, wenn du dir noch etwas schuldig bist!«

»Wie streng das klingt! Und wie ernst du mich dabei anschaust, Effendi! So will ich mich anders ausdrücken: das war ich meinen Feinden schuldig, der Welt, die mich von sich gestoßen hat!«

Da hob ich warnend die Hand und sprach:

»Wenn dich die Welt aus ihren Toren stößt,
So gehe ruhig fort, und laß das Klagen,
Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst
Und darum deine ganze Schuld zu tragen!

Wenn du Geist bist, wirklich Geist, so wirst du diese Worte verstehen und ihre Wahrheit so in dich atmen, daß sie dir zur Auferstehung werden muß und werden wird. Lazare, ich sage dir, komm heraus!«

Da wurden seine Augen groß und immer größer. Er hob seine beiden Hände empor, bis in die Nähe der Stirn, als ob er dort einen Gedanken fassen und festhalten wolle, und sagte:

»Was tritt jetzt an mich heran? Wer ist das? Wen giebst du mir? Ich sehe nichts. Ich höre nichts. Und doch sehe, höre und fühle ich etwas Wunderbares, etwas unendlich Beglückendes! Ich empfinde es deutlich, daß ich frei werde! Ist es etwas Geistiges? Etwas Seelisches?«

Da antwortete ich:

»Gieb mir dein Herz! Ich will’s zum Himmel tragen.
Von Gott gesegnet, bring ich dir’s zurück.
Dann soll’s nur noch im Himmelspulse schlagen,
Zu deinem und wohl auch zu meinem Glück!

Ustad, halte diese Worte fest! Laß sie dir nicht entweichen!«

Er schloß die Augen, als ob das, was in ihm vorging von außen nicht gestört werden solle, trat langsamen Schrittes, ohne etwas zu sagen, zum offenen Fenster und lehnte sich hinaus. Ich hatte das Buch »Mein Leidensweg« noch in der Hand und begann, darin zu blättern, doch ohne eigentlich zu lesen. Verschiedene Sätze, welche unterstrichen waren, fielen mir auf. Bei diesen verweilte ich. Ja, sie waren »Flamme«. Es glühte und flackerte in ihnen ein Zorn, welcher versengend war. Das Buch schloß auf der vorletzten Seite mit einem Gedichte. Dieses lautete:

»Ich kam zu dir am Hosiannatag
Und sah dich im Triumph durch Salem reiten,
Doch auch schon alles, was noch vor dir lag,
Sah hinter dir ich im Gefolge schreiten.

Da wendete ich mich zur Klagemauer
Und stand mit heißer Stirn am kalten Stein.
In deinen Jubel warf ich meine Trauer,
Denn mit dir zog ja auch dein Judas ein.

Ich kam zu dir am Eli-lama-Tag
Und sah dein Haupt im Todesschmerz sich senken.
Doch als dein Mund das Asabthani sprach,
Mußt schon ich an das nahe Ostern denken.
Du warst ja einst auf jenen Berg gestiegen,
Den man als Stätte der Verklärung preist,
Und mußtest beide, Grab und Tod, besiegen
In deiner Kraft als erdenfreier Geist.

Nun komme ich zum Auferstehungstag
Und sage dir: die Steine sind verschwunden.
Die Jünger sahen früh im Grabe nach
Und haben deinen Leichnam nicht gefunden.
Soll wohl der Geist hier in der Gruft verbleiben,
Wo doch der Körper längst schon auferstand?
Steh auf, steh auf! Es giebt noch viel zu schreiben,
Jedoch von jetzt nur mit – der Geisterhand!«

Ich las es noch einmal und dann zum dritten Male. Welch ein Gedicht! Ich meine nicht etwa den künstlerischen Wert desselben. Der ging und geht mich gar nichts an. Es war nicht die Form, sondern es war der Geist, der vor mir stand. Ich sah ihn deutlich, mit allem, was ich loben konnte, und auch mit allem, was ich an ihm tadeln mußte. Der Mann, der diese Zeilen geschrieben hatte, war aber unbedingt auch körperlich in Jersualem gewesen. Ich sah ihn durch das Jaffator kommen und geradeaus auf jenem Stufenwege schreiten, welcher hinab nach dem »Heiligtume« führt. Aber dorthin wollte er gar nicht, sondern er bog nach links, in die engen Bazare, die auf das Thor von Damaskus münden. Dort wendete er sich rechts, dem »Leidenswege« zu, hinauf nach Golgatha, dessen Stätte ein Gegenstand der Phantasie geworden ist, weil man die rechte Stelle nicht mehr kennt. Im tiefen Winkel liegt die »Klagemauer«. Hier hörte man die wahre Sehnsucht einst nach der Erlösung rufen. Jetzt aber kratzt man sich dort am Gestein die Finger blutig wund, nur um ein karges Bakschisch zu erhalten. So geht überall, nicht bloß im heiligen Jerusalem, die Menschheitsseele betteln, wenn sie den Geist verlor, der hier ihr Führer ist, damit dann sie ihn fort, nach oben, leite! Er aber, dieser Geist, schleicht forschend durch den Sukh des niederen Lebens, an Kesselflickern, Krämern und Wechsel-Habichten vorbei, nach dieser Seele suchend, die er verlieren mußte, weil er sein Herz an eitle Dinge hing! Und wenn er sie nicht findet, geht er hinaus vor Salems alte Mauern, steigt hin und her in jenen öden Thälern, wohin die Stadt das Aas gefallener Tiere sendet, am Oelberg dann hinauf, wo an dem Weg nach Jericho das Volk der Hammel abgeschlachtet wird. Und wenn er oben angekommen ist und von der höchsten Stelle des einstigen Jebus sein Morijah liegen sieht, so wallt es tief entrüstet in ihm auf. Er schüttelt seine Hände, in denen doch nichts ist, streng über Salem aus und klagt im Tone schmerzlicher Enttäuschung: »Ich kam zu dir – was habe ich gefunden?!«

Jetzt stand er dort am Fenster, den Rücken mir zugekehrt. Er achtete nicht auf mich, war nur in sich versunken. Die letzte Seite seines »Leidensweges« war noch leer. Tinte und Feder gab es hier auf dem Tische.

Wer war’s, der in mir sprach? Der mir befahl, zu schreiben, was ich hörte ? Ich that es! Ich hielt mich ganz an seine eigene Weise. Dasselbe Metrum und dieselbe Zahl der Verse. Drei Strophen, so wie er, genau auch so beginnend: »Ich kam –«; »Ich kam –«, und dann: »Nun komme ich –«! Er sah nicht, daß ich schrieb. Ich wurde fertig, schloß das Buch und ging vom Tische weg. Da drehte er sich um, verließ das Fenster und ging dorthin, wo ich geschrieben hatte. Dort blieb er stehen. Es war ein tiefer Ton, in dem er langsam sprach:

»Wo habe ich’s gelesen? Vielleicht auch las ich’s nicht. Erzählte man es mir? Hat mirs ein Traum gebracht? Ich weiß es nicht, doch ist es in mir da. Ich will es dir jetzt sagen.«

Nun hob er den Blick und sah mich an. Da glitt es wie etwas Helles über sein Gesicht, und er rief aus:

»Es hatte deine Augen! Ganz dieselben Augen, die jetzt im Schatten liegen und doch so hell erscheinen! Sonderbar!«

Er sann ein kleines Weilchen. Dann fuhr er fort:

»Es war an einem Tag, an dem der Himmel offen stand. Da sprach der Herr: „Geht hin, um zu erlösen!“ Sie folgten dem Befehl, sie alle, alle, viele Tausende. Bei ihnen die für mich bestimmte auch. Es war Dschanneh, der Gottessonnenstrahl!«

Welch ein Wort! Dschanneh! Sein Geist begann, klar, bestimmt und rein zu denken. Ich hörte, und ich sah, daß er den richtigen Weg gefunden hatte. Er sprach weiter:

»Sie suchte mich. Wie schwer war ich zu finden! Ich lag im tiefsten, fernsten Erdenwinkel, bei meiner bleichen Ahne, der Entbehrung, von den zerrissenen Fetzen ihres Mantels vollständig zugedeckt. Mich hungerte. Es war so dumpf, so dunkel unter meiner armen Decke. Da griff ein kleines, kleines Händchen unter sie herein, hob sie ein wenig auf. Ein Sonnenstrahlchen kroch zu mir heran, und da, wo innerlich die Nerven des Gehöres enden, erklangen mir die leisen, lieben Worte: „Jetzt hab ich dich! Ich bin ein Gruß aus Gottes Himmelreich und soll als Seele immer bei dir bleiben. Doch, halt mich fest! Und komm aus diesem Winkel zu uns hinaus ans Licht! Willst du mich nicht verlieren, so richte deinen Geist nach oben, nicht nach unten! Ich brauche Gottesodem; den kranken Hauch der Tiefe aber muß ich meiden!“ Da warf ich meine Fetzen von mir ab und ging ans Licht des Tages, an die Wärme. Nun sah ich erst, wieviel die Huld des Herrn dem Menschen spendet, und griff mit fester Hand in diese Fülle, der Ahne denkend, der dies nötig war. Da eilten sie herbei, die Lebensprasser, die sich so wenig um die bleiche Armut kümmern, daß sie ihr selbst die Fetzen kaum noch gönnen. Da packten fette, goldgeschmückte Fäuste die hagre Armutshand, ihr zu entreißen, was sie in schwerer Arbeit sich errungen. Es kam der Kampf! In seinen kurzen Pausen sah ich in mir zwei klare, milde Augen, die aber trüber, immer trüber wurden, und jene Seelenstimme flüsterte mir zu: „Ich warne deinen Geist! Er konnte es nicht sehen: die Fetzen waren Flügel!“ Doch dieser Geist stieg zornig vor mir auf und machte seine „heilgen Rechte“ geltend. Ich folgte ihm, und in des Kampfes Tagen, die nimmer enden wollten, verklang die Seelenbitte in weite, weite Ferne, bis ich sie nicht mehr hörte. Auch jene Augen sah ich niemals mehr. Ihr trüber Blick war für mich ausgelöscht!«

Hier hielt er inne. Sein Gesicht hatte den Ausdruck einer Wehmut angenommen, die gewiß schon oft in stillen Stunden bei ihm Gast gewesen war. Aber es erheiterte sich wieder, als er fortfuhr:

»Da kamst du! Besinnungslos – krank – schwach – genesend! Ich sah dich in allen diesen Stadien. Dein Auge hatte sie mit dir durchzumachen. Je mehr du dich erholtest, desto bekannter wurde mir dein Blick. Ich sann und sann – und endlich fand ich es: Dschanneh, mein Sonnenstrahl! Kann ein Mensch Seelenaugen haben? Ich frage nicht! Denn ich habe schon gefragt, vorhin, als ich wissen wollte, wer das sei, den du mir gabst! Als ich nun dort am Fenster stand, wurde es heller und immer heller in mir. Noch ist es nicht ganz licht; aber es wird, es wird, es wird! Effendi, ich liege auch heut im fernsten, tiefsten Erdenwinkel. Es ist so kalt, so dumpf unter meinem Mantel. Ich fühle die Nähe meiner Ahne wieder. Wird jemand kommen, wie damals, um die geistigen Fetzen aufzuheben und mir meinen Gottessonnenschein, meine Dschanneh, zurückzubringen, die mir im Kampfe des Lebens verloren gegangen ist, weil ich nicht mehr auf sie achtete?«

»Ja,« antwortete ich. »Es kommt jemand. Er ist schon da!«

»Wer?« fragte er.

»Ich! Ich bin es! Wünschest du wirklich, daß ich deinen Mantel aufhebe?«

»Ja!« nickte er, indem seine Augen leuchteten.

»Und wirst du ihn, wie damals, von dir werfen und an das Licht des Tages gehen?«

»Gewiß, gewiß! – Wie gern!«

Da schob ich ihn vom Tische hinweg, griff nach seinem Manuskripte und sagte:

»Hier liegt er! Das ist er! Dein „Leidensweg“, deine Biographie, deine Rechtfertigung, das sind die alten Fetzen, welche ebenso in das Feuer müssen wie dort die Kästen mit den Makulaturen! Ich bitte dich, auch sie mir zu schenken!«

»Das Manuskript, das ganze, ganze Manuskript?« fragte er erstaunt.

»Ja, das ganze!«

»Du kennst es ja nicht! Du hast es ja noch gar nicht gelesen! Lies wenigstens hinten das Gedicht!«

»Ustad, Ustad! Du glaubst, durch dieses Gedicht das Manuskript retten zu können! Ja, es ist wahr: deine Ahne sitzt bei dir, die geistige Armut, die ausgehungerte Denkschwachheit, das kraftlose Unvermögen, sich unter den Lumpen hervorzufinden, die man mit warmer Liebe um sich schlägt, weil man sie doch, und doch, und doch für ungeheuer kostbar hält, obgleich man es nicht wagt, dies einzugestehen! Du glaubst, das Gedicht sei mir unbekannt. Ich kenne es besser als du. Höre zu! Du sollst die Fetzen fliegen sehen!«

Ich schlug die vorletzte Seite auf und las. Freilich keinesweges in dem Tone, den er dabei jedenfalls angeschlagen hätte. Der meinige war ironisch frömmelnd, möglichst salbungsvoll, bei den letzten vier Zeilen sogar sarkastisch. Als ich geendet hatte, sah ich ihn an.

»Effendi, du vernichtest mich!« rief er aus.

»Nein! Nicht dich, sondern deine Ahne! Meinst du, auf solche geistige Vorschatten stolz sein zu können? Ich weiß, was ich thue; aber ich kenne kein Erbarmen für jene feigen Geister, welche den römischen Kriegsknechten die Mantelfetzen des Erlösers entreißen und sich hineinwickeln, weil sie weder die Kraft noch den Mut besitzen, das zu thun, was er von ihnen fordert: „Ein jeder nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!“ Du trugst diese Fetzen zu deiner „Hosiannazeit“; das war lächerlich! Du trugst sie an deinem „Eli-lama-Tage“; das war anmaßend! Und nun willst du sie sogar an deinem „Auferstehungstage“ tragen! Wie würde das wohl sein?! Diese vermeintliche Auferstehung würde sich in eine Leichenschändung verwandeln! Ich sah hier in deinem Manuskripte angestrichene Stellen. Du sprichst da von dem Himmelreiche, sprichst von der Seligkeit! Wußtest du denn, ob grad dein Himmelreich auch jedem andern wohlgefallen werde? War es dir unbekannt, wer die sind, die von Christus in seiner Bergpredigt seliggepriesen werden? Du aber wolltest Thoren selig machen, die grad das Gegenteil von dem thun, was der Meister fordert! Wie erhaben groß war jener Geist, um den sich nach zweitausend Jahren noch alle hohen, edlen Geister sammeln, um an ihm emporzuschauen. Wo steckt der deinige? Zu Christi Füßen wohl? Ich suche ihn zwar da, finde ihn aber nicht. Steckt er vielleicht in des Erlösers Schatten? Ich warne dich! Er mag zum Lichte kommen! Und nun höre das letzte: Wie hoch, wie hoch denkst du von diesem deinem Geiste! Er, der vor bloßen Schemen voller Angst die Flucht ergriff, er soll jetzt auferstehen, seinen Zufluchtsort verlassen, sich hier aus seiner „Gruft“ hervorwagen, und zwar zum Schrecken und Entsetzen derer, vor denen er so ganz besinnungslos entfloh? Du sprichst von deiner „Geisterhand“. Du sollst von mir erfahren, was du von dieser Hand zu hoffen hast! Da, schau!«

Ich schlug das letzte Blatt des Buches um und gab es ihm. Er sah die neuen Zeilen.

»Ein Gedicht!« sagte er.

»Meine Antwort auf das deinige,« erklärte ich.

»Wann schriebst du es?«

»Als du am Fenster standest. Laß es mich hören, laut!« Er las:

»Ich kam zu dir mit meinem Sonnenschein;
Du aber wolltest mich und ihn nicht haben,
Du glaubtest ja, ein großer Geist zu sein,
Und warfst um dich mit dieses Geistes Gaben.
Du hieltest für die Ewigkeit geschrieben,
Was Menschenhand für Menschenaugen schreibt,
Und bist doch selbst ein Manuskript geblieben,
Das ungedruckt im Kasten liegen bleibt!

Ich kam zu dir mit meinem Sonnenlicht;
Du aber glaubtest, eignes Licht zu strahlen.
Es glimmte wohl, doch leuchtete es nicht,
Und teuer war die Lampe zu bezahlen.
Du wolltest alle Welt im Nu entflammen
Für dich und deine Thorenseligkeit;
Da aber fiel der Docht in sich zusammen,
Und nun umfängt dich selbst die Dunkelheit!

Nun komme ich mit all dem Sonnenglanz,
In dem vor ihrem Herrn die Geister beten.
Ich will zum allerletztenmal, doch ganz,
In meiner Klarheit Fülle, zu dir treten,
Begreifst du nun auch jetzt das große Wunder,
Das doch so einfach ist, noch immer nicht,
So gehst du wie der Docht im Lämpchen unter,
Denn deinem Geist fehlt jede Spur von Licht!«

Er hatte die Vorlesung in jenem hohen Tone begonnen, den, wie er glaubte, das Metrum mit sich brachte. Dieser Ton war laut und vorwurfsvoll. Aber schon nach den ersten Zeilen begann er zu sinken. Die Sätze folgten sich langsamer, weil der Gedanke sich sträubte, so schnell mitzukommen. Es traten sogar kurze Pausen ein. Das Gesicht des Ustad wurde ernster und immer ernster.

Als er zu Ende war, las er das Gedicht noch einmal leise durch.

Nun war ich hochgespannt auf das, was er jetzt thun werde. Er sah mich gar nicht an. Er sagte nichts, kein Wort. Er drehte sich langsam um und ging wieder nach dem Fenster. Ich blieb stehen, still, erwartungsvoll. Still war es auch in meinem Innern. Kein Gedanke kam; kein Gefühl bewegte sich. Mein Herz klopfte. Ich hörte es. Gab es jemand in mir, der stumm betete?

Da verließ der Ustad das Fenster. Ist es möglich, daß sich ein Gesicht in so kurzer Zeit so sehr verändern kann? Das seinige war wie verklärt. Seine Augen strahlten. Er blieb vor mir stehen und riß das letzte Blatt langsam und sorgfältig um es nicht zu verletzen, aus dem Manuskripte. Dann warf er das letztere weit hinter sich, so daß es an die Wand zu den alten Zeitungen zu liegen kam, und rief im frohesten Tone aus:

»Hier hast du es, Effendi, alles, alles! Den „Leidensweg“, die „Biographie“ und vor allen Dingen auch die „Rechtfertigung“, die ich keinem einzigen Menschen hier auf Erden schuldig bin! Verbrenne es, sobald du kannst, dort mit den Zeitungs-Makulaturen! Ich habe dich endlich, endlich nun begriffen:

»Wenn mich die Menschheit aus den Thoren stößt,
Um mich, den Menschen, an das Kreuz zu schlagen,
So wurde ich von meiner Schuld erlöst;
Sie aber hat die ihre noch zu tragen!«

Nun richtete er seine Gestalt hoch auf. Auf seiner Stirn drohte plötzlich der heiligste, unerbittlichste Ernst. Aus seinen Augen flammten Zornesstrahlen, und seine Stimme klang in ihrer tiefsten Tiefe, als er fortfuhr:

»Hatte ich „meinen Leidensweg“ zu gehen, oder hatte ich meine Feinde aufzufordern, sich um ihre eigenen Balken, nicht aber um meine Splitter zu bekümmern? Von welchem Monarchen oder von welchem Herrgott waren sie beauftragt, über mich zu Gericht zu sitzen? Standen sie etwa als erhabene Geister in unermeßlicher Ferne über mir? Nein! Denn dann hätten sie gar nicht auf mich geachtet! Sie waren Dochte, grad wie ich, weiter nichts; ja, sie hatten nicht einmal eigenes Oel, sondern sie zehrten von dem meinigen! Und grad das ist es, was sie kennzeichnet! Wenn sich niemand findet, von dessen Fehlern sie leben können, wird es in ihren Laternen dunkle Nacht. Aber haben sie einmal Einen gefunden, den lassen sie jahrelang nicht los, um ihn so vollständig zu verschlingen, wie einst die sieben magern die sieben fetten Kühe im Traume Pharaos! Wenn dann der Geist im Lande teuer wird, so sind doch wenigstens sie vom Hungertod gerettet – zum ewigen Heil der ganzen Nation! Mußte ich mich von ihnen auf die Hörner nehmen lassen? War ich gezwungen, mich meiner Fehler wegen von den Sünden Anderer aus einer Welt treiben zu lassen, auf welche ich wenigstens ein ebenso großes Anrecht besaß wie sie? Welches innere oder äußere Gesetz kann mich wohl verurteilen, unter Millionen der Einzige zu sein, der seine Fehler willig auf sich nimmt, während die Uebrigen, bis an den Hals tief in den ihrigen steckend, ihre schadenfrohe Augenweide an mir haben? Und nun sie mich für gestorben und begraben halten, ist es da nicht eine beinahe unfaßbare Schande für mich, hier in meinem »Grabe« herumzuwimmern, anstatt mich kräftig zu regen, um die Steine desselben auseinander zu sprengen?«

Er ging einige Male im Zimmer hin und her, blieb dann vor mir stehen und sprach weiter:

»Man sagt, daß Gräber sehr oft die Geburtsstätten von Irrlichtern seien. Also nicht einmal Docht, sondern nur Verwesungsgas! Es irrlichteriert auch auf dem meinigen herum. Effendi, ich stehe auf; ich muß hinaus! Du hast mich gefragt, ob ich wirklich entschlossen sei, wieder an das Licht des Tages zu gehen. Ich gab dir mein Wort, und ich werde es halten. Dort liegt der Mantelfetzen, den du mir weggenommen hast, meine Rechtfertigung, die ich keinem Menschen schuldig war. Noch ehe du ihn ins Feuer wirfst, habe ich meinen Lebensanteil wieder in den Händen. Ich fühle es, die alte Kraft ist wieder da. Ich habe bloß nur Zeit versäumt und werde da beginnen, wo ich einst aufhörte.«

»Bloß nur Zeit!« antwortete ich. »Ustad, Ustad, du kannst nichts Köstlicheres verlieren als die Zeit! Sie kommt nie zurück!«

»Sei versichert, daß ich einholen werde, was einzuholen ist!«

»Aber auch hierzu brauchst du wieder Zeit, die du abermals einzuholen hättest! Und wo willst du wieder anfangen? Wo du aufgehört hast? An der Stelle deiner Arbeit, wo du sie unterbrachst, oder an dem Orte, wo du früher wohntest?«

»Beides. Ich muß; ich muß! Denke an dein Gedicht, mit welchem du das meinige beantwortetest? Alles Andere habe ich weggeworfen; das Blatt mit diesem Gedichte aber hebe ich mir auf. Ich trage es auf meinem Herzen. Wie recht hast du mit dem Vorwurfe der „Torenseligkeit“! Ist Gott wirklich nur Liebe, nichts als Liebe? Ist er nicht auch gerecht? So lange ich glaubte, nur geliebt zu werden, gab es in dem Himmel, den ich lehrte, eben auch nichts, als nur Liebe. Aber als ich mich unter der Faust des Hasses zu krümmen hatte und der giftige Neid an mir emporgekrochen kam, da erkannte ich, daß ich mich geirrt haben mußte. Ist der Himmel so arm, daß er für die Liebe und für den Haß nichts als dieselbe Münze hat? Und soll nur Gott allein das Böse bestrafen dürfen, nicht auch der Mensch, nicht ich? Wenn Tausende mich unter ihre Füße treten, indem sie behaupten, auf dem alleinigen Weg zur Seligkeit zu sein, muß ich da diesen ihren Irrtum als Wahrheit anerkennen, indem ich mich vollends von ihnen zermalmen lasse? Diese Fragen stiegen oftmals zornig in mir auf, ohne daß ich sie zu beantworten wagte. „Liebet eure Feinde!“ klang es tief in mir. Da kamst du vorhin mit deiner „Torenseligkeit“, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ja, es ist Christi Gebot „Liebet eure Feinde!“, und ich werde es halten, so lange ich lebe und bin. Aber ich weiß nun, daß ich die wahre Liebe zum Feinde ebenso wenig begriffen habe wie die Liebe überhaupt. Wenn der Feind gegen mich auftritt, um mich zu vernichten, so habe ich ebenso streng gegen ihn zu verfahren, doch nur, um ihn zu retten! Das ist die wahre Feindesliebe und nicht mehr kranke Herzensduselei! Die offene Hand für jede offene Hand, doch auch die Faust gegen Jeden, der mir die seine ballt! Die Feinde zu schonen, ging ich aus dem Lande und wurde für sie tot. Was habe ich für mich und was habe ich für sie dadurch erreicht? Nichts! Darum bin ich entschlossen, zu ihnen zurückzukehren und nachzuholen, was ich versäumte. Ich will unter sie treten als ganz derselbe, der ich war, und doch als ein ganz anderer. Ich werde ihnen –«

»– – die Faust zeigen!« unterbrach ich ihn. »Nicht wahr, Ustad?«

»Ja,« nickte er.

»Und deine Dschamikun –? Was wird aus ihnen –?« Ich sah ihm ernst fragend in die Augen. Er senkte sie zu Boden. Es entstand eine Pause, doch nur eine sehr kurze. Dann hob er den Blick wieder empor, reichte mir die Hand und antwortete, heiter lächelnd:

»Welch eine jugendliche Uebereilung bei solchem Alter! Verzeihe mir im Namen dieser meiner Treuen! Wie könnte ich die verlassen, die mich niemals, niemals verlassen würden! Du siehst, der Zorn führt leicht auf falsche Wege, sogar auch mich, den sonst so gern Bedächtigen!«

»Das warst nicht du; es war der alte Schatten. Nur immer groß scheinen, ohne wirklich und wahrhaft groß zu sein! Du wolltest in jenes dir fremd gewordene Land zurück und auch an jene Stelle, wo du zu schreiben aufhörtest. Auf das eine hast du verzichtet. Und das Andere?«

»Fremd geworden, sagst du, und das ist richtig! Das Land – wohl auch die Arbeit!«

»Jawohl! Die Feder ruhte, doch nicht dein Geist, und wahrer Geist kennt nicht das Rückwärtsgehen. Ich will dir zeigen, was du schreiben mußt. Komm mit hinaus, und höre, was ich sage!«

Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch das Mittelzimmer auf das platte Dach. Indem ich mit der Hand einen Bogen über die Einfassung desselben hinaus beschrieb, fuhr ich fort:

»Da liegt dein Reich, das Reich der scheinbar Unmündigen, zu denen du von den scheinbar Mündigen getrieben worden bist. Ihre Augen sahen besser und schärfer als die Augen derer, die sich für weise hielten. Bei diesen letzteren liegt deine Vergangenheit, mit der du abgeschlossen hast. Laß sie mit ihr machen, was ihnen beliebt! Sie sind ja auch weiter nichts als nur die dunkeln, immer mehr verschwindenden Schatten einer Zeit, die hinter jedem von uns liegt, der in die Sonne schaut. Und diese Sonne kommt. Schau gegen Osten hin! Noch liegen die Ruinen hier in tiefer Dunkelheit, doch ballt sich schon der Nebel auf dem See. Er sagt uns, daß zu steigen jetzt beginne, was nicht mehr in der Tiefe bleiben will. Der Erde Sehnsucht ist also vorhanden. Es fehlt nur noch die lichte Kraft von oben, die liebend niederstrahlt, dies Sehnen zu erfüllen. Ein leiser Hauch verkündet schon den Morgen. Glaubst du, daß er uns täusche, daß er nicht kommen werde?«

»Er kommt bestimmt, mit Gottessicherheit!« antwortete er.

»So sag: Ist diese Sicherheit nur in der Zeit vorhanden, die Tag für Tag die gleichen Stunden bringt? Gibt es nicht auch noch andre Morgen, die ebenso gewiß nach andern Nächten folgen? Und andre Nebel, die grad jetzt sich ballen, wie diese hier, am See der Dschamikun? Du brachtest in dies Land den Trieb nach oben. Ich sah es ja, wie kräftig er sich zeigt. Es war hier Nacht, doch spürte ich den Hauch, der stets mit Sicherheit den jungen Tag verkündet. Glaubst du, daß es vermessne Menschen gebe, die ihre Nacht dem Licht entgegenstellen, damit der Tag von ihr vernichtet werde? Und wenn der Wahnsinn wirklich möglich wäre, der sich mit solcher Macht gewappnet denkt, so blase er mit seinem Hauch die Sonne, mit seinem Odem alle Sterne aus und füge zu der so entstandnen Finsternis das grasse Dunkel seines Hirns dazu, so wird es eben nur ein Wahnsinn sein und bleiben! Hetz tausend solche dunkle Aberwitzige auf einen einz’gen lichten, klaren Menschengeist, es wird geschehn, was unausbleiblich ist: Nicht werden diese Irren ihn verdunkeln, nein, sondern er wird ihren Wahn beleuchten und alles das, was hinter diesem liegt. Und schreitet er auf ihre Nebel zu, wird er zum Tag, vor dem die Schatten fallen. Das ist die andere Gottessicherheit, die unerbittlich naht, nach jeder Larve greift und jeden Vorhang hebt und alles an das Licht der Sonne zieht, was sich aus Angst vor diesem Licht versteckte.«

»Wie richtig!« nickte er. »Wir wissen ja, daß jene Schatten kommen, die heute sich hier angemeldet haben. Es gilt den großen Kampf, der zwischen Licht und Finsternis entscheidet. Wer Sieger bleiben wird, sagt das Naturgesetz. Ich ahne, daß sie nicht nur offen kommen werden. Des Dunkels Schwester ist die Heimlichkeit. Und wenn sie meinen, uns zu überwinden, so denken sie auch ganz gewiß daran, den Sieg sofort und schleunigst auszunützen. Drum fürchte ich, man kommt nicht nur zum See; man wird auch draußen unser Land besetzen. So habe ich also dafür zu sorgen, daß wir auch hierauf vorbereitet sind. Du siehst, ich denke schon nicht mehr an meine frühere Welt, zu der ich schleunigst wiederkehren wollte. Ich bleibe hier bei meinen Dschamikun, um zu beenden, was ich einst begann. Ich baute nur für sie das Alabasterzelt und muß sie heben, bis sie oben sind. Was ich von meiner „Geisterhand“ gedichtet, das hat Gedicht zu bleiben allezeit. Ich war ja doch kein Abgeschiedener und schaute über jene Grenze nicht, die keiner überschreitet, der noch lebt.«

»So hast du also doch noch nicht begriffen!« sagte ich.

»Was?« fragte er.

»Die Stelle meiner letzten Strophe: „Begreifst du nun auch jetzt das große Wunder, das doch so einfach ist, noch immer nicht“ –! Du hältst dich für einen Dichter, denn du dichtest. Und doch weißt du nicht, was ein Gedicht ist und wie es entsteht. Denk noch so tief und schön, und sage es in Reimen, das, was du schreibst, ist dennoch kein Gedicht. Der wahre Dichter denkt und schreibt zwar auch, doch was er schreibt ist Wirklichkeit und Leben, ist niemals nur Erdachtes. Dem Einen fehlt das Selbsterleben des Andern. Der eine „hat“ Geist, der Andere aber „ist“ Geist. Und dieser Geist kennt jene Grenze nicht, von der du sprachst. Ihm sind die Tore anderer Welten offen. Er geht da aus und ein. Ist er zurückgekehrt, um zu berichten, so kann er das nur in der Sprache tun, die man hier in der Körperwelt versteht. Und dieses Uebersetzen ist nicht leicht; man lernt es nur durch Mühe und Entsagung. Ich kenne keinen einzigen, der hierin Meister wurde; sie alle blieben bei dem Lehrling stehen. Auch ist dies Uebersetzen undankbar; ich meine undankbar im engsten Erdensinne. Wer Geistesleben übertragen will, der findet hier bei uns nicht eine einz’ge Form und keinerlei Begriff für das, was er uns gibt. Er hat sich mit der irdischen Gestalt und mit dem Menschenworte zu begnügen, die aber völlig unzureichend sind für seinen Zweck. Er kann nicht deutlich sagen, was er zu sagen hat, und uns nicht offen zeigen, was wir doch sehen sollen. Und wir, wir stehn dabei, mit vollen Körpersinnen und doch fast blind und taub für seine ganze Mühe. Der Ernste zwar, der logisch denkt und groß und rein empfindet, wird sehr bald ahnen, daß es um Unbeschreibliches, um Heiliges sich handelt, und darum sich befleißigen, sein Auge und sein Ohr dafür zu schärfen. An diesem Fleiße wächst sodann sein eigner Geist empor und lernt den andern nach und nach begreifen.«

»So ungefähr, wie ich zu wachsen habe,« fiel da der Ustad ein.

»Wer aber nicht so lauteren Herzens ist,« fuhr ich fort, »und trift’ge Gründe hat, den reinen Geist zu hassen, der stürzt sich wütend auf das arme Wort und auf die unwillkommene Gestalt und gibt sich Mühe, beide zu vernichten. Gelingt ihm dies, so prahlt er laut, den Geist besiegt zu haben, und wird von seinesgleichen hoch auf den Schild gehoben. Gelingt es aber nicht, so wirft er um die Blöße, die er sich gab, den Mantel frechen Spottes und greift anstatt des Geistes nun auch den Menschen an, um nichts an ihm zu lassen, was ihn zum Menschen machte. Welch ein Jubel nun für alle, die ebenso niedrig denken wie er! Sie fallen mit derselben Gier über den Verhaßten her. Er wird verhöhnt, geächtet, ausgestoßen, und wehe ihm, wenn er nichts Andres wäre als eben nur der Mensch, der an dem Pranger steht! Weißt du nun, Ustad, wie undankbar, ja wie gewagt es ist, mit der „Geisterhand“ schreiben zu wollen? Der Spott würde sich sofort deiner bemächtigen. Die raffinierte, rücksichtslose Lüge würde an dich herantreten, um den erhabenen Begriff, welcher dir bei dem Worte „Geist“ vorschwebt, zu fälschen und in „Gespenst“ zu verwandeln. Man würde höhnisch behaupten, du meinest nicht das Reich der Geister, welche große, edle Menschen sind, sondern das Geisterreich, von dessen Vorhandensein nur der Aberglaube faselt. Und selbst wenn du nicht mit Menschen-, sondern mit Engelzungen sprächest, die Unvernunft würde dich nicht verstehen „können“ und die Feindschaft dich nicht begreifen „wollen“, sondern dir alle möglichen Eigenschaften und Absichten unterschieben, aber ja nur keine guten!«

»Aber die Vernünftigen, Effendi?«

»Sie können dir keine Hilfe gewähren, denn sie sind machtlos, dem Heere der Andern gegenüber. Du kannst dich nur auf dich selbst verlassen. Du hast alleinzustehen, ganz, ganz allein, in allertiefster Seeleneinsamkeit, fest, stark, unerschütterlich – vollständig gleichgültig gegen jeden Schmutz, mit dem man nach dir wirft, gegen jede Niedertracht und Tücke, die aus vollen Nüstern dir entgegenschnaubt. Selbst die, welche an dir hangen, verstehen dich meist falsch, denn es erfordert Gedankenewigkeiten, bevor sie lernen, durch das Wort und die Gestalt hindurch den Sinn, den Geist, die Seele zu erfassen. Also auch sie stehen nicht bei dir, an deiner Seite. Aber grad diese Einsamkeit, diese Verlassenheit ist es, die dir den allerbesten, den einzigen Schutz gewährt. Bist du stark genug, dich zu dieser Entsagung zu bekennen, so gewinnst du sie lieb, unendlich lieb. Dein Ohr hört weder Lob noch Tadel mehr, und alles, was sich gegen dich aufbäumt, muß ohnmächtig in sich selbst zusammenfallen.«

»Ich begreife dich und begreife dich doch nicht,« gestand er ein. Auch ich habe entsagt, dann aber doch wenigstens meine Dschamikun gefunden. Die Einsamkeit, von der du sprichst, ist mir beinahe undenklich.«

»So schreibe, wie du ja wolltest, mit deiner Geisterhand; dann wirst du sie sofort kennen lernen! Versuche es, deinen Lesern ins Körperliche zu übersetzen, was Geist, was Seele ist, du wirst die Folgen so schnell an dir verspüren, daß es dir grauen möchte! Zeige ihnen einmal ein volles Menschen-Ich, von dessen Wesen sie trotz aller Psychologie noch keine Ahnung haben. Zerlege es vor ihren Augen in deutliche Gestalten, von denen du glaubst, daß sie sofort verstanden werden müssen – was wird die Folge sein? Man sieht das nicht, was du beschreibst, und denkt darum, du redest nur von körperlichen Dingen. Das preßt den Blinden jenes Lachen aus, worüber Sehende am liebsten weinen möchten. Man nennt dich einen Lügner, einen Prahler. Man spricht von Eigenlob, von widerlicher Selbstreklame. Und doch kann nirgendwo die Arroganz so ungeheuer sein wie grad bei diesen Toren, die ihren blinden Willen dem Schöpfer und den Menschen, sogar der sämtlichen Natur als oberstes Gesetz ins Antlitz schleudern. Was thust du dann, wenn diese –«

Ich konnte nicht weitersprechen, denn es fiel unter uns ein Schuß und wieder einer. Gleich hierauf hörte ich Kara Ben Halef, welcher seine Lagerstätte bekanntlich auf dem platten Dache über der Halle hatte, ausrufen:

»Was war das? Warum hat man geschossen?«

»Die Gefangenen brechen aus!« erwiderte eine weibliche Stimme.

»Wallahi! Laß sie nicht in das Haus! Ich packe sie hier von oben!«

Kaum gesagt, tat er es auch: Er schoß vom Dach herunter in den Hof.

»Das war die Stimme meiner wachsamen Schakara!« rief der Ustad. »Eile du hinab zu ihr, Effendi! Ich gebe meinen Dschamikun das Zeichen mit der Glocke; dann folge ich dir nach. Nimm deine Waffen; sie sind aber nicht geladen!«

Um die Lampe stehen lassen zu können, steckte ich eine Talgkerze an und ging schnellen Schrittes hinunter in die »Rumpelkammer«. So lange die Menschheit nicht Frieden hält, darf auch der Friedliche nicht auf die Wehr verzichten. Das wurde uns beiden jetzt bewiesen. Ich nahm den Stutzen nebst Patronen und sprang dann, mehr als ich stieg, die untern Treppen hinab. Da stand Schakara vor der Tür, welche in die Halle führte; sie hatte den Eisenriegel vorgeschoben und eine Pistole in der Hand. Am Boden stand eine brennende Lampe, daneben lagen die Kleider des Bluträchers. Auf dem Hofe brüllten viele Stimmen drohend durcheinander. Kara’s Schüsse krachten. Er beschützte von oben herab die Stufen zu der Halle. Ich warf das Licht weg, weil es mich hinderte, lud das Gewehr und erkundigte mich während dieser höchst eiligen Beschäftigung bei der Kurdin:

»Wie kamst du dazu, bewaffnet zu sein und die Flucht der Gefangenen zu entdecken?«

»Frage das später!« antwortete sie. »Horch! Die Glocken klingen! Nun erwachen alle unsere Krieger. Da ist die Gefahr für das hohe Haus vorüber. Die Feinde können jetzt weiter nichts mehr tun, als schleunigst fliehen. Lehre sie die Stimme deines Gewehres kennen!«

Sie schob den Riegel zurück und öffnete die Thür. Grad als ich hinaus in die dunkle Halle trat, kam Hanneh von oben herab.

»Mein Halef, mein Halef!« rief sie aus. »Wenn er die Schüsse hört, so wacht er auf und wird sich tief erregen!«

Sie eilte zu ihm hin. Ich aber bemerkte zu meiner Beruhigung, daß kein Fremder hier eingedrungen war. Sie waren schon fast alle zum Tore hinaus, und ich schickte ihnen mehrere Schüsse nach, doch nur in der Absicht, sie zu beängstigen, nicht aber, sie zu treffen.

»Verteilt euch schnell, schnell!« hörte ich die Stimme des Bluträchers brüllen. »Nur euch nicht wieder ergreifen lassen! Nur rasch zum Dorfe hinaus! Wir kommen ja doch wieder. Dann aber Rache, Rache!«

Die Glocken klangen weiter, in einzelnen, warnenden Schlägen. Im Küchengarten krachten jetzt auch Schüsse. Das war, wie ich später erfuhr, Tifl, der dort hinter den Sträuchern stand. Die übrigen männlichen Bewohner des Hauses erschienen, und unten im Dorfe begannen die Gewehre laute Antwort zu geben. Wo aber war der Pedehr? Und wo waren die Wachen, die drüben am Gefängnistore gestanden hatten? Ich sah sie nicht.

Da hörten die Glocken auf, zu stürmen, und der Ustad kam zu uns herab. Er traf mit dem Händler aus Isphahan und dessen Sohn zusammen, die sich nun auch einfanden. Ich bat, Fackeln anbrennen und vor allen Dingen das Tor wieder verschließen zu lassen. Als das geschehen war, ließ ich die Leute zusammenrufen. Man tat dies mit einer Hast, als ob es nun erst gelte, das zu verhüten, was doch bereits vorüber war. Die Aufregung hatte alle ergriffen, sogar den Ustad auch. Ich aber war gewohnt, mir in jeder Lage meine innere Ruhe zu bewahren, und konnte mich höchstens darüber wundern, daß der Pedehr sich noch immer nicht sehen ließ. Als ich nach ihm fragte, war es Schakara, welche antwortete:

»Ich sah ihn zu den Gefangenen hinübergehen, und er kam nicht wieder,« sagte sie.

»Wo warst du, als du das bemerktest?« erkundigte ich mich.

»Hier in der Halle. Ich wünschte, daß Hanneh und Kara schlafen möchten, und bat darum, bei Hadschi Halef wachen zu dürfen. Das gewährten sie mir.«

»Du immer Gute und stets Opferfertige!« unterbrach ich sie. »Was wollte denn der Pedehr so mitten in der Nacht bei diesen Fremden?«

»Das weiß ich nicht. Er sprach gar nicht mit mir, wohl weil er mich nicht sah. Als er so gar nicht wiederkehrte, wurde ich besorgt um ihn und ging hinaus auf die Stufen. Da sah ich das Tor des Gefängnisses offen, und die Soldaten kamen leise heraus. Ich erschrak so, daß ich kein Wort hervorbrachte, und doch war Hilfe nötig. Darum eilte ich in das Innere des Hauses und holte die Pistole des Pedehr, die stets geladen ist. Die schoß ich ab, alle beide Läufe, und dann verriegelte ich die Tür, damit es keinem Feinde gelingen möge, zu euch hinaufzukommen. Was dann geschah, das weißt du ja, Effendi.«

Wie kam es doch, daß es meine Hand hinüber zu der ihrigen zog, um sie zu drücken? Ich tat es und sprach dabei:

»Wenn der Geist des Hauses von unnützen Dingen träumt oder gar im vollen Wachen sich unvorsichtig erweist, so hat dann freilich die Seele die Augen offen zu halten. Und die bist du für uns gewesen, o Schakara! Ich vermute, der Pedehr steckt drüben im Gewölbe und ist Gefangener an Stelle derer, die er festzuhalten hatte. Schauen wir nach ihm!«

»Wird er nicht tot sein?« fragte höchst besorgt sein Tifl. »Sie können ihn ermordet haben!«

»O nein! Wer zum Wettrennen wiederkommen will wie dieser Multasim, der begeht zwar heimlichen, nicht aber offenbaren Mord. Der Pedehr wird ihm wie in einer Da’wa’l Ihana in die Hände gegangen sein und nicht den richtigen Vergleich zwischen sich und ihm getroffen haben. Da bleibt nun uns nichts Anderes übrig, als daß wir jetzt ganz ruhig sind und später anders als wie er verfahren. Nun kommt!«

Wir gingen mit zwei Fackeln über den Hof hinüber. Die Flüchtigen hatten infolge der Alarmschüsse gar nicht Zeit gefunden, die Tür fest zuzumachen; sie war nur angelehnt. Im Innern herrschte tiefe Dunkelheit! Durch unsere Fackeln aber wurde es hell. Da sahen wir sie am Boden liegen, den Pedehr und auch die Wächter, mit den eigenen Stricken gebunden und durch Knebel sprachlos gemacht. Alle, die mit hereingekommen waren, stießen Rufe des Erstaunens, der Verwunderung, ja des Schreckens aus. Der Ustad schlug die Hände zusammen und wollte sich wahrscheinlich in geharnischten Fragen ergehen; ich aber nahm ihm durch eine schnelle Handbewegung die Zeit dazu und sagte:

»Keiner von euch spreche! Es handelt sich hier um Anderes, als ihr denkt! Der Pedehr hat gethan, was er nicht lassen konnte. Schmälern wir ihm also nicht seinen Ruhm! Macht die Andern los; sie mögen gehen!«

Während man dies tat, bückte ich mich zu dem Scheik nieder, um ihn zu befreien, von denselben Fesseln, welche für seine und unsere Feinde bestimmt gewesen waren. Auch zog ich ihm den Knebel aus dem Munde. Da stand er langsam auf. Er sah uns an und lächelte. Sonderbar! Er wollte sprechen und brachte doch nichts hervor. Da sagte ich:

»Gib dir keine Mühe, o Pedehr! Wer sich von den Gegnern die Stimme rauben läßt, der braucht sich vor den Freunden auch nicht anzustrengen!«

Dann drehte ich mich um und ging hinaus. Die Andern folgten. Als wir wieder in den Hof kamen, wurde an dem großen Tore Einlaß begehrt. Es waren Dschamikun. Sie hatten einige der entflohenen Soldaten eingefangen und brachten sie wieder; ein Offizier oder gar der Bluträcher war aber nicht dabei. Darum bedeutete ich sie, diese ganz gewöhnlichen Menschen einfach aus dem Dorf zu schaffen und dann laufen zu lassen, dafür aber um so mehr acht auf ihre Pferde und andern Tiere zu geben, auf welche man es sehr leicht abgesehen haben könne. Beim Anbruche des hellen Tages sei dann die Gegend nach den Flüchtlingen abzusuchen und jeder Zurückgebliebene mit der Peitsche zu belehren, daß er hier bei den Dschamikun nichts mehr zu suchen habe. Hierauf entfernten sie sich, und das Tor wurde nun wieder verriegelt. Darauf fragte mich der Ustad, was jetzt zunächst und vor allen Dingen noch zu tun sei.

»Zunächst und vor allen Dingen?« antwortete ich lächelnd. »Vor allen Dingen schlafen wir.«

»Ich auch?«

»Jawohl! Es wird uns kein Fremder wieder stören.«

»Möglich; aber wir haben noch so viel zu besprechen und noch so viel zu bestimmen!«

»Mein Freund, wir haben schon viel zu viel besprochen, weit mehr, als nötig war und nötig ist. Und zu bestimmen? Dazu ist Zeit, wenn wir geschlafen haben, bevor du reisest. Laß mich dir offen sagen: Das Wort hat dann nur Wert, wenn es sich zur Tat gestaltet. Laß uns also von nun an mehr in Taten als in Worten sprechen! Daß der heutige Abend und ein Teil der Nacht so reich an Worten war, ist zu begreifen. Der vorangehende Tag gab uns den Stoff dazu, und dann war es ja Nacht; die Nebel wallten. Komm noch einmal mit mir herauf! Wir wollen sehen, ob sie noch da, ob sie vorhanden sind.«

Wir stiegen in meine Wohnung, wo die Lampe noch brannte; ich löschte sie aber aus. Unten in der Halle und unter den Bäumen des Hofes war es noch ganz dunkel gewesen. Hier oben aber führte die offenstehende Tür hinaus ins Freie und Schattenlose.

Als wir hinaustraten, standen die Bergeskuppen des Ostens bereits in wasseropales, bläuliches Hell getaucht. Hoch über uns lüfteten sich die Maschen des nächtlichen Schleiers, um vom Schein des Tages aufgelöst zu werden. In der Tiefe lag der See auch jetzt noch wie im Traume, aber dieser Traum war klar, von trüben Schatten rein.

Und die Nebel, die wir vorhin noch gesehen hatten? Verschwunden! Wohin? Wer kann es sagen!

»Nun?« fragte ich, hinunter nach dem Wasser deutend.

»Fort!« antwortete der Ustad.

»Und hier?«

Ich zeigte hinein nach der Bibliothek. Da holte er tief Atem und sagte:

»Ja, auch das waren Nebel, waren Dünste, und doch etwas ganz Anderes! Wie soll ich es nur nennen?«

»Du hast es bereits genannt und trafst den rechten Namen, als du behauptetest, daß es auf deinem Grabe irrlichteriere. Die Dünste hatten Flackerschein zu geben, um von ihm vollends weggezehrt zu werden. Verstehst du nun, was ich meinte, als ich von allzuvielen Worten sprach? Es ist geflackert worden. Wo? Ueber alten Sümpfen! Das schadet nichts; es reinigt sich die Luft. Dann sinken die Schwärme der stechenden Insekten nieder, und freundliche Gedanken kommen, den hellen Tagesfaltern gleich, herbei, um Häßliches und Scharfes abzulösen. Du sprachst von deinem Grabe, deiner Gruft, die hier in diesen deinen Räumen liege. Glaubst du, daß dies richtig gewesen sei?«

Er sah einige Zeit nachdenklich vor sich nieder und antwortete dann:

»Du weißt, daß man sich von alten, angewohnten Namen und Bildern nicht leicht zu trennen vermag.«

»Jawohl. Aber was wäre dann dein Alabasterzelt? Etwa das Mausoleum über der geliebten Gruft?«

Da fuhr er zusammen, schaute mich wie froh erschrocken an und rief aus:

»Effendi, Effendi! Was sagst du mir da für ein Wort! Was du mit keiner Rede des gestrigen Tages und der ganzen Nacht erreichtest, das sagst und beweisest du mir durch dies einzige Wort! Wer sein Zelt für so hoch oben baut, den kann vielleicht die Narrheit für gestorben halten, doch ist für diese Narrheit wohl jeder Kluge tot, und weil sie mich für tot hält, bin ich lebend! Effendi, du hast recht: Wir haben lange, lange Stunden mit einander geflackert und irrlichteriert: es mag auch heilsam gewesen sein, der stechenden Insekten und des Nachtgewürmes wegen; aber jetzt, jetzt erst, nachdem es Tag zu werden beginnt, hast du mir endlich das klare Wort und richtige Licht gegeben, in welchem ich erkenne, daß es nur an mir liegt, ob ich der Narrheit den Gefallen tun will, tot zu sein!«

»So schau hin gegen Osten! Dort bildet sich der erste Purpursaum, und leise Strahlen küssen ihn von fern. Reich an Erkenntnis nähert sich der Morgen, und wenn du willst, so teilt er sie dir mit.«

»Ja, ich heiße ihn willkommen, und er soll mein Lehrer sein,« rief er aus. »Du aber mußt ruhen und schlafen, den ganzen heutigen Tag. Ich verlangte zu viel von deinem noch nicht genesenen Körper. Darf ich dich für kurze Zeit wecken, ehe ich aufbreche, Effendi?«

»Ja, unbedingt! Ich habe vorher mit Agha Sibil zu sprechen und dann den Brief nach Bagdad zu schreiben.«

»So nimm jetzt meinen Dank, und schlaf am Herzen der Liebe ein, die dich und mich bewacht, indem sie uns wie eine einzige Seele umschließt!«

Er zog mich innig an sich, um mich auf Stirn und Mund zu küssen. Dann ging er hinab. Kaum war er fort, so trat die lange zurückgehaltene Schwäche ein. Es überkam mich eine so große Müdigkeit, daß ich schnell mein Lager aufsuchte und mich niederlegte, gleich so, wie ich war. Das Fenster stand offen. Ich richtete den letzten Blick hinaus. Am Himmel begannen die Strahlen in goldenen Funken zu blitzen. Dann war es wie ein Meer des Lichtes, welches mich plötzlich über und über umflutete. Nun schloß ich die Augen und schlief ein, doch ohne daß es um mich dunkel wurde. Wie war das sonderbar! –

  1. Siehe Band I pag. 548.
  2. Siehe Schiller, Die Kraniche des Ibykus: »So schreiten keine irdischen Weiber….«
  3. Siehe Band III S. 229.

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Wenn ein Maler alles das, was ich gestern mit dem Ustad gesprochen hatte, auf die Leinwand bringen könnte, so würde er es wohl am besten mit »Morgengrauen im Menscheninnern« zu unterzeichnen haben. Die vorangehende, lebensgefährliche Erkrankung, die Genesungsfreudigkeit, die fromme Feier am Tempeltage, das Erscheinen der Bluträcherschar, der vereitelte Mord in der Halle, das alles hatte trotz meiner innern Ruhe und Stetigkeit doch Nebel in mir aufgerührt, welche das fast überlang geführte Gespräch nur schwer zu Ende kommen ließen. Und noch viel schwerer war es in dem Ustad aufgewallt. Seine Lebensanschauung hatte im Haine Mamre gewurzelt, wohin die Engel einst zu Abraham kamen, und ihren höchsten Punkt in dem Worte Christi gefunden: »Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen!« Dieses Gebet war seine Richtschnur gewesen allezeit, in jeder Lebenslage. Da hatten sich die Andern, die sich ebenso Christen nennen, mit ihrem Haß auf ihn gestürzt, um ihn und seine Nächstenliebe zu vernichten. Er hatte nur einige kurze Versuche gemacht, sich gegen sie zu wehren; aber als er erkannte, mit welchen Waffen man gegen ihn kämpfte, da zog er sich in das stille, ruhige Land des Schweigens zurück, der christlichen Mahnung gedenkend: »So dir jemand deinen Rock nehmen will, dem laß auch den Mantel!« Aber in seinem Innern wallte es auf in wichtig schweren Fragen: Wer hat recht? Auf wessen Seite steht die göttliche Wahrheit, der göttliche Wille? Bei Christo, welcher sprach: »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf ihn?« Oder bei diesen hochangesehenen christlichen Priestern und Laien, die mit den Gottesleugnern im engsten Operationsbunde den begeisterten Bekenner der Lehre von der Nächstenliebe aus der »Gemeinschaft der Gläubigen« hinauszuwerfen trachteten? Es kann ja doch gewiß nur eines von beiden wahr und richtig sein! Entweder hat der Heiland sich geirrt, indem er etwas forderte, was ganz unmöglich war, oder diese Herren treten mit Widerwillen vor dem allerchristlichsten seiner Gebote zurück, weil ihnen die Selbstüberwindung fehlt, es zu erfüllen!

Wenn solche Fragen im Ustad nach klarer Antwort und nach Lösung trieben, so mußte alles, was in ihm festgestaltet gewesen war, ins Wanken kommen, tief erschüttert werden. Daher sein Bestreben, mich zu sich heran in das Gespräch zu ziehen und so lange festzuhalten, bis er deutlich sehe, wo eigentlich das wahre Christentum zu finden sei, bei ihm oder bei diesem Anderen. Wo es zu suchen sei, das wußte ich genau, durfte es ihm aber nicht in deutlichen Worten sagen, weil die Klarheit in seinem eigenen Innern aufzutauchen hatte. Daher mein dilatorisches Verhalten, die Dehnung unsres Stoffes und dann aber auch unsere gemeinschaftliche Freude, als die Antwort endlich, endlich aus dem Alabasterzelte herabgestiegen kam.

Nun war es hell und licht geworden, sogar während meines Schlafes. Ich weiß, ich träumte nicht, und dennoch war es mir, als ob ich träume. Wer war ich wohl, und wo befand ich mich? Ich atmete nicht, und doch war alles Odem! Ich bewegte mich nicht, und doch wallten tausend und abertausend Wogen unendlichen Glückes in mir. Meine Augen waren geschlossen, und dennoch sah ich Herrlichkeiten rings um mich her, die unbegreiflich sind. Und plötzlich hatte ich Flügel. Ich flog. Wohin? Durch Ewigkeiten! Bis ich müde wurde und nach einem Punkte suchte, an dem ich ruhen könne. Und ich fand ihn, fand ihn wieder, diesen meinen irdischen Ruhepunkt im Reiche der Ewigkeiten. Und wo lag er? Im Schlafe, im tiefen, tiefen Schlafe. Ich neigte mich trotzdem zu ihm nieder und – schlug die Augen auf.

Da stand die Sonne schon in des Vormittags Mitte, und um mich her war alles licht und warm. Das Geräusch des Tages drang zu mir herauf. Ich fühlte mich gekräftigt und so frisch, wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Ich stand also auf und ging auf das freie Dach hinaus. Im Hofe unten wurden die Kamele des Ustad gesattelt. Ihn selbst sah ich nicht. Links drüben grasten unsere Pferde auf der bergigen Weide, welche an den Komplex der Ruinen grenzte. Der See glänzte azurblau zu mir herauf. Die Bewohner des Duar waren in lebhafter Bewegung, natürlich der Reise ihres Ustad wegen. Von meinem Vorplatze führten Stufen hinüber nach dem Glockenwege, welcher, von oben herabkommend, sich bis zur Gartenhöhe niedersenkte, wo die Quelle sprudelte, neben welcher sich der Herr des hohen Hauses eine rundum eingefaßte Badestelle abgeschlossen hatte. Ein solches Bad erschien mir sehr von Nutzen. Darum stieg ich da außen langsam am Berg hinab und fand die Tür zum Wasser geöffnet. Wie das erfrischte, dem Körper doppelte Kraft zu geben schien!

Als ich fertig war, spazierte ich auf dem weichen Grase zu unsern Pferden hin. Welche Freude, als sie mich erkannten! Als ich mich dann wieder entfernte, wollten sie partout mitgehen, und ich hatte sie sehr eindringlich zu bedeuten, daß ich dies für jetzt nicht wünsche. Nun durch den Garten nach dem Hofe gehend, kam ich an der Küche vorüber. Diese stand offen. Die »Festjungfrau« sah mich, kam heraus, schlug vor Verwunderung die Hände zusammen, daß es nur so klatschte, und rief:

»Maschallah, du schläfst nicht mehr, Effendi! Das ganze Haus durfte sich nicht laut bewegen, um dich ja nicht zu wecken. Wie hat unser Ustad dich doch gar so lieb!«

»Wo befindet er sich jetzt?« erkundigte ich mich.

»In seiner Stube.«

»Und Agha Sibil?«

»Der sitzt mit seinem Sohne in der Halle. Ich habe die halbe Nacht hindurch gebacken und gebraten, um Proviant für die Reise nach Isphahan zu machen. Für dich aber habe ich trotzdem immer Zeit. Weißt du, Effendi, um was ich den Ustad gebeten habe, was er mir aus der Hauptstadt mitbringen soll?«

»Nun?«

»Eine Kasawaika

Bei diesem Worte strahlte ihr Gesicht in einer auffälligen, mir krankhaft scheinenden Wonne.

»Eine Kasawaika?« fragte ich, »woher kennst du das? So etwas wird doch hier gar nicht getragen!«

»Ich habe es gesehen, als ich noch beim Schah-in-Schah mit kochte. Die russischen Madama hatten es. Ich muß so eine haben! Rot und blau, grün und gelb. Das sieht so schön im Fackellicht.«

»Fackellicht? Hm! Ich denke, du gehst stets weiß?«

Da kam sie die Stufen vollends herab, trat nahe zu mir heran, legte das fette Händchen auf meinen Arm und sagte in ehrfurchtsvoller Duzbrüderlichkeit:

»Ja, immer weiß! Zuweilen aber auch bunt, ganz bunt! Das steht mir besser, viel besser! Der Aschyk sagt das auch!«

»Du hast einen Geliebten, Pekala?«

Da errötete sie bis zur Farbe der persischen Mohnblume, nahm einen geheimnisvollen Ton an und raunte mir zu:

»Ich vertraue es nur dir, Effendi, allein nur dir! Es ist ein tiefes Geheimnis. Ich habe es schon vielen sagen wollen! aber ich fürchte, daß sie es verraten. Du aber hast ein solches Herz voll Freundlichkeit und Güte, daß du es gewiß nicht weiterplaudern wirst. Ein edles Frauenherz muß unbedingt ein edles Männerherz haben, von dem es ganz und gar verstanden wird. Und Tifl ist zwar ein liebes, folgsames Kind, jedoch ein edles Frauenherz, das kann er nicht begreifen!«

Sie schaute so ganz zerflossen und »edel« zu mir auf, daß sie mir gewiß sehr spaßig vorgekommen wäre, wenn ich nicht das zwar noch unbestimmte aber doch sehr deutliche Gefühl gehabt hätte, hier vor einer vielleicht sehr wichtigen Entdeckung zu stehen. Psychologisch zweifelhafte Personen sind stets mit Vorsicht zu behandeln.

Darum antwortete ich nicht anders als in meiner gewöhnlichen, freundlichen ernsten Weise:

»So sage mir, Pekala, was ein edles Männerherz von dir zu begreifen hat!«

»Dreierlei. Erstens daß man Vertrauen haben will. Zweitens daß man verschwiegen sein will. Drittens daß man nicht ewig Köchin bleiben will! Leuchtet dir das ein, Effendi?«

»Sehr!«

»Das wußte ich. Du bist vernünftiger als tausend andere Männer, die kein edles Frauenherz verstehen. Darum habe ich gewußt, daß ich dir alles, alles mitteilen kann, was ich den meisten Menschen verschweige.«

»Also den meisten! Das ist sehr vorsichtig von dir! Nun sage mir vor allen Dingen, von wem hast du denn eigentlich das von dem „edlen Frauenherzen“ erfahren?«

»Von meinem Aschyk. Ich habe gar nicht gewußt, daß ich auch so etwas Edles besitze; er aber hat es sofort erkannt und mir gesagt.«

»Und woher hat er von solchen Herzen erfahren?«

»Von einer Engländerin, die er mit ihrem Engländer in Buschehr getroffen hat. Die hat alle Tage einen neuen Papierfächer verlangt und dabei gesagt, sie habe ein edles Frauenherz und dürfe sich also ihre Gesichtsfarbe nicht verderben. Darum bringt mir mein Aschyk stets auch zwei oder drei Papierfächer mit, so oft er kommt.«

»Wo kauft er diese? Ist er ein Dschamiki?«

»Was du denkst, Effendi. Es ist noch keinem Dschamiki eingefallen, mein Herz edel zu nennen! O nein; mein Aschyk ist kein hiesiger und auch kein gewöhnlicher Mann, sondern ein vornehmer Schahsadeh aus Isphahan.«

»Du Glückliche! Kennst du ihn schon lange?«

»Schon seit einigen Jahren.«

»Besucht er dich oft?«

»Fast immer, wenn vier Wochen vorüber sind.«

»Hat er da einen bestimmten Tag?«

»Ja, denn so ein hoher Schahsadeh ist immer pünktlich. Er kommt stets, wenn es Pazar günü ist. Dann ziehe ich abends meine weißen Sachen aus und lege die schönen bunten an, die er mir immer schenkt. Hierauf gehe ich zu ihm hinüber in die Ruinen, wo ich mit ihm beim Mondenscheine hin und her spaziere, wie eine Tochter des Beherrschers. Ist es aber dunkel, so steigen wir in das Innere und brennen eine Fackel an.«

»Warum da droben und nicht hier?«

»Weil er nur heimlich kommen darf. Edlen Herzen wird es nämlich ungeheuer schwer gemacht, sich öffentlich zu verbinden. Wir können erst dann miteinander in Isphahan einziehen, wenn der jetzige Schah gestorben ist. Ich habe darum geschworen, das tiefste Geheimnis zu bewahren. Aber weil es bei dir ebenso verschwiegen aufgehoben ist wie bei mir, so halte ich meinen Schwur ja doppelt, indem ich es dir erzähle.«

»Aber welchen Grund hast du wohl, es grad mir mitzuteilen?«

»Einen sehr großen, wichtigen Grund. Du bist doch, wenn unser Ustad abgereist ist, der Herr des hohen Hauses?«

»Ja.«

»Ich wußte es. Der Ustad hat uns gesagt, daß wir dir in allen Dingen sofort und willig zu gehorchen haben. Und weil du über alles zu befehlen hast, muß ich dich um etwas bitten, womit ich das Leben meines Aschyk retten kann. Ich bin also gezwungen gewesen, dir mein Geheimnis zu verraten. Wäre das nicht, so hätte ich mich nicht an dich getraut, obgleich ich fühle, daß du ebenso edel bist wie ich! Aber dort kommt der Pedehr. Verrate mich nicht, Effendi! Kein Mensch darf es wissen, kein einziger! Nur du und ich allein! Ich sage dir vielleicht schon heut noch mehr. Jetzt aber muß ich in die Küche!«

Sie machte mir einen so tiefen Knix, wie bei ihrer Taille möglich war, und verschwand dann in ihrem Reiche. Der Pedehr hatte allerdings im Begriff gestanden, nach der Küche zu kommen, sich aber schon wieder umgedreht, um nicht zu stören. Das war mir lieb. Es war nur diese Pekala, diese Köchin gewesen, mit der ich gesprochen hatte, aber ich muß gestehen, daß ich mich trotzdem nicht in der Stimmung befand, sofort mit einer andern Person über andere Dinge zu reden.

Was für Gedanken hatten mich bisher bewegt! Bis fast zu diesem Augenblick! Und nun hier plötzlich diese geistige Nichtigkeit, zehnfach, hundertfach nichtig grad durch ihre strahlend freundliche Gestalt! Diese Null war hohl; hierüber gab es keinen Zweifel. Aber hinter ihr stand eine ganze Finsternis bereit, sie mit dem Verderben für uns vollständig anzufüllen! Und es war so viel, so ganz unerwartet viel, was ich erfahren hatte! Ich zog mich unter die Bäume des Gartens zurück, um nachzudenken.

Zunächst hielt ich es für begründet, dem Ustad diese Neuigkeit einstweilen zu verschweigen. Ich durfte ihm seine Reise nicht durch Sorgen erschweren, die ihm sehr leicht den klaren Blick beeinträchtigen konnten. Sodann war diese Pekala für mich jetzt in ein ganz neues, in ein drittes Stadium getreten. Von der Krankheit geschwächt, hatte ich sie für ein herzliebes, wenn auch recht unbedeutendes Wesen gehalten. Dann war ein gewisses Mißtrauen gegen sie erwacht, von welchem ich auch dem Ustad gegenüber kein Geheimnis gemacht hatte. Jetzt aber wurde es ernst, sehr ernst! Ein Mensch, welcher Charakter und Inhalt besitzt, kann berechnet werden, eine Pekala aber nicht. Sie ist trotz aller ihrer Liebenswürdigkeit gefährlicher als mancher Bösewicht. Solche Menschen gleichen freundlichen Schmetterlingen, die um ihrer Raupen willen unschädlich gemacht werden müssen. Es tut einem leid, doch hat man sich zu wehren.

Wer war dieser Aschyk, dessen Spionin sie in so unglaublich lächerlicher Weise geworden war? Jedenfalls ein Sill, ein Untergebener von Ahriman Mirza. Er kam monatlich einmal zu ihr, und stets Sonntags. Am Montag aber war der »Tag des Soldes«, also der Versammlungstag. Jedenfalls fragte er sie da nach allem aus, was hier bei den Dschamikun inzwischen geschehen war, und berichtete es dann weiter. So waren die Sillan stets vorzüglich unterrichtet. Das ganze Lebenswerk des Ustad hing also von der Schwatzhaftigkeit einer Person ab, die weiter nichts, als eine Törin, eine Närrin war! Wer weiß, wieviel sie bisher schon geschadet hatte! Stand sie allein mit ihrem Verrate, oder besaß sie noch andere Vertraute? Ich war sehr geneigt, anzunehmen, daß wenigstens Tifl, ihr »Kind«, auch mit beeinflußt worden sei. Konnte man es überhaupt für möglich halten, daß die geheimen Zusammenkünfte der »Schatten« hier in den Ruinen so ganz ohne Verrat und Unterstützung von seiten der Dschamikun abgehalten wurden? Mir erschien dies beinahe undenkbar. Mochte das aber sein, wie es wollte, ich hatte mir schon gestern vorgenommen gehabt, nach den hiesigen Geheimnissen der Sillan zu forschen, und nach dem jetzigen Gespräch mit der Köchin verstand es sich ganz von selbst, daß bei ihr der Anfang zu machen sei, und zwar so bald wie möglich.

Nun ging ich nach dem Hofe. Dort stand Agha Sibil mit seinem Enkel jetzt bei den fertiggeschirrten Kamelen. Ich erkannte den Ersteren sogleich an dem fast beispiellos starken Schnurrbarte, der so riesig war, wie ich noch keinen gesehen hatte. Man mochte auch mich ihm schon beschrieben haben, denn sobald er mich sah, kam er auf mich zu, nannte seinen und meinen Namen, stellte mir seinen Enkel vor und bat mich, bei ihnen im Baumesschatten Platz zu nehmen, damit sie von mir ausführlicher erfahren könnten, was ihnen von Andern nur andeutungsweise mitgeteilt worden sei. Es verstand sich ganz von selbst, daß ich diese Bitte mehr als gern erfüllte.

Noch während ich erzählte, kam der Ustad mit dem Pedehr aus der Halle. Sie gesellten sich zu uns. Der Erstere hatte gar nicht geschlafen und mich soeben wecken wollen, aber von dem Letzteren erfahren, daß ich schon aufgestanden sei. Der Pedehr verhielt sich so zu mir, als ob gar nichts vorgefallen sei, was man ihm vorzuwerfen habe, und darum zeigte auch ich mich unbefangen. Der Ustad aber schien sehr ernst mit ihm gesprochen zu haben und vermied es sogar jetzt noch, seinem Blicke zu begegnen. Der Kaufmann war ein hochehrwürdiger, braver Herr, der unendlich glücklich und dankbar war für das, was ich ihm erzählte. Er hätte mir noch gern stundenlang zugehört, mußte sich aber bescheiden, weil nun aufgebrochen werden mußte, weil es in der Absicht des Ustad lag, die verwandten Kalhuran noch heut zu erreichen, um ihnen Nachricht über das zufriedenstellende Befinden ihres Scheikes zu bringen. Doch blieb uns Zeit, das Nötigste zu besprechen.

Der Ustad übergab mir seine Wohnung mit dem sämtlichen Verschluß, und ich machte ihn noch einmal besonders auf den Brief aus Basra aufmerksam, den er in Isphahan an den »Henker« zu besorgen hatte. Als ich eine Bemerkung über die Gefahr aussprach, welche ihm seitens der entflohenen Soldaten drohen könne, teilte er mir mit, daß unten im Dorfe eine Schar bewaffneter Dschamikun auf ihn warteten, welche ihn begleiten würden, bis alle Gefahr vorüber sei. Hierauf wurden alle Bewohner des »hohen Hauses« herbeigerufen, damit er sich von ihnen verabschieden könne, grad als Kara Ben Halef von einer Tour heimkehrte, die er unternommen hatte, um sein Pferd wegen des Wettrennens geschmeidig zu erhalten. Er wendete sofort wieder um, weil er es für eine Ehrenpflicht hielt, den Ustad bis an die Grenze seines Gebietes zu begleiten.

Mir war es leider nicht möglich, mich ebenso höflich zu erweisen. Ich mußte bleiben, wo ich war, und konnte nur hinauf auf meine Plattform steigen, um erst mit dem Auge und dann mit dem Herzen dem zu folgen, von dem ich mich trotz aller äußerlichen Entfernung innerlich unzertrennlich fühlte. Ich war nun Herr seines Hauses und nahm mir vor, es im allerbesten Sinne zu sein, der menschenmöglich ist!

Eigentlich hatte ich mich jetzt wieder niederlegen wollen und auch sollen, aber ich fühlte sonderbarerweise nicht die geringste Spur von Müdigkeit. Darum ging ich jetzt wieder hinab, um zunächst nach meinem Halef zu sehen, von dem ich heut noch nichts vernommen hatte. Hanneh war bei ihm. Er hatte soeben die Augen aufgeschlagen und richtete sie auf mich, als ich mich bei ihm niederließ. Ein liebes, liebes Lächeln ging über sein eingefallenes Gesicht.

»Sihdi, gib mir deine Hand!« flüsterte er. »Ich muß sie küssen!«

Ich kannte ihn und wußte, daß ich ihm diese Liebe nicht verweigern durfte. Er führte meine Hand an seine Lippen und hielt sie dort so fest, wie es ihm möglich war. Dabei hielt er die Augen wieder geschlossen.

»Sihdi, wo – wo bist du gewesen?« fragte er leise. »Aus deiner Hand strömt – Leben – Kraft – und Genesung! Warst du vielleicht – im Schlafe dort, wo – wo – wo –«

Er sprach nicht weiter, sondern er schlief ein.

Dann ging ich wieder durch den Garten und nach der Pferdeweide hinter. Es war etwas in mir, was mich drängte, die dort so nahen Ruinen einmal in größerer Deutlichkeit als bisher vor mir liegen zu haben. Ich ahnte, daß in ihnen der Anfang des Endes liege, dessen Fäden jetzt in meine leider noch so schwache Hand gegeben waren. Das Gehen fiel mir heut schon wieder leichter als noch gestern. Meine kräftige Natur begann, sich geltend zu machen. Die Pferde seitwärts lassend, wendete ich mich der Stelle des alten Mauerwerkes zu, wo die letzten Büsche des Weidelandes standen. Dort war einer der cyklopischen Steine zu irgend einem Zwecke aus den Fugen gehoben und auf die hohe Kante gerichtet worden. Er warf nach Nord den Schatten. Da wollte ich mich niedersetzen und das Gemäuer in Augenschein nehmen. Aber es saß schon jemand da – Schakara. Meine Schritte waren im Grase unhörbar gewesen. Sie wurde auf mein Kommen erst aufmerksam, als sie meinen Schatten neben dem des Steines erscheinen sah. Da wendete sie den Kopf, wer es wohl sein möge. Als sie mich erblickte, wollte sie aufstehen, aber ich bat sie, ruhig sitzen zu bleiben, und nahm in ihrer Nähe Platz.

Sie zeigte nicht die geringste Spur von Verlegenheit, während ein europäisches Mädchen, in derselben Beschäftigung überrascht, gewiß aufgesprungen und davongelaufen wäre. Sie hatte nämlich ihre langen, schweren, dunklen Flechten geöffnet und war soeben dabei, dieses fast überreiche Haar durch den Kamm zu glätten.

»Laß dich nicht stören, Schakara!« sagte ich. »Hier bin ich Kurde und nicht Europäer.«

»Europäer – ?« Sie sah mich fragend an. Dann kam es wie Verständnis über sie: »Ist es bei euch eine Schande für die Frauen, ihr Haar vor euren Augen zu berühren?«

»Zwar keine Schande, aber auch keine Ehre. Unsere Frauen zeigen ihr Haar nur in künstlich geordnetem Zustande.«

»Künstlich geordnet?« lächelte sie. »Also ist bei euch diese Ordnung nicht Natur, sondern Kunst? Vielleicht ist das richtig; ich verstehe es nicht.«

Wie einfach und unbefangen das klang! Wie hell und sorglos sie mich dabei anschaute! Und wie unbedenklich sie dann in ihrer Beschäftigung fortfuhr! Ich richtete mein Auge auf die Ruinen, zunächst ohne weiter zu sprechen. Kein Lufthauch war zu spüren. Es herrschte tiefe Stille, und nur – was war denn das? Während Schakara ihr Haar bewegte, war jenes laut knisternde, ganz eigenartige Geräusch zu hören, welches entsteht, wenn elektrische Fünkchen überspringen. Sie bemerkte meine schnelle Kopfbewegung und fragte:

»Wolltest du mir etwas sagen, Effendi?«

»Eigentlich nicht; aber, knistert dein Haar stets so, wenn du es ordnest?«

»Ja. Oft noch viel lauter.«

»Seit wann?«

»So lange ich mich besinnen kann.«

»Kennst du noch andere Personen, bei denen dasselbe Geräusch entsteht?«

»Nur eine einzige, nämlich Marah Durimeh. So oft ich ihr die langen, weißen Zöpfe flocht, erklang ihr Haar in diesen lieben Tönen, und in den Händen war es mir, als sprängen tausend Funken auf mich über. Sie sagt, das müsse sein, wenn sich nichts Fremdes zwischen Leib und Seele stelle. Hast du es noch nicht gekannt, Effendi?«

»Doch!«

»Bei vielen?«

»Nein; nur bei einem, bei mir. Darum konnte ich nicht vergleichen und nach den Ursachen suchen.«

»Die Ursache ist das Leben, ist die Seele. Ist diese ungeschwächt, so hat sie auch die Kraft, zu zeigen, daß sie Ueberschuß an Lebensvermögen besitze.«

»Wie du so sprichst, Schakara!«

»Wie soll ich anders reden? Ich hörte es von Marah Durimeh, die meine Lehrerin gewesen ist, so lange ich lebe. Sie liebt dies Knistern sehr; sie pflegt es sogar; sie wird besorgt, wenn es sich einmal mindert. Sie spricht von ihm, wenn sie aus alter Zeit erzählt, als noch kein Mensch von Krankheit etwas wußte. Hat sie dir nicht gesagt von jenem fremden Dichter, der seine Poesie, die er verloren hatte, an diesem Knistern, als sie dann wiederkam, sofort erkannte? Das war das Roß der Himmelsphantasie, der treue Rappe mit der Funkenmähne, der keinen andern Menschen trug als seinen Herrn, den nach der fernen Heimat suchenden. Sobald sich dieser in den Sattel schwang, gab es für beide nur vereinten Willen. Die Hufe warfen Zeit und Raum zurück; der dunkle Schweif strich die Vergangenheiten. Des Laufes Eile hob den Pfad nach oben. Dem harten Felsen gleich ward Wolke, Dunst und Nebel, und durch den Aether donnerte das Rennen hinauf, hinauf ins klare Sternenland. Dort flog die Mähne durch Kometenbahnen, und jedes Haar klang knisternd nach der Kraft, die von den höchsten aller Sonnen stammt und drum auch nur dem höchsten Können dient. Und thaten sich die Thore wieder auf, die niederwärts zur Erdenstunde führen, so tranken Roß und Reiter von dem Brunnen, der aus der Tiefe jenes Lebens quillt, und kehrten dann im Schein der Sterne wieder. Der Reiter hüllte leicht sich in den Silbermantel, den ihm der Mond um Brust und Schultern warf, und seiner Locken Reichtum wallte ihm vom Haupte. Des Rosses düstre Mähne aber wehte, im Winde flatternd wie zerfetzte Strophen, schwarz auf des Mantels dämmerlichten Grund. Und jene wunderbare Kraft von oben, die aus den höchsten aller Sonnen stammt, sprang in gedankenreichen Funkenschwärmen vom wallenden Behang des Wunderpferdes, hell leuchtend, auf des Dichters Locken über und knisterte versprühend in das All.«

Sie hatte langsam und natürlich, ohne alle künstliche Hebung gesprochen, als ob diese Art der Ausdrucksweise eine ihr keineswegs ungewöhnliche sei. Ich war erstaunt, ja wohl mehr als erstaunt. Weniger über die bilderreiche Ausdrucksweise, weil diese dem Oriente eigen ist, als vielmehr über die Tiefe und den dichterischen Wert der Gedanken, welche sie ausgesprochen hatte. Welch ein Denken, Schauen und Empfinden! Welch eine reiche, seltsame Welt in ihrem Innern! Welche Schätze mochte sie in sich tragen, die doch so anspruchslos hier an der Erde saß! Sie begann jetzt, ihr aufgelöstes Haar wieder in Flechten zusammenzulegen. Sie sah dabei nicht zu mir herüber, fühlte aber dennoch meinen auf ihr ruhenden Blick, denn sie sagte:

»Effendi, du forschest in mir. Frage mich doch lieber, wenn du etwas willst! Ich sage es dir ja gern.«

Da erkundigte ich mich denn auch sogleich:

»Du nanntest Marah Durimeh deine Lehrerin. Was hat sie dich gelehrt, und in welcher Weise that sie es?«

»Als echte Muallima, die nichts falsch oder überflüssig tut. Sie lehrte mich zunächst das Lesen und das Schreiben. Dann brachte sie mir nach und nach alle jene Bücher, die das enthielten, was ich lernen sollte.«

»Gedruckte Bücher?«

»Nein, zunächst noch nicht. Diese bekam ich erst nach Jahren, als sie glaubte, daß mich fremde oder gar falsche Gedanken nicht mehr beirren könnten. Was ich in der ersten Zeit zu lesen und zu lernen hatte, das schrieb sie alles selbst, nur ganz allein für mich. Sie sagte, das müsse so sein, wenn ich werden solle, was ich zu werden habe. Solche Bücher haben die genaue Mostra zu enthalten, nach welcher die geistige Gestalt zu bilden sei, keinen Strich zu wenig und aber auch keinen zu viel. Weil aber niemals zwei verschiedene Personen ganz dieselbe Begabung besitzen, könne die Form für den einen nicht auch die Form für den andern sein. Darum sei außer der Schule des Lebens jede andere zu eng, die Kleinen in der Weise groß werden zu lassen, daß sich jeder in seiner besondern Eigenart entwickele. – Du siehst mich staunend an, Effendi. Habe ich etwas Törichtes gesagt?«

»Ich staune, ja; aber aus einem ganz andern Grunde, als du denkst. Schakara, ich sage dir: Marah Durimeh ist eine Meisterin! Hat sie noch andere Schülerinnen außer dir?«

»Wer kann das sagen! Sie ist zwar meist verborgen, doch überall geliebt, wo sie erscheint, und jeder lernt von ihr, zu dem sie kommt. Mich aber hat sie einst zu sich geholt; ich war und blieb bei ihr und teilte alles, was sie trug und tat. Sie gab sich wohl mit keiner so viel Mühe wie mit mir, und was ich bin, das habe ich nur ihr allein zu danken.«

»So weiß sie, daß du jetzt hier bei dem Ustad bist?«

»Ja. Ich bin sogar in ihrem Auftrag hergekommen, von dem er allerdings bis jetzt noch nichts erfahren hat. Ich mußte erst studieren.«

»Was oder wen? Darf ich es wissen?«

Da schlug sie ihre klaren Augen groß und voll zu mir auf und antwortete:

»Mir ist, als ob ich vor dir kein Geheimnis haben dürfe, als müsse ich dir alles sagen, was in mir ruht, und auch was mich bewegt. Drum will ich nicht verschweigen, daß ich den Ustad prüfe; weshalb, wozu, das weiß nur Marah Durimeh. Auch ist die Gegend, wo er wohnt, für mich von Wichtigkeit. Es liegt hier in der Nähe viel begraben, was auferstehen will. Er selbst spricht ja von seiner eignen Gruft, doch ist das wohl nicht richtig. Schau diese Mauern an, die hoch und stark sich hier vor uns erheben, als ob sie Heimlichkeiten zu verbergen hätten, die keines Menschen Auge sehen dürfe! Wer baute dies? Warum in dieser Weise? Aus welchem Grund gab man den Bau nicht völlig erdenfrei? So türmt man doch nur Festungen empor, von welchen aus man blutig herrschen will! Wozu Tyrannensitze für den Vater, der liebend zu den Kindern niedersteigt, wenn im Gebete sie ihn zu sich rufen? Indem ich dieses frage, muß ich an jene alte Sage denken, die von „Chodeh, dem Eingemauerten“ berichtet. Kennst du sie schon, Effendi?«

»Nein.«

»So laß sie dir erzählen!«

Sie schaute zu den Ruinen hinüber, nickte wie unter einem heimlichen Gedanken vor sich hin und begann sodann:

»Das war zu jener Zeit, als der Teufel auf den Gedanken kam, Baumeister zu werden. Er zeichnete viele tausend Pläne, aber keiner war ihm fromm genug. Da sah er ein, daß man jedes Fach, also auch dieses, erst nach und nach zu erlernen habe, und beschloß darum, zu den Menschen in die Schule zu gehen. Da er von unten zu beginnen hatte, so begab er sich zunächst zu einem Volke, welches nur auf Felsen baute. Als seine Zeit bei diesem vorüber war, suchte er ein anderes auf, welches ungeheure Steine aus dem Felsen brach, um sie zu Mauern aufeinander zu türmen. Bei einem dritten Volke lernte er Ziegel streichen und mit Asphalt zu Gebäuden vereinigen, die von scheinbar ewiger Dauer waren. Bei einem vierten richtete er sich auf riesenhafte Pfeiler und Säulen ein, welche selbst unter den schwersten Lasten nicht zusammenbrachen. Bei einem fünften hörte er zum erstenmal von Schönheit sprechen. Die Säulen bekamen freundlichere Gestalt, und die bisher platten Dächer hoben sich empor. Beim sechsten kam der Schmuck dazu und das Bedürfnis, Licht im Raum zu haben. Ein siebentes sah auf die äußere Gestalt und forderte für jedes Bauwerk andre Formen. So legte er sich also auf den „Stil“ und weiter noch auf alles, was sonst noch nötig war. Und als er dann vor seiner Meisterprüfung stand, an was für Bauten hatte er, der Teufel, sich geübt? Was glaubst du wohl, Effendi?«

»Erlaube mir, zu hören, nicht zu raten!« antwortete ich.

»An lauter frommen Werken, die nur zur Ehre dessen errichtet worden waren, für den der Teufel nichts als Haß besitzt. Zwar hatte wohl auch er die Frömmigkeit gewollt, denn fromm erscheinen, fördert selbst den Teufel, doch wirklich fromm zu sein, daran geht er zu Grunde. Drum war sein Haß jetzt gar zum Grimm, zur stillen Wut geworden, weil alle diese Bauten der Wahrheit dienten, aber nicht dem Scheine, und er beschloß, in seinem Meisterstück ein Werk zu schaffen, bei welchem alles Schein, nichts aber Wahrheit sei. Er ging in jenes Felsenland zurück, wo er die Lehre einst begonnen hatte, denn dort war Gott ein lieber Himmelsgast und ließ sich oft bei seinen Menschen nieder. Er saß so gern bei ihnen, licht und hehr, im offnen Alabasterberg, sich seiner Sonne freuend. Da kamen sie herbei, die er geschaffen, sie alle, groß und klein, von seiner eignen Hand den Segen zu empfangen. Sie liebten ihn; sie gönnten ihn auch andern; die Eifersucht auf Gott und auf die Seligkeit war ihnen unbekannt. In diesen Menschheitsfrieden trat der Andre, den es gelüstete, sein Meisterstück zu machen. Er brachte seine Scharen, die ihm dienen, und ließ den Neid der Hölle rings verbreiten. Als dann der Herr im Morgenrot erschien, um wieder einen Erdentag zu weilen, da drangen alle, alle auf ihn ein, nur hier bei ihnen noch, sonst nirgends zu erscheinen; die andern Menschen seien es nicht wert. Da neigte er das Haupt und ging betrübt von dannen. Er sprach den Segen nicht, sprach überhaupt kein Wort. Der Andre aber sprach: „Wißt ihr noch nicht, daß Gott sich zwingen läßt? Was ist die Bitte wert, wenn sie nicht zeigt, daß sie auch wirklich will! Beweist ihm euern Ernst, so muß und wird er tun, was ihr begehrt. Ich will euch euern wahren Gott verschaffen; die andre Welt mag andre Götter haben!“ Nun sandte er den Neid in Scharen aus, herbeizuschleppen, was er vorbereitet. Und als das nächste Morgenrot erschien, nahm er die göttliche Gestalt des Höchsten an und kam, den frommen Schein ins Werk zu setzen. Er ließ sich licht und hehr im Berge nieder und lächelte voll Huld den Menschen zu. Und als sie ihre Bitte wiederholten und ernsten Nachdruck auf die Worte legten, sprach er im Tone väterlicher Güte: „Ich prüfte euch; drum war ich gestern still; heut aber sag ich euch, ihr habt bestanden. Die Macht der Frömmigkeit ist größer als die meine. Drum nehmt mich hin als euer Eigentum. Ich will nun euch und niemand sonst gehören!“ Da flogen die Quader herbei, die Säulen, die Steine, die Ziegel. Der Felsen gab das Fundament; die Mauer klammerte sich fest; sie wuchs empor. Der Teufel saß als Gott im Heiligtume. Doch seine Scharen regten sich, ihn eiligst für das Volk hier einzumauern. Das Bauwerk stieg ihm immer höher, bis an den Leib – bis an die Brust – bis an den Hals! Und betend lag dabei die Andacht auf den Knieen! Der Kopf verschwand nun auch. Fast war der Berg verschlossen. Da schwang ein dunkler Flederhäuter sich aus der letzten Oeffnung und flatterte in das Verschwundensein. Und in demselben Augenblick erschien der Architekt vor seinem Werke und lobte laut, daß er zufrieden sei. – Was war es für ein Bau? Kein Mensch vermags zu sagen. Wo liegt der Berg? Ich weiß es nicht, doch möchte ich ihn finden. Und wenn ich mich nicht irre, bist du bereit, mit mir nach ihm zu suchen, Effendi.«

»Es wäre wohl der Mühe wert, sich hiermit zu beschäftigen,« antwortete ich. »Es steckt in jedem Märchen und in jeder Sage ein Kern, um dessen willen die Dichtung entstanden ist. Jedenfalls enthält auch diese Erzählung von „Chodeh, dem Eingemauerten“, eine Wahrheit, welche in dieser Form gesagt worden ist, um jedermann zugänglich zu werden. Nur meine ich, daß dieser Gottesberg mit seiner zugemauerten Alabasternische nicht an irgend einem geographischen Ort, sondern nur auf rein geistigem Gebiete zu suchen sei.«

»Ich nicht.«

»Wie?« fragte ich überrascht. »Du denkst dir einen wirklichen Berg, auf den ich mit diesen meinen Füßen hier steigen könnte?«

Da flog ein unbeschreiblich schalkhaftes Lächeln über ihr schönes Angesicht, und es klang beinahe wie von oben herab, als sie erwiderte:

»Effendi, Effendi! Willst du mich etwa glauben machen, daß ein Kurmangdschimädchen klüger sein könne als ein Gelehrter aus dem Abendlande? Was meinst du, wenn du von „Wirklichkeiten“ sprichst? Ist nur das wirklich, was ich sehe, höre, fühle? Und muß das, was du als „geistiges Gebiet“ bezeichnest, von unsern Sinnen niemals wahrzunehmen sein? Sind wir Menschen nicht unendlich verschieden begabt? Der Eine sieht, hört, riecht, fühlt oder schmeckt etwas, wofür der Andere nicht einen einzigen Empfängnisnerven besitzt. Und diesem Andern werden dafür viel tiefere und verborgenere Dinge offenbar, welche der Vorige für unbegreiflich hält. Ich bin nicht wie du, und du bist nicht wie ich; aber indem wir uns gegenseitig vertrauen und ergänzen, können wir uns zu einer Persönlichkeit vereinigen, welcher zu erreichen möglich ist, was wir vereinzelt nie erreichen würden. Das ist so leicht zu begreifen; aber schau um dich und sag, ob man es beherzigt! Der Sonderstolz, Effendi, der Sonderstolz! Du magst meinen, noch so hoch zu stehen, so hast du herabzusteigen, um zu lernen und dich fördern zu lassen. Willst du aber keinem Niederen etwas zu verdanken haben, so stehst du unter ihm, bist niedriger als er! Ich wollte, ich dürfte dir die Berge zeigen, die es für mich giebt, obgleich du sie nicht siehst!«

»Und ich dir auch die meinen!« fiel ich da schnell ein.

»Wo stehen sie?« fragte sie ebenso schnell.

»Da oben an der Grenze, in stiller Einsamkeit. Nur selten kommt ein Mensch, um dort emporzusteigen und heimzukehren in das Wunderland.«

»An der Grenze? Heimkehr? Wunderland? Effendi, du siehst, ich bin überrascht! Meinst du etwa dasselbe wie ich? Dieselben Felsenkronen, die mir so oft im Abendrot erglühten? Dieselben Pfade durch die heil’ge Stille, in welcher jede Blume und jeder Lufthauch betet? Dasselbe Wasserrauschen, von welchem meine Seele trinkt, noch durst’ger als die Lippe, die ich kühle? Warst du vielleicht in jenem Tal der Sternenblüten, wo unsichtbar die Seelen wandeln gehen, doch ihrer Füße Spur im grünen Moose lassen? Ich war einst dort mit Marah Durimeh! Wir hörten süßes Flüstern um uns her und leises Wehen, wie von himmlischen Gewändern. Ein Veilchen stand am Quell, das einzige im ganzen, weiten Tale, soeben erst gepflanzt, die Wurzel zärtlich sorgsam eingebettet und dann befeuchtet, daß sie trinken könne. Da kniete Marah Durimeh sich nieder, schloß es mit ihren lieben Händen ein und sprach: „So war er also hier! Ich kenne seine Weise und auch die namenlos Verehrte, die er mit seiner Lieblingsblume grüßt!“ Ich wagte nicht, zu fragen, wen sie meine. Jetzt aber denk‘ ich an die Lagerstätte, die ich mit deinen Lieblingsblumen schmückte, damit ihr Duft die Seele dir erhalte. – Nun sag‘, Effendi, kennst du meine Berge? Warst du schon dort? Bist du die Seele, die mit Veilchen grüßt?«

Da stand ich auf und ging zum nahen Erlenstrauch; dort blühten einige Veilchen. Ich pflückte sie und reichte sie der Fragenden. Auch sie stand auf, steckte die Blumen in das Haar, welches nun wieder in vollen Zöpfen niederhing und sagte:

»Ich kenne seine Weise, sprach Marah Durimeh. Effendi, wenn du ins Tal der Sternenblumen kommst und dort ein zweites Veilchen stehen siehst, begieße es, wie ich das deine tränken werde! Es sei fortan auch meine Lieblingsblume. Und nun sag‘ mir: Warum kamst du hierher an diesen Stein! Zwei Menschen, welche gleiche Pfade gehen, die pflegen gegenseitig sich zu ahnen. Dich zogen die Ruinen her zu mir?«

»Ja, Schakara. Dir will ich offen sagen, daß ich sie durchforschen werde, heimlich, bis in ihren tiefsten Winkel. Niemand soll jetzt davon erfahren, außer du.«

»Also treffen wir uns auch hier auf gleichem Wege! Ich war schon oftmals dort, ganz unbemerkt, des Nachts.«

»Warum?«

»Warum? Du weißt ja, was ich suche! Den Berg, die Alabastergrotte, das Meisterstück des Architekten, der Schein auf Schein anstatt der Wahrheit baute. Er kam zuletzt als Flattertier heraus. Was also kann die Grotte nun enthalten? Doch nichts! Leer muß sie sein! Es wurde weder Gott noch Teufel eingemauert. Und doch, und doch bin ich noch nicht am Schlusse; ich muß vielmehr noch weiter, weiter denken. Wo Gott von dem Teufel verdrängt wurde, da kann das Resultat doch wohl in keinem Nichts bestehen. Ich bin nur Weib, und du wirst wahrscheinlich über diese meine Mantyk lächeln; aber es handelt sich hier doch nicht um zwei Körper, welche zusammentreffen und sich wieder trennen können, ohne etwas zurückzulassen, sondern um die Frage, was entstehe, wenn das Gute von dem Bösen verdrängt wird und –«

Sie hielt inne. Es ist eben nicht leicht, Göttliches und Teuflisches durch menschliches Denken zu ergründen.

»Schakara, ich bitte dich, laß Mantyk Mantyk sein,« sagte ich. »Du fühlst das Richtige; aber es in Worten auszudrücken, das würde ich nicht wagen. Wenn der Teufel Schein auf Schein getürmt hat, so liegt hinter diesem Scheine sicher etwas Wahres verborgen. Was das ist, das können wir nicht wissen. Gelänge es aber, den Berg zu finden und die Grotte zu öffnen, so würde es sich zeigen. Ahnest du vielleicht einen gewissen Zusammenhang zwischen diesem Berge und dem alten Gemäuer hier im Gebiete der Dschamikun?«

»Ich ahne ihn nicht nur, ich fühle ihn ganz deutlich.«

»Hast du dich nicht gefürchtet, des Nachts so allein in den Ruinen herumzusteigen?«

»Vor Menschen, ja, doch sonst vor nichts.«

»Fandest du Spuren, daß Menschen dort verkehren?«

»Ja. Solche Spuren könnten eigentlich nicht befremden, weil die Neugierde doch gewiß so manchen Dschamiki und auch wohl manchen Andern hinunter in die alten Bauten treibt. Aber ich sah Einiges, was auf keine guten Absichten schließen läßt.«

»Was war das, Schakara?«

»Ich halte es für besser, es dir zu zeigen, statt jetzt davon zu plaudern, ohne daß es Nutzen bringt. Jetzt bist du noch zu schwach für solche Anstrengung, doch wird sich das schnell bessern. Dann steigen wir hinab und du wirst alles sehen, was ich entdeckte. Man sagte mir, daß du heut‘ den ganzen Tag zu schlafen haben werdest. Effendi, thue es! Es kommen schwere Tage, und du hast stark zu sein. Die Kraft, welche du heut‘ verschwendest, kann dir schon morgen fehlen. Glaube mir, ich meine es gut!«

Das klang so besorgt, so mütterlich, daß ich antwortete:

»Ich werde diesen deinen Rat befolgen, doch nicht sofort, erst nach der Mittagszeit, wenn Pekala –«

»Pekala?« fiel sie da rasch ein. »Du wolltest sagen, daß sie dir das Essen bringen werde. Du irrst. Von jetzt an werde ich es sein, die für dich sorgt. Ich lasse dich in keiner andern Hand.«

Ich wollte das nicht acceptieren und brachte meine Gründe dagegen vor. Da öffnete sie das kleine Dschasaltäschchen, welches an ihrem Gürtel hing, nahm ein Pergamentkärtchen heraus, gab es mir und sagte:

»Am Tage nach der Nacht, in welcher man dich und Halef zu uns brachte, sandte ich einen Boten an Marah Durimeh, denn ich hielt es für nötig, daß sie wisse, wie es um euer Leben stand. Ich habe ihr seitdem wiederholt berichtet und Antwort von ihr erhalten. Das Letzte, was sie schrieb, sind diese Worte.«

Ich las:

»Er sei der Geist; du aber sei die Seele, seine Schwester. Das zeige ihm und grüße ihn von mir.

Marah Durimeh.«

Da gab ich ihr das Pergament zurück, legte die Hand auf ihr Haupt und sprach:

»Was meine Freundin sagt, ist immer richtig. Ich will dein Bruder sein; so sorge denn für mich! Jetzt muß ich hinauf zu mir, um den Brief nach Bagdad zu schreiben. In einer halben Stunde wird er fertig sein.

Dann esse ich mit dir und Hanneh in der Halle, und da du es so willst, versuche ich hierauf, mich auszuschlafen.«

Dieses Programm wurde ausgeführt. Die Boten nach Bagdad hatten sich unten im Dorfe schon bereitgehalten. Sie gingen ab, sobald sie den Brief bekommen hatten, und nahmen eine Kamelsänfte für den dicken Kepek mit. Halef schlief noch fest, als wir uns zum Essen setzten. Ich bin ein mäßiger Esser; heut‘ aber aß ich doppelt so viel als gewöhnlich. Ich wurde von zwei Seiten hart bedrängt und hatte mich zu fügen. Als ich dann nach oben ging, nahm ich die noch immer im Hausgange liegenden Kleidungsstücke des Bluträchers mit, um sie in der »Rumpelkammer« aufzubewahren. Oben bei mir angekommen, trat ich auf die Plattform hinaus, um nach dem Stande der Sonne zu sehen. Es war eine Stunde nach Mittag. Da legte ich mich nieder.

Eigentlich war ich gar nicht müde. Es kamen mancherlei Gedanken, welche Audienz begehrten, und ich gab sie ihnen. Dann nickte ich ein bißchen ein, wachte aber sehr bald wieder auf. Nun griff ich zu künstlichen Mitteln. Ich sagte das ganze große und kleine Einmaleins rück- und vorwärts her, rezitierte in Gedanken Schillers Glocke und noch andere Gedichte, doch alles war vergebens. Dann stand ich wieder auf, zog mich an und schaute nach der Sonne. Es war seit dem Essen kaum eine Stunde vergangen. Was nun thun? In den Werken des Ustad lesen? Seine Zeitungen verbrennen? Ja. Aber da fiel mir ein, daß es doch meine Pflicht sei, einmal nach dem kranken Scheik der Kalhuran zu sehen. Das konnte sofort geschehen. Ich ging also hinab.

In der Halle saßen Hanneh und Schakara noch beisammen. Das Serir aber war fortgetragen worden.

»Es ist mir heut unmöglich, einzuschlafen,« sagte ich. »Darum kann ich mein Versprechen leider nicht halten. Hoffentlich bin ich heut abend müde.«

Da sahen sie einander an. Schakara blieb ernst. Hanneh aber lachte am ganzen Gesicht und sagte:

»Du kannst nicht einschlafen, Sihdi? Was hast du denn da während der ganzen, langen Zeit getrieben?«

»In welcher Zeit?« fragte ich belehrend. »Es ist ja höchstens eine Stunde!«

»Eine Stunde? So weißt du also wirklich nicht, daß du einen ganzen Tag geschlafen hast?«

Tableau, wie man im Abendlande sagt! Aber zum Scheik der Kalhuran ging ich nun erst recht, aber natürlich erst, nachdem ich wieder für zwei Mann hatte essen müssen. Der neue Herr des hohen Hauses trat sein Amt, wie es schien, mit vieler Würde an! Der Scheik befand sich in der besten Pflege. Er hoffte, schon in der kürzesten Zeit wieder aufzukönnen. Den Bluträcher erwähnte er nur ein einziges Mal, aber in einer Weise, die mehr als Worte sagte.

Hierauf wollte ich nach den Pferden sehen. Ich hatte nicht weit zu gehen. Barkh und Assil Ben Rih standen im Hofe. Kara sattelte sie, um sie auszureiten. Mit seinem Ghalib hatte er schon am Vormittage eine Uebungstour gemacht.

»Sihdi, wenn du nur wieder in den Sattel könntest,« sagte er. »Schau nur, wie dich dein Assil bittet!«

Der Rappe machte es allerdings sehr deutlich. Er tänzelte auf allen Vieren und schob sich dabei, ich mochte stehen wie ich wollte, so an mir vor, daß ich den Bügel in die Hand bekam. Das war drollig und rührend zugleich. Um dem Pferde eine, wenn auch nur kurze, Freude zu machen, hob ich den Fuß, setzte ihn auf und schwang mich in den Sitz. Ich wollte nur einen langsamen Gang durch den Hof, weiter nichts. Kaum aber saß ich oben, so war ich schon zum Tore hinaus, und ehe ich mich vorgebeugt und den herabhängenden Zügel aufgenommen hatte, war schon beinahe das Duar erreicht. Dabei fühlte ich weder Schmerzen noch sonst etwas, was mich hätte veranlassen können, abzusteigen. Es war mir sogar möglich, es zu einer Art von Schenkeldruck zu bringen. Ich saß ganz leidlich fest und wankte nicht. Kara hatte mich rasch eingeholt. Er freute sich wie ein König über den Streich, den mir das Pferd gespielt hatte.

»Der macht kurzen Prozeß mit dir, Sihdi!« lachte er. »Wie weit wirst du es wohl wagen können?«

»Wollen sehen,« antwortete ich. »Aber nur Schritt. Ich fühle mich ganz wohl; ja, es ist sogar, als ob im Sattel noch alte Kraft von mir aufgespart sei, die mir nun zugute komme. Sonderbar!«

Wir ritten langsam durch das Dorf. Die Leute kamen aus den Zelten, Hütten und Häusern, grüßten froh und waren baß verwundert, ihren Patienten so plötzlich schon zu Pferde zu sehen. Dann ging es am Seeufer hin, nach Osten zu. Ein Viertelstündchen hielt ich es aus. Dann wurde ich müde und sagte Kara, daß ich absteigen und ruhen müsse.

»Dann gleich hier,« antwortete er, nach dem Ufer deutend. »Das ist die Stelle, welche der Pedehr dir zeigen sollte.«

»Woher weißt du das?«

»Er hat es mir gesagt, als ich gestern hier an ihm vorüberritt.«

Das war mir interessant. Also der Ort, wo die Sillan ihre Pferde zu tränken pflegten! Wir ließen die unseren an das Wasser gehen, und ich legte mich lang in das Gras. Da begann Kara Ben Halef:

»Sihdi, bist du sehr müde? Oder darf ich von einer Sache zu dir reden, die mir sehr wichtig erscheint? So wichtig, daß ich es nur dir, keinem andern mitteilen kann?«

»Sprich!«

»Tifl lügt!«

Er sagte nur diese beiden Worte; dann war er still.

»So!«

Ich sagte nur dieses eine Wort; dann war auch ich still. Nach einer Weile fuhr er fort:

»Ja, er lügt! Und du weißt, daß ich die Lüge hasse und den Lügner verachte! Und doch muß ich mit diesem Menschen sprechen, denn ich bin Gast!«

»Vielleicht irrst du dich,« warf ich ein. »Es ist ein großer Unterschied zwischen der absichtlichen Lüge, welche aus schlechten Gründen täuschen will, und einer Unwahrheit, die man mit gutem Gewissen verbreitet, weil man sie für Wahrheit hält.«

»Das weiß ich gar wohl, Sihdi; aber ich habe geprüft. Tifl weiß ganz genau, daß er lügt. Auch ist es nicht bloß leichtsinnige Schwatzhaftigkeit von ihm, die sich auf gleichgültige Dinge bezieht, sondern es handelt sich um Angelegenheiten, welche von größter Wichtigkeit für uns sind. Ich meine nämlich Ahriman Mirza.«

»Hat er diesen belogen?«

»Nein, sondern dich – uns!«

»Wieso?«

»Du frugst ihn vorgestern vor dem Mordüberfalle, woher der Henker wohl wisse, wo deine Lagerstätte in der Halle sei. Er antwortete dir, er sei den Persern vorangeritten und habe gar nicht mit ihnen gesprochen. Aber Ahriman Mirza habe sich an die begleitenden Dschamikun gemacht und alles, was er wissen wollte, aus ihnen herausgelockt. Tifl behauptete sogar, daß er über diese unvorsichtige Schwätzerei sehr zornig gewesen sei. Besinnst du dich, Effendi?«

»Ja. Ich erinnere mich noch jedes Wortes. Bezieht sich deine Behauptung etwa auf diese seine Angabe?«

»Ja. Er hat gelogen, dir mit vollem Bewußtsein in das Gesicht gelogen! Ahriman Mirza hat während des ganzen Rittes nach der Grenze mit keinem andern Dschamiki auch nur ein einziges Wort gesprochen. Bedenke seinen Stolz! Aber er ist mit Tifl und dem Henker vorangeritten, Tifl zwischen ihnen, und diese drei haben sich sehr lebhaft, fast wie gute Freunde, unterhalten. Beim Scheiden haben der Mirza und Ghulam ihm sogar die Hand gereicht, um Abschied von ihm zu nehmen. Was sie erfuhren, konnte also nur aus seinem, aus keinem andern Munde stammen.«

»Woher weißt du das, Kara?«

»Von Einem, der es am besten wissen muß, nämlich von Tifl selbst. Das war gestern abend, als ich den Pferden zum letzten Male Wasser gegeben hatte. Ich wollte noch nicht schlafen und ging hinter, wo das Weideland aufhört und die Ruinen beginnen. Dort ragt ein großer Mauerstein aufrecht empor, und nur einige Schritte davon steht ein dichter Kyßylbusch, an welchem ich mich niedersetzte. Du wirst wohl noch nicht dort gewesen sein und die Stelle also nicht kennen.«

»Ich kenne sie. Ich saß am Vormittage bei dem Steine und pflückte Veilchen bei dem Kyßylstrauch.«

»So weißt du also, daß beide so nahe beieinander liegen, daß man am Kyßyl hören muß, was an dem Steine gesprochen wird. Ich war noch nicht lange dort, so kamen Pekala und Tifl. Sie setzten sich nieder, ohne zu ahnen, daß ich mich so nahe bei ihnen befand. Ich gab mir gar keine Mühe, mich zu verbergen, hatte aber auch keinen Grund, sie besonders auf mich aufmerksam zu machen. Sie brauchten nur einigermaßen aufmerksam zu sein, so mußten sie mich sehen; aber es gibt Menschen, denen die Unvorsichtigkeit so zur zweiten Natur geworden ist, daß sie gar nicht mehr wissen, was man unter Vorsicht zu verstehen hat. Diese sonderbare Mutter sprach mit ihrem noch sonderbareren Kinde zunächst über allerlei, was mir vollständig gleichgültig war. Darum stand ich schon im Begriffe, mich leise zu entfernen; da wurde dein Name genannt, und darum blieb ich sitzen. Was sie sagten, war keineswegs besonders klug zu nennen; sie wissen nicht so recht, was sie aus dir machen sollen; aber Pekala versicherte, daß sie dich in ihr Herz geschlossen habe, und Tifl meinte, man habe mit dir sehr freundlich und sehr höflich zu sein, weil man nicht wissen könne, was aus deiner Freundschaft mit dem Ustad entstehen werde. Bei ihm komme es vor allen Dingen darauf an, was du für ein Reiter seist, und da getraue er sich unbedingt, dich und deinen Assil auf der Stute des Ustad zu überholen. Was sagst du dazu, Effendi?«

»Kinderei!«

»Dieser Mensch ist ein Pferdejunge, aber doch kein Reiter! Rohes Anklammern, Jagen und Hetzen, aber keine Spur von wahrer Reiterkunst! Für solche Leute ist Pferd eben nichts als Pferd! Dann sprachen sie vom Ustad. Ich muß dir sagen, Effendi, was ich da hörte, hat mir fast wehe getan. Sie gaben vor, ihn zu lieben; sie lieben ihn wohl auch, jedoch in ihrer Weise. Beiden steht die Küche oder das Pferd des Ustad höher als er selbst. Sein Geist und seine Gedanken imponieren ihnen; von seiner Person aber sprachen sie in einer Weise, die mir nicht gefallen konnte. Das war Klatsch! Hierauf kam die Rede auf eine Person, welche Aschyk genannt wurde. Wer gemeint war, weiß ich nicht. Dieser Aschyk kommt regelmäßig nach vier Wochen, um Pekala hier bei dem Steine abzuholen. Nächsten Sonntag kommt er wieder, eine Stunde vor Mitternacht. Nun erwähnten sie eine große Empörung. Es soll Jemand abgesetzt werden; aber wer, das konnte ich nicht verstehen. Dann reitet Pekala auf dem herrlichsten Kamele in einer großen Stadt ein, und Tifl wird ein sehr berühmter Mann. Auch aus dem Ustad wird etwas Bedeutendes, doch was, das blieb mir verborgen. Den Mirza und den Bluträcher hassen beide, doch müsse man sich gegen sie verstellen, denn der Aschyk habe es gewünscht. Und hiermit bin ich bei der Hauptsache angelangt: Als Tifl die Perser bis über die Grenze zu bringen hatte, wurde er von Ahriman und Ghulam in die Mitte genommen und ausgefragt. Er fürchtete sich, sie mit ihren Fragen abzuweisen, und sagte ihnen darum alles, was sie wissen wollten. Als du ihn dann in das Verhör nahmst, getraute er sich nicht, es zu verschweigen, und belog dich, um die Schuld auf seine Begleiter zu schieben.«

»War Pekala damit einverstanden?«

»Ja. Sie lügen also beide! Das von der Empörung und der hierauf folgenden Erhebung und Beförderung war wohl nur Kindergeschwätz. Aber das Andere hat mich sehr bedenklich gemacht. Pekala hat mir von Isphahan erzählt, von ihrem Vater, von Tifl, wie er betrunken gewesen ist, vom Ustad, der sich ihrer angenommen hat, von seinem Tode und von seinem Grabe hier im Hause. Sie weinte dabei vor Rührung. Es kommen so schöne Stellen vor, auch Gedichte. Man wird da selbst gerührt und hält sie für ein frommes, liebes, seelensgutes Wesen. Aber sie hat das fast mit ganz denselben Worten und denselben Tränen auch meiner Mutter erzählt; sie erzählt es überhaupt Jedem, der sich von ihr festhalten läßt, sogar den Hadeddihn, die mit uns gekommen sind. Dadurch wird ja das Heiligste entheiligt! Und wenn sie bei jeder Gelegenheit hinzufügt, daß die Männer alle noch erzogen werden müssen, so wird sie lächerlich. Vor allen Dingen aber hat mich Folgendes empört: Kaum haben Pekala und Tifl von den hohen Eigenschaften ihres Ustad gesprochen, so dichten sie ihm eine Menge ganz gewöhnlicher, sogar gemeiner Fehler an, die er gar nicht besitzt, sondern die sie nur von sich selbst auf ihn übertragen, weil sie alles, was sie an ihm nicht verstehen können, für Mängel halten wie die ihrigen. Und das tun sie in so niederträchtig vertraulicher Weise, als ob er sie für Engel halte, an denen er sich gern ein Vorbild nehme! Das ist teuflisch, doppelt teuflisch, weil es mit so freundlich lächelndem Munde und mit so warmer Rücksicht ausgesprochen wird. Ich habe es gehört; Jeder hat es gehört; Alle können es hören, die es hören wollen. Er allein, der vollständig Arglose, der stets und ganz Vertrauende, hat keine Ahnung von der Menge dieser giftigen Gedankenschlangen, die sich unablässig zu seinen Füßen ringeln, ohne daß er es bemerkt, weil er nie auf das Niedrige, auf das Gemeine achtet! Sihdi, was mag ihm das wohl schon geschadet haben! Wie gütig bist auch du zu dieser Pekala und diesem Tifl!

Ich aber halte sie für ein Gezücht, mit dem man keine Nachsicht üben sollte. Wer ist dieser Aschyk ? Ein Dschamiki wohl kaum. Sie verkehren mit ihm, und zwar heimlich, wie es scheint. Sie schildern auch ihm den Ustad gänzlich falsch. Er trägt es fort. Infolgedessen macht man sich da draußen im ganzen Lande über des Ustad sogenannte Fehler und Schwächen lustig, die aber nur in den schwachen Köpfen einer dicken Köchin und eines dünnen Pferdejungen existieren! Die Feinde sind wohl klug genug, das zu wissen. Sie lachen heimlich über die Türkin und ihr „Kind“. Oeffentlich aber tun sie, als ob sie es glauben, und verbreiten es aus allen Kräften weiter. Daher der freche Blick, den Ahriman Mirza für den Ustad hatte! Und daher auch die unverschämte Stirn des Multasim! Hätten diese Menschen sich wohl in der Weise, wie sie es taten, in den Duar und hinüber zum Tempel gewagt, wenn der Ruf des Ustad nicht schon fast vernichtet wäre? Sihdi, ich sage dir: Zwei solche Personen im eigenen Hause sind gefährlicher, weit gefährlicher als hundert offene Gegner, die keine Liebe heucheln! Ich habe noch nie, noch nie in dieser Weise zu dir gesprochen. Jetzt aber mußte ich es tun. Und warum? Verzeihe mir, daß ich es sage! Um einer Person willen, die euch mit ihrer Kerbelsuppe nur scheinbar erheitert, in Wirklichkeit aber regiert!«

Hierauf setzte er sich nieder. Wartete er, was ich nun sagen werde? Wenn ja, so ließ er es sich doch nicht merken. Er schaute über den See hinüber, wo soeben das Boot vom Ufer stieß. Es saßen zwei Männer darin. Der eine ruderte; der andere schien zu lesen.

»Das ist der Dschamiki, welcher den andern das Singen lehrt,« sagte Kara, als ob er unser Gespräch als abgebrochen betrachte.

»Und du bist der Hadeddihn, der mich etwas anderes lehrt,« antwortete ich. »Ich habe geglaubt, mich nur auf meine eigenen Augen verlassen zu können. Darf ich von jetzt an auch die deinen mit zu Rate ziehen?«

Da sprang er schnell wieder auf, kam zu mir her, kniete neben mir nieder, griff nach meiner Hand und rief im Tone des Glückes, der innigsten Freude aus:

»Sihdi, ich danke dir! Weißt du, was du mir mit diesen deinen Worten schenkst?«

»Ich weiß es, Kara: dich selbst! Du warst bisher ein Glied; nun aber bist du Person, vollständige Person. Es wurde über dich bestimmt; nun sollst du selbst bestimmen. Sag, gibt es noch andere Leute hier, welche dir Mißtrauen eingeflößt haben?«

»Ja.«

»Wer?«

»Willst du Vermutungen hören?«

»Nein.«

»So laß mich erst noch prüfen, ehe ich Namen nenne. Ich kann wohl Verdacht hegen, aber ihn weiterverbreiten, ohne Beweise zu haben, das würde gewissenlos gehandelt sein. Das aber tut Kara Ben Halef nicht! Ueber Menschen also schweige ich noch, doch über Dinge kann ich sprechen. Ich muß dir etwas zeigen, was ich gefunden habe. Ich weiß nicht, ob es Edelsteine sind oder ob es Glas ist, aber es funkelt wie lauter Diamanten.«

Er zog aus der Innentasche seiner Weste eine schmale Blechkapsel und reichte sie mir, nachdem er sie geöffnet hatte. Sie enthielt eine Turbanagraffe mit rotem Pferdehaarbusch, welcher mittelst eines Charnieres umgelegt war, vor dem Gebrauche aber aufgeschlagen wurde. Der Halter bestand aus großen Facetten, welche die beiden Buchstaben Sa und Lam umschlossen, über denen das Verdoppelungszeichen stand. Die Facetten waren von Glas, doch gut geschliffen und brillant unterlegt, so daß sie bei künstlichem Lichte wahrscheinlich wie Diamanten funkelten. Diese Haaragraffen durften früher nur von sehr hochgestellten Personen an den Turbanen getragen werden. Der Schah schmückt bei festlichen Gelegenheiten seine Lammfellmütze noch heut in dieser Weise, natürlich aber mit echten Steinen. Die Imitation, welche ich jetzt in meinen Händen hielt, war ohne eigentlichen Wert, eine »Theateragraffe«, wie man bei uns sagen würde, für mich aber von einer Bedeutung, die mich veranlaßte, einen Ruf der Freude auszustoßen.

»Also Edelsteine?« fragte darum Kara.

»Nein. Es ist nur Glas, wertloses Glas; aber du hast trotzdem einen Fund gemacht, der wohl kaum mit Geld bezahlt werden könnte. Wie bist du zu dieser Agraffe gekommen, lieber Kara?«

»Es war auf dem Dschebel Adawa –«

»Der liegt doch nicht hier, sondern schon im Gebiete der Takikurden!« fiel ich ein.

Taki heißt fromm. Die betreffenden Kurden führen diesen Namen, weil sie in Beziehung auf den Glauben sehr streng gegen Andere sind und mit großer Bestimmtheit behaupten, daß nur sie allein den Himmel erlangen werden. Jeder nicht ganz Gleichdenkende wird als verdammenswerter Ketzer betrachtet und mit unnachsichtlicher, herzloser Strenge verfolgt.

»Ja; ich bin aber dennoch oben gewesen,« antwortete er.

»Wann?«

»Heut.«

»Kennt schon Jemand diesen deinen Fund?«

»Nein; nur du allein.«

»So schweige jetzt noch gegen Andere; mir aber erzähle!«

»Ich ritt gestern gegen Norden, ganz allein. In der ersten Zeit nahm ich Tifl stets mit; jetzt aber tue ich das nicht mehr. Ich mag nicht Leute bei mir haben, die mir nicht gefallen. Da traf ich auf eine kleine Todeskarawane, lauter persische Schiiten, welche ihre Kamele und Maultiere mit Särgen belastet hatten.«

»Eine Todeskarawane? Hier? Sonderbar! Hier gibt es doch gar keinen Karawanenweg, welcher hinab nach Karbela oder Meschhed Ali führt!«

»Das sagte ich mir auch, und darum kamen mir diese Leute bedenklich vor. Als ich mich aber näher an sie heranmachen wollte, nannten sie mich einen sunnitischen Hund und drohten, auf mich zu schießen. Ich hielt also an und ließ sie von weitem an mir vorüber. Mein Pferd aber wurde ungeduldig und drängte vorwärts, als das letzte Kamel noch vorbeizugehen hatte. Darum kam ich so nahe an dasselbe heran, daß ich alles deutlich sehen konnte. Es trug vier Särge, an jeder Seite zwei. Einer war zerplatzt und mit einem Stricke wieder zusammengebunden, aber so liederlich, daß ich den Inhalt sehen konnte.«

»Wohl keine Leiche?«

»Nein. Mir war schon aufgefallen, daß die Karawane nicht den geringsten Geruch verbreitete. Jetzt nun war das erklärt: Gewehre stinken ja doch nicht.«

»Ah! Gewehre! Sahst du das genau?«

»Ja. Es war kein Irrtum möglich. Ich ritt weiter, zunächst ohne mich umzusehen, denn man sollte nicht merken, daß ich aufmerksam geworden war. Als ich mich aber weit genug entfernt hatte, lenkte ich hinter einen Felsen, um diesen angeblichen Leichenzug zu beobachten. Nachdem er in der Ferne verschwunden war, ritt ich ihm nach, wohl zwei Stunden lang, bis über die Grenze hinüber. Da bog er von seiner bisherigen Richtung ab und hielt auf den Dschebel Adawa zu. Nun folgte ich erst recht, doch so, daß ich nicht bemerkt werden konnte. Am Fuße des Berges gibt es Wasser. Die Tiere aber mußten an demselben vorüber und ohne Verzug die steile Wildnis hinauf. Warum? Wozu? Das war mir ein Rätsel, und ich beschloß, es zu ergründen. Doch mußte ich das für heut aufheben, denn der Tag war schon fast vorüber und ich wollte auch nichts unternehmen, ohne vorher mit dir gesprochen zu haben. Ich kam spät heim. Du schliefst. Ich stand zeitig auf. Du schliefst noch immer. Da beschloß ich, selbständig zu handeln, und ritt auf Ghalib wieder hin.«

»Bist du Jemandem begegnet?«

»Nein; keinem Menschen. Ich glaube auch nicht, daß mich wer gesehen hat. Als ich auf die gestrige Spur der Todeskarawane traf, sah ich zu meinem Erstaunen, daß es heut eine doppelte war; sie führte nämlich auch wieder zurück. Diese Perser hatten die Nacht auf dem Berge zugebracht und waren dann wieder heimgeritten.«

»Ah, hätte ich die Fährte sehen können!«

»Keine Sorge, Sihdi! Ich habe von dir gelernt, wie solche Spuren zu lesen sind. Ich sah, daß man getrabt hatte. Der Sand lag hinten weit hinausgeworfen und die Stapfen waren vorn sehr scharf, aber flach und leicht. Wären die Tiere noch so schwer wie gestern beladen gewesen, so hätten sich die Eindrücke mehr vertieft. Die Gewehre waren also auf dem Dschebel Adawa abgeladen worden, und ich beschloß, hinaufzureiten, aber sehr vorsichtig, denn es war doch mehr als möglich, daß die Personen, welche die Waffen erhalten hatten, sich noch oben befanden. Diese Befürchtung hob sich aber, als ich bei meiner Annäherung einen Reitertrupp bemerkte, welcher soeben herabgekommen war und sich nach Westen entfernte, wo die Weideplätze der Takikurden liegen.«

»Hatten sie die Gewehre?«

»Nein. Ich hielt mich versteckt, bis ich sie nicht mehr sehen konnte; dann ritt ich hinauf. Ich konnte nicht irren; die Spuren zeigten mir den Weg. Oben aber war alles so wirr und warr und es liefen so viele Eindrücke in- und durcheinander, daß es mir ganz unmöglich war, mir ein Bild von dem zu machen, was man hier vorgenommen hatte.«

»Gab es Bäume, Sträucher?«

»Genug! Dazu eine große Ruine, wohl aus ganz uralter Zeit. In ihrem Innern hatte das Lagerfeuer gebrannt. Ich suchte mit Fleiß und überall, wohin die Ladung versteckt worden sei, doch war alle Mühe vergebens. Von dem vielen Umherkriechen müde, sah ich mich nach einem schattigen Ort um, mich für kurze Zeit auszuruhen. Er war sehr bald gefunden. Ich legte mich nieder und pfiff mein Pferd herbei. Indem es graste, betrachtete ich den alten Märwer, der neben mir am Mauerpfeiler stand. Er war hohl. Das Loch befand sich ungefähr zwei Fuß über der Erde. Und nun komme ich auf etwas, was du so oft behauptet hast, Sihdi, nämlich, daß es keinen Zufall gibt. Es war auch wirklich keiner, sondern ich fühlte es wie eine ganz deutliche Aufforderung in mir, in dieses Loch zu greifen, weil etwas darin stecke, was ich unbedingt sehen müsse. Begreifst du das?«

»Ja. Du griffst hinein und fandest diese Kapsel!«

»So ist es! Wer war das, der es mir sagte?«

»Frage nicht, sondern begnüge dich mit dem Funde, der für uns viel, viel wichtiger ist, als du denkst! Hast du dich dann noch lange auf dem Berge aufgehalten?«

»Nein. Sobald ich das Blech geöffnet und den Inhalt gesehen hatte, ritt ich heim. Ich kam zu spät zum Essen, aß aber nach. Als ich nach dir fragte, hörte ich, du schliefest immer noch. Darum sattelte ich. Vielleicht warst du am Abend zu sprechen. Da aber kamst du doch. Ich wollte nicht sofort beginnen, sondern dich bitten, abseits mit mir zu gehen. Denn niemand sollte sehen, was ich dir zu zeigen hatte. Da aber stiegst du auf und Assil ging schleunigst mit dir fort. Ich folgte schnell. So ist es gekommen, daß wir uns hier befinden.«

»Ganz, als ob es genau so beabsichtigt worden wäre! Du mußt schnell fort.«

»Wohin?«

»Nach dem Dschebel Adawa. Wenn es möglich ist, lässest du dich unterwegs von keinem Menschen sehen. Hier nimm die Kapsel mit der Agraffe. Du steckst sie wieder in den hohlen Baum und reitest dann sogleich wieder heim.«

»Warum das, Sihdi?«

»Es ist keine Zeit, es dir jetzt zu erklären. Ich sage es dir später. Der Mann, dem diese Agraffe gehört, darf nicht ahnen, daß sie in unseren Händen gewesen ist. Ich glaube zwar nicht, daß er heut nach dem Berge kommt, will aber sicher gehen. Du reitest augenblicklich und kommst nach deiner Rückkehr sogleich zu mir, damit ich erfahre, ob es dir gelungen ist, den Auftrag unbemerkt auszuführen.«

»Darf ich dich denn verlassen, Sihdi? Kannst du allein heimreiten?«

»Da kommt ja der Kahn. Der Chodj-y-Dschuna will, wie ich sehe, hier bei uns anlegen. Ich werde also nicht allein sein.«

Da steckte er die Kapsel zu sich, schwang sich auf den Barkh und ritt davon, eben als das Boot an das Ufer stieß.

»Erlaubst du, Effendi, daß ich dich für einige Augenblicke störe?« fragte der Gesangslehrer, indem er ausstieg, während der Andere beim Ruder sitzen blieb.

»Du störst mich nicht,« antwortete ich. »Es ist mir vielmehr eine Freude, daß du dich wieder einmal bei mir sehen lässest. Nimm bei mir Platz!«

Er ließ sich mit den Worten nieder:

»Ich komme in einer sehr wichtigen Angelegenheit. Es gab für mich einen Grund, mit dir zu sprechen, ohne daß man darauf merkte, daß ich dich im hohen Hause besuchte. Ich überlegte soeben, wie ich dies anzufangen habe, da sah ich dich bei mir vorüberreiten und ging sogleich zum Boote, um hier auf deine Rückkehr zu warten. Da trifft es sich gut, daß du grad hier abgestiegen und gar nicht weitergeritten bist.«

»So ist es etwas Heimliches, was du mir zu sagen hast?«

»Ja.«

»Aber wir sind doch nicht allein!«

»Du meinst meinen Begleiter hier? Der ist ein treuer Dschamiki und darf alles hören. Er weiß es sogar schon.«

»Ein treuer Dschamiki? Das klingt ja fast so, als ob es auch untreue gebe!«

»Wo das Gute wohnt, baut sich das Uebel immer auch ein Haus. Doch jetzt zu meiner Sache! Ich habe einen Freund in Chorremabad, der Hauptstadt unserer Provinz. Er ist im Herzen ein guter Dschamiki und hat mir über die uns betreffenden Maßnahmen der Regierung schon manche heimliche Nachricht geschickt, welche ich dem Ustad mitzuteilen hatte. Heut, vorhin erst, kam wieder ein Bote von ihm an, der mir eine Mitteilung machte, über welche ich zunächst erschrak. Bei näherer Betrachtung aber fand ich, daß es noch schlimmer, viel schlimmer geworden wäre, wenn der Scheik ul Islam uns so vollständig überrascht hätte, wie es in seiner Absicht liegt.«

»Der Scheik ul Islam?« fragte ich. »Will uns überraschen? Also hierher kommen?«

»Ja.«

»Wann?«

»Er trifft schon morgen ein.«

»Das ist ja gar nichts so Schreckliches, sondern ganz im Gegenteil im höchsten Grade interessant!«

Da hob er warnend den Finger und sprach:

»Effendi, urteile nicht so schnell! Du bist hier fremd, bist sogar krank und kennst die Verhältnisse nicht! Der Scheik ul Islam ist ein sehr hochgestellter, wichtiger Mann, von dessen Macht du wohl noch keine Ahnung hast. Er würde selbst für den Ustad ein Gegner sein, vor dem die größte Vorsicht nötig ist. Darum trifft es sich keineswegs gut, daß unser Herr verreist ist. Ich bitte dich, es mir nicht übelzunehmen, daß ich dich warne! Der morgende Besuch kommt in einer Absicht, hinter der sich alle List versteckt, die uns verderben kann. Darum wollte ich, der Ustad wäre hier!«

»Auch ich wünsche das. Da er nun aber einmal abwesend ist, haben wir den Fall zu nehmen, wie er liegt. Auch er muß, wie alles, mehrseitig betrachtet werden.

Beklagst du es, daß der Scheik ul Islam von einem Fremden empfangen werden muß, so gewährt uns grad dieser Umstand doch auch den gar nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß er sich von mir hinhalten lassen muß, er mag beabsichtigen, was er will. Während er den Ustad zu schnellen Entscheidungen verleiten könnte, deren Tragweite sich erst später herauszustellen hat, muß er es sich nun gefallen lassen, von mir vorsichtig ausgehorcht zu werden, ohne daß ich dann verpflichtet bin, auf irgend etwas einzugehen. Du siehst also wohl ein, daß ich, falls es sich um Feindseligkeiten handeln sollte, von den beiden Gegnern derjenige bin, welcher die Schutzrüstung trägt, der andere aber nicht!«

Er nickte zwar nur leise, ließ aber seine Augen forschend an mir niedergleiten, und sagte:

»Vorsichtig ausgehorcht zu werden! Effendi, dazu würde ein Mann gehören, wie ich noch keinen kenne!«

»So warte ruhig, ob du ihn wohl siehst!«

»Der Scheik ul Islam ist wegen seiner hohen geistlichen Würde unantastbar, und über seine persönliche Schlauheit kam noch nie ein Anderer. Dazu ist noch zu legen, daß er ein ganz besonderer Kenner aller unserer Gesetze und Verhältnisse ist, während du dich doch nur erst so kurze Zeit bei uns befindest!«

»Wenn ich nicht will oder nicht kann, so brauche ich weder auf seine Kenntnisse noch auf seine Schlauheit einzugehen. Vor allen Dingen bitte ich dich, unbesorgt zu sein und jedes Vorurteil abzulegen, mag es mich oder ihn betreffen. Ist der Bote deines Freundes noch hier?«

»Nein; er ist schon wieder fort. Die Vorsicht gebot ihm, sich so kurz wie möglich sehen zu lassen. Er macht einen Umweg zurück, um dem Scheik ul Islam ja nicht zu begegnen.«

»Wird dieser mit dem großen Gefolge kommen, welches bei so hohen Würdenträgern fast immer unvermeidlich ist?«

»Das weiß ich nicht. Auch konnte ich nicht erfahren, wie lange er zu bleiben beabsichtigt. Doch sind das ja nur Nebendinge. Die Hauptsache ist, daß ich unterrichtet bin, weshalb er kommt. Mein Freund hat es nämlich zu erfahren gewußt.«

»Ah! Also doch schon Einer, der ihm an Schlauheit über ist! Und du sagtest, daß es Keinen gebe! Das würde mich schon ganz bedeutend beruhigen, wenn ich mich überhaupt gefürchtet hätte. Sind die Ursachen dieses Besuches denn gar so schlimm für euch?«

»Das weiß ich nicht. Und grad diese Ungewißheit halte ich für gefährlich.«

»So sag: Kommt dieser mächtige Herr nur als Scheik ul Islam oder auch als Hekim-i-Schera

Da sah er mich überrascht an und fragte:

»Du kennst die Trennung dieser seiner Würde! Woher kannst denn du das wissen?«

»Es gibt bei uns im Abendlande Leute, welche eure Gesetze und Verhältnisse wahrscheinlich besser kennen, als ihr selbst. Oder weißt du noch nicht, daß ihr euch gelehrte oder auch sonstwie gebildete Männer von uns kommen lassen müßt, wenn es einmal gilt, euch über euch selbst klug zu werden?«

»Das kann ich freilich nicht bestreiten, Effendi. Ob dein Gast nur als Geistlicher oder auch als Richter aufzutreten beabsichtigt, das ist mir unbekannt. Er will dem Ustad einen Antrag stellen, welcher im höchsten Grade verführerisch klingt. Aber wenn man mir so ganz ohne alle sichtbare Veranlassung mit so großen Geschenken kommt, dann wird es mir heimlich angst, weil ich sofort an eine noch viel größere Gegenforderung denke. Der Ustad soll nämlich auch zum Ustad der Takikurden erhoben werden.«

»So! Weiter nichts?« fragte ich lächelnd.

»Weiter nichts!« antwortete er erstaunt. »Ich bitte dich, zu begreifen, was das heißt! Welch eine Machtvergrößerung für uns!«

»Machtverkleinerung, willst du sagen! Wenn du irgendwelche Sorge gehabt hast, so wirf sie getrost von dir! Dieser Scheik ul Islam ist schon jetzt durchschaut. Es fällt dem Ustad nicht mit einem einzigen Gedanken ein, die Seelen seiner Dschamikun für eine hohle Ehre zu verkaufen! Ein einziger braver Dschamiki ist ihm tausendmal lieber als alle Takikurden, deren sämtliche Höflichkeiten doch nur den Zweck hätten, ihn betrunken zu machen, damit er sich zu ihrem willenlosen und verächtlichen Werkzeuge erniedrige! Er wird sich nie in fremde Dienste stellen. Er ist sein eigener Herr und wird es bleiben, ohne nach den tauben Nüssen zu fragen, die man ihm mit so vielverheißender Höflichkeit entgegenträgt.«

Da richtete er sich halb auf und fragte in erwartungsvollem Tone:

»Aber man wird sich rächen! Unnachsichtlich und auf jede mögliche Art und Weise rächen! Hast du hieran gedacht?«

»Natürlich! Die Rache ist dann unvermeidlich. Sie liegt im Wesen dieser Art von Menschen. Doch möge sie nur kommen! Ich habe noch keine Rache gesehen, die sich nicht schließlich selbst vernichtet hat!«

»So bist du also entschlossen, dich von dem Scheik ul Islam nicht verlocken zu lassen?«

»Selbstverständlich! Fest entschlossen! Ich werde ihn genau so höflich behandeln wie er mich. Und er mag greifen, zu welchem Mittel er will, so wird er doch nur erreichen, was mir beliebt!«

Jetzt sprang er vollends auf, richtete sich in die Höhe und rief mit dem Ausdrucke der Erleichterung und der Ueberzeugung aus:

»Da kann ich nun freilich ruhig sein! Effendi, Effendi, ich kam in großer Sorge hierher; du aber hast mir das Herz wieder leicht gemacht! Ich kenne die Macht, welche morgen an dich herantreten wird. Sie schmückt sich mit dem Namen Gottes und des Schah-in-Schah. Sie stellt sich auf die Seite des Bestehens und Erhaltens und hat also das Gesetz für sich. Sie kommt im schimmernden Gewande oder im Bettlerkleide und schmeichelt also den Sinnen und der Menschlichkeit. Sie hofft alles Gute und verzeiht alles Böse. Sie ist geduldig freundlich, demütig, der Inbegriff aller Tugenden in menschlicher Gestalt! Aber, kennst du sie, Effendi?«

»Ja.«

»So ist es genug! Sie wird morgen aus Chorremabad bei dir erscheinen. Sie wird dir schmeicheln, dich absondern, dich –«

»Nein, das wird sie nicht,« fiel ich ein. »Daß sie das könne, mache ich ihr gar nicht weis. Ich werde nicht allein sein, wenn ich den Scheik ul Islam empfange.«

»Wohl der Pedehr wird bei dir sein, weil er der Scheik des Stammes ist?«

»Ja; er und du.«

»Auch ich?« fragte er in schnell aufquellender Freude. »Warum auch ich?«

»Ich will es so. Das sei dir genug.«

Da trat er einen Schritt näher zu mir heran und sprach:

»Effendi, damit ehrst du nicht nur mich, sondern Viele! Ich weiß nicht, ob man es dir schon gesagt hat: Ich lehre nicht nur den Gesang, sondern alles, was dem Geiste und dem Körper am Können nötig ist, auch Turnen, Reiten, Schießen, Exerzieren. Ich habe diesen Unterricht gegründet, als mich der Ustad dazu auserwählte, und dann Gehilfen angestellt, als die Zahl der Schüler sich vermehrte. Wir wirken still, ohne Lärm. Ein guter Lehrer lenkt die Aufmerksamkeit auf seinen Gegenstand, doch nicht auf sich. Darum hast du wohl noch wenig oder nichts von uns gehört. Wer mit dem prahlt, was er lernte, der hat nichts gelernt. Aber gib den Dschamikun Gelegenheit, zu zeigen, was sie können, so werden sie es zeigen, und ich hoffe, du wirst damit zufrieden sein! Ich sehe kommen, was nun kommen wird, und darum will und muß ich dir vor allen Dingen sagen: Wir fürchten keinen Feind! Auch in Beziehung auf das Rennen mit den Persern kannst du ruhig sein. Wir haben gutes Reiter- und Pferdematerial. Ich stehe inmitten unserer Vorbereitungen und werde dir hierüber berichten, sobald es dir beliebt. Der Scheik ul Islam ist ein großer Liebhaber des Aesp-däwani; er hat einen wohlgepflegten Stall und rühmt sich, das „beste Pferd von Luristan“ zu besitzen. Sobald er hier von unserm Rennen hört, bin ich überzeugt, daß er sich zur Beteiligung melden wird. Weise ihn ja nicht ab! Du würdest dadurch unsere Ehre schädigen! Das hatte ich dir zu sagen. Hase du vielleicht noch eine Frage?«

»Weiß ich jetzt alles, was dir der Bote mitgeteilt hat?«

»Ja.«

»So über alles Andere, auch über das Rennen, später. Nur über der Stute des Ustad bin ich mir noch nicht im klaren. Ich glaube, dieser Tifl hat sie gänzlich aus der Schule gebracht.«

»Das ist nur eben richtig, wenn Tifl im Sattel sitzt, sonst aber nicht.«

»Wer aber soll sie reiten?«

»Wer anders als der Ustad?« fragte er verwundert. »Er reitet jetzt nur selten; aber stelle jedes beliebige Pferd gegen seine Sahm, so wird er es besiegen, höchstens deinen Assil ausgenommen! Tifl aber wird vom Rennen ausgeschlossen sein.«

»Warum?«

»Das sage ich dir, sobald es reif geworden ist. Ich vermute, dieser Schwätzer wird nicht lange mehr zu den Dschamikun gehören. Der Ustad hat sich seiner nur aus Mitleid angenommen, und die Nachsicht, die er gegen ihn und Pekala übt, ist Vielen unbegreiflich.«

»Schwätzer?« fragte ich.

»Ja. Es genüge ein Beispiel: Tifl hatte die Perser, als der Bluträcher hier war, über die Grenze zu bringen. Da ist er den ganzen, weiten Weg zwischen dem Mirza und dem Multasim geritten und hat ihnen bereitwilligst Auskunft gegeben über alles, was sie wissen wollten.«

»Von wem hast du das erfahren?«

»Von meinem Ruderer hier, welcher dabei gewesen ist. Kein Dschamiki hat mit diesen Leuten ein Wort gesprochen; nur Tifl allein hielt keinen Augenblick den Mund. Doch damit sei es genug. Ich sehe, daß du aufbrechen willst, Effendi.«

Ich war nämlich auch aufgestanden.

»Ja; ich muß heim,« sagte ich. »Aber ich möchte mich über den See rudern lassen. Willst du dich auf Assil setzen und ihn mir an die Landestelle bringen?«

»Wie gern!« rief er aus. »Einmal deinen Rappen unter mir; das war schon längst mein Wunsch! Läßt er mich hinauf?«

»Wenn ich nichts dagegen habe, ja.«

»So zögere ich keinen Augenblick.«

Er schwang sich in den Sattel. Assil schnaubte verwundert, weigerte sich aber nicht, zu gehorchen. Als der Chodj-y-Dschuna ihn dann in hocheleganten Gängen davontänzeln ließ, sah ich, daß beide gar nicht übel zu einander paßten. Hierauf stieg ich in das Boot, und der Dschamiki legte sich in die Ruder.

So kurz dieser unbeabsichtigte Ausflug gewesen war, ich hatte auf ihm außerordentlich Wichtiges erfahren. Meine Gedanken wollten sich ganz ausschließlich hiermit beschäftigen, und ich mußte mich zwingen, sie auf die Schönheit der Umgebung zu lenken, als wir uns auf der Mitte des Sees befanden.

Ich sah jetzt zum ersten Male die westliche Seite des Thales grad vor mir liegen und alle ihre Linien auf zum Himmel streben. Nur allein der Fuß des Berges hatte sich nicht senkrecht, sondern quer gelagert, doch nicht vollständig wagerecht, sondern schief. Das erinnerte mich an die Struktur der Wände des Wadi Jahfufe, durch welches man im Antilibanon von Muallaka nach Damaskus reitet. Ich betone diese Art der Felsenlagerung besonders, weil sie mich zu einer Entdeckung führte, die ich sonst wohl schwerlich gemacht hätte.

Als ich von hier, von der Mitte des Sees aus, nach dem Alabasterzelte emporschaute, fiel mir etwas auf, was ich von dem Rosentempel aus nicht bemerkt hatte. Das Zelt besaß nämlich die Gestalt einer Krone, deren durchbrochene Kuppel von acht weißschimmernden Flügeln auf dem Ringe getragen wurde. Es stand, wie ich sah, nicht auf dem höchsten Punkte des Berges. Sondern von diesem lief ein heller Felsenstreif, fast wie ein niederwärts gestreckter Arm geformt, bis zu der senkrecht abstürzenden Kante vor und bildete dort eine hand- oder faustförmige Verbreitung, auf welche das Zelt gesetzt worden war. Zu beiden Seiten dieses Felsenstreifens lag nur unfester Steingrus, nur lockeres Geröll. Es bedurfte keiner großen Phantasie, sich einen Wetterguß oder sonst eine Katastrophe zu denken, durch welche dieses lose Gestein in die Tiefe gespült oder gerissen wurde. Dann mußte der felsige Arm sich frei in die Lüfte dehnen, um auf gewaltiger Faust die Alabasterkrone über dem Thale herniederzustrecken. Das war nur so eine ganz flüchtige, schnell vorübergehende Idee, wie man sie hat, um dann lächelnd den Kopf darüber zu schütteln. Aber wie oft verdichtet sich scheinbar Flüchtiges zur festen Form, die uns belehrt, daß die Idee denn doch wohl etwas anderes ist, als nur eine schnell und spurlos zerplatzende Gedankenblase!

Je mehr wir uns dem Ufer näherten, desto mehr wurden meine Gedanken nach unten gezogen. Die schiefe Struktur des Felsens beschäftigte mich. Ich folgte mit dem Auge ganz unwillkürlich den auffallend regelmäßigen Linien dieser Lagerung. Es war interessant, zu sehen, mit welcher Neigungsgleichheit sie alle ohne Ausnahme verliefen. Ohne Ausnahme? Nein; doch nicht! Ich bemerkte eine Stelle, wo dies doch nicht der Fall war. Grad da, wo der Berg am weitesten an den See herantrat, hörten die abwärts gesenkten Linien auf, nicht etwa, um anders zu verlaufen, sondern es gab überhaupt keine mehr. Diese Stelle war nicht groß, nicht breit, aber dicht bedeckt von wuchernden Rankengewächsen, welche von dem Humusboden des Ufers bis in das Wasser niederhingen. Es gab da weder Garten noch Feld, sondern wildliegendes Land, und darum war noch niemand auf den Gedanken gekommen, sich um dieses Gestrüpp und seine Bodenunterlage zu bekümmern. Mir aber fiel diese letztere sofort auf. Ich bin zwar kein Gelehrter, obgleich es wohl auch einige Menschen gab, die mich gar Manches lehrten, aber ich sagte mir doch, daß die Naturlinien da, wo sie aufhörten, durch etwas Anderes ersetzt worden sein mußten, was nicht natürlich, also künstlich war – also durch Menschenhand.

Hundert Andere wären vorübergerudert, ohne sich um diese scheinbare Nebensache weiter zu bekümmern; mir aber konnte das nicht passieren. Ich ließ den Kahn bis ganz nahe an das Gestrüpp treiben und nahm dann dem Dschamiki das eine Ruder aus der Hand. Indem ich mit demselben die Ranken zur Seite schob, sah ich unter ihnen nicht natürliche Felsen, sondern behauene Steine. Das waren genau solche Kolossalblöcke wie diejenigen, aus denen die Cyklopenmauer da drüben am Berge bestand! Ich begann, zu ahnen, und setzte die Untersuchung fort, doch so unauffällig und scheinbar spielend wie möglich, weil der Dschamiki nicht zu erraten brauchte, was für Gedanken oder Vermutungen mich beschäftigten. Und richtig! Endlich, endlich stieß ich durch, vollständig durch! Es gab eine Oeffnung hier, die unter dem schmalen Dorfwege nach dem Innern des Berges führte! Das Wasser war hier tief, sehr tief. Sollte der See etwa durch diese verwachsene Öffnung mit dem Innern des Berges in Verbindung stehen? Die Art des klüftereichen Gesteins ließ dies keineswegs als unmöglich erscheinen. Ich beschloß, dieser Frage anderweit nachzuspüren, und ließ nun nach dem Landeplatze rudern. Dem Dschamiki sah ich an, daß er nichts erriet, ja daß es ihm sehr gleichgültig gewesen war, weshalb ich in dem Pflanzengewirr herumgestochert hatte.

Der Chodj-y-Dschuna erwartete mich mit dem Pferde. Er pries es als das beste Tier, auf dem er je gesessen habe, und erklärte mir, morgen sofort zu kommen, sobald ich zu ihm schicken werde. Ich ritt langsam den Berg hinauf und durch das Thor in den Hof. Dort vergaß ich bei dem, was ich sah, das Absteigen: Halef hatte sich mit samt dem Lager aus seiner Hallenecke heraus vor die Säulen schaffen lassen. Da lag er nun mit bequem erhöhtem Kopfe und sah mich von meinem ersten Ritt nach Hause kehren. Er winkte mit der schwachen, müden Hand. Da ritt ich hin und ließ Assil die Stufen langsam steigen.

»Sihdi, welche Freude!« sagte er. »Wieder zu Pferde! Nun wohl bald auch ich!«

Hanneh saß bei ihm. Sie streichelte ihm zärtlich die Wange und erklärte mir:

»Wir erschraken, als Assil mit dir entfloh; aber Kara, mein Sohn, rief uns zu, daß er dir folgen und dich behüten werde. Das beruhigte uns. Dann sahen wir dich an seiner Seite den See entlang reiten; so brauchten wir uns also nicht zu sorgen. Als Halef später erwachte, erzählte ich ihm, daß du jetzt deinen ersten Ritt versuchest. Da gab er keine Ruhe; er mußte hierhergetragen werden, um dich heimkommen zu sehen. Nun bist du da. Wie freut er sich, der Liebe!«

Ich stieg ab und setzte mich zu ihnen. Assil ging ganz von selbst die Stufen wieder hinunter. Da kam Tifl.

»Effendi, ich werde absatteln,« sagte er. »Aber wenn du wieder reitest, so nimmst du mich mit. Du hast es mir versprochen! Weißt du es noch?«

»Ja. Und was ich verspreche, das halte ich. Wenn du dann nicht mehr mit mir reiten willst, brauchst du es bloß zu sagen.«

Das war eine Andeutung, die er aber nicht verstand. Was mir Kara von ihm erzählt hatte, war mir von dem Lehrer bestätigt worden. Der Lahme stand von jetzt an unter strenger Aufsicht, ohne daß er es ahnte. Und sonderbar: Als er den Rappen fortführte, schaute Halef ihm nach und sagte:

»Ein Gespenst! Ich habe es schon einige Male gesehen – wenn ich die Augen öffnete –. Es stand vor mir und schaute mich häßlich an –. Sihdi, laß diesen Mann nicht her zu mir –; ich mag ihn nicht!«

»So geht es mir mit seiner Pekala,« bemerkte Hanneh. »Warum steht immer Eines von beiden hier bei uns, um nachzusehen, was geschieht, und auch zu hören, was gesprochen wird? Es fällt mir schwer, dies nur für Neugierde zu halten; aber für Spione ist doch wohl hier kein Ort!«

Ich war still. Etwa aus Beschämung? Warum hatte ich Tifl und Pekala gegenüber nicht sogleich dasselbe Gefühl gehabt wie Halef und Hanneh? Wahrscheinlich weil diese beiden Letzteren Naturmenschen waren, welche die Instinkte noch besitzen, die uns im Verlaufe unserer »Bildung« mehr und mehr verloren gehen. Die immer strahlende »Festjungfrau« und ihr »originelles Kind« waren mir so außerordentlich »natürlich« vorgekommen, während ich jetzt immer mehr einzusehen begann, daß eine künstliche, eine nachgeäffte Natürlichkeit nicht mehr natürlich ist. Denn daß ich es hier mit Schauspielereien zu tun hatte, das war mir sehr wahrscheinlich. Darüber, daß ich mich einmal in einem oder zwei Menschen geirrt hatte, kam ich sehr leicht hinweg; um so fürchterlicher aber waren mir die kindlich naiven, rührseligen Masken, von denen ich mich hatte täuschen lassen. Wer so aufrichtig blickt und spricht wie diese beiden Menschen und aber doch nicht wahr und ehrlich ist, als was kann man den noch betrachten und behandeln! Es gibt in Persien eine große Menge von Sekten. Eine derselben, die Schujuch, lehrt, der menschliche Körper sei nur dazu da, daß die Geister einander täuschen; das Erdenleben sei ein großer, ununterbrochener Maskenball, doch keinesweges zum Vergnügen, und je schöner, freundlicher und liebenswürdiger ein Maskenbild erscheine, desto mehr habe man sich vor ihm in acht zu nehmen. Die Kinderlarven aber seien am allerschlimmsten. Ich bin weder Perser noch Sektierer, aber es wurde mir nun gar nicht schwer, mich in den Gedanken zu versetzen, daß Pekala und Tifl hier bei den Dschamikun Redoute spielten. Und ich, der ich die Kinder herzlich liebe, war diesen »allerschlimmsten« in das Garn gegangen.

Ueber Halef freute ich mich. Er schien seit gestern einen bedeutenden Fortschritt gemacht zu haben und bat, bis zum Abende im Freien bleiben zu dürfen. Darum schlug ich vor, hier an diesem Platze später unser Abendbrot zu nehmen, worauf gern eingegangen wurde. Als Hanneh mich fragte, wo Kara geblieben sei, sagte ich nur, daß er gegen Abend wiederkommen werde, und ging dann in den Garten, wo, wie ich hörte, sich der Pedehr befand. Er saß auf der Bank, wo ich von Tifl als Pflaumendieb überfallen worden war. Ich setzte mich zu ihm.

»Kennst du den Scheik ul Islam?« fragte ich.

»Ja,« antwortete er, sofort aufhorchend; »doch nicht persönlich.«

»Hat man sich vor ihm zu fürchten?«

»Du wohl nicht, aber vielleicht wir.«

»Falsch! Ich bin jetzt Dschamiki, so vollständig Dschamiki, daß ich keine Gefahr kenne, die es nicht für mich gibt, sondern nur für Euch. Der Scheik ul Islam wird morgen zu uns kommen.«

»Ist das wahr? Wer hat es gesagt?« rief er erschrocken aus.

»Der Chodj-y-Dschuna.«

»So kommt er allerdings. Der Chodj ist stets gut unterrichtet. Er hat sich nie geirrt, wenn er uns warnte. Wenn der Scheik ul Islam persönlich zu uns kommt, so handelt es sich um eine Sache von allerhöchster Wichtigkeit. Er ist ein Fürst des geistlichen Standes und unternimmt sicher keine solche Reise, ohne die schweren Gründe sorgsam abgewogen zu haben. Effendi, es steht uns nichts Gutes bevor!«

»Warum nichts Gutes. Warum muß es unbedingt Böses sein, was er uns bringt?«

»Weil von dieser Seite überhaupt nichts Gutes kommen kann. Er ist, streng genommen, kein Perser, sondern ein Takikurde. Es gibt ein bekanntes Wort, das lautet: So oft der Taki seinen Blick fromm zum Himmel hebt, tritt er mit dem Fuße einen Menschen nieder. Und dieser tugendheilige Fürst schaut fast immerwährend empor. Wer mag sie zählen, die er schon unter seine leisen, weichen, geräuschlosen Sohlen trat! Wir werden seinen demütigen, gottseligen Augenaufschlag zu sehen, aber auch seine fanatischen Fußtritte zu fühlen bekommen. In seinen Stapfen hebt sich kein Grashalm wieder auf!«

»So lassen wir ihn nur in Dornen treten; das wird uns nützlich und ihm heilsam sein! Ich konnte leider nicht erfahren, ob er allein kommt oder nicht.«

»Allein? Daran ist nicht zu denken! Er muß sich doch mit Glanz und Stolz umgeben, damit seine Demut um so deutlicher hervortrete! Wir werden hohe, sehr hohe Gäste haben, und zwar nicht wenig. Es gilt also, uns vorzubereiten!«

»Nein! Er darf auf keinen Fall bemerken, daß wir von seiner Ankunft gewußt haben. Die Gäste bekommen nur, was grad vorhanden ist. Angeschafft oder zubereitet wird nicht das Geringste. In der Küche darf Niemand Etwas ahnen. Ganz besonders aber hast du dafür zu sorgen, daß Pekala und Tifl nichts erfahren. Das fordere ich streng!«

Er sah still vor sich nieder und sagte nichts dazu. Darum fuhr ich fort:

»Also keine Vorbereitungen, schon dieser Beiden wegen, die absolut nichts merken dürfen! Wo aber werden wir die Gäste unterbringen?«

»In der Halle.«

»Wo Hadschi Halef liegt?«

»Wenn du erlaubst, betten wir ihn fort. Es trifft sich gut, daß Hanneh mich vorhin fragte, ob sie ihn nicht bald hinauf zu sich bekommen könne. Die Pflege werde ihr dadurch erleichtert, und er habe dann auch mehr Ruhe als jetzt in der Halle, die doch stets offen sei.«

»So bettet ihn gleich nach dem Abendessen hinauf! Hanneh hat Recht; ihr Wunsch ist sehr vernünftig. Sag aber auch zu ihr nichts von dem Scheik ul Islam, überhaupt zu keinem Menschen. Wer es erfahren soll, dem sage ich es selbst. Dieser „Fürst“ soll ganz den Eindruck haben, daß er uns vollständig überrasche. Und denke ja nicht an große Gasterei! Es ist sogar sehr möglich, daß weder er noch einer seiner Begleiter einen Bissen von uns bekommt.«

»Effendi, das nimm zurück! Das ist ausgeschlossen, vollständig ausgeschlossen!«

»Warum?«

»Bedenke zunächst die hohe Pflicht der Gastlichkeit!«

»Die kenne ich ebenso genau wie du, und Niemand kann lieber gastlich sein als ich. Nur habe ich abzuwarten, ob der Scheik ul Islam sich gegen uns so benimmt, daß ich ihm erlaube, unser Gast zu sein.«

Da sah er mich groß an.

»Das klingt ja, als ob du dir gar nichts aus diesem hohen Würdenträger machtest!« sagte er.

»Ich mache mir ganz genau das aus ihm, wozu er das Material besitzt, nicht weniger und nicht mehr. Teppiche, Polster, Pfeifen, Tabak, Kaffee, Wasser, das ist ja alles da. Wenn Weiteres gegeben werden soll, ist dann, wenn ich es sage, auch noch Zeit. Zugegen sein werden nur du, der Chodj-y-Dschuna und ich. Er ist der Einzige, mit dem du dich besprechen magst. Ob ich noch andere Dschamikun brauchen werde, das kann ich jetzt nicht wissen; es hat sich erst zu zeigen. Hast du vielleicht einmal vom „besten Pferd von Luristan“ gehört?«

»Schon oft. Es gehört dem Scheik ul Islam und ist der schnellste und ausdauerndste Renner aus der Taki-Zucht. Er wurde nie besiegt, und der Besitzer hat schon manchen Preis mit ihm gewonnen.«

»Wie kam er zu diesem Tiere?«

»Der Stamm machte es ihm zum Geschenk, um seine beispiellose Frömmigkeit und Glaubensstrenge zu belohnen. Es gab noch keinen Taki, der so hoch gestiegen ist wie dieser Mann. Darum sind sie stolz auf ihn und halten es für eine Ehre, ihn den Ihrigen nennen zu dürfen. Er sagt, die Liebe zu dem Pferde sei die einzige irdische Liebe, die er sich erlaube. Und da er seinen Stall gern jedem Rennen öffnet, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß er sich morgen mit anmeldet, sobald er hört, daß hier bei uns gelaufen wird.«

»Soll ich annehmen?«

»Das ist deine Sache, Effendi. Ich sage weder ja noch nein. Ein Pferd, welches noch nie geschlagen wurde, ist ein gefährlicher Gegner. Um so ehrenvoller ist es dann aber auch, es besiegt zu haben. Es handelt sich da vor allen Dingen um den Preis, zu welchem er dich in die Höhe treiben würde.«

»Weißt du vielleicht, ob der Scheik ul Islam in irgend einem persönlichen Verhältnisse zu Ahriman Mirza steht?«

»Nein.«

»Oder zu Ghulam el Multasim?«

»Ja, die sind eng befreundet. Der Scheik ul Islam hat Ghulam sogar zu einem seiner Kasi ernennen lassen und sieht ihn oft als Gast in seinem Hause.«

»Das ist mir wichtig, außerordentlich wichtig! Doch jetzt zu etwas anderem: Ich ließ es bisher ruhen; nun ich aber an Stelle des Ustad stehe, ist es meine Pflicht, mich dieser Sache anzunehmen. Ich war nämlich beim Scheik der Kalhuran und freue mich, daß seine Genesung vorwärts schreitet. Er steht nicht unter Eurer Dschemma; aber du sagtest, daß sein Weib bestraft werden müsse, weil sie Blut vergossen hat.«

»So ist es. Sobald er das Lager verläßt, haben wir über sie zu richten.«

»Hättest du an ihrer Stelle anders gehandelt? Hättest du deinen Gatten vollends erschlagen lassen?«

»Was ich getan hätte, kommt nicht in Betracht.

Wir haben das Gesetz, und nach diesem ist zu verfahren.«

»Also selbst bei Euch herrscht auch noch der Buchstabe, nicht der Geist des Gesetzes!«

»Du irrst. Wir werden die allergeringste Strafe wählen.«

»Aber doch Strafe! Ist es denn nicht möglich, daß sie freigesprochen wird?«

»Nein.«

»Wer hat das Recht der Begnadigung?«

»Der Ustad. Du weißt, daß in Persien jeder Weli oder Beglerbeg die Macht über Leben und Tod, also auch das Begnadigungsrecht besitzt, und der Ustad ist der Weli unseres Bezirkes.«

»Wer hat es jetzt, da er verreist ist?«

»Sein Stellvertreter, also du.«

»So bitte ich dich, zu dem Kalhuri zu gehen. Sage ihm, daß ich an Stelle seiner Frau gewiß auch Blut vergessen hätte. Ich halte sie also für ebenso unschuldig, wie mich und dich und gebe nicht zu, daß sie bestraft wird. Wer einen Menschen einer Tat wegen verdammt, zu der er unter Umständen selbst fähig gewesen wäre, der ist derselben Strafe wert. Gehe sogleich!«

»Effendi, das ist eine frohe Botschaft. Ich eile, sie zu überbringen. Du hast hiermit die Herzen aller Dschamikun und Kalhuran gewonnen!«

Nun ging ich nach meiner Wohnung um die Schlüssel zu derjenigen des Ustad zu holen. Es galt, mich für den morgenden Besuch so weit vorzubereiten, als es notwendig war, über alles Vorkommende genau unterrichtet zu sein. Ich fand eine Mappe, welche alle Schriftstücke enthielt, die sich auf die Abtretung des Gebiets, auf die Verwaltung desselben und auf die Rechte und Pflichten der Dschamikun bezogen. Der Ustad hatte überhaupt dafür gesorgt, daß ich mich sehr leicht zu orientieren vermochte. Es gab überall beschriebene Zettel, welche den betreffenden Inhalt anzeigten, und so fand ich auch ohne langes Suchen das wertvollste aller Dokumente, bei welchem die Notiz lag: Noch nie gebraucht und noch keinem Menschen gezeigt, doch unbedenklich zu benutzen!

Ich öffnete es mit Spannung und las es durch. Es enthielt Abmachungen, welche ohne alle Zeugen zwischen dem Schah und dem Ustad persönlich gepflogen worden waren, und sicherten dem Letzteren einen Schutz, wie ihn kein Weli oder Beglerbeg sich kräftiger wünschen konnte. Eine große Seltenheit war der eigenhändige Namenszug des Beherrschers und die dreimalige Wiederholung des ebenso eigenhändigen Siegels. Hierbei lag noch eine Karte von schwer vergoldetem Pergament. Die vier Ecken enthielten in Handmalerei das persische Wappen, den vor der Sonne liegenden Löwen. Und in der Mitte war, mit der Feder liebevoll kalligraphisch geschrieben, natürlich in persischer Sprache, doch gebe ich es deutsch: »Wer dieses vorzeigt, hat nur mir zu gehorchen!« Auch hierunter der eigenhändige Namenszug und das Siegel, dessen Inschrift aus den Worten bestand: »Als Nasr-ed-Din das Siegel in die Hand nahm, erschallte der Ruf der Gerechtigkeit vom Monde bis zum Fische.« Der Schah, bekanntlich ein eifriger Kalligraph, hatte diese Karte selbst gezeichnet und geschrieben, und sie war darum vorkommendenfalls selbst den Höchsten seines Reiches gegenüber eine Legitimation, welche zu sofortigem Gehorsam zwang.

Hiermit besaß ich schon viel mehr, als ich für morgen brauchte, und schon wollte ich wieder gehen, da wurde die Tür geöffnet und Pekala trat herein. Ihr Gesicht glänzte in der gewöhnlichen, ganz wie begeisterten Freundlichkeit, und es war ein höchst vertraulicher Ton, in dem sie sagte:

»Ich sah den Schlüssel stecken, Effendi, und dachte mir gleich, daß du hier im Zimmer seist. Ich habe zwar keine Zeit, doch für dich immer, und so wollte ich dich fragen, ob ich dir das von meinem Aschyk sagen darf.«

»Laß es hören!«

»Und du wirst aber nichts verraten?«

»Ist es denn ein Geheimnis?« umging ich diese ihre Frage.

»Ja, natürlich!« antwortete sie wichtig. »Ich habe eine ganze Menge von Geheimnissen, von denen Niemand Etwas wissen darf. Dir aber sage ich vielleicht einige davon. Das notwendigste von ihnen allen sollst du jetzt gleich hören. Nämlich mein Aschyk kommt immer nach vier Wochen; das habe ich dir schon mitgeteilt. Kürzlich aber war er einmal außer dieser Zeit hier; das weißt du noch nicht. Kannst du vielleicht erraten, weshalb er kam?«

»Nein. Sag es, und mach es so kurz wie möglich!«

»Warum das? Ich spreche ja immer kurz, Effendi! Mein Aschyk hat nämlich beschlossen, mit unserem Ustad zu reden und ihm Vieles mitzuteilen, was ihn vom Tode erretten kann.«

»Wen erretten? Den Aschyk oder den Ustad?«

»Den Aschyk; vielleicht aber auch beide; ich weiß es nicht genau. Ich soll dem Ustad sagen, daß er nächsten Sonntag kommen werde, grad um Mitternacht. Ich aber komme schon eine Stunde vorher mit ihm zusammen.«

»Und hast du das dem Ustad mitgeteilt?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil – weil – weil ich mich vor ihm fürchtete.«

»Vor mir aber nicht?«

»Doch auch! Aber die Zeit verging; der Sonntag ist schon nahe, und wenn ich mich so weiter fürchte und nichts sage, so verliere ich meinen Aschyk. Er hat mir nämlich gesagt, daß er niemals wiederkommen werde, wenn ich nicht ganz gewiß dafür sorge, daß er mit dem Ustad sprechen dürfe. Darum habe ich mir endlich ein Herz gefaßt und diese Bitte zu dir gebracht, weil der Ustad nächsten Sonntag noch nicht wieder hier sein kann. Was sagst du nun dazu?«

Sie wischte sich die feucht gewordene Stirn und atmete erleichtert auf. Es war ihr doch schwer geworden, sich an mich zu wenden.

»Ist es denn dem Aschyk gleich, ob er mich oder den Ustad trifft?« fragte ich.

»Ich denke es. Du stehst ja an des Ustad Stelle, und da die Sache nicht aufgeschoben werden darf, so muß er einverstanden sein.«

»Weiß noch Jemand davon, daß er Sonntag kommt?«

»Nein.«

»Auch Tifl nicht?«

»Tifl? Diesem Schwätzer darf man solche Dinge nicht mitteilen. Er weiß kein Wort!«

Das war eine Lüge, wurde aber mit der ehrlichsten und aufrichtigsten Miene der Welt gesagt. Die kleinen Aeuglein blickten mich dabei so offen, so treuherzig an, daß ich fast glaubte, mich besinnen zu müssen, ob ich mich nicht täusche.

»Hat der Aschyk gesagt, an welchem Orte er mit dem Ustad zu sprechen wünscht?« fuhr ich fort.

»Nein. Das hast nun du zu bestimmen. Willst du mir sagen, wo?«

»Heut noch nicht. Ich werde es dir noch rechtzeitig mitteilen. Und nun höre mich an! Du schweigst gegen Jedermann, auch gegen Tifl! Wenn du einem einzigen Menschen sagst, daß dein Aschyk kommt, um mir etwas zu sagen, so rede ich nicht mit ihm und jage dich aus dem Hause!«

»Effendi,« rief sie aus, indem sie erschrocken zurückfuhr. »Was machst du mir da für fürchterliche Augen. Du hast ja plötzlich ein ganz anderes Gesicht!«

»Das ist mein Gesicht, wenn ich mir etwas vornehme, was ich unbedingt auch ausführe. Du hast es noch nicht gesehen. Hüte dich vor der Wiederkehr! Wenn du nicht schweigst, lasse ich dich noch mitten in der Sonntagsnacht über die Grenze schaffen, ohne zu fragen, was dann aus dir wird! Verstanden?«

»Ja, ja, ganz genau!« versicherte sie, vor Schreck in sich zusammenkriechend. »Effendi, der Ustad ist doch freundlicher als du. Wer hätte das gedacht!«

»Jedes an seinem Orte, die Strenge sowohl als auch die Freundlichkeit! Hast du noch etwas zu sagen?«

»Nein.«

»So geh!«

Sie machte in ihrer inneren Zermalmung einen ganz verkehrten Knix und entfernte sich bedeutend weniger vertraulich, als sie hereingekommen war. Ich aber schloß die Wohnung sorglich ab und ging, mit Schakara zu sprechen.

Wie kam es doch, daß ich gar nicht nach ihr fragte, sondern daß es mir war, als wisse ich ganz genau, wo sie sei? Ich ging durch den Garten. Bei der Quelle angekommen, sah ich die »Schwester« bei den Pferden.

Die Sahm knusperte mit Ghalib im Grase herum. Assil aber hatte sich niedergelegt. Schakara saß neben ihm und flocht, über seinen Hals gelehnt, aus den Mähnenhaaren Zöpfe, in die sie Veilchen wand. Der Rappe langte von Zeit zu Zeit mit dem Maule herüber, um sie freundschaftlich in den Arm zu kneifen. Ich beobachtete das eine ganze Weile; dann ging ich hin und setzte mich zu ihnen.

Es war nichts Unaufschiebbares, was ich mit Schakara zu besprechen hatte. Ich wollte ihr nur mitteilen, wer morgen kommen werde. Aber indem ich dies tat, war es, als ob sich in mir alles Verschlossene öffne, um von ihr gesehen, geprüft und bestätigt oder verworfen zu werden. Sie sprach ganz wenig, und fast nur, wenn ich fragte. Und was sie dann sagte, war so selbstlos, so bescheiden und klang doch fest, bestimmt und zaglos sicher. Ich erkannte mehr und mehr, daß sie etwas unendlich Großes, Schönes, Klares in sich trug, und sann darüber nach, wie es zu nennen sei. Es war gewiß das, was wir »Gebildeten« eine Welt-, eine Lebensanschauung nennen, und doch noch mehr, viel mehr! Diese Anschauung erstreckte sich über noch ganz andere Schätze als diejenigen, welche die sogenannte »Welt« und das angebliche »Leben« uns bieten. Indem ich jetzt mit ihr sprach, tauchte der Augenblick wieder vor mir auf, an dem ich sie von meinem Krankenlager aus zum zweiten Male sah4: Unweit der Tür saß sie mitten im Pflanzengrün. Weiß war ihr Gewand. Sie hatte den Schleier nach hinten geschlagen. Ihr dunkles Haar hing in langen, schweren Flechten herab. Die schlanken Finger glitten über die Saiten der Sandurah. Darf man ein menschliches Wesen mit einem Gedicht vergleichen? Man sagt ja, daß der Mensch das herrlichste Gedicht der ganzen Schöpfung sei. Wenn nicht das herrlichste, aber gewiß eines der frömmsten sah ich hier!

Damals waren es Harfentöne, die ich von ihr hörte. Sie spielte, damit meine und Halefs Seele festgehalten werde. Jetzt waren es Worte, die ich von ihr vernahm; aber Alles, was und wie sie es sagte, hatte eine tiefe, innige Verwandtschaft mit jenen Harfenklängen. Es war Alles so melodiös, so harmonisch, so voll, so rein, so ganz ohne jede Spur von Dissonanz. Ich sprach weiter und weiter, nur um diese Lippen antworten zu hören, aus denen nichts Trübes, nichts Entweihtes klingen konnte. Es war, als ob ich ihr alle meine Gedanken hinübergeben müsse, um sie geläutert und geklärt dann wieder in Empfang zu nehmen. Hatte Marah Durimeh das gewußt, als sie schrieb, daß ich der Geist sein solle, sie aber die Seele, meine Schwester? Psychologie, nicht theoretisch, sondern praktisch gelehrt! Nicht aus wissenschaftlichen Leitfäden getüftelt, sondern aus dem Geistes- und Seelenleben direkt und ohne Deutelei herausgegriffen!

So saßen wir viel länger, als ich beabsichtigt hatte, beieinander, bis Kara Ben Halef mit seinem Barkh kam und mir meldete, daß es ihm gelungen sei, meinen Auftrag auszuführen, ohne von Jemand gesehen zu werden. Er habe die betreffende Stelle genau untersucht und sei überzeugt, daß kein anderer Fuß sie inzwischen betreten habe. Da es Zeit zum Abendessen war, so forderte ich ihn auf, mit uns zu kommen, um an demselben teilzunehmen. Er lehnte aber ab, weil er für die langsame Abkühlung Barkhs zu sorgen habe, damit dieser ja nicht etwa verschlage. Er war in Allem, was in seinen Händen lag, so wohlbedacht, gewiß mehr ein Erbteil von seiten seiner Mutter als seines Vaters, des oft nur allzu schnellen Hadschi, dessen lebhaftes Temperament der ruhigen Ueberlegung gern aus dem Wege ging.

Nach dem Essen zog ich mich hinauf zu mir zurück, um Alles, was ich von den Sachen des Ustad zu verbrennen hatte, einer vorherigen Prüfung zu unterwerfen. Ich gewann da einen tiefen Einblick in sein Leben, in sein menschenfreundliches Wollen und Empfinden. Die Zeitungen widerten mich an. Ich hatte erklärt, sie nicht durchlesen zu wollen, und tat es auch nicht. Aber indem ich die Blätter einzeln durch meine Hände gehen ließ, blieb mein Auge doch zuweilen an dieser oder jener Stelle haften, und dann flog der zerknitterte Bogen so weit wie möglich fort von mir. Man sollte es kaum für möglich halten, mit was für Quatsch und Tratsch und Klatsch sich jenes sonderbare Wesen befaßt, welches denen, die es besitzen, weißmacht, daß sie geistreich seien! Wenn der Ustad das Alles wirklich durchgelesen hatte, so war es sicher eines der größten Wunder, daß er der Menschheit seine Liebe noch immer treu bewahrte. Es muß doch etwas Großes um die wahre, nicht geheuchelte, sondern wirklich aus dem Herzen wirkende Humanität sein, wenn sie die Kraft besitzt, auf ihrem allgemein menschlichen Standpunkte selbst gegen diejenigen Widersacher auszuhalten, die sich nicht scheuen, nur mit den Waffen des Sonderinteresses anzugreifen und dabei doch zu versichern, daß sie die Verfechter der allgemeinen Menschheitsrechte, des edlen Menschentums seien. Hinweg also mit diesen Elaboraten! Ich warf sie auf den Herd, brannte sie an, und als die Flamme emporschlug, flog auch die »Rechtfertigung« hinein, die ganz ohne allen Grund geschrieben worden war.

Nachdem ich mich hierauf noch einige Zeit mit den Werken des Ustad beschäftigt hatte, ging ich schlafen und wachte nicht eher auf, als bis draußen an meine Tür geklopft wurde. Daß man mich weckte, mußte eine sehr triftige Ursache haben. Ich stand auf und öffnete. Der Pedehr war es.

»Verzeihe, Effendi, daß ich dich wahrscheinlich im Schlafe gestört habe!« sagte er. »Es wird nicht lange dauern, so ist der Scheik ul Islam da.«

»So zeitig? Woher weißt du es?« erkundigte ich mich.

»Ich sprach gestern abend noch mit dem Chodj-y-Dschuna. Er hielt es für gut, zu wissen, woran man sei. Darum ist er dann fortgeritten, in der Richtung nach Chorremabad. Er kam bis an den Grenzduar der Dschamikun und erfuhr, daß der Scheik ul Islam dort übernachte und heute mit dem frühesten Morgen aufbrechen wolle. Er gebot Verschwiegenheit und ist nun hier, weil du gewünscht hast, daß er anwesend sei. Sonst aber weiß Niemand davon. Wirst du jetzt herunterkommen ?«

»Nein. Schicke mir das Frühstück herauf! Wer kommt Alles mit?«

»Es sind, Herren und Diener zusammen, fünfzehn Personen, alle sehr gut beritten und bewaffnet. Man hat ihnen dort im Duar gesagt, daß kein Fremder ohne die besondere Erlaubnis des Ustad bei uns Waffen tragen dürfe, sondern sie abzugeben habe, sobald er das Gebiet der Dschamikun betritt. Sie haben sich aber geweigert, dies zu tun.«

»Nun, was dann? Hat man sie gezwungen?«

»Nein. Man hat geglaubt, nicht streng verfahren zu dürfen, weil es der Scheik ul Islam sei. Natürlich werden sie auch hier am ersten Hause angehalten. Wenn du willst, werde ich sie unbedingt entwaffnen lassen. Wollen sie es sich nicht gefallen lassen, so mögen sie umkehren, und ich lasse sie von einer Reiterschar begleiten, bis sie über die Grenze sind.«

»Recht so, Pedehr! So gefällst du mir! Es gibt keinen einzigen Menschen, vor dem wir Ursache, uns zu fürchten, hätten, und Furcht ist überhaupt die größte Torheit, die ich kenne. Aber Alles an seinem Ort und zu seiner Zeit! Faust gegen Faust, doch gegen List nichts Anderes als eben auch wieder List! Wenn man mich vor der Schlauheit dieses Scheik ul Islam warnt, werde ich mich hüten, wie ein dummer Bär mit Tatzen dreinzuschlagen. Und wenn wir fünfzehn Personen gleich am Eingange des Duar entwaffnen wollten, müßte ich so viele Dschamikun hinstellen, daß man sich sofort sagen müßte: die haben gewußt, daß wir kommen! Und grad das soll ihnen doch verheimlicht werden! Lassen wir es also laufen, wie es läuft! Ihr beide, nämlich du und der Chodj-y-Dschuna, habt sie mit allen Zeichen der Ueberraschung zu empfangen und in die Halle zu führen, wo Ihr Euch mit ihnen unterhaltet, bis ich komme.«

»Soll ich dich holen lassen?«

»Nein. Um die Ansicht, daß wir nichts gewußt haben, zu verstärken, sagst du, daß ich nicht daheim sei, sondern einen Spaziergang gemacht habe. Das werde ich auch tun, doch gar nicht weit. Ich sorge dafür, daß ich ihre Ankunft bemerke, und werde mich dann in der Halle einfinden. Jetzt geh! Also mein Frühstück möglichst schnell!«

Er entfernte sich und schickte es mir sofort herauf. Als ich es eingenommen hatte, schloß ich bei mir zu und ging in die Wohnung des Ustad, um die goldene Karte des Schah zu mir zu stecken. Es war leicht möglich, daß ich sie brauchte. Dann schloß ich auch hier zu und ging, aber nicht die Treppe, sondern hinten den Glockenweg hinab, der nach dem Garten, dem Bade und der Pferdeweide führte. Ich sah Niemand, der mich bemerkte. Da es mir darauf ankam, die Ankunft des Scheiks ul Islam zu beobachten, so suchte ich einen Ort, von welchem aus es möglich war, dies unbemerkt zu tun. Der ganze, lange Rand des Gartens und der Weide war mit dichtem Gebüsch eingefaßt, hinter welchem die Gigantenmauer senkrecht niederfiel. Durchdrang ich dieses Strauchwerk bis zur Mauerkante, so bot sich mir dann dort die freie Aussicht, die ich wollte. Ich wendete mich also nach einer Stelle, wo eine Lücke durch die Büsche zu führen schien, sah aber, als ich sie erreichte, daß sie nicht ganz hindurchführte. Sie war vielmehr wie eine Laube geformt und rundum mit einer Rasenerhöhung zum Niedersetzen versehen. Das Grün war hier so wirr und dicht, daß man nicht einmal hindurchsehen und also noch viel weniger hindurchdrängen konnte, ohne Aeste und Zweige loszubrechen. Aber gleich daneben standen einige Tamarisken so, daß ich mich zur Not hindurchdrängen konnte, ohne sie zu beschädigen. Ich tat es, konnte aber nicht ganz bis vor kommen, sondern mußte mich dann nach der Seite, also hinter die Laube, wenden. Dort fand ich, was ich suchte. Es gab genug Zweige, mich vollständig zu verstecken, und doch so viele Oeffnungen zwischen denselben, daß ich das ganze Tal und auch, nur einige Windungen abgerechnet, den zu uns heraufführenden Weg übersehen konnte. Ich machte es mir so bequem wie möglich und richtete mich auf längeres Warten ein, was aber gar nicht nötig gewesen wäre, denn eben, als ich mich lang ausgestreckt und den Kopf in die Hand gestützt hatte, kam von rechts unten eine Reitertruppe, die keine andere als diejenige des Scheik ul Islam sein konnte. Ich zählte freilich mehr als fünfzehn Pferde, doch kamen die überzähligen auf die Dschamikun, welche ihm von dem Grenzduar aus das Geleit gegeben hatten.

Fünf der Tiere waren nach reicher, persischer Reschma-Art geschirrt, eines von ihnen ganz besonders auffallend. Der Mann, welcher auf diesem saß, trug einen Taki-Turban von ungeheurem Durchmesser auf dem Haupte. Von dieser, mit einigen hohen, bunten Federn geschmückten Wulst ging ein weißer Schleier, welcher wie ein Mantel nicht nur den Reiter, sondern auch den ganzen hintern Teil des Rosses bedeckte.

Sollte diese so in die Augen fallende Gestalt etwa der fromme Würdenträger sein? Der Demütige? Der Mann mit den leisen, weichen, geräuschlosen Sohlen? Indem ich mir diese Frage vorlegte, betrachtete ich auch die Andern, welche völlig schmucklos ritten und natürlich dienstbare Personen vorstellen sollten. Einer von diesen hielt sich ganz am Ende. Er trug einen sehr gewöhnlichen Taki-Anzug, saß aber auf einem Pferde, welches meine ganze, übrige Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Die Entfernung war zu groß, als daß ich Einzelheiten bemerken konnte, aber dieser Adel in der Haltung, diese Lebensfülle in jeder Bewegung, diese graziöse Sicherheit des Schrittes und dieses spannkräftige Selbstbewußtsein trotz der Schenkel und Zügel, das war mir genug zu der Annahme, daß es das beste, das wertvollste Pferd von allen fünfzehn sei – ein Hellbrauner mit zwei weißen Vorderstiefeln!

Der Trupp bog nach dem Wege zum hohen Hause ein. Weil hierdurch die Entfernung sich stetig verringerte, bekam ich dieses Pferd immer deutlicher zu sehen, und indem ich es auf einen Kaufwert von ganz sicher wenigstens neuntausend Mark deutschen Geldes abschätzte, sagte ich mir, daß der Daraufsitzende unmöglich zu den Sijas gehören könne.

Es waren also sonderbarerweise zwei Personen, welche mir nicht als das vorkamen, für was man sie allem Anscheine nach halten sollte. Der Weißverschleierte und der letzte Reiter waren beide höchst wahrscheinlich in ihrer äußern Erscheinung darauf berechnet, uns zu täuschen. Der Eine sollte höher, der Andere niedriger erscheinen, als er eigentlich stand. Die Würde des Ersteren konnte mir gleichgültig sein, die des Letzteren aber nicht. Wenn von diesen Leuten einer überhaupt mehr war, als er zu sein schien, so hatte ich gewiß alle Veranlassung, mit meiner Vermutung nicht nur bis zur nächsten, sondern gleich bis auf die höchste Stufe zu steigen: Der vermeintliche Reitknecht war der Scheik ul Islam selbst!

Indem mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah ich Tifl, welcher drüben auf dem Wege erschien, um aus irgend einem Grunde hinab nach dem Duar zu gehen. Er wußte nichts von der Ankunft dieser Leute und blieb darum überrascht stehen, als er sie erblickte. Als sie ihn erreichten, sprach er auf sie, und da war es mir höchst interessant, zu bemerken, daß ihn die voranreitenden Vornehmen von sich ab und auf den letzten Reiter verwiesen. Das war ein Umstand, durch welchen meine Vermutung fast zur Gewißheit erhoben wurde.

Er winkte den Andern zu, weiter zu reiten, und blieb bei Tifl stehen. Dieser Wink verriet mir, daß er der eigentlich Befehlende sei. Sie sprachen eine kleine Weile miteinander; dann ließ der Fremde seinen Hellbraunen wieder vorwärtsgehen, und Tifl kehrte um und schritt, sich lebhaft mit ihm unterhaltend, an seiner Seite, bis beide hinter der letzten, obersten Biegung des Weges verschwanden.

Wie gut, daß ich hierher gegangen war, um zu rekognoszieren! Ich hatte dadurch erfahren, daß es dem Scheik ul Islam höchst wahrscheinlich beliebte, mit uns schauspielern zu wollen, und war nun also auf die beabsichtigte »Komödie der Irrungen«, falls sie wirklich versucht werden sollte, wohl gefaßt! Da ich nicht den geringsten Grund hatte, diese Gäste auf die Idee zu bringen, daß man vor Freude über ihr Kommen außer sich sei, so beeilte ich mich nicht im geringsten, sondern blieb noch eine ganze Weile auf meinem Platze sitzen. Und wie gut das war, stellte sich heraus, als ich Schritte hörte, welche sich sehr eilig der Laube näherten, hinter der ich lag. Zwei Personen traten ein.

»Niemand hat uns gesehen; das ist gut!« hörte ich Tifls Stimme sagen. »Er fragte, ob es einen Ort gebe, wo er unbemerkt mit dir sprechen könne. Darum eilte ich, dich hierher zu bringen. Nun schicke ich auch ihn.«

Nach diesen Worten ging er wieder fort. Wer war die Person, die sich nun allein in der Laube befand? Ich sollte nicht lange zu warten haben, es zu erfahren. Es kamen wieder Schritte, eilig aber leise, vorsichtig schleichend und wie auf weichen Sprungfedern fußend.

»Du bist die ungläubige Türkin Pekala?« wurde gefragt.

»Ja,« antwortete sie, die Falschheit ihrer Religion unbedacht mit bestätigend. »Und wer bist du?«

»Wie ich heiße, brauche ich nicht zu sagen; aber ich bin der Freund dessen, der sich deinen Aschyk nennt.«

Da schlug sie die Hände klatschend zusammen und rief aus:

»Der Freund meines Aschyk! Wie mich das freut! Wer hätte gedacht, daß –«

»Nicht so laut!« unterbrach er sie gebieterisch. »Kein Mensch darf wissen, daß ich ihn kenne und daß ich mit dir sprach – du Liebliche, du Blühende!« fügte er in plötzlich ganz weichem, schmeichelndem Tone hinzu. »Ich will dir aber beweisen, daß ich dich und ihn und eure Liebe kenne. Er wird nächsten Sonntag kommen, eine Stunde vor Mitternacht, und du wirst an einem hoch aufgerichteten Mauersteine auf ihn warten. Erkennst du hieran, daß ich sein Vertrauter bin, sein Freund und also auch der deinige?«

»Ja, ich vertraue dir,« versicherte sie. »Du hast gewiß auch so ein edles Männerherz wie er und weißt, was ein edles Frauenherz bedeutet!«

Es war ein Räuspern zu hören, als ob er mit einem unzeitigen Lachen zu kämpfen habe. Ich konnte beide nicht sehen, wußte aber, daß ich ihn an seiner Sprache sofort erkennen würde. Er sprach die gutturalen Spiranten mit mehr als gewöhnlicher kurdischer Schärfe aus und hatte ein so uvular schnarrendes Rrrrrr, als ob er an einer bösartigen Zäpfchenkrankheit leide.

»Ich weiß sogar, weshalb er diesmal kommt,« fuhr er fort. »Er will mit dem Ustad sprechen, und weil dieser nicht hier ist, mit dem fremden Effendi, da es nicht aufzuschieben ist. Ich ahnte nichts von der Anwesenheit dieses Stellvertreters, und es hat sich erst zu zeigen, ob sie gut oder nicht gut für uns ist. Dein Aschyk muß unbedingt als Gast im Hause des Ustad aufgenommen werden. Es war bezweckt, er solle in den Räumen wohnen, welche euer Herr sein „Grab“ zu nennen pflegt. Leider habe ich von diesem Tifl erfahren, daß dort der Fremde aufgenommen worden ist. Dafür sind aber nun die eigenen Stuben des Ustad frei geworden, und es würde uns genügen, wenn dein Aschyk nun wenigstens doch diese bekäme. Du bist die Herrin dieses Hauses, Pekala. Das weiß ich ganz genau. Und deiner Freundlichkeit kann Niemand widerstehen. Dein Aschyk wird den Effendi unbedingt bewegen, ihn bei sich aufzunehmen, aber wo! Ich hörte, daß du diesen Mann durch deine Holdseligkeit ganz für dich gewonnen habest. Nun sag: Glaubst du, ihn bewegen zu können, den Beglücker deines edlen Frauenherzens in den Räumen des Ustad wohnen zu lassen?«

»Sogleich, sogleich wird er es mir erlauben!« jubelte sie so unvorsichtig auf, daß er ihr in schnellem Zorne befahl:

»Schweig, unvorsichtige Katze! Dein falsches Maul hat schon genug verraten; mich aber soll es nicht –«

Er hielt mitten im Satze inne und fuhr mit vollständig verändertem Ausdrucke fort:

»Mein Herz begreift die Größe deines Glückes, den Aschyk als geliebten Gast hier bei dir zu haben, du treue, schöne Blume seines Lebens, aber ich bitte dich, dieses Glück tief und schweigsam in dich zu verschließen, bis die ersehnte Zeit gekommen ist, in welcher du es nicht mehr zu verheimlichen brauchst! Du weißt ja, daß das Leben des Aschyk von deiner Verschwiegenheit abhängt, und das deinige wahrscheinlich auch!«

»Chodeh! Auch mein Leben? Mein eigenes?« fragte sie erschrocken.

»Ja. Seine Feinde sind auch die deinigen, und wenn sie ihn töten, können sie dich nicht leben lassen!«

»Wer aber sind sie denn? Er hat sie mir noch nie genannt.«

»Um den Blick deiner strahlenden Augen nicht zu trüben, der ihm über alles Andere geht. Darum schweige auch ich. Dein Herz soll rein und unbefangen bleiben. Den Ustad kenne ich, doch den Effendi nicht. Was ist er für ein Mann? Welcher ist der klügere von beiden?«

»Kein Mann ist klug. Man hat sie alle zu erziehen. Ich habe da eine ganze Menge von Geheimnissen, die ich den meisten Menschen nicht sage, denn ich denke, daß sie es verraten. Zu dir aber habe ich Vertrauen. Darum will ich dir eines davon mitteilen: Der Ustad ist mir lieber als der Effendi.«

»Aus welchem Grunde?«

»Weil der Effendi mich fortjagen will.«

»Warum?«

»Wenn ich es Jemandem verrate, daß er mit meinem Aschyk sprechen wird.«

»Oh Allah, welche Dummheit sondergleichen! Und so ein Weib will Männer erziehen und –«

Wieder brach er mitten im Satze ab, um sie nicht zu beleidigen. Dieser Mann verstand es nicht, sein Temperament zu beherrschen. Oder nahm er sich nur deshalb nicht besser in acht, weil er wußte, es mit einer »leeren Null« zu tun zu haben ? Wie freundlich und gelassen klang es dagegen, als er fortfuhr:

»Fühlst du denn nicht, daß dieser Effendi dafür nicht zu tadeln, sondern zu loben ist? Ich weiß, daß du einen scharfen Verstand besitzest. Du wirst also einsehen, daß er nur in der besten Absicht Verschwiegenheit gefordert haben kann. Auch ich bitte dich, nichts zu verraten. Er konnte dir nur drohen, dich fortzujagen; ich aber weiß, daß es dein sicherer Tod ist, wenn du plauderst. Die Feinde deines Aschyk sind erbarmungslos, besonders gegen dich. Darum hüte dich, und schweig! Ich habe von diesem Effendi schon oft gehört, werde ihn aber heut zum erstenmale sehen. Ist er gutmütig?«

»Sehr!«

»Scharfsinnig?«

»Ganz und gar nicht! Er glaubt Alles, was man sagt!«

»Kennt er die hiesigen Verhältnisse?«

»Nein. Da ist mein Tifl hundertmal gescheiter!«

»Wie steht es mit seiner Religion?«

»Der hat gar keine. Es gibt hier gewiß Niemand, der ihn schon einmal beten sah.«

»Ist er ein schöner Mann?«

Sie schwieg, wahrscheinlich um über diese Frage nachzudenken. Der sie aussprach, war ganz gewiß kein schlechter Menschenkenner, und die Köchin ahnte nicht, was er mit dieser höchst überflüssig erscheinenden Erkundigung eigentlich bezweckte. Dann antwortete sie:

»Er ist nicht schön und auch nicht häßlich. Er hat ein ganz gewöhnliches Gesicht. Ich glaube, wenn er kein Fremder wäre, würde man ihn gar nicht beachten.«

»Maschallah! Das klingt nicht gut! Mir wäre es lieber, du hättest ihn schön genannt. Doch antworte mir weiter: Hat er Eigentümlichkeiten? In der Stimme, in der Sprache, in der Haltung, im Gange oder sonst irgendwie?«

»Nein, gar nicht. Er ist ein Mann wie alle andern Männer. Du brauchst dich ganz und gar nicht vor ihm zu fürchten. Er ist nicht halb so vornehm wie du!«

»Woher weißt du das?«

»Ich sehe es dir an. Du brauchst nur andere Kleider anzulegen, so ist der Pascha fertig!«

»Meinst du, meine liebe Pekala?«

Das klang geschmeichelt. Der Mann war also eitel! Das bestätigte sich durch seine folgenden Worte:

»Ich muß jetzt fort und sage dir, daß du mir gefallen hast. Ich möchte dir das durch ein Geschenk beweisen, welches ich dir durch deinen Aschyk sende. Ich weiß, du liebst den Schmuck und schöne Kleider, die du einstweilen in den Ruinen aufbewahrst, bis bessere Tage kommen. Wünsche dir Etwas?«

»Sehr gern! Aber was?« fragte sie da schnell.

»Was du willst!«

»Ja, bist du arm oder reich?«

»Wünsche nur! Dann sage ich dir, ob du es bekommst oder nicht!«

Das klang wieder so kalt, so gebieterisch, als ob er sie nicht soeben seine »liebe Pekala« genannt hätte. Dieser Mann wurde mir immer interessanter.

»Schicke mir eine goldene Naddara!« bat sie in ihrem süßesten Diskante.

»Eine Naddara? Wozu?« fragte er erstaunt.

»Es sieht so vornehm aus und so gelehrt. Ich sah in Isphahan sehr oft eine Madama aus Rußland. Die hatte stets zwei Gläser vor den Augen, wenn sie aus der Sänfte stieg. Das war so stolz. Man konnte sie für die Kaiserin von Rußland halten. Darum will ich auch eine Naddara. Aber von Gold muß sie sein, sonst nicht!«

»Weib, du bist verrückt! Es wohnt ein böser und dabei ungeheuer lächerlicher Geist in dir, den ich zerdrücken werde, sobald –«

Er wurde in diesem Ausbruche des Zornes, der zugleich verächtlich klang, unterbrochen. Tifl kam und meldete:

»Der Scheik ul Islam sendet mich. Er läßt dich bitten, zu kommen. Ich führe dich.«

»Sogleich!« gab der Andere streng zurück. Und ebenso streng oder noch strenger klang es weiter: »Du sollst die Naddara haben, Pekala, und zwar eine so scharfe, daß dir die Augen übergehen! Der Effendi hat Recht gehabt mit der Verschwiegenheit. Auch ich fordere sie von dir, von Euch. Für den Verrat gibt es weiter nichts als nur den Tod. Das merke, Tifl, du auch dir! Und nun führe mich zu meinen Leu – zum Scheik ul Islam, doch ohne daß man merkt, wo ich jetzt war!«

Er ging mit Tifl fort. Dann hörte ich, daß auch Pekala sich entfernte. Wer er war, das wußte ich nun. Er hatte es selbst verraten, und zwar durch das nur halb ausgesprochene Wort: »Führe mich zu meinen Leu –.« Leuten hatte es heißen sollen. Er war der Scheik ul Islam selbst, und der Andere, der nach ihm geschickt hatte, sollte diese Rolle mimen.

Ich wartete nur ganz kurze Zeit, dann verließ ich meinen Platz, schob mich zwischen den Tamarisken wieder hinaus, und als ich sah, daß Niemand hier war, ging ich nach dem Garten und durch diesen auf den Hof. Da standen die Pferde der Perser, die Diener dabei. Auf den Stufen lehnte Tifl an einer der Säulen; an einer andern der kurdisch gekleidete Reiter des Hellbraunen mit den weißen Vorderstiefeln. Beide sprachen miteinander und sahen nicht, woher ich kam. Ich grüßte die Reiterknechte freundlich und blieb bei den Pferden stehen, um sie zu betrachten. Ich wünschte aber nicht, für einen Kenner gehalten zu werden, und verhielt mich also dementsprechend. Da sah mich Tifl und machte den Kurden auf mich aufmerksam. Dieser schaute zu mir her und betrachtete mich scharf.

Er war von hoher, schön gebauter Gestalt. Sein lang herabwallender, grauer Vollbart war sehr, sehr dünn, als ob die Natur nicht genug guten Willen vorgefunden habe, das auszuführen, was sie wollte. Er sah, daß ich bei den minderwertigen Pferden länger verweilte, als bei den guten und an dem Stiefelbraunen so gleichgültig vorüberging, als ob er ein ganz gewöhnlicher Gaul sei. Da machte er eine Bemerkung gegen Tifl, die jedenfalls keine hochachtungsvolle war, denn er warf dabei den Kopf verächtlich nach hinten auf die Seite. Auch die Diener lächelten über mich, wenn auch nicht so auffallend, daß ich es hätte bemerken müssen, wenn ich nicht besonders aufgepaßt hätte. Mir war das recht. Je weniger man uns zutraute, umsomehr hatte man dann zu bereuen.

Als ich nun langsam auf die Stufen zuschritt, stand Kara Ben Halef auf, der oben auf dem Dache der Halle gesessen hatte. Er rief mir seinen Morgengruß herab.

»Komm herunter, Kara!« forderte ich ihn auf. »Ich höre, daß der Scheik ul Islam gekommen ist. Auch du sollst ihn begrüßen.«

Ich sagte das so laut, daß man es in der Halle hören mußte. Meine Absicht war, der Pedehr möge kommen. Sie wurde erreicht. Er erschien sogleich, kam sämtliche Stufen zu mir herunter und meldete mir den Besuch in ganz der Weise, als ob ich nichts davon gewußt habe.

»Du kennst den Scheik ul Islam also nicht persönlich?« fragte ich ihn halblaut, und wendete mich dabei so ab, daß Tifl und der Kurde meine Worte nicht verstehen konnten.

»Nein,« antwortete er.

»Welcher Dschamiki hat ihn schon gesehen?«

»Ich weiß keinen. Der Scheik ul Islam war früher in Feraghan und wurde erst vor noch nicht einem Jahre in die Nähe seines Stammes versetzt. Nur der Ustad kennt ihn genau. Er ist nicht so bescheiden, wie ich dachte, aber höflich. Daß der Ustad verreist ist, hat er erst in unserem Grenzduar erfahren.«

Während er das sagte, deutete er mit der Hand nach dem Tempelberge hinüber, um glauben zu machen, wir redeten von etwas vollständig Unverfänglichem.

»Wer ist der Kurde, welcher bei Tifl steht?« erkundigte ich mich noch.

»Der Katib des Scheik ul Islam. Er hat bei ihm an seiner Seite zu sitzen, doch blieb sein Platz bisher leer.«

»So komm!«

Wir gingen die Stufen hinauf. Da kreuzte der Katib die Arme und verbeugte sich höflich lächelnd vor mir. »Der Morgen sei dir gesegnet!« grüßte ich, indem ich ihm freundlich zunickte.

»Und dir der ganze Tag!« antwortete er.

Ah, diese Stimme! Und dieses uvulare Schnarren! Er war es, der mit Pekala gesprochen hatte, also der Scheik ul Islam! Er kam gleich hinter uns her und begab sich nach seinem Platze. Die Perser standen auf, als ich erschien, verbeugten sich sehr höflich und blieben hierauf stehen, um meine Anrede zu erwarten. Ich ging bis auf die von der Sitte vorgeschriebene Entfernung auf sie zu, breitete die Arme aus, verbeugte mich, verschlang sie auf der Brust, verbeugte mich wieder, breitete sie mit einer dritten Verbeugung abermals aus, ließ sie hierauf sinken und erhob nur die rechte Hand, um eine verbindliche Geste zu machen und dabei zu sagen:

»Der Mensch kennt nie das Glück des nächsten Tages. Allah allein weiß, was er senden will. Ist er es, der uns mit euch überrascht, so habe ich ihm zuerst und dann auch euch zu danken. Vor dem Scheik ul Islam gibt es nie verschlossene Türen, denn Allah will, daß sein Priester überall nur Freude bringe. Setzt Euch, und weilt, so lange es Euch beliebt!«

Sie verbeugten sich, wie eingeübte Statisten, und der Träger des Riesenturbans sprach:

»Der Scheik ul Islam bin ich, Effendi. Du sollst erfahren, wer meine Begleiter sind.«

Indem er auf jeden Einzelnen deutete, sagte er Namen und Stand desselben. Die geistlichen Herren nannte er vorerst, die Offiziere hinter ihnen. Es war ein Ahalyj-y-Dschennet, ein Wehlijullah, ein Imam-y-Dschuma, ein Särtib-y-Aewwäl, ein Särtib-y-Duwwum, und zuletzt kam noch der Schreiber! Man sieht, der Glanz war da. Ich verbeugte mich vor Jedem, wie auch er sich vor mir; dann setzten wir uns nieder. Die hohen Herren bildeten eine Linie. Nur der Schreiber saß ein wenig zurück, neben dem Scheik ul Islam. Er raunte ihm sehr häufig zu, was er sagen solle. Zwar suchte er die Bewegung seiner Lippen unter dem Barte zu verbergen, doch war dieser so dünn, daß ich sie doch bemerkte. Ich saß grad vor ihnen, rechts von mir der Pedehr, links der Chodj und etwas zurück Kara Ben Halef. Die ersten beiden hatten sich den Persern schon vorgestellt. Kara konnte ich gelegentlich nennen.

Ich schwieg, denn ich hatte meine Pflicht getan, und nun erforderte es die Höflichkeit, den hohen Gast beginnen zu lassen. Er ließ auch gar nicht auf sich warten.

»Ich bin gekommen, mit dem Ustad der Dschamikun zu sprechen,« sagte er. »Mein Wohlwollen leuchtet über ihm. Da hörte ich, er sei verreist und ein Effendi aus dem Abendlande vertrete seine Stelle. Ich kenne weder dich noch deine hohen Würden und Titel und möchte doch nicht, daß ich dir etwas vorenthalte. Darum verzeihe mir, wenn ich vor allen Dingen einige Fragen ausspreche. Welchen geistlichen Rang bekleidest du daheim in deinem Lande?«

»Keinen,« antwortete ich.

»Welche hohe militärische Charge führest du?«

»Keine.«

»So nenne deinen Rang bei der Regierung deines Volkes!«

»Ich habe keinen.«

»Aber was bist du sonst? Was hast du dann?«

»Ich bin nur ich und habe nur mich, sonst weiter nichts.«

Die Absicht, in welcher er seine Erkundigungen ausgesprochen hatte, war leicht zu durchschauen. Ich sollte mich ihm gegenüber so klein wie möglich fühlen! Direkte Unhöflichkeiten aber sucht der gebildete Perser so viel wie möglich zu vermeiden. Darum warf er mir zwar einen sehr deutlich mitleidigen Blick herüber, fuhr aber in gütigem Tone fort:

»Du hättest verschweigen können, daß du so gar nichts bist. Ja, du hättest dir hohe Ehren beilegen können, ohne daß wir an Lüge denken durften. Du bist aber wahr und offen gewesen, und das hat dir bei uns diejenige Achtung gewonnen, die Jedem gebührt, der sich zu lügen scheut. Unsere Würden sind unveräußerlich. Indem wir zu dir niedersteigen, nehmen wir sie mit herab zu dir und ehren dich durch sie. Aber wir möchten doch gern wissen, wie weit die Vollmacht reicht, welche der Ustad dir erteilte.«

»Diese Vollmacht ist die volle Macht. Es ist genau, als ob er selbst vor Euch säße.«

»Du kannst über Alles entscheiden, wenn es dir beliebt?«

»Ja.«

»Und er wird es bestätigen?«

»Unbedingt.«

»So freut es mich, dir mitteilen zu können, welch ein großes, reiches Geschenk ich Euch heut mitbringe. Schon als ich noch in Feraghan war, hörte ich von den Dschamikun sprechen und lernte ihren Ustad am Hofe des Schah-in-Schah kennen. Seit ich mich nun in Chorremabad befinde, habe ich Euch unausgesetzt beobachtet. Ihr strebt nach hohen Zielen. Ihr wollt die Menschen nicht erst dort, sondern auch schon hier glücklich sehen. Und Ihr greift zum besten Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Ihr hebt das Volk empor durch guten Unterricht und haltet in jeder Beziehung, auch im Glauben, mit allen Menschen Frieden. Wenn jeder Stamm das täte, so wie Ihr, dann würde es wohl bald den längst ersehnten achten Himmel geben, den Himmel Allahs hier auf dieser Erde! In andern Ländern wird ein solches Bestreben, wie das Eurige ist, verfolgt. Wer Anteil nimmt, muß der Feindschaft unterliegen. Die Priesterschaft verdammt jeden Andersgläubigen und will nichts vom religiösen Frieden wissen. Und wer hoch steht, der haßt die Aufklärung des Volkes, weil sich nur Dumme dumm regieren lassen. Bei uns in Persien aber ist das anders. Wir wissen, daß es nicht nur einen Himmel gibt, und wollen alles Volk durch Schulen und Moscheen zur Ueberzeugung bringen, daß Jedermann des Andern Bruder ist. Bei uns gibt es also keine Verfolgung, sondern Unterstützung. Wir hassen nicht; wir lieben. Hältst du das für richtig? Oder nicht?«

»Ich stimme vollständig bei,« antwortete ich.

»Das habe ich erwartet! Es beweist mir, daß du würdig bist, den Ustad zu vertreten. Ich sagte, daß ich nicht verfolge, sondern unterstütze. Ich weiß, was er von seinen Widersachern erduldet hat. Sie taten Alles, um ihn zu vernichten. Ich aber komme, um ihn zu erheben. Ich will diesen Feinden zeigen, wer der Mann ist, den sie einst von sich stießen. Er soll ein Arbeitsfeld bekommen, welches seiner würdiger ist, als dieses kleine, rings von Gegnern eingeschlossene Gebiet der Dschamikun. Ich will ihm viele Tausende zu Untertanen machen, die er auf seinen Wegen zu seinen Zielen führt. Ich bringe ihm Gewalt und hohe Ehre, viel größer noch, als er sich jemals träumen lassen konnte. Sein Ruhm, sein Glück liegt hier in meiner Hand. Soll ich sie wieder an mich ziehen, ohne daß du nach ihr greifst, Effendi?«

Er hatte mir die Hand mit einer unendlich herablassenden Gebärde entgegengestreckt. Ich ließ ein sehr dankbares Lächeln sehen und antwortete:

»Warum sollte ich eine so gütige Hand von mir stoßen? Aber du sagtest mir noch nicht, welche Gabe es ist, die du für den Ustad bringst.«

»So bist du also bereit, sie anzunehmen? Wohlan, so sollst du es erfahren. Weißt du, daß ich ein Sohn der frommen Takikurden bin, die unverrückt auf Allahs Pfaden wandeln?«

»Ja.«

»Und weißt du auch, daß dieser Stamm die schönsten Berge, die fettesten Weideplätze unsers Landes besitzt? Daß dieser ihr Besitz von allerhöchstem Werte ist, weil er die größte strategische Bedeutung hat?«

»Auch das weiß ich.«

»Nun, dieses reiche Gebiet mit Allem, was darauf wohnt und lebt, soll von heute an in die Hand des Ustad übergehen.«

»In welcher Form?«

»Er soll der Ustad nicht nur der Dschamikun, sondern auch der Takikurden sein!«

Er sagte das langsam und mit ganz besonderer Betonung. Seine Begleiter ließen Ausrufe des Staunens und der Beteuerung hören, daß so ein Geschenk ein ganz außerordentliches sei. Er nickte ihnen wichtig zu und fuhr fort:

»Ja, noch mehr, noch mehr: Der Stamm der Takikurden soll mit dem Stamm der Dschamikun vereinigt werden, und zwar unter dem ganz vortrefflichen Namen der Taki-Dschamikun. Und diese Vereinigung soll sich in der Hand und unter der Aufsicht des Ustad vollziehen. Er wird der Gebieter dieses neuen Stammes sein, den dann an Macht und Einfluß ganz gewiß kein anderer erreichen dürfte. Was sagst du zu diesem meinem Anerbieten, Effendi?«

»Daß ich mich keinen Augenblick bedenke, es anzunehmen,« antwortete ich.

Ein gar so rasches Zugreifen hatte er denn doch wohl nicht erwartet. Er sah mich fragend an.

»Ich bin bereit, auf deinen Vorschlag einzugehen, und zwar sofort,« wiederholte ich.

»Wirklich, wirklich?« fragte er.

»Ja.«

Er schien mir nicht so recht trauen zu wollen; aber der »Schreiber« raunte ihm einen Befehl zu, und so sagte er:

»So ist der Zweck meines Besuches hier erfüllt! Aber wird der Ustad bestätigen, was du tust?«

»Ohne Zweifel.«

»Und sich an die Spitze des vereinten Stammes stellen?«

»Gewiß. Ich gebe dir mein Wort. Das gilt, als hätten er und ich geschworen.«

»So erhebe dich, und gib mir in seinem Namen deine Hand!«

Er stand auf, ich auch. Wir traten aufeinander zu und schüttelten uns die Hände. Er schien zu erwarten, daß ich mich nun in Versicherung unserer Dankbarkeit ergehen werde. Als ich das nicht tat, sagte er, indem sich nun auch seine Begleiter erhoben:

»Ein solches Abkommen muß mit Salz und Brot bekräftigt werden. Bis jetzt haben wir noch nichts genossen. Willst du uns als deine Gäste betrachten, Effendi?«

»Wenn du es wünschest, unverweilt. Ich weiß, was Salz und Brot bedeuten. Wer dann zurücktritt, ist ein Schurke. Ueberlege also wohl, ob ich dies Beides kommen lassen soll!«

»Schicke nur! Ich weiß genau, was ich tue!«

»So nehmen wir jetzt Salz und Brot, und dann erweist Ihr mir die Ehre, die Ghada bei uns einzunehmen!«

»Gern! Und inzwischen reiten wir einmal hinüber nach Eurer Moschee, von welcher aus man eine wunderbare Aussicht haben soll. Ich hörte, daß du krank gewesen seist. Wirst du uns begleiten können?«

Es wäre ihm allerdings lieber gewesen, eine solche Begleitung nicht zu haben, doch antwortete ich:

»Bis dort hinüber werde ich es im langsamen Schritte wagen können, weiter aber nicht. Dieser junge Mann wird mir satteln. Es ist Kara Ben Halef, der Sohn des Scheikes der Haddedihn vom Stamme der Schammar.«

Kara verbeugte sich vor ihm, um dann zu den Pferden zu gehen. Ich rief ihm noch nach, für sich den Ghalib und für den Chodj-y-Dschuna den Bark zu nehmen. Die Gäste waren mit dem ungeahnt schnellen und skrupellosen Ausgange ihres Anliegens überaus einverstanden. Sie wollten sich das freilich nicht merken lassen, doch war es ihnen deutlich anzusehen. Um so ernster war das Gesicht des Pedehr. Er begriff mich nicht. Darum warf ich ihm unbemerkt die Worte zu:

»Nur keine Sorge! Es steht Alles gut. Sie haben nicht mich, sondern ich habe sie gefangen. Schnell Salz und Brot! Dann reitest du mit.«

»Auf welchem Pferde? Die Sahm hat mir der Ustad einstweilen entzogen. Und ein gewöhnliches Pferd kann ich als Scheik doch wohl nicht nehmen.«

»So bleibe hier, und besorge das Essen!«

Nach Kurzem brachte Tifl auf einer Platte ein Häufchen Salz und kleingeschnittenes persisches Brot. Wir traten zusammen. Jeder nahm eines der Stückchen und tauchte es in Salz. Der Mann mit dem großen Turban sprach:

»Das Brot, welches wir essen, wird zum Leibe. Das Wort, welches man uns gibt, wird zur Seele. Es ist nie wieder von uns zu trennen!«

Hierauf aßen wir jeder seinen Bissen und drückten uns abermals gegenseitig die Hände. Das Uebereinkommen war abgeschlossen und besiegelt. Bald hierauf brachten Kara und der Chodj die Pferde. Wir stiegen auf und ritten den Berg hinab. Ich bemerkte, daß ich heut kräftiger war als bei dem ersten Ritte, doch gab ich mir nicht die geringste Mühe, als guter Reiter zu erscheinen.

Die Herren glaubten, erreicht zu haben, was sie hatten erreichen wollen. Darum hielten sie es nicht für nötig, ihre Rücksicht auf mich so weit zu treiben, daß sie im Trauertempo mit mir ritten. Sie wollten vielmehr zeigen, was für Pferde sie besaßen, und jagten durch den Duar und dann die jenseitige Höhe hinauf. Mir war das eben recht. Ich winkte Kara und den Chodj, ihnen nachzueilen und trottelte allein und langsam hinterher. Ich hatte wohl kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, als ich den Hufschlag eines galoppierenden Pferdes hinter mir hörte. Mich umschauend, sah ich, daß es Tifl war. Er ritt die ungesattelte Sahm und jagte an mir vorüber, ohne anzuhalten und zu fragen, ob es ihm erlaubt sei, mit bei den Gästen zu sein. Er hätte das gewiß nicht gewagt, wenn er nicht von irgend Jemand aufgefordert worden wäre, unbedingt mit nach dem Beit-y-Chodeh zu kommen. An mir vorbeigeritten war er, weil er befürchtet hatte, von mir zurückgeschickt zu werden. Eigentlich war es richtig, dies nachträglich zu tun, und zwar vor aller Augen; aber es lag ja in meiner Absicht, nicht für scharfsinnig und energisch zu gelten, und so hielt ich es für geraten, zu schweigen.

Als ich oben ankam, stand der »Schreiber« mit Tifl an einer der Vordersäulen des Tempels. Der Letztere schien dem Ersteren die Gegend zu erklären; sie schenkten mir keine Beachtung. Sonst sah ich von den Gästen keinen. Kara und der Chodj standen bei den Pferden. Ich ritt zu ihnen hin und fragte, wo die andern Perser seien. Der Chodj antwortete:

»Der Heilige, der Selige und der Hauptpriester kriechen in den Rosen herum. Die beiden Generale fragten, ob es weiter oben eine schöne, freiere Aussicht gebe. Ich wies sie nach der großen Hochwaldlichtung; sie sind dorthin.«

Er deutete nach dem Waldwege, auf dem ich am Tage des Festes von Tifl zum Essen geführt worden war.

»Gibt es noch andere Wege nach dieser Lichtung?« erkundigte ich mich.

»Ja. Es sind aber Umwege. Den besten sieht man von hier aus nicht. Man muß über diesen ganzen Platz hinüber und um die Buchenecke gehen. Dann führt er grad hinauf und unter den Tannen am obern Rande des freien Platzes hin.«

»Kann man ihn reiten?«

»Er ist breit genug. Willst du etwa jetzt dort hinauf?«

»Ja. Doch Niemand darf es wissen. Ich muß sehen, was die Offiziere dort machen. Uebrigens dürft Ihr ja nicht glauben, daß sie wirklich Generale seien. Man hat gemeint, den Mund so voll wie möglich nehmen zu müssen. Wenn man Euch fragt, wohin ich geritten bin, so gebt irgend eine Auskunft, die wahrscheinlich klingt; verratet aber ja das Richtige nicht.«

Ich ritt über den Tempelplatz hinüber und bog um die erwähnten Buchen. Dort öffnete sich der mir beschriebene Weg. Man konnte mich vom Tempel aus nicht mehr sehen. Nun trieb ich Assil zu größerer Schnelligkeit an. Ich kam durch hohe Tannen. Nach einiger Zeit wurde es rechts von ihnen licht. Da lag die Waldesblöße. Sie war ziemlich steil. Ich konnte zwischen den Bäumen hindurch die Offiziere sehen. Sie saßen ganz oben am Rande und schienen zu schreiben oder zu zeichnen. Ich war ihnen unsichtbar, weil ich mich unter den Tannen befand. Auch der übrige Teil meines Weges lag so, daß ich nicht zu befürchten brauchte, bemerkt zu werden. Oben angekommen, bog ich nach rechts. Als ich ihnen auf ungefähr siebzig Schritte nahe gekommen war, stieg ich ab. Ich legte dem Hengste die Hand auf die Nüstern und sagte nur das eine Wörtchen »uskut – still!« Nun konnte ich überzeugt sein, daß er sich nicht bewegen, nicht das geringste Geräusch verursachen werde.

Hierauf ging ich weiter. Der weiche Waldesboden machte meine Schritte unhörbar. Als ich anhielt, stand ich nur fünf Meter hinter den beiden Persern. Sie zeichneten; das sah und hörte ich. Und zwar die topographische Lage der sich von hier aus herrlich ausbreitenden Gegend. Dabei sprachen sie miteinander. Sie hielten sich für vollständig allein und taten es also nicht leise. Ich hörte jedes Wort.

»Dieser Effendi ist der unvorsichtigste Europäer, den ich jemals sah,« sagte der angebliche Divisioner. »Er benahm sich geradezu dumm!«

»Dafür machte der Kasi seine Sache um so besser,« bemerkte der Brigadier. »Sein Lob war fest wie Leim; der eitle Mensch blieb daran hängen. Wie blind, daß man uns hier heraufläßt, um die Pässe und Wege zu zeichnen und die ganze Lage des Duar aufzunehmen! Wir hätten nie erfahren, wie leicht er zu umfassen ist, wenn wir es nicht mit eigenen Augen sähen. Nur erst den Ustad von hier fort und hinüber zu den Taki! Dann sind zwei Tage genügend, den Duar wegzunehmen und das ganze Gebiet der Dschamikun einzuverleiben. Dann ist es mit dieser gefährlichsten Art des Christentumes für immer bei uns aus. Allah verdamme es!«

»Jawohl, zwei Tage genügen,« stimmte der Andere bei. »Die vereinigten Taki und Dinarum müssen ja gradezu erdrückend wirken. Sehr gut, sehr gut, daß ein Wettrennen hier stattfindet, an dem sich der Scheik ul Islam unbedingt zu beteiligen hat. Das gibt die vortrefflichste Gelegenheit, Vorbereitungen zu treffen, die uns sonst nicht möglich gewesen wären. Wir sparen Zeit dadurch und schlagen eher los.«

»So weit steht Alles gut. Was aber wird der Schah dazu sagen? Man weiß, daß er den Ustad schätzt und schützt.«

»Das überlaß dem Scheik ul Islam. Er sprach doch gestern von einem Vertrauten, der bei dem Ustad wohnen und alle seine Bücher, Schriften und Geheimnisse untersuchen wird. Dieser Mann soll der beste Muzabirdschi sein, den wir im Lande haben. Er stammt aus Isphahan, wo er vor langer Zeit einen Koch kennen lernte, dessen Tochter jetzt Köchin des Ustad ist. Er wurde in Teheran wegen schwerer und sehr pfiffiger Diebstähle zu mehreren Jahren Gefängnis bestraft, entfloh aber von dort und hielt sich lange Zeit hier in den Ruinen versteckt, wohin ihm die Köchin das Essen heimlich brachte. Wie er da von unserer Seite entdeckt wurde, das habe ich nicht erfahren, aber der Scheik ul Islam nahm sich seiner an und will ihm unter gewissen Bedingungen dazu verhelfen, von seiner Strafe frei zu werden. Welche Bedingungen das sind, geht uns nichts an; ich kann sie mir aber denken. – Nun bin ich fertig mit meiner Zeichnung.«

»Ich fast auch.«

»So beeile dich, damit man nicht auf unsere Abwesenheit aufmerksam wird und Verdacht schöpft.«

Als ich das hörte, zog ich mich schnell zurück. Assil stand noch genau so, wie ich ihn verlassen hatte. Ich stieg auf und ritt denselben Weg hinunter, den ich heraufgekommen war. Hinter den Buchen schlug ich dann noch einen Bogen nach auswärts, so daß es, als man mich kommen sah, den Anschein hatte, als sei ich abwärts, aber nicht aufwärts geritten gewesen. Der Chodj und Kara befanden sich noch an derselben Stelle. Die Perser waren jetzt beisammen. Sie standen im Innern des Tempels, Tifl bei ihnen. Ich stieg am Beit-y-Chodeh ab und ging zu ihnen hinauf. Als ich kam, wendeten sie sich mir zu, und der angebliche Scheik ul Islam fragte, indem er nach den Ruinen hinüberdeutete:

»Weißt du vielleicht, Effendi, was das für ein altes, sonderbares Bauwerk ist, da drüben?«

»Das wollte ich soeben dich fragen,« antwortete ich. »Du weißt ja, daß ich weder Priester oder Offizier, noch Beamter oder sonst Etwas von Bedeutung bin. Wie kann ich also, noch dazu als Europäer, hierüber besser Auskunft geben als du, der als ein Licht des Glaubens hoch über allem Wissen und aller Kenntnis steht!«

Er warf einen lächelnden Blick auf den »Schreiber«, nickte mir wohlwollend zu und sprach:

»Du hast Recht. Für die von Allah Erleuchteten liegt alles klar und offen da, was selbst das scharfe Auge der Wissenschaft niemals erkennen wird. Dieses Bauwerk war der Abgötterei gewidmet, dem Götzendienste, der uranfänglich nur Bilder verehrte, doch zuletzt sogar auch Idole anbetete, welche Menschen gewesen waren. Indem du da hinüberschaust, wirst du an alle Religionen erinnert, nur allein an unsern Islam nicht. Wie kommt das wohl? Weil der Islam die einzige Religion ist, welche Gottes Befehl erfüllt, daß wir uns kein Bild noch irgend ein Gleichnis machen sollen. Oder hast du jemals eine Moschee gesehen, in welcher das Bildnis eines Menschen hängt, um verehrt zu werden?«

»Nein,« antwortete ich im Tone kindlichster Unbefangenheit. »Das habt Ihr doch nicht nötig. Denn eure „Heiligen“ und „Seligen“ werden nicht erst nach dem Tode, sondern schon hier im Leben derart vor andern Menschen ausgezeichnet, daß sie auf spätere Anbetung recht wohl verzichten können.«

Bei diesen Worten machte ich dem Heiligen und auch dem Seligen eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung. Sie bedankten sich mit gütigem Kopfnicken. Der Mann mit dem großen Turbane aber sah mich mit einem zweifelhaft prüfenden Blicke an, ob nicht vielleicht hinter dieser meiner Unbefangenheit etwas Anderes stecke. Wahrscheinlich konnte er in meinem Gesicht nichts Verräterisches entdecken, denn er fuhr fort:

»Wir haben gehört, daß der Ustad beabsichtigt, mit diesem alten Bauwerke aufzuräumen. Er will die Ueberreste aus jenen götzendienerischen Zeiten abtragen. Warum? Wozu will er dieses kolossale Material verwenden, welches er doch nicht einfach verschwinden lassen kann? Wir können uns mit einem solchen Vorhaben unmöglich befreunden. Bis heut schwiegen wir dazu. Nun wir aber den Bund mit dir und ihm geschlossen und besiegelt haben, steht uns das Recht zu, Einspruch zu erheben. Diese Bauten haben zu bleiben, wie sie sind! Sie sind ein Denkmal der Vergangenheit, an welchem nicht gerüttelt werden darf. Denn selbst der Wahn wird heilig, wenn er so lange besteht, daß er durch sein Alter zur Ehrfurcht mahnt. Also, ich warne dich, Effendi, und ich warne den Ustad! Ich habe als Scheik ul Islam die heilige Pflicht, selbst den Irrtum zu erhalten, weil wir nur durch ihn zur Wahrheit kommen. Ihr gehört von jetzt an zu den Takikurden, und was ich als Oberster der Taki will, das hat auch jeder Dschamiki zu wollen!«

Ah! Bisher das weiche Pfötchen; jetzt kam schon die Kralle! Etwas vorzeitig! Sein eigentliches Interesse an der Erhaltung der Ruinen konnte er mir natürlich nicht mitteilen! Glücklicherweise war ich einer Antwort überhoben, denn die beiden »Generale« kamen soeben, und es wurde beschlossen, wieder aufzubrechen. Ich bemerkte gar wohl das befriedigte Lächeln, mit welchem sie dem »Schreiber« heimlich kundtaten, daß ihnen ihr Vorhaben wohlgelungen sei.

Die Heimkehr geschah in derselben Weise, wie der Ritt zum Berge; man ließ mich zurück, und es fiel mir gar nicht ein, mich darüber zu kränken. Als ich heimkam, sah ich, daß man nicht einmal mit dem Essen auf mich gewartet hatte; es war bereits im vollsten Gange. Ich nahm aber in der freundlichsten Weise meinen Platz ein und langte zu. Es gab mir heimlich Spaß, daß sich die Herren schon ganz wie zu Hause fühlten. Der Beturbante tat, als ob er nur so zu befehlen habe. Der Pedehr war hierüber so ärgerlich, daß er fast gar nichts genoß. Nicht etwa, daß man es an Höflichkeit hätte mangeln lassen; o nein! Man schmeichelte uns sogar in jeder Weise; zuweilen so auffällig, daß es gar nicht schwer war, zu erröten. Der Leutseligste von allen war der »Schreiber«. Er sprach nicht viel; aber was er sagte, war stets ein Kompliment für uns, welches Dankbarkeit erheischte. Er war so einfach, so bescheiden, so unendlich wohlwollend. Und all diese Einfachheit, diese Bescheidenheit, dieses Wohlwollen schien er mit Hilfe seines stetig wiederholten Augenaufschlages vom Himmel herabzunehmen. Er brachte Alles so still, so geräuschlos fertig. Die Andern schmatzten als Orientalen überlaut beim Essen; er als der Einzige nicht. Was bei ihnen klapperte und klirrte, das ging bei ihm so leise, so unhörbar von statten, als ob sein ganzer Körper nur von Watte sei. Aber zuweilen, wenn er sich unbeachtet wähnte, schoß aus seinem Auge ein Blick hervor, welcher, im Bilde gesprochen, noch lauter schnarrte, als das Rrrrrr an seinem Gaumen!

Wir erfuhren während des Essens, daß die Perser von uns weg nicht etwa zurück nach Chorremabad, sondern hinüber zu den Takikurden wollten. Man war so unvorsichtig, hinzuzufügen, daß man dies auch getan hätte, wenn unser »Vertrag« nicht zu stande gekommen wäre! Hierbei kam die Rede auf die Pferdezucht der Taki, und da geschah es, daß der »Schreiber« sich zum ersten Male zu einem zusammenhängenden Gespräch mit mir animiert zeigte. Er ahnte nicht, daß er durch dieses sein Interesse für die Pferde verriet oder vielmehr bestätigte, wer er sei. Er sagte:

»Wir haben gehört, daß bei Euch ein großes Rennen stattfindet, Effendi. Wer darf sich daran beteiligen?«

»Jedermann,« antwortete ich.

»Welches sind die Bedingungen, die Preise?«

»Der Sieger gewinnt den Besiegten.«

Da leuchtete sein Auge auf und er fragte auffallend rasch:

»Auch Eure Haddedihnpferde?«

»Ja.«

»Darf man sich den Gegner wählen?«

»Nein. Jeder stellt, was ihm beliebt. Doch es darf kein Angebot abgewiesen werden. Die Ehre allein hat zu bestimmen. Es hat Niemand zu befürchten, daß ihm minderwertiges Material gegenübergestellt wird.«

»Darf ein Pferd nur einmal rennen?«

»Nein, sondern so oft es beliebt.«

»Das ist vortrefflich! Wir haben beschlossen, uns zu beteiligen. Ist es erlaubt?«

»Sehr gern!«

»Müssen wir sagen, mit wieviel und mit welchen Pferden?«

»Nein. Ihr bringt, so viele Ihr wollt.«

»Und Ihr dürft keines zurückweisen?«

»Nein.«

»Muß man vorher melden, wer sie reiten wird?«

»Auch nicht.«

»So setze ich den Fall, daß wir eines unserer Pferde von einem Dschamiki reiten lassen wollen. Würdet Ihr ihn daran hindern?«

»Ganz gewiß nicht. Wer so ehrlos ist, dies tun zu wollen, dem haben wir niemals mehr Etwas zu befehlen oder Etwas zu verbieten.«

»Seine Person bleibt also auf alle Fälle unangetastet?«

»So lange er sich nur als Renngegner, nicht auch sonst als Feind beträgt, ja.«

»Das ist es, was ich wissen wollte. Ich bin befriedigt. Wir betrachten uns also als angemeldet und werden sicher kommen.«

Er sah vor sich nieder, warf dann einen sehr freundlichen, beinahe zärtlichen Blick auf mich und fuhr fort:

»Eigentlich habe ich noch eine Frage. Sie betrifft deinen Glauben. Du bist Christ?«

»Ja. Du doch auch!«

Ich gab diese sonderbare Antwort, weil ich eine lange, unfruchtbare, religiöse Auseinandersetzung erwartete und die Sache so kurz wie möglich machen wollte. Die Zeit des Versteckenspielens war nämlich für mich vorüber. Ich wußte nun genug und hatte keinen Grund mehr, mich und meine Weltanschauung für geistig rückständig halten zu lassen. Er warf den Kopf wie erschrocken in die Höhe und rief aus:

»Ich? Ein Christ? Allah verhüte es! Wer hat dir diese größte aller Lügen weisgemacht?«

»Lüge, sagst du? Ist der Kuran ein Lügner?«

»Nein. Jedes seiner Worte, ist heilig und unsere Auslegungen sind ebenso heilig. Willst du etwa behaupten, das, was du sagst, aus diesen Quellen zu haben?«

»Ja.«

»So beweise es! Was aber kann ein Europäer, ein Christ vom Kuran und seine Auslegungen wissen!«

Er faltete mitleidig die Hände, schlug die Augen auf und holte sich einen Blick des himmlischen Erbarmens herab, den er mir ganz unverkürzt herüberschickte. Ich nahm ihn ruhig hin und fragte:

»Was steht dir höher, der Himmel oder die Erde?«

»Natürlich der Himmel,« antwortete er.

»Das Zeitliche oder das Ewige?«

»Das Ewige.«

»Ein Fürst und Richter über einige Millionen oder ein Fürst und Richter über Alles, was da lebte, lebt und auch noch leben wird?«

»Dieser Letztere.«

»Du verehrst Mohammed. Du glaubst an seine Lehre und richtest hier auf Erden nach den Worten, die er Euch hinterließ. Er ist also der Gesetzgeber aller Mohammedaner. Was aber wird er einst in jenem Himmel sein?«

»Der herrlichste von Allen, die Propheten waren.«

»Hast du von der Moschee der Omajjaden in Damaskus gehört?«

»Ja. Sie ist die prächtigste und hochberühmt, des jüngsten Gerichtes wegen. Denn Isa Ben Marryam wird sich an diesem Tage auf einen ihrer Türme niederlassen, um Alle zu richten, die da sind und waren, die Lebenden und die Toten. Wozu aber diese Fragen, die mir ganz zwecklos und überflüssig erscheinen ?«

»Wie du so fragen kannst, o Katib! Dein Herr, der Scheik ul Islam, welcher neben dir sitzt, wird scharfsinniger sein als du und dir sagen, daß du soeben zugegeben hast, ein Christ zu sein.«

»Ich?« fuhr er zornig auf. »Klüger als ich? Eff –«

Er hielt inne, denn er fühlte, daß er soeben ganz aus seiner untergeordneten Rolle gefallen sei. Sein Blick stieg himmelan, um sich die erforderliche Gemütsruhe herabzuholen, und als dies geschehen war, fuhr er fort:

»Ich verstehe dich nicht. Mach, daß ich dich begreife!«

»Du sagtest, daß Christus der himmlische Herr und Richter sei, der Spender der Seligkeit, dem aber auch die Verdammten zu gehorchen haben. Ich brauche dich gar nicht zu fragen, wer also höher stehe, er oder Mohammed, sondern ich bestätige nur, was du sagtest:

Christus richtet einst Alle, auch die Moslemin. Er ist also Euer höchster Herr, und folglich seid Ihr Christen, so wie wir!«

Er war still. Die Andern auch. Tiefste Verlegenheit in allen ihren Gesichtern.

»Wer von Euch wagt es, mir zu widersprechen?« fragte ich. »Wer von Euch glaubt, in dem Kuran und seinen Auslegungen besser bewandert zu sein als ich, der Christ, der Europäer? Er widerspreche mir, und ich werde ihm mit den Worten des Kurans und seiner Erklärungen antworten!«

Da versuchte der Schreiber eine Ausrede:

»Du bist uns gleich zu hoch gestiegen, Effendi. Man hat von unten zu beginnen. Du aber fängst gleich im Himmel an, beim großen Weltgericht!«

»Wer noch nichts weiß, der mag von unten beginnen. Wir Christen aber sind im Himmel wohlbewandert, denn dort ist unser Vaterhaus, wo Isa Ben Marryam unser wartet. Es gibt keine einzige Religion, über welcher nicht Jener steht, der nach Eurer eigenen Ansicht Tod oder Leben, Verdammnis oder Seligkeit verteilt, und also sind die Menschen alle Christen. Sträubt Euch, so viel Ihr wollt, über diesen Punkt kommt Ihr doch nicht weg! Gebt Eurer Religion den Namen, der Euch beliebt; hoch über allen diesen Namen steht doch der, nach welchem wir uns Christen nennen! Willst du noch mehr Auskunft über meinen Glauben, o Katib ? Ich gebe sie dir sehr gern!«

»Nicht mehr Religion, nichts weiter vom Glauben!« fiel da der angebliche Scheik ul Islam schnell ein, um seinen »Schreiber« aus der sichtlich sehr großen Verlegenheit zu reißen. »Wir befinden uns hier bei den Dschamikun, aber noch nicht im Himmel. Wir sind auf der Erde, und da muß ich dich bitten, Effendi, anzuerkennen, was hier im Lande gilt, nämlich die Oberhoheit Mohammeds!«

Er glaubte, einen Trumpf ausgespielt zu haben; ich aber antwortete:

»Ja, wir sitzen hier bei den Dschamikun und haben uns nach dem zu richten, was hier im Lande gilt. Das ist aber nicht die Hoheit Mohammeds!«

»Doch!« fuhr er auf. »Ihr seid seit heute Taki-Dschamikun und habt also an Mohammed zu glauben! Das ist es ja, was wir erreichen wollten. Wir haben es mit Salz und Brot besiegelt und Ihr könnt nicht mehr zurück. Bei uns gilt das Wort: Ein Schurke, der nicht hält, was er bei Salz und Brot verspricht! Willst du ein Schurke sein?«

Da stand ich langsam auf, steckte die Hände gemächlich in den Gürtel und sprach:

»Was ist uns angetragen worden und was haben wir angenommen und besiegelt? Das ganze Gebiet der Takikurden solle heut in die Hand des Ustad übergehen! Er soll ihr Ustad sein, nichts Anderes! Du sagtest wörtlich: „Die Vereinigung der beiden Stämme soll sich in der Hand und unter der Aufsicht des Ustad vollziehen, und er wird der Gebieter dieses neuen Stammes sein!“ Das ist mit Salz und Brot besiegelt worden. Nun frage ich, wer wird jetzt Schurke sein?«

Keiner antwortete. Da sprach ich weiter:

»Es gibt also für die Taki-Dschamikun keinen andern Gebieter als den Ustad. Und da ich an seiner Stelle vor Euch stehe, so bin ich der Herr, dem man hier zu gehorchen hat, hier und drüben bei den Taki. Wo ist der Andere, der uns befehlen will, was wir zu glauben haben? Er stehe auf wie ich und stelle sich vor mich her! Ich möchte nämlich gern wissen, was für Augen so ein Schurke macht!«

Keiner regte sich. Sie sahen alle vor sich nieder. Aber die Augen des Pedehr funkelten, und der Chodj-y-Dschuna lächelte leise vor sich hin.

»Ihr schweigt,« fuhr ich fort. »So beantwortet wenigstens meine andern Fragen! In wessen Machtvollkommenheit kamt Ihr hierher, um uns dieses vermeintliche Geschenk zu machen? Sandte Euch der Landesherr, der Schah-in-Schah? Wurdet Ihr vom Stamm der Taki-Kurden geschickt, die sich nach unserm Ustad sehnen? Haben sie eine Dschemma abgehalten und beschlossen, daß er ihr Herr und Gebieter werden solle? Seid Ihr die Gesandtschaft, welche sie schicken, uns dies mitzuteilen? Wo ist die Unterschrift des Schah? Wo sind die Siegel der Aeltesten des Stammes? Habt Ihr es denn wirklich für möglich gehalten, daß es Euch gelingen werde, mit uns ein solches Kara göz ojunu aufzuführen? Muß ich es für Wahrheit halten, daß Ihr so töricht waret, über den Fortbestand der Ruinen uns Befehle erteilen zu können? Ich glaubte, es sei ein schlechter Scherz! Welch ein Wahnsinn, zu denken, daß wir auf leere Worte hin Euch sofort alles, was wir sind und was wir haben, gehorsam vor die Füße werfen, um dann im neuen Stamm so viel wie nichts zu sein! Ihr habt ja nichts, doch sage ich: Gebt mir das ganze Land, gebt mir die ganze Welt, so könnt Ihr die Ruinen, die Euch so sehr am Herzen liegen, doch nicht retten! Kommt ihre Zeit, so brechen sie zusammen, denn diese Zeit wird keinen Scheik ul Islam um Erlaubnis fragen!«

Da sprang der »Schreiber« schnell wie eine Spannfeder auf. Seine Augen waren jetzt ganz andere. Sie blitzten mir in plötzlich offenem Haß entgegen, und er rief aus, indem auch die Andern sich erhoben:

»Das, das ist also der wahre, der wirkliche Effendi, nicht der kranke, schwache, der sich so wunderbar zu verstellen wußte! Der Effendi, der nichts, gar nichts ist in seinem Lande und doch hier den Herrn und Pascha spielen will! Ich weiß nun genug von dir, du aber nichts von mir. So will ich dir denn sagen –«

»Daß du der große Scheik ul Islam bist, der zu uns kommt, nur um uns anzulügen!« fiel ich ihm in die Rede. »Ich weiß noch mehr von dir, doch mag schon das genügen. Wer sich für Allahs höchsten Auserwählten hält und heimlich sich als Inbegriff des ganzen Kuran betrachtet, der sollte dies doch offen und ehrlich zeigen und nicht in trügerischer Demut zur Niedrigkeit des Katib niedersinken!«

Da verschlang er die Arme auf der Brust, richtete sich hoch auf und fragte:

»Bist du fertig?«

»Mit dir? Ja!«

»Aber nicht ich mit dir! Denke an das Rennen! Das wird nun ein ganz anderes! Nehmt Euch in acht; wir kommen. Ich sage dir nur einen einzigen Namen: Ich bringe Euch das beste Pferd von Luristan und lasse alle Eure Mähren niederreiten! Und noch ein anderes habe ich. Was das für eines ist, das werdet Ihr zu Eurem Leid erfahren!«

Er wendete sich ab und schritt in stolzer Haltung zur Halle hinaus. Die Andern folgten, ohne ein Wort zu sagen. Sie würdigten uns keines Blickes mehr. Bald ritten sie den Berg hinab, und der Pedehr sorgte dafür, daß sie, wenn auch nur von Weitem, bis zur Taki-Grenze begleitet wurden. Wir gingen zu ihm hinaus in den Hof. Er wendete sich zu mir.

»Das war ein Schlag über sämtliche Köpfe, Effendi!« sagte er. »Wer hätte das gedacht, nachdem du dir vorher Alles so ruhig gefallen ließest! Keiner konnte antworten! Nun reiten sie als offenbare Schurken fort! Das wird man überall erfahren, und Jeder, der auf Ehre hält, wird sich vor ihnen hüten! Aber die Rache nun, die Rache! Fürchtest du sie nicht?«

»Nein,« antwortete ich. »Sie wird ganz denselben Erfolg haben wie ihre heutige Pfiffigkeit – Hiebe über die Köpfe. Nur dürfen wir nicht so tun, wie du wolltest, nicht vorschnell handeln. Wir lauschen, bis wir wissen, was sie wollen. Dann aber warten wir nicht etwa, bis es ihnen beliebt, sondern wir machen es wie jetzt: Wir erheben uns ganz unerwartet von dem Sitze und schlagen derart los, daß sie sofort die Mäuler halten müssen. Der wahrhaft Kluge scheut sich nicht, für übertölpelt angesehen zu werden, weil er schweigt. Er ist nur still, die Feinde zu durchschauen. Doch kommt dann seine Zeit, so schont er selbst den Höchsten nicht, auch keinen Scheik ul Islam, um zu zeigen, wer eigentlich der Schuft, der Tölpel war!«

Eben als ich das sagte, kam Tifl aus dem Garten. Er saß auf der Sahm, die vollständig gesattelt war, und wollte zum Tore hinaus.

»Wohin?« fragte ich, indem ich mich ihm in den Weg stellte und nach dem Zügel griff.

»Ausreiten,« antwortete er. »Die Sahm auf das Wettrennen üben.«

»Du reitest sie nicht. Wozu also das Ueben! Steig ab!«

»Unser Ustad sagte es mir!« entgegnete er, indem er ruhig sitzen blieb.

»Der Ustad bin jetzt ich, und du steigst ab, sofort! Du wirst auf diesem Pferd nie wieder sitzen!«

»Warum?«

Der Mensch sah mich bei dieser Frage so an, als ob er entschlossen sei, mir Widerstand zu leisten. Es fiel mir natürlich nicht ein, mich selbst an ihm zu vergreifen. Ich drehte mich vielmehr zu dem Pedehr, dem Chodj und dem jungen Haddedihn um und forderte den Letztern auf:

»Kara, herab vom Pferd mit diesem Kerl!«

Ein fröhlicher Blitz ging über sein Gesicht. Ein schneller Sprung und Schwung, so saß er hinter Tifl auf der Stute, und im nächsten Augenblicke flog der Lahme herunter auf die Erde.

»Effendi, warum das?« fragte der Pedehr erstaunt. »Unser „Kind“ hat doch die Erlaubnis, jederzeit zu –«

»Warte!« unterbrach ich ihn. Dann wendete ich mich an Tifl, der sich vom Boden aufrichtete und nun ganz verlegen dreinschaute: »Warum hängen an der Sahm die Satteltaschen? Warum trägst du nicht bloß die Mütze, sondern auch das Turbantuch darüber? Warum hast du Schuhe an und auch den Mantel über deiner Jacke? Reitet man so aus, um zu üben?«

Er gab keine Antwort, doch verwandelte sich die Verlegenheit seines Gesichtes in den Ausdruck des Trotzes.

»Wo wolltest du hin?« fragte ich weiter. »Glaubtest du wirklich, nicht durchschaut zu sein und mir die Sahm entführen zu können, du undankbarer Bube? Vergiltst du so die Wohltat mit Heimtücke und Verrat? Du willst den Persern nach, mit ihnen zu den Taki-Kurden hinüber! Du sollst beim Rennen gegen uns und für den Scheik ul Islam reiten! Ich hindere dich nicht; ihr paßt ja gut zusammen. Ich spreche dich von unserm Stamme los und überlasse dich den Feinden drüben. Du magst getrost zum Rennen kommen; es wird dir nichts geschehen. Doch nach demselben trolle dich sofort! Verräter dulden wir in unserm Bereiche nicht!«

Er machte nicht den geringsten Versuch, mich zu widerlegen. Da rief der Pedehr aus:

»Ist das die Möglichkeit? Für solche Wohltat so verfluchter Lohn! Effendi, dieser Mensch sollte gepeitscht werden!«

»Nein! Ich will ihm sogar seinen Fortgang noch erleichtern. Er bekomme eines der zurückbehaltenen Soldatenpferde, doch mögen zwei Dschamikun ihn begleiten, bis er die Perser erreicht. Besorge das sogleich! Jetzt fort mit ihm!«

»Ich selbst werde ihn hinunterbringen. Komm!«

Er faßte ihn beim Mantel und schob ihn vor sich her zum Tore hinaus. Der Chodj-y-Dschuna verabschiedete sich von mir und ging ihnen nach. Zu Kara aber sagte ich:

»Du siehst, was du mir über diesen Tifl sagtest, hat schnelle Frucht gebracht. Heut abend habe ich Etwas vor, was Niemand wissen darf. Halte dich bereit, mit mir nach dem See hinunterzugehen, wenn Alle schlafen!«

Da schaute er in herzlicher Freude zu mir her und sagte:

»Ein Abenteuer, ein verschwiegenes! Mit dir, Effendi! Ich weiß, was dieses Vertrauen bedeutet, und danke dir dafür!«

Er zog meine Hand an sein Herz. Dann ging ich in die Wohnung des Ustad, um die Karte des Schah an ihre Stelle zurückzulegen. Ich hatte sie nicht gebraucht.

Der übrige Teil des Tages war nur dem Schlafe und der Sammlung weiterer, neuer Kräfte gewidmet. Am Abende aßen wir in der Halle. Ich hatte erfahren, daß nach dem Wettrennen eine Beleuchtung sämtlicher Höhen stattfinden solle. Es waren auch schon viele Fackeln angefertigt worden, darunter sehr lange und starke von Palmenfaser, welche mehrere Stunden lang brennen und nur schwer zu verlöschen sind. Ich ließ mir von Schakara heimlich ein halbes Dutzend von diesen geben und nahm sie nach dem Essen mit hinauf zu mir. Schakara wurde überhaupt mit in das Geheimnis gezogen, denn ich brauchte Jemand, der für mich und Kara das Tor offen zu halten hatte. Was ich tun wollte, war nicht ungefährlich. Darum teilte ich es ihr mit, daß ich die Absicht habe, vom See aus in den versteckten Kanal einzudringen, und forderte sie auf, nur höchstens drei Stunden auf uns zu warten und, falls wir da noch nicht zurückgekehrt seien, uns schleunigst Hilfe zu senden.

Als man zur Ruhe gegangen war, nach zehn Uhr, begab ich mich in den Hof. Kara stand bereit; Schakara war bei ihm. Ich wiederholte ihr, wie ich mir ihre etwaige Hilfe dachte. Er nahm die mitgebrachten Fackeln; dann gingen wir. Im Duar gab es kein Licht. Man schlief auch hier bereits. Am Landeplatze fanden wir das Boot. Es war nur angebunden. Die beiden Ruder hingen in den Dollen. Wir stiegen ein und paddelten uns leise nach der Stelle, welche ich untersucht hatte. Es war nicht schwer, die Maueröffnung hinter dem Gestrüpp aufzufinden. Wir stellten das Boot rechtwinkelig dagegen an und gaben hinten einige kräftige Ruderschläge. Es drang mit seiner ganzen vorderen Hälfte ein. Wir nahmen die Ruder in das Boot, bückten uns nieder und krochen unter dem nun auseinandergeteilten Rankengewirr bis an die Spitze des Kahns vor. Nun war der Sternenhimmel über uns verschwunden. Wir befanden uns in dichtester Finsternis. Die Ruder an uns nehmend, tasteten wir mit ihnen rechts und links aus dem Kahn heraus. Wir fühlten harte Wände und stießen uns an diesen so weit hinein, daß auch das Hinterteil des Fahrzeuges durch das Gestrüpp kam. Hierauf zog ich das Schibhata aus der Tasche, um eine der Fackeln anzubrennen. Bei ihrem Scheine sah ich ein ganz vorn im Schnabel des Bootes befindliches Loch, in welches ich sie steckte. Später hörte ich, daß dieses Loch genau zu diesem Zwecke angebracht worden sei, weil die Schamiki des Abends gern rund um den See zum Nur-y-Saratin ruderten.

Der Kanal war hier, am Anfange, sehr schmal. Aber als wir uns eine Strecke weit fortgegriffen hatten, traten die Wände doppelt weit zurück, und auch die Höhe nahm in demselben Verhältnisse zu. Die Luft war kalt und feucht, doch gut und leicht zu atmen. Die Wände und die Decke bestanden aus den schon oft erwähnten Riesenquadern. Nun schoben wir uns statt mit den Händen mit den Rudern fort. Der Kanal ging stetig geradeaus. Das Wasser war tief und schwarz, dabei aber durchsichtig wie Kristall. Das Bild unserer ruhig brennenden Flamme schaute wie aus unergründlicher Tiefe zu uns herauf.

Ich war so vorsichtig gewesen, die Länge des Kanals abzuschätzen, natürlich nur so ungefähr, bloß mit dem Auge. Die Zahl der Quader gab mir den Anhalt hierzu. Vierzig, sechzig, achtzig Meter! Ein solcher Aufwand von Material und Arbeitskraft konnte nicht bloß den Zweck einer einfachen Zu- oder Ableitung des See- oder Bergwassers haben. Es mußte noch ganz andere Gründe gegeben haben, diesen Zu- oder Abfluß nicht oben vor aller Augen, sondern hier unten in der Verborgenheit geschehen zu lassen. Wenn ich mich in die ferne Zeit zurückdachte, in welcher diese Bauten entstanden waren, so drängte mir die von unserer Fackel kaum einige Bootslängen weit durchbrochene Finsternis die Frage auf, ob dieses Wasser wohl als lebenspendendes Element oder aber als verschwiegener, düsterer Helfer des Todes betrachtet worden sei.

Bereits über achtzig Meter waren wir vorgedrungen. Der Duar lag droben hinter uns. Wir mußten uns ungefähr an der Stelle befinden, wo draußen, auf fester Felsenunterlage, die Cyklopenmauer begann. Da hörten hier unten die behauenen Quader auf; der Kanal wurde noch breiter und höher, so daß wir die Ruder bequem ausstrecken und rühren konnten, und die Wände bestanden aus dem mühsam durchbrochenen Gestein des Berges. Die Decke war gewölbt.

Hierauf kamen wir an einen Seitenkanal, welcher rechtsab führte, und lenkten in ihn ein. Er war genau so breit und so hoch wie der Hauptkanal, aber nicht lang. Auch hatte man sich bei der Herstellung weniger Mühe gegeben. Die rechte Seite war Naturgestein, die linke aber Mauer, aus Riesenblöcken ausgeführt, doch nichts weniger als glatt behauen. Es gab hüben wie drüben hervorragende Ecken, Kanten und Spitzen, welche nicht beseitigt worden waren. Da, wo dieser Seitenkanal aufhörte, wich die Decke plötzlich zurück. Wir sahen in eine dunkle Oeffnung hinauf, deren Höhe nicht abzumessen war, weil unser Licht sich hierzu als unzulänglich erwies.

»Was mag da oben sein, Effendi?« fragte Kara. »Ich sinne darüber nach, wo wir uns jetzt wohl befinden. Unter den Ruinen jedenfalls, aber an welcher Stelle?«

»Ich habe soeben auch im Stillen gerechnet,« antwortete ich. »Wenn ich morgen am Tage in den Ruinen nachrechne, werde ich es wissen. Auf dem Rückwege nachher werde ich die Steine, die alle von gleicher Länge und Höhe sind, genauer zählen. Jetzt schätze ich nur so ungefähr, daß grad über uns der unterste Urbau liegt, in dessen Vordermauer die kleinen Oeffnungen sind, welche wahrscheinlich Fenster bilden sollen. Ich schließe das auch aus dem Umstande, daß dieser Bau auf derselben Gesteinsart liegt, aus welcher hier die rechte Seite des Kanales besteht. Die Steine der linken Seite habe ich gezählt. Ich werde es mir notieren.«

Ich nahm mein Buch aus der Tasche, um mir diese Anmerkung zu machen. Da sagte Kara, indem er nach oben wies:

»Dort hängt Etwas an einer Spitze im Gestein. Es sieht genauso aus, als ob Jemand von da oben, wo hinauf wir nicht sehen können, heruntergestürzt sei, wobei ein Fetzen seines Gewandes dort losgerissen und festgehalten worden ist.«

Ich schaute hinauf. Es war so. Der hängen gebliebene Fetzen war ganz mit Kalksinter überzogen und also nicht vermodert.

»Mich schauert, Effendi!«, fuhr Kara fort. »Wenn dieses finstre Loch da oben in der Decke erzählen könnte, wie Viele hier in diesem dunkeln, eiseskalten Wasser sterben mußten – Laß uns umkehren! Mich friert!«

Wir griffen zu den Rudern und brachten uns in den Hauptkanal zurück, welcher nur noch eine kurze Strecke weiterführte und dann auf ein großes, unterirdisches Wasserbecken mündete, an dessen südlichem Ende wir uns befanden. Die Decke war so hoch, daß wir sie bei unserm schwachen Licht nicht sehen konnten. Zu unserer linken Hand verlor sich die natürliche Felsenwand dieses Bassins in tiefe Dunkelheit. Rechts lag die unbewegte und scheinbar ununterbrochene Flut in drohender Finsternis. Die Luft war feuchter als vorher, beinahe nässend und von einer moderigen Schärfe, als ob sich hier Fäulnisprozesse abgespielt hätten, die nun zwar vorüber waren, doch ohne daß der stechende Duft der Verwesung sich vollständig niedergeschlagen hatte. Das war nicht gut zu atmen, doch auszuhalten immerhin. Dabei brannte die Fackel ziemlich hell. Es mußte irgendwo eine Stelle geben, durch welche dieser unheimliche Raum mit der äußeren Atmosphäre in Verbindung stand.

»Das stinkt wie alte, nasse Gräber!« sagte Kara, indem er sich schüttelte. »Mich friert jetzt noch mehr als dort. Ich habe das Gefühl, als müßten in dem Wasser unter uns nur lauter Leichen liegen! Was tun wir jetzt, Effendi?«

»Wir untersuchen dieses Wasserbecken.«

»Meinst du, daß wir uns zurückfinden werden?«

»Ja.«

»Du hattest aber doch Sorge! Das zeigt die Weisung, die du Schakara erteiltest.«

»Ich dachte dabei an ein Unglück durch schlechte, erstickende Luft. Wir können aber doch atmen, und diese natürliche Höhlung ist doch wohl nicht so groß, daß man sich trotz aller Aufmerksamkeit in ihr verirren müßte. Wenn wir bedächtig vorgehen, kann uns nichts geschehen. Bleiben wir zunächst am Rande des Wassers! Hier links ist es alle. Wenn wir nach rechts hinüber diesem Rande folgen, bis wir zur jetzigen Stelle zurückkehren, haben wir seine Ausdehnung kennen gelernt und wissen, was es uns hierauf noch bietet. Komm!«

Wir lenkten vom Kanale rechts ab und fuhren längs der überstark erscheinenden Mauer hin, an deren andern Seite wir uns im Nebenkanale befunden hatten. Ich zählte ihre Quadern. Sie war hier etwas länger als drüben und schloß einen zweiten Seitenkanal mit ein, welcher zu unserer andern Hand nicht durch eine feste, kompakte Wand, sondern durch natürliche Pfeiler eingefaßt wurde, deren Höhe eine so beträchtliche war, daß wir die Decke selbst dann, als ich noch eine Fackel anbrannte, nur undeutlich sehen konnten. Diese Decke reichte auch hier nicht bis ganz an das Ende des Kanales. Es gab auch hier eine dunkel gähnende Öffnung oben, die irgend einen Zweck gehabt haben mußte. Indem ich prüfend emporschaute, äußerte sich Kara:

»Wahrscheinlich stürzte man auch hier diejenigen Personen hinunter in den Tod, die man verschwinden lassen wollte! Es gibt zwar kein bestimmtes Zeichen hierfür, aber – Allah ‚l Allah! Sieh dorthin! Was liegt da auf dem Stein?«

Er deutete nach dem letzten der erwähnten Pfeiler. Dieser ragte in einem Durchmesser von wenigstens sechs Meter aus dem Wasser, verjüngte sich aber sofort in einer Weise, daß dieser Durchmesser kaum noch zwei Meter betrug. Hierdurch entstand eine ebene Platte von vier Meter Breite, und auf dieser lag das, was Kara veranlaßt hatte, seinem Satz ein so erschrockenes Ende zu geben. Wir paddelten das Boot hin und sahen, daß der betreffende Gegenstand ein menschliches Gerippe war, ganz zusammengekrümmt, die Kniee bis an den Leib herangezogen, die eine Hand geöffnet, um nach Hilfe auszufassen, die andere aber geballt, wie in fluchender Drohung ausgestreckt.

»Das ist einer der Unglücklichen, von denen ich sprach!« rief Kara aus. »Er hat schwimmen können und sich über Wasser gehalten, bis er in der Finsternis zufälligerweise an den Pfeiler stieß. Er fühlte die ebene Stelle und kroch hinauf. Da ist er dann elend verschmachtet, verhungert, zu Grunde gegangen. Wie mag er gebetet, geflucht, geschrieen, gewimmert haben in dieser schrecklichen, nassen, erbarmungslosen Unterwelt! Geächzt, gestöhnt, gebrüllt, gezetert in fürchterlichster Qual und Todesangst, bis ihm die Heiserkeit die Stimme raubte, so daß er nur noch innerlich zu fluchen vermochte und mit dem letzten Fluch zu Allah ging, der ihn erhören mußte!«

Ich sagte nichts. Die Untersuchung des Skelettes war mir wichtiger als alle Reflexionen. Es war feucht, aber hart wie Stein, von Kalk ganz durch- und überzogen. Ein ausgewachsener Mann in den kräftigsten Jahren. Eine hohe, breite Stirn. Im Leben wohl ein schöner, kluger Denkerkopf. Der erste Gedanke seines Lebens ein Segen für die Mutter, der letzte eine Verwünschung seiner Geburt! Wie lange lag das versteinerte Gerippe hier an dieser Stelle. Jahrhunderte? Jahrtausende? Welchem Volke, welchem Stande, welcher Religion gehörten die Gräßlichen an, die ihn in einen derartigen Tod geschleudert hatten? Ich vermutete grad über uns den zweiten Werkstückbau mit den beiden Hochreliefs. Also Heiden!

»Fort von hier!« sagte ich. »Ich habe mich absichtlich warm angezogen, weil ich mir sagte, daß es hier unten naßkalt sein werde. Aber ich glaube, hier friert auch mich!«

Das Bassin bog sich von hier nach links, um erst einen dritten und dann noch einen vierten Seitenkanal zu bilden. Und sonderbar: Erstens lagen diese Kanäle meiner Vermutung nach genau unter der dritten und vierten Etage der Ruinen. Und zweitens endete jeder mit einer ähnlichen Deckenöffnung, wie wir bei den beiden ersten beobachtet hatten. Wozu diese schauerliche Verbindung der sonnigen Oberwelt mit dem lichtlosen, unterirdischen Becken? Wasser war da oben doch stets und für alle Bedürfnisse mehr als genug vorhanden gewesen! Waren die Gründe vielleicht ebenso finster und unerbittlich wie die eiseskalte Flut, die unser Boot jetzt trug?

Indem wir wenden wollten und darum die Ruder tief in das Wasser tauchten, brachten wir dieses in lebhaftere Bewegung als bisher. Dieser Wellenschlag vervielfältigte in der Tiefe die Bilder unserer Fackelflammen. Die Brechung des Lichtes bewirkte ein scheinbares Emporsteigen alles Dessen, was sich da unten befand, und so erhob sich vor unsern Augen eine Menge menschlicher Gestalten, welche sich zu bewegen und drohend auf uns zuzuschwimmen schienen. Kara stieß einen gellenden Ruf des Schreckens aus, und auch auf mich wirkte dieser Anblick so, daß mir fast das Ruder entfallen wäre.

»Leichen, nichts als Leichen, über denen wir uns befinden!« preßte der junge Hadeddihn hervor. »Effendi, leben wir noch, oder sind wir gestorben und müssen selbst auch da hinunter?«

»Fasse dich, Kara!« ermutigte ich ihn. »Wir leben, und auch unter uns ist nicht der Tod, sondern etwas ganz Anderes. Was das Verbrechen früherer Zeiten zu verbergen und zu vernichten suchte, das wurde durch das schwer kalkhaltige Wasser in Stein verwandelt, damit man später wisse, was der, welcher wirklich Mensch ist, von dem zu erwarten habe, der sich mit seinem Menschentum nur brüstet. Was du jetzt sahst, war Kalk, war Gips, war aufgelöster, weißer Ruchamstein. Denk dir, es seien bloß nur Marmorbilder, die man hier tief versteckte, damit sie nicht in falsche Hände kommen möchten! Rudern wir ruhig weiter!«

»Ja. Aber brenn noch eine Fackel an, damit es lichter um uns werde! Mir ist, als schaute rings der Tod aus tausend leeren Augenhöhlen zu uns her, und das ist eine Vorstellung, die mich peinigt!«

Ich tat es. Dann setzten wir die Untersuchung fort.

Diese ergab, daß wir es nicht mit einem, sondern mit zwei Wasserbecken zu tun hatten, einem vorderen, in dem wir uns befanden, und einem hinteren, welches wir einstweilen noch unbeachtet ließen, um das erstere vollständig kennen zu lernen. Wir vermuteten über uns eine hohe Wölbung. Sehen konnten wir sie nicht. Sie wurde von natürlichen, regellos stehenden Pfeilern getragen, Ueberreste der Steinwände, deren weiche, erdige Zwischenfüllung das Wasser weg- und in den See gespült hatte. Auch diese Wände waren nach und nach aufgelöst und zerfressen worden, und was von ihnen noch übrig war und von mir als »Säulen« bezeichnet wurde, sah so zerrissen, zerklüftet und durchlöchert aus, als ob es jeden Augenblick zusammenbrechen müsse. Diese Deckenträger hatten alle, ohne Ausnahme, das Aussehen, als ob sie aus weißem Pfefferkuchen beständen, der im Wasser gelegen habe und nur notdürftig getrocknet worden sei, um wenigstens einen Anschein von Festigkeit zu bekommen. Es gab in diesen ausgelaugten Gebilden Stellen, bei deren Anblick es mir war, als ob ich sie laut krachen und prasseln höre und als ob sie sich schon bewegten, um zusammenzubrechen. Wenn ich an die ungeheuren Mauerlasten dachte, welche auf diesem höchst unzuverlässigen Gewölbe ruhten, unter dem ich mich befand, so wollte mich eine Gänsehaut überlaufen, und es prickelte mir ängstlich in allen Fingerspitzen. Kara schien ganz dieselbe Empfindung zu haben, denn er sagte:

»Wer hier auf den Gedanken käme, eine Pistole abzufeuern, der wäre unrettbar verloren, denn der ganze Berg würde von dieser kleinen Erschütterung über ihm zusammenbrechen und ihn unter sich begraben! Wollen uns beeilen, fortzukommen, Effendi! Mir will fast bange werden!«

»Nur noch das hintere Becken!« sagte ich. »Vermutlich ist es nicht so groß wie dieses, und wir werden also schneller mit ihm fertig.«

»Aber, um Allahs willen, nur leise, leise; das bitte ich dich! Ich sehe Alles um und über uns wackeln!«

Daß dieses Gefühl nicht falsch war, das sollte sich uns später mehr als deutlich zeigen! Jetzt aber ruderten wir uns nach dem Hintergrunde, wo wir sonderbarer Weise wieder auf Menschenarbeit trafen. Es gab eine breite Mauer von gewaltigen, unbehauenen Blöcken, welche auf kompaktem Fels errichtet worden war. Es schien, als ob man durch diese Mauer das hintere Bassin habe vollständig verschließen und verbergen wollen. Warum wohl das? Doch bestand dieser Fels aus Kalk. Das Wasser hatte auch hier so auflösend und zerstörend gewirkt, daß nur noch die allerhärtesten Teile von ihm vorhanden waren. Und auf diesen wenigen, leichten Ueberresten lag die ganze Wucht der Riesenmauer! Wie war es doch nur möglich, daß nicht schon längst hier Alles, Alles zusammengebrochen war! Ein Halt war hier nicht mehr zu suchen und zu finden. Er mußte anderswo liegen, seitwärts oder oben, in irgend einem an sich geringfügigen Gegendrucke. Hörte dieser auf, so stand die Katastrophe zu erwarten! Ein Gewitter, ein kleiner Erdrutsch oder etwas dem Aehnliches konnte die letzte, wenn auch unbedeutende Veranlassung zu dem gewaltigen Zusammenbruche sein, welcher längst schon vorbereitet war. Einen längst entwurzelten Baum wirft, sei er noch so groß und stark, schließlich doch ein kleiner Druck schon um.

Wir schlüpften an einer der Stellen, wo die Mauer frei in der Luft schwebte, unter ihr weg und befanden uns dann im hintern Becken. Es war, wie ich vermutet hatte, nicht so groß wie das vordere. Säulen schien es nicht zu geben. Wir umruderten es in kurzer Zeit. Es bildete einen Halbkreis, dessen schnurgerade gebauter Durchmesser die Mauer war. Der Bogen bestand aus lückenlosem Fels, der sich hoch oben nischenförmig zusammenzuneigen schien. Als ich dies bemerkte, fiel mir die Sage von »Chodeh, dem Eingemauerten« ein, welche Schakara mir erzählt hatte. Fast unbegreiflicher Weise war dieser Fels fast glänzend schwarz, so ungefähr wie recht dunkler, polierter Serpentin. Wie das wohl kam?

Nachdem wir nun den Umfang dieses Innenbeckens kennengelernt hatten, beschlossen wir, es auch einmal zu durchqueren. Da stießen wir schon nach wenigen Ruderschlägen auf einen aus dem Wasser ragenden Riesenblock von genau rechteckiger Gestalt. Er war feucht, schlüpfrig, unten weiß überkalkt, je höher hinauf aber um so trockener und dunkler. Seine Kanten waren so geradlinig und scharf, daß ich diese Regelmäßigkeit für Menschenarbeit halten mußte. Seine oberen Linien lagen im Bereiche unserer Flammen. Auch sie waren genau wie nach Schnur oder Wasserwage gebildet. Das Ganze hatte so sehr das Aussehen eines allerdings gewaltigen Sockels oder Postamentes, daß ich eine der Fackeln nahm, mich aufrichtete und in die Höhe leuchtete, um zu sehen, ob sich Etwas darauf befinde, was seinen ganz ungewöhnlichen Dimensionen entsprechend war. Und richtig! Fast glich meine Ueberraschung einem frohen Schrecke! Das Licht fiel auf etwas wunderbar rein weiß Glitzerndes, etwas so schneeig Zartes und Unbeflecktes, daß ich zunächst meinen Augen gar nicht trauen wollte. Dieses lautere, keusche, unschuldige Weiß, auf welchem Millionen Flammenkörnchen brillierten, kam mir nach Allem, was wir hier unten bisher gesehen hatten, so heilig, so unbegreiflich vor, als ob mein Blick auf etwas Ueberirdisches, vollendet Seelisches gefallen sei!

»Siehst du Etwas, Effendi?« fragte Kara unter mir.

»Ja,« antwortete ich, noch immer staunend.

»Was?«

»Etwas wie aus dem Paradiese! Wir haben die Dschehenna hinter uns, den Ort des steingewordenen Erdenfluches. Hier aber ist es mir, als sei der Fluch in Segen umgewandelt, und was dort Kalk im Todeswasser war, das kniet hier erlöst im alabasternen Gebete!«

»Ich höre dich, aber ich verstehe dich nicht!«

»Das glaube ich! Auch ich kann nicht verstehen, wie das, was ich jetzt sehe, hierher gekommen ist. Es kniet hier Jemand, den ich bloß nur ahne. Ein betender Gigant! Mir leuchtet nur das Glied, das er vor Gott, dem Allerhöchsten beugt; das Andre steigt empor in Nacht und Grauen. Hebt er die Hände fordernd auf zum Himmel? Hält er sie still gefaltet in Ergebung? Hebt er kühn seine Stirn? Ist sie gesenkt zur Erde? Wirft er den Blick vertrauensvoll ins Weite? Bedeckt er zaghaft ihn mit demutsvollen Lidern? Was frage ich? Es ist genug, daß ich hier beten sehe!«

Ich ließ die Fackel sinken, steckte sie an ihren Ort und setzte mich wieder nieder. Es war mir, als müsse ich hier bleiben, bis irgend ein Ereignis nahe, diese »Anbetung in der Verborgenheit« nach Matthäus 6 Vers 6 zu beantworten. Aber ich nahm mir vor, recht bald zurückzukehren und diesen Ort so genügend zu beleuchten, daß ich die ganze Figur, die hoffentlich kein Torso war, vollständig und deutlich vor mir stehen hatte. Für heute war unser Werk vollbracht.

Wir verließen das zweite Bassin, nachdem ich mir einige Notizen über dasselbe gemacht hatte. Das vordere nahm ich noch sorgfältiger auf. Und als wir wieder in den Hauptkanal einfuhren, maß ich mit Hilfe einer Leine, die wir im Boote fanden, einen der Steine bis auf den Zentimeter genau, und da diese Quader alle die ganz gleiche Länge und Höhe hatten, so war es später leicht, eine Zeichnung anzufertigen, die es mir ermöglichte, die unterirdischen Linien zu Tage festzulegen. Wir passierten das verschließende Gestrüpp ganz in derselben Weise wie bei unserm Kommen, und als wir dann den Sternenhimmel wieder über uns hatten und die Zeit bestimmen konnten, sahen wir, daß während unsers Aufenthaltes in der Unterwelt doch mehr als zwei Stunden vergangen waren. Die Fackeln hatten wir natürlich verlöscht, bevor wir wieder in das Freie gelangten. Am Landeplatze angekommen, banden wir das Boot fest. Kara nahm die Fackeln, ich die Maßleine, und dann traten wir den Heimweg an.

»Effendi, glaubst du, daß ich froh bin, wieder festen Boden unter den Füßen und den Himmel über mir zu haben?« fragte er. »Dieses fürchterliche, tief verschwiegene Wasser! Diese lügnerischen Säulen! Und dieser unermeßliche Druck von oben, den sie zu halten vorgaben und doch unmöglich halten können! Ich habe fast gezittert, und es ist mir, als ob ich einem beinahe unvermeidlichen und gräßlich heimtückischen Tode entronnen sei!«

Er hatte ganz meine eigenen Gefühle ausgesprochen. Bei mir kam ja noch dazu, daß ich schwer krank gewesen war und für solche Eindrücke also empfänglicher sein mußte als er. Es war eigentlich höchst unvorsichtig von mir gewesen, diese Untersuchung des Erdinnern schon jetzt vorzunehmen; aber die Zeit und die Ereignisse drängten, und glücklicher Weise hatte ich mich weder erkältet, noch fühlte ich mich sonstwie körperlich geschädigt. Es hatte ganz im Gegenteile den Anschein, als ob durch dieses Unternehmen die Energie sowohl des Leibes wie auch der Seele gehoben worden sei. Ich fühlte mich eher gekräftigt als ermüdet oder gar abgespannt.

Schakara freute sich, als wir kamen. Sie sagte, daß sie bereits begonnen habe, um uns besorgt zu werden. Als Kara mich fragte, ob er ihr Alles erzählen dürfe, sagte ich, daß dies ganz selbstverständlich sei, forderte ihn aber auf, gegen Jedermann sonst zu schweigen. Dann ging ich hinauf zu mir, brannte die Lampe an und setzte mich an den Tisch, um die Zeichnung der beiden Bassins jetzt sofort anzufertigen. Die Eindrücke waren jetzt so frisch, daß ich fast jede Einzelheit in größter Deutlichkeit vor mir sah, und als ich fertig war, konnte ich überzeugt sein, mich um keinen einzigen Meter geirrt zu haben. Es galt nur noch morgen am Tage diese Grundebene mit der Neigung des äußern Terrains in Einklang zu bringen.

Ganz von selber versteht es sich, daß die unverlöschlich tiefen Bilder, welche ich mit nach Hause gebracht hatte, mich noch auf das Lebhafteste beschäftigten, als ich mich hierauf zur Ruhe legte. Der Schlaf wollte nicht kommen, und als er sich endlich doch einstellte, nahm er sie mit in jenes seelische Gebiet hinein, welches für uns noch im Geheimen liegt und mit dem Verlegenheitsnamen Traumwelt bezeichnet wird.

Ich träumte, und zwar mit einer Lebhaftigkeit und Deutlichkeit, als ob ich nicht schlafe, sondern wache. Und ich träumte sonderbarer Weise, daß ich nicht ich, sondern der Ustad sei. Ich war völlig identisch mit ihm und kannte jede verflossene Minute seines Lebens und jedes Wort, welches er geschrieben hatte. Und das verwischte sich nicht; das blieb auch nach dem Traume. Sein Inhalt war folgender:

Ich kam als Ustad in das Land der Dschamikun und sah die Bauten hier am Berge liegen. Ich nahm ihr Aeußeres in Augenschein, und was ich dabei sah, das ließ den Wunsch in mir erwachen, auch mit dem Innern genau bekannt zu werden. Ich fragte Jemand, wo der Eingang sei. Da sah er mich mit kalten Augen an und sprach:

»Ich bin kein Dschamiki. Ich bin der Geist, der jeden Nahenden vor der Versuchung warnt, den kühnen Schritt in diesen Bau zu lenken. Wer ihn betritt, der hat für alle Ewigkeit auf sich, auf Leib und Geist und Seele zu verzichten. Wer das nicht tut, verläßt ihn niemals wieder, nicht lebend und nicht tot. Die Schatten dulden nicht, daß sie verraten werden.«

»Die Schatten?« lachte ich. »Wo ist der wesenlose, impotente Sill, der eine wirkliche Persönlichkeit wohl fürchten machen könnte!«

»Frag anders! Frage so: Wo ist die mächtige Persönlichkeit, die Jeden, der ihr dunkles Reich betritt, zum Schatten macht, verzaubert oder tötet? Sie wohnt und herrscht in diesem Riesenbau. Willst du hinein, so halte ich dich nicht; ich habe nur zu warnen, nicht zu zwingen. Unzählige schon hörten nicht auf mich. Die Starken sah ich niemals wiederkehren; die Andern aber waren ihm, dem Zauberer, in andrer Art verfallen. Sie kamen zwar zurück, doch nur als seine Schatten, die geist- und körperlos an mir vorüberschlichen, um vampyrgleich der Menschen Blut zu saugen.«

»Und fand sich Keiner, der ihm widerstand?«

»Nicht Einer!«

»Das schreckt mich nicht. Was Zauber heißt, ist Lüge. Nur wer die Lüge glaubt, ist ihr verfallen. Ich tue so, wie Alle, die nicht hörten: Ich will hinein, ja nun erst recht hinein! Gib mir den Mächtigen zu sehen, von dem du sagst, daß Jedermann dem Tode oder ihm verfallen sei! Ich glaube nicht an seine Macht und auch nicht an den Tod!«

»Du glaubst nicht an den Tod?« fragte er, indem er mich ganz eigen ansah. »Kannst du beten?«

»Ja.«

»Richtig?«

»Ich hoffe es.«

»So geh hinein! Wenn du nicht anders willst! Du bist der Erste, der Einzige, bei dem ich es wage, einen Wink zu geben. Er heißt: Such dir den Rückweg selbst; laß ihn dir ja nicht zeigen!«

Nach diesen Worten winkte er unter sich. Da öffnete sich die Erde, und ich sah die Stufen einer Treppe.

»Ich danke dir! Mich siehst du nicht als Schatten wieder!« sagte ich und stieg hinab.

Da kam ich denn zunächst in jenen Urzeitbau, der auf dem festen Felsengrunde steht. Der Tag gab durch die Maueröffnungen ein falbes Dämmerlicht. Ich wanderte im Innern auf und ab, sah aber nichts; der Raum war völlig leer. Es schien, man habe ihn vollständig ausgeraubt, wie man zum Beispiel hier und da mit gottesdienstlichen und philosophischen Systemen tat. Da werden die Gedanken fortgeschleppt wie Möbelgegenstände, die man, gehörig ausgeklopft und wieder neu poliert, in eine neue Wohnung stellt und auch als neu bezeichnet! Das Ende dieses Baues gegen Süden war zugeschüttet worden. Ich wußte wohl, warum: Das war der Ort des Sturzes in das Wasser.

Auf Binnenstufen ging’s hinauf zum zweiten Bau, der mich an Altiranisches, an Zarathustra mahnte. Auch er war leer, vollständig leer. Kein Mensch, kein andres Wesen ließ sich sehen. Auch ausgeraubt und Alles fortgeschafft! Man sollte doch Vergangnes heilig halten! Nicht es dem eignen Zwecke dienstbar machen und dann die Zeit verdammen, die es schuf! Der Schluß nach Süden war vermauert worden.

Nun ging es wieder stufenauf ins doppelte Geschoß mit den zersprungenen Tafeln. Da lag wohl hier und da ein alter Gegenstand, den man des Raubes nicht für wert gehalten hatte, auch gab es Spuren, die mich schließen ließen, daß Menschen hier zuweilen noch verkehrten, doch jetzt war ich allein. Wirklich? Ganz allein? Wurde ich nicht beobachtet? Der letzte Raum nach Süden war verschüttet, doch nicht bis an die Decke. Man konnte sich da oben wohl verstecken, und in dem losen Schutt sah ich die Spuren, daß man noch kürzlich hier hinaufgestiegen war. Das war zwar ungefährlich für Vertraute, doch nicht für Fremde, die vielleicht hier einen Ausgang suchten; denn jenseits ging der Sturz jäh ins Bassin hinab. Und als ich so von Weitem stand und nach der Decke schaute, schob sich ein Kopf da oben leise vor, um mich in scharfen Augenschein zu nehmen. Das Haar war weiß wie Schnee, der Blick spitz wie die Klinge eines Dolches. Ein Mensch, der solche Augen hat, weiß, was er will, und kennt die Schonung nicht. Er hat sogar den Mut, sich dicht am Abgrund lauschend zu verbergen, wenn es nur Hoffnung gibt, daß dann ein Andrer stürzt. Ich tat natürlich so, als ob er von mir ungesehen sei, und ging zur nächsten Treppe, um nach dem obersten Geschoß, dem vielgestaltigen, emporzusteigen.

Sie führte nicht direkt zu ihm empor. Sie mündete auf eine offene Tür, an welcher eine dunkle Schattenhaftigkeit sich tief vor mir verbeugte und mit gedämpfter, hohler Stimme sprach:

»Wir kennen deinen Wunsch und haben dich erwartet. Du glaubtest gleich hinauf zum Oberbau zu kommen, mußt aber erst durch die Gewölbe hier, als deren Resultat er stein- und ziegelweis entstand. Hier sind die Schätze alle aufgespeichert, die sich der Mensch seit Anbeginn erdacht. Wir trugen sie zusammen, woher, wozu, warum, das wirst du dann erst hören, wenn dich die Gnade unsers Herrn erleuchtet. Er ist bereit, mit dir zu sprechen. Er ist sogar gewillt, dich seinem Dienst zu weihen. Damit du siehst, wie reich er lohnen kann, wie übervoll er spendet, soll ich dich vorher erst durch diese Räume führen. Doch hast du mir dein Wort zu geben, nie zu verraten, was ich dir hier zeige. Von Andern fordere ich den heiligsten der Schwüre, doch von dir weiß ich, daß dein Wort genügt. Willst du es geben?«

»Ja,« antwortete ich, obgleich ein Etwas in mir sagte: »Gib es ihm nicht, und berühre ihn nicht, sonst bist du ihm verfallen!«

»So reiche mir die Rechte!«

Ich tat es. Seine Hand fühlte sich so gegenstandslos weich, so leichenkühl, so gallertglatt und schlangenschlüpfrig an! Es war, als ob er durch diese meine Berührung nun erst Leben und Energie bekäme.

»Komm, folge mir!« forderte er mich in plötzlich befehlendem Tone auf. »Und sprich mit Niemand als mit mir allein! Denn durch die Hand, die du als Schwur mir gabst, bist du mein Eigentum in Gott, dem Herrn geworden. Du hast kein Recht, an Andre dich zu wenden, als nur an mich, den für dich Sorgenden!«

Er faßte meine Hand kräftiger, und darum bemerkte ich deutlicher, daß er mir die Kraft entzog, die von mir auf ihn überging. Dann richtete sich die Gestalt, die sich soeben noch so tief vor mir verneigt hatte, so hoch auf, daß sie mich weit überragte, und fuhr in höchst bestimmter, gebieterischer Weise fort:

»Mein ist dein Geist; mein ist auch deine Seele, und nur der Leib bleibt einstweilen dein, bis ich bestimme, wie und wo er uns zu dienen habe. Aus meiner Hand strömt dir das höchste Glück, das es für Menschen gibt in Zeit und Ewigkeit: Du bist vollständig willenlos und folglich frei von jeder Schuld und Sühne! Tu Alles, was ich sage, ob Gutes oder Böses, der Rechenschaft bist du fortan enthoben, denn ich bin es, der sie zu leisten hat. Auch ich gehorche nur, um frei zu sein. Das tut ein Jeder, bis hinauf zum Höchsten! Im Auftrag meines Herrn belohne ich dir schleunigst jede Tat, durch welche du uns nützest. Und in derselben Machtvollkommenheit verzeihe ich dir Alles, wodurch du Andern schadest, nur nicht uns! Drum sei getrost, mag kommen, was da will! An unsrer Macht geht jeder Feind zu Grunde!«

Hierauf zog sich die, wie es schien, ganz beliebig dehnbare Gestalt in ihre vorherige Bescheidenheit zusammen und begann mit mir den Gang durch die Gewölbe, meine Hand nicht einen Augenblick aus der ihrigen lassend. Es war mir, als ob ich mit ihr durch ein unsichtbares Röhrchen verbunden sei, durch welches der Abfluß meiner Lebensenergie zu diesem Schatten hinüber stattfinde. Es konnte nicht sehr lange Zeit dauern, so war mein Mut dahin und mit ihm auch die Kraft zum Widerstande. Ein Vampyr geistiger Natur! Ein schwammiges Gespenst von unersättlicher Porosität! Durfte ich mir zumuten, ihm die Hand so lange zu lassen, bis ich gesehen hatte, was ich sehen wollte? War ich dann nicht wahrscheinlich schon so willenlos, daß ich sie ihm nicht mehr entziehen konnte? Ich wagte es, denn ich glaubte, mich genau zu kennen! Wer Vampyre entlarven will, der muß es wagen, sie an sich saugen zu lassen, bis sie so voll sind, daß sie ihm nicht entfliehen können!

Es waren viele Räume, durch welche wir kamen, weit mehr, als ich für möglich gehalten hätte. Lange, niedrige Gewölbe mit schmalen Mauernischen, in denen düsterrot die wenigen Fackeln brannten. Alles Wertvolle, was sich einst in den untern Etagen befunden hatte, war hier aufgestapelt. Dazu die köstlichsten Schmuggelwaren aus allen Ländern, Zonen und Gedankenreichen. Ich dachte an unsern Fund im Innern des Birs Nimrud. Aber was wir dort gesehen hatten, war Bettelarmut gegen diesen Reichtum hier! Und dort gab es kein Leben in der Tiefe. Hier aber huschten zwischen diesen Schätzen geschäftige Dämonen hin und her, die alle Hände voller Arbeit hatten. Unhörbar waren alle ihre Schritte, und Alles, was sie taten, erzeugte nicht das mindeste Geräusch. Die Gieresblicke, die sie auf mich warfen, verrieten mir, wie heiß sie mich begehrten. Doch wenn sich einer nahte, die Hand nach mir zu strecken, so schwoll mein Führer zum Giganten auf und schleuderte den Schwachen auf die Seite. Das war die Kraft, die er von mir zu sich hinüberzog. Da er mich hatte und sie aber Keinen, von dessen Uebermacht sie zehren konnten, war er für sie der große Held des Tages, von dem sie sich für heut beherrschen ließen.

Ich wollte wissen, was sie alle taten, und blieb zuweilen stehn, um zuzusehen. Mein Führer glaubte, mich für immer in seiner Hand zu haben, und zeigte mir ganz offen, was man trieb. Es wurde hier gefälscht, gefälscht und nur gefälscht! Das Echte hatte man der Außenwelt entzogen, das Wahre, Reine, Edle hier versteckt. Die Täuschung und den Schein, die Falschheit und Entstellung verfertigte man hier und trug sie dann hinaus als ehrliche, rechtschaffne, gute Ware! Und diese Arbeit ging sehr flott von statten. Ich sah, es war ein glänzendes Geschäft! Ein einziger Verrat, dem es gelang, ans Tageslicht zu kommen, bedeutete für dieses Fälschertum sofortigen Ruin! Daher die einz’ge Wahl: Mitmachen oder Tod! Wozu von Beidem würde ich, wenn man mich zwingen sollte, mich wohl entschließen?

Bei diesem Gedanken entriß ich dem Schatten meine Hand mit einem so unerwarteten, kräftigen Rucke, daß er überaus schnell und klein zusammenfuhr. Er dehnte sich aber hierauf sofort zur riesenhaften Größe aus und donnerte mich an:

»Was fällt dir ein! Diese Hand gehört mir, denn du bist mein Eigentum! Gib sie augenblicklich wieder her!«

Ich wußte, daß jetzt der Kampf zwischen mir und ihm beginnen werde. Und die anwesenden Sillan ahnten das wohl auch. Sie drängten sich herbei. Ich schob sie auseinander, um zur nächsten Nische zu gelangen, ergriff die dort brennende Fackel und drehte mich dann mit ihr nach ihnen um. Was geschah? Sie verschwanden. Sie versteckten sich hinter ihre aufgehäuften Waren; sie waren eben Schatten, die, bei Licht betrachtet, hinter ihre Gegenstände gehören. Nur der Eine blieb. Er allein hatte Mut, nämlich meinen Mut, von mir in seine wesenlose Schwammigkeit hinübergesaugt. Wir standen, beide hoch aufgerichtet, vor einander. Er schaute mir mit einem vernichtend sein sollenden Blicke in die Augen; ich ihm ebenso! Jetzt galt es, Wahrheit gegen Lüge, Person gegen Schatten, Individualität gegen Scheinmenschlichkeit, Licht gegen Finsternis!

Ich sprach kein Wort, er auch nicht. Ich wollte nicht, und er konnte nicht. Ich sah ihn fest und unverwandt an und zuckte mit keiner Wimper. Er wollte diesem Blicke standhalten, mußte aber bald die Augen senken. Ich stand still, fest, unbewegt; er begann zu wanken, zu zittern, endlich gar zu flackern wie die Flamme meiner Fackel. Dann wurde er kleiner, immer kleiner, sank nieder, bis er auf dem Boden lag und kroch da langsam an mir vorüber, um nach hinten zu kommen. Und als er da so vor mir bebte und sich so ängstlich vor mir wand, da fühlte ich, daß die mir gestohlene Kraft und Energie zurückkehrte, bis er nicht mehr eine Spur von ihr besaß und in seiner ganzen Ohnmacht hinter mir am Boden lag. Da drehte ich mich zu ihm um, die Fackel in der Rechten. Er floh zur linken Seite, nach der Wand, und versuchte, sich an dieser aufzurichten. Als ich hinüberschaute, wendete auch er das Gesicht. Denn ein wahrhaftiger und ehrlicher Mensch hat es noch nie erlebt, daß so ein entlarvter Lügner und Betrüger es wagte, ihn offen anzusehen. Diesen Mut besitzt er nur dann, wenn es ihm gelungen ist, sich durch den Diebstahl fremder Charakterhaftigkeit das Ansehen zu geben, daß er auch eine Art von Person und nicht bloß nur ein nichtiger, bedeutungsloser Schatten sei!

Das war der Sieg, in aller Stille, ohne jeden Zorn und ohne alle Worte! Und nun auch dieser Schatten überwunden war, begann ich den Rundgang durch die Gewölbe von Neuem, um besser und tiefer zu sehen, als ich vorher gesehen hatte. Ich war allein. Es getraute sich nichts mehr an mich heran. Wo ich mit meiner Leuchte erschien, verkroch sich jeder Schatten augenblicklich. Der meinige schlich zwar beständig hinter mir her, wagte aber nicht, sich wieder zu erheben.

Bei diesem meinem zweiten Rundgange bemerkte ich, wenn nicht zu meinem Schrecken, so doch zu meiner Ueberraschung, daß die Tür, in welche die Treppe eingemündet hatte, nicht mehr vorhanden war. Ich wußte die betreffende Stelle ganz genau. Die Gegenstände, welche ich bei meinem Eintritte zuerst gesehen hatte, standen und lagen alle noch an ihrem Orte. Aber anstatt der Tür gab es jetzt nur Mauer, starke, dicke, undurchdringliche Mauer! Ich suchte darum mit allem Fleiße nach einem zweiten Ausgange, fand aber keinen andern als nur den am Südende dieses Baues. Auch dieser führte zum jähen Sturz hinunter in das Bassin. Er war weder vermauert noch verschüttet, sondern bestand aus einer hölzernen, unverschlossenen und unverriegelten Tür, welche durch einen leisen Druck geöffnet werden konnte. Das sah so unschuldig aus, ganz genau so, als ob sie in ein weiteres Gemach oder Gewölbe führe; aber wehe dem, der diesem Betruge traute! Ich öffnete sie und leuchtete hinaus. Gleich hinter der Schwelle hörte der Fußboden auf. Der Abgrund gähnte aus dem tiefen Wasser herauf, und eine kalte, feuchte Luft roch nach Verwesungsgasen.

Ich machte wieder zu und wendete mich zurück. Wie hatte der Warnende draußen vor dem Bau gesagt? »Die Starken sah ich niemals wiederkehren!« Ja, sie hatten zwar widerstanden, waren aber nicht auf den Gedanken gekommen, nach einer Fackel zu greifen, um die Schatten von sich abzuweisen. Nach einem Ausgange suchend, waren sie von ihnen zu dieser Tür gewiesen worden und hierauf ahnungslos hinabgestürzt.

Ich dachte an die verkalkten Leichen auf dem Grunde des Bassins, welche grad unter dieser Tür im tiefen Wasser lagen, da hörte ich Schritte, welche vom andern Ende des Gewölbes kamen, und als der Betreffende in den Scheinkreis meiner schon fast ganz herabgebrannten Fackel trat, erkannte ich ihn sofort. Er war der Lauscher mit dem weißen Haare und den Dolchaugen, der mich in der vorigen Etage von dem Schritthaufen aus beobachtet hatte. Hinter ihm eine so große und so dicht zusammengedrängte Menge von Schatten, daß sie gar nicht einzeln unterschieden werden konnten, sondern zusammen eine kompakte Finsternis bildeten. In meine Nähe gekommen, blieb er stehen und rief mich an:

»Was will der Ustad hier in meinem Reiche? Der größte Feind, den ich auf dieser Erde habe! Du suchst nach einer Tür, mir wieder zu entschlüpfen! Für dich, der mich vernichten will, gibt’s keine!«

Er trat noch mehrere Schritte auf mich zu. Indem er dies tat, wurde er höher und immer höher. Nun überragte er mich um Kopfeslänge und auch um eine ganze Schulterbreite. Seine Stimme klang fest, stark, keinen Widerspruch erwartend. Ich sah ihm ruhig in die stechenden Augen, denn es galt hier einen zweiten, aber andern Kampf, und wer siegen will, muß ruhigbleiben können.

»Es wurde dir gesagt, daß ich dich sprechen wolle,« fuhr er fort. »Es sei dir hier die Audienz gestattet. Nun sag, um welche Gunst du mich zu bitten hast!«

»Ich höre, daß ich mich im Schattenreich befinde,« antwortete ich. »Es sei die Wahrheit noch so sonnenklar, der Schatten wendet sie gewiß zur Lüge! Mir fiel es nicht im tiefsten Traume ein, mit dir auch nur das kleinste Wort zu sprechen. Du aber ließest mir durch eines deiner Nichtse sagen, daß du den Wunsch besäßest, mich zu sprechen. Wer ist es nun, der Audienz erteilt? Wer ist der Wünschende, und wer ist der Gewährende? Und eine Gunst? Von dir? Für mich? Du bist verrückt! Doch wird es mir vielleicht ergötzlich sein, zu hören, was die Narrheit von mir fordert. Drum sprich!«

Täuschte ich mich, oder war es wirklich so? Seine Höhe nahm wieder ab, auch seine Breite. Und seine Stimme klang nicht so voll und so gebieterisch wie vorher, als er jetzt erwiderte:

»Du sprichst ja ungeheuer stolz, Ustad! Doch werde ich dich schnell zur Demut bringen. Du bist der Erste nicht und sicherlich auch nicht der Letzte! Ich weiß es, was geschah, als du den Berg betratest, das Reich des Zauberers, des Schwachheitshassenden zu sehen. Man warnte dich. Man sagte dir, daß du nur zwischen Schatten oder Tod zu wählen habest. Du kannst trotz alledem. Nun bist du mir verfallen. Nun wähle!«

»Wählen?« fragte ich. »Wer kann es wagen, mich vor eine Wahl zu stellen, die mir von dem, was mir beliebt, nichts bietet! Gibt es hier eine Wahl, so lautet sie: Du oder ich; nichts weiter. Natürlich wähl ich mich!«

Da trat er mir wieder einen Schritt näher und fragte mich in giftig zischendem Tone:

»Nicht Schatten willst du sein? Der Schatten von mir, der ich der Herr und Meister bin, dem Keiner widersteht?«

»Versuch es doch, ob ich nicht widerstehe!«

»So bleibt dir nur der Tod!«

»Der eine deiner größten Lügen ist!« lachte ich. »Mit diesem Tode konntest du nur jene schwachen Köpfe schrecken, die nicht erkannten, daß er nur ein Hirngespinst zu ihrer Knechtung sei. Indem sie ihren Leib vor dieser Vogelscheuche retten wollten, verfielen sie dem Geist- und Seelenmorde. Zeig mir doch diesen Tod, den lächerlichen Schatten, den nur das Leben der Betrognen wirft, weil ihm das falsche Licht der Lüge leuchtet!«

»Du hast ihn schon gesehen!« rief er aus. »Ich stand von Weitem, als du öffnetest und ihm ins kalte, feuchte Antlitz schautest. Wagst du vielleicht, es noch einmal zu tun?«

Da riß ich die Tür auf, zeigte hinaus und sagte:

»Geh doch voran, zu zeigen, wo er steht! Hast du den Mut? Ich laß nicht auf mich warten!«

Es stieg bei diesen Worten in mir ein Entschluß auf. Woher er kam? Ich weiß es nicht. Wohin er führte? Hier durch diese Tür. Ich fühlte, daß seine Kühnheit mir die Wangen rötete und meine Augen leuchten ließ. Und während ich dies empfand, kam mir im Traume das Bewußtsein, daß ich träume und daß ich ich und nicht der Ustad sei. Sonderbar! Auch in den Zügen meines Gegners ging eine sichtbare Veränderung vor. Er sah mich starren Blickes an, erst überrascht, dann verwundert, staunend, endlich gar betroffen. War es ein Wehe- oder ein Jubelruf, den ich hierauf von seinen Lippen hörte:

»Ustad, Ustad – was ist mit dir?! – Dein Gesicht wird ein ganz anderes! – Du bist nicht mehr der Ustad, nein, nein – nein! – Wer aber bist du denn? Etwa der fremde Effendi, der jetzt bei ihm im hohen Hause wohnt und unten im Birs Nimrud verwegen in die Tiefe stieg, um ihr Geheimnis an das Licht zu bringen?«

»Ja, der bin ich,« antwortete ich. »Doch träumte ich bisher, daß ich der Ustad sei.«

Da sprang er auf mich zu, faßte mich am Arme, schüttelte mich und schrie:

»Du träumst, du träumst und bist ein Anderer! Was soll geschehen; was habe ich zu tun! Ich weiß es nicht; ich weiß es wahrlich nicht! Wach auf; wach auf! Ich öffne dir sofort des Berges Tore! Du sollst nicht Schatten sein und auch nicht sterben! Nur eile fort von hier! Ich selbst will dich hinaus ins Freie lassen, damit dein Traum ein frohes Ende nimmt und du zu deinem Körper wiederkehrst, damit er jetzt erwache!«

Da schob ich ihn von mir, sah ihm ruhig in das erregte Angesicht und entgegnete:

»Dieser Körper ruht in Frieden. Er mag weiterschlafen! Warum soll ich nicht vollenden, was ich begonnen habe? Ich bleibe hier! Grad deine Angst zeigt mir, daß ich es bin, der hier Audienz erteilt! Ich fordre jetzt von dir, daß du erfüllst, was du mir drohtest: Mach mich zum Schatten, oder töte mich! Tu das, was du von Beiden fertig bringst!«

Da zog sich seine Gestalt noch weiter zusammen. Doch versuchte er, seiner Stimme die alte Kraft zu geben, als er mir versicherte:

»Wenn du hierauf bestehst, so bist du verloren, denn ich habe die Macht, Beides wahr zu machen! Indem ich dir folgte, ließ ich sämtliche Fackeln hinter dir auslöschen und verbergen. Du hast die einzige in deiner Hand, und sie ist nur noch ein kleiner Stumpf, der kaum noch einige Minuten brennen wird. Dann kannst du meine Schatten nicht mehr scheuchen. Sie drängen sich an dich und nehmen dir den Willen und die Kraft, bis du das bist, was du nicht werden willst: mein Sill!«

»Wer kann mich zwingen! Verlöscht das Licht, so steht die Tür hier offen!«

»Doch draußen auch der Tod!«

»Deine Scheuche! Mich aber schreckt er nicht!«

Was war denn das? Es ging jetzt wie ein frohes, verklärtes Staunen über sein Gesicht. Und doch klang es wie Angst, als er mich aufforderte:

»Du bist also entschlossen, zu sterben, Effendi! So fordere ich dich auf, dich vorzubereiten. Du stehst vor deinem letzten Augenblick und hast dich dem Gebete zuzuwenden. Falte also deine Hände, und sprich nach, was ich dir vorzubeten habe!«

Er legte die seinigen zusammen und sah mich an, als ob er ganz bestimmt erwarte, daß ich diesem seinem Beispiele folgen werde. Ich aber sprach:

»Meinst du, daß ich dich brauche, dich, dich, wenn ich zu beten habe? Für mich ist das Gebet von göttlicher Natur, und darum ist das rechte, wahre Beten wenn nicht die allergrößte, so doch die schwerste und die heiligste der Künste. Hier aber sah ich nichts als Trug und Fälschung, und darum glaube ich, daß du sogar betrügst, indem du betest!«

Da ballte er die Fäuste wie zum Kampfe und schrie mich an:

»So stirb in deinen Sünden und fahre hin zur Hölle!«

Er holte aus und schnellte sich mit aller Kraft auf mich, um mich hinabzustürzen, der ich in fast unmittelbarer Nähe der Tür stand. Ich aber wich blitzschnell zur Seite.

Die Gewalt des Sprunges trieb ihn also, anstatt mich zu treffen, in die Türöffnung hinein. Er brüllte vor Schreck laut auf und faßte hüben und drüben an, um sich zu halten.

»Voran mit dir, damit ich Wort zu halten habe!« rief ich. »Ich laß nicht auf mich warten!«

Ein Stoß von meiner Faust, und er flog hinaus ins Bodenlose. Die Fackel in meiner andern Hand stand im letzten Flackern. Ich schleuderte sie ihm nach. Von unten klang ein Schrei und dann ein dumpfer Schlag. Vor mir die tiefste Finsternis und hinter mir das Grausen aller Schatten! Ich trat auf die Schwelle. Ein einziges Wort, ein allereinziges, klang betend in mir auf. Dann schnellte ich mich, um nicht am Gemäuer anzuschlagen, mit weitem Sprung hinaus in das, was mir als »Tod« bezeichnet worden war.

Die Beine zusammenhaltend, die Arme angezogen und die Augen geschlossen, fuhr ich in eine Eiseskälte, die mich sofort erstarren machen wollte. Aber sie hatte auch noch eine zweite Wirkung: Es war mir, als ob ich in eine Flut der Kraft, des Lebens tauche, die nur im ersten Augenblick erschrecke, dann aber grad das Gegenteil von der Erstarrung bewirke. Der Sprung war hoch gewesen, so hoch, daß ich bis auf den Boden des Wassers niederkam, zu den Verkalkten, die da unten lagen. Dann breitete ich die Arme aus, tat den bekannten Schlag, um wieder hochzukommen, und legte mich hierauf, leicht paddelnd, auf die Flut. Nun horchte ich.

Hier um mich her war Alles still. Jedoch in einiger Entfernung klang das Wasser. Es war, als schwimme Jemand dort und hole ängstlich Atem. Ich kannte wohl die Stelle, an der ich mich befand, jedoch noch nicht die Richtung. Ich war mit dem Gesicht nach Süd herabgesprungen. Hatte ich das beibehalten, so mußte die Mauer hinter mir liegen. Dort schwamm ich hin und fühlte schon nach einigen Stößen den Stein. Das konnte auch ein Pfeiler sein. Darum griff ich mich an ihm hin. Es war die Mauer. Ich hatte sie rechter Hand und lag also mit dem Kopfe nach dem inneren Bassin hin auf dem Wasser.

Von dorther klang Geräusch. Es rauschte, und es stöhnte. War das der »Zauberer«? Hatte er sich gerettet? Kannte er die Oertlichkeit? Wußte er Etwas von dem Kanal? Wenn nicht, so war er verloren, wenn ich ihn im Stiche ließ. Ich schwamm also hin, leise, leise, um ihn nicht durch Zurufe vor der Zeit in Angst zu bringen. Wenn er mich hörte, mußte er denken, daß ich ihn verfolge, und das konnte ihn verwirren, so lange er noch auf offenem Wasser war. Ich berechnete hierbei jeden Stoß und jeden Schlag, den ich tat, um zu wissen, wo ich immer sei.

Als ich nach meiner Schätzung unter der in der Luft hängenden Mauer hindurchgekommen war, hörte ich ein lautes, schweres Atmen, als ob sich Jemand anstrenge, an irgend Etwas emporzukommen. Das war dort beim Riesenpostamente. Ich näherte mich ihm. Nun hörte ich nichts mehr. Dann aber klang eine halblaute, doch hier in diesem akustischen Raume sehr vernehmliche Stimme:

»Ist er tot? Ich hörte nichts! Mein Gott und Herr, laß ihn doch leben! Erhalte ihn, den Ersten, den Allerersten und den Einzigen, der über unsre „Vogelscheuche“ lachte!«

Das war ja ein Gebet! Und zwar für mich! Kein angelerntes, sondern eingegebenes! Da durfte und mußte ich allerdings antworten!

»Ich lebe, denn es gibt ja keinen Tod!« sagte ich in gewöhnlichem Tone, und doch erdröhnte es, als ob es mit aller Kraft der Stimme hinausgerufen worden sei. Die Schallwellen fluteten unter der hängenden Mauer hinaus in das vordere Bassin, und da hörte ich es von Säule zu Säule durch die Finsternis weiter und weiter klingen: »Keinen Tod – keinen Tod – keinen Tod – keinen Tod – Tod – Tod – Tod!«

»Du bist es, Effendi, du?« fragte er.

»Ja.«

»Komm, rette mich!«

»Sogleich! Wo befindest du dich?«

»Da, wo du mich – mich – mich – ich darf es dir nicht sagen. Das muß von selbst geschehen!«

»Was?«

»Komm herauf!« wiederholte er, ohne auf dieses mein »Was?« einzugehen.

Ich erreichte den Sockel. Im Wachen war er mir ganz unersteigbar vorgekommen; jetzt aber, im Traume, gelang es mir fast leicht, mich hinaufzuschwingen. Er hockte auf der einen Seite der Figur; ich setzte mich auf die andere.

»Sei still!« bat er.

»Warum?« fragte ich doch.

»Warte! Es wird kommen. Wir werden auch noch sehen!«

Ich schwieg also.

Wie kam es doch, daß ich nicht fror, obgleich ich mich in dem eiskalten Wasser befunden hatte und nun so still auf dem ebenso kalten Steine saß? Wohl, weil ich doch nur träumte! Es herrschte die tiefste Stille um uns her, und nur von weitem war es, als ob es draußen im vordern Bassin ein leises, leises Flüstern gebe, wie Gedanken, welche aus dem Wasser steigen und lebendig zu werden beginnen. Und aber dieses Wasser! Und die auf ihm liegende, dichte Finsternis! Wie war es doch mit diesen beiden?! Man spricht von Wärme und Kälte. Je größer die Kälte wird, umso deutlicher fühlt man sie als Wärme. Man sagt dann »meine Ohren brennen«. Ist es mit Licht und Finsternis vielleicht so ähnlich? Kann die Finsternis verdichtet werden, so verdichtet, daß sie die Wirkung des Lichtes bekommt? Das schien jetzt hier von unserm Sitze aus der Fall zu sein.

Das war hier nur so im ganz, ganz Kleinen. Aber so wie hier konnte es, freilich im unendlich Großen, gewesen sein, als sich einst am Anfange das Licht von der Finsternis zu scheiden begann. Das Licht wurde aus seiner Gefangenschaft errettet, aus seiner Latenz befreit, aus seiner Verzauberung erlöst und schwamm zunächst als Phosphoreszenz, so fast wie Wasserleuchten, auf dem Dunkel. Dann zog es Fäden, erst feine, doch immer deutlicher werdende Fäden, die nach und nach Maschen bildeten, in denen es wie von geschliffenen Perlen strahlte. Und in gewisser Höhe darüber erzitterte es von märchenzarten, orangebunten Wölkchen, in denen es von Liliputelektrizitäten beständig wetterleuchtete, bis sich die Luft von aller Finsternis gereinigt hatte und eine Schicht entstanden war, in der man endlich, endlich das, was sich in ihr bewegte, sehen konnte.

Und diese Schicht war es, die uns nach einiger Zeit erlaubte, zu bemerken, daß draußen im vorderen Bassin Wellenkreise geworfen wurden, welche unter der schwebenden Mauer hereinkamen und bis zu unserm Postamente fluteten, an dem sie sich leicht kräuselnd brachen.

»Es beginnt!« flüsterte der »Zauberer«.

Das klang so ängstlich, und ich hörte, daß er sich wie nach innen schüttelte. War das nur die Folge seines Sturzes? Oder gab es außerdem noch andere, wohl innerliche Ursachen?

Die erwähnten Wellenlinien wurden enger und bewegter. Es kam Etwas geschwommen. Wer oder was? Menschen auf keinen Fall! Gab es Tiere hier, größere Tiere? Denn nach dem Radius der geworfenen Kreise konnte es kein kleines sein! Da kam es – unter der Mauer hindurch – ein Totenkopf – zwei Schlüsselbeine – zwei halb im Wasser verschwindende Schulterblätter – zwei Knochenarme, welche nach beiden Seiten ausgriffen, um zu schwimmen – Ich kannte das: Es war das Gerippe von dem Säulensteine am zweiten Seitenkanale. Es kam bis fast an das Postament herangeschwommen, hielt da an, schaute zu uns herauf und sagte:

»Nicht bloß Einer – sondern Zwei?! Ihr armen, armen Menschen! Den Leib gerettet, wie ich einst den meinen – auf einen Stein, der kein Erbarmen kennt –! Doch nur für kurze Zeit, bis Ihr verschmachtet, verfluchend niedersinkt und zum Skelette werdet, so wie ich!«

»Wer bist du?« fragte ich ihn.

»Ich bin der erste Fluch, der hier erschallte. Und du?«

»Ich bin vielleicht, vielleicht der erste Segen.«

Da tat das Gerippe mit den entfleischten Armen einen Schlag auf das Wasser, daß es bis an die Lendenwirbel emportauchte, und rief aus:

»Verstehe ich dich recht? Du willst nicht fluchen, sondern segnen, segnen?«

Seine Stimme drang in das vordere Bassin hinaus. »Segnen – segnen – segnen – segnen!« ertönte es dort von Säule zu Säule, wie ein Befehl für die Toten, zu erwachen.

»Das wird sie wecken,« sagte er, »sie alle, alle, alle. Denn solches Wort ist hier noch nicht erklungen!«

Und sie kamen, Viele, Viele, Viele! Unhörbar, vollständig unhörbar! Kopf an Kopf versammelten sie sich hinter ihm! Kopf an Kopf zog ihre Menge sich unter der Hängemauer in die Unsichtbarkeit hinaus. Wie mich das packte, so ungefähr muß es den letzten Menschen sein, wenn der Hammer aushebt, um die Stunde des Gerichtes zu schlagen. Segen oder Fluch? Seligkeit oder Verdammnis! Still war es, still. Keiner der Köpfe regte sich und keines der Wasser bewegte sich mehr. Nur der »Zauberer« hier oben bei mir bebte; denn alle, all die leeren Augenhöhlen waren starr herauf nach uns gerichtet. Und das Gerippe sprach:

»Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem wir stets aus unserm Schlaf erwachen, um zu vollenden, was wir einst beschlossen. Der Tag der Arbeit an dem Werk der Rache!«

Er gab dem letzten Worte einen solchen Nachdruck, daß der Schall desselben im vorderen Becken wie eine Brandung wirkte. »Rache – Rache – Rache – Rache!« wiederholte dort das Echo brüllend. Es folgte ihm ein lautes Knarren, Knattern, Knirschen, als ob der Fels vor dem Zerbersten stehe, und dann klang jener langgezogne, fauchend scharfe Ton, der warnend übers Eis erklingt, wenn Risse sich erzeugen.

»Habt Ihr’s gehört, wie mächtig schon das Wort an Säulen rüttelt?« fragte er zu uns empor. »Wie müssen sie dann erst vor unsrer Kraft erzittern! Wir wuschen seit Jahrtausenden sie aus, zernagten ihre Stärke und kratzten an dem alten Gleichgewicht, bis von ihm nur so viel noch übrig war, daß es verschwinden wird, sobald wir wollen! Das ist die Hälfte unsers Werkes, die Zerstörung!«

»Zerstörung – Zerstörung – Zerstörung – Zerstörung!« donnerte draußen der Widerhall, und das gefährliche Fauchen ging von Neuem durch das zerbröckelnde Gestein der Decke. Denn daß sie bröckelte, hörten wir am Klange des Wassers, in welches die Bruchstücke fielen. Das Gerippe lauschte auf diese Geräusche, bis nichts mehr zu hören war, und sprach dann weiter:

»Doch wir zerstören nur, um zu erzeugen. Vernichten wir da draußen allen Trug, so fordern wir in diesem Traum die Wahrheit. Sinkt dort der Fels zertrümmert in den Tod, so geben wir ihm hier Gestalt und Leben. Und an demselben Tag, da drüben Alles stürzt, wird hier das Wunder neu geboren werden, daß Steine schreien, wenn man Gott nicht hört! Ihr wißt es nicht, bei wem Ihr Rettung suchtet. Es ist der Fluch, an dessen Fuß ihr hockt! Der Fluch, der Fluch, der hier so oft erklungen, daß er des Steines Seele werden mußte! Wir wuschen diesen Stein mit unsern Tränen aus. Wir meißelten mit unsern Fingernägeln. Und von dem Blute Derer, die bei dem Sturz zerschmetterten, bekam der Hintergrund die dunkle Farbe. Nun ist es bald vollbracht. Nur noch zwei Mondestage, den heut und dann noch einen, so sinkt der falsche Segen in die Nacht, und unser Fluch, die Wahrheit, tritt zu Tage! Doch fehlt uns noch das Wort für seinen Sockel, die Zeilen, welche droben sagen sollen, was wir dann nicht mehr selber sagen können, weil wir da draußen mit zerschmettert werden. Und diese Zeilen fordre ich von Euch.«

»Von uns?« fragte ich. »Warum?«

»Es wurde so beschlossen. Der Letzte, der vor der Vollendung kommt, hat auch das Letzte für das Werk zu geben. Das ist die Schrift. Wer ist es von Euch Beiden?«

»Hier mein Gefährte ging voran; ich folgte hinterher.«

»So, also du! Was du bestimmst, wird auf den Sockel kommen. Doch höchstens nur vier Zeilen, keine mehr!«

»Und wenn Euch nicht gefällt, was ich bestimme?«

»Es hat uns zu gefallen und muß genommen werden.«

»Muß?«

»Ja, muß! Jedoch bedenke Eins: Die Seele dieses Bildes ist der Fluch; die Unterschrift wird ihm den Geist verleihen. Gibst du ihm einen Geist, der ihm die Seele stört, so wird das Werk ein Bild des Wahnsinns sein und du zwingst uns, von Neuem zu beginnen. Hast du gehört? Und hast du auch verstanden?«

»Beides.«

»So sprich nun du!«

Ich folgte dieser Aufforderung sehr gern, stand auf, lehnte mich, um nicht hinabzuschlüpfen, an die Figur des Beters und begann:

»Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem er aus dem dunkeln Schatten der Erde tritt, um wieder ihr zu leuchten. Und dieser Tag, so hoffe ich, soll auch für Euch das wiederbringen, was Euch der Schatten dieser Erde nahm – der Sonne goldnes Licht!«

Ich hatte so laut gesprochen wie er, und darum wurde das letzte meiner Worte auch hinausgetragen zu den morschen Säulen, an denen es auch ganz dieselbe Wirkung hervorbrachte, nur daß die glucksenden und klatschenden Geräusche der fallenden Steine dieses Mal viel, viel länger anhielten als vorher. Und hierauf ging statt jenes fauchenden Geklinges ein tiefes Rollen am Gewölbe hin, wie wenn am Horizont ein fernes Donnergrollen das Nahen schwerer Wetter uns verkündet.

»Habt Ihr’s gehört?« so fragte ich hinunter. »Wenn schon mein Wort um so viel stärker wirkt, um wieviel mehr wird erst die Kraft Euch überlegen sein! Ihr selbst gestandet ein, daß Euer Wort Euch mit zerschmettern werde. Glaubt an das meinige, so werdet Ihr von ihm hinaus zur Sonne und an das goldne Tageslicht geführt!«

»An die Sonne? An das Tageslicht?« fragte das Gerippe! »Niemals, niemals werden wir sie beide wiedersehen! Auch du nicht! In keiner Ewigkeit!«

Er hauchte das verzweifelt vor sich hin.

»In keiner Ewigkeit – in keiner Ewigkeit!« so seufzte es ihm nach von Kopf zu Kopf.

»Was höre ich? Ihr gebt ja mir schon Licht!« fuhr ich fort. »Um wieviel mehr kann ich nun Euch es bringen! Nur die Verzweiflung war’s, die Euch zur Rache trieb. Das liegt in Sonnenklarheit hier vor meinen Augen! Die Hoffnungslosigkeit ließ Euch den Fluch ersinnen! Du nanntest uns: „Ihr armen, armen Menschen“; ich aber sag: Ihr armen, armen Geister! Ihr kamt zu diesem Berg, mit Schatten Euch zu streiten. Ihr nanntet Wahn, was Ihr vernichten wolltet. Und doch war es ein noch viel größrer Wahn, der es für möglich hielt, daß es auf Erden Strahlung ohne Schatten und Wahrheit ohne Täuschung geben könnte! Ihr hättet alle Wesen töten und jedes Licht im All verlöschen müssen, und damit nur erreicht, daß dieses All in Finsternis versank. Dann freilich gab es keine Schatten mehr; an ihre Stelle war der eine, einzige, der ewige getreten! Und nicht bloß Wahn, nein, Wahnsinn ist’s gewesen, und Wahnsinn ist es noch in diesem Augenblick, daß Ihr den Schemen flucht, anstatt der eignen Torheit! Wer zwang Euch denn, hinauszutreten in den Schlund, wo jeder Menschengeist den festen Halt verliert?«

»Gab es denn einen andern Weg ins Freie?« fragte er. »Der Eingang war verschwunden!«

»Auch ich sah ihn nicht mehr. Doch wußte ich, daß er sich dem Gebete zeigen werde, auf welches mich der Warnende verwies. Hat er nicht auch zu Euch davon gesprochen?«

»Er sagte es, doch beteten wir nicht!«

»Warum nicht?«

»Ist das Gebet für so erhabne Geister, die wir waren?«

»Für so erhabne Geister! Ach so! Entschuldigt mich! Verzeiht, daß ich, der arme, kleine Mensch, es wage, zu Euch zu sprechen, die Ihr so erhaben seid, daß Ihr nicht einmal mehr mit Gott, dem Höchsten, redet! Wie sehe ich Euch doch so groß und herrlich hier in den Fluten Eures Irrsinns liegen! Ihr kamt mit Ueberhebung zu dem Berge, gingt stolz erhobnen Hauptes durch die Schatten und hobt in selbstbewundernder Vermessenheit den Fuß, auch noch die letzte Türe zu durchschreiten. Und nach dem Sturz in dieses Geistesdunkel, was tatet Ihr? Was habt Ihr unternommen? Ihr wurdet von dem Warnenden auf das Gebet verwiesen. Es hätte Euch sofort das Licht gebracht. Habt Ihr gebetet? Nein, geflucht, geflucht! Und wem habt Ihr geflucht? Etwa dem eignen Wahnsinn, der Euch stürzte? Nein, sondern denen, die sich wehren mußten, weil Ihr es ihnen nicht einmal erlaubtet, zu bleiben, was sie waren – arme Schatten! Ist Einer unter Euch, der etwa glaubt, sich gegen mich verteidigen zu können?«

Es blieb eine Weile still; dann sagte das Gerippe:

»Du wirfst uns vor, daß wir nicht beteten, damit der Eingang sich uns wieder öffne. Sag, betetest denn du?«

»Nein.«

»Hast also ganz dasselbe unterlassen und darum nicht das Recht, uns anzuklagen!«

»Ich unterließ es nicht; ich kam nur nicht dazu. Mich führten überhaupt ganz andre Gründe als Euch in dieses drohende Gemäuer. Ich kam nicht, zu verderben, nein, sondern zu erretten! Auch hatte ich das Ende wohl bedacht und war nicht so verrückt, die Bodenlosigkeit für festen Grund zu halten. Ich habe Alles, was ich sah, studiert, kalt und gemessen, wohlbedacht und ruhig. Und eben als ich damit fertig war, erschien der Zauberer und –«

»Du erschrakst und sprangst herab zu uns!« fiel das Gerippe schnell ein.

»Nein. Ich blieb stehen, ließ ihn herankommen und sprach mit ihm.«

»Du bliebst – stehen? Du sprachst – sprachst mit ihm? Das hat Keiner, Keiner, kein Einziger von uns gewagt! Hast du denn nicht gewußt, daß dieser Zauberer der Wahnsinn ist? Auf wen sein fürchterliches Auge fällt, der wird verrückt, verrückt – sofort verrückt! Wir alle, alle flohen, als er von fern erschien, und das Entsetzen trieb uns hier herunter. Und du bliebst stehn! Hast gar mit ihm gesprochen! Mensch, solche Kühnheit ward noch nicht gesehen!«

»Da wiederhole ich: Ihr armen, armen Geister! Wo bleibt da die Erhabenheit, wenn jeder Unsinn sie in Wahnsinn stürzt!«

»Du kamst doch auch herab!«

»Jawohl, ich kam. Doch aber nicht vor Schreck! Ich sprang aus freiem Willen, ganz ohne Zwang herunter, damit er sehen möge, daß ich nicht ihn und auch den Tod nicht fürchte.«

»Selbst – selbst – selbst heruntergesprungen!« stieß das Gerippe hervor, und das Wasser, in dem es lag zitterte, als ob an und in dem Skelette alles in Erschütterung sei.

»Selbst – selbst – selbst heruntergesprungen!«, so klang es von Kopf zu Kopf bis weit hinaus ins vordere Gewölbe.

»Er fürchtet nicht den Tod!« sagte das Gerippe.

»Nicht den Tod – nicht den Tod – nicht den Tod!« ertönte es hinter ihm weiter und weiter.

»Warte, warte, warte! Wir kehren bald zurück!«

Diese Worte galten mir. Dann setzte sich die ganze Schar in unerwartet schnelle Bewegung, um aus dem hintern Wasserbecken zu verschwinden. Durch das vordere aber ging ein Flüstern, Raunen, Murmeln und Summen wie von vielen Tausenden, die nicht auf dem Wasser, sondern unten auf dem tiefen Grunde miteinander sprächen. Nach einiger Zeit kehrten sie wieder, genau so, wie sie zuerst gekommen waren. Das Gerippe nahm seine alte Stellung dem Sockel gegenüber ein und sprach:

»Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem er aus dem dunkeln Schatten der Erde tritt, um wieder ihr zu leuchten. Und dieser Tag, so hoff ich, soll auch uns das wiederbringen, was uns die Erde nahm, der Sonne goldnes Licht! Du hörst, ich spreche schon mit deinen Worten. Vielleicht geschieht es noch, daß wir nach diesen Worten handeln. Kennst du die Sage vom verzauberten Gebete?«

»Nein,« antwortete ich.

»Nicht! So dürfen wir dir um so mehr vertrauen! Der Letzten einer, welche zu uns kamen, herabgestürzt wie wir, durch eigne Schuld, war vorher drüben in dem Land gewesen, wo seit fast ungezählten, vielen Jahren ein wunderbarer Geist in tiefer Höhle wohnt. Man nennt ihn darum Ruh-y-Kulian, doch, steigt er einmal zu den Menschen nieder, so naht er sich in weiblicher Gestalt, trägt weißes Haar, fast bis zur Erde nieder, und führt den Namen Marah Durimeh. Er traf auf sie in ärmlich kleiner Hütte und sprach mit ihr vom großen Menschheitsweh. Doch war ihm ihre Rede nicht begreiflich, denn was sie sagte, klang so wirr, so falsch, daß er sehr bald sich ärgerlich entfernte, vollständig überzeugt, daß er mit einem alten, verrückten Weib gesprochen habe. Als aber er am nächsten Tag erfuhr, daß ihm das seltne Glück beschieden sei, den Ruh-y-Kulian gesehn zu haben, erschien ihm jedes Wort in andrem Lichte. Er dachte nach, und wie er weiterdachte und das, was sie gesagt, sich wiederholte, stieg in ihm mehr und mehr die Ahnung auf, daß er im Irrtum sei, nicht aber sie. Sie gab ihm, als er ging, die Sage vom verzauberten Gebete auf den Weg. Doch er, der sich für klug und weise hielt, warf sie von sich, als lächerliches Märchen. Erst hier, im allertiefsten Erdenweh, stieg diese Sage wieder in ihm auf, und als wir einst hier an dem Bilde schafften, erzählte er von jenem andern Bilde und von der Greisin Marah Durimeh. Das war für uns der erste Mondestag, nach welchem wir, still hoffend, schlafen gingen. Was wir bisher für ganz undenkbar hielten, das war nach dieser Sage Möglichkeit! Doch schwer, unendlich schwer, weil nicht an eine, nein, an soviel Bedingungen geknüpft, daß sie ein Mensch fast nicht erfüllen konnte. Denn merke wohl, ein Mensch war vorgeschrieben, ein Einziger, der aber Alles tat! Und ohne Ahnung hatte er zu handeln, genau wie du, der nichts von Allem weiß!«

Wie sonderbar! Das klang ja wie ein Märchen!

»Hab ich denn schon bereits Etwas getan, was in der Sage vorgeschrieben ist?« fragte ich.

»Du kamst nicht, um die Schatten zu vernichten. Du hieltest jenem Zauberer fest Stand. Du schenktest dem Gebete vollen Glauben. Du hattest vor dem Tode keine Angst. Du sprangst aus freier Absicht in die Tiefe. Das Uebrige muß noch verschwiegen bleiben, weil du ja ohne Wissen handeln mußt. Doch sag uns jetzt das Eine, furchtbar Eine, vor dem wir beben, sei es „ja“, seis „nein“! Wer stürzte diesen Andern zu uns nieder, der noch kein Wort bisher gesprochen hat?«

»Ich. Er wollte mich hinaus ins Dunkle stoßen. Ich wich ihm aus und gab ihm einen Hieb, daß er es war, der zu Euch niederflog.«

»Und dann?«

»Dann warf ich ihm den Stumpf der Fackel nach und folgte hinterher.«

»Warum, warum, warum sodann auch du?« fragte er schnell und dringend.

»Um ihn vielleicht zu retten.«

»Zu retten! Ihn – ihn – ihn!«

Er warf den Knochenarm als Zeichen der Verwunderung empor und fragte dann fast schreiend:

»Wer ist er aber denn? Sag, wer, wer, wer!«

»Wer, wer, wer!« rief jeder Kopf, und »Wer – wer – wer – wer!« scholl es hinaus, daß alle Säulen dröhnten.

»Der Zauberer!« antwortete ich.

»Der Zauberer!« wiederholte das Skelett, und mit versinkender Stimme fügte er hinzu: »Also doch er, er, er!«

»Er – er – er – er –« verklang es hier im Bassin. Draußen aber war es still, unheimlich still!

Jetzt drehte sich das Skelett den Köpfen zu. Es ging ein hier oben bei mir unverstehbares Wispeln und Lispeln herüber und hinüber. Dann wendete es sich mir wieder zu und sagte:

»Ich weiß, du hattest uns noch viel zu sagen, um uns zu überzeugen, was wir waren, und daß wir durch Jahrtausende hindurch nur unserm Wahn und Hirngespinste dienten. Du hättest uns wohl niemals überführt; da kam die Sage Marah Durimehs und zeigte uns, was wir vorher nicht sahen. Nun muß ich dir gestehn: Du hast gesiegt, gesiegt, noch ehe du zu Ende bist! Soll ich es dir beweisen?«

»Nein. Ich kenne den Beweis.«

»Mensch! Du bist unheimlich!«

»Das glaube ich! „Erhabenen Geistern“ wird es stets beklommen, wenn auch der Mensch einmal zu denken wagt, und können sie nicht auf Gedanken kommen, so wird dann gütigst er um Rat gefragt! Euer Beweis ist der Zauberer. Wenn er in andrer Weise unter Euch geraten wäre, so würdet Ihr statt Geister Teufel sein. So aber steht er unter Menschenschutz und ist darum selbst hier am Bild des Fluches der Menschlichkeit, der früheren, empfohlen!«

»Du sprichst so spitz, wie seine Augen blickten. Du triffst so tief, wie wir ihn treffen wollten. Wir haben es verdient. Vergib uns unsre Schuld!«

»Vergib uns unsre Schuld – vergib uns unsre Schuld!« klang es von Kopf zu Kopf und auch hinaus ins vordere Bassin.

Da bog ich mich in großer, großer Freude so weit wie möglich vor und sprach:

»Was habe ich gehört? Das war ja ein Gebet! Die Seele naht, die Seele Eures Bildes. Der Fluch kann niemals, niemals Seele sein. Und soll der Stein an Gottes Stelle reden, der nichts und nichts und nichts als segnen kann, so gebt ihm Hände, welche benedeien!«

»Und du, gib ihm die Worte für den Sockel!«

»Wann?«

»Jetzt, sogleich!«

»So hört!«

Sie drängten sich zusammen und kamen näher herbei. Dadurch wurde Platz für noch viele von denen, welche draußen waren. Sie kamen herein. Ich sagte, nicht überlaut, doch langsam und vernehmlich:

 »Gesegnet sei, wer nach der Wahrheit suchte
Und ihr zu Füßen auch den Irrtum fand.
Drum leg ich ihn, den ich bisher verfluchte,
Mein Gott und Herr, in deine Gnadenhand!«

Nach diesen Worten gab es da unten im Wasser eine so tiefe Stille, daß ich den befreiten, seligen Atemzug hörte, der mir von drüben, wo der »Zauberer« saß, zugeweht wurde, und hierauf die leise, leise Wiederholung:

»Mein Gott und Herr – in deine Gnadenhand –! Den Irrtum – also mich – mich – mich! Nun nur noch Eins, noch Eins!«

Da regte sich das Gerippe, und es klang wie schluchzend zu mir herauf:

»Er flucht dem Irrtum und der Täuschung nicht! Aber er segnet sie auch nicht, sondern er gibt sie in Gottes Hand! So, genau so will es auch die Sage! Diese Worte müssen unbedingt, unbedingt eingegraben werden! Noch haben wir zwei Mondestage Zeit, des Bildes Rachefaust verzeihend zu gestalten. Es soll die Seele haben, die du ihm geben willst!«

Da stand der Zauberer von seinem Platze auf, hielt sich am Alabaster fest und machte eine Bewegung, als ob er sprechen wolle. Ich aber kam ihm zuvor und fragte hinab:

»So ist also der Rache nun entsagt, und Ihr verzichtet auf den Fluchgedanken?«

»Ja,« antwortete das Gerippe, und »ja, ja – ja!« ertönte es im ganzen Chore nach.

»So habe ich mein letztes Wort zu sagen.«

Ich bog mich hinüber, griff nach des Zauberers Hand und sprach:

»Hier halt ich ihn, den unbedacht Verfluchten. Was er an Andern tat, ist nicht von mir zu richten. Daß er auch mich bedrohte, verzeihe ich ihm gern. Denn ich will ihn aus seiner Finsternis hinaus zum Lichte leiten! Er sei von dieser Schuld erlöst, sei von ihr – frei!«

»Das, das, das war es, das Eine, Eine noch!« hörte ich ihn leise sagen. »Aber was werden nun diese, diese tun da unten?!«

Da schob sich das Gerippe noch einmal weiter vor und richtete seine Worte nicht an uns, sondern an seine Wahngefährten:

»Auch was er uns getan, verzeihen wir ihm gern. Er sei erlöst von seiner Schuld, sei von ihr – frei!«

»Er sei erlöst von seiner Schuld, sei von ihr – frei!« riefen alle, alle Köpfe. Kein einziger war, der schwieg.

»Frei – frei – frei – frei!« erschallte das Echo draußen von Wand zu Wand, von Säule zu Säule.

Und nun erhob auch der Zauberer seine Stimme. Sie klang nicht etwa gedrückt, beklemmt oder gar unterwürfig, sondern hell, rein, klar und selbstbewußt, als ob er es sei, der zu verzeihen habe:

»Ihr gebt mich frei, sagt Ihr? Laßt das die letzte Torheit sein, die hier von Euch geschieht! Wer stürzte Euch? Nicht ich! Es war die Angst vor mir, die Furcht vor dem Gespenste! Dazu der Stolz, der sich zu beten schämte! Ihr dünktet Euch so groß und so erhaben und wagtet es doch nicht, mir Stand zu halten, daß ich euch sagen konnte, wer ich sei! Und wenn ich es nun jetzt Euch sagen wollte, so könntet Ihr es doch unmöglich fassen, weil Geisterwahn nicht schnell, nicht plötzlich heilt. Doch merkt Euch das erlösend wahre Wort: Wer keinen Schatten wirft, der kann kein Wesen sein und wird vom Menschheitskörper nicht empfunden. Wenn eine Schuld, ein Frevel auf mir ruht, so seid Ihr wohl die Letzten, Allerletzten, an die ich mich um Gnade wenden würde. Denn daß Ihr’s wißt: Wer mir verzeiht, hat nur sich selbst verziehen. Und weil Ihr dies getan, so will ich Euern Wahn und Euern Selbstbetrug nicht länger strafen. Ihr habt gesühnt; so geb ich Euch denn Eure Schatten wieder: Es werde also Licht!«

»Licht!« rief ich. »Licht!« rief das Gerippe. »Licht, Licht, Licht!« wiederholten alle die Geister, und »Licht – Licht – Licht – Licht!« klang es hinaus bis in den tiefsten Winkel, und alle Säulen zitterten und bebten.

Da plötzlich war die lichte Schicht verschwunden, die auf der dunkeln Flut gelegen hatte, und Finsternis lag wieder um uns her. Doch es erklang ein Ton, so weich und doch so hell, so lind und mild und doch so siegreich klar. Wo kam er her, und wo ließ er sich nieder? Aus einer andern Welt – im Bilde neben mir. Erst war er nur zu hören, doch bald dann auch zu sehen, ein wunderbarer, heilger Farbenton! Wie Sonnengold, vermählt mit Himmelsblau! Wo seine Quelle lag? Im Alabaster! Das Bild ward nicht von außen her beschienen. Es trug das Licht in sich und warf darum auch keine Spur von Schatten. Erst leise, wie ein Morgenhauch beginnend, entwickelte die reine, keusche Klarheit sich nach und nach zum tageshellen Glanze, so daß es war, als leuchte uns die Sonne. In dieser Helligkeit erschien mir das Gerippe und Alle, die in tiefem Staunen lagen, so fratzenhaft, so schrecklich widerwärtig, daß ich mit meinem Blick von ihnen floh und ihn an der Figur nach oben sandte.

Was ich da sah, das ward noch nie gesehen, weil keine Kunst noch je so Schönes schuf! Doch leider stand ich ja so dicht am Bilde, daß jetzt nur seine Größe auf mich wirkte. Wie klein, wie klein kam ich, der Mensch, mir vor!

Da sprach der Zauberer:

»Es wurde Licht! Soll es nun wachsen, bis es Euch verzehrt? Flieht schnell hinaus, der Schatten wird Euch retten!«

»Es gibt ja keinen Weg; wir sind für ewig, ewig eingeschlossen,« antwortete das Skelett. »Wird dieses Licht zur Schattenlosigkeit, so sind wir alle, alle hier verloren! Die Sage zwar erzählt von diesem Einen, daß er den Schlüssel Hephata besitze, und bis zu diesem Augenblick ist Alles, was sie sagte, eingetroffen, doch diese Felsen und Gigantenmauern sind für das Hephata ja wohl zu stark!«

Da rief ich aus:

»Ich habe ihn, den Schlüssel, und keine Stärke kann ihm widerstehen! Ich war schon einmal hier; da wurde er erprobt. Gebt Raum für uns da unten! Wir kommen jetzt hinab und führen Euch hinaus!« – »Hinaus, hinaus!«, jauchzte das Gerippe.

»Hinaus, hinaus, hinaus!« jubelten die Andern.

»Hinaus – hinaus – hinaus – hinaus!«, frohlockte es im vorderen Bassin, daß alle Säulen dröhnten und Stein um Stein sich vom Gewölbe löste.

Ich sprang in das Wasser, der Zauberer mir nach. Indem die Köpfe sich bemühten, eine Gasse für uns zu bilden, schaute ich zurück und aus dieser weiteren Entfernung an dem Bilde hinauf. Es strahlte schon so stark, daß mich sofort die Augen schmerzten. Da wendete ich mich schnell wieder zurück und griff mit beiden Armen aus, um durch die Wasserflut der Lichtflut zu entgehen. Der Zauberer hielt sich an meiner Seite. Die Andern folgten; Keiner blieb zurück!

Der Glanz drang unter der hängenden Mauer auch in das vordere Becken und verbreitete dort eine Art von Dämmerung, welche mir den Weg genügend deutlich zeigte. Ich schwamm nicht an den Seitenkanälen vorüber, sondern quer zwischen den Säulen hindurch gleich nach dem Hauptkanale, wo der letzte Lichtreflex verloren ging und wir uns infolgedessen in dieser tiefsten Finsternis befanden. Das konnte aber nicht stören, weil der Weg uns durch die engen Seitenmauern vorgeschrieben war. Wir konnten weder rechts noch links abweichen, sondern nur immer vorwärts, vorwärts, vorwärts, und daß die Andern folgten, das hörten wir an ihrem Schwimmgeräusch, welches in dieser steinernen Röhre wie dumpfes Meeresbrausen rauschte.

Viel leichter als früher mit dem Boote kam ich durch das Gestrüpp hinaus ins Freie, in den See. Um Platz zu machen, schwamm ich da erst eine Strecke gerade aus und drehte mich dann um. Der Zauberer war bei mir. Vor mir hielt das Gerippe. Hinter ihm sah ich seine Scharen, die so zahlreich waren, als ob der Kanal sich gar nicht entleeren könne. Es kamen immer mehr, immer mehr aus ihm hervor. Ich sah sie deutlich, denn die Sterne leuchteten, und die schmale Sichel des ersten Viertels stand grad über uns am Himmel. War es möglich, daß alle, alle diese Vielen, die ich erblickte und die noch immer nachdrängten, sich da drin im Berg befunden hatten? Kann es wirklich eine solche Menge von Geistern gegeben haben, die von ihrer Gedankenhöhe stürzten, weil ihnen plötzlich dort der feste Boden schwand?

Endlich, als die Letzten erschienen waren, erhob das Skelett seine Stimme und sprach:

»Heut ist der erste Tag des neuen Lebens, der Tag, an dem das Licht uns wiederkehrte. Wir sind voll Dank und sagen Lob und Preis. Schaut dort hinauf, zur halben Bergeshöhe! Der Mondesstrahl zeigt uns die Rosensäulen; ein Tempel ragt, geweiht dem Dienste Dessen, den unser Hochmut einst nicht anerkannte. Wir haben es gebüßt, jedoch nicht bis zum Ende. Noch ist das Werk des Fluches nicht vollbracht, den wir in Segen umzuwandeln haben. Es soll und muß geschehen, uns zur Buße. Wir haben nun den Schlüssel Hephata. Und was uns tödlich war, des Bildes Eigenlicht, wird sich im Bergesdunkel schnell verlieren. Dann kehren wir zurück und lassen jene Faust, die sich im Grimm des Fluches ballen sollte, zur offnen Hand des Fürgebetes werden. Jetzt aber kommt mit mir hinauf zum Tempel! Adan, der Stern der Erdenmitternacht, erglüht grad über uns am Firmamente. Wir haben also heilge Geisterstunde und müssen dort hinauf, dem einzig Einen zu sagen, daß wir wieder beten werden!«

Er wendete sich schwimmend der Stelle des Ufers zu, von welcher aus man nach dem Weg zum Beit-y-Chodeh kam. Die Andern folgten ihm. Ich aber blieb zurück. Wenn Geister beten, sei der Mensch bescheiden; er kann ihr Kyrie doch nicht verstehn!

Auch der »Zauberer« blieb halten. Wir sahen ihnen eine kleine Weile nach; dann fragte ich:

»Kommst du mit mir ans Ufer?«

»Nicht nur ans Ufer,« antwortete er. »Ich gehe mit dir heim, hinauf in deine stille Denkerklause. Da setzen wir uns an das Sternenlicht, und ich erkläre dir, warum es Schatten gibt und Fehler bei den Menschen. Komm!«

Wir schwammen nach der Landestelle und – sonderbar! als ich da aus dem Wasser stieg, war ich nicht naß; auch mein Gewand war trocken. So auch bei ihm. Er nahm mich bei der Hand. Wir wandelten durch den Duar, den Weg zum Haus empor. Das Tor war zu. Es öffnete sich selbst, sobald wir es berührten. Die andern Türen auch, bis wir in meinem Mittelzimmer standen. Da hörte ich von rechts her ein Geräusch, als ob ein Schlafender sich anders wende. Ich wollte schnell hinaus; er aber hielt mich fest und flüsterte mir zu:

»Du darfst dich noch nicht wecken! Ich habe dir so viel, so Wichtiges zu sagen, daß du erstaunen wirst, wie sicherlich noch nie im ganzen Leben.«

Wir traten auf das platte Dach hinaus und schauten nach dem Beit-y-Chodeh hinüber. Der Sterne Glanz lag auf dem ganzen Tal; der Tempel aber stand in jenem Lichte, das aus dem Alabaster hell ertönte – im Sonnengold, mit Himmelsblau vermählt. Die Geister lagen alle auf den Knieen. Ein süßer Rosenduft umwehte uns. Kam er von drüben? Sollte er es sein, der uns die leise, leise Strophe brachte:

»In allen Himmeln leuchten heut die Sonnen;
Auf allen Erden wird zum Tag die Nacht,
Denn was der Wahn im blinden Haß begonnen,
Wird von der Wahrheit segensreich vollbracht!«

»Hörst du?« fragte der »Zauberer«. »Du wirst es nicht begreifen; ich aber will dir sagen, was sie meinen. Doch sollst du es nicht nur hören, sondern auch sehen. Schau mich an!«

Ich tat es. Was ging da mit ihm vor? Seine Gestalt begann, zu verschwinden, sich wie in Nebel zu verwandeln. Doch nahm dieser Nebel sehr rasch wieder Formen an, und wer, wer stand da vor mir? Nicht mehr er, der »Zauberer«, sondern der »Warnende«, mit dem ich gesprochen hatte, ehe ich in den Berg gestiegen war. Ich sah nicht mehr den weißbehaarten Kopf mit stechend scharfen, kalten Feindesaugen, nein, sondern jene freundlich ernsten Züge und jenen weichen, väterlichen Blick, der bei der Frage, ob ich beten könne, besorgt und doch voll Hoffnung auf mir ruhte.

»Du wunderst dich,« sagte er. »Und doch ist nichts geschehen, was zum Verwundern wäre! Wer geistig Mündel ist, den mag der Vormund warnen. Doch den Erwachsenen, den reifen Denker, den warnt des Irrtums eigne, andre Stimme, die stets die volle, reine Wahrheit spricht. Und dieser ist kein Vormund überlegen! Du hast dein Wort gehalten. Bist weder meinem andern Ich noch jenem Wahn verfallen, der aller Welt den Schatten rauben will, weil er sich selbst für ohne Schatten hält. Du hast mich nicht besiegt und aber doch besiegt. Ich fühle mich verschuldet und werde quitt mit dir, indem ich dich in das Geheimnis führe, daß Beide, Licht und Finsternis, den Tod bedeuten würden, wenn sie sich nicht versöhnt die Hände reichten, grad ihn in ewges Leben zu verwandeln. Darum die Wahl, die keine Lüge war, obgleich es Tod nicht gibt und doch kein Schatten lebt: Tod oder Schatten!«

Er setzte sich; so tat ich’s also auch. Und nun begann er zu erzählen: Ein Menschenleben, ein Geistesleben, und aber doch das ganze Menschheitsleben. Die Sterne wanderten am Himmel weiter; ich sah es nicht; die Zeit war wie für mich nicht mehr vorhanden. Die Sterne schwanden; auch dieses sah ich nicht. Ich achtete allein auf seine Worte. Im Osten stieg der Morgen bleich empor, doch schaute ich nicht hin. Mir war ein andrer Morgen aufgegangen. Nun aber kam der erste Sonnenstrahl und fiel verklärend auf sein Angesicht. Da sprang er auf, zog mich zu sich empor, berührte mit den Lippen meinen Mund und sprach:

»Hier diesen Kuß für den, der drinnen schläft! Komm mit hinein, daß er dich wiederhabe! Du wirst gebraucht. Und ich –? Wohl noch viel mehr!«

Er nahm mich bei der Hand. Schon unter der Tür blieb er nocheinmal stehen und sagte leise:

»Er liegt so still und schläft; ich höre seinen Atem. Sobald du dich ihm nahst, wird er zu träumen haben, was du bei mir erlebtest. Geh langsam, langsam hin, und gib ihm meinen Kuß! Nicht übereilt sei deine Wiederkehr, weil er des Traumes sich nach dem Erwachen genau erinnern soll. Kein Wort sei ihm verloren!«

Ich folgte dieser Weisung und ging nur Schritt um Schritt quer durch das Mittelzimmer, dann durch die offne Tür ins Schlafgemach, in welches grad mit mir der Sonne Licht auch trat. Sein Angesicht begann, sich geistig zu beleben, und dieses Leben ward um so bewegter, je näher ich ihm kam. Nun war ich dort und bog mich zu ihm nieder, gab ihm den Gruß des »Zauberers«, der an der Tür noch stand, und –

– – und erwachte aus dem Schlafe, riß beide Augen auf, sah mich aber schon nicht mehr stehen, sprang eiligst aus dem Bett und dann schnell durch die Tür hinaus ins Mittelzimmer. Der Zauberer war fort, das Zimmer leer und auch das platte Dach!

»Geträumt, geträumt!« rief ich. »Und aber wie geträumt! So deutlich ist noch nie ein Traum gewesen? War das vielleicht ein sogenannter Wahrheitstraum? Es ist ganz so, als hätte ich’s erlebt, als hätte ich es wirklich durchgemacht. Ich sehe Alles noch. Ich höre jede Silbe. Ich werde es mir rekapitulieren. Dann setze ich mich her, es zu Papier zu bringen. Man kann nicht wissen, ob –«

Infolge dieser Arbeit war es ziemlich spät, als ich mein Frühstück nahm. Dann ging ich hinab, um zunächst mit Schakara zu sprechen. Sie saß in der Halle, ganz allein, sich einen Schleier säumend.

»Hat dir Marah Durimeh vielleicht einmal die Sage von dem „verzauberten Gebet“ erzählt?« fragte ich sie.

Sie sann nach und antwortete dann:

»Nicht mir, sondern einem Fremden. Das war im Dorfe Ohtian des Stammes Bulanuh.«

»Wer war der Fremde?«

»Das weiß ich nicht mehr, habe es vielleicht auch gar nicht gewußt. Er gefiel mir nicht. Es war eine alte Frau gestorben, die weit draußen vor dem Dorfe in einer elenden Hütte lebte. Niemand bekümmerte sich um die Leiche, weil sie eine Tumasa gewesen war. Da nahm Mara Durimeh mich mit; wir hielten Totenwache. Ich war noch klein und erst seit Kurzem ihre Schülerin. Der Fremde reiste durch das Dorf und hielt da draußen vor der Hütte an, denn Marah Durimeh saß vor der Tür und fiel ihm auf. Als er auf einige Fragen Antwort bekommen hatte, stieg er vom Pferde, um noch weiter mit ihr zu sprechen. Er kam auch einmal herein, spuckte aber vor der Leiche aus. Warum, das weiß ich nicht. Das, was er sagte, war so gelehrt, daß ich es nicht verstehen konnte, und so hochmütig, daß ich die Tote leise bat, ja nicht auf ihn zu hören, weil es die Sammlung störe, die ihr jetzt nötig sei. Das war der Mann, dem Marah Durimeh die Sage, bevor er weiterritt, mit auf die Reise gab.«

»Also ist es noch gar nicht so lange her, daß jene „Letzten“ in die Tiefe stürzten!«

»Ich verstehe dich nicht. Was meinst du da?«

»Das erzähle ich dir nachher. Kannst du mir die Sage wohl berichten?«

»Leider nein. Ich merkte sie mir nicht. Ich war so jung, sie aber tief und mir ganz unverständlich.«

»Wie schade, jammerschade!«

»Warum.«

»Leg deine Arbeit weg, und komm mit mir hinaus zur Pferdeweide! Da sind wir ungestört. Ich träumte heut, und wenn der Geist in solcher Weise träumt, kann er es seiner Seele nicht verschweigen.«

Wir gingen durch den Garten nach dem Steine, an dem wir schon einmal gesessen hatten. Dort setzten wir uns nieder. Ich erzählte. Sie hörte zu, ganz still, ganz still, doch zeigte sich in ihren dunkeln Augen, den wunderbaren und geheimnisvollen, von Zeit zu Zeit ein Glanz, der mich an jenes Eigenlicht des Alabasters mahnte  – wie Sonnengold, vermählt mit Himmelsblau. Und auch als ich geendet hatte, blieb sie noch immer still. Sie hatte ihren Kopf zur Seite an den Stein gelehnt und hielt die Augenlider fest geschlossen. Ich störte sie in ihrem Sinnen nicht und wartete geduldig, bis sie sprach. Sie tat es, ohne ihren Blick zu öffnen:

»Ich sehe eine Linie, von rechts nach links gezogen. Am Ende rechts gibt’s eine Sonnenglut, die Alles, was da lebt, verbrennen würde, wenn es so unbesonnen wäre, sich ihr zu weit zu nähern. Das linke Ende taucht in eine Finsternis, die jeder Kreatur mit augenblicklicher Vernichtung droht. Die Linie ist unser Menschenleben. Zu weit nach rechts, zu weit nach links bringt sicheres Verderben. Grad in der Mitte liegt die Unverletzlichkeit und auch die Durchschnittslänge der geworfnen Schatten. Wer diesen Durchschnitt haßt, der wendet sich nach einer von den Seiten. Nun denke nach, Effendi, denke nach! Stehst du vielleicht grad in der Mitte?«

»Ich hoffe es nicht,« antwortete ich.

»So bist du also kühn, vielleicht sogar verwegen! Betrachte deinen Schatten! Wird er zu klein? Wird er zu groß! In beiden Fällen ist’s um dich geschehen! Weißt du es nun, wozu die Schatten sind? So sag ich nur als Mensch, als ungelehrtes Weib. Die Allmacht aber wird wohl noch ganz andre Gründe haben, warum sie Finsternis und Licht vermählte und beiden die Erlaubnis gab, im Zwielicht unfaßbare Schemen zu erzeugen und an der Sonne jene äffenden Gebilde, die uns als Schatten sagen, daß wir sind.«

Nun schlug sie die Augen auf, sah mir so lieb, so herzlich in die meinen, hielt mir das kleine, aber feste Händchen her und sagte:

»Gib mir jetzt einmal deine Hand!«

Ich tat es. Da fuhr sie fort:

»Erlaube mir, daß ich für diese Schatten bitte! Verfahre nicht so streng, wie du wahrscheinlich wolltest. Du weißt ja wohl, daß Schatten keinen Willen haben!«

Da mußte ich doch lächeln!

»So ist es also wahr, daß sich die Seele immerdar erbarmt, selbst wenn der Geist auch nicht den kleinsten Grund zur Milde findet! Wer keinen Willen hat, den darf man billig schonen, doch aber den, der ihm den Willen nahm, den trete man zu Boden!«

»Trotz deines Traumes heut –? Und trotz des Zauberers –?« fragte sie.

»Trotz alledem! Ich glaube, daß ich diesen Traum verstehe. Er kam zwar aus dem Schattenreich zu mir, doch war er keinesweges selbst ein Schatten. Ich träumte ihn beim ersten Sonnenstrahl und fühlte ihn verschmolzen mit mir selbst, von gleicher Wesenheit mit meinem eignen Wesen. Er hat mich viel gelehrt und handelt in mir weiter. Der Schatten, der mich vor sich selber warnt, ist Menschenfreund, ist ohne Falsch, ist ehrlich. Er rettet mich vor fremden Gaukeleien und auch vor meinen eignen Truggebilden, und Wahnsinn wäre es, wenn ich ihn hassen wollte. Für ihn hast du gebeten, Schakara. Du siehst, es war nicht nötig! Gebeten aber hast du nicht für Andre, für welche ich dein Auge schärfen möchte. Ich meine jene pfiffigen Gesellen, die sich als Schatten stellen, doch aber keine sind. Die stets verführten – Verführer! Die in Demut zerfließenden – Tyrannen! Die tugendreinen – Sünder! Die opferbereiten – Feinde! Die aufrichtigen – Heuchler! Die arglos treuherzigen – Schlangen! Und noch viele, viele tausend Aehnliche, die sich sofort als Schatten des nächsten Gegenstandes in Sicherheit bringen, wenn du zur Fackel greifst, sie anzuleuchten. Sie flüchten sich vollständig waffen-, wehr- und willenlos in irgend eines Starken Schutz und Schirm. Er sinkt und sinkt und sinkt; sie aber steigen. Und dann, wenn er am Abgrund steht, von aller Welt verlassen, nur nicht von Dem, der liebevoll den Fuß erhebt, um dankbar ihn vollends hinabzutreten, erkennt er endlich, aber viel zu spät, daß sie nichts weniger als arme Schatten waren. Die Willenlosigkeit war höchste Energie, die Schwäche nur die Maske der Gewalt, und jede Bitte, welche er gewährte, in Wahrheit ein Befehl, dem er gehorchen mußte. Das Allerschlimmste aber ist, o Schakara, daß diese Büberei nie eignen Schatten wirft, weil sie ja stets im Schatten Andrer schwelgt. Darum erscheinen diese Fleckenlosen der heiligen Einfalt drei- und zehnmal heilig, und wenn sie noch dazu so glücklich sind, vor ihrem Tode nicht entlarvt zu werden, so glaubt die liebe, liebe Unvernunft, daß sie an ihnen viel, sehr viel verloren habe, der Himmel aber viel, sehr viel gewonnen! Wenn die Ruinen da erzählen könnten! Ich sah im Traume, wie man sich verkroch! Da ging ich ruhig weiter. Doch, sollte das Geträumte sich erfüllen, so wird statt nur gefackelt, dann geleuchtet! Du weißt, wie gut wir hier versehen sind: an Fackeln fehlt es nicht!«

Hier wurde unser Gespräch unterbrochen. Drüben in den Ruinen, im obern Teile derselben, erschien nämlich Kara Ben Halef. Er sah uns sitzen und winkte uns zu, daß er zu uns kommen werde. Er ging nicht grad auf dem Glockenpfade, sondern er stieg über das Gestein gleich quer herab und kletterte an einer verwitterten Mauerstelle zu uns herauf.

»Effendi, ich habe einen Gefangenen!« sagte er.

»Wie? Einen Gefangenen?« fragte ich. »Hat man hier im tiefsten Frieden Gefangene zu machen?«

»Ist das Friede, wenn Jemand sich nicht friedlich zu mir verhält?«

»Wer ist es?«

»Kein Dschamiki, sondern ein Fremder. Ich kenne ihn nicht, und er weigerte sich, Auskunft zu geben.«

»Wo?«

»Da drüben, in einer der alten Kirchen. Ich ging heut schon sehr früh wieder einmal durch die Ruinen. Man spricht im Duar davon, daß es dort wohl noch versteckte Plätze und verborgene Dinge gebe, die man noch nicht entdeckt habe. Ich bin derselben Meinung. Die vertriebenen Massaban, die in dem Gemäuer hausten, kennen es wahrscheinlich besser als wir, da sie dort ihre Schlupfwinkel hatten. Und wer zu dieser Sorte von Menschen gehört, weiß besser Bescheid, als jeder Dschamiki. Darum muß uns jeder Fremde, der die Ruinen ohne unser Wissen betritt, verdächtig erscheinen. Folglich war ich sofort argwöhnisch, als ich in so früher Morgenzeit Schritte hörte, die sich der Stelle näherten, in der ich mich befand. Das war in dem runden Quaderturme, der trotz seiner starken Mauern schon fast in sich zusammengestürzt ist. Es führt nur eine Tür hinein, keine andere hinaus. Ich stand in der Nähe derselben und drückte mich fest an die Wand, um nicht sogleich gesehen zu werden. Der, welcher kam, trat ein. Ein hagerer Mann, nicht groß, aber stark; das habe ich dann gespürt. Er fühlte sich so sicher, daß er sich gar nicht umschaute, und ging zum nächsten, großen Brocken der eingefallenen Mauer, um sich da niederzusetzen. Dabei drehte er sich um und mußte mich nun sehen. Ich war schnell an den Eingang getreten, um ihm die etwaige Flucht zu versperren. Er erschrak, nahm sich aber zusammen und fragte mich, wer ich sei und was ich hier wolle. Das klang so gebieterisch, als ob er der Herr an diesem Orte sei. Und als nun aber ich Auskunft forderte, wurde er grob und warf sich plötzlich auf mich, um zu entkommen. Dabei hatte er ein langes Messer gezogen und schrie mich an, daß er mich sofort erstechen werde, wenn ich nicht darauf verzichte, ihn festzuhalten. Er stach auch wirklich zu. Schau hier, den Schlitz im Aermel! Das war auf das Herz abgesehen! Ich entging der Gefahr aber durch eine schnelle Wendung, entriß ihm die Waffe, warf sie fort und rang ihn auf den Boden nieder. Das war aber nicht leicht. Dieser Mensch besaß viel Kraft und Gewandtheit. Er rang meisterhaft, ruhig, still, den Atem berechnend und jeden Griff genau überlegend, ohne dabei ein einziges Wort zu sagen. Es scheint mir, als habe er schon oft in dieser Weise um seine Freiheit oder gar um sein Leben ringen müssen. Er hatte Uebung! Aber er kam trotz aller Mühe nicht auf; ich hielt ihn unter mir, bis seine Kräfte schwanden und ich dadurch eine Hand frei bekam, ihm die Halsader zusammenzudrücken. Da stockte ihm das Blut im Kopfe; er wurde ohnmächtig. Zwar nur für ganz kurze Zeit, aber das genügte mir, ihn zu binden.«

»Womit?«

»Die Arme, nach hinten gezogen, mit den Flügeln seiner eigenen Perserjacke. Die Beine schnallte ich ihm mit seinem Gürtel zusammen. Er kann sich nicht befreien.«

»Untersuchtest du seine Taschen?«

»Ja. Sie waren leer. Er hatte nichts bei sich gehabt, als nur das Messer. Dann eilte ich fort, um dir diesen Vorgang zu melden. Als ich in das Freie kam, sah ich dich hier sitzen. Nun bestimme, was geschehen soll, Sihdi!«

»Zunächst das Eine: Kein Mensch darf davon wissen, am allerwenigsten Pekala. Ich ahne, wer dieser Fremde ist, nämlich ein entflohener Verbrecher, welcher uns im Auftrage des Scheik ul Islam ausspionieren soll. Ich muß ihn selbst sehen. Du führst mich also zu ihm, holst aber vorher einige feste Riemen oder Stricke aus dem Hause, doch heimlich. Für so einen Menschen genügen die jetzigen Fesseln nicht.«

Kara ging nach dem Hause. Ich fand es sehr erklärlich, daß Schakara mich bat, uns nach dem Turme begleiten zu dürfen, und erlaubte es sehr gern. Mein Plan war schon fertig. Dieser Spion verriet uns freiwillig sicher nichts. Er mußte gezwungen werden. Und da gab es ein Mittel, welches vielleicht sogar dem Teufel den Mund geöffnet hätte! Aber das konnte nur im Geheimen angewendet werden, und darum war es mir lieb, daß Schakara mitging. Ihre Anwesenheit gab der Sache den Anschein eines bloßen Spazierganges, der keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen hatte.

Als Kara wiederkehrte, schlenderten wir also nach dem Glockenwege und dann auf schmalem, aber bequemem Wege bis grad zum Quaderturm, um den es sich handelte. Sein eigentliches Tor war längst schon zugemauert. Wir konnten nur durch das Nebengebäude zu der Tür gelangen, von welcher Kara gesprochen hatte. Als wir durch sie getreten waren, sahen wir den Gefangenen liegen. Der Blick, den er auf uns richtete, war nicht etwa verlegen, sondern trotzig, und geradezu unverschämt klang es, als er uns sofort entgegenrief:

»Ihr habt mich augenblicklich freizugeben! Ich bin ein hochgestellter Mann, kein Lump, den man in dieser Weise behandeln darf! Gib mich frei, Effendi!«

Ah, der kannte mich ja schon! Also scharfe Augen und feine Ohren! Aber pfiffig war es keinesweges, es mir zu verraten! Ich blieb vor ihm stehen und fragte ruhig:

»Wer bist du?«

»Das sage ich nur dir allein!«

»Woher?«

»Auch das nur dir!«

»Was willst du hier?«

»Auch das darf Niemand wissen, als nur du!«

»So? Dann mag ich es überhaupt nicht wissen! Kara, binde ihn fester, aber so, daß ihm die Schwarte knackt! Wer uns mit solcher Frechheit kommt, der sehe zu, was für ihn daraus entsteht!«

Der Hadeddihn kniete zu ihm nieder, zog das Zeug aus der Tasche und begann, ihn fester zu schnüren. Da rief der Fremde aus:

»Ich bin ein Abgesandter des Schah-in-Schah!«

»An wen?«

»An den Ustad, also an dich!«

»Und kommst nicht offen und direkt zu mir, sondern versteckst dich hier wie ein Verbrecher?«

»Ich habe meine Gründe!«

»Das glaube ich. Aber auch ich habe welche, und diese gelten, nicht die deinigen!«

»Ich kam zu Eurem Glück zu Euch!«

»Und stichst mit dem Messer auf meine Leute? Wir danken für solches Glück!«

»Du bist ein Christ. Darum sage ich dir: Ich komme als Missionar!«

»Willst uns wohl Frieden predigen? Heil verkündigen?«

»Ja!«

»Das kennen wir! Sorg für dein eignes Heil; das unsere liegt in den besten Händen!«

Das brachte ihn zum Schweigen. Er schien zu überlegen. Kara vollzog seine Arbeit so gut, daß dem »Missionar« alle Glieder zu schmerzen begannen.

»Er hat das Messer gegen dich gezogen, um dich zu erstechen,« sagte ich. »Das bestrafe ich mit dem Tode. Wirf ihn dort hinter die Steine! Da mag er liegen, bis er in den Duar geschafft wird, um gehenkt zu werden.«

Hierauf wendete ich mich nach der Tür, scheinbar um zu gehen. Das wirkte.

»Bleib hier, Effendi!« bat er. »Ich werde antworten!«

Ich ging weiter. Da schrie er auf:

»Effendi, Effendi, geh nicht fort! Ich gebe dir Auskunft, und du wirst dich freuen!«

Da drehte ich mich um, langsam, wie widerwillig, und befahl:

»So antworte kurz auf das, was ich dich frage! Anderes mag ich nicht wissen. Seit wann bist du jetzt hier?«

»Seit dieser Nacht. Ich kam, als in dem Duar schon alle Leute schliefen.«

»Warst du schon öfters hier?«

»Vor einem Jahre zum ersten Male. Seitdem in jedem Monat nur einmal.«

»Sonst nicht?«

»Nein.«

»Du warst also vor einem Monate zum letzten Male da?«

»Ja.«

»Kamst heut in dieser Nacht und weißt doch so genau schon, wer ich bin? Wer täuschen will, muß besser lügen können!«

»Ich wußte nicht, wer du bist; ich vermutete es nur. Effendi, glaube mir!«

»Gibt es bei uns Jemand, auf den du dich berufen kannst?«

»Pekala und Tifl.«

»Wer noch?«

»Niemand.«

»So ist es schlecht um dich bestellt. Tifl ist ein Abtrünniger und Pekala eine Plaudertasche, die Alles verraten wird, was sie von dir weiß!«

»Das mag sie immerhin! Sie weiß von mir nur Gutes. Ich habe eine Mission vom Schah und bin sein Diener, bin sein Auserwählter. Als Bote seiner Liebe und auch zugleich der wahren Menschenliebe, bin ich gekommen –«

»Um deine eigentliche Absicht zu verstecken,« fiel ich ein, »hier Jahre lang von unsrer dummen Pekala zu leben und dann den Frieden deines falschen Schah uns mit dem Messer vorzuschreiben!«

»Meines falschen Schah?« fragte er. »Ich verstehe dich nicht!«

»Wenn du mich nicht verständest, wärest du sogar noch dümmer als Pekala, die es gewiß und wahrhaftig glaubt, daß ihr Aschyk imstande sei, ihr bei dem Schah die Wonnen aller Paradiese zu vermitteln. Doch mich betrügst du nicht mit dieser deiner Seligkeit! Uns ist der Schah in Wirklichkeit bekannt, doch in den Löchern Teherans, in denen du und deinesgleichen steckst, lernt man ihn niemals kennen. Dich schickt der Scheik ul Islam, doch nicht der Schah-in-Schah!«

Da reichte seine ganze Frechheit nicht aus, den Schreck zu verbergen, der über sein Gesicht zuckte.

»Der – Scheik – ul – Islam –!« wiederholte er. »Wie kommst du auf diesen Gedanken?«

»Ich habe es aus seinem eignen Munde, und wenn ich dir das sage, so ist es wahr! Willst du es eingestehen?«

»Nein, denn es ist Lüge!« schrie er zornig auf.

»Es ist wahr! Und ich sage dir: Nur kurze Zeit, so wirst du mich auf deinen Knieen bitten, die Beichte anzuhören, welche du mir jetzt verweigerst. Für hier und jetzt bin ich mit dir fertig!«

Kara hatte ihn derart gefesselt, daß an einen Fluchtversuch gar nicht zu denken war. Dieser Verführer unserer strahlenden »Festjungfrau« versuchte zwar noch immer, uns zu einem andern Verhalten gegen ihn zu bereden, doch vergeblich. Er wurde zwischen die hier liegenden, hohen Steinhaufen gesteckt, und dann gingen wir. Als wir dann draußen im Freien standen, sagte Schakara, indem sie mich fast ängstlich anschaute:

»Wie streng du sein kannst, Effendi, wie unerbittlich kalt und streng! Das wußte ich noch nicht.«

»Meine Freundin, es handelt sich hier nicht um mich, sondern um das Wohl und Wehe vieler, vieler Menschenkinder,« antwortete ich. »Da hat etwas ganz Anderes zu sprechen, als das, was man „das Herz“ zu nennen pflegt. Auch ist das Schicksal dieses Mannes ja noch nicht fest bestimmt. Es steht in seiner Hand. Er kann sich retten, wenn er Reue zeigt. Und grad das, was ich mit ihm vorhabe, ist geeignet, ihn am schnellsten zu dieser Reue zu führen.«

»Was wird das sein?«

»Ich gebe ihm ein Gefängnis, wo er sich zu entscheiden hat: Wahnsinn oder Reue. Weiter gibt es dort nichts.«

»Wo?«

»Unten im Bassin, im finstern Bergesinnern, ein kalter, nasser Sitz auf jenem Stein, auf dem wir das Skelett gefunden haben. In solcher Art Gesellschaft wird man mürbe!«

»Entsetzlich, entsetzlich! Effendi, bist du ein Mensch?«

»Schakara, Schakara! Ich will ihn retten. Und wer den Ausweg aus der innern Hölle nur durch die äußre Hölle finden kann, dem muß man diese öffnen. Mit Baklawa das Raubtier zähmen wollen, ist Unsinn und bringt doppelte Gefahr. Wir lassen ihn bis nachts im Turme liegen und schaffen ihn sodann an Ort und Stelle. Ich wette, daß es gar nicht lange dauert, so tut er das, was ich ihm voraussagte: Er bittet mich um die Genehmigung, mir seine ganze Schuld gestehn zu dürfen. – Was sehe ich da unten im Duar? Ist etwa Pferdemarkt?«

»Nicht Markt, doch aber Schau, und zwar für unser Rennen. Der Chodj-y-Dschuna hat sie anbefohlen. Ein jeder Dschamiki, der sich beteiligen will, muß sich mit seinem Pferde bei ihm melden. Hierauf wird dann die Rennbahn abgesteckt, und Jeder kann sich üben nach Gefallen.«

»So gehen wir hinab! Ich machte sehn, was sich für Kräfte stellen.«

»Wird dich das nicht zu sehr anstrengen?« fragte Schakara.

»Keinesfalls. Ich fühle, daß ich neues Blut besitze, und neues Blut bringt immer neue Kraft, im Körper wie im Geiste. Ich fand noch nie bei einem andern Kranken, daß die Genesung sich so wunderbar beeilte, wie sie bei mir es tut. Was ich noch vor drei Tagen für ganz unmöglich hielt, das kommt mir jetzt, wo ich die Fläche überblicke, die vielen Pferde unten stehen sehe und rechts da drüben meinen Assil schaue, in meiner Stimmung recht gut möglich vor – ihn gegen unsre Feinde selbst zu reiten.«

»Effendi, welch ein Gedanke!« rief Kara aus, indem seine Augen leuchteten. »Wenn das mein Vater hört, läßt es ihn schnell genesen!«

»Nur nicht sogleich entzückt! Ich bin noch viel zu schwach, kann höchstens daran denken, jedoch bestimmen nichts. Trotzdem, trotzdem, trotzdem! Nimm die Begeisterung, die Euch beseelen wird; denk auch ans Andere: daß wir geschlagen werden, von Ritt zu Ritt besiegt von solchen Gegnern, und stelle dich dann vor die letzte Tour, die das Verlorne wiederbringen kann, so werfe ich mich auf den schlimmsten Gaul und reite mit, daß alle Knochen fliegen, die seinen und die meinen, bis miteinander wir zusammenbrechen, wir beide tot, jedoch am Ziel – als Sieger!«

Wir kehrten nicht erst nach dem hohen Hause zurück, sondern gingen in entgegengesetzter Richtung hinüber nach den Steinbrüchen und den dortigen, breiten Weg hinunter in den Duar. Das war ein Jubel, als man uns bemerkte! Die Begeisterung, von welcher ich gesprochen hatte, schien sich schon heute eingestellt zu haben. Es gab so viele, fernwohnende Dschamikun, die mich noch nicht gesehen hatten. Die drängten sich alle, alle herbei, und jeder von ihnen hatte es ganz besonders darauf abgesehen, uns zu versichern, daß wir das Rennen unbedingt gewinnen würden.

Wir gingen mit dem Chodj von Pferd zu Pferd. Ein jeder Besitzer war bemüht, uns von den Vorzügen des seinigen zu überzeugen. Darum freute es mich, daß der Chodj sich als vortrefflicher Kenner zeigte. Er ließ sich nicht durch Worte enthusiasmieren, blieb kalt, bedächtig, überlegen und wies Alles zurück, was keinen Erfolg versprach. Aber grad dadurch erreichte er, daß unser Vertrauen stetig wuchs, und als wir zu Ende waren und er uns nach unserm Urteile fragte, konnte ich ihm zu seiner wie auch meiner Freude sagen:

»Das Material ist gut. Nicht nur im gewöhnlichen Sinne, sondern sogar in Beziehung auf den ungewöhnlichen Zweck. Nachdem ich diese Pferde gesehen habe, bin ich unbesorgt. Ich habe nicht gewußt, daß die Dschamikun so viel des edelsten Blutes besitzen, und kann die Gegner nicht begreifen, daß sie gewagt haben, mit uns anzubinden.«

»Der Grund ist leicht einzusehen,« antwortete er. »Sie prahlen mit ihren Pferden, geben ihnen hochtrabende Namen, wie zu Beispiel „das beste Pferd von Luristan“, bringen die Stammbäume derselben unter das Publikum und verbreiten über ihren unschätzbaren Wert so viele und so vollmäulige Geschichten, daß es schließlich Niemand mehr wagt, daran zu zweifeln. Jeder, der doch vielleicht noch den Mut besitzt, eine Wette einzugehen, tut dies aber unter dem Drucke der Angst, höchst wahrscheinlich besiegt zu werden, und da die Angst niemals zum Guten führt, so stellt sich stets auch hier die Niederlage ein. Man verliert; aber nicht das Pferd ist schuld, sondern die Furcht, welche die Energie und Geistesgegenwart des Reiters lähmte. Bei uns aber ist das anders. Wir sprechen nicht von unserer Zucht; ja, wir halten sie sogar und ganz geflissentlich geheim. Und besondere Stammbäume? Wozu diese, wenn überhaupt alles edel ist? Und das ist es ja, was wir erreichen wollen und erreichen werden! Auch wissen wir nur allzu gut, wie oft solche Stammbäume täuschen, zumal bei fortgesetzter Binnenzucht. Darum greifen wir fleißig nach außen hin, um zu verbessern, zu veredeln. Sodann hüten wir uns vor prunkenden Namen. Sie sind doch bloß nur Sand, den man schließlich sich selbst in die Augen streut. Kein vernünftiger Mensch glaubt mehr an Namen. Darum wählen wir zur Benennung grad unserer allerbesten Pferde nur Worte, welche möglichst schüchtern, ja oft sogar herabsetzend klingen, dabei aber eine bessere, tiefere Bedeutung haben, die nur von uns selbst, aber von keinem Fremden verstanden wird. Das wirst du noch sehen. Denn unsere Hauptrenner sind heut noch gar nicht hier, weil eine Prüfung bei ihnen nicht nötig ist. Aus allen diesen Gründen ist man über das, was wir besitzen, fast gar nicht orientiert. Frag draußen im ganzen Lande herum, ob wir imstande sind, ein großes Rennen gegen auswärtige Pferde zu gewinnen. Man wird lächeln, sogar über Sahm, deren Name übrigens der einzige ist, der nicht verschwiegen klingt, und dir sagen, daß man uns Ritt auf Ritt besiegen würde. Doch mögen sie nur kommen. Wir wissen, was wir haben, und verstehen, es zu reiten. Und was die Angst betrifft, nun, lähmen wird uns nichts. Weißt du, wer unser bester Reiter ist?«

»Wohl du?«

»O nein, o nein, sondern der Ustad selbst. In dem Augenblicke, an welchem er den Sattel berührt, ist er nicht mehr der Ustad der Dschamikun, sondern etwas ganz, ganz Anderes. Er gleicht dann einem plötzlich jung gewordenen Djinni, dem jede Faser des Pferdes untertänig ist, und wer es mit ihm aufnehmen will, der wagt mehr, als er denkt! Hierbei fällt mir ein, dir zu sagen, daß der Scheik ul Islam einen Eilboten heim nach Chorremabad geschickt hat, natürlich nicht von hier, sondern von unterwegs aus, denn wir sollten höchst wahrscheinlich nichts davon erfahren. Aber dieser Bote traf auf einen unserer Pferdehirten, begann aus Rache für unser Verhalten hier ein Wortgefecht mit ihm und war dabei so unvorsichtig, sich zu verraten. Er rief dem Hirten höhnisch zu, daß wir verloren seinen, weil Ghulam el Multasim zum Ustad der Takikurden erhoben werde. Hältst du das für möglich oder nur für eine Lüge, um uns zu ärgern, Effendi?«

»Ghulam el Multasim, der Bluträcher, der Ertappte und Ueberführte, der vollständig Ehr- und Gewissenlose – Ustad der frommen, kurangerechten Takikurden? Warum soll das nicht möglich sein? Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, nachdem ich den Scheik ul Islam kennen gelernt habe. Dergleichen Leute sind zu Allem fähig. Warten wir es ruhig ab! Geschieht es wirklich, so kann es uns nur nützlich sein.«

»Nützlich? Uns? Dieser Mensch an der Spitze unserer neidischesten Feinde?«

»Ja. Denn wird man einmal zum Kampf gezwungen, so ist es besser, man hat den ganzen Pöbel hübsch beisammen, weil man die Hiebe dann umso dichter fallen lassen kann. Es sollte mich freuen, wenn es würde!«

Da begann es in den buschigen Brauen des Chodj-y-Dschuna zu spielen; seine Augen leuchteten auf, und er sagte in frohem Tone:

»Dank sei Chodeh! Ich sehe immer mehr, daß wir uns keinesfalls zu sorgen brauchen. Ich habe dir bereits gesagt, daß ich hier verschiedene Stellen bekleide. In gewissem Sinne bin ich auch so etwas Aehnliches wie Sypahsalar und weiß also genau, was es bedeutet, wenn wir das „Dschamikun in Waffen!“ rufen. Ich wittre Krieg. Hast du vielleicht den Wunsch, einmal Heerschau zu halten?«

»Allerdings; aber ich versage mir seine Erfüllung. Es würde Aufsehen erregen, und ich wünsche aber sehr, daß man uns für unvorbereitet halte. Man soll unbedingt der Meinung sein, uns vollständig zu überrumpeln. Sei noch verschwiegen! Wir werden uns zur rechten Zeit besprechen, sobald ich meine, daß sie gekommen sei. Die Fäden sind bereits in meinen Händen.«

Da kam der Pedehr, zur Schau leider zu spät, doch versicherte er, sich der Sache umso eifriger anzunehmen. Er war oben im Walde in seiner Jagdhütte gewesen und versprach mir in liebenswürdigster Weise, gleich neben der seinigen auch für mich eine bauen zu lassen und sie mir zu schenken.

Hierauf trennten wir uns, und ich ging mit Schakara und Kara Ben Halef heim. Der Letztere hatte seinen täglichen Uebungsritt zu machen, und die Erstere bat ich, von jetzt an ein Auge auf Pekala zu haben und sie zu verhindern, etwa nach den Ruinen zu gehen. Oben angekommen, besuchte ich meinen Halef und seine Hanneh.

Sie hatten sich da oben auf dem ebenen Dache der Halle vortrefflich eingerichtet und freuten sich über diese meine erste Visite hier in ihrem »Duar«, wie sie es nannten. Ich sage »sie«, denn Halef schlief nicht, sondern war wach. Als ich mich zu ihm gesetzt hatte und ihm zärtlich über die abgemagerten Hände strich, sagte er:

»Mein lieber, lieber Sihdi! Ich habe gehört, daß jetzt du der Herr des hohen Hauses bist. Wie kannst du das Alles nur versorgen, ohne daß ich imstande bin, dir mit zu helfen!«

Seine Stimme klang verhältnismäßig kräftig; sein Atem versagte nicht mehr, und seine Augen hatten wieder Leben.

»Sorge dich nicht!« antwortete ich. »Ich brauche keine Hilfe.«

»Aber du bist ja selbst noch krank und schwach!«

»Krank nicht mehr, sondern gesund, vollständig gesund. Und was die Schwäche betrifft, so fühle ich, daß sie mit jeder Stunde geringer wird. Ich erhole mich mit einer Schnelligkeit, die zum Erstaunen ist, und hoffe, daß dies nun auch bei dir der Fall sein werde.«

Als ich hierauf von der Pferdeschau erzählte, war es, als ob das zugleich heilende Medizin und stärkende Nahrung sei. Und das wirkte augenblicklich. Seine Wangen bekamen Farbe und seine Züge fast lebhafte Beweglichkeit. Das Wettrennen war der Punkt, an welchem für ihn die Spannkraft neu geboren zu werden schien. Darum blieb ich mit ihm bei diesem Gegenstande, bis er ermüdete und schließlich die Augen schloß, um mitten im Gespräche einzuschlafen. Inzwischen war es Mittag geworden, und ich aß mit Hanneh und Schakara in der Halle.

Dann, als ich hinauf in meine Wohnung kam und das Tal überschaute, sah ich zahlreiche Reiter ihre Pferde auf der Rennbahn tummeln, was von jetzt an jeden Tag und zwar von früh bis abends geschah. Ich blieb den ganzen Nachmittag oben, auch zum Abendessen, welches ich mir heraufbringen ließ. Kara wußte Bescheid. Ich hatte ihm denselben während unserer Heimkehr von der Pferdeschau erteilt. Er stand, als alle Andern, Schakara ausgenommen, schliefen, mit neuen Fackeln unten im Hofe bereit.

Wir gingen erst hinab nach dem Landeplatze, um die Fackeln in das Boot zu legen. Es war der zweite Tag des neuen Mondes, die Sichel am Himmel schon breiter und heller als gestern. Sie leuchtete uns. Nun benutzten wir den schon früh erwähnten, breiten Steinbruchweg, von welchem aus die hier ebene Fläche bis zu dem Quaderturm hinüberführte. Da dieser eingestürzt war und also oben offenstand, war es auch in ihm mondeshell. Für den Nebenbau, durch welchen wir mußten, hatte Kara ein Talglicht mitgenommen, welches angebrannt wurde.

Der »Aschyk« lag noch genau so, wie wir ihn verlassen hatte. Es war ihm unmöglich gewesen, sich zu bewegen. Man sollte denken, daß diese Qual, verzehnfacht durch den Schmerz, den die scharfen Fesseln verursachten, ihn veranlaßt hätte, sich gefügig zu zeigen. Das war aber keinesweges der Fall. Am Morgen hatte er seine Zuflucht schließlich doch zur Bitte genommen; nun aber schien er sich das wieder anders überlegt zu haben. Er empfing uns mit Vorwürfen, sprach von seiner »Botschaft des Friedens«, nannte sich wiederholt den »Auserwählten«, den »Missionar«, ohne dessen Hilfe wir verloren seien, und erdreistete sich endlich gar, zu sagen, daß er uns verzeihen und bei dem Schah-in-Schah für uns bitten wolle, wenn wir unsere Fehler einsehen und sofort verbessern würden. Ich machte durch dieses blöde, prahlerische Geschwätz einen Strich, indem ich ihn summarisch fragte:

»Kennst du den Scheik ul Islam persönlich?«

»Nein, nein, nein!« behauptete er zornig.

»Hast nichts, gar nichts mit ihm zu tun?«

»Nichts, nichts und dreimal nichts!«

»Bist nicht in seinem Auftrag hier bei uns?«

»Nein, nein und tausendmal nein!«

»Gut! Jetzt bin ich überzeugt; aber wovon, das wirst du sehen. Wir geben dir jetzt die Füße frei, doch weiter nichts. Du hast mit uns zu gehen, gehorsam, still, wenn du den Tod vermeiden willst. Wir wissen mit entsprungenen Verbrechern umzugehen und kehren uns nicht daran, daß sie im Schutz des Scheik ul Islam stehen! Merkst du etwas?!«

Da sagte er nichts mehr! Kara nahm ihm die Riemen von den Beinen und ließ ihn aufstehen. Er wankte infolge der Blutstockung so, daß er gehalten werden mußte. Doch als wir ihn erst einmal draußen im Freien hatten, bekam er nach und nach immer festern Schritt. So kamen wir den Berg hinab und an die Landestelle. Als er aufgefordert wurde, in den Kahn zu steigen, weigerte er sich und begann, wieder laut zu werden. Da warf ihn Kara einfach nieder, zwang ihm ein Stück mitgebrachtes Zeug als Knebel in den Mund, fesselte ihm die Beine wieder und schob ihn dann hinüber in das Boot, um ihm dort die Augen zu verbinden. Dann stiegen wir ein und ruderten nach dem Kanale.

Als wir das Gestrüpp am Eingang desselben hinter uns hatten, wurde die Fackel angebrannt und in das erwähnte Loch gesteckt. Erst schoben und dann ruderten wir uns weiter, bis wir das vordere Bassin erreichten. Der Aschyk sollte nicht wissen, wo der Weg zur Freiheit zu suchen sei, denn es war meine Absicht, ihn von den Fesseln zu befreien, und er konnte vielleicht ein guter Schwimmer sein, obgleich dies von einem binnenländischen Perser, dessen Mutter Erde ihn so trocken behandelt, nicht zu vermuten war. Darum trieben wir das Boot in das Becken hinein, bis der Kanal nicht mehr zu sehen war, und nahmen ihm dann die Binde von den Augen. Der Knebel verhinderte ihn am Sprechen und sein Gesicht lag so im Schatten, daß wir weder die Augen noch das Spiel der Mienen beobachten konnten, doch nahm ich an, daß der Anblick dieses schauerlichen Ortes von nicht geringem Eindruck auf ihn sein werde. Um diesen zu verstärken, nahmen wir uns die Zeit zu einer vielfach verschlungenen Rundfahrt. Da er auf dem Boden des Fahrzeuges lag, sah er nur, was oben war, und mußte also die Größe des Beckens in hohem Grade überschätzen. Das wollte ich!

Als ich meinte, daß es genug sei, hielten wir bei dem Steine an, auf welchem das Gerippe lag, dasselbe Gerippe, welches in meinem Traume so vorzüglich schwimmen konnte und so viel gesprochen hatte. Nun aber war es still. Die Beine eng und fast bis zu den Rippen emporgezogen, grinste es uns an, als ob es sich trotz seines Schweigens freue, einen Gesellschafter zu bekommen, der diese entsetzliche Einsamkeit mit ihm zu teilen habe. Er aber sah es nicht und ahnte es auch nicht.

Wir schoben, damit er das Skelett nicht sofort bemerken möge, das Boot nach der andern Seite des Steines. Kara legte den obern Teil seines Anzuges ab, um ihn nicht zu beschmutzen, und kletterte hinauf. Ich packte den Gefangenen am Genick und richtete ihn empor. Er war fast so starr wie eine Mumie und hatte die Augen zu. War das Ohnmacht, Schreck oder nur Verstellung? Kara faßte ihn von oben; ich schob nach; so brachten wir den Aschyk mit größerer Leichtigkeit hinauf, als zu vermuten gewesen war. Ich hatte angenommen, daß er sich möglichst widersetzen werde. Nun wurden ihm die Fesseln ab- und der Knebel aus dem Munde genommen. Dann stieg Kara wieder zu mir herunter und wickelte ein Paket auf, welches mit den Fackeln zusammengebunden gewesen war. Es enthielt für mehrere Tage Brot. Er warf es hinauf.

Bis jetzt hatte der Gefangene ruhig gelegen; nun aber regte er sich. Er tastete zunächst wie blind umher. Dann richtete er, auf die Hände gestützt, den Oberkörper auf, starrte erst rundum in die gähnende Finsternis hinein und dann zu uns herunter und stieß dann einen Schrei aus, dessen Echo wie aus Wahnsinnstiefen von allen Säulen widerklang.

»Was ist das hier, was, was, was, was?« heulte er. »Die Hölle, in die wir unsere Opfer stürzten! Die Finsternis, über welche wir lachten, wenn wir von oben herablauschten und die Körper auf das Wasser schlagen hörten! Und da liegt Brot, Brot, Brot! Gibt es denn hier noch gute Geister, die sich sogar des Teufels noch erbarmen, wenn er in der Verdammnis zu sich kommt?«

Er betrachtete uns. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt, doch nahm es allmählich einen andern Ausdruck am. Die Wirkung des Schreckes begann zu weichen. Er besann sich.

»Du bist es, Effendi, du!« rief er in fast frohem Tone aus. »Also doch anders, anders als ich dachte! Was soll ich hier? Warum habt Ihr mich an diesen Ort gebracht?«

»Du gehörst hierher,« antwortete ich. »Der Mörder zu den Ermordeten!«

»Ich, ich – mordete nicht! Das waren Andere! Diese meine Hand ist frei davon. Ich habe sie nie, nie, nie zum Sturze hergegeben! Sie ist vom Morde rein, rein, rein!«

Er hob die Hand wie zum Schwure empor.

»Aber geliefert hast du die Opfer und schadenfroh auf ihren Fall gelauscht. Was ist wohl teuflischer als das! Nun hast du Zeit zum stillen Weiterlauschen! Sie kommen, sie kommen, diese Opfer; darauf verlasse dich! Du wirst sie hören, du Friedensbote unseres Schah-in-Schah! Es ist dir hier der ganze Raum und alle Zeit gegeben für das, was sie mit dir zu reden haben. Wir lassen dich allein; wir werden dich nicht stören!«

Ich griff zum Ruder, Kara auch.

»Halt, halt! Bleibt!«,schrie er auf.

Das Boot begann, sich zu bewegen.

»Nicht fort, nicht fort – nicht fort ohne mich! Ich muß mit, mit, mit!« bat er.

Ganz so, wie wir unten um die Säule bogen, kroch er oben in gleicher Richtung weiter. Da sah er das Skelett und brüllte förmlich auf:

»Der Tod, der Tod – leibhaftig, als Gerippe! Hinweg, hinweg, hinweg! Das halte ich nicht aus!«

Er erhob sich auf die Kniee, streckte uns die Hände nach und flehte:

»Erbarmen, Effendi, Erbarmen! Hier gehe ich zu Grunde!«

Da hielt ich an und antwortete:

»Was habe ich dir heut früh vorausgesagt? Du werdest auf den Knieen liegen und mich um was für eine Erlaubnis bitten?«

»Dir mein Geständnis machen zu dürfen!« jammerte er.

»Nun gut! Ich habe mein Wort erfüllt. Was tust du nun, um dich zu retten?«

»Die Wahrheit sagen. Weiter kann ich nichts!«

»So sprich!«

Ich tat einen Ruderschlag, um ihm wieder näher zu kommen. Sobald er dieses Zeichen der Geneigtheit sah, kehrte ihm der verlorene Mut zurück. Noch vor dem Gerippe schaudernd, von dem er sich ab- und zu uns wendete, wagte er doch, von Neuem zu lügen und zu leugnen:

»Ich weiß, du prüfst mich nur, Effendi. Du willst sehen, ob ich ein Mensch bin, der sich Unwahres ersinnt, um sich zu retten, und wirst mich dann, wenn ich es nicht tue, nur um so höher schätzen. Ich habe mit dem Scheik ul Islam wirklich nichts zu tun. Nimm mich jetzt wieder mit, und führe mich in dein Haus, so werde ich dir die Beweise geben, daß ich nur zu Euerm Glück zu Euch gekommen bin. Ich teile dir alle Geheimnisse dieser Ruinen und die sämtlichen Absichten Eurer Feinde mit. Ihr wandelt schnurgerad in das Verderben. Ich aber zeige Euch den Rettungsweg! Die Faust ist hoch erhoben, die Euch treffen soll. Wenn nicht schon heut, so fällt sie doch ganz sicher morgen auf Euch nieder. Ich aber, der ich Alles weiß, werde als Euer Beschützer bei Euch wohnen und –«

»Und dann mit deiner Pekala beim neuen Schah in Isphahan erscheinen!« fiel ich da ein. »Du Narr! Das war die letzte deiner falschen Karten. Zu denken, daß wir diesem Trumpfe glauben, nachdem wir alle andern schon als falsch erkannten, ist nicht mehr Wahnsinn, ist Vermessenheit! Fort, Kara, nur fort!«

Uns von ihm abwendend, senkten wir die Ruder. Einige kräftige Schläge und der Stein lag schon im tiefsten Dunkel.

»Halt, halt! Ich will gestehn, gestehn – gestehn!« schrie es hinter uns, und alle Säulen hallten es wider.

Wir kehrten uns nicht daran und überließen ihn der Finsternis, die nicht nur um ihn, nein, auch in ihm gähnte. –

  1. Band III pag. 267.

Erstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Zu jener Zeit lag an der damaligen, jetzt vollständig vertrockneten Mündung des Flusses die alte Stadt Teredon oder Diridotis, welche wegen der Fruchtbarkeit ihrer Gegend Jahrhunderte lang von den Arabern zu den vier Paradiesen der Moslemin gerechnet wurde. Sie stand seit Nebukadnezar bis zur Zeit der macedonischen Diadochen in Blüte und ist auch uns besonders dadurch bekannt, daß Nearchos, der Jugendfreund Alexanders des Großen, im Herbste des Jahres 325 mit seiner Flotte vom Indusdelta herüberkam und hier in Teredon landete. Zwischen diesem Handelsplatze und Basra entstand ein Wettbewerb, aus welchem die damals noch junge Khalifenstadt als Siegerin hervorging; Teredon verödete, meist wohl auch infolge der allmählichen, aber unaufhaltsamen Versandung des Flusses, während Basra als Stapelplatz der nach Bagdad bestimmten Waren zu solcher Bedeutung gelangte, daß der persische Golf das »Meer von Basra« genannt wurde.

In einer wohlangebauten Gegend liegend und unter dem besondern Schutze des Khalifen stehend, kam diese Stadt nicht nur zu großem materiellen Reichtum, sondern auch zu hohem litterarischen Ruhme, weil die hervorragendsten Dichter und Gelehrten der moslemitischen Welt sich hier zusammenfanden, besonders nachdem Ibn Risaa, der Gefeierte, da eine der ersten Gelehrtenschulen gegründet hatte. Die geistige und geistliche Bedeutung dieser Akademie war eine so hohe, daß Basra durch sie den Ehrennamen Kubbet el Islam, Kuppel des Islam, erhielt. Diese Herrlichkeit war aber nicht von langer Dauer; die Stadt ging an demselben Schicksale zu Grunde, welchem ihre einstige Rivalin Teredon erlegen war, der mit der Zeit unerbittlich fortschreitenden Austrocknung des Flusses, wozu sich auch höchst ungünstige politische Verhältnisse gesellten. Jetzt besteht die »Kuppel des Islam« nur aus zwischen Ruinen liegenden armen Hütten und ist, obgleich Ausgangspunkt der nach Arabien bestimmten Karawanen, fast bedeutungslos. Sogar den Namen hat es eingebüßt; es wird jetzt Zobe ïr genannt, nach einer kleinen Grabmoschee, welche auf der Stelle steht, wo der gleichnamige Parteigänger von Muhammeds Witwe A ïscha den Tod gefunden hat. Übrigens ist das alte Basra auch dadurch interessant, daß Muhammed als Knabe seinen Oheim Abu Taleb auf einer Reise hierher begleitete und da mit einem christlichen Mönche Namens Dscherdschis (Georgius) zusammentraf, der sich viel mit ihm beschäftigte und dann den Onkel auf die geistigen Anlagen des Neffen aufmerksam machte. Wahrscheinlich ist hier die Wurzel zu den christlichen Anschauungen zu suchen, deren Blüten so oft im Kuran zu entdecken sind.

Basra liegt jetzt ungefähr zwei Meilen nordöstlich von der alten Stadt. Wer etwa infolge von »Tausend und eine Nacht« in poetisch gehobener Stimmung ankommt, der sieht sich von einer so unpoetischen Mis ère umgeben, daß er schon in der ersten Stunde wünscht, den Schauplatz süßer Märchen so bald wie möglich wieder verlassen zu können. Zunächst liegt die Stadt leider nicht direkt am Flusse, sondern eine halbe Stunde davon an einem stagnierenden und darum übelriechenden Wasser. Der Ort bietet dem Auge des Besuchers nur die Zeichen des Verfalles; er steht auf versumpftem Grunde, welcher gefährliche Miasmen erzeugt. Die jahraus, jahrein hier brütenden Fieber sind so berüchtigt, daß z.B. die Versetzung eines Beamten von Bagdad nach Basra für eine Verurteilung zum sichern Tode gehalten wird. Kein einheimischer Arzt kennt ein wirksames Mittel gegen diese Fieber, und da auch unsere Medizinen sich als machtlos erweisen, so kommt auch der Europäer nur, um schnell wieder zu gehen. Die Bevölkerung, noch in den zwanziger Jahren auf wenigstens sechzigtausend geschätzt, kann jetzt kaum den zehnten Teil davon betragen, und wenn es hier nicht den Kut-i-Frengi für die großen Seedampfer gäbe, welche den Handelsverkehr zwischen Mesopotamien und Indien vermitteln, so würde Basra an seiner jetzigen Stelle bald vergeblich zu suchen sein.

Obgleich ich das alles sehr wohl wußte, war ich doch mit meinem Hadschi Halef hierhergekommen, um Alt-Basra zu besuchen und dann aber ja nicht zu verweilen, sondern über den Schatt el Arab und Qarun zu setzen und dann am Ufer des Dscherrahi oder auch Ab Ergun in die Berge zu reiten, durch deren Pässe dann ein Weg nach Schiras zu suchen war. Meine Leser wissen, daß ich früher schon einmal mit Halef in Basra gewesen bin.1 Wir hatten schon damals die Absicht, nach Persien zu gehen, waren aber auf die Pilgerstraße nach Mekka abgelenkt und dann ganz verhindert worden, diesen Vorsatz auszuführen. Was wir dabei in Alt-Basra erlebt hatten, war so interessant, daß wir jetzt diese Gegend nicht berühren wollten, ohne die Stätte wieder aufzusuchen. Heute waren wir von diesem Ritte zurückgekehrt und saßen nun unweit der Zollgebäude in dem Kahwe, welches neben dem Thore in der Mauer liegt. Wir hatten die Pferde in dem engen, schmutzigen Hofe stehen und warteten auf den Fährmann, der uns an das linke Ufer des Schatt el Arab bringen sollte. Der liebe Mann hatte uns abgewiesen und auf später vertröstet, weil er vorhin jemand hinübergerudert habe und sich nun erst einmal tüchtig ausruhen müsse. Dieser Zeitverlust um einer so albernen Ursache willen war ärgerlich, mußte aber ruhig hingenommen werden, da der Starrkopf unsern Einwand, daß wir selbst rudern wollten und er dabei ruhen könne, mit der Widerrede beantwortete, daß er seine Ruder nur für sich und nicht für andere Leute habe. Aber wie jede Verdrießlichkeit auch eine gute Seite hat, so sollte es sich auch in diesem Falle zeigen, daß die Verzögerung nicht ohne freundliche Folgen für uns sei. Ja, sie brachte uns eine Ueberraschung, wie wir sie uns größer und besser gar nicht hätten wünschen können.

Ich muß bemerken, daß die Wände des Kaffeehauses grad so wie diejenigen der Zollgebäude aus geflochtenem Rohre bestanden. Es gab zwei Räume, einen größern und einen kleinern; wir saßen ganz allein in dem letzteren und konnten durch die dünne, lückenreiche Scheidewand alles, was in dem ersteren vorging, sehen und auch alles deutlich hören, was gesprochen wurde. Bis jetzt waren einige Leute dagewesen, nun aber wieder gegangen. Der Wirt saß faul auf seinem Kissen, hatte die ausgegangene Tabakspfeife auf den Knieen liegen und sah schläfrig vor sich hin. Der junge Somali, welcher der Bedienung der Gäste obzuliegen hatte, war beschäftigt, die Tschibuks, die an der Wand hingen, einen nach dem andern herabzunehmen, um sie zu stopfen; sie waren für die rauchlustigen Gäste bestimmt. Es war sehr still hier in den Räumen, auch draußen: nur zuweilen hörten wir einen lauten Kommandoruf, welcher auf dem Verdecke des englischen Dampfers erscholl, der gegen Abend die Anker lichten wollte, um nach Karatschi und Bombay zu gehen. Dann ertönte die begrüßende Stimme einer kräftigen Schiffspfeife. Es kam ein neuer Dampfer an, ob von oben herab oder von der See herauf, das wußten wir nicht, weil wir ihn nicht sehen konnten. Dieses Schiff brachte uns die Ueberraschung, welche ich vorhin erwähnte. Es waren seit dem Pfeifensignale kaum zehn Minuten vergangen, so hörten wir, daß ein neuer Gast in das Caf é trat.

»Sallam!« grüßte er kurz.

»Sallam aale ïkum!« antwortete der Wirt in müdem, gleichgültigem Tone.

Wir hatten gar keinen Grund, uns um die Besucher dieses Hauses zu bekümmern, aber die Langeweile des Wartens veranlaßte uns, durch die Lücken der Scheidewand einen Blick auf den Eingetretenen zu werfen. Kaum hatten wir das gethan, so wollte Halef aufspringen; er öffnete den Mund zu einem Ausrufe der Verwunderung; ich aber bedeckte ihm die Lippen schnell mit der Hand, drückte ihn auf sein Sitzkissen nieder und raunte ihm zu:

»Still, ganz still, Halef! Das ist eine außerordentliche Begegnung; auch ich freue mich so darüber, daß ich laut werden möchte, aber wir wollen warten; er ist allein und ich möchte gern beobachten, wie er, der weder arabisch noch türkisch versteht, sich benehmen wird.«

Der Mann, auf den sich diese meine Worte bezogen, war eine Person, die schon an jedem Orte des Abendlandes und wie viel mehr hier in diesem Winkel des Orientes die Aufmerksamkeit auf sich ziehen mußte. Seine Gestalt war überaus lang und knochig. Ein hoher, grauer Cylinderhut saß auf seinem schmal ausgezogenen Kopfe. Ein unendlich breiter, dünnlippiger Mund legte sich einer Nase quer in den Weg, die zwar scharf und lang genug war, aber dennoch die Absicht verriet, sich noch weiter, bis zum Kinn hinab, zu verlängern. Wenn ich dazu bemerke, daß diese Nase von den Spuren einer einst auf ihr gesessenen Aleppobeule verschönert wurde, so wird man wohl schon jetzt erraten, wer dieser Gast des Kaffeehauses war. Der bloße, dürre Hals ragte lang aus einem sehr breiten, umgelegten und tadellos geplätteten Hemdkragen hervor; dann folgte ein graukarrierter Schlips, eine graukarrierte Weste, ein graukarrierter Rock, graukarrierte Beinkleider, graukarrierte Gamaschen und staubgraue Zugstiefeletten. Um seine Taille ging ein graukarrierter Gürtel, in welchem mehrere Revolver und Messer steckten. Von der einen Schulter bis zur andern Hüfte zog sich hinten und vorn eine schmale, graukarrierte Patronenkatze herab. Auf dem Rücken hing in einem graukarrierten Ueberzuge ein ungewöhnlich großes Gewehr, und in der Hand trug er ein kleineres, welches auch in einer graukarrierten Umhüllung steckte.

Dieser graukarrierte Mann ging steif und würdevoll auf eines der an den Wänden liegenden Sitzkissen zu und bog die Kniee ein, um sich in orientalischer Weise mit untergeschlagenen Beinen auf dasselbe niederzulassen, verlor dabei aber aus Mangel an Uebung und Ueberfluß an Ungelenkigkeit das Gleichgewicht und kam mit weit ausgespreizten Beinen und einem kräftigen Plumpse derart auf das Kissen nieder, wie ein regelrechter Europäer regelrecht zu sitzen hat.

»Thunder-storm?« rief er, darob zornig, aus, besann sich aber sogleich eines Bessern und rief dem Somali in befehlendem Tone das eine Wort zu:

»Tschibuk!«

Der ostafrikanische Jüngling nahm eine der Pfeifen, die er gestopft hatte, schob die Spitze in den Mund, legte ein Stück glühende Holzkohle auf den Tabak, sog den letzteren in Brand und reichte dann dem Fremden den Tschibuk mit einer graziösen Bewegung hin.

»Chanzier!« fuhr ihn dieser an und schlug ihm die Pfeife aus der Hand, daß sie dem Wirte vor die Füße flog.

Dieser begriff den Grund dieses hier seltsamen Verhaltens und erklärte dem Nikotin-Ganymed:

»Der Fremde ist ein Inglis, der den Tschibuk nicht aus deinem Maul haben will; er brennt sich den Tabak selber an.«

Infolge dieser Belehrung holte der Somali eine andere Pfeife und andere Kohle. Der Engländer griff zu und that einige Züge; da machte seine Nase eine energische, sich sträubende Bewegung, worauf diese zweite Pfeife hin zur ersten flog.

»Was ist’s?« fragte der Wirt. »Warum wirfst du auch diesen Tschibuk weg?«

»Duchan miserabel!« antwortete der Gefragte.

»Du sprichst vom Tabak, aber ich verstehe dich nicht. Was bedeutet das andere Wort?«

»Duchan batall!« lautete nun der ganz arabische Bescheid.

»Ich habe keinen bessern. Wenn es dir bei mir nicht schmeckt, so kannst du gehen!«

»Kahwe!« befahl hierauf der Gast, der ruhig sitzen blieb.

Der Somali ging zum stets brennenden Mangal, bereitete eine Tasse Kaffee und brachte sie ihm. Der Inglis roch daran, that versuchsweise einen kleinen Schluck, goß dann die Tasse aus und rief mit einer Gebärde des Abscheues:

»Kahwe battal dschiddan

»Wenn er dir nicht schmeckt, so kannst du gehen!« meinte der Wirt im orientalischen Gleichmute, fügte aber vorsichtig hinzu, »nachdem du vorher bezahlt hast!«

»Kaddaisch tamano?« erkundigte sich der Engländer.

»Ischrin kurusch – zwanzig Piaster.«

Das war eigentlich eine Prellerei und sollte eine Strafe für das beleidigende Verhalten des Gastes sein. Dieser zog gleichmütig ein Geldstück aus der Tasche und warf es hin; der Somali hob es auf und brachte es dem Wirte. Als dieser Miene machte, herauszugeben, deutete der Engländer durch eine wegwerfende Handbewegung an, daß er nichts wiederhaben wolle. Den erstaunten Gesichtern der beiden andern war deutlich anzusehen, daß der zurückgewiesene Ueberschuß ein bedeutender war.

Ich wunderte mich gar nicht über diese Generosität, die meinem alten, braven David Lindsay zur zweiten Natur geworden war. Lindsay – da habe ich nun doch verraten, wer dieser graukarrierte Fremde war! Ja, man denke sich mein und Halefs Erstaunen und unsere Freude, Lord Lindsay so unerwartet hier zu sehen! Ich wußte, daß er jetzt jahrelang nicht in seinem Altengland gewesen war; er hatte sich immerwährend auf Reisen befunden und mir vor vierzehn Monaten aus der Kapstadt den letzten Brief geschrieben. Wohin er sich von dort aus wenden wolle, hatte er nicht erwähnt. Nun kam er heut plötzlich hier hereingestiegen, ganz genau in demselben eigentümlichen Habitus, in welchem ich ihn damals in Maskat, und zwar auch in einem Kaffeehause2, zum erstenmal gesehen hatte!

Und mehr noch als über diese Begegnung an sich, war ich über seine Sprache erstaunt. Wir waren damals so lange, lange Zeit durch die verschiedensten Gegenden des Orientes geritten und hatten hier und da so langen Halt gemacht, daß eine Anbequemung an die betreffenden Sprachen und Sitten doch eigentlich selbstverständlich gewesen wäre; aber es war dem »veritablen Englishman« nicht einmal im Traume eingefallen, sich auch nur etwas von den Gewohnheiten und der Ausdrucksweise der Leute, mit denen wir zu verkehren hatten, anzueignen. Weil er Engländer war, glaubte er, in jeder Beziehung durchaus nur englisch sein zu müssen, und gab sich nicht die geringste Mühe, ein türkisches, arabisches, kurdisches oder persisches Wort im Gedächtnisse zu behalten. Daß er Deutsch verstand und sprach, wäre ein Wunder zu nennen gewesen, wenn ihm diese Kenntnis nicht schon während seiner Knabenzeit von einer deutschen Verwandten mütterlicherseits beigebracht worden wäre. Er hegte die unerschütterliche Ueberzeugung, sich selbst auf dem fernsten und unbekanntesten Erdenpunkte mit englischem Wesen und ausschließlich englischer Sprache leicht und mühelos bewegen zu können, und war der Ansicht, daß auch das geringste Abweichen von dieser Gepflogenheit eine Beleidigung seiner Nation bedeute. Diese Einseitigkeit war uns oft in hohem Grade unbequem geworden. Wenn man sich mit einem Begleiter, der die Sprache und die Sitten des Landes nicht kennt und versteht, unter fremden, vielleicht gar nur halb civilisierten Völkerschaften bewegt und dabei oft das Unglück hat, in gefährliche Lagen zu geraten, so versteht es sich ganz von selbst, daß die Anwesenheit eines solchen Gefährten, und wenn er sonst der beste Mensch der Erde wäre, nicht nur hinderlich und störend, sondern unter Umständen sogar verhängnisvoll werden kann. Das aber hatte Lindsay niemals einsehen wollen, und so kann man sich mein Erstaunen denken, als ich hier in Basra auf einmal hörte, daß er plötzlich das Arabische nicht nur verstand, sondern es, freilich noch sehr fehlerhaft, auch sprach!

Er hatte sich jedenfalls jahrelang und zwar mit großem Fleiße mit dieser Sprache beschäftigt, und daß er das gethan und die darauf verwendete Mühe nicht für weggeworfen gehalten hatte, das war es, was mir an ihm vollständig fremd vorkam und mich mit Verwunderung erfüllte. Hierzu kam ein Umstand, welcher mich bewog, mich über diese seine mir so überraschende Sprachfertigkeit herzlich zu freuen: Wenn er mit uns nach Persien ritt, wo man sich ebensosehr der arabischen wie der Landessprache bedient, war es für uns, und besonders für mich, eine große Erleichterung, nicht jemanden bei uns zu haben, der aus Mangel an Sprachkenntnis keinen Eingeborenen verstehen konnte und dem ich also, wie das mit Lindsay früher ja der Fall gewesen war, jedes Gespräch zu übersetzen und alle nur einigermaßen wichtigen Vorkommnisse extra zu erklären hatte. Denn daß er mit uns reiten würde, das unterlag gar keinem Zweifel. Die Absichten, welche ihn hierher geführt hatten, und die von ihm getroffenen Dispositionen mochten sein, welche sie wollten, sobald er uns sah, ließ er alles andere liegen, um sich uns anzuschließen, davon war ich überzeugt. Er liebte das Ungewöhnliche, sogar die Gefahr und hing mit einer so herzlichen, aufrichtigen Zuneigung an mir, daß er ganz gewiß alle seine jetzigen Reiselaunen fallen ließ, um bei uns sein zu können.

Wenn ich aufrichtig sein will, muß ich sagen, daß von seiner Begleitung voraussichtlich gar manche Schwierigkeit für mich zu erwarten war, aber er besaß andererseits auch wieder sehr günstige Eigenschaften, durch welche diese – Fatalitäten will ich es nennen, mehr als ausgeglichen wurden. Er war ein sehr mutiger und außerordentlich kaltblütiger Mann und besaß Verbindungen, welche uns nur Vorteil bringen konnten. Dazu kam sein außerordentlicher Reichtum. Ich gehöre nicht, aber auch mit keinem einzigen Aederchen, zu jener Art von Menschen, welche gern jede Gelegenheit benützen, aus der Wohlhabenheit anderer Leute Vorteile zu ziehen, aber es ist doch auf alle Fälle angenehmer, einen Begleiter zu haben, dem jeder materielle Vorteil zur Verfügung steht, als einen, welcher den Pfennig dreimal umwenden muß, wenn er ihn auszugeben hat und ihn vielleicht auch dann noch wieder in die Tasche steckt. In dieser Beziehung hatten wir an Lindsay einen höchst schätzbaren Kameraden gehabt, dessen Noblesse für einen andern an meiner Stelle sehr wahrscheinlich eine gute Einnahmequelle gewesen wäre. Und schließlich war, um auch das nicht zu vergessen, seine Originalität für uns eine nie versiegende Quelle stiller Heiterkeit gewesen, und es durfte angenommen werden, daß wir nun wieder aus ihr schöpfen dürften.

Wir sahen, daß er, obgleich der Wirt ihn schon zweimal zum Gehen aufgefordert hatte, in aller Behaglichkeit seinen Sitz behielt. Er schien über etwas nachzudenken, wahrscheinlich darüber, was er noch verlangen und aber auch verzehren könne, denn ihm, dem personifizierten Gentleman, war es fatal, in einem öffentlichen Lokale zu sitzen, ohne eine anständige Zeche machen zu können. Endlich war ihm ein Einfall gekommen:

»Frank Kahwe!« verlangte er.

Unter Frank Kahwe oder Frank Kahwesi, fränkischem Kaffee, versteht man Schokolade.

»Habe ich nicht,« antwortete der Wirt.

»Kakao!«

»Ich weiß nicht, was das ist.«

»Sherry!«

»Das verstehe ich nicht.«

Da öffnete Lindsay den Mund zu einem sperrangelweiten Gähnen. Er fühlte sich dadurch, daß er nicht bekam, was er verlangte, gelangweilt, und seine Nase blickte tief in das jetzt unter ihr gähnende, mit kräftigen Zähnen umsäumte Loch, ob nicht doch vielleicht daraus ein Wunsch erscheinen werde, der zu erfüllen sei. Und da kam er auch:

»Scherbet!« erklang das erlösende Wort.

Der Somali beeilte sich, das verlangte Zuckerwasser mit Fruchtsaft zu bringen, und bekam dafür ein so reichliches Bakschisch zugeworfen, daß sein Gesicht vor Freude glänzte und er sich durch eine dreimalige tiefe Verneigung bedankte.

Lindsay hob das Getränk zum Munde und versuchte es; es schien ihm zu schmecken, denn er that dann noch einen tiefen Zug. Indem er das Gefäß wieder absetzte, fiel sein Blick hinein. Da wurden seine Augen noch einmal so groß; sein Gesicht nahm den Ausdruck des Entsetzens an, und seine Nase sträubte sich vor Schreck empor.

»All devils!« rief er aus, den Scherbet weit von sich streckend. »Da ist ja ein – ein – ein – wie heißt snail auf arabisch?«

»Ich weiß wieder nicht, was du meinst,« antwortete der Wirt. »Ist etwas in dem Scherbet? Zeig her! Ich will sehen, was es ist.«

Durch die Freigebigkeit Lindsays dienstwillig gemacht, sprang er auf, nahm ihm das Getränk aus der Hand und sah nun dasselbe, was der Englishman gesehen hatte. Ohne aber ebenso zu erschrecken, sagte er vielmehr im ruhigsten Tone:

»Eine Bazzaka, eine ganz kleine Bazzaka, gar nicht viel länger als mein Mittelfinger nur! Allah hat sie ebenso geschaffen, wie er uns geschaffen hat; wer könnte sich da grauen! Es wäre schade, jammerschade um die Süßigkeit. Ich werde dir einen andern Scherbet bringen lassen.«

Er nahm die Schnecke heraus, warf sie fort, trank die Limonade bis auf den letzten Tropfen aus und setzte sich dann wieder auf seinen Platz. Als dann der Somali Ersatz brachte, deutete ihm Lindsay durch eine sehr entschiedene Handbewegung an, daß er das Zeug gar nicht sehen, am allerwenigsten aber trinken möge, worauf der braune Jüngling es für weltgeschichtlich notwendig hielt, das verschmähte Getränk sich in das eigene Gemüt zu dirigieren. Als er dies vollbracht hatte, trat er mit seinem nackten Fuße die Schnecke breit und zog sich dann triumphierend zu seinem Kaffeefeuer zurück. Lindsay aber machte ein Gesicht, als ob die Qualen aller an unheilbarem Weltschmerz leidenden Menschenkinder in sein Inneres eingezogen seien, und seine Nase, die bekanntlich mit ihren Regungen sich zu den Gefühlen ihres Herrn in steter Kongruenz befand, hing trauernd ihre aus Abscheu vor der Bazzaka ganz weiß gewordene Spitze nieder. Diese doppelte Betrübnis machte einen so tiefen Eindruck auf den Wirt, daß er den in seinem Innern vollständig aus dem Gleichgewichte gebrachten Gentleman fragte:

»Ist dir übel geworden? Dann rate ich dir, einen Araki zu trinken.«

»Araki?« fuhr Lindsay auf. »Ja, einen Arak will ich haben, aber klein darf er nicht sein!«

»Er wird so groß sein, daß auch ich mit trinken kann.«

»Ich danke! Wenn du auch trinken willst, so laß einen für dich besonders kommen!«

»Auch so groß wie der deinige?«

»Ja.«

Da ertönte die Stimme des somalischen Mundschenken:

»Für mich auch einen?«

»Meinetwegen!«

»Auch grad so groß?«

»Ja!«

Da holte der Gar çon die Branntweinkulle herein, goß drei ziemlich große irdene Näpfe voll und verteilte diese nach der ihm sehr geläufig scheinenden Regel, »mir einen, dir einen und ihm auch einen«. Lindsay war diesesmal so vorsichtig, dem Napfe bis auf den Grund zu sehen. Als er nichts Bazzakaähnliches entdeckte, nahm er einen Schluck, eine zweiten und sogar noch einen dritten. Seine Wangen glätteten sich; das Herzeleid verschwand aus seinen vorher so tiefbetrübten Zügen, und seine Stimme hatte einen neubelebten Klang, als er lobend sagte:

»Der Araki ist gut, sehr gut!«

Das war das Zeichen für die Nase, sich auch wieder aufzurichten und ihre Spitze in holder Farbe frisch erröten zu lassen. Als der Wirt dies sah, trank er seinen Napf verständnisinnig aus und befahl seinem Untergebenen, ihn wieder voll zu machen. Dieser kam dem Befehle augenblicklich und über Erwarten nach, indem er nach seinem Herrn auch sich zum zweitenmal bedachte. Lindsay bemerkte das mit zufriedenem Lächeln, obgleich er wohl wußte, daß er der Bezahlende sein werde. Er forderte die beiden auf, soviel zu trinken, wie in ihrem Belieben stehe. Vielleicht hegte er die rachsüchtige Absicht, sie für die Schnecke in einen ganz unmuselmännischen Rausch zu versetzen. Der Wirt, welcher die Wirkungen des Raki eingehend studiert zu haben schien, fühlte sich durch die Güte seines Gastes zu der vertraulichen Mitteilung veranlaßt:

»Du bist ein Inglis und kennst also die Gesetze des Islam nicht. Vielleicht weißt du aber, daß uns der Genuß des Weines verboten ist. Doch Raki ist kein Wein. Raki ist ein Mah es Ssahha, und daher pflegt man ihn zum steten Wohle des Gebers auszutrinken. Erlaube also, daß ich sage: ›Sirreh mahabbehtak – auf deine Gesundheit!‹«

»Sirreh mahabbehtak!« beeilte sich der Somali auch zu sagen und dabei seinen Napf ebenso zu leeren, wie der Kaffeewirt den seinigen. Dann wurden beide wieder gefüllt.

Diese zwei Moslemin hatten Gurgeln wie irländische Vollmatrosen! Ich mag den Branntwein nicht leiden, und diese hastige Art des Trinkens erst recht nicht, doch wurde, wie sich später herausstellte, dieser Raki nicht nur zu Lindsays, sondern auch zu unserm wirklichen Wohle getrunken. Dabei unterhielt sich der Englishman, welcher jetzt nur zuweilen nippte, ganz ausgezeichnet mit den beiden Trinkern. Er blieb auch im Arabischen, wie er es in seiner Muttersprache gewohnt war, bei seiner eigenartigen, kurz abgerissenen Sprachweise; sie aber wurden je länger, desto redseliger und erzählten ihm eine Menge Dinge, die ihn gar nicht interessieren konnten; er hörte ihnen aber, wohl des Sprachstudiums wegen, ganz bereitwillig zu. Im Laufe des Gespräches wurden auch die in der Nähe stehenden Zollgebäude und die in ihnen beschäftigten Beamten erwähnt; dies führte die Rede auf die Steuern, den Zoll und schließlich auch auf den Schmuggel. Die Pascherei ist wohl für jedermann ein interessanter Gesprächsgegenstand; darum wurde Lindsay jetzt noch aufmerksamer, als er vorher gewesen war. Der Wirt bemerkte das und erzählte ihm, durch den Raki unvorsichtig gemacht, verschiedene Heimlichkeiten, aus denen hervorging, daß er über dieses verbotene Gewerbe mehr wußte, als er eigentlich sagen durfte. Auf den Somali hatte der Branntwein einschläfernd gewirkt; der Wirt aber war lebhaft geworden; er rühmte sich, sehr viel sagen und offenbaren zu können, wenn er nur wolle, und fügte sogar, die Hand ausstreckend, hinzu:

»Sieh diesen Ring an meinem Finger! Er ist stumm; aber wenn er einen Mund hätte, könnte er dir Geheimnisse mitteilen, von denen du gar keine Ahnung hast.«

Es versteht sich von selbst, daß ich bei der Erwähnung des Ringes Ohr war. Sollte es ein Ring der Sillan sein? Ich hatte nicht auf die Hände dieses Mannes geachtet. Auch Halef hörte mit großer Spannung zu. Er schob sich, damit ihm ja kein Wort entgehen möge, so nahe an die Flechtwand, daß sie sich laut knisternd bewegte. Lindsay bemerkte das und fragte den Wirt:

»Ist jemand da draußen? Ich höre ein Geräusch.«

»Allah ‚l Allah!« antwortete der Kawehdschi. »Es sind zwei fremde Männer draußen, welche Kaffee trinken; das hatte ich ganz vergessen. Ihre Pferde stehen im Hofe, so kostbare Pferde, wie ich noch keine gesehen habe.«

»Aber doch nicht Radschi Pack

»Echtes Radschi Pack! Willst du sie vielleicht sehen?«

»Sehr gern.«

»So will ich sie dir zeigen. Komm!«

Sie standen auf und gingen hinaus. Ein solcher Pferdeliebhaber, wie David Lindsay war, ließ sich den Anblick echter Araber sicher nicht entgehen!

»Sihdi, was sagst du zu diesem großen Wunder?« fragte jetzt Halef. »Unser Inglis ist da! Was für Augen wird der machen, wenn er uns erblickt!«

Noch ehe ich antworten konnte, ertönte von der Thür her Lindsays erregte Stimme:

»Ich muß die Männer sehen, unbedingt sehen! Den einen Sattel kenne ich, kenne ich ganz genau. In dem Pferde kann ich mich irren; aber es gleicht dem herrlichen Rih, einem Hengste, denn ich –«

Er stockte mitten im Satze. Er war während dieser seiner Worte mit langen, eiligen Schritten, den Wirt hinter sich, durch den vorderen Raum gekommen und sah nun, an der Thüröffnung stehend, uns nebeneinander sitzen. Es ist mir unmöglich, sein Gesicht zu beschreiben, vollständig unmöglich! Er stand vor Ueberraschung starr vor uns, ohne Bewegung, wie eine Bildsäule. Sein Mund stand geöffnet; seine Augen waren weit aufgerissen, doch keine Lippe, keine Wimper zuckte.

»Sir David,« begrüßte ich ihn, indem ich aufstand; »welcome wieder hier in der alten, lieben Dschesireh! Wer hätte das geahnt!«

»Ja, willkommen, Mister Englishman!« ließ sich auch Halef hören, der diese beiden Ausdrücke glücklich aus seinem Gedächtnisse zusammenbrachte. Und noch einige hinzufindend, fügte er hinzu: »We are vor Freude, als wir dich kommen sahen, fast ebenso starr gewesen, wie du jetzt vor uns stehst. Kommst du direkt aus deinem native country? Oder hat Allah dich aus einem andern Lande zu uns geführt?«

Man sah es dem kleinen Hadschi an, daß er unendlich stolz auf diese früher aufgeschnappten paar englischen Worte war. Jetzt begann Lindsay sich zu bewegen. Er trat Schritt um Schritt auf mich zu, hob die Arme empor, breitete sie auseinander und schlang sie dann um mich, ohne dabei aber ein einziges Wort zu sagen. Ich war von diesem Beweise stummer, weil größter Freude tief, sehr tief gerührt und drückte den lieben Menschen fest an mein Herz. Da löste sich der Bann; er konnte wieder sprechen. Er sagte mit dem weichsten Tone seiner Stimme:

»Mr. Kara, Ihr seid hier, Ihr?! Ich sage Euch, dieses Wiedersehen ist mir in alle Glieder geschlagen. Ich möchte am liebsten weinen und bin doch froh, so froh! Das ist wirklich ein Schulknabenstreich, den mir mein altes Herz macht!«

»Laßt ihm seinen Willen! Das meinige hat auch nicht übel Lust zu solchen Streichen. Ich glaube, es möchte am liebsten Rad schlagen.«

»Das steht ihm aber auch besser an, denn es ist viel jünger als meins, dem ich eine solche Rührseligkeit gar nicht zugetraut habe. Und da ist auch Halef, der gewaltige Scheik und Tyrann der Haddedihn! Aber mit dem muß ich arabisch reden!«

Jetzt war es eine Lust, das Gesicht des Engländers zu beobachten. Vorhin hatte seine Nase über dem weit geöffneten Munde vor Erstaunen starr emporgestanden; nun war auch in sie wieder Leben gekommen. Wie seine Augen leuchteten, seine Wangen sich belebten und das Spiel seiner Mienen in reichem Wechsel arbeitete, so bekam auch sie wieder Farbe, und so zeigte auch sie jetzt eine Munterkeit der Bewegung, welche jeden, der so etwas noch nicht gesehen hatte, in lachendes Erstaunen setzen mußte. Sprach er mit Halef, so neigte auch sie sich der Seite zu, auf welcher der Hadschi stand; wendete er sich zu mir, so schwenkte sie auch nach mir herüber. Lachte er, so geriet sie in heitere Zuckungen, und gab er seiner Freude einen sinnig ernsten Ausdruck, so stand sie andächtig lauschend still. Der Wirt, welcher dieser Scene beiwohnte, hatte keinen Blick für uns, sondern seine Augen nur für diese wunderbare Nase, welche mit den Gedanken und Gefühlen ihres Besitzers stets vollständig übereinstimmte und nicht, wie andere Nasen, sich erlaubte, zuweilen eigenmächtige Stimmungen oder gar katarrhalische Besonderheiten zu haben. Nur damals, als sie an der Aleppobeule laborierte, hatte sie sich gegen seinen Willen eine Extravaganz erlaubt, die ihr aber auch nicht gut bekommen war und zur Strafe ein für das ganze Leben bleibendes Andenken zurückgelassen hatte.

Während der ersten Aufregung des Wiedersehens waren die Eigenheiten des Lords nicht hervorgetreten, doch sobald er sein inneres Gleichgewicht nur einigermaßen wiedergefunden hatte, machte sich zunächst seine abrupte Ausdrucksweise geltend. Wir hatten uns noch nicht wieder niedergesetzt, als er in derselben zu mir sagte:

»Ist eigentlich ein Festtag, ein großer Festtag heut. Möchte einen Vorschlag machen.«

»Welchen?« fragte ich, nun auch kurz.

»Müssen ihn feiern, unbedingt feiern.«

»Wodurch?«

»Durch einen Willkommentrunk.«

»Hier? Wo man nichts bekommen kann!«

»Nichts? Ist großer Irrtum. Habe einen Gedanken, einen famosen Gedanken!«

»Den möchte ich hören!«

»Entweder Grog oder Punsch. Arak ist da, Wasser, Zucker und Feuer auch. Citronen wird der Wirt dazu schaffen können. Einverstanden?«

»Ja, doch nur unter der Bedingung, daß wir ihn selber brauen!«

»Natürlich! Werde den Koch machen. Habe an der einen Bazzaka genug gehabt; mag keine wieder. Habt es wohl gesehen?«

»Ja.«

»Und mich ausgelacht?«

»Ein wenig.«

»Pfui! War schauderhaft! Werde lebenslang daran denken. Nun aber der Punsch!«

Er wendete sich zu dem Wirte und erfuhr, daß er alle zu dem gewünschten Getränke nötigen Bestandteile haben könne und auch selbst kochen dürfe. Es war eigentlich eine kühne Idee, hier im Süden einen Grog brauen zu wollen, aber sie wurde ausgeführt. Während Lindsay sich als Küchenchef in seiner vollen Glorie zeigte und der Somali ihm die dabei nötigen Handreichungen leistete, sah der Wirt, auf seinem Kissen sitzend, ihm mit fachmännischer Neugierde zu. Ich betrachtete seine Hände und bemerkte da freilich einen Ring. Er war von Silber und die Platte schien auch wirklich achteckig zu sein; genau konnte ich es aus der Entfernung nicht erkennen; ich mußte auf eine Gelegenheit warten, der Hand näher zu kommen.

Als der Grog fertig war, gab es keine Gläser. Da stand Kahwedschi auf, um andere passende Gefäße herauszugeben. Er brachte thönerne Becher aus einem Kasten, und ich trat schnell hin, sie ihm abzunehmen. Ich konnte dabei den Ring unauffällig betrachten. Ja, die Platte hatte acht Ecken und trug die bekannten Zeichen, ein Sa mit einem Lam verbunden, worüber das Verdoppelungszeichen stand. Der Mann gehörte also der geheimen Gesellschaft an; er war ein Sill.

Das Getränk war dem Lord vortrefflich gelungen; er bot in seiner freigebigen Weise dem Wirte und dem Somali auch ihr Teil, und als er sah, wie entzückt sie von dem ihnen bisher unbekannten Labsal waren, erlaubte er ihnen, sich auf seine Rechnung eine neue Auflage zu bereiten; wie es gemacht wurde, hatten sie ja gesehen. Wir aber begaben uns, um von etwa jetzt kommenden Gästen nicht gestört zu werden, wieder in die kleine, abgesonderte Stube. Sobald wir dort beisammen saßen, that Lindsay einen tiefen Zug aus seinem Becher und sagte, zu meiner Genugthuung in arabischer Sprache, doch auch in seiner kurzen Weise, die ich deutsch wiederzugeben suche:

»Muß Euch zunächst ein Rätsel aufgeben. Wollt ihr raten?«

»Ich nicht,« antwortete Halef schnell.

»Warum nicht?«

»Weil Allah mir die Vorzüge meines Geistes und die Vortrefflichkeiten meiner Seele nicht dazu verliehen hat, erst lange und ganz unnötigerweise nach etwas zu suchen, was ein anderer schon weiß und mir also doch lieber gleich sagen kann.«

»Schön! Aber du?«

Diese Frage war an mich gerichtet. Der Lord nannte mich, da er arabisch sprach, natürlich du. Ich antwortete:

»Muß es denn geraten sein? Und warum Rätsel jetzt, wo wir doch wohl Besseres und Nötigeres zu reden haben?«

»Rätsel ist auch nötig, wirst es aber wohl nicht lösen können; ist zu schwer.«

»Na, da will ich es doch einmal hören!«

»Gut! Es heißt: Wo komme ich her?«

»Das ist kein Rätsel, sondern nur eine Frage.«

»Mir auch recht. Aber kannst du sie beantworten?«

»Nein, denn ich bin nicht allwissend.«

»Well! So will ich es sagen: Ich war bei dir.«

»Bei – mir –?« sagte ich erstaunt.

»Bei dir; das heißt, in deiner Wohnung.«

»Wann?«

»Vor kurzem.«

»So kommst du aus Deutschland?«

»Yes.«

»Das ist interessant! Suchtest Du mich dort?«

»Yes.«

»In bestimmter Absicht?«

»Natürlich! Wollte mit dir reisen. Letzter Brief von dir wurde mir aus Capstadt nachgeschickt. Stand drin zu lesen, daß du zu Halef und nach Persien wolltest. Wünschte auch, Halef wiederzusehen, nach Teheran, Isfahan, Schiras zu gehen. Kam, als damalige Reise beendet war, nach Deutschland. Wollte dich abholen; warst aber schon fort.«

»Ach, nun errate ich! Du bist mir schleunigst nach?«

»Nicht eigentlich nach. Kannte deinen Weg ja nicht. Dummer Kerl, dein Wirt; konnte mir nicht sagen, welche Route!«

»Er ist nicht mein Vertrauter!«

»Well! Mußte also eigenen Weg nehmen: Wien, Triest mit Bahn; Triest, Suez, Bombay mit Schiff; Bombay, Buschehr, Bagdad wieder mit Schiff; dann Haddedihn suchen und nach dir fragen.«

»Das ist ja außerordentlich kühner Plan!«

»Kühn! Pshaw!« sagte er wegwerfend.

»Ja, doch kühn! Von Bagdad zu den Haddedihn, deren Weideplätze man erst suchen muß, ist’s ein gefährlicher Weg.«

»Bin kein Kind!«

»Das weiß ich; aber ob Mann oder Kind, die Gefahr ist doch da. Es ist auf alle Fälle ein Glück, daß wir uns hier auf eine so fast wunderbare Weise getroffen haben!«

»Well! Dampfer legte für fünf Stunden hier an. Habe Bord verlassen, weil es dort zu langweilig ist.«

»Ja, hier im Kahwe ist es bei Raki und Bazzaka kurzweiliger gewesen!«

»Bitte, still! Mag von Schnecke kein Wort hören. Ihr seid unterwegs?«

»Ja.«

»Nach Persien?«

»Ja.«

»Well! Ich gehe mit!«

»Ich denke, du willst nach Bagdad und dann zu den Haddedihn!«

»Mach keine schlechten Witze! Doch, ah, ich verstehe; habe nicht gefragt, ob Ihr mich wollt! Werde es also nachholen. Darf ich mit?«

»Ja,« antwortete ich in der von ihm gewünschten Kürze.

»Welches die erste persische Stadt?«

»Schiras.«

»Wann von hier fort?«

»Jetzt, nachher, sobald der Fährmann kommt.«

»Fährmann? Hm! Wartet! Bin gleich wieder da!«

Er sprang auf und ging so eilig fort, daß ich gar keine Zeit fand, ihn zu fragen, wohin er wolle. Jedenfalls nach seinem Dampfer, um die Fahrt abzubrechen und sein Gepäck zu holen.

»Sihdi, der macht es kurz,« lachte Halef. »Fast hätte er gar nicht erst gefragt, ob wir ihn gern mitnehmen oder nicht. Wer weiß, ob er, wenn er uns nicht getroffen hätte, bis zu den Haddedihn gekommen wäre! Er glaubt nicht an die Gefahren, welche zu beiden Seiten dieses Weges lauern. Sag mir aufrichtig, ob es dir lieb ist, daß wir ihn mitnehmen sollen.«

»Wenn ich ehrlich sein will, muß ich gestehen, daß ich mich in den Gedanken eingelebt habe, nur dich allein bei mir zu haben.«

»Ich danke dir, Effendi! Ich wollte, er wäre in seinem native country geblieben.«

»In dieser Weise will ich es doch nicht meinen. Du mußt bedenken, er ist ein sehr vornehmer Herr und seine Freundschaft eine sehr ehrenvolle Auszeichnung. Auch sind die Vorzüge seines Geistes und seines Herzens hoch anzuschlagen, und was die Hauptsache ist, ich habe ihn lieb. Ich gebe zu, daß infolge seiner Begleitung wohl manches anders werden wird, als es sich ohne ihn gestalten würde. Wir werden oft Rücksicht auf ihn und seine Eigenheiten zu nehmen haben; aber das wird alles ausgeglichen durch die vortrefflichen Eigenschaften, welche ihm unsere Achtung und Zuneigung erworben haben. Ich will also, Für und Wider gegeneinander abgewogen, sagen, daß es sich gleich bleibt, ob wir zu Zweien oder zu Dreien sind.«

»Wenn du so sprichst, will ich mich darein finden, nicht dein einziger Gefährte sein zu dürfen. Horch, Effendi, was Euer Raki mit heißem Zuckerwasser für eine fromme Wirkung hat!«

Der Wirt sang draußen in einem fort »Allahhu, Allahhu, Allahhu!« Er ahmte die heulenden Derwische nach, und der traute Ostafrikaner schrillte in den höchsten Fisteltönen allerlei dummes Zeug dazu. Es war ohrenzerreißend und nervenzersägend, aber hier an den vereinigten Wassern des Euphrat und Tigris schatt-el-arabisch schön!

Als ich dem Hadschi jetzt mitteilte, daß der Wirt den Ring der Sillan am Finger trage und also wohl zur geheimen Bruderschaft der »Schatten« gehöre, sagte er schnell:

»So erlaube, daß ich meinen Ring auch anstecke und ihn diesem Manne wie zufällig sehen lasse! Ich möchte sehr gern wissen, was er dann thun oder sagen wird.«

»Hm, wir dürfen mit diesen Ringen nicht spielen, lieber Halef!«

»Das weiß ich gar wohl; aber du hörst ja, daß er betrunken ist; es ist also gar keine Gefahr dabei, denn wenn er wieder nüchtern geworden ist, wird er nichts mehr wissen. Vielleicht erfahren wir etwas.«

»Das ist freilich möglich. Nur darf ich mich nicht für einen Sill ausgeben, weil er uns vorhin zugehört hat und also wahrscheinlich weiß, daß ich ein Europäer bin.«

»Genügt es denn nicht, daß ich mit ihm spreche? Mich kann er für keinen Franken halten.«

»Wenn du vorsichtig wärst, ja, dann!«

»Das werde ich sein, Sihdi. Darf ich?«

»Gut, ich denke auch, daß die Sache für uns ganz unbedenklich ist, und will dir den Spaß nicht verderben. Er hat einen Rausch und könnte uns auch ohnedies nichts schaden, weil wir diese Gegend ja heut verlassen und dann über die Grenze gehen. Aber wenn du sagst, du seiest ein Sill, so darf er ja nicht denken, daß ich oder Lindsay als deine Gefährten etwas davon wissen. Verstanden?«

»Ja. Ich werde so geheimnisvoll thun, als ob ich in Wirklichkeit ein Mitglied dieser Verbindung sei. Wann soll ich zu ihm gehen? Jetzt?«

»Nein, sondern erst dann, wenn Lindsay zurückgekehrt ist. Jetzt würde es auffallen, daß du mich allein lässest und hinter meinem Rücken mit ihm von Dingen plauderst, die ich nicht wissen darf.«

»Hoffentlich kommt der Inglis bald wieder, denn wenn der Fährmann erscheint, müssen wir bereit sein, sonst bekommt er das Bedürfnis, noch einmal auszuruhen. Hattest du eine Ahnung, daß Lindsay dich in deiner Heimat aufsuchen werde?«

»Nein. Er hat mich nicht davon benachrichtigt. Ich schrieb ihm, daß ich die Absicht hätte, nach Persien zu gehen und dich mitzunehmen. Da ist in ihm der Wunsch erwacht, sich uns anzuschließen. Daß wir damit einverstanden sein würden, hat er für ganz selbstverständlich gehalten. Solche Herren leben ja immer in dem Glauben, daß alles, was sie sprechen, thun und wollen, von anderen Leuten als Gesetz betrachtet wird. Er kennt meine Wohnung, die ich behalte, selbst wenn ich jahrelang auswärts auf Reisen bin, und ist gekommen, um mir ganz einfach zu sagen, daß er mich begleiten werde. Da ich schon fortgewesen bin, ist er auf dem kürzesten Wege oder vielmehr mit der schnellsten Gelegenheit hierher gefahren, um mich aufzusuchen. Sich vorher zu fragen, ob mir das lieb sein werde oder nicht, das ist ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Das gesellschaftliche Leben aller Länder und Völker wird von einem Paragraphen beherrscht, welcher lautet: Vornehme Leute stören nie! Wenn du das noch nicht weißt, so merke es dir!«

»Das habe ich nicht nötig, denn als oberster Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar gehöre ich selbst ja auch zu den vornehmsten Personen vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne, so daß kein englischer Lord sich einbilden darf, höher zu stehen als ich, der ich ein freier und unumschränkter Beherrscher freier Männer bin. Ich gehöre also selbst zu denjenigen Personen, welche niemals stören. Wem Allah die hohe und unschätzbare Gabe verliehen hat, eine so große Menge tapferer Beduinen zu beherrschen, der kann sich getrost an die Seite der Kaiser, Könige und sonstigen allerhöchsten Regenten stellen, und ich bin der Ueberzeugung –«

Hier unterbrach ich ihn mit irgend einer Bemerkung, denn wenn er auf dieses Thema geriet, so mußte man ihm den Faden der Rede schnell zerschneiden, sonst spann er ihn bis in die Unendlichkeit hinein. Er ging zwar über meinen Einwurf rasch hinweg und griff den Faden wieder auf, aber glücklicherweise kehrte Lindsay jetzt zurück, wodurch Halef zu seinem Leidwesen gezwungen wurde, vom Thema seiner unzählbaren Vorzüglichkeiten abzulassen. Da der Lord, einen Mantel abgerechnet, den er am Arme hängen hatte, gerade so wieder kam, wie er gegangen war, so fragte ich ihn nach seinem Gepäck.

»Gepäck?« antwortete er. »Habe keins.«

»Wirklich keins?«

»Yes. Bin früher so dumm gewesen, mich mit einer Menge von Sachen zu schleppen, und habe mich trotzdem für einen tüchtigen Globetrotter gehalten. Habe aber von dir gesehen, wie man es machen muß. Mache es nun ebenso: Anzug auf dem Leibe, Mantel, Waffen, Geld, weiter nichts.«

»Aber wie steht es mit dem Pferde?«

»Habe keins.«

»So müssen wir hier eins kaufen.«

»No

»Nicht? Warum? Basra hat Pferdeausfuhr nach Indien. Es giebt also hier eine ganz gute Gelegenheit, dem Mangel abzuhelfen.«

»Mag keins von hier; will persische Rasse; diese einmal versuchen. Werde also erst kaufen, wenn wir drüben sind.«

»Das geht aber nicht. Du kannst doch nicht neben uns herlaufen. Und selbst wenn du dir diese Absonderlichkeit leisten wolltest, würdest du es nicht aushalten. Der Weg über das Gebirge hinüber ist weit und sehr beschwerlich.«

»Welches Gebirge?«

»Ich meine da hier hinüber die Berge von Chusistan.«

»Chusistan? Haben nichts mit Chusistan zu thun!«

»Wiefern?«

»Werden überhaupt nicht reiten!«

»Wer sagt das?«

»Ich. Werden fahren.«

»Fahren? Womit? Hier giebt es keine Postchaisen.«

»Schlechter Witz! Werden per Schiff fahren.«

»Ah – so?!«

»Yes. Liegt ja ein Dampfer draußen. Geht gegen Abend ab, nach Bombay. Wird uns in Buschehr absetzen.«

»Wer sagt das?« fragte ich wieder.

»Ich –« antwortete er. »Habe bereits drei Plätze bezahlt. Mit Kapitän gesprochen. Alles abgemacht!«

»Wer hat dich dazu beauftragt?«

»Beauftragt?« fragte er, mit dem Kopfe hoch emporfahrend, die Stirn in Falten ziehend und mich aus zusammengezogenen Augen erstaunt ansehend. »Denke nicht, daß es einer besonderen Beauftragung bedurfte, sondern glaubte, es so ganz richtig zu machen! Wolltet ihr denn nicht per Schiff nach Buschehr hinunter?«

»Nein.«

»Well, hätte das wissen sollen!«

»Du konntest es erfahren, indem du uns fragtest!«

»Yes, ist richtig; aber unter Reisegefährten rechnet man nicht so genau. Da die Plätze bezahlt sind, werden wir fahren.«

»Ist das wirklich so bestimmt, wie du meinst?«

»Yes.«

»Wenn ich nun nicht darauf eingehe?«

»Ist gar nicht möglich. Würde eine Beleidigung für mich sein. Was sagt Halef dazu?«

»Ich thue das, was mein Effendi thut,« antwortete der kleine Hadschi.

»Well, so fahren wir. Werde doch nicht unnötig bezahlt haben sollen!«

Da er mich bei diesen Worten fragend ansah, gab ich den Bescheid:

»Gut, gehen wir also per Dampfer nach Buschehr. Der Weg von dort nach Schiras ist ja auch ganz interessant. Wenn du mit dem Wirte sprechen willst, Halef, jetzt ist es Zeit.«

»Ja, ich gehe jetzt hin,« nickte er, »und werde mich so verhalten, daß ich deine Zufriedenheit erlange, Sihdi. Du weißt, eine Dummheit sage ich nicht!«

Ja, das wußte ich freilich. Unüberlegt zu handeln, das fiel ihm gar nicht schwer, aber im Gebrauche der Zunge besaß er eine desto größere Meisterschaft. Als er sich entfernt hatte und ich längere Zeit schweigend vor mich hingeblickt hatte, fragte Lindsay, und zwar in englischer Sprache:

»Warum redet Ihr nicht? Habt wohl schlechte Laune? Was?«

»Bitte, Launen habe ich nie!«

»Woher dann aber dieses Gesicht und diese Augen? Möchte wetten, daß Ihr etwas gegen mich habt.«

»Diese Wette würdet Ihr freilich gewinnen. Aber eine ›Laune‹ ist es nicht. Ich kann überhaupt launenhafte Menschen nicht leiden. Wenn mich etwas verdrießt, sage ich es frei und ehrlich vom Herzen herunter, und dann ist es wieder gut.«

»Well! Also herunter damit! Was ist’s?«

»Diese Frage sollte eigentlich gar nicht notwendig sein. Ihr müßtet auch ohne jedes Wort von mir wissen, was ich gegen Euch habe.«

»Kann es mir aber doch nicht denken. Sollte es sein, weil ich die Schiffsplätze genommen habe?«

»Natürlich ist es das!«

»Aber Ihr seid doch darauf eingegangen, ohne darüber zu räsonieren!«

»Dazu hatte ich zwei Gründe. Erstens waren die Plätze bezahlt; man bekommt das Geld nicht wieder; es gab also an der Sache nichts zu ändern. Und zweitens wollte ich Euch nicht vor Halef blamieren.«

»Blamieren? Oho! Das ist ein sehr kräftiges Wort, Mr. Kara!«

»Aber das richtige. Ich halte es für notwendig, Klarheit zwischen uns zu schaffen. Ich liebe es nicht, wenn ohne mein Wissen über mich disponiert wird. Ich bin weder ein Bedienter, über dessen Person man nach Belieben verfügen kann, weil man ihn bezahlt, noch eine Puppe, die sich an Fäden ziehen läßt. Ich will gefragt sein. Das müßt Ihr Euch ein für allemal merken!«

Da zog er die Brauen hoch empor, welcher Bewegung seine erstaunte Nase sofort folgte, und sagte:

»Sollte ich erst hierher laufen, um wie ein Knabe um Erlaubnis zu bitten?«

»Das sind sehr unpassende Worte, Sir. Ihr kennt meine Art, zu reisen. Ich bewege mich nicht auf den breitgetretenen, ungefährlichen Wegen anderer, denn ich will die Bücher, welche ich schreibe, nicht mit den Resultaten wohlfeiler Erkundigungen füllen, sondern nur das erzählen, was ich selbst erlebt, geprüft und gesehen habe. Ich bin keiner der subventionierten Herren, welche unter hohem Schutze mit großem, Aufsehen erregendem Trosse bequeme Pfade ziehen und dann, wieder heimgekehrt, einen Vortrag auswendig lernen, um mit ihm, Stadt für Stadt abklopfend, Geld zu machen. Ich reise, um allüberall, im Urwalde, in der Steppe, der Wüste, im Leben der Verachteten und Bedrängten, im Herzen des sogenannten Wilden die Spuren Gottes, die Wahrzeichen und Beweise der ewigen Liebe und Gerechtigkeit zu suchen, denn meine Bücher sollen zwar Reisebeschreibungen, aber in dieser Form Predigten der Gottes- und Nächstenliebe sein. Darum gehe ich meine eigenen Wege und bewege mich in meiner eigenen Weise; ich lebe und reise von meinen eigenen Mitteln, verlasse mich nächst Gottes Schutz auf meine eigene Kraft und lasse mich von keinem andern Willen als meinem eigenen dirigieren. Wer sich mir anschließt, hat sich in diese meine Eigenheit zu finden, sonst kann ich ihn nicht brauchen. Ich mag nicht das am Zügel gelenkte Pferd, sondern ich will der Reiter sein, und wer da glaubt, wie vorhin Ihr, mich durch ein Fait accompli willenlos und ihm gefügig zu machen, der mag diese Probe nicht zum zweitenmal versuchen; er würde sich in mir täuschen! Ich bin gewohnt, selbständig zu handeln und werde selbst dem besten Freunde nie gestatten, ohne meine Erlaubnis über mich zu verfügen.«

Lindsay machte ein sehr verlegenes Gesicht. Die Falten seiner Stirn bildeten längst schon keine hohen Bogen mehr; er hatte den Kopf gesenkt und die vorher so stolz erhobene Nase war tief zerknirscht zusammengesunken.

»Es war aber ja ganz gut gemeint!« entschuldigte er sich.

»Das weiß ich wohl; drum habe ich in Halefs Gegenwart geschwiegen und Euch nun jetzt unter vier Augen meine Meinung gesagt. Ihr habt Euch früher stets nach mir gerichtet und müßt zugeben, daß dies stets zu Eurem Vorteile war. Seit jener Zeit seid Ihr als selbständiger Mann gereist und habt Euch angewöhnt, zu handeln, ohne andere zu fragen. Das ist der leicht erklärliche Grund Eurer Eigenmächtigkeit, und darum sage ich Euch meine Meinung nicht in zornigen, sondern in ganz ruhigen Worten. Jetzt aber seid Ihr nicht mehr Euer eigener Herr; ich bin nicht Euer, sondern Ihr seid mein Begleiter; das gebe ich Euch zu bedenken.«

»Soll das heißen, daß ich gar keinen Willen haben darf?«

»Nein; aber wenn drei Personen eine weite, beschwerliche und wohl auch oft gefährliche Reise zusammen unternehmen, so versteht es sich ganz von selbst, daß keiner von ihnen ohne Wissen der andern wichtige Bestimmungen treffen darf; es muß alles einmütig geschehen; das ist es, was ich wünsche. Ihr sagtet vorhin, daß man unter Reisegefährten nicht so genau zu rechnen brauche; das ist grundfalsch; ich halte es vielmehr für sehr notwendig, daß jeder Gefährte die Rechte der andern sehr genau beachte und auf sie Rücksicht nehme. Ihr behauptet ferner, es würde eine Beleidigung für Euch sein, wenn wir uns Eurer Anordnung nicht fügten. Ich sage Euch dagegen, daß es eine Beleidigung für uns war, diese Anordnung ohne unser Wissen zu treffen!«

»Well, hm, mag wahr sein! Will es also nur sagen: Ihr solltet nicht zu zahlen brauchen!«

»Das weiß ich ja; aber ist grad der Punkt, wohin ich mein Fragezeichen setze, weil ich nicht wünsche, daß ein Ausrufezeichen daraus werde. Ihr kennt mich da von früher her. Ich will vor allem auch in dieser Beziehung mein eigener Herr sein und teile Euch darum ganz aufrichtig meine Ansicht mit, daß pekuniäre Unselbständigkeit fast sicher auch andere Arten von Abhängigkeit nach sich zieht.«

»Aber, Mr. Kara, ich bin reich, tausendmal reicher als Ihr! Soll ich da nicht das Vergnügen haben, Euch dann und wann etwas zu ermöglichen oder wenigstens zu erleichtern, was Euch sonst schwer fallen oder gar unmöglich sein würde? Es ist das für mich ja eine Kleinigkeit, grad so, wie wenn ein Pferd beim Füttern einige Körner verliert, die von einem Sperling aufgetippt werden.«

»Danke herzlich für diesen vortrefflichen Vergleich!« lachte ich.

»War nicht so, sondern anders gemeint! Sehe ein, daß ich auch ein aufrichtiges Wort bringen muß. Hört mich ruhig an!«

»Sehr gern!«

»Wenn ich in meine volle Tasche greife, um einige armselige Piaster für Euch auszugeben, so wollt Ihr mir das nicht gestatten. Ich aber soll es mir ruhig gefallen lassen, daß Ihr in Euern Kopf, in Eure Kenntnisse, in Eure reichen Erfahrungen greift und für mich mit Eurer geistigen, intellektuellen Münze nur so um Euch werft! Münze ist Münze; ob aus den Schätzen Eures Verstandes oder aus unserer Bank von England entnommen, das bleibt sich gleich. Soll ich welche von Euch annehmen, so muß auch ich von der meinigen ausgeben dürfen, wenn ich mich nicht als armer Almosenempfänger fühlen soll; das müßt Ihr doch einsehen! Oder nicht?«

»Ich will zugeben, daß das, was Ihr da gesagt habt, nicht ohne einige Berechtigung ist, und will, so wie ich es früher nicht war, auch jetzt nicht dagegen sein, daß Ihr zuweilen einmal in Eure wohlgefüllte Tasche greift; aber Ihr dürft damit nicht die Ansicht verbinden, daß dies ohne unser Wissen geschehen kann und gar vielleicht Euch die Berechtigung verleiht, uns wie heut, mit vollendeten Thatsachen, denen wir nicht zugestimmt hätten, zu überraschen. Für diesesmal sollt Ihr unsere nachträgliche Zustimmung erhalten; bei einer Wiederholung dieses Falles aber würdet Ihr nur den Erfolg haben, ohne unsere Gesellschaft auf Eurer Thatsache sitzen zu bleiben. So, nun mag diese heikle Angelegenheit abgethan sein. Ihr habt es gut gemeint und ich meine es mit meinem Tadel auch nicht schlecht, denn ich habe ihn nur ausgesprochen, um späteren Unannehmlichkeiten zu begegnen. Wo habt Ihr denn eigentlich Eure überraschende Kenntnis der arabischen Sprache her?«

Da hellte sich sein verdüstertes Gesicht schnell auf; die Nase machte einen frohen Seitensprung, und er antwortete:

»Nicht wahr, das hat Euch überrascht?«

»Außerordentlich!«

»Habt mir’s gar nicht zugetraut?«

»Aufrichtig gesagt, nein.«

»Well! Habe mich auch riesig auf Eure Verwunderung gefreut! Meine Reise damals mit Euch war die schönste und interessanteste von allen, die ich unternommen habe. Ist mir nie aus der Erinnerung gekommen. Sehnte mich förmlich, alle die Orte einmal wiederzusehen. Nahm mir also vor, den ganzen Weg noch einmal zu machen. Dazu gehörte aber die Sprache, die ich nicht verstand. Beschloß darum, sie zu erlernen. Wandte mich nach Oxford, Universität; verschrieb mir einen Lehrer. Mußte mich begleiten, auch während der Reise unterrichten. War ein tüchtiger Kerl und hat sich viel Mühe gegeben. Habe aber auch gearbeitet wie ein Stier, Tag und Nacht! Wundere mich, daß mein Kopf noch ganz ist, keine Löcher und Sprünge bekommen hat! Ist eine heidenmäßig schwere Sache, diese arabische Sprache. Bin sehr oft ganz konfus gewesen; habe Flinte tausendmal wegwerfen und ausreißen wollen. Bin in Wut geraten, ganz verzweifelt gewesen, habe nicht essen, nicht schlafen können. Riesige Kopfschmerzen, schlechte Verdauung, Augenflimmern, Ohrensausen; habe mich ganz elend gefühlt, unendlich jämmerlich. Dachte aber an Euch, an Eure Ausdauer, Energie; malte mir aus, Ihr säßet bei mir und nicktet mir aufmunternd zu. Das half. Bin mit jedem Tag arabischer geworden, bis mir sogar einmal träumte, ich sei ein Beduinenscheik und zähle meinen Schafen und Kamelen das große Einmaleins arabisch vor. Da schriebt Ihr mir, Ihr wolltet hierher. War natürlich sofort fest entschlossen, mitzumachen, und lernte nun mit doppelter Wut, wie eine Windmühle im Sturme oder eine Maus, hinter der die Katze ist. War riesenhaft stolz auf den Erfolg. Habe mir tausendmal Euer Gesicht ausgemalt, wenn Ihr hören würdet, was ich leiste. Fand Euch leider nicht daheim, bin also hierher. Habe Euch hier getroffen; aber anstatt mich an Eurem Staunen weiden zu können, habe ich Vorwürfe zu hören bekommen. Ganze Freude ist in das Wasser gefallen und total ertrunken! Sehe aber ein, daß ich selbst schuld bin. Hätte Euch erst fragen sollen, welchen Weg Ihr nehmen wolltet. Wird nicht wieder vorkommen; gebe Euch mein Wort darauf!«

Da reichte ich ihm die Hand und sagte:

»Diese Freude habe ich Euch natürlich nicht verderben wollen. Ich war außerordentlich überrascht und wollte meinen Ohren nicht trauen, als ich Euch so fließend arabisch sprechen hörte. Ich weiß am besten, wie groß die Mühe gewesen ist, die Ihr darauf verwendet haben müßt, und es kann mir nicht einfallen, Euch die wohlverdiente Anerkennung vorzuenthalten. Ihr müßt ja geradezu wie ein Pferd gearbeitet haben!«

»Pferd? Ist viel zu wenig gesagt!« verbesserte er, indem infolge meines Lobes sein ganzes Gesicht vor Wonne strahlte und seine Nase eine vergnügt horchende Lage einnahm. »Habe mit dem Kopf gearbeitet. Muß also nicht Pferd sondern Ochse heißen! Darf also annehmen, daß Ihr zufrieden mit mir seid?«

»Sehr zufrieden!«

»Gute Leistung von mir?«

»Großartige Leistung sogar!«

»Well! Damit ist alles gut, alles wieder gutgemacht! Wenn Kara Ben Nemsi meine Leistung großartig nennt, so ist das die beste Belohnung, die ich finden kann. Möchte diese Heidenarbeit aber nicht zum zweitenmal machen. Würde ganz gewiß überschnappen! Habe meinen armen Kopf sehr oft für eine alte Pauke gehalten. Was hat da alles hineingemußt! Sukuhn, Hamza, Teschdid, Madd, Singular, Dual, äußerer Plural, innerer Plural, ana, inte, huwa, ihna, intu, huma, wahid, marra, auwal, dreiradikaliges Verbum, vierradikaliges Verbum, massives Verbum, konkaves Verbum, defektes Verbum – – wer da den Verstand nicht verliert, der hat entweder sehr viel oder gar keinen Geist! Fühle mich aber auch wie neugeboren, daß ich das alles glücklich überwunden habe. Nun sagt mir doch auch einmal, ob ich gut oder fehlerhaft spreche!«

»Welcher Meinung war Euer Lehrer über diesen Punkt?«

»Dummer Kerl! Lachte mich aus!«

»Ihr habt ihn vorhin aber doch einen sehr tüchtigen Kerl genannt!«

»War er auch; nur in dieser Beziehung nicht! Sagte immer, ich spräche englisch mit schlecht gewählten arabischen Worten. Behauptete auch, ich würfe zu viel englische Partikel hinein. Was soll ich aber denn mit meinen Partikeln machen, wenn ich sie einmal habe? Das war doch unrecht von ihm. Nicht?«

»Recht wird wohl der haben, der da weiß, daß kein Meister vom Himmel gefallen ist. Man darf nicht denken, daß man fertig sei, sondern man muß sich üben, immerfort weiterüben.«

»Das thue ich auch! Habe mich sogar heut geübt, mit dem Wirte da draußen. Wollte einmal hören, wie die Sprache des Arabers klingt, wenn er betrunken ist.«

»Außerordentlich löbliches Unternehmen!«

»Mag sein! Nehmt Ihr es mir übel?«

»Nein. Vielleicht ist es sogar vorteilhaft für mich, daß Ihr ihm einen Haarbeutel aufgesetzt habt.«

»Wieso?«

»Davon werden wir später sprechen; es gehört eine lange, aber sehr interessante Erzählung dazu. Wir haben nämlich schon sehr viel erlebt, und zwar Dinge, welche wahrscheinlich noch gar nicht zu Ende sind. Halef wird Euch alles berichten, und ich glaube, daß Ihr den Faden dann mit uns weiterspinnen werdet. Für jetzt ist es notwendig, zu wissen, ob Ihr wirklich die Absicht habt, Euch erst drüben in Persien ein Pferd anzuschaffen?«

»Ja; eher nicht.«

»Wo?«

»Vielleicht Schiras.«

»Aber wir müssen doch von Buschehr bis Schiras reiten!«

»Nehme ein Mietspferd.«

»Das ist für uns unbequem; aber da Ihr es einmal wollt, müssen wir Euch Euern Willen lassen.«

»Wenn ich hier eins kaufte, müßte ich es per Schiff hinübertransportieren lassen wie Ihr die eurigen. Das kann ich umgehen.«

»Das ist freilich wahr. Hoffentlich bekommt Ihr dort etwas Preiswürdiges. Da wir echtes Blut reiten, dürft auch Ihr nicht schlecht beritten sein, sonst kommt Ihr nicht mit uns fort.«

»Habt keine Sorge! Kaufe nichts Schlechtes. Geld ist da! Wer ist der Kerl?«

Diese Frage galt dem Fährmann, welcher jetzt endlich kam, um uns zu benachrichtigen, daß er nun bereit sei. Wir hatten ihm gesagt, daß er uns im Kahwe finden werde. Nun brauchten wir ihn nicht. Es war vorauszusehen, daß er in echt orientalischer Weise eine Entschädigung dafür verlangen werde; darum antwortete ich, als er seine Aufforderung, jetzt mitzukommen, ausgesprochen hatte:

»Hast du dich denn schon ausgeruht?«

»Ja,« nickte er.

»Aber wir noch nicht. Wir waren noch viel müder als du und müssen also noch länger sitzen bleiben.«

»Aber ich habe grad jetzt Zeit!«

»Wir noch nicht!«

»Ihr könnt auf der Fähre ebenso ruhig sitzen wie hier!«

»Ganz dasselbe haben wir dir vorhin auch gesagt. Wir wollten rudern, und du solltest dich pflegen; das beliebte dir aber nicht. Jetzt sind wir es, denen es nicht paßt.«

»Später fahre ich Euch nicht!«

»So lässest du es bleiben!«

»Ihr habt mir ein Bakschisch für das Warten zu zahlen!«

»Sehr gern! Wieviel verlangst du?«

»Fünf Piaster. Ich denke, daß Ihr das sehr billig finden werdet!«

»Es ist billig; ich hätte mehr verlangt. Gieb also die fünf Piaster her!«

»Ich?« fragte er erstaunt.

»Ja.«

»Euch?«

»Natürlich!«

»Du sprichst ja ganz verkehrt! Wer ist es denn, der zu bezahlen, und wer, der zu bekommen hat?«

»Zu bezahlen hast du. Wer sonst?«

»Doch Ihr!«

»Wenn du das behauptest, bist du es, der verkehrt redet. Du bist eine einzelne Person und hast auf uns gewartet. Dafür verlangst du von uns eine Entschädigung von fünf Piastern?«

»Ja.«

»Schön! Wir sind zwei Personen, die du hinüberfahren solltest; wir haben auf dich gewartet; das macht zehn Piaster; folglich hast du uns fünf herauszuzahlen.«

»Allah w’Allah!« rief er erstaunt. »Sollte man so etwas für möglich halten? Ich höre, daß du mich um mein wohlverdientes Geld betrügen willst!«

Ich kam nicht dazu, ihm auf diese Worte eine Antwort zu geben, denn Halef that dies an meiner Stelle. Seine Unterredung mit dem Wirte war zu Ende. Er war hinter dem Fährmann hergekommen, stand nun in seinem Rücken an der Thür und hatte seine Forderung und meine Antwort gehört. Jetzt schob er ihn schnell zur Seite, trat vor und sprach ihn zornig an:

»Betrügen? Mensch, wie darfst du es wagen, diesen weltberühmten und mächtigen Emir einen Betrüger zu nennen! Er ist so gnädig gewesen, mit deinen armseligen fünf Piastern einverstanden zu sein; er hat dir deutlich und bis zur vollsten Ueberzeugung bewiesen, daß du dieses Geld für deine Faulheit herauszugeben hast, und nun du uns darum betrügen willst, bist du so frech, den Betrug ihm in das Gesicht zu werfen. Ich frage dich, ob du sie sofort bezahlen willst oder nicht?«

Er griff mit der Hand nach seiner im Gürtel steckenden Peitsche.

»Ich habe nicht zu bezahlen, sondern zu bekommen,« behauptete der Mann, der die Schnellfertigkeit Halefs nicht kannte und also gar nicht ahnte, was für ein Gewitter drohend über ihm stand.

»Zu bekommen? Schön! Du sollst erhalten, was du verdienst, und zwar sogleich! Hier hast du es, hier – hier – da – da und da!«

Die Peitsche flog heraus und knallte dem Manne so kräftig auf den Rücken, daß er sich mit einem Schrei des Schmerzes zur Flucht wendete. Halef eilte hinter ihm drein und versetzte ihm Hieb auf Hieb, bis er ihn zur vorderen Thür hinausgetrieben hatte; dann kehrte er zu uns zurück und sagte, vor Vergnügen strahlend:

»Das ist die einzig richtige Sprache, in welcher man mit solchen Menschen zu reden hat! Fünf Piaster für seinen Schlaf und unser Warten verlangen und auch noch vom Betruge sprechen! Sihdi, deine Berechnung war sehr schlau; aber meine Bezahlung war noch besser!«

»Wie aber, wenn er sich bei der Behörde über dich beschwert?« warf Lindsay ein.

»Bei der Behörde? Wie würde ich mich freuen, wenn sie käme! Sie würde die Fortsetzung des Anfanges bekommen, den ich ihm zu schmecken gegeben habe. Sihdi, bist du mit mir einverstanden?«

»In diesem Falle, ja. Die Hiebe waren ganz gut angebracht.«

»Hamdulillah! Endlich giebst du dich einmal als wahren Freund meiner Nilpferdhaut zu erkennen. Das bringt dir den Glanz meiner Achtung und die Fülle meiner Ehrerbietung ein. Deine Zufriedenheit ist mir eine wahre Wonne!«

»Hoffentlich brauche ich sie dir auch in Beziehung auf dein Gespräch mit dem Wirte nicht vorzuenthalten?« fragte ich mit gedämpfter Stimme.

»Du brauchst nicht zu flüstern, sondern kannst so laut sprechen, wie es dir beliebt, Sihdi.«

»Wo ist er jetzt?«

»Er ruht in den Armen des heißen Zuckerwassers und hat den hineingegossenen Raki als Kissen unter den Kopf genommen.«

»Und sein Gehilfe, der Somali?«

»Bei dem ist’s umgekehrt: Er liegt im Raki und hat das Zuckerwasser als Ruhekissen. Ihre Seelen lustwandeln in dem Lande der Träume, und aus ihren Kehlen erschallt die Musik aller Himmel Muhammeds. Horch!«

Als wir still waren, hörten wir ein kräftiges, sägeartiges Schnarchen.

»Das ist der Somali,« erklärte Halef. »Er liegt mit dem Kopfe in der Holzkohlenasche und schneidet mit dem Minschar seines Gaumens Baumstämme auseinander.«

»Und der Kahwedschi?«

»Der ruht am Ufer des Flusses und war um keinen Preis dazu zu bewegen, herunter in das Wasser zu steigen; dann schlief er ein.«

»Am Flusse? Er hat das Haus verlassen?«

»Nein. Er stieg mit mir, um mir dort etwas zu geben, die unter das Dach führende Leiter hinan. Bei der Rückkehr sank er in Frieden neben der Leiter hin und sagte, wenn ich ertrinken wolle, möge ich allein hinunterspringen, er aber werde vorsichtig auf dem Trockenen bleiben. Wenn du ihn sehen willst, will ich dir ihn zeigen.«

»Was hat er dir gegeben?«

»Einen Brief.«

»An wen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wer hat ihn geschrieben?«

»Auch das ist mir unbekannt.«

»Ist er nicht mit einer Adresse versehen?«

»Es stehen die Zeichen des Ringes darauf. Hier ist er.«

Er zog ein viereckig zusammengefaltetes und mehrfach versiegeltes Papier aus der Tasche und gab es mir. Man hatte sich eines gewöhnlichen Geldstückes als Petschaft bedient. Auf der Adreßseite sah ich ein mit Tinte geschriebenes Sa, welches mit einem Lam verbunden war; darüber stand das Verdoppelungszeichen.

»Er muß dir aber doch gesagt haben, für wen dieser Brief bestimmt ist,« sagte ich.

»Das hat er auch gethan.«

»Nun?«

»Der Mann, der ihn bekommen soll, heißt Ghulam.«

»Was ist er?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wo wohnt er?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Höre, lieber Halef, du scheinst in dieser Angelegenheit nichts weniger als allwissend zu sein!«

»Dafür kann ich nicht, Sihdi, sondern das heiße Zuckerwasser mit Raki ist schuld. Der Kahwedschi wollte mir so sehr viel sagen, konnte sich aber auf nichts besinnen, weil sein ganzes Gedächtnis in dieser süßen Flüssigkeit ertrunken war und alle meine Wiederbelebungsversuche nichts mehr fruchteten.«

»So hast du dich ganz vergeblich bemüht; dieser Brief, der uns vielleicht von großem Vorteile sein könnte, wird uns keinen Nutzen bringen. Oder hast du es daran mangeln lassen, den Kahwedschi in der richtigen Weise auszufragen?«

»Nein, gewiß nicht, ganz gewiß nicht, Sihdi. Du kennst mich da nur zu wohl und weißt, daß ich den Mund auf der Stelle habe, wo er sitzen muß, wenn man jemandem ein Geheimnis abzulocken hat; aber die Geheimnisse dieses Mannes waren infolge seiner Betrunkenheit so außerordentlich geheim, daß er sie selbst nicht mehr kannte. Da war alle meine Mhe umsonst. Wenigstens glaube ich nicht, daß du, wenn du an meiner Stelle gewesen wärest, mehr als ich erfahren hättest.«

»Möglich! Erzähle mir richtig der Reihe nach, was du mit ihm gesprochen hast! Wir sind in Bagdad übereingekommen, daß du einen Ring der Sillan stets bei dir haben sollst. Ich brauchte dir ihn heut‘ also nicht erst zu geben. Als du hier von uns fortgingst, saß der Kahwedschi da draußen im Vorraume auf seinem Kissen. Der Somali war bei ihm, schnarchte aber schon. Wir haben uns hier absichtlich laut und angelegentlich unterhalten, als ob wir gar keine Zeit hätten, zu bemerken, daß du so lange Zeit nicht bei uns warst. Nun weiter!«

»Weiter Sihdi? Ich habe ja noch gar nicht angefangen! Ich steckte den Ring an den Finger und schlenderte hinaus zu dem Kahwedschi hin. Ich war ihm sehr willkommen, und er fing sofort selbst mit mir an, denn er war sehr neugierig, zu erfahren, wer Ihr seid.«

»Jedenfalls hast du da den Mund sehr voll genommen!«

»Warum soll ich das nicht? Wenn ich einmal etwas in den Mund nehme, so muß es etwas Ordentliches sein, damit ich auch wirklich einen Genuß davon habe. Ich gab dich für den Minister des Sultans von Sitschilia und Mr. Lindsay für den obersten Sterndeuter des Kaisers von Antakijeh aus. Von mir selbst sagte ich, daß ich ein Montefik-Beduine bin und von Euch gemietet sei, Euch nach Buschehr und Schiras zu begleiten. Sobald mir dies über die Lippen gegangen war, glaubte ich, einen Fehler gemacht zu haben, denn der Kahwedschi brauchte doch nicht zu wissen, wohin wir wollen. Aber es waren mir nicht gleich andere Namen in den Mund und andere Gegenden in den Kopf gekommen, und es stellte sich nachher heraus, daß grad diese beiden Städte mir sein Herz geöffnet hatten. Er lud mich ein, mich zu ihm zu setzen, und als ich das gethan hatte, sprachen wir zunächst von den unendlichen Vorzügen des heißen Zuckerwassers, welches die eigentliche und richtige Weihe seines Vorhandenseins erst durch einen Zuguß von Araki bekommt. Dabei hielt und bewegte ich die Hand in der Weise, daß er den Ring sehen mußte. Es dauerte das zwar ziemlich lange, denn der Araki hatte die Zahl seiner Augen so vermehrt, daß er, wie er mir gestand, mich fünfzigmal sah und meine Hände sogar über zweihundertmal erblickte. Er schien also zweitausend Finger vor sich zu haben, was ihn so in Anspruch nahm, daß er für den Ring zunächst keine Spur von Aufmerksamkeit besitzen konnte. Aber als er ihn erst einmal entdeckt hatte, war der Eindruck, den er von ihm bekam, auch um so größer. Er bat mich, ihn betrachten zu dürfen. Natürlich erlaubte ich es ihm. Er gab mir die Hand und begrüßte mich als Sill, als »Schatten«, als Verbündeten, als heimlichen Kameraden. Er hielt mir eine große Rede, die aber so wenig Sinn hatte, daß sie nicht einmal als Unsinn bezeichnet werden kann. Ich konnte von hundert Worten, welche er sprach, kaum zehn verstehen, denn sein Mund glich einer mit Riri gefüllten Tandschara, in welcher sich die Zunge wie ein Quirl bewegte. Er erkundigte sich immer wieder, ob ich wirklich nach Buschehr und Schiras gehen werde, und als ich dies oft genug bejaht hatte, fragte er mich, ob ich da wohl der Sill sei, der den Brief abholen solle, welcher an Ghulam abzugeben sei. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich vorgab, dieser Mann zu sein und die beiden Fremden, den Minister und den Sterndeuter, nur aus dem Grunde in dieses Kaffeehaus geführt zu haben, um die Gelegenheit zu finden, den Brief in Empfang zu nehmen.«

»Das war richtig, lieber Halef. Aber hast du denn nicht herausbringen können, wer und was dieser Ghulam ist?«

»Nein. Ich sage dir, ich habe meinen ganzen Scharfsinn zusammengenommen; aber erstens war der Kahwedschi so betrunken, daß er alles vergessen hatte und sich auf nichts besinnen konnte, und zweitens mußte er doch annehmen, daß ich diesen Ghulam wenigstens ebenso gut kenne wie er. Eine unvorsichtige Frage hätte mich verraten; sie wäre das Eingeständnis gewesen, daß ich der Sill nicht sei, für den ich gelten wollte. Du siehst ein, daß ich mich sehr in acht zu nehmen hatte und keine Erkundigung, die ihm auffallen mußte, aussprechen durfte. Ich setzte zwar die Worte so, daß sie ihn eigentlich hätten zwingen müssen, sich über Ghulam auszusprechen, aber der Raki hatte ihm nur den hundersten Teil seines an und für sich schon armselig kleinen Verstandes übrig gelassen, und so redete er alles herüber und hinüber, herunter und hinauf, und brachte aber grad das nicht, was ich haben wollte.«

»Das ist fatal!«

»Vielleicht erfahren wir es unterwegs!«

»Schwerlich. Die Mißlichkeit liegt in dem Umstande, daß Ghulam zwar ein Name ist, aber auch einen Stand bedeutet. Ghulam kann jeder Mensch heißen; dieses Wort kommt im Persischen ebenso oft vor wie der Name Halef im Arabischen. Ghulam ist aber auch ein Diener; besonders werden berittene Diener so genannt, und unter Ghulam Pätschä versteht man den Pagen, den jungen Leibdiener eines hohen Herrn. Du siehst also, daß wir uns in einer Ungewißheit befinden, die uns in Verlegenheit bringen kann.«

»Vielleicht könnte uns der Inhalt des Briefes Aufschluß geben?«

»Möglich!«

»So öffne ihn doch!«

»Ich gehöre nicht zu den Leuten, denen das Briefgeheimnis nicht heilig ist.«

»Briefgeheimnis? Erlaube, Sihdi, daß jeder Brief geschrieben wird, um gelesen zu werden. Dieser ist an Ghulam gerichtet, der ihn lesen soll. Weil wir aber nicht wissen, wer, was und wo dieser Ghulam ist, wird er ihn nicht bekommen, außer wir öffnen das Schreiben, um zu erfahren, wo und an wen wir es abzugeben haben. Das Öffnen des Briefes ist also keine verbotene Handlung, sondern eine Notwendigkeit, und wenn wir ihr Gehorsam leisten, muß uns Ghulam dafür dankbar sein.«

»Wie schön du das zu sagen weißt, lieber Halef! Du bist immer der Schlaue!«

»Ja, der bin ich! Wenn die Länge deines Verstandes nicht ausreicht, so muß ich dir mit der Breite des meinigen zu Hilfe kommen. Das weißt du doch schon längst.«

»Leider aber gilt hier diese ganze Breite mit allen ihren Finessen nichts. Wenn wir den Adressaten des Briefes nicht kennen, haben wir uns bei dem, der dir das Schreiben übergeben hat, nach ihm zu erkundigen, also beim Kahwedschi. So ist die Sache.«

»Das dürfen wir aber doch nicht!«

»So müssen wir den Brief zurückgeben.«

»Das fällt uns gar nicht ein! Sihdi, ich würde den Brief öffnen, ohne zu denken, daß ich dadurch einen Platz in der Hölle bekomme. Dein Gewissen aber ist nicht so kräftig wie das meinige, sondern im höchsten Grade tschapuk kydschyklanyr, was unter Umständen, wie der jetzige, tief zu beklagen ist. Gieb mir den Brief wieder! Ich werde ihn aufmachen, und dann kannst du ihn lesen, ohne dir Vorwürfe darüber machen zu müssen.«

»Ich halte das noch nicht für notwendig; wir haben ja Zeit zum Ueberlegen. Erzähle weiter!«

»Der Kahwedschi war bereit, mir den Brief anzuvertrauen, und da dies aber niemand sehen sollte, wollte er dies heimlich thun, denn auch der Somali durfte nichts davon wissen. Er bat mich darum, mit ihm hinauf unter das Dach zu steigen, wo er ihn versteckt hatte.«

»Vielleicht befindet sich da oben überhaupt ein Versteck für Dinge, welche sich auf die geheime Verbrüderung der Sillan beziehen?«

»Das ist möglich, Sihdi.«

»Hast du nichts bemerkt?«

»Nein.«

»Der Kahwedschi scheint als Postbeamter dieser Verbindung thätig zu sein; da ist es denkbar, daß man außer Briefen auch andere Dinge bei ihm niederlegt. Wo hatte er das Schreiben versteckt?«

»Das werde ich dir gleich sagen, sobald ich an die betreffende Stelle komme. Wir gingen in den Hof, wo die Leiter steht. Ich mußte ihn führen, denn er wankte unausgesetzt zwischen dem Orient und dem Occident herüber und hinüber und knickte bei jedem Schritte zusammen, als ob er zehn übermäßige Kamellasten auf dem Rücken trage. Wie ich mit ihm die vielen Sprossen hinaufgekommen bin, das kann ich dir gar nicht sagen. Endlich oben angekommen, setzte er sich gleich nieder und wollte schlafen; er hatte alles, auch den Brief, vollständig vergessen, und ich mußte sehr lange in ihn hineinsprechen, ehe er sich besann, in welcher Absicht wir so mühsam heraufgeklettert waren.«

»Wie war der Raum beschaffen?«

»Er war so lang und breit wie das an vielen Stellen offene Rohrdach, aber so niedrig, daß man nicht aufrecht stehen konnte. Es lag da überall altes, wertloses Gerümpel herum, für welches ich nicht einen einzigen Piaster geboten hätte. Der Brief war in einen Lappen eingeschlagen und steckte in einer Ritze der Wand.«

»War diese Ritze groß?«

»Nein.«

»Steckte er allein darin?«

»Ja.«

»So bildete sie kein Sammelversteck und war bestimmt, nur ihn zu verbergen. Es ist mir das ein Beweis, daß es da oben überhaupt keine heimliche Stelle giebt, welche dem Sillan als Aufbewahrungsstätte dient. Es wird also wohl so sein, daß dem Kahwedschi nur zuweilen ein Brief zur Uebergabe an den Boten anvertraut wird. Wäre ein geheimes und regelmäßig benutztes Versteck vorhanden, so hätte der Wirt den Brief dahinein und nicht in die Wandritze gethan. Was hat er gesagt, als er dir ihn gab?«

»Auch wieder allerlei unverständliches Zeug. Als ich ihn eingesteckt hatte und wir wieder an die Leiter kamen, um herabzusteigen, weigerte er sich, dies zu thun. Er glaubte plötzlich, am Flusse zu sein; er sah die Wogen fließen und hörte ihr Rauschen; darum setzte er sich nieder und war nicht zu bewegen, den Fuß auf die Leiter zu setzen. Er wollte nicht ersaufen, sagte er; dann fiel er vollends um und schlief sofort ein. Das ist alles, was ich dir sagen kann. Weiter habe ich nichts gesehen und nichts erfahren können.«

»So möchte ich einmal zu ihm gehen.«

»Versuche, ob du mehr erfährst als ich. Ich glaube aber nicht, daß es dir gelingt. Soll ich dir zeigen, wo er ist?«

»Ich finde ihn selbst; zeigen ist also nicht notwendig; aber mitgehen kannst du doch.«

Als wir durch den Vorderraum kamen, sah ich den Somali. Es war so, wie Halef gesagt hatte: Er hatte den Mangal umgerissen und lag mit dem Kopfe in der Holzkohlenasche. Sein überlautes Schnarchen klang wie das Sägewerk einer im Gang befindlichen Schneidemühle.

Draußen im Hofe sah es fürchterlich aus. Gut, daß wir schon getrunken hatten. Dem Europäer, der nur einen kurzen Blick auf diesen Schmutz warf, war es gewiß unmöglich, drin im Kahwe auch nur einen einzigen Schluck zu genießen! Die Leiter lag an; ich stieg, von Halef gefolgt, hinauf und mußte in ein enges Loch kriechen, an dessen Rande der Wirt lag. Er hatte den Mund weit offen; sein Atem war unhörbar. Sein Zustand schien mehr Betäubung als Schlaf zu sein. Punsch und Grog sind eben nur für kalte Länder, nicht für den heißen Orient.

Ein forschender Blick durch den niedrigen, von Unrat starrenden Raum sagte mir, daß hier kein Platz zu einem wichtigen Verstecke sei. Ich steckte den goldenen Ring der Sillan als Erkennungszeichen an den Finger und rüttelte dann den Mann. Er wollte die Augen öffnen, brachte sie aber bei diesem ersten Versuche nicht auf. Ich rüttelte ihn stärker.

»Laß mich in Ruh!« knurrte er und wälzte sich auf die andere Seite, so daß er durch das Loch hinabgefallen wäre, wenn ich ihn nicht weggeschoben hätte.

Da nahm ich ihn bei den Schultern, setzte ihn auf und schüttelte ihn so lange, bis er die Augen vollständig offen hatte. Er starrte mich an, sagte aber nichts.

»Bist du wach? Kannst du sprechen?« fragte ich ihn.

»Spre – chen,« wiederholte er mein letztes Wort mechanisch.

»Kennst du mich?«

»Du – mich –?«

»Weißt du, wer du bist?«

»Du – bist –?«

Da hielt ich ihm den Ring vor die Augen und forderte ihn im strengsten Tone auf:

»Schau diesen Ring an! Er sagt dir, wer und was ich bin.«

Er richtete sein Auge zunächst gleichgültig auf meine Hand. Sobald er aber den Ring erblickte, wurde er aufmerksamer. Er faßte die Hand und zog sie näher an sich, um Gestalt und Schrift des Ringes zu betrachten. Dann ging es wie Schreck über sein Gesicht. Er versuchte, sich aufzurichten, brachte es aber nicht fertig.

»Hazret – Hazret – Hazret –!« stammelte er. Weiter brachte er kein Wort hervor.

»Wach doch vollends auf, Mensch! Ermanne dich, und nimm dich zusammen! Du bist betrunken!«

»Be – trun – ken ––?!«

Die Bedeutung dieses Wortes schien ihm nicht gleich gegenwärtig zu sein; er sann darüber nach.

»Ja, betrunken bist du, vollständig betrunken!« wiederholte ich.

Da kam es wie eine Spur von Erkenntnis in sein Auge. Er schüttelte den Kopf und antwortete:

»Nicht – betrunken – nicht! Ich kann – kann – ›Die Ungläubigen‹ sagen, kann – sie sagen. Soll – soll ich?«

»Ja, sprich sie mir einmal vor, aber ohne Fehler!« forderte ich ihn auf.

»Die Ungläubigen«, das ist nämlich die Ueberschrift der hundertneunten Sure des Koran. Sie lautet: »Sprich: o ihr Ungläubigen, ich verehre nicht das, was ihr verehret, und ihr verehret nicht, was ich verehre, und ich werde auch nie verehren das, was ihr verehret, und ihr werdet nie verehren das, was ich verehre. Ihr habt eure Religion, und ich habe die meinige.« In der deutschen Uebersetzung bietet dieser Text ja gar keine Schwierigkeiten; aber um so mehr muß derjenige aufpassen, der das arabische Original recitieren will. Ein Betrunkener bringt das gar nicht fertig; darum wird dieses Kurankapitel als Sura el Imtihan bezeichnet und auch sehr oft angewendet. Man fordert den Betrunkenen, welcher leugnet, betrunken zu sein, auf, diese Sure herzusagen. Bringt er das fehlerlos fertig, so hat er bewiesen, daß er nüchtern ist; verspricht er sich aber dabei, so ist sein Zustand zweifellos die Folge übermäßigen Trinkens. Jeder Muhammedaner kennt diese Eigenschaft und diese Anwendung der hundertneunten Sure, und auch dem Kahwedschi war sie bekannt. Kaum hatte ich das Wort betrunken ausgesprochen, so bot er mir an, durch diese Sure zu beweisen, daß er es nicht sei. Nachdem ich ihm meine Zustimmung dazu erteilt hatte, nahm er sich zusammen und begann:

»Sprich, o – o ihr Un – Ungläubigen, ich verehre, verehre – nicht euch, und ihr was mich, was euch, was mir; ihr verehret mich und ich euch, und ihr – ihr habt – habt meine Religion – Religion – ich habe eure – und ich – ich verehre – verehre mich nicht!«

»Dazu hast du auch ganz und gar keine Veranlassung!« lachte ich, denn im Arabischen war die von ihm angerichtete heillose Verwirrung noch viel lächerlicher als in der deutschen Uebersetzung, welche ich hier gebe. »Du kannst die Sure nicht richtig sagen und bist also betrunken!«

»Be – be – be –« stammelte er. »O Hazret – der Raki – Raki – und hei – heißes Zucker – Zuckerwasser – wasser!«

»Und nun du betrunken bist, weißt du nicht, was ich bin!« warf ich ihm vor.

»Was – was – o, ich weiß – weiß sehr gut! Hazret bist – bist Sill – Sill – hoher Sill – sehr, sehr hoher Sill!«

»Das ist dein Glück, daß du wenigstens das noch siehst. Weißt du aber auch, daß du hier diesem Sill« – ich deutete bei diesen Worten auf Halef – »den Brief gegeben hast, welchen Ghulam bekommen soll?«

»Brief –? Nein – nein – nicht gegeben; habe noch!«

»Weißt du, von wem er ist, dieser Brief?«

»Von – von Esara el – el Awar, der ihn geschrieben und – und mir – mir gegeben hat.«

»Wo ist Esara jetzt?«

»Nach Kor – Korna, wo – wo er wohnt.«

»Und weißt du wirklich ganz gewiß, für wen der Brief bestimmt ist?«

»Für – für Ghulam el – el Multasim

»Und wo Ghulam sich jetzt befindet?«

»In – in – Straße nach – ah – ah!«

Da war es mit seiner Beherrschung zu Ende. Er fiel um, schloß die Augen und lag nun wieder so betäubt wie vorher.

»Es ist aus, Sihdi,« sagte Halef.

»Du wirst nun nichts mehr von ihm erfahren, denn er hat –«

»Still!« unterbrach ich ihn. »Komm wieder mit hinunter!«

Wir stiegen die Leiter hinab und kehrten zu Lindsay zurück, welcher sich erkundigte, ob wir noch etwas erfahren hätten. Halef antwortete:

»Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß aus dem Betrunkenen noch etwas herauszubringen sei; dem Effendi ist es aber doch geglückt. Freilich, ich hätte mir die Fragen nicht getraut, die er ausgesprochen hat.«

»Warum nicht?« erkundigte ich mich.

»Weil ich sie für unvorsichtig gehalten hätte. Der Kahwedschi mußte doch hören, daß du nichts wußtest, und daraus schließen, daß du dich zwar für einen Sill ausgiebst, aber keiner bist.«

»Er mußte das hören? Mußte er das wirklich?«

»Ja.«

»Er hat es aber nicht gehört. Und noch viel weniger hat er einen Schluß gezogen; sein Zustand war ja ein solcher, daß er gar nicht folgerichtig denken konnte. Er erkannte nicht einmal seinen Gast in mir!«

»Das weißt du jetzt, wußtest es aber nicht vorher!«

»Sei gnädig gegen mich, lieber Halef! Ich gönne dir es zwar ganz gern, mir auch einmal einen Fehler, eine Unvorsichtigkeit nachweisen zu können, aber dieses Mal befindest du dich im Irrtume. Schon ehe ich den Betrunkenen zu Worte brachte, sah ich es ihm an, wie weit ich gehen könne. Sodann sprach ich im Tone eines Vorgesetzten, der hören will, wie weit der Untergebene unterrichtet und ob er bei Besinnung ist. Meine Fragen hätten den Kahwedschi, selbst wenn er weniger betrunken gewesen wäre, gewiß nicht auf den Gedanken gebracht, daß ich nicht zu den Sillan gehöre. Er hatte ja schon vollständig vergessen, dir den Brief gegeben zu haben. Grad so wird er, wenn er aus seiner Betäubung erwacht, gar nicht mehr wissen, daß ich bei ihm gewesen bin und mit ihm gesprochen habe. Ich werde meinen Ring, zufrieden mit dem Resultate, jetzt wieder in die Tasche stecken.«

»Bist du wirklich zufrieden?«

»Ja.«

»Ich aber hätte doch noch sehr gern gehört, wo Ghulam zu finden ist. Es ist schade, daß er grad dabei wieder in den bewußtlosen Mangel an Besinnung zurückkehrte, aus welchem du ihn vorher zum mangelhaften Hersagen der Sure der Ungläubigen aufgeweckt hattest!«

»Ich verlange nicht mehr, als er geben konnte. Wir haben den Namen und den Wohnort des Absenders erfahren und wissen sogar, daß er einäugig ist, was uns unter Umständen von Vorteil sein kann. Und wir wissen nun, daß Ghulam bloß ein Name und keine Standesbezeichnung ist. Der Mann heißt Ghulam el Multasim. Multasim bedeutet Pächter im allgemeinen und auch einen Staatsgutspächter im besonderen. Da in Persien die Zölle verpachtet sind, so ist dieser Ghulam wahrscheinlich ein Zollpächter.«

»Ja, Sihdi, wenn du aus seiner verworrenen Rede so bestimmte Schlüsse ziehst, so können wir, falls diese richtig sind, allerdings zufrieden sein.«

»Ich bin überzeugt, daß meine Vermutungen mich nicht irre führen. Vielleicht hat das, was wir hier erfahren haben, gar keine Folgen, keine Bedeutung für uns, aber da wir einmal schon so tief in die Geheimnisse der Sillan eingedrungen sind, so wollte ich auch die jetzige Gelegenheit benützen, etwas, und sei es noch so wenig, zu erfahren. Man weiß nicht, wozu es nützen kann.«

Da ergriff Lindsay das Wort:

»Nun redet doch endlich auch einmal eine Silbe mit mir! Sitze da, wie ein Waisenknabe, um den sich kein Mensch bekümmert, und verstehe nichts von alledem, was da gesprochen wird.«

»Sobald wir auf dem Schiffe sind, wird Halef alles erzählen,« tröstete ich ihn.

»Well! Bin schrecklich neugierig darauf. Ist übrigens nun Zeit, an Bord zu gehen. Wollen wir?«

»Ja. Aber wir müssen bezahlen, und der Wirt wird schwer aufzuwecken und dazu zu bringen sein, uns richtig zu sagen, was wir ihm schulden.«

»Ist ganz leicht abzumachen. Schreiben auf einen Zettel, was wir bekommen haben, schätzen das nach unserer Weise ab, wickeln das Geld in den Zettel und stecken es ihm in die Tasche. Nicht?«

»Ich halte das auch für das beste und kürzeste.«

»Well, werde das also machen. Ich zahle, Ihr nicht!«

Er riß ein Blatt aus seinem Merkbuche, notierte die Getränke darauf und wickelte das, was er dafür geben wollte und was jedenfalls nicht zu wenig war, hinein. Dann gingen wir in den Hof zu unsern Pferden, und er stieg die Leiter hinan, um dem Wirte den Betrag in die Tasche zu stecken.

Während er das that, führten wir beiden andern unsere Pferde vor das Haus, um uns dann nach dem Dampfer zu begeben, der ein Engländer mit vollständig englischer Bemannung war. Da traten zwei Männer durch das Mauerthor und kamen auf uns zu. Es war ihnen gleich beim ersten Blicke anzusehen, daß sie echte Söhne Old Englands seien. Beide hatten sonnverbrannte Gesichter. Den einen hielt ich sogleich für einen Seemann. Der andre war in neuwaschen glänzendes Weiß gekleidet, trug einen hellen Tropenhelm mit blauseidenem Schleier auf dem Kopfe, hellbraune Glac éhandschuhe an den Händen und an einer auffallend starken, goldenen Kette einen Klemmer auf der Nase. Diesem war die Zufriedenheit mit sich selbst sofort beim ersten Blicke anzusehen.

Sie blieben vor unsern Pferden stehen.

»Herrliche Tiere!« meinte der Seemann.

»Araber,« sagte der andere. »Unkultiviertes Geschlecht! Nur der Engländer weiß, was aus edlem Blute zu machen ist.«

»Sind diese nicht Rasse?«

»Freilich wohl, doch nicht von wohlüberlegter Zucht. Man sieht und kennt das ja! Alles Natur, aber eben bloß Natur. Kein Einfluß kennerischen Denkens. Wir Kavalleristen bemerken das sofort.«

Sie sprachen selbstverständlich englisch. Halef verstand nicht, was sie sagten, aber er sah dem weißen Gentleman an, daß seine Worte kein Lob enthielten. Sein Gesicht verfinsterte sich. Da wendete sich dieser kurz und befehlend in arabischer Sprache an uns:

»Wer seid ihr?«

Er erhielt keine Antwort.

»Wer ihr seid, habe ich gefragt!« wiederholte er, indem seine Brauen sich zusammenzogen. Und als wir auch jetzt still blieben, wendete er sich direkt an den kleinen Hadschi:

»Seid ihr stumm? Alle beide? Wie ist dein Name?«

Das geschah in so verweisendem Tone, von oben herab und geringschätzig, daß der Gefragte ihm auch jetzt nicht antwortete, aber zu mir sagte:

»Ja istiksa – welch eine Neugierde! Wer ist dieser Mensch, der nur den Stolz aber keinen Gruß auf den Lippen hat?«

Der Englishman schien das Arabische besser zu verstehen, als er es sprach. Er trat nahe an Halef heran, hob die Hand empor und rief:

»Mensch nennst du mich? Kerl, ich bin General! Soll ich dir meinen Gruß hinter die Ohren schreiben?«

»Lerne erst richtig reden, ehe du zu drohen wagst!« antwortete der Hadschi.

»Kleine, freche Kröte!«

Da riß Halef die Peitsche aus seinem Gürtel, und es hätte wohl eine unangenehme Scene gegeben, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht grad in diesem Augenblicke abgelenkt worden wäre:

»Bill! Du, du, Bill, hier in Basra?!« erklang es hinter uns.

Wir drehten uns um. Da stand Lindsay und starrte den General mit einem Erstaunen an, welches unmöglich größer sein konnte, als es sich sowohl in seiner Haltung als auch in seinem Gesicht aussprach.

»Ich denke, du bist in Kalkutta!« fügte er hinzu.

»Davy! Alter Davy!« rief der Offizier. »Ist es möglich? Ich habe geglaubt, du seist daheim!«

Sie nannten sich du. Sie waren also bekannte Freunde, vielleicht gar Verwandte. Wer aber geglaubt hätte, daß nun eine herzliche Begrüßung erfolgen werde, der wäre außerordentlich vom Irrtum befangen gewesen. Sie gingen auf einander zu, reichten sich die Hände, und damit war dem gutgeschulten Herzen wenigstens des einen volle Genüge geschehen.

»Du, du also bist der Gentleman!« meinte hierauf der General.

»Welcher Gentleman?« fragte Lindsay.

»Der drei Plätze auf dem Steamer des Kapitäns hier genommen hat.«

»Der bin ich allerdings.«

»Mußt mir zwei abtreten!«

»Unmöglich, Bill!«

»Pshaw! Wollte eigentlich alle drei haben. Da du es aber bist, sollst du einen behalten. Die beiden andern jedoch muß ich unbedingt haben!«

»Geht nicht!«

»Muß gehen! Bin zu spät von Kut herabgekommen. Wurde vom Konsul aufgehalten. Bin in geheimer, wichtiger Mission hier. Wurde dazu gewählt wegen meiner Erfahrungen und weil ich arabisch sprechen kann. Weißt du: Maskat – russische und französische Einflüsse – Landverbindung zwischen Konstantinopel und Bagdad bis Schatt el Arab – Beherrschung des persischen Golfes – habe schwierige Instruktionen  – jede andere Rücksicht muß sich unterordnen – kam den Tigris herab – war in Bagdad – muß nach Buschehr – von da nach Schiras und das Innere von Persien –«

»Das ist ja auch unsere Route!« unterbrach ihn Lindsay. »Können uns also zusammenschließen!«

»Du? Auch nach Persien? Well! Nehme grad dich unendlich gern mit. Hörte in Kut von dem englischen Steamer, welcher nach Buschihr geht. Bin sogleich herab; hörte, daß ein vornehmer Gentleman die drei Kabinen genommen habe. Er sei hier im Kaffeehause. Habe sie natürlich für mich belegt. Alles muß zurücktreten! Ging aber, da er als vornehm bezeichnet wurde, hierher, aus Höflichkeit, es ihm selbst zu sagen. Finde zu meiner Freude, daß du es bist, old Davy. Sollst einen der drei Plätze behalten dürfen. Werde mich einschränken – nur dir zu liebe!«

»Aber, das ist ja unmöglich, lieber Vetter!« behauptete Lindsay im Tone der Verlegenheit.

»Warum?«

»Weil die drei Plätze für mich und diese meine beiden Freunde sind.«

Er deutete bei diesen Worten auf Halef und mich. Der General hielt es gar nicht für nötig, uns sein Auge wieder zuzuwenden, und sagte, indem er seine Hand zum Ausdrucke unendlicher Geringschätzung hinter sich bewegte:

»Freunde? Yes! Ich kenne dich. Wieder einmal deine alte, wohlbekannte Humanitätsbetrunkenheit! Hast ganz vergessen, welche Entfernungen zwischen Mensch im niedern und Mensch in höherm Sinne liegen! Wirst dich daheim noch ganz unmöglich machen! Wer sind denn diese Leute? Besonders der Kleine, der Knirps, dem ich soeben eine Ohrfeige geben wollte!«

»Ohrfeige?« fiel da Lindsay rasch und erschrocken ein. »Daran denke ja nicht! Das wäre dein Tod!«

»Tod? Bist du bei Sinnen?!«

»Sehr! Dieser Araber würde eine solche Beleidigung augenblicklich mit der Kugel oder dem Messer beantworten!«

»Pshaw

»Gewiß! Versuche so etwas auf keinen Fall! Er ist Hadschi Halef, der Scheik der Haddedihn, ein weitberühmter Krieger, der nicht mit sich spaßen läßt!«

»Spaßen? Ist mir auch gar nicht in den Sinn gekommen! Wenn ich Ohrfeigen gebe, so thue ich das im Ernst. Und Scheik? Kann nicht imponieren. Orang bleibt Orang, und wenn er der Anführer anderer Orangs ist! Und der zweite Kerl, für den ich gar nicht vorhanden zu sein scheine? Impertinentes Gesicht!«

»Ist Hadschi Kara Ben Nemsi.«

»Araber?«

»Nein, Deutscher.«

»Das ist nicht viel anders! Diese Sorte treibt sich überall herum. Ist jedem wahren Gentleman im Wege!«

»Bitte! Er spricht und versteht das Englische!«

»Mir gleichgültig!«

»Aber mir nicht, lieber Bill! Wiederhole dir, daß diese Männer meine Freunde sind, mit denen ich nach Persien will. Die beiden Plätze gehören ihnen, und ich bin überzeugt, daß es ihnen nicht einfällt, sie dir abzutreten.«

»Gar keine Frage! Das ist abgemacht! Sie mögen sich bei dem Gepäck unterbringen lassen. Dahin gehören sie, nicht zu uns!«

»Bringst mich in Verlegenheit! Unendliche Verlegenheit! Wollen doch erst noch einmal an Bord. Muß gleich nachsehen, ob das nicht noch anders zu arrangieren ist!«

»So komm!« Er nahm Lindsay beim Arme und zog ihn fort. Dieser ging eine kleine Strecke mit, machte sich dann von ihm frei, kam zu uns zurück und sagte:

»Habt alles mit angehört? Fatale Lage für mich! Ist nahe verwandt mit mir. Hochbedeutender Mann! Vortrefflicher Offizier und Diplomat! Steht in Indien. Hat jedenfalls bedeutende Vollmachten. Muß mich fügen. Was sagt ihr dazu?«

Der gute David that mir unendlich leid. Der reine Mensch kam in ihm mit dem Menschen von Old England in Konflikt. Aber ich konnte ihm doch nichts anderes als nur die Wahrheit sagen:

»Mag dieser Steamer noch so groß sein, für ihn und uns zu gleicher Zeit giebt es keinen Platz an Bord. Ein Zusammenstoß wäre gar nicht zu vermeiden. Orang-Utangs verhalten sich nicht immer so zurückhaltend, wie es jetzt und hier geschehen ist!«

»Richtig! Miserabler Ausdruck von ihm! Bin euch dankbar, unendlich dankbar, daß ihr stillgeblieben seid! Gehe natürlich mit euch viel lieber als mit ihm. Muß ihm aber doch nach! Werde ihm alles genau sagen und vorstellen. Ihr tretet die Plätze also nicht ab?«

»Nein!«

»Well! Habe ihm das klar zu machen. Wartet hier, bis ich wiederkomme. Werde es so kurz wie möglich machen!«

Er eilte den beiden Gentlemen nach.

»Hast du alles verstanden, Sihdi?« fragte Halef nun.

»Ja.«

»Was wurde gesprochen?«

Ich gab ihm kurze Antwort. Die Beleidigungen verschwieg ich natürlich. Dann meinte er:

»Dieser Inglis erhob die Hand gegen mich. Er ahnte nicht, was er dabei wagte. Du sagst mir, daß er ein Verwandter unsers Freundes sei. Darum will ich nicht weiter über ihn sprechen, sondern schweigen. Komm, laß uns von hier fortgehen, durch das Thor, damit wir Lindsay schon von weitem sehen, wenn er kommt!«

Wir entfernten uns, die Pferde natürlich mitnehmend, so weit von dem Kaffeehause, daß wir den Steamer liegen sahen. Dort setzten wir uns auf die Steine nieder, um zu warten. Es war für den Dampfer noch nicht Zeit, abzugehen, doch ließ er schon nach wenigen Minuten die Pfeife dreimal hören, und wir sahen, daß er sich in Bewegung setzte.

»Geht er fort?« fragte Halef.

»Wie es scheint.«

»Mit Lindsay. Der hat ihn doch noch nicht verlassen!«

»Allerdings sonderbar! Komm, laß uns sehen!«

Wir stiegen auf die Pferde und ritten schnell die kurze Strecke hinab, bis wir uns dem Steamer gegenüber befanden. Er hatte schon das tiefe Fahrwasser gewonnen. Am Regeling stand Lindsay, der nach uns ausschaute. Als er uns sah, rief er uns zu:

»Kann nichts dafür! Bin überlistet worden! Soll ich in das Wasser springen und zu euch an das Ufer schwimmen?«

»Nein,« antwortete ich.

»Well! Lebt einstweilen wohl! Werde in Schiras auf euch warten. Darf ich?«

»Wie es Euch beliebt.«

»Will es thun. Auf Wiedersehn!«

Da trat der General zu ihm und zog ihn mit sich fort.

»Ist das Schiff abgegangen?« fragte Halef.

»Ja. Man hat Lindsay nichts davon gesagt. Nun muß er mit.«

Da schlug Halef die Hände froh wie ein Kind zusammen und rief aus:

»Alhamdulillah! Ich wollte es nicht gern eingestehen, Sihdi; aber mein Herz war tief betrübt, dich nicht mehr ganz allein zu haben! Dieser Inglis ist mir lieb; aber daß ich dich mit ihm zu teilen hatte, das raubte mir die Ruhe meines Innern. Wie freut es mich, daß du mir nun ganz zurückgegeben bist! Allah sendet zuweilen Augenblicke des Verzichtes, damit wir sehen und erkennen sollen, wie hoch der Wert dessen ist, was er uns beschieden hat. – Was aber thun wir nun? Noch eine Nacht in Basra bleiben?«

»Nein. Wir müßten am Kanale hin, nach der alten Stadt zurück, um unsere dumpfe Wohnung aufzusuchen.«

»Das war ein altes, stinkendes Loch, und doch sollte es die beste Wohnung sein, die es gab. Es hat mich vor dem Moderduft gegraut und vor dem faulen Wasser, welches wir zu trinken bekamen. Das Fieber brütet hier an jeder Stelle. Am liebsten möchte ich weit vom Flusse fort!«

»Ich bin einverstanden. Fahren wir noch über!«

»Mit demselben Fährmanne?«

»Ja. Ich vermute, daß er deine Peitsche noch nicht vergessen hat.«

»Schau, wie du plötzlich mit ihr einverstanden bist!«

»Einverstanden ist nicht das richtige Wort, lieber Halef, du wirst mich in dieser Beziehung schon noch begreifen lernen. Komm!«

»Ja, komm, Sihdi! Wollen dem Inglis eine gute Reise wünschen; uns aber auch! Wir waren zwar nur kurze Zeit hier; aber ich habe etwas in mir, was überflüssig ist. Wie ich es nennen soll, das weiß ich nicht, doch fühle ich ganz deutlich, daß es da ist. Hoffentlich werde ich diese Empfindung auf den freien, lichten Höhen des Gebirges wieder los!«

Wir ritten nach der Fähre. Der Mann saß da und schlief. Seine beiden Gehilfen lagen in seiner Nähe und – schliefen auch. Als wir die Schläfer weckten, wollte der Gebieter des Fahrzeuges grob werden; er hatte die Augen noch nicht ganz offen. Sobald sie aber geöffnet waren und er uns erkannte, sprang er auf und war zur Arbeit bereit. Es wurde der Preis ausgemacht, wobei er sich sehr gefügig zeigte. Als wir ihn dann am andern Ufer bezahlten und er ein kleines Extrageschenk erhielt, war er des Lobes unserer Güte voll. Halef lächelte über diesen Erfolg seiner Peitsche still in sich hinein.

  1. Siehe: Karl May »Auf fremden Pfaden« pag. 261
  2. Siehe Karl May »Durch die Wüste« pag. 318

Zweites Kapitel.

Zweites Kapitel.

Wir waren stundenlang schweigsam nebeneinander her geritten, und nun erklang diese Frage so plötzlich, so unerwartet, so unmotiviert, daß ich den Sprecher erstaunt ansah und keine Antwort gab. Das arabische Wort Sihdi bedeutet »Herr«. So pflegte mich Halef noch immer zu nennen, obgleich wir schon längst nicht mehr Herr und Diener, sondern Freunde waren.

»Sihdi, wie denkst du über das Sterben?« wiederholte er seine Frage, als ob er annehme, daß ich ihn nicht verstanden habe.

»Du kennst ja meine Ansicht über den Tod,« antwortete ich nun. »Er ist für mich nicht vorhanden.«

»Für mich auch nicht. Das weißt du wohl. Aber ich habe dich nicht nach dem Tode, sondern nach dem Sterben gefragt. Dieses ist da, kein Mensch kann es wegleugnen!«

»So sage mir zunächst, wie du zu dieser Frage kommst! Mein lieber, heiterer, stets lebensfroher Hadschi

Halef spricht vom Sterben! Hast du etwa einen besonderen Grund zu dieser deiner Frage?«

»Nein. Von meiner Seele, meinem Geiste, meinem Verstande wurde sie nicht ausgesprochen, sondern sie ist mir aus den Gliedern in den Mund gestiegen.«

Das klang wohl sonderbar; aber ich kannte meinen Halef. Er pflegte mit dergleichen, für den ersten Augenblick auffälligen Ausdrücken immer den Nagel auf den Kopf zu treffen. Darum wiederholte ich seine Worte:

»Aus den Gliedern? Fühlst du dich vielleicht nicht wohl?«

»Es fehlt mir nichts, Sihdi. Ich bin so gesund und so stark wie immer. Aber es ist etwas in mich hineingekrochen, was nicht hinein gehört. Es ist etwas Fremdes, etwas Ueberflüssiges, was ich nicht in mir dulden darf. Es steckt in meinen Gliedern, in den Armen, in den Beinen, in jeder Gegend meines Körpers. Ich weiß nicht, wie es heißt und was es will. Und dieses unbekannte, lästige Ding ist es, welches dich über das Sterben gefragt hat.«

»So wird es wohl wieder verschwinden, wenn wir es gar nicht beachten, ihm gar keine Antwort geben.«

»Meinst du? Gut; wollen das versuchen!«

Er kehrte nach diesen Worten in sein früheres Schweigen zurück.

Der liebe, kleine, so gern lustige Hadschi war seit gestern oder wohl schon seit vorgestern ungewöhnlich ernst und in sich gekehrt gewesen, bei ihm eine Seltenheit. Ich hatte angenommen, daß ihn irgend ein Gedanke innerlich beschäftige; nun aber wußte ich, daß dies nicht der Fall gewesen sei. Es war eine körperliche Indisposition vorhanden, von der ich annahm, daß sie bald vorübergehen werde.

Wir waren von Basra über Muhammera und Doraq an den um diese Zeit ziemlich wasserreichen Dscherrahi gekommen und hatten uns von ihm in die Berge des südlichen Luristan führen lassen. Nun war der Fluß längst verschwunden, und wir befanden uns in einem wasserarmen Gebiete, wo der Regen höchst selten und dann nur als kurzes, aber verheerendes Gewitter aufzutreten pflegt. Die Höhen ragten schroff und steil empor. Ihre Hänge waren kahl. Man sah keinen Baum, nur hie und da einen durstigen Strauch. Die Sonne brannte am Tage heiß hernieder; die Nächte hingegen waren empfindlich kalt, und wo es in den Schluchtentiefen mit Gras bewachsene Stellen gab, da hatte dieses Grün sein Dasein nur dem Tau der kalten, wunderbar sternenhellen Nächte zu verdanken.

Wir glaubten, morgen den obersten Zufluß des Quran zu erreichen. Dort, wo es Wald und Wasser gab, wollten wir uns ausruhen und unseren Pferden einige Tage Zeit lassen, sich von der jetzigen Anstrengung zu erholen.

Jetzt war es Nachmittag. Wir strebten einem Höhenkamm zu, dessen Erklimmen die Kräfte unserer Pferde so in Anspruch nahm, daß wir, als wir endlich oben angekommen waren, für einige Zeit anhielten, um sie verschnaufen zu lassen. Tief unter uns sahen wir das leere, wild zerrissene Bett eines Regenbaches, dem wir zu folgen hatten, wenn wir den jenseitigen Gebirgszug erreichen wollten. Ich sprach die Hoffnung aus, daß sich dort ein zum Uebernachten geeigneter Ort finden lassen werde. Aber Halef ging nicht, wie ich geglaubt hatte, auf diesen Gedanken ein, sondern er sagte:

»Sihdi, ich habe es versucht, doch vergeblich. Die Frage kommt immer wieder. Wie denkst du über das Sterben? Antworte mir; ich bitte dich!«

»Lieber Halef, meinst du nicht, daß es besser wäre, von etwas anderem zu sprechen?«

»Besser oder nicht besser; ich kann jetzt an nichts anderes denken. Es ist, wie ich schon sagte, nicht der Tod, den ich meine. Den habe auch ich früher für etwas Wahres gehalten, jetzt aber weiß ich, daß er nichts als Täuschung ist. Wenn wir von ihm sprechen, so meinen wir eben das Sterben, welches doch kein Tod ist. Hast du schon darüber nachgedacht?«

»Natürlich! Jeder ernste Mensch wird das thun. Warum fragst du denn nicht dich selbst? Du hast doch ebenso wie ich schon Menschen sterben sehen?«

»Nein, noch keinen!«

»Wieso? Ich habe doch mit dir vor Sterbenden gestanden!«

»Allerdings. Aber sterben sehen habe ich trotzdem noch keinen Einzigen. Man legt sich hin; man schließt die Augen; man röchelt; man hört auf zu atmen; dann ist man gestorben. Aber was ist dabei geschehen? Hat etwas aufgehört? Hat etwas angefangen? Hat sich etwas fortgesetzt, nur in anderer als der bisherigen Weise? Kannst du mir das sagen?«

»Nein, das kann ich nicht. Das kann überhaupt kein Lebender. Und wenn die Gestorbenen wiederkommen und zu uns sprechen könnten, wer weiß, ob sie es vermöchten, deine Frage zu beantworten. Sie würden vielleicht auch nichts weiter sagen können, als daß im Sterben die Seele von dem Leib geschieden wird.«

»Von ihm geschieden! Wo kam sie her? Wurde sie ihm gegeben? Ist sie in ihm entstanden? Was hat sie in ihm gewollt? Geht sie gern von ihm? Oder thut ihr das Scheiden von ihm weh?«

»Lieber Halef, ich bitte dich, von diesem Gegenstande abzubrechen! Was Gott allein wissen darf, das soll der Mensch nicht wissen wollen!«

»Woher weißt du, daß nur Allah es wissen darf? Das Sterben ist ein Scheiden. Ich darf ja wissen, wohin mich dieses Scheiden führen soll, nämlich in Allahs Himmel. Warum soll es mir verboten sein, zu erfahren, in welcher Weise dieser Abschied vor sich geht? Höre, Sihdi, während du in der vergangenen Nacht schliefest, habe ich darüber nachgedacht. Soll ich dir sagen, was mir da in den Sinn gekommen ist?«

»Ja. Sprich!«

»Ich bin der Scheik der Haddedihn, ein in der Dschesireh sehr reich gewordener Mann. Worin besteht mein Reichtum? In meinen Herden. Da sendet mir der Sultan einen Boten, durch welchen er mir sagen läßt, daß ich nach drei oder fünf Jahren in die Gegend von Edreneh ziehen soll, um Rosen zu züchten, welche mir den Duft ihres Oeles zu geben haben. Was werde ich thun? Kann ich meine Herden mitnehmen? Nein. Ich werde sie nach und nach aufgeben, um mir an ihrer Stelle anzueignen, was mir dort in Edreneh von Nutzen ist. Und wenn ich das gethan habe, so kann ich, wenn die Zeit gekommen ist, aus meinem bisherigen Lande scheiden, ohne mitnehmen zu müssen, was im neuen Lande mir nur hinderlich sein würde. So ist es auch beim Sterben. Ich wohne in diesem Leben, doch Allah hat mir seine Boten gesandt, welche mir sagen, daß ich für ein anderes bestimmt bin. Nun frage ich mich, was ich in jenem anderen Leben brauchen werde. Früher glaubte ich, es sei nichts weiter nötig, als nur der Kuran und seine Gerechtigkeit. Aber ich lernte dich kennen und erfuhr, daß diese Gerechtigkeit bei Allah nicht einen Para Wert besitzt. Ich weiß jetzt, was ich hier hinzugeben und was ich mir dafür für dort einzutauschen habe. Ich will Liebe anstatt des Hasses, Güte anstatt der Unduldsamkeit, Menschenfreundlichkeit anstatt des Stolzes, Versöhnlichkeit anstatt der Rachgier, und so könnte ich dir noch vieles andere sagen. Weißt du, was das heißt, und was das bedeutet? Ich habe aufzuhören, zu sein, der ich war, und ich habe anzufangen, ein ganz Anderer zu werden. Ich habe zu sterben, an jedem Tage und an jeder Stunde, und an jedem dieser Tage und an jeder dieser Stunden wird dafür etwas Neues und Besseres in mir geboren werden. Und wenn der letzte Rest des Alten verschwunden ist, so bin ich völlig neu geworden; ich kann nach Edreneh, nach Allahs Himmel gehen, und das, was wir das Sterben nennen, wird grad das Gegenteil davon, nämlich das Aufhören des immerwährenden bisherigen Sterbens sein!«

Nachdem er dies gesagt hatte, sah er mich erwartungsvoll an. Ich war nicht nur erstaunt, ich war sogar betroffen. War es denn möglich, daß mein Hadschi derartige Gedanken hegen und solche Worte sprechen konnte?!

»Halef, sag mir aufrichtig: aufrichtig: Bist du krank?« fragte ich ihn.

»Krank?« lächelte er. »Du meinst im Kopfe? Ist das, was ich gesagt habe, so thöricht gewesen?«

»Nein. Unklar zwar, aber so gut, so gut! Ich meine körperlich krank.«

»Ich sagte dir doch schon, daß ich gesund bin. Ein klein wenig matt bin ich seit gestern, und heut drückt etwas gegen meine Stirn. Die Sonne schien an diesen beiden Tagen gar so heiß. Das ist der Grund. Zu sagen hat es nichts.«

»Und anstatt zu schlafen, hast du deinen Gedanken nachgehangen. Wir werden heut eher als gewöhnlich Rast machen. Dir ist Ruhe nötig. Komm; reiten wir weiter!«

Es ging nur langsam in das Thal hinab, und dann folgten wir dem Regenbette, dessen Windungen uns wieder aufwärts führten. An einer schmalen Stelle ritt ich voran, als hinter mir ein lautes, zitterndes »Huh u uh!« erklang.

»Was war das?« fragte ich, indem ich mich umdrehte.

»Mich fror ganz plötzlich,« antwortete Halef.

Ich sagte nichts, aber ich begann, besorgt um ihn zu werden. Der wackere Hadschi besaß eine fast ebenso eiserne Gesundheit wie ich selbst, doch war es sehr leicht möglich, daß er während unseres Aufenthaltes in dem höchst ungesunden Basra einen Ansteckungsstoff in sich aufgenommen hatte, der nun in ihm zu wirken begann.

Als wir höher kamen, erhob sich ein scharfer Wind. Die Nacht versprach sehr kalt zu werden, und das Gesicht Halefs zeigte eine Entfärbung, die mir nicht gefiel. Ich wünschte sehr, baldigst an eine vom Zuge freie Stelle zu kommen, wo wir zur Nacht bleiben konnten. Dieses Verlangen wurde auch sehr bald erfüllt, wenn auch in anderer Weise, als ich erwartet hatte.

Wir erreichten das Ende oder vielmehr den Anfang des Regenbaches. Zwei Bergeshänge stießen zusammen und bildeten ein Becken, dessen undurchlässiger Felsengrund das Wasser angesammelt hatte. Es gab infolge der Feuchtigkeit da allerlei Gesträuch, mit Hilfe dessen man sich ein wärmendes Lagerfeuer gestatten konnte. Das war uns beiden natürlich sehr willkommen. Weniger erfreulich aber war, daß wir die Stelle schon besetzt fanden. Es lagen ein Dutzend Männer da, deren abgesattelte Pferde am Wasser grasten. Die Leute sprangen auf, als sie uns kommen sahen. Ihre zurücktretenden Stirnen und hohen Hinterköpfe ließen mich vermuten, daß sie Luren waren. Bewaffnet waren sie nicht besser und nicht schlechter als alle diese Bergbewohner. Ihre Kleidung war die gewöhnlicher armer Nomaden, und auch unter ihren Pferden gab es keines, welches einen besonderen Wert gehabt hätte. Ob wir in ihnen ehrliche oder unehrliche Leute vor uns hatten, das wußten wir natürlich nicht, doch waren wir gewohnt, vorsichtig zu sein. Daß sie uns mit neugierigen und unsere Pferde mit bewundernden Blicken betrachteten, konnte uns nicht auffallen. Und ebensowenig erregte es unser Bedenken, daß sie unseren Gruß nicht abwarteten, sondern uns in jenem Gemisch von Arabisch, Persisch und Kurdisch willkommen hießen, welches man in diesem Grenzgebiete so oft zu hören bekommt.

Es gab unweit des Wassers einen alten Mauerrest, der gegen den Wind schützte; jedenfalls die beste Lagerstelle hier an diesem Platze. Sie wurde uns sofort und freiwillig angeboten, und wir machten von dieser Zuvorkommenheit recht gern Gebrauch. Man fragte uns nicht nach Namen, Stand und Herkommen, auch nicht nach der Religion, was hier, wo Sunniten und Schiiten einander stets feindlich gegenüberstehen, eine Seltenheit war. Auch gab es keine der gewöhnlichen Aufdringlichkeiten, denen man bei dem Zusammentreffen mit derartigen Leuten fast stets ausgesetzt ist. Kurz, wir fanden keinen Grund, wegen der Anwesenheit dieser Männer um uns besorgt zu sein.

Selbst als wir unsere Pferde abgesattelt hatten, belästigten sie weder die Tiere noch gaben sie ihre Urteile über sie in jener lauten lärmenden Weise ab, welche zudringlich ist. Auch unsere, besonders meine Waffen fielen ihnen auf; das sahen wir ja, aber sie gestatteten sich nicht, uns nach ihnen zu fragen oder gar sie zu berühren und zu untersuchen. Wir waren in ihren Augen vornehme Fremde, denen sie mit Achtung und Rücksicht zu begegnen hatten. Diesen Eindruck machten sie auf uns.

Sie gingen nur ein einziges Mal aus ihrer höflichen Zurückhaltung heraus. Nämlich als Halef Holz zu sammeln begann, um für uns ein Feuer anzuzünden, leisteten sie ihm bereitwilligst Hilfe; dann aber hielten sie sich wieder so entfernt von uns wie vorher. Trotz allem beschloß ich, zu wachen, während der Hadschi schlafen würde. Die Ruhe that ihm not.

Ich nahm von unseren Datteln und aß. Halef versicherte, weder Hunger noch Appetit zu haben. Das hörte ich nicht gern. Dann sah ich wiederholt, daß er in sich zusammenschauerte.

»Friert dich wieder?« fragte ich ihn.

»Ja,« antwortete er. »Aber es ist wie ein Frieren ohne Kälte. Ich möchte gern etwas recht Heißes trinken. Meinst du, daß ich diese Leute hier um etwas Kaffee bitten dürfte?«

Die Nomaden hatten nämlich auf ihrem Feuer ein großes Blechgefäß stehen, in welchem sie Kaffee kochten. Der Geruch dieses Getränkes verfehlte auch auf mich seine Wirkung nicht. Ich ging also hin zu ihnen und brachte unser Anliegen vor. Ich sah ganz deutlich, daß man sich herzlich darüber freute, uns diesen Gefallen erweisen zu können. Der, welcher ihr Anführer zu sein schien, sagte:

»Herr, Ihr steigt in großer Güte zu uns nieder. Wir sind arme Leute, und dieser Kaffee wurde so bereitet, wie er sich für uns ziemt. Ihr aber sollt einen anderen, viel besseren haben, der Euer würdig ist. Habt nur einige Minuten Geduld; dann wird er fertig sein.«

Wir hätten ihn ja auch so genommen, wie sie ihn hatten; aber wenn man an Stelle des weniger Guten etwas Besseres bekommen kann, so wäre man ein Thor, es abzulehnen. Uebrigens pflegt man in jenen Gegenden dem Kaffee Gewürz beizumischen, welches nicht hinein gehört. Der, welchen sie jetzt tranken, duftete ziemlich stark nach Cardamomen, und das war weder nach meinem noch nach Halefs Geschmack. Ich erlaubte mir, ihnen dies zu sagen. Der Mann antwortete so schnell und bereitwillig, daß es mir unter anderen Umständen ganz gewiß aufgefallen wäre:

»Wir werden den Eurigen nicht würzen, Herr. Aber unsere Bohnen haben einen etwas bitteren Beigeschmack, der Euch ohne Gewürz mehr auffallen wird. Sie werden beim Händler in der Nähe einer bitteren Sache gestanden haben. Uns thut das nichts; Euch aber wird es ungewöhnlich sein.«

Die Verhältnisse in den Kaufläden des Orients sind so mangelhafte, daß es gar kein Wunder ist, wenn irgend eine Sache den Geruch oder Geschmack einer anderen »anzieht«. Daß der Kaffee ein wenig bitter schmecken werde, konnte also keinen irgend welchen Verdacht in uns erwecken; aber der Eifer, mit dem es mir gesagt wurde, hätte meine Aufmerksamkeit erregen sollen. Diese Leute hatten, wie wir später erfuhren, uns schon lange Zeit, bevor wir sie bemerkten, von der jenseitigen Höhe herabkommen sehen und sich aus ganz bestimmten Gründen bei unserer Annäherung so gestellt, als ob sie keine Ahnung von uns gehabt hätten. Zu dem Plane, den sie ausführten, gehörte ganz besonders auch der Kaffee, den sie uns angeboten hätten, wenn ich nicht von selbst mit meiner Bitte gekommen wäre.

Das Frostgefühl Halefs nahm zu. Es schüttelte ihn, und darum war es wohl begreiflich, daß er, als wir das heiße Getränk bekamen, einen großen Becher voll auf einmal leerte und ihn sich auch gleich wieder füllen ließ. Ich genoß meinen Teil langsamer. Er war stark, sehr stark. Ich nahm freilich an, daß die Ursache dieser Uebertreibung nur darin liege, daß wir für vornehme Leute gehalten wurden. Bitter war er allerdings auch, aber man hat in den fernen, einsamen Grenzbergen zwischen Khusistan und Luristan keine Ursache, den Feinschmecker herauszukehren, und so trank ich nach und nach ebenso viel wie der Hadschi – drei große Becher voll. Ich that dies besonders in der Absicht, dadurch zum Wachen angeregt zu werden. Wir pflegten, abwechselnd zu wachen; heut aber hatte ich mir im stillen vorgenommen, Halef nicht aus dem Schlafe zu wecken.

Unsere Pferde grasten ganz in unserer Nähe. Sie waren gewohnt, sich nicht von uns zu entfernen. Und ebenso gehörte es zu ihrer Eigenart, daß sie sich nur gezwungener Weise zu anderen Pferden gesellten. Sie hatten ihre »Geheimnisse«. Was das heißt, habe ich an anderen Orten wiederholt gesagt. Hierzu muß noch erwähnt werden, daß sie von Halef dressiert worden waren, auf den zweimaligen Zuruf des Wortes »Litath« und einen dazwischen tönenden Pfiff jeden fremden Reiter abzuwerfen. Der Beduine liebt dergleichen Dinge und hat auch Zeit genug, sie seinen Pferden beizubringen. Sie können unter Umständen von großem Nutzen sein.

Mein Assil Ben Rih war gewöhnt, daß ich ihm des Abends, ehe ich mich schlafen legte, die Sure »Abu Laheb« langsam und deutlich in das Ohr sagte. Er hätte keinem Menschen Gehorsam geleistet, der dies nicht wußte und also unterließ. Ich that dies auch heut und streckte mich dann, in meine Decke gehüllt, neben Halef aus, obwohl es nicht meine Absicht war, einzuschlafen.

Zunächst machte ich die Bemerkung, daß mich der starke Kaffee nicht nur an-, sondern sogar aufgeregt hatte. Meine Denkkraft war in die schnellste Bewegung gesetzt. Es jagte eine Vorstellung die andere; ich konnte keine Idee festhalten. Dabei war diese innerliche Ruhelosigkeit keineswegs von der äußeren begleitet. Ich bewegte mich nicht. Es fiel mir gar nicht ein, auch nur ein Glied zu rühren. Ich hatte das Gefühl, daß ich mich überhaupt nicht mehr bewegen könne, aber zum festen, klaren Bewußtsein wurde es mir nicht.

Zuerst sah ich die sich hetzenden Gedanken trotz ihrer Schnelligkeit deutlich an und in mir vorüber fliegen. Nach und nach verloren sie ihre Bestimmtheit; sie wurden verschwommen; dann konnte ich sie überhaupt nicht mehr voneinander unterscheiden, und schließlich wußte ich von ihnen gar nichts mehr; aber auch ich selbst war mir verschwunden, vollständig verschwunden.

Später war es mir, als ob ich einigemale halb aufgewacht, aber sofort wieder eingeschlafen sei. Das wiederholte sich, bis mir irgend ein Etwas in mir zuflüsterte, daß ich in einem unnatürlich tiefen Schlaf liege, den ich unbedingt zu besiegen habe. Dieses Etwas war ich selbst; ich hatte mich wiedergefunden. Und nun begann ein Ringen mit den widerstrebenden Augenlidern und der bleiernen Gliederschwere, die mich fest und unbeweglich an dem Boden halten wollte. Dazwischen hinein war es mir, als ob ich das Krachen des Donners höre. Das Rauschen des Windes und des Regens drang mir wie aus weiter Ferne an das Ohr, und dann kam es mir vor, als ob ich in kalter Nässe liege, welche den ganzen Körper durchdrang und ihn aber glücklicherweise auch endlich, endlich wieder bewegungsfähig machte. Ich strengte meinen ganzen Willen an, und da gelang es mir, den Oberkörper aufzurichten und die Augen zu öffnen. Was aber sah ich da!

Der Himmel war verschwunden. Ein fürchterliches Gewitter tobte. Ein Blitz zuckte nach dem anderen. Der Donner schien keine Pause zu kennen. Es ging Krach auf Krach und Schlag auf Schlag. Der Regen fiel wie eine kompakte Masse nieder. Er hatte das Felsenbecken, dessen Boden vorher nur bedeckt gewesen war, fast ganz bis oben angefüllt. Vor mir saß Halef, mit dem Rücken am Gemäuer lehnend. Seine Augen waren geschlossen. Er regte sich nicht. Seine Kleidung bestand nur aus Hose, Weste, Hemd und Stiefeln. Der Regen troff von diesen vollständig durchnäßten Stücken. Das lenkte meinen Blick auf mich selbst. Auch ich hatte nur Hose, Weste, Hemd und Stiefel, ganz so wie Halef, weiter nichts, alles andere fehlte. Kein Mensch außer uns beiden rinsumher! Die Nomaden waren fort, mit ihnen unsere Pferde, unsere Waffen und alles, was wir sonst noch besessen hatten. Ein Griff in meine Taschen zeigte mir, daß sie vollständig leer waren. Man hatte uns ausgeraubt, und wir mußten noch froh sein, daß wir nicht vollständig ausgezogen worden waren.

Ich kann nicht sagen, daß ich über diese Entdeckung erschrak. Selbst wenn ich ein schreckhafter Mensch wäre, so würde der Zustand der Betäubung, dem ich mich doch noch nicht ganz entrungen hatte, eine so energische Regung, wie der Schreck ist, gar nicht zugelassen haben. Ich rieb mir die Stirn, und es gelang mir, zwei Gedanken herauszureiben. Der erste war, daß wir in dem Kaffee Opium oder etwas dem Aehnliches getrunken hatten. Opiate sind ja in Persien, ihrem Erzeugungslande, von jedermann sehr leicht zu haben. Und zweitens sagte ich mir, daß uns jetzt nichts so sehr wie ruhige Ueberlegung geboten sei.

»Halef!« rief ich dem Gefährten zwischen zwei Donnerschlägen zu.

Er antwortete nicht. Ich wiederholte seinen Namen und schüttelte ihn am Arme. Die Wirkung war eine höchst sonderbare:

»Litaht!« rief er fast überlaut. Dann steckte er, ohne die Augen zu öffnen, den Zeigefinger krumm in den Mund, brachte einen schrillen Pfiff hervor und schrie dann das Wort zum zweitenmale.

Das war das Zeichen für die Pferde, Fremden nicht zu gehorchen, sondern sie abzuwerfen. Warum jetzt dieses Zeichen? Es war gewiß ein Zusammenhang der Ideen oder der Umstände, welcher ihn veranlaßte, es zu geben. Ich rüttelte ihn stärker und so lange, bis er die Augen aufschlug. Er starrte mich wie abwesend an.

»Halef, weißt du, wer ich bin?« fragte ich.

Da trat das Bewußtsein in seinen Blick, und er antwortete:

»Mein Sihdi bist du. Wer denn sonst?«

»Wie befindest du dich? Wie ist dir jetzt?«

»Warm, sehr warm,« lächelte er.

Wie? Warm? Mich, den Gesunden, durchdrang eine eisige Kälte, und er, dessen Zustand mir Besorgnis eingeflößt hatte, fühlte sich warm, sogar sehr warm! Wenn ich richtig vermutet hatte und eine Krankheit bei ihm im Anzuge war, so konnte die jetzige Durchnässung ihm im höchsten Grade gefährlich werden. Und da fühlte er sich warm! War es etwa das Fieber, welches hier einmal als Wohlthäter auftrat und ihm das Leben rettete?

»Weißt du, wo wir sind und was geschehen ist?« fragte ich ihn weiter.

Er schloß die Augen, wie um nachzusinnen, und antwortete nicht gleich. Dann öffnete er sie wieder, sprang mit einem einzigen Rucke in die Höhe und rief aus:

»Sihdi, du bist stets gegen den Gebrauch der Peitsche; aber hier ist sie es, welche das Wort zu sprechen hat! Es waren zwölf Mann. Sobald wir sie erwischt haben, bekommt ein jeder hundert Hiebe; das macht zusammen zwölfhundert Hiebe. Welche Seligkeit für mich!«

Er stand da, stolz und gerade aufgerichtet, als ob ihm nichts, aber auch gar nichts fehle. Bis auf das Hemd ausgeraubt, vollständig mittellos, sprach er doch genau so, als ob er der Beherrscher der Situation sei. Darum sagte ich:

»Rede mit Ueberlegung, lieber Halef! Schau dich und mich an! Wir sind Bettler; wir sind ganz ohnmächtige Menschen!«

»Bettler? Ohnmächtig? Was fällt dir ein! Wenn du nicht mein Sihdi wärest, so würde ich dir sagen, daß du dich schämen solltest, so ohne Selbstvertrauen zu sein! Kennst du denn dich und mich nicht mehr? Hast du vergessen, was wir alles erlebt und erzwungen haben? Bettler und ohnmächtig! Du bist der klügste Mann des Abend- und ich bin der pfiffigste Halef des ganzen Morgenlandes! Grad daß wir vollständig ausgeraubt und scheinbar ohne Mittel und ohne Hilfe sind, muß uns willkommen sein! Denn das giebt uns Gelegenheit, zu zeigen, was wir können! Laß mich nur machen! Ich werde überlegen. Ich habe nicht immer geschlafen; ich bin auch aufgewacht; aber bewegen konnte ich mich leider nicht. Ich habe gesehen, und ich habe gehört. Was? Darüber will ich nachdenken.«

Er setzte sich wieder nieder, obgleich die Stelle naß wie jede andere war. Den Kopf in die Hände legend, sah er auf die Erde. Dabei sagte er, indem er zwischen den einzelnen Worten oder Sätzen längere oder kürzere Pausen machte:

»Ich wurde hin und her gewälzt, wachte aber nicht auf. – Ich fühlte fremde Hände in meinen Taschen, konnte mich aber nicht wehren. – Man hatte uns schon drüben auf dem Bergkämme stehen sehen, wo wir die Pferde ausruhen ließen. – Man beschloß, uns nicht zu überfallen und nicht zu töten, sondern mit Esjuhn wehrlos zu machen. – Dann war es Tag geworden. Ich hörte die Hufe der Pferde und dachte an unsere Hengste. Das gab mir Kraft, die Augen aufzuschlagen. Ich sah, daß die Diebe fort wollten. Eben schwangen sich zwei auf unsere Rappen. Der Grimm darüber machte mich sofort gesund, leider nur für einen Augenblick. Ich rief zweimal das Wort und gab den Pfiff. Die Hengste gehorchten sofort. Sie gingen in die Luft, und die beiden Kerle flogen in weitem Bogen auf die Erde nieder. Der eine stand wieder auf. Der andere aber konnte das nicht thun; er mußte aufgehoben werden. Allah gebe, daß er ein Bein gebrochen hat, noch besser aber alle beide! – Dann schlief ich wieder ein, doch nicht auf lange Zeit, denn ich sah sie fortreiten, da grad hinauf; jenseits verschwanden sie. Die helle Morgensonne schien. Nun aber kam der tiefste Schlaf, aus welchem mich der Donner weckte. Ich setzte mich auf und lehnte mich hierher. Mehr zu thun, hatte ich nicht die Kraft. – Ich träumte allerlei, bis ich von dir aufgerüttelt wurde. – Das, Sihdi, ist es, was ich dir sagen kann, weiter nichts!«

Wie kam es wohl, daß er nicht so tief wie ich geschlafen hatte? Hatten die in seinem Körper thätigen Krankheitserreger die Wirkung des Opiums abgeschwächt? Wohl möglich! Da umzuckte uns ein Blitz, als ob wir mit der Umgebung in einer einzigen Flamme ständen; es folgte ein betäubender Donnerschlag, und dann gab es plötzlich keinen Tropfen Regen mehr. Das Wetter war vorüber; die Wolken verschwanden schnell, und hierauf schien die Sonne erwärmend und trocknend auf uns hernieder. Ihr Stand sagte uns, daß es Nachmittag gegen drei Uhr sei. Uhren hatten wir nicht mehr.

Es war, als ob uns mit der Sonne die volle Lebenskraft zurückgegeben worden sei. Halef behauptete, er sei vollständig gesund und wohl und fühle nicht das geringste Unbehagen. Er wurde, wie sich später herausstellte, getäuscht. Ich hatte Kopfschmerzen und vermißte sowohl die körperliche als auch die geistige Elastizität. Das konnte mich aber nicht hindern, zu thun, was nötig war. Zu überlegen gab es nichts. Wir konnten nichts anderes thun, als den Dieben folgen. Der Regen hatte zwar alle ihre Spuren weggewischt, aber wir wußten doch, nach welcher Richtung sie sich entfernt hatten. Eigentlich war es lächerlich, daß wir ohne alle Waffen und zu Fuße wohlbewaffnete Reiter verfolgen wollten, um ihnen ihren Raub wieder abzunehmen; aber sie konnten doch nicht wochenlang in einer Tour fortreiten. Sie mußten einen Ort haben, an welchem sie wohnten, und dieser konnte nicht wohl jenseits der Grenzen dieser Berge liegen. Wir mußten uns auf unsern Scharfsinn verlassen und unserem alten, guten Glück Vertrauen schenken. Die größte Mißlichkeit unserer Lage bestand darin, daß wir ohne Lebensmittel waren. Aber verhungern konnten wir nicht, denn nur eine Tagesreise von hier gab es am oberen Quran bewohntes Land, wo wir wohl bekommen würden, was uns nötig war. Uebrigens trug ich auf der Brust die Brieftasche mit den Geldwerten, welche mich gegen jeden späteren Mangel sicher stellten. Es fiel mir nicht im geringsten ein, gleich von vornherein an unserem Erfolge zu verzweifeln. Wenn Halef munter blieb, konnte sich sehr wohl ein guter Ausgang einstellen. Er behauptete, bereit zu sein, und so traten wir in dem scheinbar hilflosen Zustande, in welchem wir uns befanden, an eine Aufgabe heran, zu deren Lösung mehr, viel mehr gehörte, als uns zur Verfügung stand.

Das Trocknen unserer höchst mangelhaften Anzüge ganz einfach der Sonne überlassend, verließen wir das Wasserbecken und stiegen in der Richtung bergan, in welcher sich die Nomaden entfernt hatten. Es war eine Art Bergsattel, auf dessen anderer Seite sie verschwunden waren. Gebahnte Wege gab es natürlich nicht. Jeder konnte die ihm beliebige Richtung einschlagen; aber es verstand sich ganz von selbst, daß er sich den bequemsten Ab- oder Aufstieg suchte. Wenn das Terrain mehrere bequeme Richtungen bot und es keine Spuren gab, so war es freilich für uns schwer, zu bestimmen, wohin die Gesuchten sich gewendet hatten. Das war hier oben der Fall. Gegenüber lagen nackte Höhen, hinter denen im Osten Berge emporstiegen, welche bewaldet oder doch wenigstens mit Gebüsch bestanden zu sein schienen. Es war anzunehmen, daß die von uns Verfolgten dorthin geritten seien. Gerade vor uns ging ein breiter, sanft geneigter Felsenhang hinab, an dessen Fuße drei verschiedene, nach Osten gehende Thäler mündeten. Welches von diesen dreien war gewählt worden? Das wußten wir nicht. Jammerschade, daß der Regen jede Spur verwaschen hatte.

Wir stiegen hinab und begannen, das Terrain abzusuchen, obgleich wir keine Hoffnung auf Erfolg hatten. Aber das Glück, von dem ich vorhin sprach, war uns günstig. Das mittlere dieser Thäler war das breiteste und, wie es schien, bequemste. Darum gingen wir zunächst eine Strecke weit in dasselbe hinein. Da sahen wir den zwei Finger starken Ast eines Strauches liegen. Er war gewiß erst heut früh abgeschnitten und gehörte derselben Buschgattung an, welche oben am Wasser gestanden hatte. Er war an dem einen Ende zersplittert und zwischen diesen Splittern hingen zwei lange schwarze Pferdehaare. Er lag ganz nahe an einem hoch und glatt aufragenden Felsenstück, dessen Vorderseite fast ganz trocken war, weil der Wind den Regen von Süden her gebracht hatte. Es gab da in fast Manneshöhe eine feuchte, rote Stelle am Gestein, und unten auf dem Erdboden war ein mehrere Hände großer Flecken geronnenen Blutes zu sehen, welches der Regen nicht getroffen und also auch nicht aufgelöst hatte.

»Ob das ein Beweis ist, daß unsere Spitzbuben hier gewesen sind?« fragte Halef.

»Ja. Und zwar ein sicherer Beweis,« antwortete ich. »Um welches von unseren Pferden es sich handelt, das weiß ich nicht; aber man hat eines von ihnen hierher an den Felsen gedrängt, um es zu zwingen, sich besteigen zu lassen. Es hat sich gewehrt und ist dafür mit diesem Aste gezüchtigt worden. Man hat ihn an dem edlen Tiere in Splitter geschlagen und diesem dabei diese Haare aus dem Schwanze gerissen. Aber der Hengst hat die Missethat sofort vergolten und den Betreffenden so getroffen, wahrscheinlich an die Brust, daß aus seiner Lunge ein Bluterguß erfolgt ist. Sie sind also in diesem Thale aufwärts geritten, und wir wissen nun, welche Richtung wir einzuschlagen haben, wenn wir ihnen folgen wollen.«

»Wie? Was?« fragte Halef zornig. »Unseren Barkh oder unseren Assil Ben Rih geschlagen? Mit diesem Knüppel hier? Das muß hundertfach gerochen werden! Das erste Gebot für uns ist, Allah zu lieben; das zweite ist, die Menschen zu lieben, und das dritte ist, die Tiere und überhaupt alle Geschöpfe zu lieben, welche uns dienen sollen, weil Allah sie uns anvertraut hat. Wer gegen eines dieser drei Gebote handelt, der ist ja gar nicht wert, daß sie ihm gegeben worden sind! Ich will nicht etwa sagen, daß das Schlagen überhaupt verboten sei, denn warum hätte man sonst die Peitsche erfunden, und wozu wäre da ganz besonders auch meine eigene Kurbatsch vorhanden, welche in diesem Augenblick allerdings nicht mehr vorhanden ist? Ich hoffe aber, daß ich sie sehr bald wiederbekomme, um die Hiebe, mit denen die edle Haut unseres Pferdes entweiht worden ist, mit Zinsen und wieder Zinseszinsen von diesen Zinsen zurückgeben zu können! Wer ein Pferd schlägt, durch dessen Adern reines Blut und edler Wille fließt, der ist ein Schuft, ein Schurke, ein elender Taugenichts, der die größte Verachtung verdient. Und wenn er gar das Pferd vorher gestohlen hat und mit dem Knüppel also eine Stelle bearbeitet, welche gar nicht sein rechtmäßiges Eigentum ist, so – so – so fehlen mir überhaupt die Worte, dir zu erklären, wie unendlich tief der Abgrund der Niederträchtigkeit ist, in dem er diese mir ganz unbegreifliche That begangen hat!«

Das war so recht die Gesinnung und die Ausdrucksweise meines kleinen Hadschi. Er stand mit geballten Fäusten vor mir. Seine Augen blitzten, und sein Gesicht zeigte den Ausdruck des höchsten Zornes. Ein Vollblutpferd mit dem Stocke zu bestrafen, das ging ihm über alle menschenmöglichen Begriffe. Er riß mir den Ast aus der Hand und fuhr fort:

»Gieb ihn mir! Ich sehe den Rücken schon von weitem, auf welchem ich dieses Werkzeug der Missethat vollends zersplittern werde!«

»Sei ruhig, Halef,« fiel ich ein. »Schau hier das Blut! Die That ist ja schon gerächt worden, und zwar viel strenger, als du sie rächen könntest.«

»Meinst du! Hm! Ja! Der Haupttäter hat seinen Lohn bekommen. Aber es waren elf andere dabei, welche die Mißhandlungen geduldet haben. Traust du mir etwa zu, daß ich sie begnadige?«

Diese Frage war so ernst gemeint, daß ich über sie lächeln mußte.

»Warum lachst du?« fragte er. »Willst du etwa meinen Grimm vergrößern? Soll ich nun auch noch auf dich zornig werden?«

»Nein; das wünsche ich nicht, lieber Halef. Aber schaue dich an, und schenke auch mir einen Blick! Wie stehen wir da! Wie sehen wir aus! Worin besteht unser Besitz und unsere Macht? Und da sprichst du von Begnadigung?«

»Warum soll ich das nicht?« fragte er im Tone des Erstaunens. »Werden wir etwa so, wie wir jetzt aussehen, hier stehen bleiben? Haben wir nicht soeben die Spur derer entdeckt, welche wir suchen? Werden wir ihnen denn nicht alles wieder abnehmen, was sie uns gestohlen haben? Und sind sie dann nicht ganz und gar in unsere Hände gegeben? O, Sihdi, von dir habe ich gelernt, an mich und dich zu glauben, und nun bist grad du es selbst, der keinen Glauben hat! Was soll ich von dir denken! Selbst wenn es aus allen anderen Gründen unmöglich wäre, an diesen Schurken Vergeltung zu üben, so ist doch diese eine Unthat, unser Pferd geschlagen zu haben, so ungeheuerlich, daß sich das Kismet gezwungen sehen muß, uns diese Kerle auszuliefern! Also zweifle nicht! Ich weiß, was kommen wird. Paß auf, was ich jetzt thue!«

Er schleuderte den Ast weit von sich und fügte dann hinzu:

»So wie ich dieses Werkzeug des Verbrechens wegwerfe, so werde ich alle meine Güte und Gnade von mir werfen, wenn diese Spitzbuben mich um Schonung bitten! Sei so gut und komme mir dann ja nicht mit deiner wohlbekannten ›Menschenliebe‹, mit welcher du mir schon so manche unbezahlte Rechnung ausgestrichen hast! Ich will und werde mich rächen, und zwar so, wie ich mich noch nie gerächt habe. Jetzt komm! Wir wollen fort von hier! Wir dürfen keine Zeit versäumen, um Gericht zu halten über alle, die uns beraubt, belogen, betrogen und beleidigt haben!«

Wir gingen, um dem Thale zu folgen, in welchem wir uns befanden. Mein Gesicht schien jetzt einen Ausdruck zu haben, der Halef nicht gefiel, denn dieser sah mich, während wir neben einander gingen, forschend an und sagte dann:

»Du lächelst abermals und doch ist es kein Lächeln. Du lächelst zwar sehr deutlich, aber innerlich. Habe ich recht?«

»Ja,« nickte ich.

»So sag: Was kommt dir spaßhaft vor?«

»Deine Ungnade.«

»Die ist ganz und gar nicht lächerlich. Ich meine doch, daß du mich kennst, Sihdi!«

»Ja, ich kenne dich!«

»Nun? Weiter? Was willst du sagen?«

»Dein Grimm will oft die ganze Welt verschlingen. Dann aber schleicht sich heimlich und leise dein gutes Herz heran, um diese ganze Welt verzeihend zu umarmen!«

»So! Also so stark und so schwach bin ich in deinen Augen?«

»Ja, aber nicht so, wie du es meinst, sondern umgekehrt: schwach im Grimme und stark in deiner Güte.«

»Höre, Sihdi, ich will nicht mit dir streiten. Ich streite ja überhaupt nie mit dir, weil ich dir sonst zeigen müßte, daß du immer und immer unrecht hast. Und diese Kränkung will ich dir ersparen, denn ich bin dein wahrer Freund, und liebe dich. Aber dieses Mal muß ich dir doch sagen, daß du dich in mir täuschest. Es wird meinem Herzen nicht einfallen, geschlichen zu kommen, um hinter meinem Rücken meinen Grimm in Liebe zu verwandeln. Du denkst nie so scharf und empfindest nie so tief wie ich! Ich habe vorhin mit ganz besonderer Absicht gesagt: beraubt, belogen, betrogen und sogar auch noch beleidigt. Diese Beleidigung kannst du freilich nicht so ganz unten in der tiefsten Tiefe des Zornes fühlen wie ich, denn du bist ein Abendländer aus Dschermanistan, wo man es für höflich hält, das Heiligtum des Hauptes preiszugeben. Ihr grüßt, indem ihr dem Kopfe das nehmt, was an jedem Kopfe das Allerwichtigste ist, nämlich die Bedeckung. Ich aber bin ein Scheik des Morgenlandes aus der Dschesireh, wo man es für eine Schande hält, die ehrenvolle Würde des Scheitels zu entblößen. Wer mich zwingt, unbedeckten Hauptes zu erscheinen, der hat schlimmer an mir gehandelt, als wenn er mir hundert Ohrfeigen oder tausend Stockhiebe gegeben hätte. Er hat ein Verbrechen an mir begangen, welches ihm zu verzeihen mir ganz unmöglich ist. Nun schau mich an! Was siehest du? Oder vielmehr, was siehest du nicht?«

»Das Allerwichtigste, was es an deinem Kopfe giebt,« antwortete ich.

»Halt! Lächle nicht etwa schon wieder! Diese Kerle haben mir nicht nur den Fez geraubt, sondern auch das Turbantuch, mit welchem man den obersten und höchsten Teil des Morgenlandes schmückt. Ich bin der hervorragendste Punkt des berühmten Volkes der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar. Und dieser Punkt ist unbedeckt, der Luft, der Sonne, dem Regen und jedem Auge preisgegeben! Verstehest du das? Kannst du mir das nachfühlen, wenn ich mir Mühe gebe, es dir so deutlich wie möglich vorzuempfinden? Ist es dir möglich, die Größe der Schande zu ermessen, welche mir angethan worden ist? Oder ist es nötig, die Thätigkeit deines Begriffsvermögens durch ein erklärendes Beispiel zu unterstützen?«

»Laß mich dieses Beispiel hören!« forderte ich ihn auf, denn wie ich ihn kannte, war jetzt eine seiner Uebertreibungen, also etwas Drolliges zu erwarten.

»So höre, was ich dir sage! Ihr entblößt aus Höflichkeit das Haupt, wenn aber wir höflich sein wollen, so ziehen wir die Pantoffeln aus. Wieviel Menschen giebt es in eurem Abendlande?«

»Viele, viele Millionen.«

»Aber ist auch nur ein einziger Scheik der Haddedihn dabei?«

»Nein; keiner.«

»So wirst du einsehen, was für eine seltene und wichtige Person ich bin! Also vernimm nun den Vergleich: Daß man mir den Fez und das Turbantuch gestohlen hat, ist eine noch viel größere Missethat, als wenn allen deinen abendländlichen Millionen ihre sämtlichen Pantoffeln gestohlen worden wären. Das siehst du doch wohl ein?«

»Hm!«

»Ich will dieses ›Hm!‹ nicht hören, weil es mich an deiner Einsicht zweifeln läßt. Ich hoffe, es ist dir nun klar geworden, daß ich die Rache für diese Beleidigung unmöglich den Händen meines guten Herzens anvertrauen – höre, Sihdi, was hast du schon wieder zu lächeln?« unterbrach er sich.

»Ich wundere mich über die ›Hände‹ deines Herzens, lieber Halef.«

»So! Ah – hm – Hände! Du willst die schöne, geläufig fließende Sprache meines Mundes mit Fehlern belasten, daß sie stecken bleiben möge? O, Sihdi, verdoppele ja nicht meinen Zorn, denn er ist auch ohnedies schon so groß, daß er, wenn er dich träfe, dich vollständig vernichten würde. Ich will dich aber schonen und darum werde ich schweigen!«

Er rückte um einige Schritte von mir ab, um mir zu zeigen, daß er mit mir schmolle. Das that er immer, wenn ich es für nötig hielt, gegen seine Eigenart eine leise Verwahrung einzulegen; doch war seine Indignation nie von langer Dauer. Er konnte es nicht aushalten, einen trennenden Gedankenstrich zwischen sich und mir zu wissen.

Wir waren noch nicht weit vorwärts gekommen, so hatten wir Veranlassung, wieder stehen zu bleiben. Das Thal stieg hier in fast schnurgerader Richtung nach oben, und es war uns also ein ziemlich weiter Blick in den vor uns liegenden Teil desselben gestattet. Da sahen wir eine Schar berittener Männer, welche uns entgegenkamen und, als sie uns bemerkten, halten blieben, um uns zu beobachten.

»Schau, Sihdi, da kommt Rettung!« rief Halef, schnell seinen Groll vergessend. »Siehst du sie?«

»Rettung?« fragte ich. »Abwarten!«

»Da ist gar nichts abzuwarten! Genommen kann uns nichts werden, denn wir haben ja nichts mehr. Und wer uns nichts Böses thun kann, der muß uns doch Gutes thun. Es sind acht Personen, aber elf Pferde. Wie fangen wir es an, um zwei von den ledigen Tieren zu bekommen? Ich weiß es!«

»Nun, wie?«

»Auf Kredit. Wenn sie hören, wer ich bin, werden sie bereit sein, uns mit zwei Pferden auszuhelfen!«

»Wollen es versuchen. Komm!«

Wir gingen also weiter. Als die Retter dies sahen, setzten auch sie sich wieder in Bewegung. Nach zwei Minuten hielten sie an, und wir standen vor ihnen. Sie waren schwarzhaarige, dunkelgefärbte Männer mit Gesichtszügen, die an Kurdistan gemahnten. Bei derartigen Begegnungen richtet man den ersten Blick auf die Reiter, den zweiten auf die Pferde. Wir sahen, daß wir von diesen Fremden nicht unfreundlich betrachtet wurden. Ihr Pferdematerial war ein mittelmäßiges. Dem entsprachen auch ihre Anzüge und die Waffen, welche sie trugen. Zwei von den ledigen Pferden waren zum Reiten gesattelt. Auf dem Packsattel des dritten sahen wir ein in eine alte, schlechte Decke gewickeltes Bündel festgeschnallt. Der Anführer, ein stark gebauter, vollbärtiger Mann, wartete nicht, bis wir ihn grüßten, sondern er hob seine Rechte bis in die Gegend des Herzens und sagte in höflichem Tone:

»Ni, vro’l ker!«

Das war der gewöhnliche kurdische »Gutentag«-Gruß. Er enthielt keine übertreibende Höflichkeit und klang ebenso aufrichtig, wie er einfach war. Das gefiel uns. Wenn wir bedachten, wie wir vor diesen Leuten standen, so war gewiß anzuerkennen, daß ihr Anführer uns den Gruß zuerst gegeben hatte. Wir dankten ihm mit gleicher Höflichkeit; dann nannte er uns, ohne von uns gefragt worden zu sein, aus eigenem Antrieb seinen Namen:

»Ich bin Nafar Ben Schuri, der Scheik der Dinarun. Wir befinden uns auf der Jagd. Unser Lager ist gegen Osten eine Stunde weit von hier.«

Wir sahen, daß er nun unsere Antwort erwarte. Ich ließ es geschehen, daß Halef sie gab. Er that dies natürlich in der ihm geläufigen Weise, auf welche er grad unter den gegenwärtigen, für uns so mißlichen Umständen am allerwenigsten verzichtet hätte. Was unserer persönlichen Erscheinung mangelte, das mußte unbedingt durch klingende Worte ergänzt werden.

»Ich bin Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, der Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar. Ich hoffe, daß dir dieser Name nicht unbekannt ist!«

Es war allerdings, als der Anführer diesen Namen hörte, wie eine Art von Leuchten über sein Gesicht gegangen. Nun antwortete er:

»Ich habe von dir gehört. Einige meiner Leute sind vor mehreren Tagen von Basra heimgekehrt. Sie haben dich gesehen und mir von dir erzählt.«

Das war Wasser auf Halefs Mühle. Er reckte seine kleine Gestalt so hoch wie möglich empor und fiel in stolzem, selbstbewußtem Tone ein:

»Von meinen Thaten auch? In der Sahara? In Aegypten? In Arabien? In Kurdistan?«

»Alles nicht, aber vieles,« lächelte Nafar Ben Schuri. »Wenn Allah will, werde ich noch mehr von dir selbst erfahren.«

»Er wird es wollen, hoffe ich! Aber sieh hier diesen anderen Mann, meinen Freund und Begleiter, an! Sein Name ist eigentlich noch viel, viel länger als der meinige; aber er liebt es nicht, daß derselbe von Anfang bis zum Ende vorgetragen wird. Darum will ich ihn einstweilen nur Kara Ben Nemsi aus Dschermanistan nennen. Was ich erlebt habe, hat er fast alles miterlebt. Ich will dir nur die allerwichtigsten unserer Thaten aufzählen, denn wenn ich dir alle nennen wollte, so –«

Er hielt mitten in der Rede inne, denn ich hob die Hand auf, um ihm Einhalt zu thun. Grad die sogenannten »großen Thaten« waren es ja, die er mit den buntesten Blumen auszuschmücken pflegte. Den orientalischen Zuhörern konnte seine überschwengliche Ausdrucksweise freilich nicht auffallen, weil sie meist selbst keine andere gewöhnt waren; aber ich liebte sie nicht und suchte sie darum, so oft dies möglich war, in die richtigen Grenzen zurückzuleiten. So auch jetzt. Er gehorchte zwar sogleich, warf mir aber die bedauernde Bemerkung zu:

»Sihdi, winke mir doch nicht immer grad dann zu, wenn ich spreche! Du weißt ja, daß mich das stört! Winkst du mir, wenn ich schweige, so habe ich ja viel mehr Zeit, deinen Wink zu beachten. Das wirst du wohl einsehen!« Sich hierauf dem Anführer wieder zuwendend, fuhr er fort: »Die letzte und allergrößte unserer Thaten geschieht eben jetzt, indem wir dir begegnen. Wir stehen grad im Begriffe, zwölf Schurken, welche uns ausgeraubt haben, zu verfolgen, zu ergreifen, zu richten und zu bestrafen!«

Nafars Gesicht zeigte einen zwar undefinierbaren, aber leicht erklärlichen Ausdruck, als er hierauf fragte:

»Man hat euch ausgeraubt?«

»Ja. Das siehst du doch!«

»Ihr habt keine Pferde?«

»Nein. Oder siehst du welche?«

»Waren die Räuber beritten?«

»Ja.«

»Und dennoch wollt ihr sie verfolgen?«

»Natürlich! Es kann uns doch gar nicht einfallen, sie entkommen zu lassen.«

»Und ihr glaubt, sie einholen zu können?«

»Ganz gewiß!«

»Etwa mit euren Beinen? Auf diesen euren Füßen?«

»Fällt uns auch nicht ein!«

»Wie denn?«

»Ganz selbstverständlich auf den Füßen eurer Pferde!«

»Maschallah! Ihr glaubt, daß wir euch helfen werden?«

»Es wäre uns wohl lieb, wenn ihr es thätet, aber unbedingt notwendig ist es nicht. Wir brauchen zwei Pferde, zwei Gewehre, zwei Messer, zwei Fez‘, zwei Haïks und Pulver und Blei. Das kaufen wir euch ab.«

»Du sprichst sehr kurz und bestimmt. Könnt ihr denn dies alles bezahlen?«

»Sogleich freilich nicht; aber ich bin Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn, und wenn ich mein Wort gebe, daß ich sogar den doppelten Preis zahlen werde, so frage ich: Wer wagt es, zu behaupten, daß ich es nicht halten werde?«

»Niemand. Ich glaube dir. Aber ich habe euch noch nie gesehen, und ich besitze keinen Beweis, ob ihr wirklich die berühmten Männer seid, deren Namen du genannt hast. Es ist also ein ganz besonderer Handel, auf den ich mit dir eingehen soll. Erlaube uns, o Scheik der Haddedihn, daß wir von unseren Pferden steigen, um uns von dir erzählen zu lassen, von wem und in welcher Weise der Raub an euch begangen worden ist!«

Das klang so vernünftig und so hilfsbereit. Daß er vorher gesprächsweise prüfen wollte, konnten wir ihm nicht im geringsten übelnehmen. Die Dinarun stiegen von ihren Tieren und setzten sich, einen Halbkreis bildend, nieder. Wir nahmen vor ihnen Platz, und dann begann Halef zu erzählen. Er that dabei alles mögliche, unsere Unvorsichtigkeit zu entschuldigen und die an uns begangene Missethat ins grellste Licht zu stellen. Als er geendet hatte, richtete der Anführer die Frage an ihn:

»So wißt ihr also nicht genau, wer diese Menschen gewesen sind?«

»Nein,« antwortete Halef.

»Auch nicht, wo sie wohnen?«

»Auch nicht.«

Da ging ein breites, frohes Lächeln über das dunkle, bärtige Gesicht Nafars, und er sagte:

»Wie gut für euch, daß ihr uns begegnet seid! Was ihr nicht wißt, das könnt ihr von uns erfahren.«

»Von euch?« fragte Halef schnell. »Wißt ihr denn etwas über diese Halunken?«

»Ja,« nickte der Anführer.

»Was und woher?«

»Wir sind ihnen ja begegnet!«

»Ihr? Ihnen? Begegnet?« rief Halef aus, indem er aufsprang. »Hamdulillah! Das ist ja ganz so gut, als ob wir sie schon hätten! Wo und wann ist das geschehen?«

»Um die Mittagszeit, im Nordosten von hier. Ich weiß die Stelle ganz genau. Und da ihr Hadschi Halef und Kara Ben Nemsi seid, so bin ich gern erbötig, euch die Hilfe unseres ganzen Lagers anzubieten. Ja, es stimmt: Es waren zwölf Personen, aber zwei von ihnen schienen krank oder verwundet zu sein –«

»Der vom Pferde Abgeworfene und der vom Pferde Geschlagene!« unterbrach ihn Halef.

»Eure beiden Rappen wurden an den Zügeln geleitet. Es saß niemand auf ihnen, und erst jetzt fällt es mir ein, daß sie sehr aufgeregt zu sein schienen.«

»Habt ihr mit den Leuten gesprochen?«

»Nein. Sie schienen das nicht zu wünschen und ritten, nur kurz grüßend, an uns vorüber. Später sahen wir einen zusammengebundenen Gegenstand an der Erde liegen. Es ist möglich, daß sie ihn verloren haben, aber keineswegs gewiß, denn wir haben nicht auf ihre Fährten geachtet und wissen also nicht, ob er auf ihren Spuren lag. Nachdem wir aber euch hier getroffen und erfahren haben, was euch geschehen ist, so vermute ich, daß die darin befindlichen Sachen euch gehören. Wir öffneten natürlich das Paket und haben also gesehen, was es enthält. Es scheint alles zu sein, was euch an eurer Kleidung fehlt.«

Er winkte einem seiner Leute, welcher das Bündel vom Packsattel löste, um es herbeizubringen, zu öffnen und dann den Inhalt vor uns auszubreiten. Es war zu unserer gewiß nicht unangenehmen Ueberraschung so, wie er gesagt hatte: Da lagen unsere Decken, die Ha ïks, die Fez‘, die Turbantücher, die Jacken und auch die kleineren, unwichtigen Gegenstände, welche zu unseren Anzügen gehörten. Es fehlte nichts; es war, als ob man mit besonderer Aufmerksamkeit darauf bedacht gewesen sei, gerade diese Kleidungsstücke von den anderen uns geraubten Sachen in der Weise abzusondern, daß ein glücklicher Umstand sie uns vollständig zurückzugeben habe. Später sahen wir freilich ein, daß uns dies hätte auffallen müssen; zunächst aber erregte der willkommene Fund nicht das geringste Bedenken in uns, zumal die Taschen leer waren und es keinen Grund für uns gab, auf irgend eine Absichtlichkeit zu schließen. Das Paket war schlecht festgebunden gewesen. Man hatte es also während des Rittes verloren und dies nicht sogleich bemerkt. Freilich lag die Frage nahe, warum man nicht umgekehrt war, es zu suchen, als man endlich doch gewahrte, daß es abhanden gekommen sei. Das war aber nicht schwer zu erklären: Wer einen Raub begangen hat, der sucht zunächst, sich möglichst weit zu entfernen; zur Umkehr müssen wichtige Gründe vorliegen, und der Wert dieser Kleidungsstücke war doch nicht ein so hoher, daß man ihretwegen eine Zeit von vielleicht mehreren Stunden hätte versäumen mögen. Dazu kam die Begegnung der Diebe mit den Dinarun. Die ersteren mußten sich, sobald sie den Verlust bemerkten, sagen, daß die letzteren das Paket gefunden haben und, wenn man es von ihnen zurückverlangte, gewiß nach der Berechtigung dazu fragen würden. Das konnte sehr leicht zu unangenehmen Forschungen und Weiterungen führen – kurz und gut, es war weder für mich noch für Halef unbegreiflich, daß wir unsere Sachen so hübsch bei einander vor uns liegen sahen. Freilich an den Umstand, daß es für mich überhaupt keinen Zufall giebt, dachte in diesem Augenblick keiner von uns beiden. Halef, der stets Schnellerfertige von uns, rief, als er die Sachen sah, voller Freude aus:

»Maschallah! Was erblicken meine Augen! Da liegt ja die ganze Ehre unserer Häupter und die ganze Zierde unserer Glieder vor uns ausgebreitet! Ich sehe nicht ein einziges Stück, welches sich nicht dabei befindet, sondern es ist alles, alles da! Sihdi, ich fordere dich auf, im Verein mit meinem Munde zu erklären, daß das Kismet ehrlicher und gerechter ist, als diese Spitzbuben es gewesen sind! Das gütige Fatum zeigt uns hier wieder einmal, daß wir in die vorderste Reihe seiner Lieblinge gehören. Und weißt du, warum es uns zunächst die geraubte Kleidung zurücksendet?«

»Nun, warum?« fragte ich.

»Weil wir sie nötiger als alles andere haben und damit wir hieraus erkennen sollen, daß wir auch das, was noch fehlt, zurückbekommen werden. Was sitzest du da und regst dich nicht! Folge doch meinem Beispiele; die Sachen gehören doch uns!«

Er war nämlich aufgesprungen und nun eifrig damit beschäftigt, die Kleidungsstücke so eilig anzulegen, als ob sein ganzes Heil in der vollständigen Umhüllung seines kleinen, schmächtigen, aber außerordentlich sehnen- und nervenstarken Körpers bestehe. Ich folgte nun seinem Beispiele, wenn auch in langsamerer und bedächtigerer Weise.

»So!« sagte er, als er fertig war. »Jetzt bin ich wieder Hadschi Halef Omar, aber weiter nichts. Der berühmte Krieger und Scheik der Haddedihn werde ich erst dann wieder sein, wenn ich mein Pferd und meine Waffen wieder habe. Aber wehe dann allen denen, welche fähig gewesen sind, einen solchen Verrat und Bruch der Gastfreundschaft an uns zu verüben! Ich werde über sie Gericht halten wie der Erzengel Midschaïl, dem das Schwert der Rache in die Hand gegeben ist! Ich werde weder Gnade noch Güte walten lassen! Ich werde so hart sein wie der Kieselstein am Ufer des Tigris und so unnachgiebig wie der Grimm, der sich im Magen eines hungrigen Löwen regt. Ich werde sie packen, wie der schwarze Panther seine Tatzen in das Genick der Kameelstute schlägt, und ich werde sie festhalten, wie das Krokodil seine Beute nie aus den Zähnen läßt! Ihre Qualen werden größer sein als die Qualen aller Höllen, die es giebt, und wenn sie vor Schmerzen stöhnen, wie der Hammel unter der Hand des Schlächters stöhnt, so werde ich lächelnden Mundes dabeisitzen und mich freuen, daß sie der wohlverdienten Strafe nicht entgangen sind!«

Das klang schrecklich genug. Wer ihn nicht kannte, der konnte allerdings glauben, daß er in voller Ueberzeugung spreche. Die Dinarun warfen einander heimlich sein sollende Blicke zu. Das war nicht zu verwundern, wenn man unsere Lage mit den Worten des Hadschi verglich. Nafar blieb ernst, doch hatte seine Stimme einen ungewöhnlich freundlichen, teilnehmenden Ton, als er jetzt sagte:

»Ich sehe, daß diese Sachen allerdings euer Eigentum sind. Wir haben sie gefunden, geben sie euch aber gern. Es freut mich, daß ihr nun als Männer vor mir steht, denen man ansieht, daß sie gewohnt sind, zu befehlen, nicht aber, zu gehorchen. Wir sind bereit, euch Hilfe zu erweisen. Ihr könnt einstweilen diese beiden Pferde, dann aber auch noch bessere bekommen, wenn ihr einwilligt, unsere Gäste zu sein und uns nach unserem Lager zu begleiten. Auch Gewehre, Messer und Pulver werden wir euch geben. Und wenn ihr es für nützlich haltet, bin ich sogar bereit, euch mit einer Anzahl meiner Leute zu begleiten, um den Dieben nachzueilen und ihnen abzunehmen, was sie euch entwendet haben.«

Konnten wir willkommenere Worte hören? Gewiß nicht! Ich wollte ihm sagen, daß ich bereit sei, sein Anerbieten dankbar anzunehmen, doch Halef kam mir zuvor. Er rief begeistert aus:

»Wie glücklich ist der Stamm, dem du angehörst, o Nafar Ben Schuri. Die Weisheit spricht aus deinem Munde, und von deinen Lippen klingen die Töne des Verstandes! Die Großväter deiner Ahnen und Urahnen sind die klügsten Leute ihres Volkes gewesen, und die Urenkel deiner spätesten Nachkommen werden berühmt in allen Ländern und Gegenden des Erdkreises sein. Wir sind gekommen, das Glück deines guten Herzens zu erhöhen, indem wir annehmen, was du uns bietest. Wir werden innige Freundschaft und ein ewiges Bündnis mit dir schließen. Wir sind bereit, dich sofort nach deinem Lager zu begleiten, und ich verspreche dir –«

»Halt!« unterbrach ich ihn, denn er wäre in seiner Freude fähig gewesen, Zugeständnisse zu machen, denen nachzukommen uns später nicht möglich war.

»Was?« fragte er. »Bist du etwa mit dem, was ich sage, nicht einverstanden, Sihdi?«

»Darin, daß wir die uns angebotene Hilfe annehmen, stimme ich dir bei, Halef. Aber nach dem Lager können wir nicht gleich mit.«

»Warum?«

»Es ist nur noch kurze Zeit bis zum Untergang der Sonne. Dann werden die Diebe Halt machen. Ich möchte womöglich erfahren, wo sie die Nacht zubringen. Gelingt uns das, so können wir bis früh schon wieder im Besitze unserer Pferde sein. Wir können also nur eins thun, nämlich jetzt sogleich ihren Spuren folgen.«

»Das ist wahr!« gab er zu.

»Ja, das ist richtig!« stimmte auch Nafar bei. »Und damit ihr seht, daß ich es wirklich freundlich mit euch meine, erkläre ich, daß wir euch begleiten werden. Ihr werdet aber einsehen, daß ich einen Boten in das Lager senden muß!«

»Natürlich! Er hat Nachricht zu geben, daß und warum ihr heut nicht zurückkehrt,« sagte ich.

»Noch mehr!«

»Was?«

»Wir sind nicht so berühmte Krieger, welche, so wie ihr, ohne Waffen und fast in der Minderzahl einen Feind verfolgen, der gezeigt hat, daß er zu allem fähig ist. Ich bin es meinen Leuten schuldig, Vorsicht walten zu lassen, und so –«

»Vorsicht?« fiel da Halef schnell ein. »Minderzahl? Wir waren nur zwei, und wie sahen wir aus – und doch sind wir hinter den Dieben her! Ihr seid acht, mit uns zehn, genau so viel, wie die Feinde zählen, von denen zwei krank sind!«

»Aber ihr habt noch keine Waffen!«

»Die haben wir!«

»Wo?«

»Da – dort – bei den Spitzbuben! Die haben ja unsere Gewehre, und die holen wir uns!«

Da ging ein eigenartiges Lächeln über das Gesicht des Anführers. Er strich sich mit der Hand über den dunklen Bart und sagte in bedächtigem Tone:

»Ja, es ist alles wahr, was ich von Hadschi Halef Omar, dem Scheik der Haddedihn, vernommen habe. Deine Gedanken haben die Schnelligkeit des Blitzes; hierauf folgt sofort der Donner deiner Worte, und wie der Regenguß kommt dann die schnelle That. Aber wir wissen zwar, was jetzt ist und wie es ist, doch wie es sein wird und was noch kommen kann, das wissen wir nicht. Wenn zehn Männer gegen andere zehn Männer stehen und man aber leicht eine größere Schar haben kann, so soll man nicht auf diesen Vorteil verzichten. Habe ich recht oder nicht, Sihdi?«

Diese Frage war an mich gerichtet, und so antwortete ich:

»Ich stimme dir bei, falls dieser Zuwachs an Kriegern nicht mit Verlusten andererseits verbunden ist.«

»Welche Verluste könnten das wohl sein?«

»Ich meine vor allen Dingen die Zeit, welche wir dadurch verlieren könnten.«

»Wir haben keinen Augenblick zu opfern, Sihdi, denn wir folgen ja sofort der Spur der Diebe, während sich nur ein einziger Mann von uns trennt, um nach dem Lager zu reiten und mehr Leute zu holen.«

»Wie folgen uns diese? Auf unserer Fährte?«

»Nein. Denn wenn sie dies thäten, so müßten sie erst wieder hierher, und dann kämen sie freilich zu spät. Sie könnten dann unsere Spuren nicht mehr sehen, weil es inzwischen dunkel werden muß.«

Er sann einige Augenblicke nach und fuhr dann fort:

»Die Reiter hatten die Richtung nach dem Dschebel Ma; das ist der ›Berg des Wassers‹, weil es dort eine Quelle giebt. Ich bin überzeugt, daß sie dort in der Nacht lagern werden. Ich lasse dreißig oder vierzig Krieger holen, welche vor diesem Berge an einer Stelle, wo wir auf sie warten werden, auf uns zu treffen haben. Meinst du nicht, daß dies richtig sein wird?«

Es war ein Glück für uns, diesem Scheik der Dinarun und seinen Leuten begegnet zu sein. Ich hätte freilich gern eine andere Disposition getroffen, fühlte mich ihm aber zu Dank verpflichtet und durfte es nicht zu einer vielleicht möglichen Verstimmung zwischen ihm und mir kommen lassen. Darum erklärte ich:

»Wir kennen diese Gegend nicht; euch aber ist sie wohlbekannt; darum bin ich überzeugt, daß dein Rat der beste ist, der uns gegeben werden kann. Wir werden ihn befolgen.«

»Ich danke dir, Sihdi! Du wirst die Erfahrung machen, daß sich niemand täuscht, der mir vertraut. Wir kehren also mit euch beiden um.«

Er gab einem seiner Leute die nötigen Befehle, und als dieser im Galopp fortritt und das ledige Packpferd mitnahm, stiegen wir auf und schlugen die Richtung ein, aus welcher die Dinarun gekommen waren.

»Brrr!« schüttelte sich Halef, als wir kaum einen Kilometer zurückgelegt hatten.

»Friert dich wieder?« fragte ich ihn.

»Ja. Aber es ist auch noch etwas anderes.«

»Was?«

»Mein jetziges Pferd! O, Sihdi, welch eine Wonne des Paradieses ist es, auf meinem Barkh zu sitzen! Ja, es sind sogar zwei, drei, vier oder fünf solche Wonnen! Aber so ein Gaul wie dieser! Sihdi, bist du einmal auf einem Ziegenbock geritten?«

»Nein.«

»Ich auch nicht; aber ich leide jetzt dieselben Qualen, die man eigentlich nur auf dem Rücken einer Ziege suchen darf. Ich weiß nicht, ist das Pferd schuld, oder giebt es eine andere Ursache: Ich werde schwindelig; mein Herz klopft überschnell.«

»Halef, du bist krank, ernstlich krank!« rief ich besorgt aus.

»Krank? O nein! Wie könnte ich krank sein, wenn es Spitzbuben zu verfolgen und einzufangen giebt! Du mußt doch deinen alten treuen Hadschi kennen!«

»Irre dich nicht! Denke einmal an jenen Unglücksritt von Bagdad auf dem Weg der persischen Todeskarawane!«

»An den werde ich denken, so lange ich nur denken kann. Wir ritten der Pest entgegen, die erst dich, dann mich ergriff.«

»So erinnere dich genau! Vergleiche deinen damaligen Zustand mit deinem jetzigen!«

»Allah! Hast du etwa Grund, jetzt wieder an die Pest zu denken?«

»Nein, sondern einstweilen nur an das Kranksein im allgemeinen. Daß du Schwindel hast, macht mich besorgt.«

»Jetzt ist er wieder weg; aber ich habe Figuren und bunte Fäden vor den Augen, die mich hindern, deutlich und klar zu sehen.«

»Hm! Halef, ich wollte, wir hätten unsere Pferde und überhaupt unser Eigentum wieder und befänden uns an einem stillen, sicheren Orte, an dem wir bleiben könnten!«

»Sihdi, lieber Sihdi, mache mir doch nicht Angst mit deiner Sorge um mich! Ich bin ja ganz gesund! Schau, vorhin fror es mich; jetzt aber ist das völlig weg; es ist mir sogar heiß, ganz heiß geworden. Habe also keine Angst. Ich bin so rüstig, wie ich stets gewesen bin und wie ich bleiben werde, bis ich sterbe!«

Es wäre ein großer Fehler gewesen, ihm diese gute Meinung zu widerlegen; darum sagte ich nichts, und da auch er nicht weiter sprach, so ritten wir nun still nebeneinander her. Nafar Ben Schuri ritt voran; dann folgten wir zwei, und hinter uns kamen seine Leute. Es war eigentümlich, daß der Anführer sich nicht zu uns hielt, aber keineswegs unerklärlich. Wir sahen, daß er der Fährte, welcher wir folgten, große Aufmerksamkeit widmete; das hätte er nicht gekonnt, wenn er gezwungen gewesen wäre, sich mit uns zu unterhalten. Auch lag es für den Scheik, der überdies die Gegend genau kannte, sehr nahe, sich an der Spitze des kleinen Zuges zu halten. Vielleicht war er überhaupt ein schweigsamer Mann, der nur dann sprach, wenn er es für nötig hielt. Oder galt es bei ihm als ein Beweis der Achtung und Höflichkeit, sich nicht zu uns zu gesellen und uns mit neugierigen Fragen und überflüssigen Reden zu belästigen? Wahrscheinlich hielt er sich auch nicht für befähigt oder erfahren genug, auf ein Gespräch mit Leuten einzugehen, denen er sich nicht geistig gleichgesellt fühlte. Kurz, es gab Gründe genug, seine Absonderung von uns zu erklären. Nur an eines dachten wir nicht, nämlich daß ihn das böse Gewissen oder die Vorsicht abhalte, neben uns zu reiten und sich nach Verhältnissen fragen zu lassen, über welche er nicht Auskunft geben wollte. Da hätten wir ihn ja für unehrlich halten müssen, ihn, der doch eigentlich unser Retter war, und dazu fehlte uns, zumal in unserer gegenwärtigen Lage, die Befähigung. Uebrigens kam es zuweilen vor, daß er uns eine Bemerkung über den Weg, die Gegend oder über die Spuren, denen wir folgten, zuwarf, und das genügte uns so vollständig, daß wir gar nicht mehr von ihm verlangten.

Mich beschäftigte der Gedanke an Halef außerordentlich. Mir erschienen seine Wangen jetzt noch tiefer als vorher eingefallen. Ich sah sie bald sich entfärben, bald dunkler werden. Oder bildete ich mir das nur ein? Seine Augen blickten jetzt matt und starr, und gar nicht lange, so schienen sie in ungewöhnlichem Glanz zu strahlen. Auch hierin konnte ich mich täuschen, doch nicht darin, daß er zuweilen tief und seufzend Atem holte, was ich bei ihm noch nie bemerkt hatte. War seine Frage nach dem Sterben einer Vorahnung entsprungen, daß eine schwere Krankheit die fleischlosen, gierigen Hände nach ihm ausstrecke? Fast erschrak ich, denn grad als mir dieser Gedanke kam, wendete er mir sein Gesicht zu und sagte:

»Sihdi, ich komme mit meiner Frage noch einmal: Wie denkst du über das Sterben?«

»Wir haben das ja schon besprochen,« antwortete ich.

»Nein, noch nicht!«

»Wieso?«

»Du hast mir nicht geantwortet. Du warst so klug, wie du immer bist, wenn du meinst, daß ich nach etwas frage, was ich noch nicht verstehen kann. Dann antwortest du mir dadurch, daß du mich selbst antworten lässest. Aber ich wollte doch nicht hören, was ich denke, sondern wie du denkst.«

»Lieber Halef, frage nicht jetzt nach solchen Dingen; es ist nicht Zeit dazu.«

»Warum?«

»Muß ich dir das erst erklären? Was weiß der Mensch vom Sterben? Und wenn er ja darüber nachdenken, oder gar darüber sprechen will, so soll er das in stiller, geräuschloser Stunde thun, in welcher er nicht von dem Leben abgehalten wird, seine Gedanken mit dem Sterben zu beschäftigen. Sei gut, lieber Halef, und laß jetzt diese Frage fallen!«

»Sei gut, lieber Halef! O, Sihdi, wenn du in dieser Weise zu mir sprichst, so könnte ich nicht nur vom Sterben sprechen, sondern selbst und wirklich sterben – für dich, aus Liebe, ja, aus Liebe! Wenn doch alle, alle Menschen nur in diesem Tone zu einander sprechen wollten!«

»Alle?«

»Ja, Sihdi!«

»Auch die guten mit den bösen?«

»Ja, auch; denn dann würden die einen vielleicht durch die anderen gerettet werden!«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja.«

»Hm!«

»Wieder dieses ›Hm!‹ Hinter diesem Brummen steckt stets etwas, was ich begangen habe. Wahrscheinlich auch jetzt. Ich bitte, es mir nicht vorzubrummen, sondern deutlich zu sagen!«

»Denke an den Erzengel Midscha ïl, dem das Schwert der Rache in die Hand gegeben ist! Wer wollte so streng Gericht halten wie er?«

»Hm!«

»Ah, wer brummt jetzt? Ich oder du? Wer wollte weder Gnade noch Güte walten lassen?«

»Hm!«

»Wer wollte wie ein Kieselstein oder wie ein hungriger Löwe sein?«

»Hm!«

»Ein schwarzer Panther, ein Krokodil? Wer wollte alle Qualen der Hölle spenden und sich dann lächelnden Mundes über diese Qualen freuen? Kennst du vielleicht den Mann?«

»Hm!«

Er hatte bei jedem »Hm!« den Kopf immer tiefer sinken lassen. Ich fuhr fort:

»Und jetzt wünscht ganz derselbe Mann, daß alle, alle Menschen nur im Tone der Liebe zu einander sprechen möchten, auch die guten zu den bösen, weil die letzteren dadurch vielleicht gerettet werden könnten!«

Da hob er den Kopf mit einem schnellen Ruck empor, wendete mir das liebe, liebe Gesicht wieder zu und rief aus, indem ein helles seelengutes Lächeln darüberflog:

»Vergieb, Sihdi! Dieser Mann, dieser Mensch, dieser Kerl, dieser Dummkopf ist der größte Esel, den es nur geben kann! Glaubst du das?«

»Nein!«

»So streite ich mich mit dir! Du kennst nämlich deinen Halef nicht!«

»O doch!«

»Nein, noch lange nicht! Auch ich habe ihn nicht gekannt, bis – bis – bis ich einmal ganz plötzlich den anderen kennen lernte.«

»Den anderen?«

»Ja. Hältst du es für möglich, daß ein Mensch aus zwei Personen bestehe?«

Ich sah erstaunt zu ihm hinüber. Welch eine Frage!

»Ja, da schaust du mich groß an!« fuhr er fort.

»Verzeihe mir, daß ich dir bisher die große, wichtige Entdeckung verschwieg, welche ich an mir gemacht habe! Ich bestehe aus zwei ganz ähnlichen und doch unendlich verschiedenen Wesen. Das eine ist gut, das andere schlimm. Beide zusammen heißen Hadschi Halef; stehen sie einander aber kämpfend gegenüber, so ist das schlimme der Hadschi und das gute der Halef. Verstehst du mich?«

»Ja.«

Jetzt war er es, der mich prüfend ansah.

»Du verstehst mich? Sonderbar! Kämpft es etwa auch in dir so wie in mir?«

»Ja, in jedem Menschen. Aber Millionen schenken diesem inneren Kampfe keine Aufmerksamkeit, und darum sterben sie, ohne es zum Sieg zu bringen.«

»Das will ich aber! Ich will siegen, darum kämpfe ich! Kein Mensch bemerkt das, und selbst du hast es nicht bemerkt. Es lebt einer in mir; der ist, als ob er von Allahs Himmel stamme, so freundlich, so gütig, so edel, so aufopfernd, so geduldig. Das ist dein Halef, den du liebst. Und es lebt einer in mir, der nicht vom Himmel stammt, denn er ist stolz, trotzig, unvorsichtig, alles übertreibend, prahlerisch, jähzornig, unversöhnlich, rachsüchtig. Das ist der Hadschi, der dir nicht gefällt und den du meinst, so oft dein ›Hm!‹ sich hören läßt. Du wirst vielleicht fragen, warum ich den guten als den Halef und den schlimmen als den Hadschi bezeichne; aber wenn ich dir sage, daß Halef ein Mann und Hadschi ein Titel ist, so wirst du mich verstehen.«

Für diejenigen, welche es noch nicht wissen, diene die Bemerkung, daß der Anhänger des Islam dann zum Hadschi wird, wenn er eine der heiligen muhammedanischen Städte der Pilger besucht und dort alle seine religiösen Obliegenheiten erfüllt hat. Ein Hadschi in vollstem Sinne ist der, welcher in Mekka, Medina und vielleicht gar noch in Jerusalem zum Besuch der Omarmoschee gewesen ist. Für den Westafrikaner aber genügt es auch schon, das dort für heilig geltende Ka ïrwan besucht zu haben.

Halef hatte nach seinen letzten Worten eine kurze Pause gemacht. Dann fuhr er fort:

»Als du mich damals in der Sahara kennen lerntest, war ich ein junger, unerfahrener und doch sehr eingebildeter Mensch. Ich nannte mich Hadschi, obgleich ich kein Recht hatte, diesen Titel zu führen. Du freilich durchschautest mich und lächeltest über diesen falschen Hadschi, der noch nie an einem der heiligen Orte gewesen war. Ich nannte sogar meinen Vater und auch meinen Großvater Hadschis, obgleich sie noch nicht einmal Ka ïrwan im Lande Tunis gesehen hatten. Das war nicht nur eine Lüge, sondern sogar eine Uebertreibung der Lüge bis auf meine Vorfahren zurück. Ich war eitel und ruhmsüchtig; ich prahlte; ich wollte mehr sein, als was ich war, und aus dieser Unwahrheit entsprangen alle anderen Fehler, welche sich über dein ›Hm!‹ zu ärgern pflegen. Darum habe ich den schlimmen Kerl, der in mir steckt und mir so viel zu schaffen macht, den ›Hadschi‹ genannt. Begreifst du mich jetzt, Sihdi?«

»Sehr gut, mein lieber Halef.«

»Und dieser ›Hadschi‹ ist dir bekannt?«

»Wahrscheinlich besser, als du denkst.«

»So hoffe ich, daß dir auch der andere, der gute Kerl in mir bekannt ist, den ich mit meinem Namen, also mit ›Halef‹ bezeichne. Denn dieser hat mir immer wieder zurückzuholen, was der andere mir von deiner Liebe und deiner Achtung raubt. Diese beiden so verschiedenen Wesen wohnen in mir und streiten sich unaufhörlich nicht nur um den Besitz meiner Persönlichkeit, sondern sogar um jedes meiner Worte und um jede meiner Thaten. Wer von ihnen zuerst dagewesen und wer dann später gekommen ist, der Hadschi oder der Halef, das kann ich nicht sagen, denn ich habe damals nicht aufgepaßt. Seit einiger Zeit aber beobachte ich sie sehr genau, und da bemerke ich, daß sie eigentlich gar nicht zu einander gehören und doch unendlich schwer von einander zu unterscheiden sind. Aber bemerkt habe ich doch, daß der Halef die Wahrheit liebt und von dem andern nichts, gar nichts wissen will, während aber im Gegenteile der Hadschi sich oft die größte Mühe giebt, mich zu belügen und zu betrügen, indem er sich stellt, als ob er der Halef sei. Darum habe ich diesem Hadschi schon hundertmal die Gastfreundschaft in mir gekündigt; aber er hat keinen Gehorsam und kein Ehrgefühl; er bleibt, wo er ist, und wenn ich ihn einmal vorn zur Thüre meines Zeltes hinausgeworfen habe, so ist er im nächsten Augenblicke hinten unter der Leinwand schon wieder zu mir und in mich hineingekrochen. Sihdi, wenn ich den Kerl fassen könnte! Leider aber ist mir das nicht möglich! Er hat weder vor mir noch vor andern Leuten Angst, und es giebt nur einen, vor dem er sich fürchtet.«

»Wer ist das?«

»Das bist du. Ja, du! Vor dir scheint er einen ungeheuren Respekt zu haben, aber weniger vor deiner Gestalt, als vielmehr vor deinen Augen. Erst seitdem ich dies bemerkt habe, weiß ich, daß es Augen giebt, welche der Warnung, und wieder andere, welche der Verführung dienen. Ich habe sehr oft schon in Augen gesehen, bei deren Blick dieser Hadschi sofort zu prahlen und zu übertreiben beginnt. Aber wenn du mich anschaust, weiß du, so ernst und doch so lächelnd, da kann er gar nicht anders, da ist er sofort still. Er schämt sich vor dir; ja er flieht vor dir. Wie das nur kommen mag? Kannst du es mir erklären?«

»Vielleicht. Er flieht nämlich nicht vor mir, sondern vor dem guten Halef in dir. Dieser ist es ja, den ich lieb habe, und wenn die Liebe mein Auge auf dich richtet, ruft sie ihn wach und steht ihm bei, den andern zu besiegen. Das ist ein Rätsel des menschlichen Seelenlebens, welches du nicht lösen kannst. Versuche also nicht, ihm nachzuforschen!«

»Diese Warnung ist gar nicht nötig, denn du weißt ja, daß ich kein Freund von Rätseln bin. Aber über die beiden in mir wohnenden Wesen möchte ich doch gar so gern ins Reine kommen. So oft ich über sie nachdenke, muß ich an die beiden Adamlar denken, von denen du zuweilen gesprochen hast. Es ist in deinem Ahd idsch dschedid von ihnen die Rede. Kannst du dich besinnen?«

»Ja.«

»Das heilige Buch der Christen spricht von einem alten Adam, den man ablegen soll, damit ein neuer, gerechterer und besserer an seine Stelle trete. Ob da wohl der Hadschi und der Halef gemeint sind, welche in mir wohnen?«

»Ja; natürlich sind sie gemeint.«

»Aber, Sihdi, da möchte ich doch beinahe sagen, daß das heilige Buch der Christen das klügste aller Bücher sei! Es schaut in das Innere der Menschen hinein und spricht von Geheimnissen, welche er selbst nicht kennt! Wenn eine Religion von mir mehr weiß, als ich selbst, so muß ich vor ihr Respekt haben, ich mag wollen oder nicht. Wie schade, daß wir von diesem Gespräch abbrechen müssen! Der Scheik der Dinarun scheint etwas Wichtiges zu sehen!«

Wir waren nämlich zuletzt durch eine Art von Engpaß geritten. Er mündete auf eine kleine Hochebene, von welcher aus er wiederum zu Thale führte. Der Scheik hatte seinem Pferde die Sporen gegeben, um uns vorauszukommen. Nun hielt er am Rande der Ebene und deutete uns durch Zeichen an, daß ihm dort irgend etwas in die Augen gefallen sei. Als wir uns ihm bis auf Hörweite genähert hatten, rief er uns zu:

»Ich sehe die Räuber. Sie lagern da unten am Wasser. Kommt her; aber reitet nicht bis ganz an den Rand dieses Platzes, damit ihr nicht von ihnen gesehen werdet! Der Berg da drüben ist der Dschebel Ma.«

An diesem Berge hatte sich die Natur endlich einmal wenigstens einigermaßen grün gekleidet. Seine Hänge waren ziemlich hoch hinauf mit Gras bewachsen, und an seinem Fuße zog sich allerlei Buschwerk hin. Es gab da sogar einen kleinen, schmalen Wasserlauf, an dessen Ufer wir die, welche wir suchten, lagern sahen.

»Wir müssen von den Pferden steigen, wenn wir sie unbemerkt beobachten wollen,« meinte der Scheik, indem er aus dem Sattel sprang, welchem Beispiele wir natürlich folgten. »Ich glaube, daß sie es sind. Oder meint ihr vielleicht, daß ich mich irre?«

Er richtete diese Frage an mich und Halef. Der letztere antwortete:

»Ich sehe gar niemand. Soeben legt sich mir wieder dieser rote Nebel vor die Augen, den mein Blick nicht durchdringen kann. Sihdi, sag, was du erblickst!«

Ich sah zwölf Menschen und vierzehn Pferde. Zwei von diesen letzteren standen von den anderen getrennt. Es waren unsere Rapphengste; ich irrte mich nicht, denn ich erkannte sie ganz deutlich. Als ich dies Halef sagte, rief er aus:

»So wollen wir eilen, schnell hinabzukommen! Diese Schurken sollen keinen Augenblick zu lange das Vergnügen haben, sich für die Besitzer unseres Eigentums zu halten!«

Er wollte sofort wieder in den Sattel steigen.

»Keine Uebereilung, Halef,« warnte ich. »Wir können nicht anders zu ihnen kommen, als daß wir die diesseitige Berglehne hinabreiten, und da müssen sie uns sehen.«

»Du meinst, dann fliehen sie und entkommen uns?«

»Nein, ich bin vielmehr der Ansicht, daß sie bleiben würden, um uns Widerstand zu leisten. Wir wären ohne Deckung; sie aber könnten sich hinter die Büsche stecken. Hast du Lust, dich erschießen zu lassen, ohne dich wehren zu können?«

»Welche Frage! Ich will auf keinen Fall erschossen sein, gleichviel, ob ich mich wehren kann oder nicht. Aber können wir denn nicht von einer anderen, besseren Seite an sie kommen?«

»Das würde uns zu einem Umwege nötigen, für den uns die Zeit mangelt. In einer Viertelstunde wird es dunkel sein. Bedenke das!«

»Was soll ich thun, Sihdi? Denken? Das kann ich nicht! Soeben ist es mir wie ein leiser Hauch der Wüste durch den Kopf gegangen. Mein Hirn ist heiß, und alle Gedanken sind aus ihm hinweggeblasen. Was ist das plötzlich nun? Ich muß mich setzen.«

Er ließ sich auf die Erde nieder und legte den Kopf in die Hände. Ich wollte mich zu ihm niederbrücken; er aber wehrte ab:

»Sorge dich ja nicht um mich! Das ist gar nicht schlimm, sondern nur die letzte Wirkung des giftigen Kaffees, den wir gestern getrunken haben. Es wird schnell vorübergehen. Glaube mir: ich bin so gesund, wie du nur wünschen magst!«

Er schob mich von sich fort, und ich gab mir den Anschein, daß ich beruhigt sei. Ich konnte ja nichts Besseres thun, zumal Nafar Ben Schuri mich jetzt in Anspruch nahm:

»Was du zum Scheik der Haddedihn sagtest, waren Worte der Vernunft. Wollten wir so, wie er es wünschte, zum Angriffe schreiten, so würde keiner von uns lebend an die Feinde kommen. Wir müssen hier warten, bis es dunkel ist.«

»Dann aber wird der Weg nur schwer zu finden sein,« bemerkte ich.

»Nein. Wir sind ihn oft geritten und kennen ihn genau.«

»Aber das Geräusch der Pferdehufe kann uns leicht verraten.«

»So lassen wir die Pferde hier zurück. Auch verfehlen können wir trotz der Dunkelheit die Feinde nicht, weil sie wahrscheinlich ein Feuer anzünden werden. Auch hoffe ich, daß meine Leute kommen, ehe es finster wird.«

»Wo ist die Stelle, an welcher sie zu uns stoßen sollen?«

»Hier diese ist es. Sie werden durch den Paß kommen, durch den wir soeben geritten sind. Ich sage dir, daß uns die Leute da unten gar nicht entgehen können. Erlaube, daß wir uns niedersetzen! Wir können jetzt nichts anderes thun, als warten.«

Er hatte recht. In Beziehung auf die Wiedererlangung unseres Eigentums lagen die Verhältnisse so, daß ich mich beruhigt fühlte. Dagegen war es mir um Halef bang. Ich setzte mich an seiner Seite nieder und versuchte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Er gab mir nur ganz kurze Antworten; sein Ton war matt, der Klang fast widerwillig; darum hielt ich es für besser, zu schweigen.

Da auch die Dinarun nicht sprachen, so herrschte hier oben bei uns eine Stille, welche nur durch das jeweilige Schnaufen oder Hufscharren eines Pferdes unterbrochen wurde. Der Tag ging schnell zu Ende. Der Abend senkte sich hernieder, aber die erwartete Verstärkung stellte sich nicht ein. Da der Scheik keine Bemerkung hierüber machte, nahm auch ich diesen Umstand schweigend hin. Wozu über etwas Worte machen, was man durch sie doch nicht ändern kann! Auch brannte unten am Wasser jetzt noch kein Feuer, und uns an die Feinde schleichen, ohne einen solchen Wegweiser zu haben, das wäre doch wohl unvorsichtig gewesen.

Da fühlte ich Halefs tastende Hand, welche meinen Arm berührte und an demselben niederglitt. Er ergriff meine Rechte, nahm sie in seine beiden Hände und lehnte seinen Kopf an meine Seite. So saß er längere Zeit still und unbeweglich. Mir war es, als ob seine Hände ungewöhnlich warm seien.

»Sihdi!« erklang es leise.

»Halef!« antwortete ich ebenso.

»Siehst du die Sterne dort oben?«

»Ja.«

»Man meint, daß das der Himmel sei. Ob euer oder unser Himmel?«

»Meinst du, es gebe verschiedene Himmel, mein guter Halef?«

»Nein. Und wenn! Hätte Allah zehn Himmel, und mir wäre der höchste von ihnen bestimmt. Und hätte der Gott der Christen auch zehn Himmel, und für dich sollte der unterste sein. Weißt du, was ich thäte?«

»Nun?«

»Ich verzichtete auf meinen obersten und ginge mit dir in deinen niedrigsten. Er würde für mich doch der höchste sein, denn wo die Liebe wohnt, da ist die schönste und beste Seligkeit. Wäre ich dir willkommen, Sihdi?«

»Kannst du ungewiß hierüber sein, Halef?«

»Nein. Ich bin wie ein Kind, welches gern den Vater sagen hört, daß er es liebt!«

»So sage ich es dir von ganzem Herzen!«

»Ich danke dir! Ich dachte soeben nach – über dich und über mich. Meinst du, daß wir Freunde seien?«

»Gewiß! Bessere kann es gar nicht geben!«

»Ich denke aber anders.«

»Wie?«

»Solche Freunde, wie wir sind, kann es ja gar nicht geben. Wir sind mehr, viel mehr als Freunde. Es giebt kein Wort dafür. Wenn wir uns als Menschen lieben, welche beide ein gutes und ein nicht gutes Wesen in sich haben, so sind wir Freunde. Aber wenn wir die Liebe nur der beiden guten Wesen in uns meinen, so ist das mehr als Freundschaft; das muß doch wohl der Himmel sein! Das ist es, was ich dachte, und was ich dir sagen wollte! Ich kann dein Gesicht nicht erkennen; aber sag, lächelst du vielleicht?«

»Nein. Ich bin sehr ernst, aber glücklich ernst.«

»Und ich bin so weich. Woher das wohl kommen mag? Sag: Wenn ich dich hier verlassen müßte, um zu sterben, würde ich dich dann wohl auch noch sehen können?«

»Halef! Wie kommst du zu dieser Frage?«

»Das weiß ich nicht. Sie kam mir auf die Zunge und wollte ausgesprochen sein; da habe ich es gethan. Es spricht jemand in mir vom Tode. Ob es der Halef oder der Hadschi ist, das weiß ich nicht; aber ich werde – Horch!«

Es gab in diesem Augenblick allerdings etwas zu hören, nämlich ein plötzliches Geschrei vieler Stimmen, wie es beim Angriffe oder im Kampfe ausgestoßen wird. Die Dinarun sprangen auf, und ihr Scheik rief aus:

»Allah! Das sind meine Krieger!«

»Da unten?« fragte ich, indem ich mich auch schnell erhob. »Du sagtest doch, daß sie hierher kommen würden!«

»Sie sind direkt zu den Räubern geritten und über sie hergefallen.«

»Aber sie wußten doch nicht, wo diese sich befanden!«

»Es wird sie der Zufall oder irgend ein Zeichen zu der Stelle geführt haben!«

»Irrst du dich nicht? Weißt du gewiß, daß es deine Leute sind?«

»Sie sind es. Es ist unser Ruf.«

»So müssen wir hinab!«

»Nein. Jetzt noch nicht. Laß nur einige Minuten vergehen, so werden wir erfahren, wie es steht!«

Ich war nicht ohne Sorge, zwang mich aber zur Geduld. Halef war auch aufgesprungen. Es schien alle Schwäche von ihm gewichen zu sein. Seine Stimme klang sehr energisch, als er den Scheik jetzt fragte:

»Können deine Krieger denn einen anderen Weg als den ihnen anbefohlenen eingeschlagen haben?«

»Ja,« antwortete Nafar Ben Schuri.

»Warum? Sie haben doch zu gehorchen?«

»Man kann doch auch grad aus Gehorsam etwas anderes thun, als was befohlen worden ist.«

»Nein! Das ist gar nicht möglich, denn ein Befehl wird doch gegeben, daß man ihn grad so und nicht anders befolge, als er lautet.«

»Aber wenn der, welcher ihn auszuführen hat, währenddem einsieht, daß er ihn auf andere Weise viel besser und vollständiger erfüllen kann, so ist es doch grad die Pflicht des Gehorsams, nicht darauf zu achten, wie der Befehl ursprünglich geklungen hat!«

»Damit erkennst du also jedem deiner Leute die Berechtigung zu, deine Gebote zu deuten und von ihnen abzuweichen oder nicht, je nachdem sie es für nützlich halten. Meine Haddedihn haben genau nach meinen Worten zu handeln, ohne von ihnen hinwegzunehmen oder hinzuzufügen. Doch schaut hinab. Man hat ein Feuer angezündet, und man ruft. Wer ist gemeint?«

Es leuchtete unten eine Flamme auf, und wir hörten die Worte erklingen:

»Gahlab, gahlab; ta’al, ta’al, ia Scheik – Sieg, Sieg; komm, komm, o Scheik!«

»Diese Worte gelten mir,« antwortete Nafar Ben Schuri. »Meine Leute wissen ja, daß ich hier oben bin, und da sie den Feind überwunden haben, so fordern sie mich auf, zu ihnen hinabzukommen.«

»Hoffentlich haben sie in ihrem eigenmächtigen Handeln nichts gethan, was uns in Schaden setzt! Wie man etwas thut, das ist oft wichtiger, als daß man es thut!«

Die Rufe von unten wiederholten sich, und so stiegen wir auf, um hinabzureiten. Das geschah in einer langen Einzelreihe, einer hinter dem andern. Halef und ich machten die letzten und verließen uns auf unsere Pferde, welche trotz der Dunkelheit und trotz der Beschwerlichkeit des Weges nur selten einmal einen Fehltritt thaten. So kamen wir ganz gut in das Thal hinab und ritten quer über dasselbe hinüber, indem wir uns das Feuer als Wegweiser dienen ließen. Dabei wurden Rufe und Gegenrufe gewechselt, und es gab einen Lärm, der immer größer wurde, je näher wir kamen. Als wir dann anlangten, befanden wir uns inmitten von 50 oder 60 Dinarun, welche alle auf das lebhafteste auf uns einschrieen. Jeder einzelne wollte uns erzählen, durch welche großen Heldenthaten speziell auch er zum Siege beigetragen habe, und so dauerte es ziemlich lange, bis wir erfuhren, wie höchst einfach sich die Sache zugetragen habe.

Der Bote, welcher von dem Scheik in das Lager gesandt worden war, hatte den Anführer gemacht. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, daß die Diebe am Wasser des Dschebel Ma nachtlagern würden. Er hatte unterwegs den Entschluß gefaßt, sich mit dem ganzen Ruhme des Sieges zu schmücken und den Ueberfall also ohne den Scheik und uns zu übernehmen. Darum war er nicht nach dem Stelldichein geritten, sondern einer anderen Richtung gefolgt, welche ihn unten thalabwärts bis an den Fuß des Berges geführt hatte. Dort angekommen, waren die Pferde unter der Aufsicht einiger Leute zurückgelassen worden. Dann hatte man sich leise dem Wasser entlang geschlichen, die Feinde trotz der Dunkelheit entdeckt und sie so unerwartet und mit Uebermacht überfallen, daß an einen Widerstand gar nicht zu denken gewesen war. Sonderbarerweise wurde diesem eigenmächtigen Verfahren von seiten des Scheikes nicht die geringste Rüge erteilt.

Die Räuber lagen mit Stricken und Riemen gebunden an der Erde. Doch noch ehe wir uns mit ihnen beschäftigen konnten, geschah etwas, worüber selbst die pferdekennenden Dinarun in Staunen gerieten. Nämlich kaum war der Schein des Feuers auf mich und Halef gefallen, und kaum hatten wir einige laute Worte gesprochen, so ertönte von der Seite her das überlaute, frohe Wiehern zweier Pferdestimmen, und unsere beiden Rappen drängten sich, ihn gewaltsam auseinandertreibend, durch den Haufen der Beduinen, um uns zu begrüßen. Barkh machte vor Freude die drolligsten Ziegenbockkapriolen, die er nur unterbrach, um seinen Kopf an Halefs Brust zu reiben und ihm das Gesicht zu schnauben, als ob er sehr viel und wichtiges mit ihm zu sprechen habe. Mein Assil Ben Rih benahm sich nicht so laut wie Barkh, aber im höchsten Grade rührend. Er drückte mir sein Maul fest an die Wange – Pferde gehören bekanntlich zu den wenigen Tieren, welche küssen – leckte mir hierauf die Hand und legte sich dann zu meinen Füßen auf die Erde und sah mich an, als ob er sagen wolle: »Du weißt, was ich meine. Sei so gut, und thu es mir zuliebe, damit ich nicht nur sehe, sondern auch höre, daß du wieder bei mir bist!« Er wollte nämlich die gewohnte Sure in das Ohr gesagt haben. Leider durfte ich das nicht thun, weil ich damit eines der Geheimnisse dieses prächtigen Tieres verraten hätte. Aber ich kniete zu ihm nieder, steckte den Arm unter seinem Hals hindurch und hob seinen Kopf empor, um ihn zu streicheln und den Hauch meines Mundes seine Nüstern berühren zu lassen. Da ging sein Atem so laut und so froh, daß es geradezu gefühllos gewesen wäre, zu behaupten, dies sei etwas anderes, aber nur keine Freude.

»Er hat dich lieb, sehr lieb,« sagte da der Scheik. »Ist es sein Geheimnis, daß du ihn so anfassest und ihm deinen Atem giebst?«

»Nein,« antwortete ich kurz, weil es unter den Beduinen als Taktlosigkeit gilt, nach dem Geheimnisse eines edlen Pferdes zu fragen.

»Aber er hat eines oder vielleicht gar mehrere?« erkundigte er sich weiter.

»Allerdings, denn er ist vom echtesten, allerreinsten Blute.«

»Bestehen diese Geheimnisse in Worten oder in Zeichen?«

»Diese Geheimnisse bestehen eben in Geheimnissen, von denen nicht gesprochen wird!«

Ich sagte das in zurückweisendem Tone; dennoch fuhr er fort:

»Bitte, laß mich die Probe machen! Ich will seinen Hals umarmen, grad so wie du, und ihm dann auch in die Nüstern hauchen.«

Das war eine beispiellose Zudringlichkeit, welche mich leicht bewegen konnte, meine bisher gute Ansicht über diesen Mann zu ändern. Ich schüttelte verneinend den Kopf. Trotzdem knieete er neben mir nieder und sagte:

»Ich habe noch nie ein Tier von dieser Reinheit des Blutes gesehen. Ich muß es liebkosen. Verweigere mir das nicht!«

Da stand ich nun allerdings schnell auf, um ihm Platz zu machen und antwortete:

»Du bist dein eigener Herr und darfst natürlich thun, was dir beliebt. Als deinem Gaste ist es mir verboten, dich zu hindern.«

Jetzt schob er seinen Arm unter den Hals des Pferdes, welches diese Berührung zwar duldete, aber mit unwilligem Schnaufen beantwortete. Als er dann aber Assil anhauchte, schleuderte dieser ihn mit einer kräftigen Bewegung des Kopfes zur Seite, sprang auf und schlug mit den Hinterhufen nach ihm aus, glücklicherweise ohne ihn zu treffen, weil Halef schnell hinzugesprungen war und den Scheik von der gefährlichen Stelle hinweggerissen hatte. Dieser rief, beschämt von der ihm erteilten Lehre, zornig aus:

»Allah verdamme das Vieh, welches im Zeichen des Scheitan geboren worden ist! Man wagt ja förmlich sein Leben, wenn man es berührt!«

»Das thut man allerdings,« antwortete ich. »Warum hörtest du nicht auf mich? Man soll nie versuchen, mit Gewalt in die Geheimnisse anderer Menschen dringen zu wollen!«

»Ist der andere Hengst von derselben Gefährlichkeit?«

»Der eine ist wie der andere. Sie erkennen nur uns als ihre Herren an. Wer dieses unser Recht nicht achtet, der hat es zu bereuen. Schau diese beiden Menschen an! Sie haben sich an unseren Pferden vergriffen und sie bezwingen wollen. Die Strafe ist der That sofort gefolgt.«

Ich zeigte bei diesen Worten auf die beiden Diebe, deren verbundene Gliedmaßen vermuten ließen, daß sie die zwei Unvorsichtigen seien, die sich an unseren Pferden vergriffen hatten. Sie waren, wie auch ihre Kameraden, gefesselt, sagten kein Wort und sahen uns auch nicht an. War das ein Zeichen der Scham, des Schuldbewußtseins? Oder hatte es auch noch einen anderen Grund? Wir konnten ihre Züge nicht deutlich sehen, weil das flackernde Feuer keine ruhige Helle gab.

Ganz selbstverständlich war es nun unser Erstes, nach den uns geraubten Gegenständen zu suchen. Das wurde uns sonderbarerweise viel leichter, als es zu vermuten gewesen war. Wir sahen nämlich unweit des Feuers einen Mantel ausgebreitet, auf welchem alles lag, was wir vermißten, von den Gewehren an bis herunter zum kleinsten Büchschen, welches den Phosphor zur Bereitung der Zündhölzer enthielt. Daß nichts, aber auch gar nichts fehlte, hätte uns wohl auffallen müssen, doch mangelte uns jetzt die Ruhe, diesen Umstand ganz besonders zu beachten. Die Diebe hatten den Raub wahrscheinlich erst später teilen wollen. Das genügte vollständig, zu erklären, warum noch jetzt alles so schön beisammenlag.

Auch Nafar Ben Schuri äußerte seine Freude darüber, daß es uns mit seiner Hilfe gelungen sei, ohne den geringsten Verlust und so vollständig wieder zu unserem Eigentum zu gelangen. Er kauerte sich zu uns hin und nahm ein Stück nach dem anderen in die Hände, um es zu betrachten und seine Bemerkungen darüber zu machen. Ganz besonders interessierte er sich für unsere Gewehre, deren Konstruktion ihm vollständig unbekannt war. Er betrachtete sie mehr als genau, wollte den Zweck jedes einzelnen Schräubchens wissen und wurde uns mit seinen vielen Fragen so unbequem, daß Halef ihm endlich im Tone schlechtverhehlten Unwillens bedeutete:

»Du siehst, daß diese Gewehre grad so wie unsere Pferde ihre Geheimnisse haben, welche jeder zu achten hat, dem sie nicht freiwillig mitgeteilt werden!«

»Verzeih! Aber bei dieser Art von Waffen darf man doch neugierig sein,« entschuldigte sich der Scheik. »Ihr beide wißt, wie oft und viel von ihnen gesprochen wird. Man erzählt sich Wunderdinge von ihnen und eurer Fertigkeit in ihrem Gebrauche. Diese Gewehre sind den Waffen des ganzen Morgenlandes überlegen. Ist es da so unbegreiflich, daß ich gern wissen möchte, wie man sie zu handhaben hat?«

»Ja, es ist unbegreiflich, weil die Neugierde nur eine Eigenschaft der alten Weiber ist. Bei dem Scheik und Anführer tapferer Krieger aber darf sie noch viel weniger als sonst bei einem Mann zu finden sein.«

Das war deutlich gesprochen, wohl auch ein wenig rücksichtslos, weil wir dem in dieser Weise Zurückgewiesenen ja so viel verdankten. Aber daß er sich jetzt wieder, wie vorhin bei den Pferden, so zudringlich zeigte, das legte unserer Dankbarkeit einen Dämpfer auf, der uns selbst am unangenehmsten berührte. Leider schien er das nicht zu empfinden, denn er fügte zu den bisherigen Fehlern einen neuen, indem er im Tone des Vorwurfes sagte:

»Du scheinst nicht zu wissen, was ihr uns schuldig seid! Wo wäret ihr jetzt, und was hättet ihr jetzt, wenn wir nicht bereit gewesen wären, euch in unseren Schutz zu nehmen!«

Halef war eifrig damit beschäftigt, alles, was ihm gehörte, einzustecken, ich ebenso. Jetzt hatten wir nur noch die Gewehre an uns zu nehmen. Wir thaten das, und nun, da wir uns sicher und selbständig fühlen durften, antwortete der Hadschi:

»Du forderst Dankbarkeit? Weißt du noch nicht, daß der wahre Dank nicht genommen, sondern nur gegeben werden kann? Du hast zwar von uns gehört, kennst uns aber nicht. Darum erscheint dir deine Güte zu uns viel größer, als sie wirklich ist. Wo wir wären und was wir jetzt hätten? Wir hätten auch ohne euch die Spuren dieser Diebe gefunden. Wir wären ihnen gefolgt und hätten uns noch während dieser Nacht hierhergeschlichen, um zu bestrafen, was man an uns verbrochen hat. Euch haben wir weiter nichts, weiter gar nichts zu verdanken, als daß wir drei oder vier Stunden eher hier eingetroffen sind. Und für diese paar Stunden sollen wir dir die Geheimnisse unserer Pferde und unserer Waffen verraten? Denke nach, was du da forderst! Wir haben uns als deine Gäste betrachtet; aber wenn du uns mit Fragen von dir treibst, so werden wir jetzt auf unsere Pferde steigen und nach einem Orte reiten, wo man weiß, daß die wahre Freundschaft sich nicht im Ueberfluß der Worte zeigt! – Barkh, ta’ahl

Als sein Pferd diese beiden Worte hörte, kam es herbei und stellte sich so vor Halef hin, daß dieser nur den Fuß in den Bügelschuh zu heben brauchte, um sich in den Sattel zu schwingen. Ich gab dem Freunde innerlich recht, hätte mich aber an seiner Stelle wohl etwas höflicher ausgedrückt. Wir hatten Rücksicht zu nehmen. Wie kam es nur, daß der sonst so gern dankbare Kleine hier so schroffe Ausdrücke fand? Er hob auch wirklich schon den Fuß, um aufzusteigen, da trat der Scheik schnell zu ihm und sagte, indem er ihn am Arme zurückhielt:

»Hadschi Halef Omar, handle nicht zu schnell! Es war ja nicht meine Absicht, euch von hier fortzutreiben! Bedenke, was man von uns sagen würde, wenn man erführe, ihr seiet unsere Gäste gewesen, wäret aber nicht bei uns geblieben!«

»Für uns würde das wohl keine Schande sein!« antwortete Halef streng.

»Nein, aber für uns! Darum bitten wir euch, hier zu bleiben und morgen früh mit nach unserem Lager zu reiten. Ihr könnt diesen Ort wohl auch gar nicht eher verlassen, als bis ihr über die Diebe Gericht gehalten habt!«

Das war freilich ein Grund, welcher sofort wirkte:

»Gericht halten? Allerdings!« antwortete der Kleine. »Wer soll es thun? Willst du dich mit einer Dschemmah deiner Krieger daran beteiligen?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil das Urteil derselben wohl nicht mit dem eurigen übereinstimmen würde.«

»Wieso?«

»Jede Dschemmah hat nach dem Gesetze der Wüste zu richten, welches den Pferderaub mit dem Tode bestraft. Euer Urteil aber wird sich dieser Strenge wahrscheinlich nicht bedienen.«

»Nicht?« fragte Halef im Tone der Ueberraschung. »Warum denkst du das?«

Der Scheik dachte nach, wie er sich am besten auszudrücken habe. Leider verhinderte mich sein Vollbart, seine Gesichtszüge zu studieren. Sie kamen mir verlegen und doch auch wieder pfiffig vor. Er wollte unbefangen erscheinen, und doch hätte ich behaupten mögen, daß er grad jetzt befangen sei. Dann antwortete er:

»Man hört von euch, daß ihr ganz anders denkt, als andere Leute denken. Ihr handelt nach einer Gerechtigkeit, welche lieber verzeiht, als daß sie sich den Vorwurf der Härte machen läßt. Und hart wäre es doch wohl, wenn diese zwölf Personen wegen nur zwei Pferden alle sterben müßten!«

»Nur zwei? Ich sage dir, daß diese zwei Hengste mehr wert sind als hundert, als tausend andere Pferde! Die Zahl kommt also hier ganz und gar nicht in Betracht.«

»So, aber doch der Umstand, daß ihr euch schon wieder in ihrem Besitz befindet!«

»Das ist richtig. Wir werden also nicht vom Tode sprechen. Aber eins dieser edlen Pferde ist geschlagen worden. Das ist etwas, was nicht vergeben werden kann!«

»Rechne die zerbrochenen Knochen der beiden Unvorsichtigen ab, welche von den Hufen getroffen worden sind!«

»Abrechnen? Wie kommst du mir vor? Ist es deine Absicht, der Dawa wekeli dieser Missethäter zu sein und sie zu verteidigen? Wer nicht mit richten will, hat auch nicht zu beschönigen. Ich werde also mit meinem Sihdi beraten, und was wir bestimmen, das wird ausgeführt. Jetzt aber – jetzt – o, Sihdi, halte mich! Der Schwindel ist wieder da. Ich sehe nichts und muß mich niedersetzen!«

Er griff nach dem vor ihm stehenden Pferde, um sich festzuhalten. Ich schlang den Arm um ihn und führte ihn an das Feuer. Dort ließ ich seine Decke ausbreiten und legte ihn auf dieselbe nieder. War ich erst besorgt gewesen, so wurde mir nun angst um ihn.

»Was fehlt dem Scheik der Haddedihn?« erkundigte sich Nafar Ben Schuri. »Hat er vielleicht den Suchuna

»Nein,« antwortete ich.

»Oder die Berdija

»Nein.«

»Oder die Chumma mutallati 4)?«

»Auch diese nicht. Er hat gestern vergifteten Kaffee getrunken. Davon ist ihm noch übel. Weiter ist es nichts.«

Ich wußte, daß ich log; aber die Klugheit verbot mir, die Wahrheit zu sagen. Ich war jetzt beinahe überzeugt, es mit einer schweren, typhösen Erkrankung zu thun zu haben, mußte dies aber verheimlichen, um mir die Bedingungen einer wenigstens den Umständen angemessenen guten Krankenpflege zu ermöglichen. Daß es sich um eine ansteckende Krankheit handle, brauchte jetzt noch niemand zu wissen. Später freilich hatte ich es unter allen Umständen für meine Pflicht zu halten, die Dinarun vor Ansteckung zu bewahren.

Glücklicherweise hatten wir unsere Sachen wieder, auch unsere kleine Reiseapotheke. Ich beeilte mich also, Halef Chinin zu geben. Dann lag er still und mit geschlossenen Augen da, als ob er schlafe.

Die aus dem Lager gekommenen Dinarun waren mit Proviant versehen. Es wurde gegessen. Die Portion Halefs bot ich ihm nicht an, sondern hob sie auf. Für unsere beiden Pferde sorgte ich selbst. Dann setzte ich mich zu Halef hin, um das zu thun, was ich auch in der vorigen Nacht mir vorgenommen aber leider nicht gethan hatte – zu wachen.

Für Nafar Ben Schuri war an der anderen Seite des Feuers ein Lager zurecht gemacht worden. Da saß er, rauchte einen Tschibuk und schien in Nachdenken versunken zu sein. Mit wem er sich im stillen beschäftigte, das sagten mir die Blicke, welche er von Zeit zu Zeit zu mir herübersandte. Seine Leute hatten sich so gelagert, wie es in ihrem Belieben lag. Eine gewisse Ordnung schien dabei nicht beabsichtigt zu sein. Einmal stand ich auf, um nach den Gefangenen zu sehen. Ihre Fesseln waren nicht übermäßig streng angelegt, doch brauchte ich nicht besorgt zu sein, daß sie sich losmachen würden, weil sie rings von den Dinarun umgeben waren und ich ja die Absicht hatte, nicht zu schlafen. Sie lagen mir so nahe, daß mir nichts entgehen konnte.

Ich wollte die beiden Verletzten untersuchen, um ihnen, falls möglich, ihre Schmerzen zu erleichtern; sie duldeten das aber nicht. Dann legte ich dem, den wir für ihren Anführer gehalten hatten, einige Fragen vor, die er mir beantworten sollte. Ich wollte ihn durch sie zu der Bitte ermuntern, nicht streng mit ihm und seinen Leuten zu verfahren; er zog es aber vor, sich in ein so trotziges Schweigen zu hüllen, daß ich den wohlgemeinten Versuch aufgab und an meinen Platz zurückkehrte. Da richtete nun der Scheik das Wort an mich:

»Sihdi, halte es nicht für Herzenshärtigkeit! Es ist die Furcht vor dir, die diesem Manne die Worte raubt!«

»Verteidigst du ihn abermals?« antwortete ich.

»Nein. Nur suche ich mir sein Schweigen zu erklären. Welches Urteil werdet ihr wohl über ihn und seine Leute fällen?«

»Das weiß ich nicht. Ich muß darüber mit Hadschi Halef sprechen.«

»Und wo soll es ausgeführt werden?«

»Da wo wir uns befinden, wenn es gesprochen wird.«

»Also daheim in meinem Lager!«

»Warum dort?«

»Weil ich euch eingeladen habe, uns dorthin zu begleiten. Sag, ob ihr uns diesen Wunsch erfüllen werdet!«

»Ich bin bereit dazu, damit ihr seht, daß wir nicht so undankbar sind, wie du zu denken scheinst.«

»Verzeih mir das! Wir, die wir hier zwischen den Bergen wohnen, achten nicht auf die künstlichen Regeln der Städtebewohner, nach denen sich ihre Höflichkeit richtet. Ihr werdet als unsere willkommenen Gäste alles finden, was euch von nöten ist. Und das, was ihr bei uns über diese Diebe beschließet, wird von uns genau so ausgeführt werden, wie ihr es von uns fordert.«

»So bist du erbötig, die Ausführung unseres Urteils zu überehmen?«

»Ja. Nur möchte ich wissen, worin die Strafe bestehen wird. Etwa im Tode?«

»Nein, keinesfalls.«

»Was sonst?«

»Hiebe!«

Dieses Wort sagte ich nicht, sondern es klang aus Halefs Munde. Er hatte also gehört, was von uns gesprochen worden war.

»Hiebe!« wiederholte er, ohne aber die Lage seines Körpers zu verändern.

»Wieviel?« fragte der Scheik.

»Jeder zehntausend!«

»Allah! Das ist zu viel!«

»Nein, sondern zu wenig!«

»Das würde doch schlimmer als der Tod sein. Kein Mensch hält zehntausend Hiebe aus!«

»Das soll er auch nicht! Und von den beiden, die sich an unseren Pferden vergriffen haben, bekommt jeder zwanzigtausend!«

»Höre ich recht?«

»Ja. Aber wenn es dir zu wenig ist, so will ich sagen – dreißigtausend!«

Er richtete sich halb auf, machte mit dem Arme die Bewegung des Schlagens und sank dann wieder nieder.

»Allah beschütze ihn!« sagte der Scheik. »Er ist krank; er hat die Suchuna. Die Glut des heißen Fiebers fließt ihm durch die Adern!«

Ich griff nach Halefs Hand, um nach dem Puls zu fühlen. Ja, er fieberte! Der Scheik fuhr fort:

»Hoffentlich spricht er anders, wenn das Fieber vorüber ist. Die Diebe sollen die ihnen gebührenden Schläge bekommen; aber sie durch die Bastonnade langsam zu Tode zu martern, könnt ihr doch nicht wollen.«

Ich durfte weder ja noch nein sagen, weil ich mich zu hüten hatte, Halef aufzuregen, benutzte aber diese Gelegenheit, eine mir nötig scheinende Vorbereitung zu treffen:

»Das Urteil wird gefällig werden, wenn wir bei euch angekommen sind. Ihr habt doch wohl einen Tachtirwan im Lager?«

»Mehrere. Warum fragst du?«

»Der beiden Verletzten wegen. Es würde unmenschlich sein, sie reiten zu lassen.«

Da fiel der Scheik viel schneller, als ich erwartet hatte, ein:

»Sie sollen im Tachtirwan nach dem Lager gebracht werden?«

»Ja.«

»Meinst du, daß ich einen Boten sende?«

»Ja.«

»Sogleich?«

»Je eher desto besser. Wenn es möglich ist, so laß zwei Sänften kommen!«

Ich hatte es mit einer dieser Sänften auf Halef abgesehen, welcher unmöglich in den Sattel konnte, wenn sein Zustand der jetzige blieb. Das wußte der Scheik nicht, und darum wunderte ich mich nicht über das Lob, welches er mir spendete:

»Die Güte deines Herzens gedenkt sogar, den Feinden größere Erleichterung zu bieten, als eigentlich nötig ist. Ein Tachtirwan genügte wohl für beide, doch da es dein Wille ist, so will ich nach zweien schicken, und zwar sogleich.«

Er gab einem seiner Leute den betreffenden Befehl, worauf dieser Mann zu seinem Pferde ging und von dannen ritt.

»Ich sprach von deiner Güte, nicht von der meinigen,« knüpfte der Scheik das unterbrochene Gespräch wieder an. »Und doch hätte ich auch von dieser letzten reden können. Weißt du, zu welchem Stamm diese Leute gehören, welche euch bestohlen haben?«

»Nein.«

»Sie sind Dschamikun. Allah verdamme sie in die tiefste Hölle hinab!«

»Sind die Dschamikun Feinde deines Stammes?«

»Nicht nur Feinde, sondern Todfeinde! Es ist Blut, unaufhörlich Blut geflossen zwischen uns und ihnen, seit man die Namen dieser beiden Stämme kennt. Erst kürzlich wieder ist an uns ein Verbrechen begangen worden, welches zu Allahs höchstem Himmel schreit. Ich will dir nicht jetzt davon erzählen. Du wirst davon hören, wenn wir heimkommen. Wenn ich solche Leute im Tachtirwan transportieren lasse, um ihnen Schmerzen zu ersparen, so ist das eine Güte, welche sich recht wohl mit der deinen messen kann! Vielleicht darf ich in dieser Angelegenheit auf deinen Rat, wohl gar auf deine Hilfe rechnen.«

»Wenn wir dir in irgend einer Weise von Nutzen sein können, so werden wir natürlich sehr gern thun, was wir vermögen. Warum aber willst du mit deiner Mitteilung warten, bis wir uns morgen in eurem Lager befinden?«

»Weil du jetzt wahrscheinlich schlafen willst.«

»Ich pflege nicht gern etwas aufzuschieben. Was man sogleich erfahren kann, soll man nicht bis später warten lassen.«

»Das ist die Energie, die jedem Krieger wohl geziemt. Ich bin in dieser Beziehung ganz so wie du gesinnt. Darum sollst du schon jetzt hören, was ich dir erst morgen sagen wollte. Wirst du mir glauben, wenn ich dir noch einmal und ganz bestimmt versichere, daß die Dschamikun sich auf den Raub und Diebstahl verlegen?«

»Ich muß es ja glauben, weil sie es persönlich an uns bewiesen haben.«

»Nicht nur an euch, sondern auch an uns. Sie haben uns erst kürzlich wieder im tiefsten Frieden überfallen und einen großen Teil unserer Herden weggeführt. Ich war mit den meisten meiner Krieger abwesend, um mit einem befreundeten Stamme ein Fest zu feiern, zu dem uns dieser geladen hatte. Das war von den Dschamikun beobachtet worden, und darum gelang ihnen der Raub. Sie haben dabei fünf unserer Wächter getötet. Nun kennst du unsere Pflicht?«

»Sie lautet nach euren Gesetzen: Blut um Blut!«

»Ja, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben, Blut um Blut! Auch wollen wir unsere Herden wieder haben. Du wirst es also begreiflich finden, daß wir einen Zug der Vergeltung gegen sie beschlossen haben?«

»Ich halte das nach euern Gesetzen für ganz selbstverständlich. Wann soll er unternommen werden?«

»Wir wollten schon morgen früh aufbrechen.«

»Ah! Das ist nun wohl nicht möglich?«

»Nein. Die Gastfreundschaft steht selbst über der Pflicht der Rache. Wir haben euch eingeladen, zu uns zu kommen, und wir müssen euch also zeigen, daß wir stolz darauf sind, euch bei uns haben zu können. Die Dinarun haben die Gastlichkeit niemals verletzt, sondern sie stets höher gehalten, als dies von den anderen in dieser Gegend wohnenden Stämmen geschieht. Ich hoffe, daß ihr uns die Ehre erweist, euch in jeder Beziehung als unsere Gäste betrachten zu dürfen. Welche Antwort giebst du mir?«

Wer die Gebräuche jener Völker nicht kennt, der erwartet natürlich, daß ich sofort und mit Vergnügen eingestimmt habe. Es schien ja geradezu als eine liebevolle Fügung des Schicksals betrachtet werden zu müssen, daß diese Einladung ausgesprochen wurde. Besonders fiel hier der Umstand ins Gewicht, daß Halef von einer vielleicht schweren und langwierigen Krankheit bedroht war, welche eine Unterbrechung unserer Reise erheischte, damit ihm die so notwendige Ruhe und Pflege geboten werden könne. Aber die Sache hatte noch eine andere Seite, welche ich als vorsichtiger Mann nicht übersehen durfte.

Nach den Gepflogenheiten der Beduinen ist der »Gast« nämlich nicht etwa, wie bei uns, nur ein sogenannter »Besuch«, dem man sich zu widmen und alle mögliche Aufmerksamkeit zu erweisen hat. Er hat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, denn er ist für die Zeit seines Aufenthaltes bei dem betreffenden Stamme ein vollgültiges Mitglied desselben. Ja, noch mehr:

Das Wort »Gast« hebt ihn über die Mitglieder des Stammes empor, und wie sie außerordentliche Pflichten gegen ihn zu erfüllen haben, so wird auch von ihm eine größere als die gewöhnliche Hingabe an das Wohl und an die Interessen des Stammes gefordert. Der Gast steht während seines ganzen Aufenthaltes in gewisser Beziehung sogar noch über dem Scheik und hat nicht weniger als dieser an allen Freuden, doch ebenso auch an allen Leiden seiner Gastgeber teilzunehmen. Er würde als ehrloser Mensch betrachtet und behandelt werden, wenn er sich von einer Gefahr zurückzöge, welche denen droht, die ihn bei sich aufgenommen haben.

Die Frage Nafars hatte also einen zweifachen Klang, eine doppelte Bedeutung für uns. Sie lautete: »Wollt ihr zu uns kommen und jede Unterstützung finden, deren ihr bedürftig seid?« Wenn ich hierauf mit einem Ja antwortete, so war es mir dann unmöglich, zu dem hierauf folgenden Schlusse ein Nein zu sagen: »Wollt ihr zu uns kommen, um an dem Rachezuge gegen die Dschamikun teilzunehmen?«

Diese, wenn auch nur sehr kurze Erwägung war der Grund, daß ich nicht augenblicklich die erwartete Antwort gab. Darum warf mir der Scheik sofort die etwas pikiert klingenden Worte hin:

»Du zögerst, anzunehmen? Hältst du uns für Leute, deren Berührung eure Ehre beschmutzen würde?«

Diese Frage würde unter anderen Verhältnissen wohl auch eine andere Wirkung hervorgebracht haben; aber es war auf Halef Rücksicht zu nehmen, und wir hatten den Scheik ja auch schon daran erinnert, daß wir seine Gäste seien. Das konnten wir unmöglich zurücknehmen, und darum sagte ich in beruhigendem Tone:

»Man soll zwar rasch denken, aber nicht zu schnell sprechen, o Scheik! Ihr habt bisher als Freunde an uns gehandelt, und ich bin überzeugt, daß ihr das auch weiter thun werdet. Warum sollte ich euch mißtrauen? Warum an eurer Ehrlichkeit zweifeln? Als ich nicht augenblicklich antwortete, hatte das einen ganz anderen Grund.«

»Welchen?«

»Ich fragte mich, ob es uns wohl erlaubt sei, euch in der Weise zu belästigen, wie es geschehen wird, wenn wir darauf eingehen, für längere Zeit als nur heute eure Gäste zu sein.«

»Belästigen?« wiederholte er mein Wort.

»Ja.«

»Ich weiß, daß du ein Christ bist. Wahrscheinlich kennst du die Forderungen unseres Kuran nicht?«

»Ich kenne nicht nur ihn, sondern auch alle seine Auslegungen.«

»So mußt du auch wissen, daß ein Gast niemals belästigen kann! Allah zu gehorchen, ist das oberste der himmlischen Gesetze und den Gast zu ehren, die oberste der irdischen Vorschriften. Wir gehorchen Allah, und wir ehren unsere Gäste. Hoffentlich genügt es dir, daß ich dir dies versichere!«

Ich muß gestehen: Es lag in dem Wesen, in der Ausdrucksweise und in dem ganzen Verhalten dieses Mannes etwas, wodurch meine erst für ihn gehegte Sympathie verringert worden war. Ich konnte dieses Etwas zwar nicht definieren, aber es war vorhanden und übte eine mich zur Zurückhaltung mahnende Wirkung auf mich aus. Aber die Umstände verboten mir, dies in Worten auszudrücken. Darum antwortete ich:

»Es bedarf dieser Versicherung gar nicht. Aber als Gäste geehrt sein zu wollen und dazu auch noch ganz besondere Opfer beanspruchen zu wollen, das schien mir denn doch zu viel von euch verlangt.«

»Für einen Gast etwas zu thun, kann wie ein Opfer sein. Welche Belästigungen sind es, die du meinst?«

»Schau hin zu meinem Hadschi Halef, dem Scheik der Haddedihn! Ich vermute, daß eine Krankheit sich ihm naht, welche im stande ist, euch ungewöhnliche Sorge und Arbeit zu bereiten. Meine Gewissenhaftigkeit gebietet mir die Frage, ob es uns gestattet ist, diese Last auf euch zu legen.«

»Es ist für uns keine Last; wir werden ihn wie einen Bruder pflegen. Und wenn die Krankheit, von welcher du sprichst, wirklich käme, so bist ja du gesund und – und –«

Er zögerte, weiter zu sprechen. Wahrscheinlich hatte er einen Gedanken, den ich nicht erraten sollte, wenigstens jetzt noch nicht. Ich vermutete, daß der Satz, wenn er ausgesprochen worden wäre, wahrscheinlich folgendermaßen gelautet hätte: »Wir haben zwar auf eure beiderseitige Hilfe gerechnet, aber falls Halef krank wird, bist ja du noch da, und auf dich rechnen wir dann ganz bestimmt!« Ich fand nicht Zeit, hierüber weiter nachzudenken oder den Scheik zu veranlassen, sich vollständiger und deutlicher auszudrücken, denn kaum hatte er diese Pause eintreten lassen, so begann der bisher bewegungslos daliegende Hadschi plötzlich sich zu regen, und zwar in höchst energischer Weise. Er wickelte sich aus seiner Decke heraus, sprang auf, stellte sich vor mich hin und fragte in einem Tone, der auf nichts weniger als auf Kranksein schließen ließ:

»Was hast du da gesagt, Sihdi? Ich habe alles gehört! Denkst du wirklich und im Ernste an die Möglichkeit, daß ich krank sein werde?«

»Ja,« antwortete ich aufrichtig.

»Was für eine Krankheit wird das sein? Welchen Namen giebst du ihr?«

»Ich sehe sie jetzt nur von weitem. Erst wenn sie da ist, kann ich sie erkennen und dir ihren Namen sagen.«

»Also von weitem! O Sihdi, wie enttäuschest du mich! Ich habe dich für klug gehalten, und sehe nun, daß du dies gar nicht bist!«

»Danke, lieber Halef!«

»Bitte! Fasse doch diesen deinen Gedanken an; stelle ihn vor dich hin und schau ihm in das lügnerische Angesicht! Du siehst meine Krankheit jetzt nur von weitem. Sie ist also noch gar nicht da. Muß ich ihr denn erlauben, vollends heranzukommen und in meinen Körper einzuziehen, um es sich in demselben wie in einem festlich geschmückten Zelt bequem zu machen?«

»Wenn sie will, wird es geschehen!«

»Will, will, will! Auch ich habe meinen Willen, und was ich will, das pflege ich durchzusetzen. Jede Krankheit ist Schwäche. Auch die, welche du von weitem kommen siehst, kann gar nichts anderem gleichen, als einem alten, schwachen, elenden Weibe, welches keinen Zahn mehr im Munde hat. Und ich, der berühmte, tapfere Scheik der Haddedihn, der selbst dem Löwen nie den Rücken zeigte, soll mich vor einem solchen Geschöpf der Schwäche fürchten? Ich sage dir: Ich lasse diese Krankheit nicht heran! Ich weise sie ab! Ich lache sie aus! Du selbst hast mich gelehrt, was ein fester Wille kann, und wie fest und unerschütterlich der meinige ist, das muß ich doch wohl am allerbesten wissen!«

»Halef, bitte, gieb mir deine Hand!«

»Warum?«

»Gieb sie nur!«

»Wozu? Ist’s etwa wegen deines Dass innabd

»Ja.«

»Das kann ich selbst!«

Er legte den Daumen der rechten Hand an die Ader oberhalb des linken Handgelenkes, hielt beides an das Ohr, lauschte eine kleine Weile und fuhr dann fort:

»Ich höre nichts, gar nichts; es ist also alles in der schönsten Ordnung! Denn wäre etwas Fremdes in der Ader, so müßte es sich doch bemerklich machen!«

»Man darf nicht hören, sondern fühlen!«

»Das ist ganz gleich, denn ich habe auch nichts gefühlt. Und dieses Gefühl müßte ich doch deutlicher haben als jeder andere, der nicht nach seinem, sondern nach meinem Pulse greift!«

Ich wollte da eine erklärende Bemerkung machen, doch ließ er mich nicht zum Worte kommen und fügte schnell hinzu:

»Ich weiß, Sihdi, daß es deine Liebe ist, welche dich so besorgt um mich macht. Aber ich will dir beweisen, daß deine Gedanken auf einem ganz verkehrten Wege spazieren gehen. Ich frage dich: Ist das Negris eine Krankheit?«

»Ja.«

»Wenn dieses Negris in meiner großen Zehe sitzt, fühlst du es dann etwa in der deinigen?«

»Nein.«

»Ganz recht! Du bist geschlagen! Du bist überführt! Du mußt erkennen, daß du unrecht hast! Das Negris thut nur dem wehe, der es hat, keinem andern. Nur wer die Schmerzen fühlt, weiß, daß er ihr rechtmäßiger Eigentümer und Besitzer ist! Und ganz genau so ist es auch bei allen übrigen Krankheiten. Ich fühle mich gesund, vollständig kerngesund! Aber ich bekomme Angst um dich, Sihdi!«

»Warum?«

»Weil du es bist, der meine Krankheit fühlt und sieht. Sie ist also nicht die meinige, sondern die deinige! Darum befürchte ich sehr, daß wir die Gastfreundschaft dieser guten Dinarun nötig haben, um dich wieder gesund pflegen zu können!«

Wer da meinte, diese Worte seien im Fieber oder aus Unverstand gesprochen worden, der hätte sich geirrt. Ich begriff den lieben, kleinen Kerl sehr wohl. Er machte den Ernst zum Scherze, um mich zu beruhigen, doch gelang es ihm freilich nicht, mich zu täuschen.

»Ihr nehmt es also an, unsere Gäste zu sein?« fiel da der Scheik schnell ein.

»Ja,« antwortete Halef. »Denn wir brauchen vielleicht einige Zeit, um dem alten, zahnlosen Weibe, welches mein Sihdi von weitem kommen sieht, begreiflich zu machen, daß es sich weder schickt noch ziemt, mit Leuten zu verkehren, wie wir beide sind. Und während dieser Frist sind wir natürlich gern bereit, euch so nützlich zu sein, wie es die Pflicht eurer Gäste ist.«

Das war es, was der Scheik hören wollte. Er zauderte nicht, Halef beim Worte zu nehmen:

»Auch gegen die Dschamikun?«

»Jawohl. Das ist’s ja grad, was ich meine!«

Da war das Wort heraus, welches auszusprechen ich gezögert hatte! Zwar hätte ich Halef in die Rede fallen können; aber das wäre auffällig gewesen, und, wie bereits gesagt, es blieb uns keine Wahl. Die Schnellfertigkeit des Hadschi hatte in diesem Falle keinen Fehler begangen, sondern nur etwas eher zugestanden, was ich, der Bedächtigere, später doch auch nicht hätte verweigern können. Das Versprechen mußte dem Scheik wertvoll sein, denn er verbeugte sich gegen uns beide, hob die Hände bis zur Brust empor und sprach:

»So ist der Bund zwischen euch und uns geschlossen. Eure Feinde sind auch unsere Feinde und unsere Freunde sind auch eure Freunde. Wir wollen das Brot darüber essen!«

Er zog ein Stückchen dünnen Brotfladen aus der Tasche seines Ha ïk, brach es in drei Teile, schob den seinigen in den Mund und gab uns die beiden anderen. Da war nichts anderes zu thun; wir mußten sie nehmen und essen, worauf wir uns in jeder Beziehung als Dinarun zu betrachten hatten!

Halef war nicht nur vollständig damit einverstanden, sondern er freute sich sogar darüber. Er ging um das Feuer, zu dem Scheike hin, reichte ihm die Hand und sagte:

»Ich habe vorhin nicht etwa geschlafen, sondern alles vernommen, was du erzähltest. Ihr habt uns heut beigestanden, diesen Dschamikun alles, was sie uns raubten, wieder abzunehmen. Nun werden wir euch beistehen, eure Herden wieder zu bekommen und den Tod eurer Wächter zu rächen. Zwar sind wir nur zwei Personen, aber –«

Da unterbrach ihn Nafar:

»Aber ihr zählt für viele. Das wissen wir wohl! Solchen Gewehren, wie ihr sie besitzt, kann kein Feind widerstehen, und ebensowenig kann, wenn ihr eure Pferde reitet, ein Fliehender euch entkommen. Vielleicht ist die Krankheit, von welcher ihr redet, eine Täuschung. In diesem Falle könnten wir schon morgen oder doch übermorgen aufbrechen, um den Dschamikun die wohlverdiente Strafe zu erteilen!«

»Ich bin schon morgen bereit dazu,« erklärte Halef, »und mein Sihdi ganz gewiß ebenso! Ihr werdet es nicht bereuen, uns getroffen und hierher begleitet zu haben. Doch ehe wir morgen aufbrechen, muß über diese Diebe hier das Wort des Gerichtes ausgesprochen werden. Es hat mich gewundert, dein Herz so mild gegen sie zu sehen, besonders, nachdem du uns gesagt hast, daß sie zu demselben Stamm gehören, an welchem auch ihr euch zu rächen habt.«

Halef sprach diese Bemerkung gewiß ganz absichtslos aus, doch schien es mir, als ob sie dem Scheik nicht recht gelegen komme. Er antwortete nicht. Da hielt ich es denn für nicht unklug, diesen Eindruck durch die direkt an ihn gerichtete Frage zu verstärken:

»Als diese zwölf Männer euch heut begegneten, habt ihr denn nicht mit ihnen gesprochen?«

»Nein,« antwortete er. »Das sagte ich euch doch schon.«

»Warum habt ihr sie denn nicht angehalten?«

»Weshalb hätten wir dies thun sollen? Wir kannten euch noch nicht, hatten also noch keinen Bund mit euch geschlossen und wußten ebensowenig, daß ihr von ihnen beraubt worden waret.«

»Habt ihr sie denn nicht als Dschamikun erkannt?«

»Nein!« antwortete er auffällig schnell.

»Sonderbar! Dieser Stamm hat euer jetziges Lager überfallen?«

»Ja.«

»Und hierauf wagten sich zwölf einzelne seiner Leute so nahe an dieses heran? Diese Dschamikun scheinen nicht nur kühne, sondern sogar verwegene Krieger zu sein.«

»Das sind sie allerdings!«

»Und du wünschest eine so gelinde Strafe für sie? Wenigstens als Geisel hättest du sie von uns fordern sollen!«

»Das ist es, was ich noch thun werde. Ihr Schicksal ist ja noch gar nicht entschieden.«

Er sah mich forschend an. Er mochte fühlen, daß ich nicht ohne Mißtrauen sei. Dann fuhr er fort:

»Ich wünschte ja nur deshalb, sie nur leicht von euch bestraft zu sehen, damit sie mir für eine schwere Sühne übrigbleiben. Freigelassen werden sie auf keinen Fall!«

»So können wir befriedigt sein, Sihdi,« meinte Halef, indem er an seinen Platz zurückkehrte, um sich niederzulegen. »Wir haben wieder, was uns fehlte. Mit der Strafe brauchen wir ja nicht zu eilen. Damit hat es auch Zeit, bis wir von dem Zuge gegen die Dschamikun zurückkehren. Und da wir ihn, wie ich denke, schon morgen antreten werden, so brauchen wir jetzt Ruhe. Wir wollen also schlafen. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« sagte auch Nafar Ben Schuri, indem er sich niederlegte. Vielleicht war es ihm recht lieb, jetzt nicht weitersprechen zu müssen.

Auch ich streckte mich unter meiner Decke aus, doch nur, um zu thun, als ob ich schlafen wolle. Selbst wenn es nicht meine Absicht gewesen wäre, die ganze Nacht wach zu bleiben, hätte ich jetzt doch nicht schlafen können. Sie gaben mir ja beide mehr als genug zu denken, Halef sowohl wie auch der Scheik der Dinarun. Ich schrieb das plötzliche Aufspringen des ersteren und seine eifrige Teilnahme am Gespräche dem Fieber zu. Er hatte, anstatt mich zu beruhigen, meine Sorge um ihn nur vergrößert. Und diese Sorge wurde nicht geringer, wenn ich an Nafar Ben Schuri dachte.

Ich bin von jeher so herzlich gern ein dankbarer Mensch gewesen. Vielleicht ist es einer meiner größten Fehler, das Gute, welches mir erwiesen wird, in der Weise zu vergrößern, daß der, welcher es that, mich für seinen ewigen Schuldner halten muß. So zählte ich auch jetzt im stillen alles auf, was wir heut dem Zusammentreffen mit den Dinarun zu verdanken hatten. Ich verkleinerte nichts und suchte, möglichst viel zusammenzufinden; aber trotzdem wollte es mir nicht gelingen, es zu einem klaren, reinen, fest überzeugten Gefühle der Dankbarkeit zu bringen. Warum das nur? Ich wollte gern lieb und gut über diese Leute denken, aber ich brachte das nicht fertig. Es gab einzelne Beobachtungen, und es gab auch Worte, welche an sich vielleicht ganz unverfänglich waren, aber dadurch, daß ich sie zusammenhielt und miteinander verglich, eine für mich unwillkommene und unerwünschte Bedeutung bekamen. Ja, wir waren am gestrigen Nachtlager beraubt worden und hatten die erlittenen Verluste wieder zurückgewonnen. Nun hätte ich ruhig sein können. Aber ich war es nicht. Es lag ein Ahnen, ein Fühlen, ein Empfinden in mir, als ob der von uns erlittene Schaden doch noch nicht ersetzt worden sei, oder als ob uns ein anderer, neuer Nachteil getroffen habe, der erst später und viel schwerer auszugleichen sei. Solche innere Stimmen scheinen zunächst undeutlich und unbestimmt zu sprechen, aber dann, wenn ihre Warnung zur Wahrheit wird, ist man gezwungen, einzusehen, daß man sie bei etwas größerem Vertrauen gar wohl verstanden hätte.

Es war kein Befehl gegeben worden, das Feuer zu unterhalten. Darum ging es nach und nach aus. Ich that nichts, dies zu verhindern, denn der Himmel stand voller Sterne, und der Schein, welchen sie herniedersandten sandten, war hell genug für mich, die Gefangenen zu beobachten. Es bewegte sich nur selten einmal einer von ihnen, und dann auch nur, um sich von der einen Seite auf die andere zu wenden. Des Gedankens, sich von den Fesseln zu befreien und zu fliehen, schien keiner fähig zu sein.

Halef schlief. Ja, er schlief wirklich, fest und ruhig. Sein Atem ging regelmäßig. Das machte mir Hoffnung. Vielleicht hatte ich doch zu schwarz gesehen. Manchmal freilich ging ein Schauer über seinen Körper und dann bewegte er sich, als ob er im Begriff stehe, aufzuwachen. Das konnte aber auch von der nächtlichen Kälte sein, weil, wie bereits erwähnt, in Persien die Wärmeunterschiede zwischen Tag und Nacht ganz bedeutend und viel größer sind als bei uns.

Erst gegen Morgen wachte er auf, und da fror es ihn allerdings so, daß es ihn schüttelte. Es war schon hell, und so sah er, daß ich munter war.

»Du hast auch schon die Augen offen, Sihdi?« fragte er. »Die Dinarun schlafen noch, obgleich es Zeit zum Morgengebete ist. Ich werde mich also waschen gehen.«

Ich hätte ihn gern gebeten, dies heut nicht zu thun, wußte aber, daß dies vergeblich sein würde. Er stand auf und ging an dem Wasser entlang, bis er hinter einigen Büschen verschwand, um dort seine Morgenandacht zu verrichten. Sein Gang war fest, seine Haltung sicher gewesen. Das beruhigte mich in der Weise, daß ich die Augen schloß, um schnell noch ein Viertelstündchen Schlaf hinwegzunehmen. Wie gedacht, so geschehen: Ich schlief wirklich sofort ein und wachte nicht eher auf, als bis ich von dem Lärm des Aufbruches geweckt wurde.

Niemand wußte, daß ich die Nacht hindurch gewacht hatte. Darum nahm ich es dem Scheik nicht übel, als er mich scherzweise einen Langschläfer nannte. Der abgeschickte Bote war schon mit den beiden Tachtirwans angekommen. Man hatte das frugale Frühstück eingenommen. Auch ich trank einige Schluck Wasser aus dem Bache und aß ein paar Datteln, wobei ich meinen Halef beobachtete, welcher still auf seiner Decke saß, starr vor sich hinblickte und für niemand, auch nicht einmal für mich ein Auge zu haben schien. War es so schnell anders mit ihm geworden?

»Halef!« rief ich ihn.

Er antwortete nicht.

»Halef! Hörst du mich?«

Er nickte nur, sagte aber nichts und drehte sich auch nicht nach mir um.

»Ist dir nicht wohl?« fragte ich.

»Laß mich!« bat er jetzt mit gedrückter Stimme. »Sprich nicht auf mich!«

»Warum nicht?«

»Ich kann nicht antworten. Ich bin so müde, so unendlich matt!«

Da ging ich hin und beugte mich zu ihm nieder. Er legte den Arm um meinen Hals und sagte:

»Sihdi, mein lieber, lieber Sihdi, wie denkst du über das Sterben?«

»Ich denke, daß wir beide noch recht, recht lange darauf warten werden,« antwortete ich.

»Meinst du? Mir aber ist, als ob es sofort beginnen solle. So wie mir jetzt ist, muß es einem sein, der sterben soll!«

»Denke nicht daran! Es ist nichts als Müdigkeit.«

»Aber eine so große, wie ich sie noch nie empfunden habe! Wenn ich mich nicht legen soll, so muß ich dich bitten, mich festzuhalten, damit ich nicht umfalle.«

Soeben wurden die gefesselten Gefangenen auf ihre Pferde gebracht. Die beiden Verwundeten wollte man in die Tachtirwans bringen. Da gab ich dem Scheik die Weisung:

»Die zwei Gefangenen kommen miteinander in eine Sänfte!«

»Für wen ist die andere?« fragte er.

»Für Hadschi Halef.«

»Für den Scheik der Haddedihn?« gab er verwundert zurück. »Wie kann jemand, der ein solches Pferd besitzt wie er, auf den Gedanken kommen, wie ein Weib in eine Sänfte zu steigen!«

»Er ist krank. Er kann nicht reiten.«

Da nahm Halef seinen Arm von meinem Halse, sprang mit einem schnellen, kräftigen Rucke auf, sah mir mit funkelndem Auge in das Gesicht und rief zornig aus:

»Sihdi, bist du toll? Hast du plötzlich die Gabe deines Verstandes verloren?«

Ein einziger Augenblick hatte genügt, ihn in ein Bild der höchsten Energie zu verwandeln.

»Nein,« antwortete ich. »Ich bin sogar sehr bei allen meinen Sinnen.«

»Das kannst du unmöglich sein, wenn du mir zumutest, nicht zu reiten, sondern mich tragen zu lassen!«

»Es muß sein, lieber Halef. Füge dich!«

»Das fällt mir nicht ein. Soll ich zum Gelächter aller Menschen werden, die es gegeben hat, die es jetzt giebt und auch die es einst noch geben wird?«

»Nein. Die Krankheit ist doch nicht etwas, worüber man zu lachen hat!«

»Aber der Tachtirwan. Uebrigens bin ich ja gar nicht krank!«

»Und soeben fühltest du dich zum Umfallen schwach!«

»Jetzt nicht mehr. Das ist vorüber!«

»Es wird wiederkommen!«

»Nein! Dein altes Weib, welches keine Zähne mehr hat, werde ich mir vom Leibe zu halten wissen!«

Es war die Erregung des Stolzes, die ihm die Kraft gegeben hatte, aufzuspringen. Er griff mit beiden Händen nach dem Kopfe. Es schwindelte ihm.

»Sei gut, Halef!« bat ich.

»Ich bin ja gut! Gegen dich kann ich doch gar nicht anders sein!«

»Jetzt bist du es nicht. Du weißt, daß ich dich nie um etwas bitte, was nicht nötig ist.«

»So machst du gegenwärtig eine Ausnahme. Das, was ich thun soll, ist vollständig überflüssig!«

»Streiten wir uns nicht hierüber! Kannst du dich noch besinnen, daß du mir eines Tages etwas schenken wolltest und doch nichts hattest?«

»Ja. Das war zu deinem Geburtstage.«

»Du warst traurig darüber, daß du mir nichts geben konntest. Besinne dich! Was sagtest du da zu mir?«

»Ich bat dich, mir es zu sagen, wenn du einmal einen recht, recht großen Wunsch haben würdest. Ich versprach, ihn dir zu erfüllen.«

»Ja und zwar unbedingt zu erfüllen! Nun, diesen Wunsch habe ich jetzt ausgesprochen, und ich wiederhole ihn! Steig in den Tachtirwan!«

»So forderst du das von mir als nachträgliches Geburtstagsgeschenk?«

»Ich fordere es nicht, sondern ich erbitte es mir. Sei brav; sei willig, lieber Halef!«

»Oh, mein guter, guter Sihdi, wenn du in diesem Tone mit mir redest, kann ich dir nicht widerstehen! Aber, hast du gehört, was der Scheik sagte?«

»Denke nicht daran!«

»Er sagte: ›Wie ein Weib in die Sänfte steigen!‹ Wenn ich es thue, gebe ich meine ganze Würde hin!«

»Nein!«

»Doch! Die Würde des Mannes, die Würde des Kriegers und die Würde des Scheikes!«

»Diese drei Würden werden dir bleiben; aber die Würde meines Freundes würde verloren gehen, wenn du es nicht thätest.«

»So thue ich es. Aber mein Gewehr und alles, was zum Manne gehört, muß ich mitnehmen dürfen!«

»Selbstverständlich! Ich danke dir!«

»Und du hebst mich hinein. Es soll mich kein anderer anfassen als nur der allein, dem zuliebe ich es thue!«

»Gern. So komm!«

Ich war ihm behilflich, einzusteigen, und gab ihm dann seine Waffen hinauf. Als dies geschehen war, kam der Scheik zu mir. Er hatte gespannten Auges zugesehen und fragte nun:

»Sihdi, wer wird jetzt das Pferd Halefs reiten?«

»Niemand,« antwortete ich, von seiner Frage nicht etwa angenehm berührt.

»Würdest du es mir nicht für diese kurze Zeit erlauben?«

»Nein.«

»Sihdi, bedenke, daß wir Brüder sind! Du bist mein Gast!«

»Das weiß ich. Und eben weil ich es weiß, darf ich dir deinen Wunsch nicht erfüllen.«

»Du darfst nicht? Oder willst du nicht?«

»Ich darf nicht.«

»Warum?«

»Das Pferd würde dich abwerfen.«

»Du brauchst ihm ja nur das Zeichen zu geben, so wird es dies nicht thun!«

»Aber dieses Zeichen ist ein Geheimnis, und die Geheimnisse eines Vollblutpferdes werden selbst dem besten Freunde, dem Bruder, dem Gaste nicht verraten. Das mußt du wissen. Grad weil ich dein Gast bin, ist es deine heilige Pflicht, nichts von mir zu fordern, was ich dir nicht gewähren kann. Die Auslegung des Kuran sagt: ›Wer das Antlitz seines Gastes durch eine unerfüllbare Bitte schamrot macht, ist nicht wert, Gäste zu haben.‹ Das scheinst du nicht zu wissen!«

Nachdem ich ihm diese Lehre, und zwar im ernstesten Tone, erteilt hatte, wendete ich mich von ihm ab. Es war mir mehr als unangenehm, ja, es machte mich bedenklich, immer wieder zu bemerken, daß er danach trachtete, die Geheimnisse unserer Pferde zu erfahren. Ich bestieg meinen Assil und nahm Barkh am Zügel, um ihn neben mir hergehen zu lassen. Der Scheik mußte es hinnehmen, daß ich ihn von jetzt an nicht mehr beachtete. Ich wagte dabei nichts, denn im Besitze unserer Hengste und unserer Gewehre hatten wir, so lange wir Vorsicht übten, die ganze Schar dieser Beduinen nicht zu fürchten. Und daß der Scheik dies wußte, das war aus seinem Verhalten mit Sicherheit zu schließen.

Es war ein schöner, frischer Ritt in den jungen, kühlen Morgen hinein. Dann später, als die Sonne über den östlichen Bergen erschien, wurde es schnell warm. Wir hatten nicht unsere gestrige Richtung rückwärts eingeschlagen, sondern wir ritten den Weg, auf welchem der Bote die von ihm geholte Hilfe gebracht hatte. Ich achtete aber weniger auf die Gegend als auf Halef, den ich während der ersten Zeit nicht sah, weil er in dem Grunde der Sänfte lag. Doch später setzte er sich auf und ließ sein Gesicht erscheinen, um nach mir auszuschauen. Als er mich an seiner Seite sah, nickte er mir lächelnd zu und sagte:

»Sihdi, das alte Weib ist wieder fort. Ich bin so munter, daß ich gern aussteigen und lieber reiten möchte.«

»Ich bitte dich aber, sitzen zu bleiben,« antwortete ich ihm.

»Meinst du, daß sie wiederkommt?«

»Ja.«

»Ich glaube es nicht. Die Schwäche ist heraus!«

»Nein, sie steckt noch drin. Sie wird vielleicht sogar noch größer werden.«

»Du irrst, Sihdi. Ich sehe ja, daß sie heraus ist.«

»Du siehst es? Wieso?«

»Ich habe sie jetzt außen auf der Brust.«

Diese Worte erschreckten mich, obgleich ich so etwas erwartet hatte. Ich verstand ihn gleich; ich wußte, was er meinte. Wenn es sich um Petechien handelte, so hatte ich das Richtige befürchtet: Halef war typhuskrank.

»Hast du Flecken auf der Brust?« fragte ich.

»Ja, Sihdi.«

»Wie sehen sie aus?«

»Ich war bei Kindern, welche an der Chassba litten. Das ist eine Krankheit, welche die Haut zu färben pflegt. Genau von dieser Farbe sind die Flecken, die ich jetzt bei mir bemerke.«

Mit diesen Worten hatte er das Kennzeichen des Petechialtyphus angegeben. Daß gewisse Beobachtungen, welche ich seit gestern an ihm gemacht hatte, nicht genau mit den Symptomen dieser Krankheit übereinstimmten, konnte mich nicht beirren. Jedes Leiden pflegt nebenbei seine individuellen Erscheinungen zu haben. Ich wußte nun, daß es sich möglicherweise um das Leben Halefs handeln konnte, daß die größte Schonung, die sorgfältigste Pflege geboten war und daß ich selbst im günstigen Falle an eine Genesung vor Ablauf eines Monates nicht denken durfte. Was das heißt, wenn man sich dabei in fremder Gegend und unter halbwilden Menschen befindet, kann man sich unschwer denken!

»Du bist so still! Worüber denkst du nach?« fragte er nach einiger Zeit, in welcher ich nicht gesprochen hatte.

»Ich fragte mich nach dem Lager dieser Dinarun. So gute, geräumige und bequeme Zelte wie unsere Haddedihn werden sie wohl nicht besitzen.«

»Nein, solche nicht, Sihdi! Die giebt es nur bei uns! Aber das erwarte ich gar nicht. Wozu auch Zelte? Wir bleiben doch höchstens nur einige Stunden dort, weil schon heut gegen die Dschamikun aufgebrochen wird.«

»Das halte ich nicht für so bestimmt wie du.«

»Es ist bestimmt. Du weißt ja, daß ich es dem Scheik versprochen habe, und was ich verspreche, das halte ich!«

»Aber ich? Habe ich es auch versprochen?«

»Nein. Doch mein Wort gilt natürlich auch als das deinige, und ich hoffe, daß du mich nicht Lügen strafen lässest!«

Hierauf sah ich ihn nicht mehr. Er hatte sich wieder niedergelegt. Die Schwäche war also doch zurückgekehrt!

Von nun an geschah nichts Erwähnenswertes, als daß einer der Dinarun voranritt, um unsere Ankunft zu melden. Der Scheik befand sich, wie gestern, an der Spitze des Zuges, und da er vermied, zu mir zu kommen, hatte ich noch viel weniger Veranlassung, ihn da vorn aufzusuchen. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn wir ihn und seine Leute gar nicht getroffen hätten. Es wäre uns wahrscheinlich auch ohne ihre Hilfe gelungen, wenn auch nicht so schnell und mühelos, unsere Absicht durchzusetzen.

Nach einigen Stunden gab es wieder Büsche. Wir befanden uns also nicht mehr in wasserloser Gegend, wie vom heutigen Aufbruche an, und ich vermutete, daß wir nun nicht mehr fern dem Ziele seien. Diese Mutmaßung bewährte sich als richtig. Ich sah einen Reitertrupp erscheinen, welcher uns entgegenkam, und nun hielt es der Scheik endlich für geboten, sein Pferd so lange anzuhalten, bis wir ihn erreicht hatten. Dann deutete er mit der Hand vorwärts und sagte:

»Sihdi, da nahen Krieger meines Stammes, um euch willkommen zu heißen. Wirst du erlauben, daß sie euch mit dem gebräuchlichen Lab el Barud empfangen? Eine Fantasia, die wir euch als so lieben Gästen schuldig sind, wird abgehalten werden, sobald wir uns im Angesichte des Lagers befinden.«

Das Lab el Barud besteht gewöhnlich in einer tollen Schießerei, bei welcher sehr viel Pulver verschwendet wird. Bei der Fantasia werden allerlei Reiterkünste gezeigt. Beides hat den Zweck, den Gast zu ehren und ihm zu zeigen, daß die, welche ihn empfangen, als gute Reiter und Schützen seiner Achtung würdig sind.

Ich hätte dem kranken Hadschi diesen Lärm wohl gern erspart, damit aber wahrscheinlich die Dinarun beleidigt, und da durch die Ausführung dieser Gebräuche das gegenseitige Gast- und Freundschaftsverhältnis bestätigt wird, so hielt ich es in Hinsicht auf unsere Sicherheit für geraten, meine Zustimmung zu erteilen.

Als ich dies gethan hatte, gab er den Nahenden mit dem erhobenen Arme ein Zeichen, worauf sie im Galopp herangesprengt kamen, uns einige Male im Kreise umritten und unter wildem Schreien aus ihren langen Flinten wiederholte Salven und einzelne Schüsse abgaben. Dann sammelten sie sich hinter uns, um sich uns anzuschließen.

»Bist du mit diesem Empfange zufrieden?« fragte mich der Scheik im Weiterreiten.

»Ja,« antwortete ich. »Wir danken euch!«

»Ich glaubte, du habest deine Erwartungen nicht erfüllt gesehen.«

»Warum?«

»Weil du mit keinem einzigen Schusse diesen Empfang erwidert hast.«

Das war ein Vorwurf, der mir nicht gefiel, und dem eine versteckte Absicht zu Grunde liegen mußte. Und diese Absicht konnte sich nur auf die gastliche Treue beziehen. Das wurde mir von jenem Mißtrauen gesagt, welches sich nun einmal nicht in mir niederdrücken lassen wollte und jetzt wieder seine warnende Stimme erhob. Darum antwortete ich:

»Du weißt, o Scheik, daß wir weder Knaben noch Neulinge, sondern erfahrene Männer sind. Wir wissen ganz genau, was so ein Lab el Barud zu bedeuten hat. Aus euren Gewehren hat die Stimme der Gastfreundschaft gesprochen. Diese Schüsse waren eure Versicherung, ja euer Schwur, daß ihr euch Mühe geben werdet, alle eure Pflichten gegen uns zu erfüllen.«

»Weiter nichts?« fragte er.

»Nein.«

»Du irrst! Durch diese Schüsse richteten wir auch die Frage an euch, wie es mit den Pflichten stehe, die ihr gegen uns auf euch genommen habt.«

Da hielt ich mein Pferd an, faßte den Zügel des seinigen, daß es auch stehenbleiben mußte, richtete mich im Sattel auf, sah ihm grad und forschend in das Gesicht und sagte:

»Das würde eine Beleidigung für uns sein!«

»Nein!« behauptete er.

»Doch!«

»So bitte ich dich, es mir zu erklären!«

»Es sollte dieser Erklärung gar nicht erst bedürfen! Die Gastfreundschaft ist zwischen euch und uns bereits geschlossen. Ihr habt uns euer Wort gegeben und dafür das unserige erhalten. Ist das so?«

»Ja,« gestand er ein.

»Haltet ihr uns für Lügner?«

Als ich meinem Blick hierbei einen drohenden Ausdruck gab, senkte er den seinen und antwortete:

»Nein. Ich gebe dir die Versicherung, dies ganz und gar nicht gemeint zu haben!«

»Das ist es, was ich wissen wollte! Wenn wir unser Wort geben, so halten wir es unter allen Umständen. Es bedarf bei uns keiner weiteren Versicherung durch irgendeine That oder gar durch ein bloßes Spiel, bei welchem wir gezwungen wären, unsere Munition zu vergeuden, die viel kostbarer als die eure ist.«

Ich machte eine Pause, um den nächsten Worten eine erhöhte Bedeutung zu geben, und fuhr dann fort:

»Oder sollte es dir vielleicht so außerordentlich wichtig sein, zu sehen, wie unsere Gewehre beim Schießen gehandhabt werden müssen? Wir schießen niemals im Spiele, sondern stets nur dann, wenn der Ernst uns dazu zwingt, wenn wir uns verteidigen müssen. Aber dann sitzt jeder Schuß; das kannst du mir gut glauben! Wenn ihr es für notwendig gehalten habt, euren Worten durch eure Schüsse größere Glaubhaftigkeit zu verleihen, so sage ich dir, daß wir so etwas nicht nötig haben, weil unsere Worte Thaten sind, die nicht erst noch besonders bestätigt zu werden brauchen! Und nun frage ich dich: Sind wir im vollsten Sinne des Wortes eure Gäste oder nicht?«

»Ihr seid es,« versicherte er, indem er mir die Hand herüber hielt.

Es war ihm anzusehen, daß er sich beschämt fühlte. Vielleicht gab es in seinem Innern auch noch etwas anderes als diese Scham allein. Ich schlug ein, gab sein Pferd frei und sprach, indem wir nun weiter ritten:

»Du weißt nun ganz genau, wie wir über die Heiligkeit und Verletzlichkeit des gegebenen Wortes denken. Fordere also nicht von uns, etwas hinzuzufügen, denn so ein Wunsch würde eine schwere Beleidigung für uns sein!«

»Und doch hast du etwas ähnliches von uns gewünscht, ohne daß es mir eingefallen ist, es dir übelzunehmen!«

»Was?«

»Das Lab el Barud und die Fantasia.«

»Soll ich gezwungen sein, dich, unseren Gastfreund, Lügen zu strafen? Du hast uns beides angeboten; ich habe es nicht verlangt. Das ist der Unterschied. Und durch dieses dein Angebot hast du eigentlich gesagt, daß dein Wort erst noch weiterer Bekräftigung bedarf, bevor man ihm Vertrauen schenken kann.«

»Das habe ich nicht gewollt! Bei Allah! Wenn du mich in dieser Weise verstanden hast, so zwingst du mich jetzt, eine Bitte auszusprechen.«

»Welche?«

»Auf die Fantasia zu verzichten!«

»Das thue ich sehr gern!«

»Sie wird also in Wegfall kommen, damit du nicht ferner annimmst, daß sie als Bestätigung des euch gegebenen Wortes nötig sei. Wir wissen ebensogut wie ihr, was so ein Wort bedeutet!«

Ja, das wußte er wohl ganz gewiß. Aber etwas anderes wußte und fühlte er wohl nicht, nämlich daß das gegebene Wort seine ganze Heiligkeit verliert, wenn es Veranlassung giebt, in einer so peinlichen Weise über seine Bedeutung verhandeln zu müssen!

Wir ritten jetzt eine langsam ansteigende, sonnige Höhe empor, welche dicht mit niedrigen Genistenpflanzen bewachsen war. Tausende von weißen Schmetterlingsblumen sandten uns da ihre köstlichen Düfte zu. Dieser Strauch, welchen die Hebräer Retom nannten, ist identisch mit dem »Wachholder« des alten Testamentes, welches von dem Propheten Elias erzählt: Er kam in die Wüste von Bersaba und setzte sich unter einen Wachholder und wünschte sich den Tod und sprach: Es genügt mir, Herr. Nimm meine Seele, denn ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich nieder und entschlief im Schatten des Wachholderbaumes. Und siehe, ein Engel des Herrn rührte ihn an und sprach: Steh auf, und iß!

Man sah hier und da eine Ziege, welche sich die weichen Spitze der Zweige schmecken ließ, und Kinder, von denen diese Tiere beaufsichtigt wurden. Das war ein Zeichen, daß wir uns dem Lager näherten. Zu den Ziegen gesellten sich fett geschwänzte Schafe mit sonderbar langen, lappigen Hängeohren. Einige magere Rinder kauten seitwärts im harten, scharfen, schilfähnlichen Grase. Dann kamen wir an zerstreut weidenden Eseln und Maultieren vorüber, und endlich sahen wir den Lagerort, nicht oben auf der Höhe, sondern unterhalb derselben sich seitwärts an der Berglehne hinziehend.

Die uns dort erwartenden Dinarun waren benachrichtigt worden, daß die Fantasia zu unterbleiben habe. Dennoch saßen sie alle zu Pferde, weil es für sie eine Schande gewesen wäre, uns zu Fuße zu empfangen. Sie waren so freundlich, wie wir es erwarteten, drückten dies aber mehr durch Gesten und Pantomimen als durch Worte aus. Redselig, wie der Beduine fast immer gegen Gäste ist, zeigten sie sich nicht. Das genierte mich aber nicht. Es gab vielmehr einige andere Beobachtungen, durch welche ich mich enttäuscht fühlte. Doch, davon später.

Es mochten gegen zweihundert Männer hier versammelt sein. Ich überflog den ganzen Plan mit schnellem Blicke. Zelte gab es nur wenige, und diese waren ärmlich. Das beste von ihnen wurde uns von dem Scheik als das bezeichnet, in welchem wir wohnen sollten. Die vorhandenen Pferde waren teils mittel-, teils auch minderwertiges Material, und es gab höchstens zehn oder fünfzehn, für welche man etwas mehr als den gewöhnlichen Durchschnittspreis hätte bieten können.

Außer den Zelten gab es nur niedrige Hütten, welche aus Ginsterzweigen errichtet worden waren. Weiber, Kinder, Maultiere und Esel – man verzeihe, daß ich dies zusammen nenne – waren nur so viele da, wie zum Transporte der geringen Habseligkeiten und der mageren Schlachttiere gebraucht wurden.

Noch ehe wir dieses sogenannte »Lager« erreichten, hatte Halef sich in seinem Tachtirwan wieder aufgerichtet und mir zugerufen:

»Sihdi, mein Herz ist voller Wehmut und meine Seele voller Traurigkeit, daß ich nicht im Sattel sitzen kann. Was werden die stolzen Krieger der Dinarun von mir denken, daß ich meinen Einzug bei ihnen in einer alten Sänfte halte! Sie werden mich nicht für Hadschi Halef, den Scheik der Haddedihn, sondern für die Erzgroßtante aller Urgroßmütter halten. Ich bin wirklich zu schwach, aus diesem Kasten zu steigen. Aber später werde ich ihnen zeigen, daß dies nur ein vorübergehender und von mir unverschuldeter Zustand meiner einzelnen Bestandteile ist, die ich schon wieder zum Gehorsam bringen werde!«

Er wußte ebenso wie ich, daß die Dinarun aus mehreren Familien bestanden, jede wenigstens fünf Personen zählend, und im Besitze ganz bedeutender Herden waren. Darum hatte er sich das Lager derselben ganz anders vorgestellt, als wir es jetzt sahen, und sich unseren Empfang auch ebenso ganz anders gedacht. Diese Enttäuschung schien aber keineswegs deprimierend, sondern ganz im Gegenteile sogar kräftigend auf ihn zu wirken, denn als er einen Blick über die ganze rund umher bemerkbare Aermlichkeit geworfen hatte, begann er mit dem ganzen, lieben Gesichte zu lächeln und sagte:

»Wie schön, wie wirklich schön ich es hier finde! Gefällt es dir nicht auch, Sihdi?«

»Nein!« antwortete ich.

Ich konnte das sagen, weil wir in diesem Augenblicke unbeobachtet waren.

»Nicht? Was bist du doch für ein sonderbarer Mensch! Mir gefällt es außerordentlich. Weißt du, warum?«

»Nun?«

»Weil ich sehe, daß diese Leute arm sind, so arm, daß es mich erbarmt! Wir werden gebraucht, Sihdi; wir werden gebraucht! Das macht mich froh! Du weißt, daß ich tausendmal lieber gebe, als daß ich nehme. Nehmen kann auch der Faule und der Kranke! Aber wer geben und dem andern nützlich sein will, der muß thätig sein und sich zusammenraffen. Als ich die Dinarun vorhin für reich hielt, war ich schwach. Jetzt sehe ich, daß wir ihnen helfen müssen; nun schau, was ich thue!«

Er wollte aus der Sänfte heraus, ohne sich unterstützen zu lassen. Ich war noch nicht abgestiegen, drängte mein Pferd zu ihm hin und warnte:

»Nicht unvorsichtig, Halef! Du bist –«

»Was bin ich?« fiel er mir in die Rede. »Nicht mehr schwach, sondern stark bin ich. Da, paß auf! Willst du es etwa hindern?«

Er wendete sich blitzschnell auf die andere Seite hinüber, stieg über den Rand der Sänfte, hielt sich am Sattelhorne fest, glitt von dem Kamele herab und kam zu mir herüber.

»Nun? Was sagst du jetzt?« fragte er.

»Bin ich noch immer krank?«

»Sogar sehr!« antwortete ich, indem ich mich vom Pferde schwang. »Das, was du thust, kann man nur im Fieber thun!«

»Fieber? Fällt mir gar nicht ein! Hier hast du meine Adern. Greif hin, soviel du willst!«

Ich that, was er wollte. Sein Puls schlug matt, aber regelmäßig – ein wahres Wunder! Seine Augen glänzten und sein Gesicht strahlte, aber nicht in Fieberhitze, sondern vor Freude.

»Nun?« fragte er.

»Halef, sei vorsichtig!« warnte ich. »Du bist jetzt einen Augenblick frei, aber es wird –«

»Was wird?« unterbrach er mich. »Du meinst, jenes alte, zahnlose Weib werde wiederkommen? Mag sie! Sie wird auch wieder gehen müssen! Jetzt aber laß uns essen und mit dem Scheik der Dinarun verhandeln. Du siehst, daß er sich darauf vorbereitet hat.«

Ja, man hatte sich auf unser Kommen eingerichtet. Die Luft trug den Duft bratenden Hammelfleisches von den Feuern zu uns herüber. Einige Frauen breiteten Decken aus, auf denen die Speisenden sitzen sollten, und stellten daneben Gefäße mit Wasser, welches aus einer bergseits hervorfließenden Quelle geschöpft worden war. Nafar Ben Schuri kam, um uns zum Essen einzuladen. Halef erklärte sich sofort bereit und folgte ihm. Mir wurde himmelangst um den kleinen Freund. Typhus – und gebratener Hammel, vielleicht sogar der fürchterlich fette Schwanz desselben, welcher den Gästen stets geboten wird, weil er als das beste Stück des Bratens gilt! Das konnte sein Tod sein! Ich nahm mir gar nicht Zeit, erst unsere Pferde abzusatteln, sondern führte sie hin zur Stelle, wo gegessen werden sollte, pflockte sie dort an und setzte mich zu dem Scheik und Halef nieder, welcher gar nicht säumte, die Hände zu falten und mit einem lauten »Be ism lillahi!« das Essen einzuleiten.

Der Scheik legte ihm wirklich das dickste, vom Fette triefende Schwanzstück vor, und Halef nahm es an. Ich wollte ihn daran hindern; da aber sah er mir einige Sekunden lang still in das Gesicht. Er sagte kein Wort dazu; aber dieser Blick bedeutete mehr als alle Worte: Er verbat es sich, als kranker, unselbständiger Mann behandelt und – blamiert zu werden. Wie ich ihn kannte, mußte ich nun still sein. Er war jetzt Scheik der Haddedihn und Gast der Dinarun. Das wollte er sein, und ich hatte mich zu fügen!

Ich that dies nur mit Anwendung aller meiner Selbstbeherrschung. Dies macht mich zum Reden ungeschickt, während Halef sich um so gesprächiger zeigte. Seit er gesehen hatte, wie arm diese Leute waren, stand sein Entschluß, ihnen zu helfen, fester als vorher. Das ganze, jetzt von ihm geleitete Gespräch hatte den Zweck, sich zu informieren. Er warf eine Menge Fragen auf, von denen keine einzige überflüssig war, und zeigte sich dabei so überlegsam und bedacht, wie ich ihn nur ganz selten gesehen hatte. Ich wußte nicht, was ich denken sollte, und wurde fast irr an mir selbst. Er aß mit dem größten Appetit, doppelt so viel wie ich, und trank keinen Schluck Wasser dazu. War das Fieber? Die von ihm gestellten Fragen verrieten zwar eine fast zudringliche Wißbegierde; aber Nafar Ben Schuri schien sie für ganz selbstverständlich zu halten, nahm sie ihm nicht im geringsten übel und beantwortete sie mit solcher Bereitwilligkeit, als ob er nur darauf gewartet habe, daß sie ausgesprochen würden.

Inzwischen hatten sich die sämtlichen anwesenden Dinarun auch zum Essen gelagert. Es ging bei den verschiedenen Gruppen, welche sich bildeten, sehr lebhaft zu, und allerlei zu uns herüberklingende laute Bemerkungen verrieten mir die allgemeine Ueberzeugung, daß noch heut zum Zuge gegen die Dschamikun aufgebrochen werden sollte. Als auch Halef eine dieser Interjektionen hörte, stieß er ein vergnügtes Lachen aus und sagte zu Nafar Ben Schuri:

»Deine Krieger scheinen sich auf dieses Unternehmen zu freuen, o Scheik der Dinarun, und das ist ein gutes Zeichen. Denn nur das, was das Herz erfreut, wird mit dem Arm und mit dem Verstand vortrefflich ausgeführt. Wir sind bereit, dir beizustehen. Nur darum habe ich dir so viele Fragen vorgelegt. Wir wollen das, was du mir antwortetest, noch einmal kurz zusammenfassen, damit nicht nur ich, sondern auch mein Sihdi weiß, was er zu denken hat.«

Das war wieder einmal einer seiner kleinen diplomatischen Kniffe. Er pflegte gern den eigenen Wunsch mit fremden Wünschen zu maskieren. Nun fuhr er fort:

»Also ihr seid nicht etwa der ganze Stamm, sondern nur ein kleiner Abzweig der Dinarun?«

»So habe ich gesagt, und so ist es wirklich,« antwortete Nafar.

»Ihr weidetet hier in der Nähe und wurdet von den Dschamikun überfallen und derart ausgeraubt, daß von euren Herden und Zelten fast gar nichts übrig geblieben ist?«

»Ja.«

»Ihr wollt sie verfolgen und ihnen das Geraubte wieder abnehmen. Das muß schnell geschehen, und darum könnt ihr nicht auf die Hilfe eures Stammes rechnen, weil eure Genossen sich so weit von hier befinden, daß eine lange Zeit vergehen würde, ehe es ihnen möglich wäre, sich hier zusammenzufinden?«

»Das ist es, was ich dir sagte. Die Dschamikun zählten vielleicht zweihundert Mann, als sie unser Lager überfielen. Ich habe euch schon erzählt, daß wir nicht daheim, sondern auf einem Feste abwesend waren, sonst wäre ihnen der Raub gewißlich nicht gelungen. Wir können ihnen das uns Gestohlene nur dann wieder abnehmen, wenn wir ihnen sofort nachjagen, um sie einzuholen, bevor es ihnen gelungen ist, ihren eigenen, großen Stamm zu erreichen. Kommen wir zu spät, so ist alles für uns verloren. Darum wollten wir schon heut früh aufbrechen. Dies wäre ganz gewiß geschehen, wenn wir nicht gestern euch getroffen hätten. Dadurch haben wir einen halben Tag verloren. Jetzt aber essen wir, und dann werden wir aufbrechen. Ich hoffe, ihr seht ein, daß wir nicht länger warten können.«

»Natürlich sehen wir das ein, aber ehe ihr diesen Ort verlaßt, giebt es noch mehr zu thun, als bloß zu essen.«

»Was?«

»Willst du denn nicht an unsere Gefangenen denken?«

»Maschallah! Das ist richtig. Die können wir doch unmöglich mit uns schleppen!«

»Nein. Sie würden nur hinderlich sein und uns wohl gar entschlüpfen und zu Verrätern werden. Also essen wir vorerst; dann halten wir Gericht über sie, und dann wird sofort von hier aufgebrochen!«

Das klang alles so glatt und selbstverständlich, daß ich es für an der Zeit hielt, nun endlich auch einmal das Wort zu ergreifen.

»Lieber Halef, erlaubst du, daß auch ich mitsprechen darf?« fragte ich.

»Was fällt dir ein, Sihdi!« rief er aus. »Seit wann hast du erst um Erlaubnis zu bitten, bevor du reden darfst?«

»Seit ich höre, daß du der Pascha dieser ganzen Gegend und aller derer bist, die sich in ihr befinden!«

»Ich? Pascha? Fällt mir gar nicht ein! Ich habe nur deshalb so drauflos bestimmt, weil du deinen Mund nur für den Hammelschwanz, nicht aber für den Ausdruck deines Verstandes zu haben scheinst. Wer reden will, der muß das Kauen lassen. Mir ist es überhaupt stets lieber, wenn du sprichst, denn wenn du schweigst, so steckt etwas dahinter! Du siehst doch gewiß ein, daß wir uns entschließen müssen, daß keinen Augenblick gezögert werden darf?«

»Ich sehe zunächst ein, daß wir uns gar nicht so zu übereilen brauchen, denn die Worte Nafar Ben Schuris haben gelautet: ›In diesem Falle können wir schon morgen oder doch übermorgen aufbrechen.‹ Hat sich vielleicht etwas zugetragen, wodurch dieses ›Uebermorgen‹ so vollständig ausgeschlossen ist, daß wir uns jetzt nicht einmal von dem heutigen Ritte ausruhen dürfen?«

»Nein. Es ist nichts geschehen. Aber bist du denn so ermüdet? Ich bin es keineswegs, und von dir ist man solche Schwächen ja auch nicht gewöhnt.«

»Vorsichtig und bedacht zu sein, ist niemals eine Schwäche, lieber Halef. Wir wissen über die Dschamikun ja nicht mehr, als wir von ihnen wußten, ehe wir hier diese unsere Freunde trafen. Oder genügt es dir vielleicht, von ihnen nur zu wissen, daß wir jetzt ihre Feinde sind und mit gegen sie ziehen wollen?«

Er sah mich an, nickte dann verständnisvoll vor sich hin und sagte hierauf:

»Ja, daran habe ich freilich nicht gedacht! Und doch haben wir dieser deiner Gepflogenheit alles zu verdanken, was wir jemals erreicht haben. Du pflegst alles auf das reiflichste zu bedenken und mit dem Geiste anzuschauen, ehe du handelst. Du greifst niemals einen Gegner an, ohne genau zu wissen, wer er ist, wo er ist und wie stark er ist.«

»Nun, wissen wir das von den Dschamikun?«

»Nein.«

»Und doch bist du bereit, sofort mit aufzubrechen! Dürfen wir es wie kleine Knaben machen, die aufeinander losschlagen, ohne zu wissen, was es für einen Ausgang nehmen kann?«

Er wollte antworten, wurde aber durch das Erscheinen eines Mannes daran verhindert, welcher langsam den Berg heraufgekommen war und, als er uns sah, seine Schritte zu uns lenkte und sich ohne Wort und Gruß zu uns setzte. Seinem Aeußern nach war er keineswegs eine Person, von der man hätte sagen mögen, daß sie zu dem Scheik und zu uns gehöre. Sein Körper war von um ihn herumhängenden Fetzen nur halb bedeckt. Die hindurchblickenden nackten Stellen hatten ebenso wie das Gesicht, die Hände und die unbekleideten Füße einen dicken Schmutzüberzug. Ein Zeugstück, welches man in Deutschland einen verbrauchten Hader nennen würde, war um seinen Kopf gewunden. Darunter hingen lange Haare heraus, welche wahrscheinlich altersgrau waren, aber derart von fettiger Unreinlichkeit starrten, daß man ihre Farbe unmöglich bestimmen konnte. Trotzdem waren sein Gang und seine Haltung so würdevoll und selbstbewußt, als ob er über uns allen hoch erhaben sei. Seine Gesichtszüge waren außerordentlich regelmäßig, Stirne und Wangen trotz des Alters beinahe ohne Falten. Ich sagte mir, daß er ein schöner Greis sein werde, sobald er sich gereinigt und anders gekleidet habe. Geradezu selten schön waren seine großen sonderbaren Augen. Es schien, als ob eine bisher unberührte Gazellenunschuld in ihren dunklen Tiefen wohne.

Und doch konnten aus diesen Tiefen Blitze aufsteigen, als ob sich da unten plötzlich ein verborgener Krater geöffnet habe. Dann bekam die schwarze Pupille einen hellen, fast möchte ich sagen, gelben Ueberschein, und die Lider öffneten sich hoch und weit, als ob alle Ströme und Fluten einer unbekannten seelischen Welt hervorbrechen wollten. Das sah ich natürlich nicht sofort, im ersten Augenblicke, sondern ich beobachtete es nur nach und nach, denn dieser Mann flößte mir ein so ungewöhnliches Interesse ein, daß ich ihn beobachtete, ohne es mir eigentlich bestimmt vorgenommen zu haben. Es giebt Menschen, zu denen man innerlich hingezogen wird, obgleich die äußeren Verhältnisse dies gar nicht zu gestatten scheinen. Ich will aufrichtig gestehen: der Schmutz dieses Fremdlings wirkte abstoßend, und doch war er unter allen Anwesenden der einzige, dem ich ohne allen Vorbehalt meine Hand hätte geben können. Warum, das wußte ich nicht, aber ich fühlte so.

Der Scheik schien es für ganz selbstverständlich zu halten, daß dieser Mann sich zu uns setzte. Er nickte ihm nicht nur freundlich, sondern mit dem Ausdrucke der Ehrfurcht zu und sagte dann zu uns:

»Das ist Sallab, der Fakir. Wohin er kommt, bringt er den Segen Allahs mit.«

Hierauf kreuzte Sallab die Hände auf der Brust und sprach, nicht etwa mit der gewöhnlichen, widerlichen Salbung dieser stets für fromm und oft sogar für heilig gehaltenen Leute, sondern im Tone ruhiger Selbstverständlichkeit.

»Allah ist ja nur Segen, bloß Segen; er kann gar nichts anderes sein!«

Hierauf nannte der Scheik ihm unsere beiden Namen. Als dies geschah, bemerkte ich zum erstenmal den erwähnten Aufschlag und das ebenso schnelle Niedersinken seiner Augenlieder. Es war nur ein Moment, aber in diesem raschen Blicke lag eine Bedeutung, welche mir erst später klar wurde. Hierauf verhielt er sich genau so, als ob er diese Namen jetzt zum erstenmal gehört habe.

Das Wort Fakir erklärte es zur Genüge, daß er sich hatte zu uns setzen dürfen. Selbst der vornehmste Mann wird es wenigstens öffentlich vermeiden, zu zeigen, daß er sich für etwas Besseres halte, als so ein »Glaubensheld« für den Durchschnittsmuhammedaner ist. Damit wir auch in Beziehung auf unsern Gesprächsgegenstand wüßten, woran wir mit ihm seien, machte der Scheik gegen uns die Bemerkung:

»Wir können weitersprechen. Sallab bekümmert sich nicht um die Angelegenheiten dieser Erde. Er lebt bereits das Leben, welches für andere Leute erst nach ihrem Tode beginnt.«

»So erlaube, daß wir uns nach den Dschamikun erkundigen!« sagte Halef. »Weißt du, wie viel Krieger sie haben?«

»Ungefähr zweihundert, wie ich ja bereits erwähnt habe,« antwortete Nafar Ben Schuri.

»Weißt du auch, wo sie sind?«

»Ich habe ihnen Kundschafter nachgeschickt. Ihr hört also, daß auch ich vorsichtig zu sein verstehe. Sie haben die uns geraubten Herden zu treiben und kommen also nur langsam vorwärts. Aber wenn wir ihnen zuviel Zeit lassen, werden sie einen solchen Vorsprung gewinnen, daß sie ihren Stamm erreichen, ehe wir sie einholen, und dann bleibt uns nichts übrig, als unverrichteter Sache umzukehren. Darum hielt ich es für besser, den Ritt schon heut zu beginnen.«

»Kennst du die Gegend, durch welche wir ihnen zu folgen haben?«

»Sehr genau. Ich hatte die Absicht, sie im Daraeh-y-Dschib einzuholen. Das ist ein langes, enges Thal mit hohen, steilen Felswänden, welches kurz vor seinem Ende von einem sehr schmalen, aber auch sehr tiefen Flußbette quer durchschnitten wird. Es führt eine uralte, jetzt halb eingefallene Brücke darüber. Dieses Thal würde eine Falle sein, in welcher wir die Dschamikun fangen und zur Herausgabe ihres Raubes zwingen könnten, ohne daß ein Kampf stattzufinden brauchte.«

»Sie werden sich hüten, in diese Falle zu gehen!«

»Ich bin überzeugt, daß sie dieses Thal passieren werden, weil sie sonst einen Umweg machen müßten, welcher für sie fast zwei Tage in Anspruch nehmen würde. Kämen wir eher hin als sie, so könnten wir die Brücke besetzen. Dann ließen wir sie hinein, besetzten hinter ihnen auch das andere Ende des Daraeh-y-Dschib und hätten sie dann so fest im Sacke, daß es ihnen ganz unmöglich wäre, sich zu bewegen oder gar sich zu verteidigen.«

Da schaute Halef mich, im ganzen Gesicht lachend, an und fragte:

»Was sagst du dazu, Sihdi? Das ist ja ganz derselbe Streich, den wir schon wiederholt den Feinden unserer Freunde gespielt haben! Und zugleich wird dadurch das vermieden, was man nicht ohne Not thun soll, nämlich das Blut von anderen Menschen zu vergießen. Ist dieser Plan des Scheikes der Dinarun nicht lobenswert?«

»Er scheint gut zu sein,« antwortete ich. »Wie aber nun, wenn die Dschamikun ebenso klug sind wie wir und uns fangen, anstatt wir sie?«

Da lachte Nafar Ben Schuri laut auf und entgegnete:

»Die uns? Auf einen solchen Gedanken kommen diese Dummköpfe nicht! Und wenn sie ihn hätten, so könnten sie ihn doch nicht ausführen, weil die Herden ihnen im Wege wären.«

»So denke dir die Lage, wie sie sein würde, wenn sie wirklich in die Falle gingen! Sie würden allerdings in dem engen Thale stecken, und wir befänden uns am Eingange und am Ausgange desselben. Wir wären also geteilt. Wäre das vorteilhaft für uns?«

»Ja, denn wir hätten sie zwischen uns und könnten sie mit unsern Kugeln zwingen, sich zu ergeben.«

»Das bezweifle ich. Wir hätten außerhalb des Thales keine Deckung, und folglich würden ihre Gewehre uns gefährlicher werden als die unserigen ihnen.«

»Aber das Thal ist so schmal, daß nur sehr wenige auf uns schießen könnten!«

»Wir aber auch auf nur wenige von ihnen!« entgegnete ich.

»Sie sind aber eingeschlossen und können nicht heraus! Wir haben gar nichts zu thun, als zu warten, bis sie um Gnade bitten!«

»Sie können es länger aushalten als wir, denn die euch geraubten Tiere geben ihnen für längere Zeit Fleisch, als wir haben.«

»Aber das Wasser fehlt ihnen! Das Flußbett ist vollständig trocken.«

»So müssen ja auch wir dürsten!«

Da rief er ungeduldig aus:

»Sihdi, ich habe geglaubt, du seiest ein tapferer Mann, und nun machst du solche Einwände! Denkst du denn gar nicht auch an eure Gewehre?«

»Ah –! Unsere Gewehre – Du rechnest auf sie?«

»Natürlich! Ich weiß, daß ihr sehr viele Male schießen könnt, ohne laden zu müssen, und daß eure Kugeln wenigstens fünfmal weiter gehen als die unserigen. Wir können den Dschamikun also so fern bleiben, daß ihr Blei uns gar nicht erreicht, während sie aber von euch alle nach und nach erschossen werden.«

Sein Gesicht hatte während dieser Worte den Ausdruck einer Pfiffigkeit angenommen, welcher mir nicht gefiel. Ich hatte schon das Wort auf den Lippen, ihm dies verstehen zu geben, aber da kam Halef mir zuvor:

»Sihdi, erlaube, daß ich dich nicht begreife! Bist du plötzlich undankbar geworden? Dieser unser Freund Nafar Ben Schuri hat uns einen großen Dienst geleistet. Wir sind seine Gäste, seine Brüder. Er rechnet auf die Ueberlegenheit unserer Gewehre. Weißt du, was uns die Pflicht des Dankes und der Gastfreundschaft gebietet?«

»Halef!« warnte ich ihn. »Willst du mich beleidigen?«

»Nein! Aber du beleidigst mich! Du bist der beste und der tapferste Mann der ganzen Welt; aber dein Geburtsland ist Dschermanistan und wird es immer bleiben. Ich aber wurde in der Wüste geboren; ich bin ein echter Ibn el Arab und kann es nicht anhören, daß du plötzlich solche Bedenken trägst, die Gesetze der Wüste zu befolgen!«

»Hamdulillah – Hamdulillah!« rief da der Scheik, indem er aufsprang und die Hände zustimmend zusammenschlug. »Das ist ein Wort, wie ich es von einem Manne erwartet habe! Ich höre, daß du Hadschi Halef Omar bist, der berühmte, unüberwindliche Scheik der Haddedihn vom tapferen Stamme der Schammar!«

Das wirkte geradezu elektrisierend auf meinen kleinen, ehrgeizigen Hadschi. Er sprang auch auf und erklärte in seinem bestimmtesten Tone:

»Ja, der bin ich allerdings, und du wirst sogleich hören, was ich beschlossen habe: Wir reiten fort, jetzt, gleich! Wir folgen den Dschamikun bis in das ›Thal des Sackes‹ und zwingen sie dort, sich uns zu ergeben. Das sage ich, und mein Sihdi sagt es auch. Darauf gebe ich dir mein Wort, mein Ehrenwort!«

»Halef!« rief ich ihm zu, indem ich nun auch aufsprang. »Was fällt dir ein! Gieb deinen Puls! Das Fieber spricht aus dir!«

Er trat einen Schritt zurück und antwortete:

»Ob Fieber oder nicht, ich hab’s gesagt und werde es auch halten. Mein Puls ging ruhig, wie er immer geht; aber wenn du zauderst, zu thun, was uns die Pflicht und die Ehre gebietet, so muß er freilich schneller gehen! Ich bin mit dir gereist, so weit, so weit! Und ich bin auch bereit, mit dir zu gehen bis an das Ende der Erde. Du aber willst mir nicht einmal den Gefallen thun, den ich unsern Freunden, den Dinarun, zu erweisen habe! Darum gab ich so schnell mein Ehrenwort, um dich zu zwingen. Jetzt thue, was dir beliebt! Ich reite mit, sogleich! Wirst du mich, deinen Halef, verlassen können?«

Der Fakir war von uns der einzige, der noch saß. Jetzt stand er auf, ergriff Halefs Hand und dann die meine, legte beide ineinander und sagte, sich an mich wendend:

»Halte deinen Freund und Bruder nicht zurück! Der Tod steht an seiner Seite und streckt die Hand nach ihm aus; du aber siehst es nicht. Reite gern und schnell mit ihm nach dem Daraeh-y-Dschieb! Dort wird er Rettung finden; hier aber müßte er sterben. Glaub es mir! Es ist so gut, als hätte Allah selbst es dir gesagt!«

Nach diesen Worten wandte er sich ab und ging von uns weg.

»Das ist die Wahrheit,« erklärte der Scheik. »Er sieht Dinge, die kein anderer sehen kann, auch den Tod!«

»Kennst du diesen Fakir so genau?« fragte ich.

»Ja.«

»Seit wann?«

»Gehört habe ich seit langer Zeit von ihm. Gesehen habe ich ihn erst gestern früh, als er in unser Lager kam. Er ist bald hier, bald dort.«

»Wie lange bleibt er bei euch?«

Der Fakir hatte sich schon so weit von uns entfernt, daß er diese meine Frage unmöglich gehört haben konnte. Und dennoch blieb er grad in diesem Augenblicke stehen, drehte sich um und rief uns zu:

»Sallab kam, und Sallab geht. Er hat weder Brot, noch Fleisch, noch Salz, noch Wasser hier genossen; er ist keines anderen als nur Allahs Gast. Doch was er sprach, das war zu eurem Heile!«

Hierauf ging er weiter, bis er in einer Terrainfalte verschwand.

Halef hielt meine Hand noch fest. Jetzt zog er sie noch näher an sich und fragte:

»Nicht wahr, du reitest mit, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich.

»Sogleich?«

»Ja.«

Was wollte oder konnte ich anderes sagen, da der Scheik bei uns stand, in dessen Gegenwart ich doch nicht sprechen konnte, wie ich wollte.

»Ich danke dir, Sihdi!«

Bei diesen Worten gab der Hadschi meine Hand wieder frei.

»Nein, danke nicht mir, sondern dir selbst! Denn du bist die Quelle dieses meines Entschlusses. Ich wollte erst morgen entscheiden. Du hast es schon jetzt gethan, und so wollen wir wünschen, daß wir es nicht zu bereuen brauchen!«

»Es ist zu unserm Heile. Der Fakir hat es gesagt, Sihdi! Und da es denn beschlossen ist, so wollen wir auch nicht lange zögern. Um mich brauchst du keine Sorge zu haben. Das zahnlose Weib ist für immer fort. Ich bin so gesund und stark, daß ich mich schäme, in der Sänfte gesessen zu haben wie eine kraftlose Urahne sämtlicher Großmütter aller kranken Schwiegereltern. Du hast dich um nichts zu bekümmern. Ich werde für alles sorgen, auch für Futter für die Pferde.«

Als er das sagte, sah er so frisch und munter aus, als ob die Sänfte vollständig überflüssig gewesen sei. Der Scheik forderte ihn auf, mit ihm in das Zelt zu gehen; er wolle ihm den Vorrat von Bla ed Dud zeigen. Er folgte ihm, und da ich nun allein war, so schlenderte ich langsam durch das Lager und dann über dasselbe hinaus, um vollends bis auf die Kuppe des Berges zu steigen. Als ich da oben angekommen war, sah ich den Fakir über den jenseitigen Abhang schreiten. Indem ich ihn mit den Augen verfolgte, blieb er stehen, hob den rechten Arm empor, bewegte ihn, als ob er jemand warnen wolle, und ging dann weiter. Wem hatte das gegolten? Mir? Geheimnisvoller Mann! Warum hatte er bei den Dinarun weder gegessen noch getrunken? Und warum hatte er uns noch besonders hierauf aufmerksam gemacht? Gab es für ihn einen Grund, so vollständig auf die Gastlichkeit dieser Leute zu verzichten? Fakire sind ja immer sonderbare Leute; warum sollte grad dieser weniger seltsam gehandelt haben?

Als ich in das Lager zurückkam, waren die Zurüstungen zum Aufbruche flott im Gange. Halef hatte die Pferde getränkt und die Futtersäcke mit Bla ed Dud gefüllt. Er teilte mir mit, daß man in zwei Abteilungen reiten werde. Die Mehrzahl sollte sich beeilen, die Kundschafter, welche den Dschamikun heimlich folgten, so bald wie möglich einzuholen. Die übrigen waren dazu bestimmt, mit den Frauen und Kindern und der Bagage langsamer nachzukommen.

Der gute Hadschi war ganz Feuer und Flamme, und ich hütete mich wohl, seine Begeisterung herabzustimmen. Es mußte vielmehr nun meine Sorge sein, ihm diesen seinen Enthusiasmus möglichst zu erhalten. »Der Tod steht an seiner Seite und streckt die Hand nach ihm aus; du aber siehst es nicht!« Diese Worte des Fakirs wollten mir nicht aus den Ohren. Ich mußte mir ja sagen, daß die jetzige Munterkeit Halefs nicht von langer Dauer sein werde. Der Geist konnte nur solange Herr des erkrankten Leibes sein, als er anregende Sorge und Beschäftigung hatte; dann war der Rückschlag sicher zu erwarten. Ich hatte wohl kaum jemals mich so schweren Herzens in den Sattel gesetzt, wie heute; er aber ritt heiter und unbefangen neben mir her und brachte es sogar fertig, über meine Bedachtsamkeit zu scherzen, die ihn zu dem schnellen Entschlusse gebracht hatte, durch sein Ehrenwort alle meine Weiterungen abzuschneiden.

Wenn ich mich nicht geirrt hatte, sondern die Krankheit, welche ich vermutete, wirklich im Anzuge war, so mußte ich nun die psychische Kraft bewundern, welche jetzt so nachdrücklich und so lange die Herrschaft über die Symptome dieser Krankheit behauptete. Es verging der ganze Nachmittag, ohne daß sich eine Ermüdung bei ihm zeigte. Wir ritten sogar noch einen Teil des Abends weiter, um für heut eine möglichst große Strecke zurückzulegen, und als wir dann zur Nachtruhe anhielten, sprang er so munter vom Pferde, als ob er erst vor kurzem aufgestiegen sei. Ich schrieb diese außerordentliche Widerstandsfähigkeit außer seinem Willen und seinem Enthusiasmus auch seinem südlichen Temperamente zu. Es war Feuer in ihm. Aber wenn es auch wirkte, so lange es möglich war, wenn es verlöschte, hatte ich meines Erachtens mit einem um so schwereren Rückfall zu rechnen. Darum legte ich mich, als wir gegessen hatten, nicht ohne Sorgen an seine Seite nieder. Glücklicherweise bewahrheiteten sich diese meine Befürchtungen nicht, wenigstens nicht in dem Maße, wie ich es erwartet hatte. –

Drittes Kapitel.

Drittes Kapitel.

»Verzeih, Sihdi, daß ich dich wecke!« sagte er. »Ich glaube, das alte Weib will wieder kommen.«

»Spürst du ihr Nahen?« fragte ich.

»Nicht nur ihr Nahen. Sondern ich bemerke, daß sie schon ganz vor mir steht.«

»Halef, du sprichst mit Mühe! Deine Zähne klappern!«

»Nein; aber es hält mir den Mund halb offen, ganz so, wie einem Menschen, der sehr friert. Gieb mir von deiner Arznei!«

Ich folgte dieser Aufforderung. Als er die absichtlich vergrößerte Gabe genommen hatte, erkundigte er sich:

»Weißt du, was Zittern ist, Sihdi?«

»Ja, jedermann weiß das wohl.«

»Aber hast du selbst schon einmal gezittert?«

»Ich glaube, nein.«

»Ich auch nicht, weder aus Angst noch aus irgend einem anderen Grunde. Aber, denke dir, jetzt zittre ich! Oder vielmehr, nicht ich thue es, sondern das alte, zahnlose Fieberweib, welches nun doch in mich hineingekrochen ist, zittert in mir. Ich glaube, aus Furcht, schnell wieder heraus zu müssen. Und sodann ist es mir, als ob mir ein Gürtel um den Kopf gelegt und übermäßig fest zugeschnallt worden sei. Meine Beine sind mir abhanden gekommen. Ich weiß zwar ganz genau, daß ich sie noch habe, aber ihr Selbstbewußtsein ist ihnen verloren gegangen. Sie können sich nicht mehr auf sich selbst besinnen, und darum ist es gar nicht zu verwundern, daß sie auch mich ganz und gar vergessen haben, obgleich ihnen das verboten ist. Ich werde einmal versuchen, sie von ihrer Pflichtvergessenheit zurückzubringen.«

Er erhob sich langsam und unsicher, blieb aber nur kurze Zeit stehen, ließ sich dann wieder nieder und sagte:

»Das ist eine ganz eigentümliche Empfindung, die ich dir wohl nicht deutlich genug machen kann. Es scheint mir, als ob ich da unten keine Knochen, keine Sehnen und kein Fleisch mehr habe, sondern bloß noch die Haut, und diese ist so außerordentlich dünn, daß ich von innen heraus den Stoff der Hose sehen kann.«

Welch naive und doch bewundernswerte Deutlichkeit, mit welcher er diesen Schwächezustand seiner Glieder beschrieb! Er war in dieser Beziehung ja schon überhaupt unübertroffen! Er verstand es, selbst für das unerklärbar Scheinende Worte zu finden, welche trotz ihrer Sonderbarkeit fast stets das Richtige trafen.

Nun war ich fest überzeugt, daß er keinen Augenblick mehr werde schlafen können. Jeder Arzt hätte das mit der größten Bestimmtheit behauptet. Aber ich sollte sogleich vom Gegenteile überzeugt werden, denn er wickelte sich in seine Decke ein und sagte:

»Der Frost ist weg, ganz plötzlich weg, wohl weil ich aufgestanden bin. Ich werde wieder warm. Nun bin ich müd, so sehr müd. Ich werde wieder schlafen. Gute Nacht, mein Sihdi!«

»Gute Nacht, mein lieber Halef!«

»Lieber Halef? So sagst du zu mir? Hast du mir verziehen?«

»Von ganzem Herzen!«

»Ich danke dir! Wollen ja nicht vergessen, einander ohne alle Unterbrechung und ohne alles Aufhören recht, recht lieb zu haben! Du hast mir vergeben, aber ich selbst mir nicht. Ehe ich dich weckte, habe ich über heut nachgedacht. Ich war nicht gut zu dir, nicht höflich und bescheiden. Das ist zwar nicht dein guter Halef, sondern jener böse Hadschi gewesen, der immer, immer Fehler macht, aber da ich diese seine immerwährenden Dummheiten nicht zu dulden habe, muß ich mich ganz ebenso wie ihn selbst anklagen. Er hat dich beleidigt und gekränkt. Das war schlecht, nicht bloß von ihm, sondern auch von mir!«

Nun war er still, der liebe prächtige Kleine. Ich lauschte. Er bewegte sich nicht mehr, und als ich mich nach einiger Zeit zu ihm hinüberbog, bemerkte ich, daß er eingeschlafen war. Er wachte zu meiner großen Freude auch nicht eher auf, als bis die Dunarun aufstanden und er durch den nun entstandenen Lärm aufgeweckt wurde. Da stand er auf, aß und trank, war munter wie ein vollständig gesunder Mann und sagte, als er sah, daß ich ihn beobachtete:

»Sie ist längst wieder fort, die mich heute nacht besuchte. So alte Klage- und Jammerweiber halten es bei einem rüstigen Menschen niemals lange aus. Soeben steigt der Scheik auf das Pferd. Komm, Sihdi, laß uns dasselbe thun!«

Er schwang sich leicht und frei in den Sattel, so wie ich gewohnt war, es von ihm zu sehen. Ich wurde vollständig irr an dem Krankheitsbilde, welches mir in Beziehung auf ihn bisher drohend vorgeschwebt hatte, und fragte mich, ob es sich vielleicht doch nur um eine morbillöse Infektion handle. Aber dann hätte unbedingt ein Katarrh der Luftwege und der Augenbindehaut, begleitet von einem reichlichen Thränengusse, vorhanden sein müssen, und das war keineswegs der Fall. Mochte nun aber vorliegen, was da wollte, ich mußte die Entwickelung ruhig abwarten. Halef kämpfte jedenfalls mit größerer Anstrengung, als er mir eingestehen wollte, gegen dieses Uebel, und ich nahm mir vor, ihm diesen Kampf nicht thörichterweise zu erschweren, daß ich ihn die Größe meiner Besorgnis sehen ließ.

Unser Nachtrab hatte uns gegen Mitternacht eingeholt. Er blieb noch hier, um auszuruhen und uns dann zu folgen. Wir aber ritten weiter.

Es ist nicht mein Zweck, die Gegenden, durch die wir kamen, zu beschreiben. Topographische Ausführlichkeiten pflegen wohl für den Fachmann interessant, für andere aber langweilig zu sein. Es genügt vollständig, nur das zu erwähnen, was mit dem Zwecke unseres Rittes in Zusammenhang stand.

Es war noch am Vormittage, als wir über eine Tiefung kamen, auf welche zwei breitere Thäler und mehrere schmale Schluchten mündeten. Es schien, als ob es hier einst einen tiefen See mit zahlreichen Wasserzuflüssen gegeben habe. Der Boden bestand aus einem feinen, hellen, fast mehligen Sande, in welchem jede vorhandene Spur mit ungemeiner Deutlichkeit zu sehen war. Man konnte sogar den Weg, den eine Maus oder ein kleiner, hüpfender Vogel genommen hatte, ganz genau erkennen.

Die Stelle war rundum von Höhen umgeben, welche die Winde abhielten; es gab also hier keine Luftbewegungen, durch welche die Spuren ausgewischt und verweht wurden.

Daher auch die große Deutlichkeit einer Fährte, welche aus einer rechts von uns liegenden Schlucht herauskam, um links in einer andern zu verschwinden. Sie führte also quer über unsern Weg. Nafar Ben Schuri, welcher, wie bisher stets, unserm Zuge voranritt, sah sie zuerst. Er hielt an, um sie zu betrachten. Seine Leute gruppierten sich sogleich in der Weise um ihn, daß die Fährte unter den Hufen ihrer Pferde verschwand. Als wir nun hinkamen, hörten wir die Worte des Scheikes:

»In dieser einsamen Gegend sollte man keine Spur vermuten. Ich weiß genau, daß es weder nach rechts noch nach links hin Menschen giebt. Wer mag das wohl gewesen sein, der hier vorüber gekommen ist?«

»Du fragst und scheinst es doch aber gar nicht wissen zu wollen,« antwortete Halef.

»Wieso?« fragte Nafar verwundert.

»Wenn ich dir einen Brief schreibe, den ich auf einen schwarzen Schiefer geschrieben habe, was thust du da?«

»Ich lese ihn.«

»Nein! Ich sehe ja, daß du das nicht thust! Du löschst ihn aus und fragst dich dann verwundert, was auf dem Schiefer wohl gestanden habe.«

»Traust du mir wirklich keine größere Klugheit zu?«

»Wie kannst du mir eine Frage vorlegen, durch deren Beantwortung ich dich beleidigen würde! Schau diesen Sand! Er ist die Schiefertafel. Der, welcher hier geritten ist, hat eine Schrift geschrieben, welche zu lesen ist, nämlich seine Spur. Anstatt sie aber zu lesen, laßt ihr eure Pferde so über die Fährte trampeln, daß sie nun fast nicht mehr zu sehen ist. Nun sei so gut und beantworte dir deine Frage selbst!«

Halef hatte vollständig recht. Wir beide ritten zur Seite, stiegen da, wo die Spur noch nicht ausgetreten war, von den Pferden und folgten ihr, um die Eindrücke zu betrachten, so weit, bis ich genug gesehen zu haben glaubte. Der Scheik war uns langsam gefolgt. Als ich mich jetzt wieder umwandte, fragte er:

»Nun, was habt ihr gesehen? Der Scheik der Haddedihn wird uns jetzt zeigen, wie gut er lesen kann!«

Das klang beinahe ironisch. Halef war sofort mit der richtigen Antwort da:

»Wir haben nichts, gar nichts gefunden, o Scheik der Dinarun. Darum bitten wir dich, dein Pferd zu verlassen, um zu versuchen, ob du diese Schriftzeile besser lesen kannst als wir!«

»Was liegt daran, zu wissen, wer hier war?« entgegnete Nafar ausweichend.

»Sehr viel liegt daran! Wir befinden uns auf einem Kriegszuge. Es darf uns nicht gleichgültig sein, wer in derselben Gegend mit uns ist. Es kann uns Verrat und Gefahr von jeder Seite drohen. Ich hoffe, daß dir dies nicht unbegreiflich ist!«

Er gab seiner Stimme einen strengen Klang. Da stieg der Dinari vom Pferde und betrachtete die Fährte. Hierauf schüttelte er den Kopf und sagte:

»Man sieht, daß zwei Reiter hier vorübergekommen sind, weiter nichts.«

»Wirklich weiter nichts?«

»Nein.«

Wahrscheinlich bemerkte Halef das Lächeln, welches ich um meine Lippen fühlte. Er hatte mehr gesehen als Nafar und nahm wohl an, daß die Schrift für mich trotzdem noch verständlicher gewesen sei, als für ihn selbst. Darum fuhr er fort:

»Du sprichst von zwei Reitern, von weiter nichts. Was ritten sie für Tiere?«

»Pferde natürlich!«

»Was für Pferde waren es?«

»Wer kann das wissen? Niemand!«

»So! Dieser ›Niemand‹ bin ich. Das eine Pferd war ein junger Hengst, das andere aber eine Stute, welche wenigstens schon fünf- oder sechsmal geboren hat.«

Da machte der Dinari die Augen weit auf und fragte:

»Woran siehst du das?«

»Das ist auch eines unserer Geheimnisse, welche nicht verraten werden. Es würde dir auch nichts nützen, wenn ich es dir sagte, denn es gehört viel Erfahrung und eine lange Uebung dazu, die Zahl der Geburten, also das ungefähre Alter einer Stute aus ihren Spuren zu erkennen. Wäre der Sand nicht so fein, so würde selbst ich vergeblich forschen. Glaubst du nun, daß der Scheik der Haddedihn eine Fährte lesen kann? Und da steht Kara Ben Nemsi, der mein Lehrer in dieser Kunst gewesen ist. Ich sehe es ihm an, daß diese Spur ihm noch mehr gesagt hat als mir. Sprich, Sihdi, was hast du gesehen?«

»Die Stute ist allerreinsten Blutes«, antwortete ich.

»Ja; das weiß ich auch.«

»Sie ist einmal infolge eines Fehltrittes lange Zeit fußkrank und unbrauchbar gewesen.«

»Maschallah!« rief da der Scheik der Dinarun. »Weißt du, an welchem Fuße?«

»Links vorn. Es war eine Flechsendehnung, welche nur langsam und durch die größte Ruhe zu heilen ist.«

»Bist du allwissend?«

»Nein. Ich habe meine Augen geübt. Das ist es, weiter nichts. Du scheinst verwundert zu sein. Kennst du ein solches Pferd?«

»Ja. Es ist eine braune Stute. Ihre Haut bekommt in der Sonne dunklen Kupferglanz; sie hat die drei berühmten Haarwirbel der Pferde des Propheten; sie trinkt das Wasser mit der Zunge, wie ein Hund; ihr Ohr ist schärfer als das Auge des Geiers, und wenn sie dich anschaut, glaubst du, dem sanften Blick einer Huri zu begegnen.«

Der Beduine wird stets poetisch, wenn er von einem edlen Pferde spricht. So auch hier.

»Wem gehört dieses Pferd?« erkundigte ich mich.

»Diese wunderbar schnelle Stute heißt Sahm und gehört – dem – Ustad

Er zögerte so eigentümlich, dieses letzte Wort auszusprechen. Das hatte jedenfalls einen besonderen Grund, der nicht allein in ihm vorhanden war, denn als er diesen Namen aussprach, drängten sich die bei uns haltenden Dinarun sofort noch näher zu uns heran.

»Wer ist das, der Ustad?« fragte ich.

»Ein Dschamiki,« antwortete er so kurz, daß ich annahm, er gebe nicht gerne Auskunft über diesen Mann.

»Vielleicht der Scheik einer Unterabteilung der Dschamikun?«

»Nein.«

»Also ein gewöhnlicher, wenn auch reicher Mann?«

»Auch nicht!«

»Weder Scheik noch einfacher Nomade? Was aber denn?«

»Warum willst du das so durchaus wissen?« sprach er ungeduldig. »Dieser Mann geht mich und auch dich nichts an!«

»Dich vielleicht nicht, aber mich! Ich habe keinen Grund, mich vor irgend einem Menschen oder gar nur vor dem Namen eines Menschen zu scheuen. Wir verfolgen die Dschamikun; zwei von ihnen sind hier an dieser Stelle gewesen. Das eine der Pferde ist die Stute des Ustad. Ich muß also unbedingt wissen, wer dieser Ustad ist und was es mit ihm für eine Bewandtnis hat.«

»Ich spreche nicht von ihm!« erklärte er in einem Tone, als sei dies nun sein letztes Wort. Es klang fast wie ein Befehl für mich, still zu sein. Da regte sich das Mißtrauen von neuem in mir. Sein Verhalten war für mich ein Rätsel, dessen Lösung ich mir unbedingt verschaffen mußte.

»Komm, Halef!«

Indem ich diese Aufforderung an meinen Hadschi richtete, wendete ich mich von Nafar Ben Schuri und stieg wieder in den Sattel. Halef that ebenso. Der Blick, den er mir zuwarf, sagte mir, daß er mich verstanden hatte und mir recht gab.

»Wohin?« fragte er.

»Dorthin!«

Ich zeigte nach der Schlucht links, nach welcher die Spur führte, und setzte mein Pferd anstatt in Schritt in schnellen Trab. Da rief der Scheik der Dinarun hinter uns her:

»Was fällt euch ein? Warum reitet ihr dorthin? Wollt ihr uns verlassen?«

Wir antworteten nicht, sahen uns auch nicht um und erreichten schnell die Schlucht, hinter deren Eingangsfelsen wir für die Dinarun verschwanden. Hier lag derselbe leichte Sand wie draußen. Die Fährte war ebenso deutlich wie dort. Halef hielt sich neben mir. Er konnte es nicht über das Herz bringen, zu schweigen!

»Sihdi, was hast du vor?« fragte er. »Willst du unsere Freunde verlassen?«

»Nein.«

»Aber warum entfernst du dich von ihnen?«

»Erstens um sie zu zwingen, mir Auskunft über diesen Ustad zu geben, und zweitens um sie darüber zu belehren, daß wir Männer sind, denen man Antwort zu geben hat, wenn sie fragen!«

»Das sind wir allerdings! Doch meine ich, daß wir unsere Freunde –«

»Freunde?« unterbrach ich ihn. »Sei vorsichtig mit diesem Worte! Es fällt mir schwer, das rechte Vertrauen zu dieser Freundschaft zu haben.«

»Ich aber traue ihnen, Sihdi!«

»Das weiß ich gar wohl; es wäre aber besser, wenn du zu mir mehr Vertrauen hättest, als zu ihnen. Es liegt irgend etwas zwischen ihnen und uns. Ich weiß es, kann es aber nicht finden. Wir werden es aber erfahren und ich hoffe, daß wir uns nicht zu der Sorte von Menschen zu zählen haben, welche nur durch Schaden klug werden können! – Schau! Was ist hier?«

»Da sind die Reiter abgestiegen, um auszuruhen,« antwortete er.

So war es allerdings. Sie hatten an der rechten Seite der Schlucht Halt gemacht und sich in den weichen Sand gesetzt. Daneben standen niedrige Akaziensträuche, deren Spitzen und Blätter von den Pferden abgefressen worden waren. Die Eindrücke in dem Sande waren da, wo sie gesessen hatten, so scharf, daß man sogar sah, welche Stellung dabei von ihren Extremitäten eingenommen worden waren. Kaum hatte ich einen Blick dorthin geworfen, so entriß mir die Ueberraschung den Ausruf:

»Welche Entdeckung! Oder täusche ich mich?«

»Was ist’s, Sihdi?« fragte Halef.

»Später! Die Dinarun kommen!«

Sie waren es nicht alle, sondern nur der Scheik mit einigen von ihnen. Ich war wieder abgestiegen, um die Eindrücke in dem Sande zu untersuchen. Er blieb, um die Spuren nicht wieder zu verwischen, in einiger Entfernung von uns halten und rief uns, halb ärgerlich, halb bittend zu:

»Ist denn plötzlich irgendein Scheitan in euch gefahren? Warum verlaßt ihr uns? Wollt ihr etwa hier weiterreiten?«

»Ja,« antwortete ich.

»Warum?«

»Wenn ich einen so gefährlichen Weg unternommen habe, wie der unsere ist, lasse ich nie eine unbeantwortete Frage auf ihm liegen. Ich muß unbedingt wissen, wen oder was ich vor mir habe.«

»Du meinst den Ustad?« Er wußte also wohl, warum wir uns entfernt hatten. »Ist dir dieser Mann denn so sehr wichtig?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil du ihn durch dein Schweigen für mich wichtig gemacht hast. Hättest du mir nicht die Auskunft verweigert, so wäre er für uns wohl weiter nichts als jeder andere Mensch.«

»Und was soll euch diese Fährte nützen?«

»Sie soll mich zu der Kenntnis führen, welche du uns nicht geben willst. Wir reiten als eure Freunde mit euch. Es handelt sich hierbei vielleicht um Blut und Leben. Darum ist die größte Vorsicht geboten. Ich sehe, daß sich noch andere Personen in unserer Nähe befunden haben, vielleicht noch befinden. Ich will wissen, wer sie sind. Ich entdecke, welches Pferd geritten wird. Ich will Auskunft über den Besitzer desselben. Du kannst sie geben, giebst sie aber nicht. Das ist gegen die Offenheit, welche ich von dir zu fordern habe! Du hast Geheimnisse vor uns, die wir mit dir in den Kampf gehen sollen. Das trennt uns von euch. Wir reiten dieser Fährte nach, bis ich weiß, wer die Männer sind, die unsere Wege kreuzen!«

»Du hast einen harten Kopf!« warf er ein.

»Nicht das, sondern nur einen festen Willen!«

»Weißt du, was kommen wird, wenn ihr euch von uns trennt?«

»Was?«

»Ihr werdet in unbekannter Gegend hilflos sein! Der Hunger wird an euch nagen, und der Durst wird euch verzehren!«

Kein Mensch hätte mir jetzt einen größeren Gefallen erweisen können, als dieser Mann es mit diesen Worten that. Halef traute den Dinarun, ich aber nicht. Das brachte mich in einen zunächst zwar nur innern Zwiespalt mit ihm, der uns aber äußerlich gefährlich werden konnte. Hatte doch Halef mir schon da oben im Lager Widerstand geleistet! Ich mußte wünschen, daß sein Vertrauen zu diesen Leuten ihn nicht wieder zu einem solchen Fehler verleite. Wirklich erschüttert aber mußte es nicht von mir, sondern von ihnen selbst werden. Da kam Nafar Ben Schuri mit seinem Worte »hilflos« mir zur rechten Zeit zur rechten »Hilfe«. Dieses Wort wirkte auf meinen kleinen Hadschi wie ein feindlicher Pistolenschuß. Er ritt zu dem Scheik hin, blieb hart vor ihm halten und fuhr ihn zornig an:

»Wer wird hilflos sein? Wer wird hungern? Und wer wird dürsten? Warum besteht ihr darauf, daß wir mit euch reiten, wenn ihr uns für junge Schakals haltet, die sich den eigenen Schwanz abfressen, wenn nicht die Mutter ihren Hunger stillt? Hast du jemals gehört, daß Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn, sich nicht zu helfen gewußt habe? Hältst du uns für kleine Buben, denen du auf ihre Fragen mit der Beleidigung des Schweigens antworten darfst? Meinst du, daß wir nur dir zuliebe unsere Gewehre mühsam nach dem ›Thale des Sackes‹ schleppen, um von dir dann einen Wasserschluck und eine Dattel zu erhalten, damit wir nicht vor Durst und Hunger uns in die Brühe faulender Gurken verwandeln? Denkst du, wir lesen dir die schwere Sprache der Fährten zu dem Zwecke vor, von dir zu erfahren, daß sie unnütz sei? Ob dieses Land uns bekannt oder unbekannt ist, das ist uns völlig gleich. Jeder Schuß aus unsern Gewehren wird uns Nahrung bringen, und jeder Busch oder Strauch hat uns zu sagen, wo wir Wasser finden werden! Du hast uns ›hilflos‹ genannt. Schau dich an! Weißt du, als was ich dich jetzt vor mir krumm im Sattel sitzen sehe? Als den niedergeschmetterten Scheik der Dinarun, dem jetzt, in diesem Augenblicke, um nichts als nur um unsere Hilfe bange ist! Ich habe gesprochen!«

Er wendete sein Pferd um und kam wieder her zu mir. Der Scheik antwortete nicht sogleich. Daß er zornig sei, war ihm wohl anzusehen, doch gebot ihm die Klugheit, sich zu beherrschen. Seine Leute sprachen leise auf ihn ein.

»Hast du jemals so etwas gehört, Sihdi?« fragte Halef mit unterdrückter Stimme. »Hilflose Menschen sollen wir sein! Mit solchen Freunden hat man freilich nur mit der nötigen Vorsicht umzugehen! Wenn mich ein Freund beleidigt, so ist das schlimmer, als wenn ein Feind es thut! Ich werde mich in Zukunft nicht nach meinem Herzen, sondern nach deinem Verstande richten!«

Da kam Nafar näher und wendete sich an mich:

»Sihdi, ich konnte nicht ahnen, daß euch mein Schweigen beleidigen werde. Ich bin Moslem und rede also nicht gern von dem, der ein Feind des Propheten ist. Ich habe nicht daran gedacht, daß du ein Christ bist. Willst du mir verzeihen?«

Ich nickte nur. Da fuhr er fort:

»Hast du noch den Wunsch, etwas über den Mann zu hören, den sie den Ustad nennen?«

»Natürlich!«

»Er ist ein Dschamiki, wurde aber nicht bei den Dschamikun geboren. Sie waren arme Teufel, doch treue Anhänger des Propheten, als er aus einer fernen Gegend zu ihnen kam. Er unterrichtete sie in der Weisheit und Fertigkeit der Abgefallenen. Sie wurden durch ihn wohlhabend, viele sogar reich, haben sich aber aus freien Nomaden in unfreie Sklaven der Arbeit verwandelt. Sie züchten Vieh; sie bebauen Aecker, und sie besitzen Gärten, in welche sie Bäume pflanzen. Pfui!«

»Und dennoch sind sie Räuber, die euch eure Herden gestohlen und die Wächter ermordet haben?« warf ich ein.

»Ja, das sind sie freilich auch! Der Abfall vom Propheten treibt stets zu Raub und Mord!«

»Meinst du?«

»Ja. Das darf dich nicht beleidigen, denn du bist ja nie ein Moslem gewesen und also kein Abgefallener.«

»Sind die Dschamikun Christen?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie von Muhammed abgewichen sind.«

»Wie nennen sie sich?«

»Nur Dschamikun. Ihrer Religion geben sie keinen Namen. Der Ustad ist ein alter, alter Mann, aber mit tiefschwarzen Haaren. Man sagt, er sei mehrere hundert Jahre alt. Ja, einige meinen sogar, daß er nie geboren worden sei und niemals sterben werde. Das ist gewiß nur Aberglaube. Aber Eins, was man über ihn sagt, ist richtig. Nämlich, daß man sich hüten muß, bös von ihm zu reden. Wer das thut, dem folgt die Rache wie ein böser Geist, der nicht eher ruht, als bis er ihn vernichtet hat. Darum wollte ich deine Frage nicht beantworten. Bist du nun versöhnt?«

»Ich will es sein, warne dich aber vor ähnlichen Beleidigungen. Weißt du vielleicht, ob Sallab, der Fakir, mit den Dschamikun bekannt ist?«

»Er geht überall hin, wahrscheinlich auch zu ihnen.«

»Ist er ihnen mehr Freund als euch?«

»Wer kann das sagen!«

»Er ist hier gewesen.«

»Hier? An diesem Orte?« fragte er erstaunt.

»Ja.«

»Unmöglich!«

»Er hat auf der braunen Stute des Ustad gesessen.«

»Das ist ebenso unmöglich!«

»Schau her! Hier an dieser Stelle sind die beiden Reiter von den Pferden gestiegen. Der, welcher den Hengst ritt, hat die Spuren von ledernen Sohlen hinterlassen. Der andere, welcher von der Stute sprang, ist barfuß gewesen. Nun komm hierher, wo sie gesessen haben! Hier der barfüßige, und hier der andere. Hast du vielleicht schon einmal einen Menschen so auffällig sitzen sehen, daß er nur das eine Bein unterschlägt und auf das Knie desselben die Kniekehle des andern Beines legt, dessen Ferse also jenseits den Boden berühren muß!«

»Maschallah! So sitzt nur einer! Auch du hast ihn gesehen!«

»Wer ist’s?«

»Der Fakir!«

»Richtig! Diese seine Art zu sitzen oder vielmehr zu hocken ist mir sofort aufgefallen, als er in eurem Lager sich bei uns niederließ. Der barfüßige Mann hier hat ganz genau in derselben Weise gesessen.«

»Kann es nicht einen zweiten geben, welcher auch diese Gewohnheit hat?«

»Gut, nehmen wir diese Möglichkeit an! Aber hast du dir genau betrachtet, wie der Fakir gekleidet war?«

»In Fetzen!«

»Wodurch wurden diese Fetzen zusammengehalten?«

»Durch eine Schnur. Die Enden des Knotens hingen hinten herab.«

»Hast du an diesen beiden Enden etwas bemerkt?«

»Zwei Cypressenzapfen an jedem.«

»So sieh hierher! Diese Zapfen haben, als er saß, den Sand hinter ihm berührt. Er hat sich bewegt und mit sich diese Zapfen. Siehst du diese Striche? Und da, wo sie stillgelegen haben, die runden Eindrücke in dem Mehle des feinen Sandes?«

Er richtete die Augen auf diese Zeichen und dann, groß und weit geöffnet, auf mich.

»Sihdi,« sagte er, »das ist nun freilich Spurenlesen! Es ist bewiesen, daß es wirklich der Fakir war, der hier gesessen hat. Aber an das Pferd des Ustad glaube ich noch nicht!«

»Ich habe nur gesagt, was für ein Pferd es war. Mehr kann ich nicht wissen. Den Ustad hast du selbst genannt. Ist er denn reich genug, der Besitzer eines solchen Pferdes zu sein?«

»Ja, man sagt, daß er die Macht über den ganzen Reichtum der Erde besitze.«

»Man sagt so manches, was man eben bloß sagt. Heut hat für mich nur das Geltung, was ich hier sehe. Wann denkst du, daß wir das Daraeh-y-Dschib erreichen werden?«

»Wir werden schon heut abend in seiner Nähe sein, obgleich wir einen Umweg eingeschlagen haben, um nicht auf etwaige Nachzügler der Dschamikun zu treffen.«

»So treffen wir aber doch vielleicht auf eure Späher nicht!«

»O doch! Wir haben heut den Weg der Feinde zu kreuzen, um ihnen dann zuvorzukommen. An dieser Kreuzungsstelle haben meine Kundschafter auf uns zu warten.«

»So kennen sie die Stelle, an welcher diese Kreuzung stattfindet?«

»Ja. Ich hoffe, daß euer Vertrauen zu uns nun wieder vollständig zurückgekehrt ist!«

Er sah mich an, erwartungsvoll, was für eine Antwort ich nun geben werde. Da wurde mir so offen, daß er es hörte, von Halef die Frage zugeworfen:

»Was wirst du ihm sagen, Sihdi? Das Vertrauen ist nicht wie eine Dattel, die man in der Minute zehnmal hin und her geben kann. Es geht schneller fort, als es wiederkehrt.«

»Ich werde ihn nach einer Lücke fragen, die es zwischen ihm und uns giebt, lieber Halef,« antwortete ich.

»Eine Lücke? Ich kenne keine.«

»Und doch ist sie da. Wir haben sie mitgenommen, als wir das Lager der Dinarun verließen. Sie wurde um Mitternacht, als uns der Nachtrab erreichte, größer als sie vorher war, und nun bin ich neugierig, ob es ihm gelingt, sie auszufüllen. Ich habe darüber geschwiegen, weil du an die Dinarun glaubtest und ich dir deine Unbefangenheit gönnte.«

»Ich verstehe dich nicht!«

»Du wirst es gleich hören!«

Und zu dem Scheik gewendet, fuhr ich fort:

»Ist euer Lager jetzt vollständig verlassen?«

»Ja,« nickte er.

»Es befindet sich niemand mehr dort?«

»Kein Mensch mehr!«

»Es ist also alles mit uns unterwegs? Mit uns hier und dem Nachtrab?«

»Alles!«

»Und unsere Gefangenen? Die Dschamikun? Mit denen wir Gericht halten wollten?«

Er war schneller mit der Antwort da, als ich erwartet hatte:

»Ich habe sie nach dem großen Lager unseres Stammes geschickt. Dort werden sie bis zu unserer Rückkehr für euch aufbewahrt.«

»Warum sagtest du uns das nicht?«

»Habt ihr mich gefragt?«

»Du hattest es uns auch ohne Frage mitzuteilen. Die Gefangenen gehörten zunächst uns und dann später dir. Ich sagte nichts über sie, weil ich es für ganz selbstverständlich hielt, daß sie sich beim Nachtrab befinden würden. Ich sage dir ganz aufrichtig folgendes: Daß diese wenigen Dschamikun so nahe bei euch waren, obwohl ihr von ihren Stammesgenossen beraubt worden waret, das erschien mir unbegreiflich. Daß ihr ihnen begegnet seid, ohne sie als Dschamikun anzuhalten, hielt ich für höchst sonderbar. Daß sie nun verschwunden sind, ohne daß du es für nötig gehalten hast, uns ein Wort darüber zu sagen, das kommt mir sogar bedenklich vor. Darum will ich dir deine Frage nach unserm Vertrauen jetzt noch nicht beantworten. Du wirst schon ganz von selbst bemerken, ob es wiederkehrt oder verschwunden bleibt. Jetzt wollen wir den unterbrochenen Weg fortsetzen.«

Er sagte nichts, lenkte um und ritt mit seinen Begleitern wieder aus der Schlucht hinaus. Erst nach einiger Zeit blickte er sich einmal um, damit er sehe, ob wir ihm folgten. Natürlich thaten wir das. Draußen stießen wir zu dem Trupp, der auf uns gewartet hatte, und ritten dann mit diesem weiter, indem wir die beiden letzten des Zuges waren.

»Sonderbar, das mit den Gefangenen!« sagte Halef nach einiger Zeit, während welcher er still an sich niedergesonnen hatte. »Glaubst du, Sihdi, daß ich seit unserm Aufbruche gar nicht an diese Leute gedacht habe?«

»Ich bemerkte das.«

»Und aber du?«

»Ich sah erst heut früh, daß sie fehlten.«

»Und hast gegen mich geschwiegen!«

»Du warst so heiter wie in den letzten Tagen selten. Ich wollte dich nicht ohne Not bedenklich stimmen.«

»Weil du mich wegen meiner Krankheit schonen willst; ich weiß es! Glaubst du noch an sie?«

»Ja.«

»So gieb mir jetzt wieder die Arznei!«

»Halef!« rief ich. »Fühlst du dich wieder unwohl?«

»Nein. Aber die Alte ist wieder da. Sie hat sich heimlich herangeschlichen. Sie sitzt hinter mir auf dem Pferde und streicht mir mit eiskalter Hand am Rücken auf und ab. Sie muß wieder fort. Gieb mir das Mittel!«

Ich hatte während der letzten Stunden in Beziehung auf das Fieber nicht auf ihn geachtet. Jetzt sah ich seine Augen glänzen. Sie hatten einen unstäten, ängstlichen Blick. Ich nahm das Chinin aus der Satteltasche und gab ihm davon. Er nahm es ein, und dann wurde es für längere Zeit still zwischen uns.

Dieses Schweigen hatte seinen Grund zunächst in der Besorgnis, welche ich in Beziehung auf Halef von neuem hegte. Sodann aber war mir auch in Betreff meiner selbst ein Gedanke gekommen, welcher sehr geeignet war, mich zu beunruhigen.

Wir hatten in jüngster Zeit ganz bedeutende Fehler begangen, Fehler, welche eigentlich für uns hätten unmöglich sein sollen. Hierzu kamen, wenn ich nachdachte, eine ganze Menge kleinere Sonderbarkeiten, die uns eigentlich gar nicht geläufig waren. Vor allen Dingen fragte ich mich, wie es möglich gewesen war, daß wir hatten von dem Lager der Dinarun aufbrechen können, ohne vorher über unsere Gefangenen zu bestimmen. Hierauf fiel mir ein, daß es doch eigentlich geraten gewesen wäre, uns die Leichen oder die Gräber der beim Ueberfalle der Herden ermordeten Wächter zeigen zu lassen. Auch das hatten wir nicht gethan. Wie war es für uns alte, erfahrene, doch sonst so scharfsinnige Leute möglich gewesen, uns solcher Unterlassungssünden schuldig zu machen? Bei Halef war die Krankheit schuld. Was aber bei mir? War ich plötzlich vergeßlich geworden?

Hatte ich die Schärfe meiner Denkkraft eingebüßt? Woher kam auch bei mir die sonderbare Müdigkeit, die ich gar nicht beachtet hatte, obgleich sie von Halef schon einige Male erwähnt worden war? Ich befinde mich in dem Besitze einer Konstitution, wie nur selten ein Mensch sie hat. Meine Gesundheit macht für mich den Gedanken, krank zu sein, fast zur Unmöglichkeit. Und wenn ich ja vielleicht einmal unwohl sein sollte, so glaube ich es nicht. Ein Zustand, über welchen andere klagen und sehr besorgt sein würden, ist für mich eine kleine, gar nicht beachtenswerte Unpäßlichkeit, über die ich kein Wort verliere. Nun aber jetzt, da mir der erwähnte Gedanke gekommen war, that ich das, was ich bisher versäumt hatte: Ich nahm nicht Halef, sondern einmal auch mich selbst her, um mich auf mein Wohlbefinden hin zu untersuchen, und da – man lache nicht! – geschah das Unerwartete, daß das »alte, zahnlose Weib« mir in die Ohren raunte, daß sie auch bei mir zu Gaste sei.

Der Gedanke an die Möglichkeit brachte die Erkenntnis der Wirklichkeit. Was ich bisher nicht beachtet, ja fast kaum empfunden hatte, das trat mir jetzt im Handumwenden deutlich ins Gefühl: Mein Kopf war eingenommen, meine Stimmung unlustig, mein Geist ermüdet und mein Körper nicht mehr von der gewohnten Beweglichkeit. Diese Entdeckung machte ich, und kaum hatte ich sie gemacht, so – so – war es mir, als ob in diesem Augenblicke mein Stirnbein doppelt dick geworden sei und mir das Gehirn zusammendränge. Unsinn! Ich, und Kopfschmerzen haben! Geradezu lächerlich! Die reine Einbildung! Aber ich fühle ihn ja! Ist es erlaubt, an Autosuggestion zu glauben?

Ich nahm mich zusammen und gab meinem Pferde ganz absichtslos die Sporen, daß es einen weiten Satz vorwärts that.

»Was ist’s?« fragte der Hadschi, indem er mir in das Gesicht sah. »Was haben deine Wangen für eine Farbe? Warum sind sie plötzlich eingefallen? Bist du krank?«

»Fällt mir nicht ein!« lachte ich, ohne aber dabei wirklich heiter zu sein.

»Du, verbirg mir nichts! Meine alte Frau hat dich gegrüßt! Das wäre grad das, was uns noch fehlt! Mir ist so heiß, so heiß und so innerlich angst. Ich habe Sehnsucht nach der allergrößten Kälte, die es giebt. Vor meinen Augen drehen sich feurige Räder. Sihdi, wir müssen den Scheik fragen, ob es nicht vielleicht hier in der Nähe Wasser giebt.«

Er trieb sein Pferd an und ritt nach vorn. Ich folgte ihm. Noch ehe wir den Scheik erreicht hatten, rief er ihm zu:

»Nafar Ben Schuri, sag, ob es in dieser Gegend irgendwo Wasser giebt!«

»Zum Trinken?«

»Ja, auch! Aber noch viel mehr! So viel, daß man hineinspringen und sich baden kann.«

Da zeigte ich mit dem ausgestreckten Arm rechter Hand nach vorn und sagte:

»Dort ragt ein Berg, ganz dunkel blaugrün. Da giebt es Wald, wahrscheinlich sogar Laub-, nicht Nadelwald. Kennst du ihn?«

»Ja« antwortete der Scheik. »Seine Kuppe trägt Nadelbäume. Weiter unten aber folgen Mürwaran und Dischbudakan. Wir kommen an seinem Fuße vorbei.«

»Wo Mürwaran stehen, giebt es unbedingt fließendes Wasser!«

»Das giebt es allerdings dort. Es fließt in einen stehenden Weiher. Ich kenne ihn. Wir haben dort gefischt. In etwas über zwei Stunden werden wir ihn erreichen.«

»So spät?« fragte Halef.

»Ja. Die Richtung durch die Luft ist nicht halb so weit; aber wir müssen zweimal tief in Thäler hinab und jenseits wieder hinauf. Der Teich liegt an der westlichen Seite des Berges.«

»Zwei Stunden warte ich nicht. Kommt uns nach! Wir reiten voraus. Du machst doch mit, Sihdi?«

Er berührte, ohne meine Antwort abzuwarten, die Flanken seines Rappen mit den Sporen. Da schoß das edle Tier mit ihm davon, als ob es von einem Bogen abgeschnellt worden sei. Mein Assil Ben Rih folgte augenblicklich, ohne einen Antrieb von mir abzuwarten. Er wußte, daß er mit Barkh zusammengehörte.

Es ging zunächst über ebenes Terrain, und da war es eine Wonne, so über dasselbe hinzufliegen, als ob die Hufe den Boden gar nicht berührten. Halef jauchzte auf. Ich ließ ihn voran. Das sollte seinen Ehrgeiz anspornen und seine Energie beleben. Vielleicht hielt er dann aus! Mit abgespanntem Geiste einen Weg von über zwei Stunden zurückzulegen, das hätte ihn vielleicht bis zur Niederlage ermattet. Darum rief ich ihm zu:

»Zähle nach, Hadschi, in wieviel Minuten ich dich einhole!«

Da warf er den Arm in die Luft und rief lachend:

»Nie, nie! Ich zähle nicht. Es wäre eine Ewigkeit!«

Er legte sich nach vorn. Der Luftzug riß ihm auf der Brust den Burnus auf und schwellte ihn zum Ballon. Da zog er den Saum unter dem Sitz hervor, um ihn fliegen zu lassen. Es sah aus, als ob Roß und Reiter beschwingt seien. Der Boden der Erde schwand förmlich hinter uns. Ich schaute mich um. Die Dinarun hatten ihre Pferde angehalten, um uns erstaunt nachzublicken. Einen solchen Ritt hatten sie wohl noch nicht gesehen.

Schon nach kurzer Zeit war die Ebene zu Ende. Nun ging es im Galopp einen sanft ansteigenden Hang hinunter, quer über die Tiefe des Thales und drüben wieder hinauf. Es war eine wahre Wonne, Halef in dieser Weise so leicht, wie von aller Schwere befreit, dahinfliegen zu sehen. Bei so einem echten Beduinenritt haben beide, der Reiter und das Pferd, nur einen einzigen Willen und eine einzige Ehre!

Der jenseitige Abfall der Höhe war steiler. Es lagen da Felsenbrocken wie ausgesät, und zwischen ihnen standen vereinzelte Koniferen. Halef mußte da den Rappen zügeln; ich den meinen auch. Mein Assil war ein besserer Kletterer als Barkh. Das edle Tier wollte nicht zurückbleiben, sondern das andere unbedingt einholen; aber sooft wir fast herangekommen waren, ging Halef mir wieder davon. Unten angekommen, griffen die Pferde ganz von selbst wieder in der früheren Weise aus. Mein Assil ließ jenen tiefen, gutturalen Ton hören, welcher ein Zeichen der Ungeduld war. Er ärgerte sich, daß ich ihn zurückhielt. Da gab ich ihm die Zügel frei, richtete mich in den Bügeln auf, um mein Gewicht zu erleichtern, und rief das Wörtchen jallah aus, welches soviel wie »vorwärts« bedeutet. Das herrliche Geschöpf warf, vor Freude laut wiehernd, den Kopf in die Höhe, ließ ihn wieder sinken, und nun, aber nun war zu sehen, was so ein echtes Vollblut zu leisten vermag, aus freiem Willen, ohne von dem Reiter angetrieben zu werden, und nur aus reinem Ehrgefühl. Es mag Leute geben, für welche dieses Wort zu hoch gegriffen ist. Sie mögen sich ein anderes suchen. Der wahre Tierfreund aber weiß, woran er ist!

Die Folge dieses plötzlichen Anlaufes war, daß ich Halef überholte. Da ließ er jenen lauten, scharfen Ton erschallen, welcher sich aus dem »a« und dem »ch« zusammensetzt. Der Reiter treibt mit ihm sein Tier zur Eile an, und nur eine arabische Kehle ist im stande, ihn richtig hervorzubringen. Da legte sich Barkh nun wieder in das Zeug, um Assil einzuholen. Ich hatte gar nicht die Absicht, voranzubleiben, sondern ich wollte, daß Halef den Weiher vor mir erreichen sollte. Aber damit war mein Pferd nicht einverstanden. Als ich die Zügel straffer nahm, begann es, zornig zu schnauben. Ich konnte mich durch eine falsche Behandlung um sein Vertrauen, um seine Hingebung bringen; darum hielt ich es für besser, ihm seinen Willen zu lassen.

Als wir auf der zweiten Höhe ankamen, hatte der Hadschi mich wieder eingeholt. Sein Gesicht strahlte. Körper, Geist und Seele waren bei ihm in gleicher Spannung. Das war es ja, was ich gewollt hatte!

»Sihdi, gieb jetzt zu, daß ich dich besiege!« rief er mir zu.

»Nein!« antwortete ich.

»So paß auf!«

»Du willst doch nicht etwa das ›Geheimnis‹ anwenden?«

»Nein. Das thun wir ja nur in größter Not. Aber paß auf, ich siege doch!«

Er bog sich so weit wie möglich nach vorn nieder, um in aneiferndem Tone auf das Pferd einzusprechen:

»Rascher, rascher, mein Freund! Zeige nun deine Eilfertigkeit, du Edler! Erweise mir die Liebe, schneller zu sein, du liebster aller Lieblinge! Ich bin stolz auf dich! Dein Wert ist unvergleichlich, du größter meiner Schätze! Willst du zugeben, daß ich mich vor dem Sihdi da neben uns zu schämen habe? Du weißt, daß mein Ruhm auch dein Ruhm und deine Schande auch meine Schande ist. Erhöre mich! Meine Liebe wird dir deinen Eifer lohnen. Lauf, o, lauf! Flieg, o, flieg, du meine Freude, meine Wonne, meine Lust! Ich gebe dir eine ganze Handvoll Datteln; die besten, die aller-, allerbesten, die ich habe, die suche ich dir aus! Denke doch, denke doch: Datteln, Datteln, Datteln!«

Das Pferd verstand natürlich nicht den Sinn der Worte, aber die Bedeutung derselben. Das Wort Tamr, Datteln, aber war ihm wohlbekannt. Es senkte den Kopf tiefer und griff noch schärfer aus als bisher. Die Folge war, daß wir genau nebeneinander blieben.

Unser Ritt war ein so schneller, daß der Berg, der unser Ziel war, in hoch emporstrebender Bewegung zu sein schien. Auch seine Breite gewann mit jedem Augenblick. Bald trennte uns nur noch eine muldenähnliche, grasige Bodensenkung von ihm. Es ging ventre-à-terre über dieses Gras. Da, rechts, floß Wasser von der Höhe. Saftiges Gebüsch bezeichnete seinen Lauf, bis, zwischen den Stämmen hoher Erlen und Eschen hervor, der Spiegel des Weihers uns entgegenglänzte.

»Wasser, Wasser, Wasser! Endlich, endlich!« rief Halef aus.

Er gab seinem Rappen heimlich den Sporn der von mir abgelegenen Seite. Ich merkte das gar wohl an der Bewegung seines Pferdes, sagte aber nichts. Dieser kleine, etwas unehrliche Kniff mochte ihm immerhin gelingen. Barkh schoß infolge desselben mit einemmal vor, und ohne daß mein Assil diesen schnell entstandenen Vorsprung einzuholen vermochte, waren wir am Ziele angelangt. Halef natürlich zuerst. Er wendete sein Pferd herum und fragte:

»Nun, Sihdi, wer ist Sieger?«

»Du!« antwortete ich.

»Aber du lächelst ja!«

»Ist die Schande, von dir besiegt worden zu sein, so groß, daß ich weinen soll?«

»Du, Sihdi, verbirg dich nicht! Ich verstehe dieses Lächeln. Ich habe Barkh angetrieben; du aber hast Assil zurückgehalten. Gestehe es! Sei aufrichtig! Thatest du es?«

»Ja,« antwortete ich. Ich konnte es ehrlich sagen, weil ich meinen Zweck, Halef in Spannung zu halten, doch erreicht hatte.

»Also, ich wäre unterlegen, wenn du gewollt hättest?«

»Ja. Ich sage dir das so offen, weil es eine Ehre, ein großes Lob für dich ist.«

»Wieso?«

»Barkh stammt nicht von einem eurer Pferde. Assil ist ihm über, weil er bei euch geboren und von dir erzogen worden ist. Er ist unvergleichlich, weil Rih, sein Vater, unvergleichlich war.«

»Das ist richtig. Deine Worte machen mich stolz, Sihdi. Ich war nicht ehrlich gegen dich. Du sprachst kein Wort zu deinem Hengste; ich aber habe dem meinen zuletzt den Sporn gegeben. Verzeihe mir!«

Wir waren, während wir diese Worte wechselten, abgestiegen. Wie standen unsere Pferde da! Still, als hätten sie sich schon stundenlang hier befunden. Ihr Atem ging ruhig. Es gab keine einzige Flocke Schaum und keine einzige schweißesnasse Stelle ihrer Haut. Wir liebkosten sie. Da faßte Barkh mit den Zähnen Halefs Aermel und ließ ihn nicht wieder los.

»Weißt du, was er will?« lachte der Hadschi.

»Die versprochenen Datteln.«

»Ja. Der Mensch hat auch seinen Tieren Wort zu halten.«

Er öffnete den Futtersack und that genau das, was er versprochen hatte: Er suchte eine Handvoll der besten Datteln aus und gab sie dem gedächtnisstarken Mahner. Hierauf sattelten wir die Pferde ab, worauf sie ohne unser Zuthun augenblicklich in das Wasser gingen, bei in der Wüste geborenen Pferden eine Seltenheit!

Die An- oder Aufregung war mit dem Ritte vorüber. Die Spannkraft ließ bei Halef schnell und sichtlich nach. Als er nach dem Einflusse des Baches ging, um von dem dort noch klaren und lebendigen Wasser zu trinken, sah ich, daß seine Schritte unsicher waren. Mich selbst überkam ein eigentümliches Gefühl. Es war mir, als ob ich von ebenso unsichtbaren wie unfühlbaren Händen langsam emporgehoben und dann in das Gras gelegt würde. Ich mußte mich setzen. Da begannen die Erlen um mich herum zu tanzen. Mein Kopf kam mir wie eine hohle Kugel vor, die immer größer und leerer wurde. Ich schloß die Augen. Sonderbar: Ich hörte mit den von ihm doch so entfernten beiden Ohren ganz deutlich das Klopfen meines Herzens. Jemand ergriff meine Hand.

»Sihdi, Sihdi, was ist mit dir? Die Haut deines Gesichtes sieht wie Erde aus! Warum hast du die Augen zu?«

Es kostete Mühe, sie zu öffnen. Halef stand gebückt vor mir. Aus seinem Blicke sprach die Angst, die auch in seiner Stimme klang. Das half. Ich sprang auf und antwortete:

»Es war ein Tanz der Bäume um mich her, den ich vorüberlassen wollte.«

»Ganz wie jetzt oft bei mir! Die Gegend, durch welche wir kamen, drehte sich im Kreise; der Kopf schmerzte, und alle Eingeweide meines Innern wollten sich empören. Es hat mich alle meine Kraft gekostet, dir das zu verbergen und mich aufrecht zu halten. Allah verderbe dieses alte Weib! Kann sie sich nicht mit mir zufrieden geben? Bin ich ihr nicht genug, ich, der berühmte Scheik der Haddedihn, dem Tausende von tapferen Kriegern gehorchen? Muß sie ihre unbeschnittenen Fingernägel auch nach dir ausstrecken? Sie allein ist schuld, daß alles um uns tanzt! Wenn ich sie doch sehen und fassen könnte! Es sollte ihr vergehen, mit solchen Männern sich derartige Scherze zu erlauben. Komm und trink Wasser! Das kühlt das Blut und ärgert dieses Weib!«

Er behielt meine Hand zärtlich in der seinen und führte mich dorthin, wo er getrunken hatte. Er, der Kranke, leitete mich! Was sollte daraus werden! Es galt, mich zusammenzunehmen! Ich trank, trank und trank in langen Zügen. Ich fühlte förmlich die kühle Woge, die dabei langsam und kräftigend durch meinen Körper und meine Glieder ging. Als ich mich dann aufrichtete, war mein Auge wieder klar.

»Und nun komm, wir müssen baden,« forderte mich Halef auf. »Aber ja nicht entfernt voneinander. Wir haben beisammen zu bleiben, damit wir einander helfen können, falls auch das Wasser um uns tanzen sollte.«

Eine hierzu geeignete Stelle war bald gefunden. Ich stieg zuerst in die für uns jedenfalls außerordentlich wohlthätige Flut. Sie war am Rande seicht, wurde aber bald sehr tief. Ich schwamm hinaus. Das war nach dem kaum vorübergegangenen Schwindelanfalle vielleicht eine Unvorsichtigkeit, aber ich nahm an, daß diese Bewegung mir nützlich sein werde. Jedoch nicht lange, so kehrte ich um. Ein Luftzug kräuselte die Oberfläche des Wassers, und dieses Kribbeln und Krabbeln und Flimmern und Funkeln ging mir durch das Auge ins Gehirn. Ich fühlte mich unsicher.

Als ich wieder Grund gewann, mußte ich nach Halef suchen. War er denn noch nicht im Wasser? Da wurde ich durch eine Bewegung aufmerksam gemacht. Ich näherte mich der betreffenden Stelle. Da lag er, lang ausgestreckt, den Kopf hintenüber gebeugt, so daß nur Mund und Nase außerhalb des Wassers waren. Diese Situation war eine spaßhafte; aber das Lachen verging mir, als ich vollends herankam und den Körper sah. Der ganze Leib war voller Flecken, die eine livid-dunkle Färbung hatten.

Typhus! Wirklich und wahrhaftig Typhus!

War es denn eine Menschenmöglichkeit, daß sich jemand bis zu diesem vorgeschrittenen Stadium der Krankheit aufrecht halten und zuletzt sogar noch einen solchen Parforceritt mitmachen konnte?! Ein Kind der sogenannten »Zivilisation« hätte das gewiß nicht fertig gebracht! Nur der durch und durch kerngesunde, abgehärtete Körper des enthaltsamen Nomaden, der die Laster und entnervenden Genüsse der »höher stehenden« Intelligenz nicht kennt, kann eine solche Gegenkraft und Widerstandsfähigkeit zeigen. Neben diesen körperlichen Eigenschaften hatten auch die seelischen des kleinen Hadschi das Ihrige dazu beigetragen, daß er nicht schon längst zusammengebrochen war. Vielleicht hatten auch rein geopraphische Faktoren mitgewirkt. Aber mochte das sein, wie es wollte, die Thatsache war jetzt da. Sie lag vor meinen Augen da im Wasser, bedeckt mit Petechien, deren vorher scharfe Ränder schon begannen, ineinander überzugehen. Als ich das sah, that mein Kopf mir plötzlich weh, und es ging, mich schüttelnd, ein Frost durch meine Glieder. Da kam Halefs Kopf schnell ganz nach oben.

»Du frierst, Sihdi? Ich sehe es!« sagte er. »Geh du ans Land! Ich werde noch liegen bleiben.«

»Das ist schon vorüber,« antwortete ich. »Aber, Freund, wie siehst du aus?«

»Gefleckt wie ein Leopard! Nicht wahr? Aber, aber – was sehe ich da?«

Er erhob sich ganz, zeigte auf meine Brust und fuhr fort:

»Da ist es auch bei dir! Genau so hat es bei mir angefangen!«

Ich schaute an mir hernieder. Was ich vorher noch nicht bemerkt hatte, das sah ich jetzt: auch ich hatte Flecken, allerdings noch klein. Sie lagen unterhalb der Schlüsselbeine.

»Bist du erschrocken?« fragte der Hadschi. »Warum schweigst du? Warum sagst du nichts? Ist es eine Krankheit? Eine schwere oder eine leichte? Kennst du sie?«

»Ich kenne sie, Halef,« antwortete ich. »Und damit du keine Fehler machst, muß ich aufrichtig mit dir sein. Sie ist fast ebenso gefährlich und langwierig wie die Pest, welche uns damals dem Tode nahe brachte. Von zehn Kranken sterben zwei –«

»Aber warum sollen grad wir diese beiden sein?« unterbrach er mich. »Es mögen nur erst noch die acht anderen kommen! Eher mitzurechnen, fällt mir gar nicht ein!«

»Auch ich hoffe, daß wir dem Schlimmsten entgehen.

Wir sind beide in Beziehung auf unsere Gesundheit keine Durchschnittsmenschen; also können die von mir erwähnten Ziffern nicht für uns gelten. Glücklicherweise bin ich im Besitze der besten Gegenmittel, Kampher und Chinin. Kalte Bäder müssen wir haben. Wenn es mir in den Sinn kommt, bleiben wir gleich hier. Unser Leben muß uns ebenso teuer sein, wie die Pflicht der Gastlichkeit. Aber wo nehmen wir die Pflege her, die uns so nötig ist?«

»Daher, von wo sie uns damals gekommen ist, vom Himmel Allahs, der uns nie vergessen hat und nie vergessen wird. Mein guter, mein lieber Sihdi, denke doch daran, daß wir auch damals keinen Menschen hatten, der sich unser annehmen konnte. Wir lagen in der größten Einsamkeit, unter uns die pesthauchende Erde, doch über uns das große, lichte Zelt, von welchem alle Engel auf uns niederschauten. Sie kamen mir im Traume, und auch im Wachen dachte ich an sie. Sind wir nicht gesund geworden ohne alle andere als allein nur ihre Hilfe?«

»Ja, du Wackerer, du Treuer! Sie haben uns gepflegt, erst dich durch meine und dann mich durch deine Hand, obgleich diese unsere Hände so schwach, so hager, so elend waren.«

»So werden sie es jetzt auch wieder thun! Oder glaubst du das nicht?«

»Ich glaube es. Aber damals wurde ich erst dann von der Pest ergriffen, als du bereits wieder am Gesunden warst. Jetzt jedoch werden wir wahrscheinlich zu gleicher Zeit –«

»Zu gleicher Zeit?« unterbrach er mich. »Fällt uns gar nicht ein! Wenn dieses alte Weib etwa denkt, daß alles genau so zu gehen hat, wie sie es will, da irrt sie sich! Wir haben doch auch unsern Willen! Und den setzen wir durch! Es kommt mir gar nicht in den Sinn, daß wir miteinander krank werden! Wenn wir es nicht nacheinander werden können, so werden wir es lieber gar nicht! So lange der eine krank ist und der Pflege bedarf, hat der andere gesund zu bleiben! Der Anfang hierzu ist ja schon ganz richtig eingetreten! Diese Flecken haben sich bei mir eher eingestellt als bei dir. Die Höhe der Krankheit wird also nicht zu gleicher Zeit eintreten. Vor dieser Höhe aber lege ich mich nicht nieder! Ehe es mich nicht mit tausend Armen packt, habe ich den Dinarun Wort zu halten.«

»Halef –!«

»Sihdi –! Ich weiß, was du sagen willst. Morgen aber werden wir im ›Thale des Sackes‹ sein, und wir sind nicht derart krank, daß wir hier liegen bleiben müssen. Uebermorgen ist der Kampf vorbei, und dann werde ich ohne Widerstreben thun, was du bestimmst. Bleiben wir hier zurück, so ziehen die Dinarun nicht als unsere Freunde, sondern als unsere Feinde weiter und kommen, sobald wir hilflos sind, zurück, um sich zu rächen. Hilflos! Das war ja das Wort des Scheiks. Lassen wir es nicht zur Wahrheit werden, Sihdi!«

Dieser Beweis hatte Hand und Fuß. Wie freute ich mich darüber, daß seine Denkkraft sich noch so scharf erwies! War das dem Einflusse des kalten Bades zuzuschreiben? Ich legte mich zu ihm, denn auch ich empfand, daß das Wasser wohlthätig auf mich wirkte. Unsere Pferde weideten draußen im saftigen Grase, ein lange entbehrter Genuß für sie. Die Schatten der hohen Eschen deckten uns so, daß uns der heiße Strahl der Sonne nicht belästigen konnte. Wir fragten nicht danach, ob ein zu langes Verweilen im Wasser uns schaden könne, und verließen es erst dann, als wir anzunehmen hatten, daß die Dinarun nun bald eintreffen würden. Als sie sich hierauf einstellten, standen wir schon zur Fortsetzung des Weges bereit.

Natürlich aber hielten nun auch sie erst Rast, auf welche jedoch nur eine halbe Stunde verwendet wurde. Dann ging es weiter, wobei wir uns, wie vorher, am Ende des Zuges hielten.

Es war während dieses Aufenthaltes der Dinarun am Teiche zwischen uns und dem Scheik kein Wort gesprochen worden. Für seine Leute hatten wir freundliche Augen und höfliches Benehmen, aber auch keine Reden gehabt. Das höchst fatale Wort »Mißtrauen« verschloß ihm und uns den Mund.

Wir bemerkten mit Genugthuung, daß wir uns jetzt in einer wasser- und darum wald- und weidereicheren Höhenzone befanden. Das war ein Umstand, der uns Beruhigung gewährte. Uebrigens schien die Wirkung des Bades auf uns eine ganz verschiedene zu sein. Ich fühlte mich gekräftigt, während Halef mir mitteilte, daß er sehr ermüdet sei. Er war kalte Bäder nicht gewohnt, und das heutige hatte wohl eine zu lange Dauer für ihn gehabt.

Später sah ich, daß er sich schüttelte. Die Sonne schien noch warm auf uns nieder, und darum nahm ich an, daß diese seine Bewegung eine rein zufällige sei. Als sie sich aber wiederholte, gestand er mir auf meine Frage, daß er von einem inneren Frost geschüttelt werde, und bat mich wieder um Chinin. Ich hielt es für geraten, ihm dieses Mittel jetzt vorzuenthalten und schlug ihm eine Wiederholung unseres Wettrennens vor. Sofort richtete er sich munter im Sattel auf und sagte:

»Ich bin mit Freuden einverstanden, Sihdi. Aber ich mache eine Bedingung.«

»Welche?«

»Daß wir die Pferde wechseln!«

Welch ein kleiner Schlaumüller! Ich erklärte mich selbstverständlich bereit dazu und gab ihm meinen Assil, während ich seinen Barkh bekam. Am liebsten hätten wir auf diesem Ritte den Weg eingeschlagen, den wir überhaupt zu nehmen hatten, wären da aber zu Fragen an den Scheik gezwungen gewesen, der mit uns schmollte. Wir beschlossen also, eine andere Richtung zu nehmen, und zwar rund um einen Berg, welcher zur Linken vor uns lag. Wir mußten, wenn wir ihn umritten hatten, wieder auf die Dinarun, und wenn nicht auf sie selbst, so doch auf ihre Spuren stoßen. Wir riefen also Nafar Ben Schuri zu, was wir beabsichtigten, und wollten schon die Pferde antreiben, da antwortete er:

»Bleibt doch hier! Dort, jenseits des von euch erwähnten Berges, liegt ja der Kreuzungspunkt, auf welchem meine Krieger auf uns warten.«

»Das ist für uns kein Grund, uns in eure Langsamkeit zu fügen. Ihr kennt ja nun die Schnelligkeit unserer Pferde. Wahrscheinlich sind wir eher dort als ihr.«

»Aber ihr kommt gewiß?«

»Ja.«

»Schwöre es mir!«

»Was fällt dir ein! Einen Schwur giebt es selbst für viel wichtigere Dinge bei uns nicht. Du hast mein Wort, und das muß dir genügen!«

Nun ritten wir fort, aber zunächst langsam, denn Halef hatte eine Mitteilung auf seinem Herzen:

»Er ist mißtrauisch, Sihdi.«

»Und beleidigend,« fügte ich hinzu.

»Ja, es war eine Beleidigung, einen Schwur zu verlangen. Wir müssen ihm von großem Werte sein.«

»Das scheint freilich so!«

»Hast du eine Ahnung, warum?«

»Ja.«

»Welche?«

»Es ist eben nur eine Ahnung, das heißt, etwas Unklares. Von Wert sind wir ihm als Helfer gegen die Dschamikun. Er weiß, daß er sich auf unsere Erfahrung und auf unsere Fertigkeit im Schießen mehr verlassen kann, als auf sich selbst und alle seine Leute. Das hat er uns ja schon gesagt, ohne es eigentlich sagen zu wollen. Aber diese Betrachtung genügt mir nicht, verschiedenes zu erklären, was mir aufgefallen ist.«

»Was?«

»Er trachtet so auffallend und eifrig darnach, die Geheimnisse unserer Waffen und unserer Pferde kennen zu lernen. Warum? Diese Geheimnisse haben doch nur für den Besitzer Wert. Hat er etwa die Absicht, unser Eigentum an sich zu reißen?«

»Sihdi!« rief Halef überrascht.

»Ist er etwa unser Feind, der nach den Pferden und Gewehren trachtet, die ihm aber ohne vorherige Aufklärung unnütz sind? Und giebt er nur deshalb vor, unser Freund zu sein, weil er auf diesem Wege die Geheimnisse zu erfahren hofft? Wird er dann, sobald er sie kennt, uns sein richtiges Gesicht zeigen – das Gesicht eines Räubers und Mörders?«

»Sihdi! Kann ein Mensch von so bodenloser Schlechtigkeit sein?«

»Das fragst du und hast doch schon solche Menschen kennen gelernt!«

»Wie thöricht wäre ich gewesen, wenn du recht hättest!«

»Tröste dich! Auch ich habe keineswegs klug gehandelt. Wir haben die größte Vorsicht zu beobachten. Das ist um so schlimmer für uns, als wir von der Krankheit jeden Augenblick niedergeworfen werden können.«

»Du, Sihdi, die Krankheit ist nun bei mir Nebensache! Seit du deine Befürchtung ausgesprochen hast, giebt es für mich nicht eher Zeit, krank zu sein, als bis wir wissen, woran wir mit diesem Nafar Ben Schuri sind. Ist jetzt noch etwas zu besprechen?«

»Nein.«

»So wollen wir beginnen. Zu gleicher Zeit. Paß auf! Eins – zwei – drei!«

Bei »drei« begann die Jagd nach der Ehre, welche, wie ich wollte, dem Scheik der Haddedihn zufallen sollte. Leider sollte sie ihm nicht vergönnt sein, aber auch mir nicht. Es wurde eine ganz andere Jagd daraus.

Wir hatten uns von den Dinarun auf einem Plateau getrennt, von welchem wir hinunterritten, um an den Fuß des Berges zu gelangen, den wir halb umkreisen mußten. Unten angekommen, sahen wir, daß sich das Terrain zunächst so sehr verengte, daß wir gezwungen waren, langsam zu reiten. Wir hatten uns vorsichtig durch ein fast unzugängliches Felsengewirr zu winden, wo es aber doch Spuren davon gab, daß zuweilen Menschen hier vorüberzukommen pflegten. Diese Enge trat dann mit einem Male weit auseinander, um sich in das Thal zu öffnen, dem wir rund um den Berg zu folgen hatten. Grad als wir aus ihr hervor wollten, tauchten kaum zwanzig Schritte entfernt zwei Reiter vor uns auf, welche da hineintrachteten, wo wir herauskamen. Und wer waren sie?

Sallab, der Fakir! Er ritt eine braune Stute, die sichtlich ein Pferd allererster Rasse war, jedenfalls »Sahm«, dem Ustad angehörig. Sein Begleiter, ein jüngerer Mann, sichtlich auch ein Fakir und ebenso unbewaffnet wie Sallab, saß auf einem dunkeln, halbedlen Hengste. Beide erschraken, als sie uns erblickten.

»Die Dschamikun!« rief Sallab aus.

»Nein, nur wir!« antwortete ich.

»Ihr beide allein?«

»Ja.«

»Das glaube euch der Scheitan! Komm! Zurück, zurück!«

Er wendete sein Pferd und jagte fort. Der andere folgte ihm.

»Sihdi, was ist –« rief Halef.

»Still! Kein unnützes Wort!« unterbrach ich ihn. »Diese beiden Fukara sind die Schlüssel zum Rätsel, welches zu lösen ist. Wir müssen sie unbedingt haben!«

»Auch mit Gewalt?«

»Ja, wenn sie sich wehren! Nimm du den andern; ich fasse Sallab. Aber seine Stute ist pfeilschnell. Gieb mir meinen Assil! Jeder sein Pferd, welches er kennt. Rasch, rasch!«

Wir sprangen ab und wechselten die Tiere. Dann ging es vorwärts, hinter den Fliehenden her.

»Nimm dich in acht!« rief ich Halef noch zu. »Sie könnten doch verborgene Waffen bei sich führen!«

»Keine Sorge, Sihdi! Hamdulillah! Endlich, endlich einmal eine Hetze, eine wirkliche, wahrhafte Hetze! Wohlan! Jallah, jallah, jallah!«

Das Umtauschen unserer Pferde hatte keine Minute in Anspruch genommen, dennoch waren die Fukara schon weit von uns entfernt; Sallab ritt voran. Wie die Sache lag, durfte ich mich auf keine lange Jagd einlassen. Da der Kreuzungspunkt jenseits des Berges lag, konnten die Dschamikun in der Nähe sein. Wir mußten die Flüchtlinge also so bald wie möglich fassen.

»Assil – Assil! Ramchchchchch, ramchchchchch!«

Das war die Aufforderung zum schnellsten Galopp. Ich streichelte ihm den Hals. Er flog. Die Vorderhufe berührten noch den Boden, so griffen die hinteren schon vor. Es war eine Lust, dieses Gefühl, als ob man nur den freischwebenden Sattel und gar kein sich bewegendes Tier unter sich habe! Ich kam den beiden Fukara schnell näher. Da sah Sallab sich um. Ich hörte, daß er einen Schrei ausstieß. Er trieb sein Pferd an; es vergrößerte die bisherige Schnelligkeit. Der andere schlug auf das seine ein, blieb aber zurück. Nach kurzer Zeit hatte ich ihn erreicht. Indem ich an ihm vorüberflog, that ich das so nahe, daß ich ihn erreichen konnte. Er saß halb nach vorn gebeugt. Ich stieß ihm die Faust in die Seite. Die Kraft meines Stoßes wurde durch Assils ungemeine Schnelligkeit verdoppelt. Der Fakir flog aus dem Sattel, und hinter mir erscholl die Stimme Halefs:

»Ich ergreife ihn! Ich halte ihn! Ich bringe ihn. Schau nur noch nach dem andern, Sihdi!«

Ich sah gar nicht nach dem Hadschi zurück, denn ich wußte ja, daß er thun werde, was ich erwartete. Aber Sallab schaute sich wieder um, und da er mich in solcher Nähe hinter sich sah, mußte er erkennen, daß ich ihn in einer Minute eingeholt haben werde. Ich behielt ihn scharf im Auge und sah, daß er dreimal mit beiden Händen auf beide Halsseiten seines Pferdes schlug und dabei ein Wort ausrief, welches ich nicht verstehen konnte.

Sollte dies das Geheimnis der Stute sein? War dieser Fakir ein solcher Freund und Vertrauter des Ustad, daß dieser es ihm mitgeteilt hatte? Meine Frage wurde sofort beantwortet: Die Stute lief nicht mehr, sondern sie raste! Es war das Geheimnis gewesen. Kaum hatte er es gegeben, so war seine Entfernung von mir schon verdoppelt. Ich mußte also auch das meinige anwenden. Indem ich mich weit vorbog, legte ich Assil die Hand zwischen die Ohren und sagte dreimal seinen Namen. Dieses Zeichen war gewählt worden, weil es sehr schwer auszuführen ist. Nur ein Reiter, welcher eines arabischen Renners würdig ist, wird es fertig bringen, im schärfsten Galoppe die Ohren seines Pferdes mit der Hand zu erreichen.

Die Wirkung war eine großartige. Zunächst schien es für einen Moment, als ob Assil haltenbleiben wolle. Es ging wie ein Zittern durch seinen ganzen Körper. Dann ließ er ein tiefes, schnaubendes Stöhnen hören, ein Stöhnen dankbarer Willensfreudigkeit. Und aber nun – nun kam es mir vor, als ob die Beine nicht mehr zu sehen seien, so unglaublich schnell bewegten sie sich. Die Büsche und Bäume flogen förmlich an mir vorüber. Der Boden des Thales kam wie auf einer sich drehenden Walze auf mich zugeflossen, um hinter mir zu verschwinden. Die stehende Luft des Thales wurde in blasenden Wind verwandelt. Meine Bewegung glich nicht mehr einem Ritte, sondern einem horizontalen Fallen. Ich konnte nicht anders: ich jauchzte auf, worauf Assil schnaubend frohe Antwort gab.

Das war ein ganz anderes Wettreiten, als ich mit Halef beabsichtigt hatte! Die berühmte, pfeilschnelle Stute des Ustad und das beste Blut der Haddedihn im Kampfe gegen einander! Nicht im Scherz, sondern im Ernste! Beide mit geöffneten Geheimnissen und sich anstrengend, ihr Bestes, ihr Alles herzugeben! Wer wird siegen?

Diese Frage blieb mir höchstens eine Viertelminute lang eine Frage. Sie verwandelte sich in die Antwort, als ich sah, daß das Geheimnis die Stute aufgeregt hatte. Das Spiel ihrer Glieder war von wunderbarer Leichtigkeit, aber nicht regelmäßig. Sie zeigte bald die rechte, bald die linke Flanke. Bald sah ich ihren Kopf auf dieser, bald auf jener Seite. Schon nach kurzer Zeit kam es mir vor, als ob sie sich nicht immer gleich, sondern in bemerkbaren Pulsen vorwärts bewege. Wahrscheinlich hatte man sie seit langem nicht mehr geübt, im Geheimnisse zu rennen, und darum wurde ihr nun jetzt die Lunge kurz und schwer. Dazu kam, daß der Reiter kein Mann für ein Pferd dieser Gattung war. Ob man überhaupt gewohnt ist, einen Fakir reiten zu sehen, mag hier Nebensache sein. Mit Sallab mußte es in dieser Beziehung eine ganz besondere Bewandtnis haben. Aber er saß jetzt während des Geheimnisses nicht anders als bei einem ganz gewöhnlichen Galopp im Sattel. Ich vermutete, daß er seine eigne Lunge nicht zu regulieren und dem Pferde überhaupt keine Erleichterung zu geben wisse. Eine innere Fühlung zwischen ihm und dem Tiere gab es nicht, denn ich sah, daß er, um Steinen und anderen Hindernissen auszuweichen, die Zügel zu Hilfe nahm. Das thut man doch nicht, wenn die Energie des Reiters mit der seines Pferdes in guter, innerlicher Verbindung steht!

Wie wunderbar glatt und gleich ließ dagegen Assil seine Kräfte spielen. Das war es ja: es glich einem Spiele, keiner Anstrengung. Es war, als ob er nicht mehr Körper, sondern nur noch Willen sei. Er ging über Löcher und Steine hinweg, oder er vermied sie, ohne daß seine Rückenlinie sich dabei zu heben oder zu senken schien. Der Schlag seiner Hufe wettete an Regelmäßigkeit mit dem Ticken einer Uhr. Die Mitte seiner Stirn wich keinen Augenblick lang und keinen Zoll breit von der Gesamtrichtung seines Körpers ab. Von seinem Atem war kein Hauch zu spüren. Die Schnelligkeit, von der ich vorhin sprach, war nicht mehr da; an ihre Stelle war die Unbegreiflichkeit getreten.

So kam ich dem Fakir näher und immer näher. Er drehte sich immer öfter um und begann, das Pferd zu schlagen. Ich war kaum zehn Längen hinter ihm, als er die Unvorsichtigkeit beging, es auch noch mit den Füßen zu bearbeiten.

»Halt ein!« rief ich ihm zu. »Im Geheimnisse schlägt und stößt man nie ein Pferd!«

Kaum hatte ich dies gesagt, so bewahrheitete es sich. Die Stute gab ihre Windeseile auf, fiel in Galopp, that einen Seitensprung, einen zweiten wieder zurück, und – der Fakir flog aus dem Sattel! Ich schoß sofort weit über ihn hinaus, gab aber schnell das Zeichen und nahm mit dem Zurufe »Andak!« das Geheimnis wieder zurück. Fast noch im Fluge ging Assil einen Bogen, fiel dabei durch Galopp und Trab in Schritt und blieb da stehen, wo der Fakir von der Erde aufstand und sich prüfte, ob und wo er vielleicht Schaden genommen habe.

»Warum bist du vor uns geflohen?« fragte ich ihn, indem ich abstieg.

»Sihdi, dein Pferd ist kein Pferd, sondern ein Dschinni!« antwortete er.

»Ich habe dich nicht nach meinem Pferde gefragt! Bist du verletzt?«

»Nein. Allah sei Dank!«

»So hole Sahm herbei!«

»Sahm?« fragte er erstaunt. »Du kennst den Namen dieser Stute?«

»Ich weiß noch mehr, mehr als du denkst. Aber eins weiß ich nicht und kann es nicht begreifen: Warum bist du vor uns erschrocken und hast die Flucht ergriffen?«

»Weil – weil –«

Er sprach nicht weiter, sah mir forschend ins Gesicht und senkte dann den Kopf.

Da trat ich nahe zu ihm hin und sagte:

»Du scheinst früher von dem Scheik der Haddedihn und mir gehört zu haben?«

»Ja.«

»Gutes oder Böses?«

»Nur Gutes.«

»Und hältst uns doch für schlimme Menschen?«

»Nein.«

»Doch! Denn gute Menschen flieht man nicht!«

»So lange sie gut sind, ja!«

»Sind wir es etwa nicht mehr?«

»Ist der Mensch noch gut, wenn er sich in den Dienst der Bösen stellt?«

»Meinst du die Dinarun?«

»Ja.«

»Wir stehen nicht in ihrem Dienste!«

»Aber in ihrer Freundschaft. Und die Freundschaft solcher Leute macht den besten Ruhm zunichte.«

»Deine Worte klingen mir unverständlich; aber sie haben große Aehnlichkeit mit der Warnung, die mir meine Ahnung gab. Vor allen Dingen muß ich dir sagen, daß wir nie beabsichtigt haben, die Freunde böser Menschen zu sein –«

Ich wurde unterbrochen, weil Halef kam. Er ritt neben dem andern Fakir. Beide unterhielten sich, als ob sie sich im herzlichsten Einverständnisse miteinander befänden. Sobald er mich erblickte, rief er mir zu:

»Assil hat gesiegt?«

»Ja,« antwortete ich.

»Ich wußte es! Warte, was ich dir zu sagen habe, Sihdi! Es ist von größter Wichtigkeit.«

Er trieb seinen Barkh an, sprang, als er uns erreicht hatte, ab und fuhr eifrig fort:

»Hier werden wir uns niedersetzen, um Beratung zu halten. Weißt du, Sihdi, wer und was unsere Dinarun sind?«

»Nun?«

»Wir sind dumm gewesen, ganz unendlich dumm! Sie sind gar keine Dinarun, sondern Ausgestoßene, Ausgestoßene aus allen Stämmen, die es in dieser Gegend giebt. Jeder Mensch, der ein Verbrechen, eine schlechte That begangen und sich mit Schande beladen hat, geht zu ihnen, um sich ihnen anzuschließen. Sie leben nur von Diebstahl, von Raub und ähnlichen Unternehmungen. O, Sihdi, wir haben diesen Leuten ein Vertrauen geschenkt, welches sie gar nicht verdienen. Du bist zwar ein ganz klein wenig klüger gewesen als ich, aber sehr viel trägt das auch nicht aus. Ich möchte dir eine Ohrfeige geben, mir selbst aber zehn oder zwanzig oder auch fünfzig. Aber weil ich dich viel zu sehr achte und liebe, als daß ich sie dir wirklich geben könnte, so muß ich natürlich auch auf meine fünfzig verzichten!«

Sein Aerger war sehr echt, denn ohne diese Echtheit wäre es ihm, der so viel auf seine persönliche Ehre hielt, gar nicht eingefallen, in Gegenwart der beiden Fukara so despektierlich von sich selbst zu sprechen. Was mich betrifft, so war es mir willkommen, endlich Klarheit zu erlangen; aber ich wollte vermeiden, eine begangene Unvorsichtigkeit durch eine zweite, vielleicht noch größere wieder gutmachen zu wollen. Darum fragte ich ihn:

»Weißt du gewiß, daß unsere bisherigen sogenannten Freunde keine Dinarun sind?«

»Ja.«

»Wer hat es dir gesagt?«

»Dieser Fakir.«

Er deutete auf ihn.

»Und du glaubst ihm?«

»Natürlich! Unter Fukara darf keine Lüge sein!«

»Das ist erstens nicht ganz richtig, und zweitens muß ich dich fragen: Könntest du darauf schwören, daß diese beiden Fukara wirkliche Fukara sind?«

»Maschallah! Welche Frage! Richte sie doch nicht an mich, sondern an sie selbst!«

Da wandte ich mich an Sallab:

»Sei aufrichtig! Meine Frage soll der Prüfstein deiner Ehrlichkeit sein. Bist du ein Fakir?«

Da antwortete er:

»Du bist Kara Ben Nemsi, der Mann aus Dschermanistan, und wir wissen, daß aus Dschermanistan nie ein böser Mensch zu uns gekommen ist. Darum will ich ehrlich sein. Ich bin kein Fakir und dieser mein Begleiter ist auch keiner!«

»So heißest du gar nicht Sallab?«

»Nein.«

»Wie denn?«

»Ich legte mir aus guten Gründen den Namen des bekannten Fakirs bei. Aber wer ich eigentlich bin, das darf ich dir so lange nicht sagen, als du dich für verbunden hältst, diesen Räubern Unterstützung zu erweisen.«

»Haben sie uns belogen, so ist das, was wir ihnen versprochen haben, so gut wie nicht gesprochen!«

»Nun, sie haben euch belogen!«

»Kannst du das beweisen?«

»Beweisen? Was verlangst du für Beweise?«

Ich muß gestehen, daß er mich mit dieser Frage in Verlegenheit brachte. Ich antwortete ihm:

»Sie haben sich als Dinarun bezeichnet, und du behauptest, daß sie keine seien. Du selbst aber gestehst ein, daß du als Fakir Sallab eine Lüge seist. Von dir ist die Unwahrheit erwiesen, von ihnen aber nicht.«

Wir hatten uns niedergesetzt, alle vier. Der Alte senkte den Kopf, sah einige Zeit sinnend vor sich nieder, hob ihn dann wieder und fragte:

»Ihr seid mit denen, die sich Dinarun nennen, gegen die Dschamikun ausgezogen. Wir sind Dschamikun. Ihr habt uns gefangen. Was werdet ihr mit uns thun?«

»Wir lassen euch frei. Ihr könnt reiten, wohin ihr wollt.«

»Gleich jetzt?«

»Ja.«

»Reiten?«

»Natürlich!«

»So wollt ihr nicht wenigstens unsere Pferde als Beute behalten?«

»Nein.«

»Aber bedenke, was für ein Pferd die Stute ist!«

»Kein Mann aus Dschermanistan wird jemals in euer Land kommen, um Beute zu machen!«

»So segne dich Allah, und so segne er auch alle, welche in deiner Heimat dieses menschenfreundlichen Gedankens sind! Du hast dich soeben als ein Mann erwiesen, der das, was er zu sein vorgiebt, auch wirklich ist, nämlich ein Christ. Die Nächstenliebe und Selbstlosigkeit, welche Isa Ben Marryam von allen fordert, die sich nach seinem Namen nennen, ist bei dir nicht bloß ein leerer Schall, sondern sie leitet dein Leben, dein Reden und dein Thun. Ich aber kann dir leider jetzt, in diesem Augenblicke, nicht den von dir geforderten Beweis erbringen, daß das, was ich sage, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Erst die Thatsachen des morgenden Tages werden dir zeigen, daß du mir heute Vertrauen schenken konntest. Wäre dieser Nafar Ben Schuri im gegenwärtigen Augenblick hier bei uns, so würde er eingestehen müssen, daß ich die Wahrheit über ihn gesprochen habe. Du sollst von mir erfahren, was diese Wahrheit sagt.«

Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort:

»Nafar hat als Oberster der Ausgestoßenen unten in Bagdad und Bassora Späher, von denen er alles für ihn Wichtige erfährt, was dort geschieht. Von ihnen kam die Kunde von euren herrlichen Pferden, von den unvergleichlichen Gewehren, welche euch beiden die Stärke eines ganzen Stammes verleihen. Man teilte ihm mit, daß ihr kommen würdet, und er nahm sich vor, euch diese Schätze abzunehmen. Er ließ euch unterwegs beobachten, ohne daß ihr es bemerktet. So erfuhr er, wann und wo ihr kamt. Euch offen zu überfallen, das wagte er nicht, weil er eure Waffen fürchtete. Darum entschloß er sich zur List. Ihr solltet seine Gäste sein und einen Schurb en Nom von ihm bekommen.«

»Bei ihm? Von ihm?« unterbrach ihn Halef. »Das war doch nicht bei ihm!«

»Höre mich nur weiter!« antwortete der Alte. »Man hatte am Wasser auf euch gewartet, weil anzunehmen war, daß ihr dort bleiben würdet. Ihr kamt. Man stellte sich bescheiden; man hütete sich, euch durch Aufdringlichkeit mißtrauisch zu machen. Darum war man in Verlegenheit, wie man euch den Schurb en Nom werde beibringen können. Da aber batet ihr selbst um Kaffee. Man that den schon bereitgehaltenen Afiun hinein und gab euch das Getränk, welches ihr trotz seiner Bitterkeit bis auf den letzten Tropfen zu euch nahmt. Dann schlieft ihr ein. Man wollte euch nur berauben, nicht ermorden. Aber selbst als ausgeraubte Männer hatte man euch zu fürchten, eurer Erfahrung, eurer Klugheit, eurer Kühnheit wegen. Darum mußtet ihr über die, welche euch den Trank der Schläfrigkeit reichten, im Irrtum sein; also ließ sich Nafar Ben Schuri gar nicht bei euch sehen, und darum lauerte er nicht mit allen seinen Leuten auf euch, sondern er schickte nur wenige Männer an das Wasser, welche dann nach vollbrachter That leicht verschwinden konnten. – Diese That gelang, und der darauffolgende Regen deckte sogar ihre Spuren zu. Aber als man eben begonnen hatte, des vollbrachten Raubes froh zu werden, mußte man die Vergeblichkeit desselben erkennen. Eure Gewehre gingen von Hand zu Hand, doch niemand konnte entdecken, auf welche Weise man mit ihnen zu schießen habe. Sie waren für die Unwissenheit wertlos. Und eure Pferde ließen keinen Reiter aufsitzen. Man wollte sie zwingen, doch war die Folge, daß dabei zwei Männer verletzt wurden. Es galt also, die Geheimnisse der Pferde und der Waffen zu erfahren, und das konnte nur durch euch erreicht werden.«

»Allah, wallah, tallah!« rief Halef zornig aus. »Wir werden diesen Schurken unsere Heimlichkeit derart offenbaren, daß ihnen vollständig unheimlich dabei werden soll! Sprich weiter!«

»Nafar Ben Schuri faßte den klugen Plan, als euer Retter aufzutreten. Er war überzeugt, daß die Dankbarkeit euch verleiten werde, eure Geheimnisse gegen ihn nicht als Geheimnisse zu betrachten. Man mußte euch da zwar alles wiedergeben, aber doch nur für kurze Zeit. Er schickte also die Thäter nach einer bestimmten Stelle, wo sie sich ruhig überfallen lassen sollten, und ritt euch dann entgegen, denn er nahm ganz richtig an, daß ihr nicht umkehren, sondern weitergehen würdet, um nach den Uebelthätern zu suchen. Auf welche Weise er diesen seinen Plan ausgeführt hat, das wißt ihr besser, als ich es weiß. Ihr habt ihm ja dabei geholfen!«

»Ja, das haben wir allerdings!« gestand Halef ein. »Wir haben diesem Manne geglaubt und ihm vertraut. Wir haben ihm die Gefangenen überlassen und nicht einmal nach den Leichen und Gräbern derer gefragt, die ihr ihm getötet habt!«

»Wir? Ihm? Ja, ich weiß gar wohl, welche Fabel euch erzählt worden ist; aber wo es keine Leichen giebt, kann es auch keine Gräber geben. Es ist ihm kein einziger Mann getötet oder auch nur verletzt worden.«

»Was? Wie? So ist auch das eine Lüge?«

»Ja. Wir töten nicht! Unser Glaube verbietet uns den Angriff gegen das Leben derer, die selbst dann unsere Brüder sind, wenn sie die Thorheit begehen, sich als unsere Feinde zu betrachten.«

»Allah! Welch ein Glaube! Welche Friedfertigkeit! So seid ihr also Christen?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht! Erst dann, wenn ich Christen kennen gelernt habe, kann ich dir sagen, ob wir welche sind. Nicht wir haben Blut vergossen, sondern Nafar Ben Schuri hat es gethan. Seine That hat mir, grad mir das Herz so schwer, so tief verwundet. Und dieses Herz, es will laut auf um Rache schreien, weil ich ein Mensch mit menschlichen Gefühlen bin. Aber da oben, wo der Himmel in stillen Stunden für mich offen ist, da steht ein lichtes, großes Wort geschrieben, welches das irdische Gesetz der Rache überstrahlt. ›Ed dem b’ed dem!‹ schreit das Menschenherz zum Himmel auf, wenn der Rauch vergossenen Blutes aufwärts steigt; von droben aber rufen tausend Engel ihr ›es Samah!‹ nieder, und bei diesem heiligen Gebot muß jede Wunde schweigen!«

Er war aufgestanden und ging, innerlich erregt, eine kleine Weile hin und her. Ich sah jetzt nicht den Schmutz, der sein Gesicht entstellte, und nicht die Lumpen, die ihn häßlich machten. Aber ich sah den tiefen Schmerz, der seine Augen füllte, und ich sagte mir, daß wir diesem Mann wohl vertrauen dürften. Als er sich beruhigt und wieder niedergesetzt hatte, sprach er weiter:

»Ich will annehmen, daß ihr euern Bund mit Nafar Ben Schuri für zerrissen halten werdet, und betrachte es darum als keinen Fehler, euch schon jetzt zu sagen, was ihr eigentlich erst später erfahren solltet. Nämlich der Tir unseres Stammes, zu welchem ich gehöre, hat sich von den andern Dschamikun abgesondert, weil wir Muhammed zwar für einen Propheten, seine Lehre aber nicht für seligmachend halten. Wir sind nicht mehr Nomaden, sondern wohnen in Häusern, welche wir nur im Sommer mit Zelten vertauschen. Wir haben Gärten und Felder, welche wir bebauen, und Herden, deren Ertrag wir auf den Markt von Isfahan liefern. Unsere Ernten sind reich an Galläpfeln, Mastix, Mannah, Sesam und Tabak. Mit dem letzteren versorgen wir fast ganz Chusistan. In Beziehung auf den Ruf, in dem wir stehen, füge ich hinzu, daß sich unausgesetzt hundert unserer jungen Leute bei der Leibgarde des Schah-in-Schah befinden, obgleich der Beherrscher sehr wohl weiß, daß sie ihre Waffen niemals verwenden würden, unschuldiges Blut zu vergießen. Ich bin der Scheik und werde nicht bei meinem Namen, sondern Peder genannt. Hoch über mir und allen andern aber steht der Ustad, vor dessen Ehrwürdigkeit wir uns in Liebe und Gehorsam beugen. Ihr werdet ihn sehen; das hoffe ich.«

»Ist er in eurem Stamm geboren?« erkundigte ich mich, indem ich an die Angabe Nafars dachte.

»Nein. Wenn du Auskunft über ihn haben willst, so wende dich an ihn selbst. Er ist für uns ein Bote des Himmels, für den wir keine solchen Fragen haben. Wir leben in steter Eintracht unter uns und halten Frieden mit allen andern Menschen. Als wir uns um unseres Glaubens willen von den andern Dschamikun trennten, wurden wir eine Zeitlang von ihnen heftig angefochten und sehr hart bedrängt. Nun aber haben sie eingesehen, daß dieser Glaube auch für sie nur Güte und nur Vorteil hat. Sie sind uns wieder Freund geworden. Zu hüten haben wir uns nur noch vor den Ausgestoßenen, welche euch gesagt haben, daß sie Dinarun seien. Sie leben nur vom Raube, wobei sie selbst den Mord nicht scheuen. Wir aber nennen sie nur Massaban, weil unser Chodeh nicht will, daß wir diejenigen, welche uns leid thun, mit einem bösen Wort bezeichnen. Diese Massaban, deren oberster Anführer Nafar ben Schuri ist, schwärmen in einzelnen Trupps überall herum, in der Absicht, zu ernten, wo sie nicht gesäet haben. Aber wenn es einen größeren Streich gilt, finden sie sich schnell zusammen. Ein solcher war es, der uns betroffen hat. Unsere Männer waren fast alle auf einem Fest der Leng-i-Karun abwesend –«

»Ich denke, Nafar Ben Schuri war auf einem solchen Feste?« fiel Halef ein.

»Das ist nicht wahr. Er überfiel uns während der Nacht, raubte alles, was er zusammenraffen konnte, und führte auch einen Teil unserer Herden mit sich fort. Hierbei wurden von den wenigen Männern, welche daheim geblieben waren, sechs ermordet. Unter den Toten befand sich mein einziger Nachkomme, mein Enkelsohn, die Freude meiner Augen, die geliebte Abendröte meiner letzten Lebenstage. Als wir am andern Tage heimkehrten, sah ich ihn vor mir liegen, blutbefleckt und mit weit aufgerissenen Augen und im Todesschmerz geballten Händen. In meinem Innern erklangen zwei Stimmen. Die eine rief mir ›Ed dem b’ed dem!‹ zu; die andere aber ließ ihr ›Samah, samah!‹ tönen. Es war ein kurzer, aber schwerer Kampf. Das ›Samah‹ unseres gnadenreichen Chodeh siegte. Ich ließ alle meine Männer zusammenkommen, um zu beraten. Der Ustad stieg von seinem hohen Hause nieder und wohnte der Versammlung bei. Wir sprachen lange hin und her; da gab er seinen Plan und mit demselben unserm Willen Festigkeit. Es wurde beschlossen, der Plage des Landes, welche die Massaban bilden, mit einem einzigen kräftigen Streiche ein Ende zu machen. Wir wollten sie fangen ohne alles Blutvergießen; keiner sollte entgehen. Dann sollten sie dem Sipahsalar geschickt werden, welcher grad jetzt nach Soldaten für Farsistan sucht und keine findet, weil kein Angeworbener hinab nach der ungesunden Grenze gegen Indien will. Wir sandten also einen Boten nach Isfahan, um diese Nachricht hinzubringen, und machten uns zur Verfolgung der Massaban auf. Als sie von uns erreicht wurden, bemerkten sie unsere große Ueberzahl und verloren den Mut, sich zu verteidigen. Sie ließen ihren Raub stehen und liegen und ergriffen die Flucht. Hierauf verwandelte ich mich und meinen Begleiter hier in Fukara und ritt ihnen mit der Stute des Ustad nach, weil für meinen Zweck unter Umständen das schnellste unserer Pferde nötig war. Als sie sich gelagert hatten, ließ ich den Begleiter an einem verborgenen Orte mit den Tieren zurück und ging zu ihnen. Ich gab mich für Sallab aus, dessen Namen sie kannten. Ein Fakir darf nicht fortgewiesen werden. Man duldete mich. Auch ist er ein Mann, der sich nur um religiöse Dinge zu bekümmern pflegt. Man war also in meiner Gegenwart nicht so vorsichtig, wie man es gegen einen andern gewesen wäre. Ich hörte verschiedenes. Es waren Bruchstücke. Aber wenn ich sie zusammensetzte, bekam ich ein fast ganz vollständiges Bild. Das veranlaßte mich, abends, als es dunkel war, mich scheinbar zu entfernen. Aber ich kehrte zurück und belauschte Nafar Ben Schuri, als er mit einigen seiner Leute zusammensaß. Ich hörte, was man gegen euch vorhatte. Gern hätte ich euch gewarnt, aber ich kannte ja die Oertlichkeiten nicht, und ihr mußtet auch schon dort angekommen sein, wo ihr den Schlaftrunk bekommen solltet. Als ich dann wiederkam und bei ihnen saß, hörte ich, daß man eure Waffen gegen uns brauchen wollte. Wir sollten verfolgt werden, denn die Massaban wollten uns ihre verlorene Beute wieder abnehmen. Das war mein Augenblick, den ich sogleich benutzte. Ich that, als ob ich gar nicht aufgepaßt und darum auch gar nichts verstanden hätte, und begann, von dem ›Thale des Sackes‹ zu sprechen. Dahin wollten wir sie nämlich locken, weil dies der einzig passende Ort war, sie so einzuschließen, daß sie sich gar nicht wehren konnten. Nafar Ben Schuri griff meine Worte sofort auf. Er ahnte meine Absicht nicht im geringsten. Sein Gehirn begann, an der Falle zu bauen, deren Entwurf ich ihm hingeschoben hatte, um ihn selbst zu fangen. Um ihn sicher zu machen, stellte ich mich ganz unwissend und erzählte, daß ich auf meinem Wege eine Schar von Dschamikun gesehen habe, welche sehr eilig nordwärts geritten sei.

›Hatten sie Herden?‹ fragte er.

›Nein.‹

›Wie viele waren es?‹

›Wohl einige Hundert.‹

Er glaubte es und dachte nun, wir hätten uns getrennt, und es seien bei den Herden, denen er folgen wollte, nur wenige unserer Leute geblieben. Sein Vorhaben erschien ihm also als sehr leicht ausführbar, und als ich mich dann zum Schlafen niederlegte, konnte ich es mit dem Bewußtsein thun, daß mein Anschlag eine gute Statt gefunden habe. Am andern Morgen erfuhr ich dann auch wirklich, daß beschlossen worden sei, die Dschamikun zu verfolgen und in dem ›Thale des Sackes‹ einzuschließen. Ich hätte nun gehen können, denn meine Absicht war erreicht; aber der Gedanke an euch hielt mich noch fest. Eure Namen sind bekannt. Ich wollte wissen, ob der gegen euch gerichtete Anschlag gelungen sei. Ich wünschte, euch nützen zu können. Da kamen die Massaban, welche euch beraubt hatten. Sie brachten alles mit, was euch abgenommen worden war. Man jubelte. Da aber stellte es sich heraus, daß eure Pferde störrisch und eure Gewehre unbrauchbar seien. Es wurde schnell Rat gehalten und man nahm sich vor, sich euer scheinbar anzunehmen, bis man die Geheimnisse eurer Tiere und Waffen erfahren habe. Wie man das ausführte, wißt ihr ja. Ich bekam dadurch Zeit, meine Dschamikun zu unterrichten. Ich ritt zu ihnen, um ihnen meine Anweisungen zu erteilen, und als ich am anderen Tage zurückkehrte, setzte ich mich zu euch. Ich erfuhr, daß ihr die Massaban wirklich für Dinarun hieltet und ihnen gegen uns helfen wolltet. Nun wußte ich genug und ging. Von der nächsten Anhöhe aus sah ich Kara Ben Nemsi auf dem Berge stehen und winkte ihm warnend zu. Das war für so erfahrene Männer, wie ihr seid, hinreichend, zur Vorsicht zu mahnen. Ich wollte euch helfen. Ich gedachte nicht, euch als unsere Feinde zu betrachten. Ihr solltet zwar mit gefangen genommen, dann aber sofort wieder freigelassen werden. Ich hatte gesehen, daß der Scheik der Haddedihn krank sei. Ich kenne diese Krankheit genau. Sie wird sehr häufig vom Euphrat und vom Tigris zu uns heraufgeschleppt, und wir kennen ein Mittel, welches ganz unfehlbar wirkt. Ich machte darum den Hadschi aufmerksam, wo er das Leben gegen den Tod finden werde, weiß aber nicht, ob ihr mich verstanden habt. Ich wußte alles, auch daß uns Kundschafter nachgeschickt worden waren. Als ich wieder zu meinen Dschamikun kam, beeilten wir uns, die Falle so zu stellen, daß die Massaban ganz gewiß glauben werden, wir seien es, hinter denen sie sich zuzuschließen habe. Auch wir haben Kundschafter. Sie haben euch scharf beobachtet. Als ich den Ort eures letzten Nachtlagers erfuhr, setzte ich mich mit diesem meinem Begleiter zu Pferde, um euch mit eigenen Augen zu beobachten. Wir dachten nicht an die Möglichkeit, daß es jemandem von euch einfalle, von euerm Wege abzuweichen. Da trafen wir auf euch.«

»Und wendetet sogleich die Pferde, um die Flucht zu ergreifen! Warum thatet ihr das?« fiel hier Halef ein.

»Durften wir euch trauen?« fragte der alte Scheik lächelnd.

»Nein. Du hast recht. Aber wie steht es nun jetzt? Wie denkt ihr nun von uns?«

Da stand Peder wieder von seinem Platze auf, stellte sich in feierlicher Haltung vor uns hin und antwortete:

»Ihr habt uns gefangen, aber wieder freigegeben. Das war eine That des Vertrauens und der Ehrlichkeit. Ich will nicht minder ehrlich sein als ihr. Ja, ich bin es schon gewesen! Ich habe euch gesagt, daß wir den Massaban eine Falle gestellt haben, in welche sie gehen sollen. Wenn ihr ihnen das mitteilt, falls ihr ihnen mehr glaubt als uns, so ist diese unsere Mühe vergeblich gewesen. Ich spreche keine Bitte aus. Dieses mein Schweigen mag euch sagen, was ich von euch denke.«

Nun sprang auch Halef auf. Ich sah ihm an, daß er seinem schnellen Temperamente folgen wollte. Er besann sich aber, wendete sich zu mir und fragte:

»Hörst du es, Sihdi? Der Scheik der Dschamikun giebt sich wehrlos in die Hände unserer Rechtschaffenheit! Ich wollte ihm sagen, was wir thun werden; aber sag du es ihm!«

Ich folgte dieser Aufforderung, indem ich mich erhob und dem Alten die Hand reichte:

»Wir glauben dir! Deine Falle wird sich ganz gewiß bewähren, denn wenn die Massaban zögern sollten, hineinzugehen, werden wir sie hineinführen. Am liebsten ritte ich jetzt mit dir zu deinen Leuten; aber wir betrachten uns von diesem Augenblicke an als deine Freunde und Verbündete und wollen nicht der unverdienten Ruhe pflegen, sondern das unsere dazu beitragen, daß euer Vorhaben gelinge und diese Landplage unschädlich gemacht werde.«

»Das, das wollt ihr wirklich thun?« fragte Peder im Tone der Freude.

»Ja. Darum bitten wir dich, uns das Nötige über die Lage des ›Daraeh-y-Dschib‹ mitzuteilen, damit wir keine Fehler machen. Aber thue das schnell und kurz, denn wir müssen nun zu den Massaban zurückkehren, wenn sie nicht wegen unseres zu langen Ausbleibens mißtrauisch werden sollen.«

Ich kann diese seine Instruktionen hier übergehen, weil sich ihr Inhalt aus dem Nachfolgenden ergeben wird. Peder beschrieb die Oertlichkeiten so genau, daß ich eine hinreichende innere Anschauung von ihnen bekam. Auch über die Falle, in welche die Massaban geführt werden sollten, sprach er sich in der Weise aus, daß wir nicht im Zweifel darüber waren, wie wir uns zu verhalten hatten. Dann trennten wir uns von ihm und seinem Begleiter, und zwar in ganz anderer Weise, als wir vorhin mit ihnen zusammengetroffen waren. Sprachlich will ich hier noch bemerken, daß das persische Wort Peder (Vater) nicht etwa wie der deutsche Name Peter, sondern mit dem Tone auf der letzten Silbe, also Pedehr, ausgesprochen wird.

Als wir hierauf nun Seite an Seite um den nördlichen Fuß des Berges herumritten, sagte Halef zu mir:

»Jetzt wissen wir nun endlich genau, woran wir mit diesen Lügnern und Betrügern sind. Wie schwer wird es mir fallen, nun auch Betrüger zu sein!«

»Betrüger? Wieso?«

»Weil wir ihnen doch nicht merken lassen dürfen, daß wir alles wissen. Wir müssen uns verstellen, müssen uns als Freunde gebärden, und das, das fällt mir ganz entsetzlich schwer, Sihdi! Wenn ich nicht sagen darf, was ich denke, so sage ich lieber nichts!«

»Ganz richtig! Ich bitte dich, genau nach diesem Worte zu handeln, doch nicht nur in Beziehung auf das Sprechen. Auch alles, was du thust, muß verschwiegen sein. Du darfst durch keine Bewegung, durch keine Miene verraten, daß du mehr weißt, als du wissen sollst.«

»Das ist es ja eben, was mir schwer fällt!«

»Es ist leichter, als du denkst. Man muß sich nur hüten, gesprächig oder gar geschwätzig zu sein. Wir brauchen uns nur genau so zu verhalten, wie wir es gethan haben, seit wir auf die Spuren getroffen sind. Dann wird es einer großen Verstellungskunst gar nicht bedürfen. Auch ich gebe mich nicht gern anders, als ich bin; aber wenn in diesem gegenwärtigen Falle Klugheit gegen Arglist und Schweigsamkeit gegen Verstellung gehalten wird, so kann das ganz unmöglich eine Sünde sein. – Hat dich unser Eilritt angegriffen, Halef?«

Ich fragte so, weil ich sah, daß er jetzt nicht mehr stramm im Sattel saß. Da nahm er sich sofort zusammen, richtete sich auf und antwortete:

»Angegriffen? Mich? Wie kann mich ein Ritt angreifen, der die größte Wonne ist, die ich mir zu Pferde vorstellen kann? Sei doch so gut, jetzt ja nicht an die Krankheit zu denken! Du siehst doch jedenfalls ein, daß der Hauptteil unseres Erlebnisses mit den Massaban erst jetzt beginnen soll. Meinst du, daß ich da dem alten Weibe erlauben werde, mich von den Thaten, welche geschehen sollen, auszuschließen? Wir werden es kurz machen. Wahrscheinlich sind wir schon morgen mit diesen Leuten fertig. Und so sage ich dir: So lange wir sie nicht in der Falle haben, so lange würde selbst der Tod nichts über mich vermögen. Und wenn er mich niederwürfe, ich würde doch wieder aufstehen, um ihnen zu beweisen, daß sie sich in uns verrechnet haben. Laß uns machen, daß wir schnell zu ihnen kommen!«

Nicht lange hierauf hatten wir den Berg umkreist und stießen auf die Fährte der Massaban, welcher wir folgten, bis wir den Reiterzug an einer Stelle einholten, wo von dieser und der nächsten Höhe aus sich ein ebenes Tafelland nach Osten zog. In diese Ebene ritten wir nun hinaus, ohne daß uns jemand nach dem Verlauf unserer Reitpartie gefragt hätte. Man verhielt sich still gegen uns, und das war uns nur lieb.

Nach einiger Zeit sahen wir auf der Fläche vor uns mehrere Reiter erscheinen, welche, als sie uns erblickten, schnell auf uns zukamen. Nafar Ben Schuri ritt ihnen entgegen und sprach längere Zeit mit ihnen. Dann gab er das Zeichen zum Weiterreiten. Diese neu zu uns gestoßenen Massaban machten nun die Führer.

»Ob das wohl die erwarteten Kundschafter sind?« fragte Halef.

»Jedenfalls,« antwortete ich.

»Warum meldet er uns nicht, was sie ihm berichtet haben?!«

»Laß ihn! Es ist die Laune des bösen Gewissens. Er spielt den Gekränkten, freilich ohne zu wissen, daß dieses sein Schmollen uns sehr willkommen ist.«

»Aber, haben wir es uns gefallen zu lassen? Wir sind nicht seine Untergebenen, sondern stehen über ihm. Er ist doch der Meinung, daß wir ihm helfen sollen, und da hat er uns doch unbedingt zu berichten, welche Meldung ihm gebracht worden ist!«

»Hätten wir uns noch als seine Helfer zu betrachten, so würde ich mir diese Zurücksetzung freilich verbitten. Nun aber, da sich die Sache so ganz anders gestaltet hat, kommt mir sein Schweigen sehr gelegen. Dein Selbstgefühl kann sich beruhigen, lieber Halef. Du weißt ja doch, daß die Strafe nicht auf sich warten lassen wird.«

»Das läßt mich allerdings den Verweis, den ich ihm geben möchte, in den Abgrund meines Zornes fallen lassen. Dort mag er bis zur Stunde der Vergeltung liegen bleiben!«

Das gekränkte Ehrgefühl meines kleinen Hadschi brauchte nicht länger als ein kleines Viertelstündchen zu warten, um zu Worte kommen zu können. Schon nach dieser kurzen Zeit stießen wir auf eine von Süden herüberstreichende breite Fährte, welche diejenige der Dschamikun mit ihren Herden war. Gleich der erste Blick belehrte uns, daß diese Pferde- und Wiederkäuerspuren über einen Tag alt waren, ein außerordentlich wichtiger Umstand, den aber weder die Kundschafter, noch Nafar Ben Schuri beachteten. Jetzt hielt er es nun für an der Zeit, einige Worte an uns zu richten:

»Das ist der Kreuzungspunkt, von dem ich zu euch sprach. Ihr seht, daß wir die Dschamikun glücklich eingeholt haben.«

Eingeholt! Wie er sich irrte! Sie waren ja schon gestern hier vorübergekommen und hatten also mehr als genug Zeit gehabt, ihre Falle zu stellen. Seine Kundschafter taugten nichts. Natürlich hüteten wir uns, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß seine Ansicht eine durchaus falsche sei. Er fuhr fort:

»Diese Räuber und Mörder machen hier, indem sie weit nach Osten hinaus abbiegen, den Umweg, der sie in unsere Hände bringen wird. Indem wir ihnen nicht folgen, sondern geradeaus nach Norden reiten, kommen wir ihnen zuvor und gewinnen mehr als genug Zeit, das Daraeh-y-Dschib zu besetzen.«

»Wie weit ist es von hier bis dorthin?« erkundigte ich mich.

»Wir sind schneller gewesen, als wir vorher dachten. Wenn wir uns sputen, können wir es noch vor dem Eintritt der Dunkelheit erreichen.«

»Meinst du, daß die Dschamikun dann morgen kommen?«

»Eher keinesfalls.«

»Und unser Nachtrab? Wo bleibt der?«

Diese Frage schien ihm ganz unerwartet zu kommen. Er machte eine verlegene Miene. Ich hatte sie ausgesprochen, weil mir daran lag, die Massaban alle zusammen in das Netz zu bekommen. Auch die, welche sich noch hinter uns befanden, sollten mit dabei sein.

»An den Nachtrab habe ich gar nicht gedacht, weil es nicht nötig ist,« erklärte er.

»Nicht nötig? Willst du haben, daß deine Absicht durch ihn verraten und die Ausführung desselben dadurch verhindert werde?«

»Wieso verhindert?«

»Sonderbare Frage! Wann wird der Nachtrab am ›Thale des Sackes‹ ankommen?«

»Morgen.«

»Und die Dschamikun kommen auch morgen? Sie werden ihn sehen und sofort über ihn herfallen!«

»Maschallah! Das ist richtig! Das muß verhütet werden! Sihdi, gieb uns deinen Rat! Was meinst du, daß wir thun?«

»Es ist nur eines möglich: Deine Dinarun haben uns zu folgen und sich noch während der Nacht bei uns im Thale einzustellen.«

»Im Thale?«

»Ja.«

»Nicht an oder bei dem Thale?«

»Nein. Wenn du fähig wärest, einen so unverzeihlichen Fehler zu begehen, würde ich mit dem Scheik der Haddedihn sofort umkehren und euch keinesfalls weiter begleiten, weil wir überzeugt sein würden, daß dein so schön angelegter Plan dann für uns unheilvoll werden müßte. Wir haben diese Nacht natürlich in dem Thale, keineswegs aber bei demselben zuzubringen.«

»Warum?«

Ich gab mir den Schein der Ungeduld, indem ich antwortete:«

»Denkt ihr denn gar nicht nach? Wenn wir eine ganze Nacht lang in der Nähe des Thales lagern, so giebt das Spuren, welche noch wochenlang zu sehen sind. Die Dschamikun müßten doch blind sein, wenn sie diesen unverzeihlichen Selbstverrat nicht bemerkten! Und nach einer so handgreiflichen Warnung wäre es nur Wahnsinnigen zuzumuten, in die Falle zu gehen. Der Felsengrund des Thales aber nimmt keine Spuren an, die zur vorzeitigen Entdeckung führen können. Außerdem bieten uns die hohen Steinwände Schutz gegen jede Unbill der Nacht. Und drittens befinden wir uns, wenn die Entscheidung naht, gleich frühmorgens an Ort und Stelle und können so wunderbar schön versteckt bleiben, daß bis zum letzten Augenblicke kein Dschamiki ahnen kann, wie nahe sein Verderben ist.«

Ich sah ihm an, daß ich ihn überzeugt hatte. Auch auf den Gesichtern seiner Leute, welche meine Worte gehört hatten, war nichts als Zustimmung zu lesen. Da sagte er:

»Ich höre, daß du dir die Sache gut überlegt hast. Auch ich hatte schon so ähnliche Gedanken. Wir sind bereit, deinen Vorschlag auszuführen. Die Kundschafter mögen hier bleiben, um den Nachtrab, sobald er ankommt, hinunter nach dem Daraeh-y-Dschib zu geleiten. Nun aber müssen wir uns beeilen, weil es im Thale eher finster wird als außerhalb desselben.«

Die Späher stiegen von den Pferden und setzten sich nieder. Der Zug ritt weiter, ich mit Halef hinterdrein. Der letztere sprach, als uns niemand hörte:

»Sihdi, das hast du pfiffig gemacht! Jede Lüge vermieden und doch unseren Zweck erreicht! Leider haben diese Menschen keine Ahnung von der Lehre, die du ihnen jetzt gegeben hast.«

»Welche Lehre, Halef?«

»Das fragst du mich? Du selbst, der sie erteilte?«

»Sprich sie nur aus, damit sie hörbar werde!«

»Beide können klug sein, der Böse sowohl als auch der Gute. Aber wenn es zum Schlusse kommt, so stellt sich unbedingt heraus, daß nur der Gute wirklich und wahrhaftig klug gewesen ist.«

»Was folgt hieraus?«

»Nichts, als was ich gesagt habe. Das ist doch wohl genug!«

»Drehe es einmal herum!«

»O, Sihdi, was mutest du mir zu! Du weißt ja, daß ich nicht gern Rätsel löse! Und wenn man etwas herumdreht, so wird es verkehrt, und ich werde mich wohl hüten, etwas Verkehrtes zu sagen! Drehe du doch selbst es um, damit ich höre, wie es aus deinem Munde klingt!«

»Jedenfalls nicht verkehrt. Aus deinen Worten geht hervor, daß es die wahre Klugheit ist, nur gut, nie aber bös zu handeln. Nafar Ben Schuri ist stolz auf seinen Plan, den er für ungeheuer schlau hält. Von wem aber hat er ihn bekommen? Von dem Peder!«

»Ganz recht! Hast du dir die Augen dieses Mannes betrachtet?«

»Ja.«

»Ich auch. Droben im Lager der Massaban, als er noch als Fakir galt, habe ich ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt aber möchte ich mich fragen, ob ich wohl schon einmal etwas so Schönes wie diese Augen gesehen habe. Es ist mir da ein Gedanke gekommen, und ich kann mir nicht helfen, ich muß ihn dir sagen.«

»Sprich!«

»Wirst du mich auslachen?«

»Nein!«

»Im Herzen des Menschen wohnt entweder der Himmel oder die Hölle, und das Auge ist das Fenster, durch welches entweder Allah oder der Scheitan seinen Blick nach außen richtet. Dieser Peder trägt den Himmel in sich. So oft er seinen Blick auf mich lenkte, war es mir, als ob Allah mich anschaue. Ich könnte diesem Manne niemals etwas thun, was ihn betrüben müßte. – Gieb mir die Medizin!«

Diese letzte Aufforderung kam so unerwartet, daß ich ihn betroffen ansah.

»Habe ich dich erschreckt?« fragte er. »Es ist nichts, wirklich gar nichts! Du brauchst keine Sorge zu haben. Aber ich fühle plötzlich den Hals nicht mehr. Es ist mir, als ob der Kopf frei in der Luft schwebe. Und doch wird er mir ganz plötzlich so schwer, daß ich das Gefühl habe, er werde mir herunterfallen.«

Das war ein schlimmes Zeichen. Nach der bisherigen Aufregung begann das Gegenteil nun einzutreten. Auch ich fühlte eine bedenkliche Eingenommenheit des Kopfes, gab aber doch nur Halef von dem Mittel, obgleich ich es wohl auch hätte nehmen sollen.

Unsere bisherige gute Stimmung war plötzlich eine ganz andere geworden. Die Sonne schien nicht mehr, und nun sie hinter den Bergen verschwunden war, breitete sich die Dämmerung mit der jenen Gegenden eigenen Schnelligkeit über das Land. Dieser äußere Vorgang wollte sich auch in unserm Innern fortsetzen. Kein Mensch, und sei er ein noch so ausgeprägter, kräftiger Charakter, bringt es fertig, sich den Einflüssen der Natur ganz zu entziehen. Er hat an den Leiden und Freuden der Schöpfung teilzunehmen, welche auf ihn, so lange er lebt, niemals verzichten wird.

Halef saß jetzt zusammengedrückt im Sattel, er ließ den Kopf hängen. Was mich betrifft, so fühlte ich mich nicht nur ermüdet, sondern matt. Diese Mattigkeit lag nicht in meiner Natur; sie war mir fremd, war – Krankheit. Wie kam es doch, daß ich grad jetzt an das Hammelfleisch denken mußte, welches wir im Lager der sogenannten Dinarun gegessen hatten? Ich fühlte, daß es mir unmöglich sein würde, gegenwärtig auch nur einen einzigen Bissen davon zu genießen. Schon bloß der Gedanke daran schüttelte mich! War das ein Wink von innen heraus? Wer vermag die dort wohnenden Geheimnisse zu ergründen!

Unser Weg war jetzt ein unausgesetzt abwärts gehender. Der voranreitende Nafar Ben Schuri hatte sichtlich Eile. Es ging in schnellem Tempo teils an Berghängen, teils auch über freie Bodensenkungen hin, bis uns ein kurzes, schmales Thal aufnahm, dessen Mündung uns an den Rand eines »Warr« brachte, welches mich an gewisse Gegenden der inneren Sahara erinnerte.

Unter Warr hat man einen Ort zu verstehen, dessen Boden mit wirr liegenden Felsentrümmern bedeckt ist. Ein solches Warr im wahrsten Sinne sahen wir hier vor uns liegen. Als ob vor Jahrtausenden da ein riesiger feuerspeiender Krater vorhanden gewesen sei, so gerade und steil stieg ringsum das schwarze Gestein zum Himmel auf. Wo lebten die Giganten, welche die Spitzen der rundum ragenden Berge abgebrochen und in solche Tiefen geschleudert hatten, daß sie in tausend Trümmer zerschmettert worden waren? Es sah ganz so aus, als ob von unheilvollen Urkräften hier einst irgend eine erschreckliche Teufelei ausgeführt worden sei. Die Zwischenräume der gewaltigen Steinbrocken waren mit Farnen, Dornen und allerlei Gestrüpp so dicht ausgefüllt, daß es gewiß unmöglich gewesen wäre, hindurchzukommen, wenn es nicht ein jetzt leeres Wasserbett gegeben hätte, welches in zwar zahlreichen, aber doch gangbaren Windungen nach der anderen Seite hinüberführte.

Wir folgten diesem Wege. Drüben angekommen, trafen wir auf ein zweites, noch breiteres Wasserbett, welches sich mit dem unserigen vereinigte. Nafar Ben Schuri deutete in die Richtung desselben zurück und rief uns zu:

»Das ist der Weg, auf dem die Dschamikun kommen werden. Und da, gerade vor uns, seht ihr das Thor, durch welches man in das Daraeh-y-Dschib gelangt.«

Zwei früher senkrecht stehende Felsenwände hatten sich einander zugeneigt, bis sie hoch oben aufeinander getroffen waren. Sobald uns dieses finstere, aus gewaltigen Massen bestehende und doch einsturzdrohende Thor aufgenommen hatte, war es so dunkel um uns her, daß es einiger Zeit bedurfte, bis wir die Augen hieran gewöhnt hatten und die nächste Umgebung zu unterscheiden vermochten. Da habe ich mich freilich wohl falsch ausgedrückt, denn es gab nur eine »nächste« und gar keine weitere Umgebung. Das Thal bestand hier aus dem Wasserbette und einem nicht viel breiteren Ufer rechter Hand, welches unsere Pferde zu erklettern hatten. Links gab es keinen solchen Rand, weil das Wasser – nämlich wenn es welches gab – direkt von der Felsenwand begrenzt wurde. Indem wir nun langsam und vorsichtig auf diesem einen und auch einzigen Ufer hinritten, begleitete uns hoch oben ein Himmelsstreifen, welcher nicht breiter als eine Hand zu sein schien.

Die Schritte unserer Pferde erregten hier einen wahren Höllenlärm, von den zurückgeworfenen Schallwellen verzehnfacht, dumpf, hohl, ohne Höhe oder Tiefe, unbegrenzt, vollständig klang- und wesenlos. Es war ein Spektakel schattenhafter Geräusche, denen mit dem Inhalte auch das Leben fehlte.

Später senkte sich das Wasserbett tiefer, und das Ufer wurde breiter. Wir bekamen mehr Platz. Es gab sogar Büsche solcher Arten, die keiner direkten Sonnenstrahlen bedürfen. Wir atmeten eine dicke, stehende, feuchtmodrige Luft, welche die Lungen beschwerte. Das wurde erst besser, als die Felsen oben weiter auseinander traten und uns vom Ausgange des Thales oder vielmehr der Schlucht her ein frischer Odem entgegenwehte. Dann gab es plötzlich Raum genug für uns alle und auch für unsere Pferde. Der »Sack« war zu Ende.

Eigentlich war der Name »Dschib« nicht zutreffend gewählt für die vorhandene Oertlichkeit. Sie glich weniger einem Sacke, als vielmehr einer lang- und dünnhalsigen weitbauchigen Phiole oder einer jener Flaschen, in welche der Steinwein abgezogen wird. Der lange, schmale Gang verbreiterte sich mit einem Male zu einem großen, halbkreisähnlichen Platze, auf dem wir ganz bequem lagern konnten. Und doch hatte der Ausdruck Sack, wenigstens im vergleichenden Sinne, auch seine Richtigkeit, weil der Weg von hier nicht weiter ging. Die Bodenlinie der Flasche wurde nämlich von einem tiefen Felsenrisse gebildet, dessen Ende wir nicht ersehen konnten. In diesen Riß mündete unser Wasserlauf. Es mußte bei gefülltem Bette Grauen erregen, die Wassermasse spurlos da unten in der Tiefe verschwinden zu sehen! Der jenseits des Risses liegende Teil des Berges war nicht steil gerichtet; er bildete vielmehr eine moosig grüne Böschung, auf welcher einzelne uralte Eichen und andere Laubhölzer standen. Das lockte hinüber; aber leider konnten wir nicht, weil der Felsenspalt uns von ihm trennte!

Es hatte eine Brücke hinübergeführt, deren Reste wir noch sahen: zwei Urwaldstämme, darüber Querstämme und dann Steine darauf. Die Steine waren verschwunden. Von den Querstämmen reichte nur noch einer von oben bis in den Felsenriß hernieder, wo er sich eingestemmt hatte, um zu verraten, daß die Brücke nicht von der Natur, sondern durch Menschenhand zerstört worden sei. Die Dschamikun hatten Stämme und Steine in die Tiefe gestürzt, damit den Massaban die Flucht von hier aus abgeschnitten sei. Als der Anführer der letzteren die Vernichtung sah, war er nicht etwa enttäuscht, sondern er rief ganz im Gegenteil sehr erfreut aus:

»Die Brücke ist eingestürzt! Welch ein Glück für uns! Wenn die Dschamikun morgen kommen, können sie nicht hinüber und sind gezwungen, sich uns zu ergeben! Wir haben nun gar nicht nötig, die Brücke zu besetzen, und können uns also alle daran beteiligen, die Feinde hier hereinzutreiben!«

Das gab eine allgemeine Freude, an welcher wir beide uns freilich nicht beteiligten. Halef war nämlich mehr vom Pferd herabgefallen, als herabgestiegen. Ich nahm ihn in den Arm und führte ihn zu einer Stelle, welche ich zum Lagern für die beste am ganzen Platze hielt. Dort legte ich ihn nieder, holte seinen Sattel zum Kopfkissen und wickelte ihn in seine und in meine Decke ein, denn ich sah, daß der Frost ihn förmlich schüttelte. Die Zähne schlugen ihm zusammen. Er schien am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein. Noch hatte ich ihn nicht ganz eingehüllt, so riß er die Decken wieder weg, richtete sich in sitzende Stellung auf und sagte, indem er mich mit weit aufgerissenen Augen angstvoll anstarrte:

»Sihdi, müssen wir hier bleiben?«

»Ja,« nickte ich.

»Die ganze, ganze Nacht?«

»Ja.«

»Da sterbe ich! Ich fühle, daß ich es hier nicht aushalte, daß ich fort muß, daß es mein Leben kostet, wenn ich bleibe!«

»Zurück können wir unmöglich!«

»Aber vorwärts?«

»Die Brücke ist weg!«

»Wir haben die Pferde! Der Spalt ist schmal. Wir springen hinüber!«

»Halef!« rief ich erschrocken. »Das würde Wahnsinn sein!«

Da preßte er die Lippen zusammen und ballte die Fäuste, als ob er alle seine Kräfte herbeizwinge. Es gelang ihm, die Schwäche noch einmal zu besiegen. Er stand ganz auf, ging hin an den Spalt, wo die Brücke gelegen hatte, und maß die Entfernung der gegenüberliegenden Kante mit scheinbar ruhigem Auge. Dann drehte er sich zu mir um und sprach:

»Sihdi, erhöre mich! Es ist vielleicht die letzte, die allerletzte Bitte, die ich in diesem Leben zu dir sage. Ich habe dich belogen, denn ich wollte dich nicht beängstigen. Meine Krankheit ist schlimmer, als du denkst. Ich habe mit allen Kräften gegen sie gekämpft, ohne es dir einzugestehen. Diese Kräfte sind alle; sie reichen nur noch zu dem letzten Sprunge dort hinüber. Dann breche ich zusammen, und du sollst mich pflegen. Willst du diesen Sprung mit mir wagen?«

»Halef, mein lieber, lieber Halef!« antwortete ich kopfschüttelnd, nicht aus Angst vor dem Wagnis, sondern aus Herzenssorge um ihn.

»Laß mich nicht viele Worte machen, denn sie rauben mir die Kraft, die ich nötiger brauche. Durch den Gang können wir nicht zurück. Das erfordert zu viel Zeit, und die Massaban würden uns auch nicht lassen. Bleiben wir aber hier, so weiß ich, daß ich verloren bin. Allein aber kann ich unmöglich fort. Sihdi, mein Sihdi, hast du mich noch lieb?«

»So lieb, wie noch nie, mein Halef!«

»So denk an den fürchterlichen Sprung damals, den du auf deinem herrlichen Rih über die ›Spalte des Verräters‹3 thatest. Assil leistet im Springen ganz dasselbe wie sein Vater Rih, und dieser Riß hier ist ganz gewiß nicht so breit, wie jene Spalte war!«

Ich legte ihm beide Hände an die Wangen, küßte ihn auf den Mund und sah ihm dann in das Gesicht. Es hatte noch nie einen so liebevollen, aber auch noch niemals einen so entschlossenen Ausdruck gehabt. Es war wirklich sein Leben, um welches es sich handelte. Es mußte gerettet werden!

»Wirst du denn fest im Sattel sitzen?« fragte ich. »Nur noch zwei Minuten fest?«

»Ich schwöre es dir bei Allah zu, Sihdi!«

»Gut, dann sei es gewagt! Bleib du ruhig stehen. Ich werde die Vorbereitungen treffen.«

Die Massaban hatten damit zu thun, ihre Pferde zu versorgen und es sich dann möglichst bequem zu machen. Sie achteten infolgedessen nicht besonders auf uns. Ich legte Barkh den Sattel wieder auf, schnallte die Decken an Ort und Stelle und untersuchte mit ganz besonderer Vorsicht die Lage und die Festigkeit der Bauchgurte. Während ich das that, sagte Halef:

»Sihdi, die Pferde können keinen weiten Anlauf nehmen. Sage ihnen also, um was es sich handelt! Sie werden dich verstehen.«

Ich führte die Rappen also ganz hart an die Spalte, so daß sie mit den Köpfen gegen dieselbe standen.

»Natt, natt – springen, springen!« sagte ich, indem ich sie streichelte.

Da hoben sie die Schwänze; ihre Ohren legten sich vor und ihre Nüstern weiteten sich, tief Atem holend. Sie wußten gar wohl, was das Wörtchen »natt« zu bedeuten und was hierauf zu erfolgen hatte.

»Wer zuerst?« fragte Halef.

»Du. Doch beachte, daß auf der Kante drüben der Felsen unter einer Schicht von Erde und faulem Holze liegt. Barkh wird abrutschen, wenn er nur mit den Vorderhufen faßt. Nimm die Peitsche in die Hand, um unglücklichen Falles nachzuhelfen, und schaue dich ja nicht erschrocken um, wenn ich es für nötig halte, den rettenden Schwung durch einen Schuß zu unterstützen!«

»Es wird das alles gar nicht bedürfen. Du kommst gleich hinter mir?«

»Sobald ich sehe, daß du drüben bist und mir Platz gemacht hast. Eher nicht.«

»Kann es losgehen? Jetzt?«

»Ja.«

»So sei Allah unsere Hilfe! Ich denke an Hanneh, der ich mein Herz gegeben habe, und an Kara Ben Halef, meinen Sohn, welcher der Stolz und die Hoffnung meines irdischen Lebens ist. Sihdi, wir bleiben beisammen, jenseits dieser Felsenspalte, lebend, lebend hier oder lebend dort. Du warst und bist mein Freund; ich danke dir! Schaff Platz! Nun soll’s beginnen!«

Im Hintergrunde unseres Lagerplatzes war es vollständig Nacht. Vorn gab es noch einen letzten, langsam ersterbenden Dämmerungshauch. Ueber dem Felsenriffe aber stand der offene Himmel, und da reichte die Helle grad noch zu, den jenseitigen Bord des Abgrundes deutlich zu erkennen, aus welchem uns das »Sterben« entgegen gähnte, denn »Tod« giebt es ja doch nicht! Sollte uns da unten in der schauerlichen Spalte vielleicht Halefs Frage: »Sihdi, wie denkst du über das Sterben?« beantwortet werden?

Er griff nach seinem Gewehre, um es sich am Riemen über den Rücken zu hängen; da aber nahm ich es ihm weg und sagte:

»Halt, du sollst nicht beengt sein. Ich werde es mit zu den meinigen nehmen.«

»Aber du hast ja schon zwei!« warf er ein.

»Thut nichts. Ich bin nicht so krank wie du, und mein Assil Ben Rih springt besser als dein Barkh. Ich habe dich also zu entlasten.«

Er wollte es trotzdem nicht zugeben; ich schnitt aber alle weiteren Einwendungen dadurch ab, daß ich unsere beiden Pferde an den Zügeln nahm und sie um des Anlaufs willen so weit wie möglich in die Schlucht zurückführte. Als dies Nafar Ben Schuri sah, fragte er:

»Warum verlaßt ihr eure gute Stelle? Wollt ihr da hinten schlafen, wo die Luft so schlecht und so schwer zu atmen ist?«

»Nein,« antwortete ich; »sondern wir wollen euch zeigen, wie ihr es machen müßt, wenn ihr morgen die Dschamikun fangen wollt.«

»Uns das zeigen? In welcher Weise?«

»Wir reiten über die Spalte.«

»Unmöglich! So einen Sprung bringt kein Pferd fertig. Wer ihn wagte, der wäre unbedingt wahnsinnig. Er würde nicht nur Allah versuchen, sondern in den sicheren Tod stürzen!«

»Wir verlassen uns allerdings auf Allahs Schutz; aber wahnsinnig sind wir nicht. Was euch mit euren Pferden verderblich sein würde, das dürfen wir den unseren wohl zutrauen. Macht Platz, und keiner stelle sich etwa in den Weg oder mache sonst eine Bewegung, uns zu hindern. Wir würden ihn niederreiten!«

»Aber, Sihdi, ich sage dir, daß ihr unbedingt da hinunter in den Riß –«

»Schweig!« unterbrach ich ihn hart. »Du hast uns gar nichts zu sagen!«

Ich hatte die Absicht, ihn durch diesen meinen strengen Ton derart zu verblüffen, daß er jeden Schritt und jeden Griff nach uns unterließ. Und das gelang. Hatten wir einmal zum Sprunge angesetzt, so konnte jede Störung uns das Leben kosten. Als kluger Mann hätte er sich nach dem eigentlichen Grunde dieses unseres Wagnisses fragen müssen, und da wäre er gewiß auf die einzige richtige Antwort gekommen, daß wir uns von ihm und seinen Leuten trennen wollten; aber dieses Vorhaben erschien ihm so ungeheuerlich, daß der Schreck darüber ihn zu gar keiner Ueberlegung kommen ließ.

»Denkt euch, ihr Männer,« schrie er seinen Massaban zu, »unsere Gäste wollen über den Spalt springen! Das nenne ich eine Verwegenheit, die ganz unglaublich ist!«

Sie antworteten in ihrer wirren, lärmenden Weise. Wir achteten nicht darauf. Halef hatte Barkh bestiegen. Die Peitsche in der Hand, sah er mich mit zuversichtlichem Lächeln an und sagte:

»Ich bin bereit. Mein Rappe muß es verzeihen, wenn er in diesem seltenen Falle einmal einen Schlag von mir bekommt. Es kann dadurch ihm und mir das Leben gerettet werden. Soll ich jetzt?«

»Ich will erst vollständig freie Bahn machen und bitte dich noch einmal, ja nicht zu erschrecken oder dich umzusehen, wenn ich etwa schieße!«

Der ganze Vorgang spielte sich natürlich viel schneller ab, als ich ihn erzählen kann. Ich warf nochmals einen forschenden Blick auf Halef. Seine Haltung war fest und gut, und sein Gesicht hatte den Ausdruck eines solchen Selbstvertrauens, als ob an ein Mißlingen des Sprunges gar nicht zu denken sei. Nun warf ich mir zwei Gewehre über den Rücken, machte das dritte schußfertig, schwang mich in den Sattel und ließ Assil derart nach der Spalte courbettieren, daß die wenigen Massaban, welche noch im Wege standen, zurückweichen mußten.

»Ileri – vorwärts!« rief ich nun Halef zu.

»Bi aun illah – mit Gottes Hilfe! Jatib, jatib, ia Barkh – spring, spring, o Barkh!«

Indem er diese Worte ausrief, trieb er sein Pferd an, welches nun wohl wußte, um was es sich handelte. Es flog, nein, es schoß in der Weise vorwärts, daß mein Ohr die einzelnen Hufschläge nicht voneinander unterscheiden konnte. Es gab in mir ein Gefühl, welches ich noch nie empfunden hatte und das mich wahrscheinlich auch jetzt nicht ergriffen hätte, wenn der Hadschi nicht so krank und matt gewesen wäre. Mein ganzes Wesen schien ein einziger, großer, lauter Hilferuf zu sein.

Da setzte Barkh hüben an – jede seiner Muskeln war federnde Energie – jetzt schwebte er über dem Abgrunde – nun faßte er drüben Boden – mit allen vieren – schon war es mir, als müsse ich vor Freude jauchzen – da gab die jenseitige Kante unter seinen Hinterhufen nach – sie rutschten ab – Halef erkannte die fürchterliche Gefahr – er hieb mit der Peitsche hinter sich nach der Weiche des Hengstes – dieser wollte empor, brachte es aber nur zu einem vergeblichen Kratzen des nun von der trügerischen Humusschicht befreiten, glatten Felsenrandes – sie mußten, mußten, mußten abstürzen, beide, Reiter und Pferd, wenn nicht mein Schuß noch Rettung gab! – Ich drückte ab. Der Krach wurde mit verzehntfachter Stärke von den Felsen zurückgeworfen und schien von hundert Echos wiederholt zu werden – es war, als ob dieser gewaltige Knall die mechanische Kraft besitze, die Hinterhand des Pferdes emporzuheben – oder war es die bewundernswerte Geistesgegenwart Halefs? – Er zog die Beine empor, legte beide Hände auf die Schulter des Rappen und schleuderte sich seitwärts am Kopfe desselben vorüber nach vorn, wodurch er glücklich den festen Boden erreichte – das dadurch entlastete und durch den Schuß zur Anspannung aller Nerven getriebene Tier gewann die felsige Kante, that einige krampfhafte Sätze vorwärts und blieb dann, am ganzen Leibe zitternd, zwischen den Bäumen stehen. Halef folgte ihm wankend – drehte sich um – erhob den Arm, um mir zu winken – brach dann aber in einer Weise zusammen, als ob ein Schlag ihn zu Boden geworfen habe.

Ich glaube nicht, daß ich jemals im Leben so tief, so unendlich tief und erleichtert aufgeatmet habe, wie in jenem Augenblicke! Die Massaban hatten, wie vom Schreck gelähmt, vollständig still und unbeweglich gestanden; nun aber machten sie ihren Gefühlen durch ein Geschrei Luft, welches infolge des Echos gar nicht aus menschlichen Kehlen zu kommen schien. Sie sprangen hin und her, schlugen mit den Armen in die Luft und gebärdeten sich so, als ob sie toll geworden seien.

»Ruhe! Macht Platz!« brüllte ich sie an, denn nur durch diese allerstärkste Art des Tones konnte ich mich ihnen hörbar machen.

»Bleib doch, bleib!« schrie Nafar Ben Schuri. »Hast du denn nicht den sichersten, schauerlichsten Tod vor deinen Augen gesehen?!«

»Hast du denn nicht gesehen, daß dieser Tod gar nicht so sicher ist, wie du sagst?« antwortete ich. »Gebt Raum! Nehmt euch in acht!«

Indem ich mein Pferd mitten unter sie hineintrieb, zwang ich die Horde, die Bahn wieder frei zu geben. Dann streichelte ich den schönen, warmen Hals des Rappen und bat ihn in ruhigem Tone:

»Jatib, ia Assili, jatib – spring, o mein Assil, spring!«

Er wußte seinen Freund Barkh drüben, und er verstand diese meine Worte. Da bedurfte er gar keines Antriebes. Ich hörte, daß er die Brust voll Atem nahm, und hob mich in den Bügeln. Das gab ihm freie Spannung. Er that die wenigen Sammelsprünge in wunderbarer und nervenruhiger Sicherheit, kam ganz genau am Rande des Abgrundes zum Ansatze und ging leicht wie ein Gedanke über die Spalte hinüber. Noch vier, fünf Schritte, dann blieb er drüben, ohne daß ich ihn anzuhalten brauchte, genau neben Barkh stehen.

Dies war mit so verblüffender Leichtigkeit vor sich gegangen, daß die Massaban da hinten dieses Mal ganz still blieben. Ich sprang ab, warf die Gewehre weg und zog mit beiden Händen den Kopf des herrlichen Tieres an meine Brust. Assil hatte es verdient, daß ich vor allen Dingen erst ihm einige dankbare Schmeichelworte sagte; dann aber mußte ich nach Halef sehen.

Er lag am Boden und regte sich nicht. Tot war er natürlich nicht, sondern nur besinnungslos und zwar nicht etwa vor Schreck oder Angst, sondern infolge der Ueberanstrengung aller seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Der längst von mir befürchtete Augenblick des endlichen Zusammenbrechens hatte sich nun eingestellt!

Was war zu thun? Da – horch! War das nicht eine halblaute Stimme, welche mich rief?

»Sihdi – Sihdi!«

Das klang hinter einem der starkstämmigen Bäume hervor.

»Wer ruft?« fragte ich.

»Ich! Der Scheik der Dschamikun.«

»Peder?«

»Ja. Ich darf nicht hinter dem Baume hervor, weil mich die Massaban da drüben trotz der Dämmerung doch vielleicht sehen würden. Komm her zu mir!«

Ich ging hin. Ja, da stand er, noch als Fakir, wie wir ihn vorher gesehen hatten.

»Wirklich du!« sagte ich. »Wie ist es möglich, daß du schon hier sein kannst. Wir sind so schnell geritten, und zwar, wie es scheint, den allerkürzesten Weg!«

»Wir aber noch schneller, und zwar auf einem Wege, welcher auch nicht länger als der eure ist. Ich wollte vor euch hier sein, um wo möglich noch heut abend die Falle schließen zu können. Ich habe sowohl hier, als auch am Eingange des Daraeh-y-Dschib meine Wachen stehen, welche mir alles melden, was geschieht. Sie sahen euch kommen und haben hinter euch das Thal so gut besetzt, daß die Massaban nur dann wieder heraus können, wenn wir es ihnen erlauben.«

»So muß ich dir vor allen Dingen sagen, daß noch während dieser Nacht auch noch der Nachtrab ankommen wird.«

»Das ist mir wichtig. Ich danke dir und werde meine Vorkehrungen darauf treffen. Ich postierte mich hierher, um die Enttäuschung der Massaban zu beobachten, sobald sie sähen, daß die Brücke nicht mehr vorhanden sei. Ich hatte vergessen, dir zu sagen, daß wir sie zerstört haben. Es war anzunehmen, daß du mit dem Scheik der Haddedihn bis morgen früh bei ihnen hier im Thale bleiben und dich dann in unauffälliger Weise von ihnen trennen würdest, um zu kommen. Ihr habt das aber schon heut und zwar derart gethan, daß meiner Bewunderung die Worte fehlen. Sihdi, habt ihr denn nicht an den Tod gedacht?«

»O doch! Grad weil wir das thaten, wurde der Sprung unternommen. Es galt, Halef zu retten. Er konnte es unmöglich da drüben bis morgen früh aushalten. Das Wagnis mußte unternommen werden.«

»Es war mehr, viel mehr als bloß das, was man Wagnis nennt! Ich fühlte mich bis jetzt so sehr beschämt, daß ich mit der berühmten Stute des Ustad von dir auf deinem Rappen eingeholt worden bin; nun ich aber hier gesehen habe, was ihr euch und euren Pferden zuzumuten versteht, sehe ich ein, daß es keine Schande ist, von euch übertroffen worden zu sein. Es war auch für mich ein schrecklicher Augenblick, Hadschi Halef an der Kante über dem Abgrund hängen zu sehen. Sein kühner Schwung und dein Schuß haben ihn gerettet. Als ich dann sah, daß du bereit warst, ihm zu folgen, bebte mir das Herz. Der Araber war auf dem Araber nicht glatt angelangt; so gab es also für den Europäer noch weniger Hoffnung, auf einem nichtfränkischen Pferde diesen entsetzlichen Sprung mit Glück zu thun. Wie gern hätte ich dir zugerufen, dies zu unterlassen; aber es war mir ja verboten, meine Gegenwart zu verraten! Da kamst du angesaust, so leicht, so glatt, so unbeschreiblich sicher! Du saßest nicht; du standest hoch im Bügel. Noch nie war das von mir gesehen worden! Das war so ungewohnt, so fremd, so über mir, und doch kam augenblicklich die Gewißheit über mich, daß für dich nichts zu fürchten sei. Dein Rappen ging in kühnem, festem Bogen in die Luft. Es war nur ein Moment, aber doch so hell, so deutlich, was ich sah: du warst es zwar, doch war’s auch ein Gesicht, ein Blick ins ferne Land, das wir die Zukunft nennen: du warst das Abendland, auf fehlerfreiem, morgenländischem Pferde! Der Abgrund zwischen hier und dort, er schwand; dein Assil trug das Christentum mir zu. Die finstere Schlucht dort ist verschwundenes Land. Ich heiße dich, den Westen, hoch willkommen! Krank liegt der Osten hier zu unsern Füßen, in tiefer Ohnmacht, ganz wie Halefs Körper. Doch du und ich, wir werden ihn erwecken, und unsere Liebe soll ihm Rettung sein!«

Er zog mich an sich und küßte mich. Ich erwiderte diesen Kuß so gern, so gern, obwohl er noch als Fakir gekleidet und darum in diesem Augenblicke nicht etwa ein Ideal körperlicher Sauberkeit war. Dann fuhr er fort:

»Das war das Gesicht, welches über mich kam, für einen einzigen, noch weniger als kurzen Augenblick; aber dieses Schauen in die Ferne der zukünftigen Zeit wird von seiner Deutlichkeit nichts verlieren, denn was die Seele unserm Auge zeigt, das darf von dem Geiste nicht vergessen werden! – Nun erlaube mir, für Hadschi Halef zu sorgen. Ich gehe fort, um Befehle zu erteilen, werde aber schnell zurückkehren.«

Er entfernte sich. Welch ein sonderbarer Empfang von seiten dieses Mannes! Es war ein ganz eigentümlicher Eindruck, den er mit seinen Worten auf mich machte. Dazu die nun hereingebrochene Nacht. Ueber mir die hochragenden Bäume, durch welche ein schweres, ernstes Rauschen ging. Vor mir ein vollständig unbekanntes Terrain, mit Menschen, die mir fremd und dennoch Freunde waren. Hinter mir die durch unsere Entschlossenheit besiegte Tiefe, über welche die rufenden Stimmen der Massaban herüberklangen. Sie wollten Antwort von mir haben; ich gab sie ihnen nicht. Mit diesen Leuten wollte ich nichts mehr zu thun haben. Ich war entschlossen, wenn möglich, keinen von ihnen jemals wiederzusehen. Ich nahm an, daß wir uns mit ihnen gar nicht mehr zu beschäftigen brauchten; die Dschamikun hatten jedenfalls Leute genug, mit ihnen fertig zu werden.

Halef lag noch genau so da, wie er niedergefallen war. Dem Atem fehlte die Stärke, die Brust zu bewegen, und den Puls konnte ich kaum fühlen. Ich rief seinen Namen, sogar ganz nahe bei dem Ohre; es machte keinen Eindruck auf ihn. Seine Hände, seine Arme, seine Glieder waren vollständig schlapp. Es lag vor mir ein Körper, der weder Kraft noch Willen und kaum noch Leben hatte. Das war der hochenergische, strotzende und sprühende Hadschi Halef, der sich so gern »den größten Helden des Morgenlandes« nannte. Als ich ihn so vor mir liegen sah oder vielmehr ihn unter meinen Händen fühlte, vergaß ich natürlich ganz, auch an mich selbst zu denken. Dennoch bemerkte ich, daß mir, wenn ich mich bückte, der Kopf schwer nach vorn fallen wollte. Es war, als ob in meinem Gehirn eine reibende und darum schmerzende Bewegung vorhanden sei. Die Augenlider wollten nicht geöffnet bleiben. Es ging durch mich, wohl ebenso geistig wie auch leiblich, eine Empfindung, welche nur durch die Worte ausgedrückt werden kann: du hast dich gesträubt, so lange du mußtest; jetzt aber sind alle Gefahren vorbei; nun bist du mein!

Da kam Peder wieder. Er hatte mehrere seiner Leute bei sich. Ich hatte mich neben Halef niedergesetzt und stand auf. Das wurde mir schwer, so schwer, daß ich mich mit den Händen stützen mußte. Einige von den Dschamikun nahmen den Hadschi auf und trugen ihn fort. Andere ergriffen die Zügel unserer Pferde, um sie zu führen. Der Scheik faßte meine Hand und sagte:

»Der Ustad läßt euch bitten, bei ihm zu wohnen. Ich habe ihm einen Boten gesandt; er weiß, daß ihr kommt.«

»Ist es weit?« fragte ich.

Fiel ihm nur diese meine Frage oder auch der matte Ton auf, in dem ich sie ausgesprochen hatte? Er erkundigte sich:

»Bist du etwa auch krank?«

»Ganz plötzlich müd, sehr müd!«

»Hast du Flecken am Körper?«

»Ja, auf der Brust.«

»Allah jesellimak – Gott erhalte dich! In diesem Zustande habt ihr einen solchen Todessprung gewagt! Ganz unbegreiflich, ja eigentlich eine Menschenunmöglichkeit!«

Ich versuchte, zu scherzen:

»Du hast vorhin in mir das Abendland gesehen. Verzeihe mir, daß es so krank zu euch gekommen ist!«

Da drückte er mir die Hand, an welcher er mich führte, fester und antwortete:

»Ich kenne euer Leiden. Es geht so gern auf die gesunden Andern über. Doch tragt ihr es uns ja nicht heimlich zu und gebt die Schwäche nicht für Stärke aus. Wer uns nicht täuscht, der täuscht sich nicht in uns. Komm, lieber Mann, ich will dir Bruder sein!«

Es war unter den Bäumen so dunkel, daß ich die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Der Peder hielt mich fest. Er kannte das Terrain genau und machte auf jede Eigentümlichkeit desselben aufmerksam. Dennoch wurde mir das Gehen schwerer, als die Umstände es eigentlich begründeten. Ich stolperte und schwankte oft. Da schlang er, um mich zu stützen, stets und schnell den Arm um mich. Am liebsten wäre ich in diesem starken, liebevoll besorgten Arme liegen geblieben, um mich von ihm weitertragen zu lassen!

Wie lange wir so, oft auf-, oft abwärts gingen, weiß ich nicht. Das Gefühl für die Bestimmung der Zeit war mir vollständig abhanden gekommen. Dann war der Wald zu Ende. Die Sterne standen über uns, und unsere Füße schritten über ebenen Boden und auf weichem Grase. Wir hatten bei der Entfernung von der Felsenspalte den Schluß gemacht, waren also die letzten und beide allein. Von dem Hadschi und den Pferden sah ich nichts. Als ich nach ihnen fragte, bekam ich die Antwort:

»Habe keine Sorge! Du wirst deinen Freund beim Ustad finden, eure Pferde auch und ebenso die Gewehre.«

Die Gewehre! Da kam noch nachträglich der Schreck über mich. Ich hatte sie vergessen, vollständig vergessen, gar nicht an sie gedacht, als ich vom Peder fortgeführt worden war. Erst jetzt fiel mir ein, daß ich sie, als ich nach dem Sprunge aus dem Sattel stieg, neben mich hingeworfen hatte. Diese im andern Falle ganz unmögliche Vergeßlichkeit brachte mich zu der Ueberzeugung, daß die Krankheit auch bei mir viel weiter vorgeschritten sei, als ich gedacht hatte.

Kaum hatte ich diesem Gedanken Raum gegeben, so begann er, mich zu beherrschen. Ich mußte stehen bleiben. Meine Beine zitterten, die Füße versagten mir den Dienst.

»Was ist mit dir?« fragte der Peder, »fällt dir das Gehen schwer?«

»Nicht schwer, nicht leicht; es giebt eben kein Gehen mehr. Erlaube, daß ich mich für einen Augenblick setze!«

Er umfaßte mich, um mich langsam niederzulassen. Ja, sitzen! Das war nicht möglich; ich mußte sofort liegen; es fehlte mir die Kraft, den Oberkörper aufrecht zu halten. Da sanken auch die Lider herab und waren nicht wieder in die Höhe zu bringen. Was nun mit mir geschah, das weiß ich nicht. Ich war wie ganz im festen Schlafe, zuweilen auch wie nur im Traume. Ich hörte zuweilen die gütige, besorgte Stimme des Peder. Er sprach zu mir; er sprach auch zu Andern, doch klang es wie aus weiter, weiter Ferne. Ich fühlte mich gehoben und getragen. Ich war so leicht; ich hatte keinen Körper. Ich bestand aus nichts als nur aus froher Zuversicht und glücklichem Vertrauen, und diese gänzliche Hingebung lag wie auf Engelsflügeln ausgebreitet.

Dann war es mir, als schwebe ich durch tausend, tausend selige Ewigkeiten, unendlich lang und doch so kurz, so kurz! Was für Töne erklangen da? Waren das die Harfen verklärter Geister? Oder war es der Psalter des alttestamentlichen Sängers, der da spricht:

»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt!«

Und da legte sich eine Hand auf meine Stirn. Es war, als ob von ihr aus eine gütig reine, immaterielle Kraft durch mein ganzes Wesen gehe. Und eine tiefe, wohllautende Stimme sprach die letzten Worte ganz desselben Psalms:

»Der Herr behüte deinen Eingang und deinen Ausgang von nun an bis in Ewigkeit. Amen!«

Die Stimme schwieg. Leise Schritte entfernten sich. Tiefe, fromme Stille herrschte in mir und auch rund umher. Aber ich hatte die Empfindung, daß ich nicht allein und verlassen sei. Es umwehte mich ein feiner, gottesdienstlicher Duft, wie von Weihrauch und Myrrhen. Da erklangen hoch über mir zwei Glöcklein. Sonderbar, daß ihr schönes Harmonieverhältnis mir sofort in die Ohren trat! Die eine, tiefe, war in die untere Dursexte der oberen gestimmt. Es war gewiß ganz eigentümlich, daß mir trotz meines Zustandes die Frage kam, warum in diesem Grundakkorde doch die Quinte fehle! Nun wieder tiefe Stille. Dann hörte ich in kurdischer Sprache ein vierstimmiges, feierliches Lied erklingen, dessen erste Strophe deutsch zu lauten hätte:

»Herr, ich trete
Im Gebete
Vor dein heilig Angesicht.
Laß dir sagen
Meine Klagen;
Höre, was mein Flehen spricht!«

Es waren nicht Orgel-, sondern Harfentöne, welche dieses Lied begleiteten. Gab es hier eine Kirche? War ich überhaupt auf der Erde? Träumte oder wachte ich? Ich hatte keine Macht über meine Augen. Besaß ich überhaupt jetzt welche? War ich jetzt vielleicht nur Geist, nur Seele? Wo war mein Körper geblieben? Ich fühlte ihn nicht!

Da gab es neben mir ein leises, leises Rauschen wie von einem feinen, sich bewegenden Gewande. Zwei warme, weiche Frauenhände ergriffen meine Hand, und eine innig sprechende Altstimme betete:

»Herr, es treten,
Um zu beten
Zu dir Alle, die du liebst.
Laß den Glauben
Uns nicht rauben,
Daß du nichts als Leben giebst!«

Meine Hand wurde lange festgehalten. Das merkte ich, obgleich ich den Sinn für Zeit und Raum kaum noch zu besitzen schien. Dann gab es eine Berührung, als ob zwei Lippen sich auf diese meine Hand legten. Ich wollte sie zurückziehen, ohne daß ich diese Bewegung ausführen konnte. Wer war es, der, vor mir knieend, um mein Leben gebetet hatte? Ich wünschte so dringend, dies zu erfahren, doch gelang es mir nicht, ein Wort der Frage auszusprechen. Aber ich fühlte, daß meine Augen sich öffneten; das war so eigenartig, so ganz als ob es nicht meine leiblichen, sondern die seelischen seien. Da sah ich in ein liebes, ernstes, reines Frauengesicht. Es war von einer so frommen, edlen Schönheit, wie man Heilige abzubilden pflegt. Die Augen waren dunkel und trotzdem doch so hell, so licht, so klar. Es ging von ihnen eine Wärme aus, welche auf mich überfloß. Mir war, als ob ich dieses Antlitz schon einmal gesehen habe, nicht gleichgültig und vorübergehend, sondern sorgsam und mit derselben Herzenswärme, welche ich jetzt zurückempfand. Nun breitete sich ein frohes Lächeln über die so kinderholden und doch so frauenhaft sinnigen Züge, und die Lippen, welche vorhin meine Hand berührt hatten, fragten mich:

»Erkennst du mich, Sihdi? Ich bin Schakara, welche du vom Tode errettet hast.«

Ich wollte antworten, konnte aber nicht. Ich hörte nichts, als ein unverständliches Flüstern, welches aus meinem Munde kam. Da fuhr sie fort:

»Ich bin das Mädchen, welches damals in Amadijah die Oelim kires gegessen hatte. Deine Hand brachte mir das schon fast entflohene Leben zurück4. Kannst du dich erinnern?«

Ich bewegte meine Augenlider, um ihr anzudeuten, daß ich sie verstanden habe. Zu sprechen war mir nicht möglich. Da legte sie ihre Rechte auf meine Stirn und sagte:

»Die Krankheit hat dir das Reden verboten. Aber sei getrost! Chodeh ist die Barmherzigkeit. Er wird uns nicht das schreckliche Leid anthun, dich bei uns sterben zu lassen. Der Ustad hat für euch gebetet, und die Güte des Himmels wird ihn ganz gewiß erhören. Schau, da kommt er. Siehst du ihn?«

Sie fragte mich so, weil mir jetzt die Augen zugefallen waren; ich konnte sie nicht wieder öffnen. Doch hörte ich Schritte, welche sich näherten.

»Kam er noch nicht zu sich?« wurde Schakara gefragt.

Das war dieselbe tiefe, wohllautende Männerstimme, welche ich schon gehört hatte.

»Er öffnete die Augen und sah mich an,« antwortete sie. »Sprechen konnte er nicht.«

»Hat er dich erkannt?«

»Ich glaube es.«

»So liegt er nun wieder in der vorigen Bewußtlosigkeit. Ihn werden wir wohl retten. Von seinem Gefährten dort aber kann ich das leider nicht sagen. Er steht bereits sehr nahe dem Tode.«

Da hörte ich Halefs Stimme laut und zornig erklingen:

»Am Tode? Sein Gefährte? Also ich? Ihr glaubtet wohl, ich schlafe? Ich bin soeben aufgewacht und habe euch gehört. Ich stehe nicht am Tode! Nein, nein, nein! Ich bin Hadschi Halef Omar, der Haddedihn vom Stamme der Schammar. Mich kennt man überall; einen Tod aber giebt es nicht! Darum ist das, was ihr sagt, ganz unmöglich. Ich befinde mich nicht am Tode – am Tode – nicht, nicht – am – Tode!« – – – – –

Ich hörte diese Worte meines Hadschi, wußte aber nicht, wo er lag. Es war, als ob irgend eine Frage nach ihm sich in mir emporringen wolle; sie trat aber weder in das Bewußtsein noch in den Willen, denn ich hatte die Empfindung, als ob ich jetzt emporgehoben und weit, weit fortgetragen werde, und wie in unendlicher Ferne hörte ich die Worte verklingen: »Am Tode – am Tode –!« –

Wie lange ich fern von mir gewesen war, oder, durch die gewöhnliche Redensart ausgedrückt, wie lange ich nun wieder ohne Bewußtsein dagelegen hatte, das weiß ich nicht. Hierauf schien es, als ob mir Harfenklänge nahten. Es war aber umgekehrt: ich kam zu ihnen; die Besinnung kehrte mir zurück. Es bedurfte jetzt keiner Anstrengung für mich, die Augen zu öffnen, doch fühlte ich eine mir unbekannte Schwere in den Lidern. Ich war außerordentlich matt. Als ich versuchte, den Kopf zu bewegen, dauerte es eine ganze Weile, bis es mir gelungen war, das Gesicht auf die von der Wand abgewendete Seite zu legen. Ich hatte den Mund offen, und sonderbarerweise war es mir, als ob dies so sein müsse; es fiel mir gar nicht ein, ihn zu schließen. Und doch war ich mir zu derselben Zeit vollständig darüber klar, daß dies zu den Krankheitserscheinungen des exanthematischen Fiebers gehöre.

Nun sah ich, wo ich mich befand. Es war ein hoher, lichter, weiß getünchter Raum, dessen Wände augenscheinlich aus starken Mauersteinen bestanden. Die beiden Seiten waren nicht durchbrochen. In der Hinterwand gab es eine breite Doppelthür, für die Gegend, in welcher wir uns befanden, eine große Seltenheit. An der Vorderseite standen zwei Säulen, die mit den Mauerwerken drei offene Bogen bildeten, durch welche Luft und Licht mehr als genugsam Zugang fanden. In der einen Ecke lag ich, in der andern Halef, mit den Füßen nach der Thür gekehrt, damit die vorn hereinbrechenden Sonnenstrahlen nicht direkt in unsere Augen fallen möchten. Längs der ganzen Hinterwand waren blühende Pflanzen aufgestellt, zur Augenweide für uns, wie ich später hörte. Rechts, wo ich lag, stand in einer breiten Nische ein thronähnlicher Sessel. Vor ihm lag ein Teppich ausgebreitet, mit persischen Sitzkissen nach rechts und links. Ich schloß daraus, daß ich mich nicht in einem Wohnraume befand. In der Folge erfuhr ich, daß der Ustad hier die Aeltesten des Stammes zu empfangen und mit ihnen zu beraten pflege. Es war ein kaum genug zu schätzender Vorzug für uns, daß er grad dieses Gelaß für uns bestimmt hatte. Ich sah an den Wänden Sprüche stehen; aber ich las sie nicht. Selbstdenken konnte ich; aber geschriebene Zeichen in Gedanken zu verwandeln, das brachte ich nicht fertig.

Bettstellen gab es natürlich nicht, doch waren unsere Lager von der größten, hier zu Lande ganz ungewohnten Reinlichkeit. Man hatte weiche Kissen hoch aufeinander gerichtet, so breit, daß mehrere Personen hätten nebeneinander liegen können, und die hellen, saubern Kamelhaardecken waren so fein und leicht, als ob sie aus Seide gewebt worden seien. Halef lag still, ganz bewegungslos. Sein Gesicht war außerordentlich eingefallen; es glich dem einer Leiche. Seltsamerweise machte mich das nicht im geringsten bange. War das Vertrauen? Oder war es die Gleichgültigkeit, welche man bei Kranken oft zu beobachten pflegt?

Unweit der Thür saß Schakara mitten im Pflanzengrün. Weiß war ihr Gewand. Sie hatte den Schleier nach hinten geschlagen. Ihr dunkles Haar hing in langen, schweren Flechten herab. Die schlanken Finger glitten über die Saiten der Sandurah. Darf man ein menschliches Wesen mit einem Gedicht vergleichen? Man sagt ja, daß der Mensch das herrlichste Gedicht der ganzen Schöpfung sei. Wenn nicht das herrlichste, aber gewiß eines der frömmsten sah ich hier!

Hätte wohl ein europäischer Arzt erlaubt, in der Nähe so schwerkranker Personen Musik zu machen? Wahrscheinlich nicht! Es kommt ja wohl auch auf die Art des Instrumentes an. Der Harfenton ist der am wenigsten künstliche. Er bietet Klänge der Natur, wohllautend für das Menschenohr gestimmt. Dieser Wohllaut ist auch für kranke Nerven angenehm. Man darf einer Kurdin nicht zumuten, Künstlerin zu sein. Schakara griff nur die vorgestimmten Akkorde; sie wußte nichts von einer chromatischen Veränderung der Töne; aber grad durch diese diatonische Einfachheit war jede Mitthätigkeit des Ohres ausgeschlossen; es empfing die Töne ebenso leicht und selbstverständlich, wie die Brust die Luftwellen, von denen sie herbeigetragen wurden, atmete. Daher kam es, daß diese Klänge die Seele unmittelbar berührten; sie schienen zur Atmosphäre dieses Hauses zu gehören und einen die Lebenskräfte hebenden, wohlthuenden Einfluß auszuüben. Ich fühlte diesen Einfluß. Es war, als ob es in mir etwas gebe, was den Harfentönen verwandt sei, was lange, lange geschwiegen habe und nun endlich, endlich einmal mit erklingen dürfe. Darum berührte es mich fast wie eine Entsagung, wie ein Verlust, als Schakara aufhörte und die Harfe auf die Seite lehnte.

»Bitte, spiel weiter!« bat ich sie.

Ich hatte diese Worte ganz unwillkürlich, fast ohne Willen ausgesprochen. Nun überkam mich eine Art von Verwunderung darüber, daß ich wieder sprechen konnte. Die Kurdin kam schnell zu mir herüber, ließ sich an meiner Seite nieder und sagte:

»Suhker Chodeh! Ich höre deine Stimme! Siehst du mich, und verstehst du, was ich sage?«

»Ja,« antwortete ich.

»Du befindest dich im hohen Hause des Ustad. Er wünscht, daß ich euch pflege. Erlaubst du es mir?«

»Ja.«

»Hast du einen Befehl für mich?«

»Nein, nie!«

»Warum nicht?«

»Für dich nur Bitte, nie Befehl.«

Da ergriff sie meine Hand, sah mir mit einem langen, frohen Blick ins Angesicht und sagte dann:

»Du bist noch ganz so voller Güte, wie du damals warst. Sag, Effendi, welcher Wohlgeruch ist dir der liebste?«

»Benefsesch

Da küßte sie mir die Hand, stand auf und eilte aus der Stube. Warum hatte sie mich nach meinem Lieblingsdufte gefragt? Der Grund sollte mir leider nur zu bald zur Erkenntnis kommen. Er war mir nicht fremd, aber meine Gedanken waren jetzt zu schwach, ihn augenblicklich zu erraten. Da drüben bei Halef hatte man eine Menge in Erdkästen gepflanzte Rosen aufgestellt; bei mir hier gab es keine Blumen, doch fragte ich mich nicht, woher das kommen möge.

Mich fror ganz plötzlich, durch und durch und so intensiv, als ob ich ganz in Schnee und Eis begraben sei. Es war ein von starkem Fieber begleiteter Schüttelfrost, der mich an die Petechien erinnerte, welche ich unterwegs auf meiner Brust bemerkt hatte. Ich sah nach, die Flecke hatten sich jetzt über den ganzen Oberleib verbreitet; auch auf den Armen bemerkte ich sie. Diese Entdeckung ließ mir den Kopf heiß erglühen, während der Körper vor Kälte bebte.

Da sah ich den Peder hereintreten und leisen Schrittes zunächst hin zu Halef gehen. Er trug natürlich die Fakirlumpen nicht mehr, sondern war ganz weiß in weite, kurdische Hosen und ein bis auf die Kniee reichendes Obergewand gekleidet, welches an der Taille von einer blauen Schärpe zusammengehalten wurde. Da steckten anstatt der Messer und Pistolen einige schön erblühte, purpurglühende Schirasrosen. Sein langes, seidengrau glänzendes Haar war von vorn nach hinten zurückgekämmt und hing bis über die Schultern herab. Sein heut vom gestrigen Schmutze freies, Ehrfurcht erweckendes Angesicht wurde von jenem Hauche innerer Jugend verschönt, welche aus der Seele auf den Körper überstrahlt und selbst im höchsten Lebensalter nicht vergeht. Man sah ihm an, daß er mit vollem Rechte Pedehr genannt wurde, ein Vater, der den Seinen nichts als Liebe giebt, Liebe mit verständiger Einsicht gepaart, und von ihnen dafür wieder Liebe erntet.

Er betrachtete Halef aufmerksam, kniete dann bei ihm nieder und sprach zu ihm, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Hierauf strich er ihm wiederholt über das Gesicht und ergriff seine Hände, um sie zu bewegen. Auch das war ohne Erfolg; der kleine, liebe Hadschi gab kein Zeichen, daß er lebe. Da kam der Pedehr zu mir. Er sah, daß ich die Augen offen hatte, ließ sich bei mir nieder und fragte:

»Siehst du mich, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich.

Nun richtete er seine großen, klaren Augen auf die meinigen. Es war, als ob er mit diesem seinem langen Blicke in die Tiefen meines Innern hinabsteige, um es zu erforschen. Dann fuhr er fort:

»Schmerzt es deinen Kopf, wenn ich zu dir spreche?«

»Wenig, aber doch.«

»So wollen wir nur das sagen, was unbedingt nötig ist. Ich kenne diese Krankheit und weiß, daß du nicht an ihr sterben wirst, es trete denn eine unvorhergesehene Ursache zur Verschlimmerung ein. Ihr habt in der verflossenen Nacht unser Heilmittel wiederholt getrunken, wovon du aber nichts weißt, weil ihr beide ohne Bewußtsein waret. Es wird gewiß seine Wirkung thun.«

»Auch bei meinem Halef?«

Er zögerte mit der Antwort. Da bat ich ihn:

»Sag die Wahrheit! Ich bin ein Mann und muß, muß, muß sie wissen!«

Er neigte zustimmend den Kopf und sprach:

»Ja! Von einem andern würde ich denken, daß ich ihn schonen müsse; dir aber bin ich die Wahrheit schuldig. Du wirst in einen langen, tiefen, schweren Schlaf verfallen, und wenn du aus ihm erwachst, wird das, was an deinem Freunde unsterblich ist, von ihm geschieden sein. Das ist es, was menschliches Ermessen zu dir aus meinem Munde sagt. Er wird vielleicht noch einigemal für kurze Augenblicke zu sich kommen, dann aber einschlummern und erst im Verscheiden wieder erwachen. So denke ich. Aber ich hoffe, daß Chodeh, welcher die allmächtige Liebe ist, es anders und viel besser weiß. Nun sag auch mir die Wahrheit! Bist du erschrocken?«

»Nein. Ich danke dir! Deine Aufrichtigkeit hat mich geehrt. Sie beweist mir, daß du mich nicht für einen Schwächling hältst. Halef darf nicht sterben. Chodeh wird helfen.«

»Ja, wenn wir glauben, wird er uns wohl den Melek esch Schefa senden!«

»Ich bin überzeugt davon. Aber wir dürfen uns nicht unthätig auf diesen Engel verlassen, sondern müssen seiner Hilfe entgegenkommen. Laßt mich nachdenken!«

Ich war doch schwächer, als ich gedacht hatte. Nicht nur das Sprechen, sondern auch das aufmerksame Zuhören, um zu verstehen, griff mich an. Ich schloß die Augen, um nachzudenken; aber es kamen mir keine Gedanken. Ich fieberte, und dieses Fieber brachte mir allerlei verworrene, unklare Bilder vor das innere Angesicht. Es war, als ob sich ein nur halb durchsichtiger, sich unausgesetzt bewegender Vorhang vor mir befinde, hinter welchem sich Ereignisse abspielten, die ich nicht deutlich zu erkennen vermochte. Da geschah etwas ganz Sonderbares: der Vorhang stand plötzlich still; er teilte sich nach rechts und links, und ich sah eine liebe, liebe Gestalt vor mir erscheinen. Ihr Anblick wurde mir nur für einen ganz kurzen Moment gewährt, aber das Bild hatte so scharfe Umrisse und so lebendige Züge und Farben, daß ein Irrtum darüber, wer es sei, ganz ausgeschlossen war. Es kam ein Reiter, erst in der Ferne klein, doch immer größer werdend, in schlankem Galoppe auf mich zugeritten; gerade vor mir parierte er sein Pferd, senkte die Hand zum Gruße und war dann verschwunden. Der Vorhang schloß sich und begann, sich wieder zu bewegen wir vorher. Wer war es gewesen? Unser Kara Ben Halef, meines kranken Freundes Sohn. Sogar das Pferd hatte ich erkannt. Es war der dunkelbraune, noch nicht vier Jahre alte »Ghalib«, den die Haddedihn als Leihgebühr für die Pferdezucht des Stammes der Abu Hammed-Beduinen gewonnen hatten. Dieser Braune berechtigte zu den schönsten Hoffnungen und war unsern beiden Schwarzen ebenbürtig. Ich überlegte nicht lange, sondern fragte, die Augen wieder öffnend, den Pedehr:

»Willst du den Hadschi retten? Du kannst es!«

»Wie gern!« versicherte er.

»Habt ihr einige sehr schnelle, ausdauernde Pferde?«

»Ja.«

»Und jemand, der die Gegend am Tigris jenseits von Qalat el Aschig, gegenüber von Samara, kennt?«

»Ich habe einen sehr zuverlässigen Mann, der ein guter Reiter und schon einigemale am Dschebel Sindschar gewesen ist. Er kennt die Gegend, von welcher du sprichst.«

»Sende ihn, und gieb ihm einige Begleiter mit. Im Westen Von Qalat el Aschig wird er auf die Haddedihn treffen. Er soll um keinen Preis verraten, daß Halef krank ist; aber er soll unbedingt den Sohn des Hadschi bringen, welcher Kara Ben Halef heißt und den Ritt hierher auf dem dunkelbraunen Pferde ›Ghalib‹ zu machen hat! Das Denken und das Sprechen fällt mir schwer. Gieb die Befehle so, wie du sie für nötig hältst!«

Da erhob er sich, faßte meine Hand und sprach:

»Ich verstehe dich, Effendi. Wenn Halef erwacht, um zu sterben, soll er seinen Sohn vor sich sehen. Dadurch wird seine Seele vielleicht festgehalten werden. In nicht mehr als einer Stunde werden drei vertrauenswerte Männer unser Urd verlassen, um deinen Wunsch so schnell wie möglich auszuführen!«

Hierauf entfernte er sich. Ich aber fühlte mich in hohem Grade ermattet und versank in einen lethargischen Zustand, der aber nicht Bewußtlosigkeit und auch nicht Schlaf zu nennen war, denn meine inneren und äußeren Sinne blieben in, wenn auch nur geringer, Thätigkeit. Ich hörte das leise Rauschen von Schakaras Gewand wieder, und ich bemerkte, daß ein süßer Veilchenduft in meine Atmosphäre trat. Und dann – ob gleich hierauf oder später, das weiß ich nicht – war es mir, als ob ich im Gelobten Lande sei, und zwar in El Chalil. Ich ritt auf dem alten Pflasterweg nach dem Haine Mamre hinaus und ließ mir im russischen Hospize dort den Schlüssel zum Aussichtsturme geben. Ich sah die unterhalb desselben stehende »Eiche Abrahams« so deutlich, wie sie in Wirklichkeit absterbend dort zu sehen ist, und ritt dann zwischen Weinbergsmauern weiter, die Jerusalemstraße hinaus und rechts hinüber nach dem Brunnen Abrahams. Er liegt in der unteren, rechten Ecke des Mauerfeldes, und die strenggläubigen Bewohner von El Chalil sehen es nicht gern, wenn ein Christ von seinem Wasser trinkt. Ich schöpfte aber doch und trank und trank. Hierauf sammelte ich, wie ich schon früher gethan, den Samen der dort massenhaft wachsenden Kompositenblumen, um ihn daheim in meinem Garten anzusäen. Da erklang eine Stimme hinter mir: »Friede sei mit dir!« Ich richtete mich auf und wandte mich um. Wer war die hohe, patriarchalische Gestalt, welche leuchtenden und doch so gütigen Auges vor mir stand? War es der erste der Erzväter, zu dem zu dritt die Engel kamen, um bei ihm einzukehren? War es Abraham, Tharahs Sohn, der aus Ur, im Lande der Chaldäer, stammt? Ja, gewiß, er war es; er mußte es sein; aber nicht so alt wie im Haine Mamre und auch nicht so jung wie in Mesopotamien, und doch beides, alt und jung zugleich! Ich schaute in ehrerbietigem Staunen zu ihm auf.

Ja, ich schaute! Ich hatte die Augen wieder geöffnet. Ich war nicht mehr geistig dort in El Chalil, sondern wirklich hier im kurdisch-persischen Gebirge. Ich befand mich auf meinem Krankenlager. Es war ringsum mit duftenden Veilchen geschmückt. Zu meinen Füßen saß Schakara, die Spenderin derselben, und zur Seite stand – Abraham, der Erzvater? Vielleicht hat dieser ein ganz genau solches einfaches, kamelhaarenes Gewand getragen wie der hochgestaltete, ehrwürdige Greis, den ich jetzt vor mir sah. Greis? Ja, denn der schneeweiße Bart, welcher ihm bis herab zur Gürtelschnur reichte, konnte nur eine Gabe des höchsten Menschenalters sein; aber das Ehrfurcht gebietende Angesicht war hochbetagt und jugendlich zugleich, und die voll und schwer vom Kopfe herniederhängenden Haarflechten zeigten eine nicht etwa stumpfe und künstliche, sondern so echte und lebenswahre Schwärze, wie sie nur den Jünglings- und den kräftigsten Mannesjahren eigen ist. Ich sah wie vorhin mit geschlossenen, nun mit offenen Augen staunend zu ihm auf. Da lächelte er mild zu mir hernieder, breitete die Hand wie segnend über mich und sprach:

»Friede sei mit dir!«

Das war dieselbe tiefe, klangvolle Stimme, welche ich vorhin am Brunnen Abrahams gehört hatte. Es ging ein geheimnisvolles, köstliches Imponderabil von diesem Manne aus. Es kam zu mir, durchflutete mich, zog mich zu ihm hin. Ich konnte gar nicht anders, ich durfte ihm nur die eine Antwort geben:

»Du bringst ihn mir. Mein Dank und Segen sei dein Eigentum!«

»Die Jugend ist beim Alter, der Sohn beim Vater eingekehrt,« fuhr er fort. »Die Liebe soll dich hier mit mir vereinen. Vertraue uns, so wirst du bald gesunden. Ich lege dir die Hand auf das kranke, müde Haupt. Aale ïk essallam u rahhmet Chodeh – der Friede und die Barmherzigkeit Gottes sei mir dir!«

Er ließ seine Hand fast eine Minute lang auf meiner Stirn liegen. Sie war so warm und doch so eigen frisch. Ich griff nach ihr und führte sie an meine Lippen. Er ließ das geschehen, hob aber dann den Finger und sprach, indem sein Mund fast schalkhaft lächelte:

»Verschweige dies daheim! Wie darf das Abendland die Hand des Morgenlandes küssen! Man würde dich wohl kaum begreifen können!«

Hierauf wendete er sich von mir und ging zu Halef hinüber. Das also war der »Ustad«, der »Meister«! Ich folgte ihm mit meinen Augen, weil es mir unmöglich war, sie vom ihm abzuwenden. Fieberte ich etwa schon wieder? Es kam mir der sonderbare Gedanke: »Soeben hast du in das Angesicht des Orients geschaut.« So eine Idee kann doch nur bei einem Kranken möglich sein!

Er stand einige Zeit am Lager des Hadschi, ohne etwas anderes zu thun, als ihn zu betrachten; dann legte er auch ihm die Hand auf das Haupt, worauf er sich sehr ernsten Angesichts entfernte.

»Das war er!« sagte Schakara. »Dein Herz wird ihm gewiß bald angehören. Willst du nun die Harfe hören?«

Ich nickte. Sie ging nach der Stelle, wo die Sandurah lag, hatte sie aber noch nicht erreicht, so blieb sie stehen. Der Hadschi hatte sich bewegt.

»Sihdi – Sihdi – Sihdi!« rief er laut.

»Hier bin ich, Halef,« antwortete ich.

»Ich war ganz nahe, ganz nahe!« fuhr er fort, ohne daß er die Augen öffnete.

»Wo?«

»Am Sterben, am Sterben! Ich habe sie gesehen, beide, beide, ihn und ihn!«

»Wen?«

»Den Hadschi und den Halef! Der Hadschi war ein anderer; der Halef aber, der war ich! Der Halef lenkte seine Schritte hinauf nach dem Paradiese; der Hadschi aber hielt ihn fest, um ihn hinab zur Dschehenna zu zerren. Es war ein schwerer Kampf. Der Halef war nicht stark genug, und der Hadschi wollte eben siegen; da fühlte ich eine Hand auf meiner Stirn und war gerettet. Hamdulillah!«

Seine Stimme hatte einen eigentümlichen, angstvollen, erschütternden Klang.

»Warum antwortest du mir nicht?« rief er. »Ich will noch leben; ich darf noch nicht sterben. Der Halef in mir ist noch nicht geschickt dazu; der Hadschi würde ihn zur Tiefe reißen. Die Hand, die Hand, sie soll so oft wie möglich wiederkommen! Sie soll dem Halef helfen – helfen – hel – hel –!«

Er sprach immer langsamer, langsamer und leiser, bis bei der letzten Silbe die Bewußtlosigkeit wieder über ihn kam. Schakara griff zur Harfe, deren Akkorde ich erst deutlich hörte; dann schien es, als ob sie sich entfernten, bis sie endlich ganz verklangen – ich war eingeschlafen.

Eingeschlafen? Es war mehr als bloß nur Schlaf. Ich erfuhr später, daß ich fast zwei Tage lang gelegen hatte, ohne mich ein einziges Mal zu bewegen. Ein ganz entsetzlicher Frost war die Veranlassung, daß ich erwachte. Drüben in der andern Ecke waren mehrere Männer beschäftigt, Halef mit kaltem Wasser und Tüchern zu frottieren. Die Luft kam mir verschlechtert vor. Es roch trotz der frischen Veilchen, welche ich sah, so dumpf, so moderig, fast wie nach Leiche. Ah! Da kam die Erkenntnis: Ich selbst war es, von dem dieser Geruch ausging, der ein Symptom des Petechialtyphus ist! Nun wußte ich, daß eine wochenlange Betäubung sich meiner bemächtigen werde. Also darum die Veilchen! Diese Blumen hatten bei mir denselben Zweck wie dort bei Halef die Rosen. Es wurde mir himmelangst, mehr um ihn als um mich. Ich wollte die Männer fragen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Doch dauerte dieser Zustand nicht lange, da mir das Bewußtsein sehr bald wieder schwand.

Später erinnerte ich mich, zuweilen kaltes Wasser an meinem Körper gefühlt und scharfen Salmiak gerochen zu haben. Auch war es mir, als ob Halef mich gerufen und vom Sterben gesprochen habe. Dann, als ich zwei volle Wochen so gelegen hatte, stellte sich die erste, deutliche Empfindung bei mir ein: Ich fühlte die Hand des Ustad auf meiner Stirn.

»Er lächelt!« sagte er. »Wie todesmatt! Vielleicht schlägt er die Augen auf!«

Ich versuchte, es zu thun, doch gelang es mir nur halb. Da beugte sich der Ustad zu mir nieder und sagte:

»Ich sehe, daß du mich verstehst. Sei getrost; du bist gerettet! Auch Halef lebt noch. Er ist noch nicht erwacht. Wenn er es thut, ist es vielleicht zum Leben!«

Hierauf schlief ich sogleich wieder ein. Die späteren Erinnerungen erzählten mir, daß Schakara sehr oft bei mir kniete und mir wie einem Kinde mit einem Löffel dünne Speise gab. Ich war so schwach, daß ich kaum schlucken konnte. Hierbei freute ich mich unendlich über die Entdeckung, daß der schlimme Geruch verschwunden war. Fast noch größere Freude bereitete mir der Anblick einer vor meinem Lager errichteten Pyramide, an welcher meine Waffen, meine Kleidungsstücke und Assils Zaum- und Sattelzeug hingen. Das war ein Zeichen liebevollster Aufmerksamkeit.

»Assil!« entfuhr es meinen Lippen. »Ich sehne mich nach ihm.«

»Willst du ihn sehen?« fragte die Kurdin.

»Ja.«

Sie ging nicht, ihn bringen zu lassen, sondern sie trat nur unter den Eingangsbogen hin und rief den Namen des Rappen. Er war also da draußen in der Nähe. Ich hörte seine nahenden Schritte und sein mir so liebes, zutrauliches Schnauben. Es gab vom Vorplatze aus ein Dutzend Stufen zu ersteigen. Einige Schmeichelworte von ihr veranlaßten den Rappen, heraufzukommen. Daraus erkannte ich, daß sie sich viel mit ihm beschäftigt hatte. Ich sah neben der Säule, an der sie stand, seinen charaktervollen, schön gezeichneten Kopf erscheinen, den sie liebkosend an sich drückte. Er legte seine Lippen an ihre Wange. Das war der Kuß, mit dem er außer mir nur noch Halef auszuzeichnen pflegte. Er hatte sich also mit Schakara ganz ungewöhnlich zusammengefreundet.

»Assil!« rief ich ihn. Meine schwache Stimme klang allerdings gar nicht laut dabei. Er stutzte. »Assiil, lihene – hierher!« Da kam er mit einem schnellen, kurzen Satze vollends herein und schaute sich um. Ich streckte ihm die Hand entgegen. Er näherte sich, blieb bei mir stehen und sah mich lange zweifelnd an.

»Er kann dich nicht erkennen, denn du siehst dir nicht mehr ähnlich,« sagte Schakara.

»Assil, mein Lieber, mein Braver, mein Treuer, mein Liebling!«

Da kam er ganz zu mir heran, um mich in nächster Nähe zu beriechen. Er berührte meine Hände, mein Gesicht. Und nun warf er plötzlich den Kopf hoch empor und stieß ein drei-, viermal wiederholtes und so eigenartiges Wiehern aus, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte. Hierauf ließ er Schwanz und Ohren spielen und ging unter allerlei drolligen, aber unendlich rührenden Kapriolen bald vorn, bald hinten in die Luft. Diese seine Bewegungen glichen den freudigen Sprüngen eines Hundes, der seinen lange entbehrten Herrn wieder vor sich sieht. Schakara ging hinaus, um einige Handvoll grüner Kischr herein zu holen, welche sie ihm auf meine Decke streute. Sie hatte also entdeckt, daß dies seine Lieblingsspeise sei. Aber er fraß sie nicht; er nahm nicht eine einzige davon, sondern er scharrte, wie dies vor dem Schlafen seine Weise war, mit den Vorderhufen den aus Steinfliesen bestehenden Boden und legte sich dann lang und eng an meinem Bette nieder, so daß ich seinen Kopf mit der linken Hand erreichen und dankbar streicheln konnte. Jede Kreatur will Liebe haben und giebt sie doppelt wieder, wenn sie sie empfängt!

Von jetzt an hatte ich nicht mehr mit der Krankheit, sondern nur noch mit der allerdings außerordentlichen Schwäche zu kämpfen, welche ihre Folge war. Ich bekam kräftige, aber leicht verdauliche Nahrung. Der Ustad und der Pedehr kamen täglich wiederholt, um nach mir zu sehen, doch thaten sie das nur, wenn sie wußten, daß ich schlief. Sie wollten vermeiden, mich durch das Sprechen mit ihnen anzustrengen, aber tausend Beweise stiller, liebevoller Aufmerksamkeit sagten mir, daß sie mit ihren Gedanken immer bei mir und Halef seien. Schakara war Tag und Nacht unausgesetzt im Raume. Sie verließ ihn nur dann, wenn kräftige Männerhilfe für uns nötig war.

Und aber Halef? Der lag nun schon drei Wochen lang in tiefster Betäubung. Er atmete nur leise; der Schlag seines Herzens war kaum noch zu spüren. Ich ließ mich einmal zu ihm hintragen, um ihn anzusehen. Welch ein Anblick bot sich mir! Ich konnte die Thränen, welche aus meinen Augen brachen, nicht hinunterkämpfen. Man ist als Genesender ja überhaupt weicher als sonst gestimmt. Ich hatte ein Skelett vor mir, dessen Anblick durch die dunkle Petechialhautfarbe doppelt schmerzlich wirkte. Die Augenlider lagen konkav in ihren Höhlen; die Wangen hatten sich in Vertiefungen verwandelt, und weil der Hadschi sehr gesunde Zähne besaß, trat die untere Partie des Gesichtes wie bei einem Totenkopfe hervor. Genau so wie ihn hatte ich im Gizehmuseum bei Kairo die Mumien von Ramses II, Thutmosis und anderer altägyptischer Herrscher vor mir liegen sehen. Dort die toten Zeugen einstigen Strebens, den Körper ewig zu erhalten, und hier der kaum noch atmende Beweis, daß der Leib, sobald die Seele sich von ihm zu lösen beginnt, der unerbittlichen Zersetzung anheimzufallen hat!

Der Anblick that mir wehe; ich ließ mich nach meinem Lager zurücktragen. Dort kam mir der Gedanke, nach einem Spiegel zu fragen. Ja, es gab einen. Man brachte ihn mir, und ich schaute hinein. Du lieber Himmel, ich sah nicht viel besser als Halef aus. Es war gar kein Wunder, daß Assil mich nicht erkannt hatte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß ich es sei, so wäre ich wohl kaum auf den Gedanken gekommen, in diesem dunkeln, hippokratischen Schemen mein eigenes Bild vor mir zu haben!

Aber das besserte sich nun von Tag zu Tag. Ich genoß viel Milch, mein Lieblingsgetränk, und erhielt sehr reichlich ausgepreßten Saft von Hühnerfleisch. Bald konnte ich aufrecht sitzen, ohne gleich wieder umzufallen. Das Sprechen strengte mich nicht mehr an, und ich machte an mir die bei Genesenden sehr häufige Beobachtung, daß geistig ganz wertlos scheinende Kleinigkeiten mir ein ungewöhnliches, wenn auch fast kindliches Interesse abgewannen.

Es war an einem dieser Tage. Die Sonne stieg dem Untergange zu. Da trug man Kissen hinaus ins Freie, und Schakara fragte mich, ob ich nicht einmal draußen sitzen möge. Der erste Ausflug, zwanzig Schritte weit bis vor die Säulen hin! Ich stimmte freudig ein. Zwei Männer hoben mich auf und brachten mich hinaus. Das war keine schwere Arbeit, denn ich war sehr leicht geworden. Nun sah ich zum erstenmal die Gegend, in welcher wir uns befanden. Sie mußte auch jedem, der nicht Rekonvaleszent war, als ein Paradies erscheinen.

Von da, wo ich mich befand, führten zwölf Stufen auf eine weite, grasige Terrasse hinab, auf welcher Assil und Barkh spazieren gingen oder vielmehr spazieren sprangen. Sie war von Blumenbeeten und blühenden Rosenbäumchen eingefaßt. Mehrere hoch- und breitkronige Dilbiplatanen breiteten schützend ihre Wipfel über diesen freien Platz, von welchem ein gut unterhaltener Zickzackweg hinab zur Sohle des Thales führte. Das Haus des Ustad stand hoch auf stolzer Höhe. Es war auf gewaltigen, altpersischen Mauerresten errichtet und glich mehr einer Burg als einem Wohngebäude, doch konnte ich das jetzt noch nicht sehen. Das vor mir liegende Thal hatte eine elliptische Form, an deren westlicher, schmaler Seite ich hier saß. Es war wohl eine Wegesstunde lang und halb so breit. In der Mitte flimmerten die vom Windeshauche bewegten Wellen eines Sees, welcher rundum von saftig grünem Weideland umgeben war. Ich sah da Pferde, Maultiere, Kamele, Rinder und eine Menge Kleinvieh grasen. Hieran schlossen sich wohlbebaute Felder, welche bis an die rings emporragenden Berge reichten, an denen sich Wein-, Maulbeer-, Frucht- und Blumengärten bis da hinaufzogen, wo der Wald sich seiner Herrschaft nicht berauben ließ. Ich sah lebhafte Wasser von den Höhen fließen, um ihren Weg zum See zu suchen, auf dem – ein Wunder hier in Persien! – ein kleines Boot sein helles Segel blähte. Ueberall standen Häuser, meist mit platten Dächern, aus festen Steinen aufgeführt und freundlich weiß getüncht. Sie wurden im Winter bewohnt. Für die jetzige Jahreszeit hatte man luftige Zelte errichtet oder auf den Dächern aus Laub und Stangen Hütten gebaut, in denen man des Nachts zu schlafen pflegte. Diese Hütten sind auch in andern Gegenden des Orients gebräuchlich. Man sieht sie z. B. besonders auf den alten, dumpfigen Gebäuden von Beled esch Schech und El Jadschur, welche an der Straße von Ha ïfa nach Nazareth liegen. Die Berge erreichten hier eine solche Höhe, daß ihnen der Wald nicht ganz hinauf zu folgen vermochte. Die Kuppen bildeten alpine Weiden, auf denen die dort grasenden Ziegen dem Auge als ganz winzige Tüpfelchen erschienen.

Die Mehrzahl der Häuser und der Zelte lag im Vordergrunde, von welchem aus ein breiter, straßenähnlicher Weg hinauf nach einem Felsenvorsprunge führte, wo ich ein Bauwerk liegen sah, dessen Stil meine Verwunderung erregte. Es war ein nach allen Seiten offener Tempelbau, dessen Dach nur von Säulen, nicht von geschlossenen Wänden getragen wurde. Es gab kein einziges Zeichen, welches verriet, welcher Art von Verehrung es zu dienen habe. Ich sah nur die Säulen und das Dach, sonst weiter nichts. Es gab keinen Altar, keinen einzigen Sitz, keinen Rednerstuhl. Aber an allen Säulen rankten sich blühende Kletterrosen und andere Schlingpflanzen empor, und der ganze Platz rund um den Tempel bildete einen sichtlich mit großer Liebe gepflegten Blumengarten, durch welchen zahlreiche, mit reinlichem Sand bestreute Wandelgänge führten.

Noch hing mein bewundernder Blick an dieser Herrlichkeit da drüben, da kam jemand durch den Raum gegangen und blieb hinter mir am Pfeiler stehen. Ich sah ihn nicht, aber ich fühlte ganz deutlich, daß es der Ustad war. Es verging einige Zeit, ohne daß er sich bewegte oder sprach. Auch ich war still. Ich sah hinauf zu den Bergen. Das Licht hatte begonnen, sich aus dem Thale zurückzuziehen. Die leise schreitende Dämmerung stieg empor. Als sie den Fuß des Waldes erreicht hatte, erschienen die freien Höhen wie in flüssiges, leuchtendes Gold getaucht. Die scheidende Sonne gab ihnen den letzten, glühenden Abschiedskuß. Das Gold ging in tiefere Orange- und Purpurtöne über, denen ein kurzer, violetter Schatten folgte; dann schwang sich das Abendrot von den Bergen himmelwärts, um sich dort für eine andere Welt ins Morgenglühen zu verwandeln. »Gute Nacht!« klang es mir durch die Seele.

Ich hatte das bloß gedacht, und doch ertönte sogleich neben mir die tiefe Stimme des Ustad:

»Gute Nacht für uns; für andere aber bedeutet es den Morgen! Erlaubst du mir, Effendi, eine kurze Zeit bei dir zu sein?«

»Du bist mir, wie kein anderer, hochwillkommen!« antwortete ich ihm.

Da trat er zu mir heran, legte mir die Rechte auf das Haupt und sprach:

»Seit du bei mir in meinem Hause bist, ist’s heut zum erstenmal, daß deine Krankheit nicht zwischen meinen Worten und dem Verständnisse derselben steht. Sie ist gewichen; du kannst nun, ungehindert von ihr, das, was ich sage, empfangen und begreifen. Ich heiße dich zum zweitenmal willkommen und bitte dich, bei mir zu bleiben, so lange es dir und deinem höhern Ich, welches ihr Seele zu nennen pflegt, bei mir und meiner Seele gefällt. Ich habe auf dich gewartet.«

»Du? Auf mich?« fragte ich erstaunt.

»Ja. Schon seit langer, langer Zeit. O, ihr wißt gar nicht, wie lange wir schon auf euch warten, auf euch, auf euch, auf euch!«

Er hielt einen Augenblick inne, wie um mir Zeit zu gewähren, über seine Worte nachzudenken; dann fuhr er weiter fort:

»Und nun du endlich, endlich gekommen bist, und zwar in einer Weise, wie ich kaum hoffen konnte, so segne ich dich mit dem besten Segen, den ein Mensch vom Himmel zu empfangen und einem andern Menschen zu geben vermag. Nimm ihn hin von mir, diesen Segen, und glaube nicht, daß er in leeren Worten bestehe! Er kommt nicht von mir sondern von dem, der die einzige Quelle alles Segens ist!«

Als er das gesagt hatte, trat er von mir weg und setzte sich zu meinen Füßen auf die erste der hinabführenden Stufen nieder. Das war so bescheiden und anspruchslos; das war so klein, und doch war es so groß!

Nun herrschte eine Weile zwischen uns Schweigen. Die schnelle Dämmerung verwandelte sich in Nacht. Die Häuser waren verschwunden, aber freundliche Lichter tauchten auf, um uns die Stellen zu bezeichnen, an denen Menschen wohnten. Am Himmel wurden die Sterne immer sichtbarer. Ihr Schein reichte hin, uns die erhabenen Gestalten der Berge sichtbar zu machen, um deren baumlose Häupter lichtere Töne webten, welche mein Auge unausgesetzt auf sich zogen. Da deutete der Ustad empor und sagte:

»Ich sehe, daß du hinauf zu unsern Bergen schaust. Wollte das Abendland doch stets dasselbe thun! Aber es scheint nur unsere Thäler kennen zu wollen! Wenn es von uns redet, so spricht es nur von unsern Tiefen, nicht von unsern Höhen! Von unserm Alter, nicht von unserer Jugend! Von unserer Vergangenheit, nicht von unserer Zukunft! Von unserem Tode, nicht von unserm Leben! Von unserer Ohnmacht, nicht von unserer Stärke! Von unserm Verfall, doch nicht von unsern Hoffnungen! Ich weiß nur einen einzigen Europäer, der anders und besser von uns denkt, und dieser Mann bist du, Effendi.«

»Ich habe noch nicht mit dir hierüber gesprochen. Solltest du mich trotzdem kennen?« fragte ich.

»Ja. Wir haben nicht die Mittel des Verkehrs, die ihr besitzt; aber der Ilahn ist ein schneller Reiter.

Er eilt von Duar zu Duar, um zu verkünden was er sah und was er hörte. Er hat schon längst, schon längst von dir erzählt. Du warst wiederholt ein Gast der Haddedihn, und von ihnen bis herauf zu uns ist gar nicht weit. Du warst schon einigemal in den Bergen Kurdistans. Was da geschah, das haben wir erfahren. Ich habe geahnt, daß deine Seele dich auch zu uns führen werde, und darum sagte ich soeben, daß du von uns erwartet worden seist. Aber es giebt noch eine andere, bessere und zuverlässigere Quelle, aus deren reinem, klarem Wasser mir dein geistiges Angesicht entgegenblickte. Ahnest du vielleicht, wer diese Quelle ist?«

»Nein.«

»Ihr Name ist Marah Durimeh.«

»Sie? Meine liebe, liebe Freundin und Beschützerin?« fragte ich da schnell. »Kennst du sie?«

»Wahrscheinlich kennt sie keiner so gut, wie ich sie kenne. Doch, schweigen wir jetzt von ihr! Es giebt noch eine andere Person, an die ich jetzt zu denken habe. Als ich am Morgen, nachdem man euch zu mir gebracht hatte, eure Waffen sah, fiel mir ein Chandschar auf, der bei dir gefunden worden war.«

»Kennst du ihn?« fiel ich rasch ein.

»Ja. Es kennen ihn sehr viele. Ist er ein Geschenk?«

»Ja.«

»Wo hast du ihn bekommen?«

»In Amerika.«

»Von wem? Verzeih, daß ich dich frage! Es ist nicht müßige Neugierde, die mich zu dieser Erkundigung veranlaßt.«

»Von einem Perser, Namens Dschafar.«

»Mirza Dschafar, der Sohn von Mirza Masuk?«

»Ja, von ihm.«

»Er gab dir die Waffe mit der Versicherung, daß derjenige, der ihm diesen Chandschar vorzeige, sei er, was er sei, darauf rechnen könne, daß er alles für ihn thun werde?«

»So ist es. Also auch diese Worte sind dir bekannt!«

»Nicht nur sie und nicht nur alles, was Mirza Dschafar mit dir erlebte, sondern auch alles, was er mit dir gesprochen hat. Du siehst also, daß ich dich besser kenne, als du wohl ahnen konntest. Darum weiß ich ganz genau, wie du über das Morgenland und sein Verhältnis zum Abendlande denkst. Ich begreife, daß du näheres über Mirza Dschafar erfahren möchtest, bitte dich aber, mich jetzt nicht zu fragen. Du gehst ja noch nicht fort von mir, und wir haben also Zeit genug, über diesen mir so wichtigen Mann zu sprechen. Es liegt ein Geheimnis über ihm, und ich weiß jetzt noch nicht, ob ich es dir so weit, wie ich es kenne, enthüllen darf.«

Er schwieg. Auch ich war still. Wie wunderbar die Fäden des menschlichen Lebens gesponnen werden! So fern die Maschen voneinander liegen, es kommt ganz unerwartet ein Faden, der sie eng vereinigt. Wer sind die Arbeiter, die an unsern Webstühlen sitzen? Wir selbst? Wer liefert uns das Garn? Wer bringt es auf die Spule? Wer legt die Kette um den drehenden Rahmen? Wer legt die Muster auf? Wer lenkt das unermüdliche Schiffchen Tag für Tag, Stunde für Stunde, vom ersten bis zum letzten Augenblicke unserer Erdenzeit? Immer und immer nur wir selbst? Wir armen, armen, kurzsichtigen Thoren!

Es lag in diesem Gedankengange, daß mein Blick hinüber nach dem Blumentempel geführt wurde. Ich fragte den Ustad, was das für ein Gebäude sei.

»Es ist unser Beit-y-Chodeh, antwortete er. »Du kannst es auch Beit Allah nennen. Chodeh und Allah ist ja gleich. Ihr nennt ihn Gott!«

Da aber wendete er, der mir bisher die Seite zugekehrt hatte, sich plötzlich ganz zu mir herum und sagte:

»Gott – Allah – Chodeh – welche eine Todsünde, zu behaupten, daß diese drei Worte nicht Verschiedenes bedeuten! Ich sah einen englischen Missionar, welcher seinen Schülern befahl, den Schöpfer und Erhalter aller Dinge nur englisch ›God‹ zu nennen; Allah und Chodi seien ganz andere Götter! Als ob der Ewig-Ewig-Eine von irgend einem sich überhebenden Menschenkinde gezwungen werden könne, für jede andere Sprache und für jede andere Art, in der die Sterblichen zu ihm lallen, auch ein anderes Wesen anzunehmen! So ein Thor stellt sich hoch über Gott, indem er es in seiner Verblendung wagt, zu bestimmen, welches Wort der einzig richtige Name des Weltenlenkers sei! Hast du als Christ den Mut, Gott Allah oder Chodeh zu nennen, Effendi?«

»Wenn ich überhaupt schon den Mut besitze, von Gott oder gar im Gebete mit Gott zu sprechen, so ist der Mut, den du meinst, wohl selbstverständlich. Ich besitze nicht die Macht, Gott vorzuschreiben, wie er sich in den verschiedenen Ländern der Erde nennen zu lassen habe. Und ich bin auch nicht so wahnsinnig, zu behaupten, daß Gott ein Wesen sei, dessen Namen nur aus Buchstaben des deutschen Alphabetes zusammengesetzt werden könne.«

»So denke ich auch. Man giebt ihm in jeder Sprache und in jeder Anbetungsweise so viele und so verschiedene Namen; aber er ist und bleibt stets derselbe. Welches Menschenwort könnte ihn umfassen? Von welchem irdischen Gebäude dürfte man sagen, daß er hier ausschließlich wohne? Darum haben wir zwar die Säulenhalle da drüben errichtet, aber wir nennen sie nicht ›sein‹ Haus, sondern ›unser‹ Gotteshaus. Dieses haben wir für uns gebaut, nicht aber zur Wohnung dessen, der allgegenwärtig ist und sich nicht etwa von einem andern Orte und von andern Menschen entfernen kann, um, uns zum Vorzuge, bei uns einzuziehen. Wer einen besondern Ort für Gott bestimmt, der begeht die Sünde, dem allumfassenden Geiste die Fesseln von Raum und Zeit anlegen zu wollen. – Warum ist es zu allererst Chodeh, von dem ich zu dir spreche? Warum habe ich nicht mit etwas anderem begonnen? Du solltest vor allen Dingen und zunächst wissen, wem dieses Haus und dieses kleine Reich gehört, dessen Lichter du da unten glänzen siehst. Ich wollte dir damit sagen, daß du dich bei Leuten befindest, welche wissen, wem sie angehören. Und wir sagen nicht bloß, daß wir ihm dienen, sondern wir sind jederzeit bereit, dieses Wort in Thaten zu verwandeln. Horch! Da hast du gleich Gelegenheit, so eine That zu hören.«

Die beiden Glocken begannen, über uns zu klingen.

»Warum läutet man?« fragte ich.

»Um zum Gebete aufzufordern. Irgend ein Bewohner unsers Thales sendet in diesem Augenblicke seine Seele zu Chodeh empor; er hat das hier gemeldet; die Glocken klingen, und so weit ihre Stimmen zu hören sind, faltet jedermann die Hände, und tausende von Herzen beten mit. Ich thue es auch!«

»Ich ebenso!«

Es war, als ob diese meine zwei Worte mit Willen begabte Wesen seien, welche meine Hände faßten, um sie ineinander zu legen. Muß man wissen, um was jemand bittet, um mit ihm beten zu können? Nein! Der Glaube trägt die Nächstenliebe himmelan; der Gegenstand des Wunsches braucht nicht genannt zu werden. »Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, noch ehe ihr darum bittet.«

Giebt es vielleicht ein Dogma oder irgend ein Glaubensbekenntnis, gegen welches ich gesündigt hätte, indem ich hier als Mensch mit andern guten Menschen meiner brüderlichen Pflicht gedachte? Ich hoffe: keines! Es sei denn, daß eine Religion existiere, welche die Verknöcherung des Herzens zur unbedingten Folge hat! Es war eine ganz eigenartige Atmosphäre, aus welcher ich hier an diesem Orte und in dieser Stunde körperlich und geistig Odem sog. Da unten in Basra hatten wir die pest- und fieberschwangern Dünste einer nicht bloß orographischen Tiefe eingeatmet; hier oben aber umwehte mich, auch nicht bloß äußerlich, eine Lebensluft, die frei von Keimen zum Erkranken war. Ich hätte behaupten mögen, daß nie ein Glockengeläut so rein erklungen sei wie dieses hier. Vielleicht waren die aufsteigenden Fürbitten von eben derselben Lauterkeit, weil niemand wußte, um wen und um was es sich handelte. Dieser von jeder Aeußerlichkeit erlöste Gottesdienst wirkte so unmittelbar und siegreich auf das Gemüt, daß eine Frage nach Knigges »Umgang mit Andersgläubigen« gar nicht aufkommen konnte. Nur einem vollständig herz- und gemütslosen Menschen wäre es zuzutrauen gewesen, hier ohne sowohl innere als auch äußere Teilnahme zu bleiben.

Als der letzte Ton der Glocken zwischen den Bergen verklungen war, verharrte der Ustad noch einige Zeit im Schweigen; dann wendete er sich mir wieder zu und sagte:

»So wie jetzt wurden die Glocken geläutet, mitten in der Nacht, als man dich und den Scheik der Haddedihn hier bei mir eingebettet hatte. Es gab keinen einzigen Dschamiki, der sich nicht dem Schlafe entriß, um für euch zu beten. Und alle, alle, sind auch dann noch mit dieser Fürbitte einverstanden gewesen, als sie erfuhren, daß ihr unsern Chode ›Gott‹ und ›Allah‹ nennet. Wäret ihr beide bei uns gestorben, so hätten wir euch nicht etwa abseits eingescharrt, sondern ihr wäret unter Glockenklang und Liedersang auf den Berg getragen worden, wo alle unsere Brüder und Schwestern liegen, die sich verwandelt haben. Wir hätten euch gesegnet, wie wir sie gesegnet haben, und euch die schönsten und duftendsten unserer Rosen auf die Gräber gepflanzt. Denn wir verheimlichen nicht, was wir wissen und was wir glauben und was kein guter unbefangener Mensch bezweifeln kann, nämlich daß nicht wir die Richter sind, welche über die Seligkeit oder Verdammnis der Sterblichen zu bestimmen haben. Sag, würde man auch bei euch Christen einem Andersgläubigen die Glocken läuten und den Segen geben? Ich frage dich nicht, um eine Antwort zu erhalten, denn ich weiß, daß du sie mir nicht geben darfst.«

Als er jetzt schwieg, blieb ich still. Warum? Bloß wegen meiner körperlichen Schwäche als Genesender? Oder aus Klugheit, um ein Wortgefecht zu vermeiden? Warum soll man, wenn man von Achilles redet, grad von der Ferse sprechen! Mein Auge war hinunter auf das Thal gerichtet. Ich sah Lichter, welche sich hin und her bewegten. Waren das Fackeln? Vereinzelte Stimmen drangen herauf; sie klangen wie Kommandorufe. Da fragte mich der Ustad:

»Bemerkst du, daß sich da unten das Dorf belebt?«

»Ja,« antwortete ich.

»Fühlst du dich schwach oder wohl?«

»Wohl. Warum willst du das wissen?«

»Weil ich eine Mitteilung für dich habe, welche dich wahrscheinlich sehr bewegen wird.«

»Sprich sie aus! Ich fürchte nichts für mich.«

»Sie ist eine doppelte. Das eine klingt nicht froh. Das will ich dir zuerst sagen, damit das andere dich wieder beruhigen möge. Mein Pedehr vermutet, daß Hadschi Halef Omar in dieser Nacht erwachen werde.«

»Zum letzten Male?«

»Das weiß allein Chodeh. Ich bin überzeugt, daß die Erwartung des Pedehr sich erfüllen werde, denn er kennt diese Krankheit so genau, wie kein zweiter sie kennt.«

»Wo werden die Boten sein, die wir nach den Weideplätzen der Haddedihn gesandt haben!«

»Das ist das zweite, was ich dir mitzuteilen habe. Der Gedanke, Kara Ben Halef holen zu lassen, wurde zwar von dir ausgesprochen, aber er kam nicht von dir. Daß er dir gegeben wurde, läßt mich für unsern dem Tode so nahen Freund noch Hoffnung hegen. Unser Können ist erschöpft; es giebt nur noch die Möglichkeit, daß der unerwartete Anblick seines Sohnes ihn rettet.«

»Aber der ist nicht hier!«

»Er kommt.«

»Wirklich! Gewiß! Noch heut?« fragte ich in freudiger Ueberraschung.

»Ja; noch heut, noch diesen Abend, noch vor Mitternacht.«

Ich lehnte mich zurück und holte tief, tief Atem.

Es war, als ob der Odem mir bisher gefehlt und sich nun wieder eingestellt habe. Ich schloß die Augen. Mein Blick richtete sich nach innen. Da sah ich nun so recht, wie schwer die Sorge um meinen Halef auf mir gelastet hatte. Jetzt teilte sich die unheilschwangere Wolke, und ein lichter Strahl gab mir die Hoffnung wieder!

»Sind die Boten denn schon zurück?« erkundigte ich mich.

»O nein! Sie sind mit dem jungen Scheik der Haddedihn nur bis zu einem Duar gekommen, welcher fast drei Tagesritte von hier liegt. Da müssen sie bleiben, um sich zu erholen. Auch ihre Pferde konnten nicht weiter! Der Sohn, welcher kommt, um seinen Vater wo möglich noch lebend anzutreffen, hat weder sich noch sie geschont. Nur die Rücksicht auf sein abgetriebenes, edles Pferd hat ihn vermocht, eine volle Nacht in jenem Duar zu bleiben, damit es einmal länger ruhen könne. Aber er hat sogleich nach seiner Ankunft dort zwei Boten vorausgesandt, von denen ich erfuhr, daß er heut abend sicher kommen werde.«

»Warum sagst du mir das erst jetzt?«

»Weil ich es selbst nicht früher wußte. Der Vorsprung, den sie vor ihm hatten, wird durch die Eile, mit welcher er ihnen folgt, derart ausgeglichen, daß er nur ganz kurze Zeit nach ihnen hier einzutreffen gedenkt. Nun siehst du die Lichter, welche sich da unten im Thale bewegen. Es versammelt sich da eine Schar meiner Dschamikun, um den beiden entgegenzureiten.«

»Den – beiden? Sind es zwei?«

»Ja.«

»Wer noch, außer ihm?«

»Ein Haddedihn, welcher nicht zu Pferde mit ihm kommt, sondern sich zweier Eilkamele bedient, um mit ihnen wechseln zu können.«

»Wie heißt er?«

»Das weiß ich nicht. Die Boten waren über seine Hedschan der Bewunderung voll; sie versicherten, noch nie im Leben so herrliche Tiere gesehen zu haben.«

»Tragen diese Kamele etwa einen Tachtirwahn

»Nein. Meinst du, daß der junge Haddedihn eine Frau mitbringe? Es giebt kein Weib, welches, selbst in der Sänfte, eine solche Anstrengung auszuhalten vermöchte. Die Boten sagten, der Begleiter Kara Ben Halefs scheine ein vornehmer Christ zu sein, der zwar wenig, aber sehr gebieterisch spreche. Er trage eine blaue Brille und darunter noch einen blauen Schleier, um seine Augen zu schützen. Wahrscheinlich sei er einer der gelehrten Abendländer, welche nach der Dschesireh kommen, um in den dortigen Ruinen alte Ziegel auszugraben. – Nun sag, hat dich diese Nachricht aufgeregt?«

»Nein. Um aufgeregt sein zu können, bin ich wohl noch zu schwach. Wir stehen vor einer Entscheidung. Fällt sie ungünstig aus, so trifft sie mich nicht unvorbereitet, und ich weiß, daß das Leben des Menschen nicht mit dem Tode aufhört. Selbst wenn Hadschi Halef stürbe, würde er mir unverloren bleiben. Die Nachricht von der Ankunft seines Sohnes erfüllt mich mit herzlicher Freude. Das Wiedersehen wird nicht schädlich auf mich wirken.«

»So bin ich beruhigt. Ich kam, dich vorzubereiten. Ich weiß, daß du wohl viele Fragen hast, deren Beantwortung du dir wünschest. Mein Pedehr wird das gern thun. Ich sorge für die Seelen unserer Dschamikun; alles andere ist in seine Hand gegeben.«

Er erhob sich, strich mir mit der Hand wie liebkosend über das Haar und kehrte dann nach dem Innern des Gebäudes zurück. Bei dieser Berührung meines Hauptes hatte ich wieder das Gefühl, als ob dabei eine gütig reine, nicht materielle Kraft durch mein ganzes Wesen gehe. Kann man den von einem wohlwollenden Menschen ausgehenden Segen in dieser Weise fühlen? Oder giebt es ein uns noch unbekanntes Fluidum, welches in dieser Weise von dem einen auf den andern übertragen werden kann?

Nun war ich allein und dachte an Halefs Sohn. Endlich, endlich! Ich hatte eine Zuversicht in mir, welche an die Gewißheit grenzte, daß er seinen Vater retten werde. Wer aber war der Fremde, den er mitbrachte? Einen Augenblick lang hatte ich an seine Mutter gedacht, an Hanneh, die »lieblichste und schönste unter allen Blumen des Morgenlandes«. Ich war durch die Sänfte zu diesem Gedanken geführt worden. Aber ich hatte doch angeordnet, daß Hanneh nichts von Halefs Krankheit erfahren solle, und mußte mit der Ansicht des Ustad einverstanden sein, daß ein weibliches Wesen einen solchen Parforceritt unmöglich aushalten könne. Zwar war sie eine außerordentlich resolute Frau; sie verstand, jedes Pferd nach Männerart zu reiten, und sie hing mit so inniger Liebe an Halef, daß ihr der Entschluß, jetzt mitzukommen, sehr wohl zugetraut werden konnte; aber anzunehmen, daß sie diesen Gedanken in Wirklichkeit ausgeführt habe, das schien mir doch viel zu gewagt zu sein.

Ein europäischer Gelehrter! Man hielt ihn wohl nur seiner blauen Brille wegen für einen solchen; er brauchte es ja trotzdem nicht zu sein. Auch ich hatte solche Brillen bei mir gehabt, um sie aufzusetzen, wenn die Sonnenstrahlen allzu blendend von den hellen Sand- oder Felsenflächen zurückgeworfen wurden. Ich war von dem damals noch kleinen Kara gebeten worden, sie ihm zu schenken, und hatte es gethan. Also, die Brille macht noch nicht den Gelehrten; ich habe nie im Leben die Absicht gehabt, »gelehrt« zu sein, denn es ist mir nie gelungen, mir dieses Wort sympathisch werden zu lassen. Wer aber war dieser Mann? Unser David Lindsay jedenfalls nicht. Nur allein diesem, der sich aber unterwegs nach Schiras befand, konnte die kühne Schrulle beikommen, sich Hals über Kopf einer solchen Hetzpartie nur aus dem Grunde anzuschließen, weil es etwas Ungewöhnliches war. Ich sann hin und her, konnte mir aber außer ihm niemand denken, und hielt es darum für das beste, jetzt einmal dem Beispiele Halefs zu folgen, der, wenn es etwas zu erraten gab, sich stets mit der Bemerkung aus der Schlinge zu ziehen pflegte, daß er sich mit der Lösung von Rätseln nicht abzugeben habe.

Unten im Thale gab es wieder Ruhe; die Schar der Dschamikun, von welcher der Ustad gesprochen hatte, war fortgeritten. Auf dem freien Platze zu meinen Füßen, wo sich unsere Pferde befanden, wurdeh an den dazu vorhandenen Einfassungsstützen Fackeln aufgesteckt, welche später angebrannt werden sollten. Dann kam der Pedehr mit einigen Bedienten in den Raum, an dessen Säule ich sitzend lehnte. Er gab leise Befehle. Dann kam er heraus, setzte sich bei mir nieder und fragte:

»Der Ustad hat dir gesagt, wer heut noch kommt?«

»Ja.«

»Ich weiß, daß du dich auf das Wiedersehen mit dem Sohne freust, und ich hoffe, daß der Himmel den Vater dir erhält. Denkst du, stark genug für diesen vielleicht schweren Abend zu sein?«

»Wenn ich will, wird der Körper gehorchen.«

»Ich habe Befehl erteilt, die Kerzen der Beratung hereinzubringen. Sie werden nur dann angebrannt, wenn die Aeltesten des Stammes sich bei dem Ustad befinden, um mit ihm wichtige Angelegenheiten zu beraten. Doch soll auch an dem heutigen Abend der Raum so tageshell erleuchtet sein, wie er es bei diesen Gelegenheiten ist. Ich habe über das Leben des Kranken zu wachen und brauche Licht, um die Schrift seines Angesichts lesen zu können. Was ich verbiete, darf nicht geschehen. Bist du damit einverstanden, Effendi?«

»Sehr gern!«

»Wenn er erwacht und aber nicht spricht, so wird er sterben. Findet jedoch seine Seele den Weg zu seinem Munde noch frei, so kann er uns erhalten bleiben. Unser Freund kann sich nur durch sich selbst, durch seinen eigenen Willen retten. Besitzt er diesen noch, so hoffe ich für ihn. Wenn er einen Wunsch äußert, so haben wir ihn zu erfüllen, falls dies möglich ist, denn dieser Wunsch ist die Stütze, an welcher das niedergesunkene Leben sich aufzurichten hat.«

»Ich bitte dich, mich hineinschaffen zu lassen. Ich möchte, wenn er erwacht, an seiner Seite oder doch wenigstens in seiner Nähe sein.«

»Dies wird geschehen, doch warum schon jetzt? Macht dich der Aufenthalt im Freien schwach?«

»Nein. Warten wir also bis später! Jetzt möchte ich gern wissen, was aus den Massaban geworden ist. Ich habe noch nichts wieder über sie gehört.«

»Ich werde dir das morgen oder übermorgen ausführlich erzählen. Heut aber wird dein Inneres so sehr beschäftigt werden, daß ich dir nur das eine sagen will: Es ist uns keiner entgangen. Genügt dir das?«

»Wenn du willst, ja. Horch! War das nicht ein Schuß? Noch einer! Und noch einer!«

»Drei Schüsse. Sie kommen. Viel eher, als ich dachte!«

»Mit Kara Ben Halef?«

»Ja. Bist du innerlich gerüstet, Effendi?«

»Gewiß!«

»Prüfe dich! Es wird ein Sturm sein, welcher an deiner Seele, an deinem Leben rüttelt!«

»Diese Seele ist stark; ich kenne sie.«

»So sei es denn! Wir wagen viel, sehr viel, doch meine Hoffnung blickt zu Chodeh auf, der nur allein es ist, dem wir vertrauen müssen. Ich will nach Halef schauen und dann am Thor die Gäste begrüßen; hierauf kehre ich mit ihnen hierher zurück zu dir.«

Er ging hinein, und ich hörte, daß er befahl, die Kerzen anzubrennen. Gleich hierauf drang eine Fülle des Lichtes durch die offenen Bogen heraus auf den Vorplatz. Ich sah deutlich unsere zwei Pferde liegen und mehrere Dschamikun damit beschäftigt, die aufgesteckten Fackeln schnell anzuzünden. Auch die andern Räume des »hohen Hauses« schienen hell erleuchtet worden zu sein, denn die Strahlen vereinten sich zu einem glänzenden Lichtstrome, welcher weit hinaus bis an den See und tief hinunter bis auf die Sohle des Thales flutete. Von dort klangen laute Stimmen herauf. Ich hörte Pferde wiehern. Eine Fantasia oder gar ein lärmendes Pulverspiel gab es nicht. Die Nähe des Todes verbietet solche Dinge.

Bald hörte ich fernleisen Hufschlag, welcher lauter wurde. Er kam den Berg herauf. Nun ertönte das langgezogene, ungeduldige »Chchchchchuuuuh« eines Kameles. Ich kannte diesen Ton. So klagt das Hedschihn der ebenen Wüste, wenn es gezwungen wird, auf ungewohnten Bergwegen zu schreiten. Von rechts unten her erklang die laute Stimme des Pedehr. Ich verstand die Worte nicht, doch waren sie das Willkommen, welches er den Gästen sagte. Hierauf erschienen einige Dschamikunreiter auf dem Vorplatze. Sie waren die Führer. Hinter ihnen kam, von den Fackeln genügend beleuchtet, Kara Ben Halef, auf seinem »Ghalib« sitzend. Ihm folgten zwei aus der edelsten Bischarizucht stammende Eilkamele. Das eine war ledig; auf dem anderen saß der verschleierte Fremde. Seine Waffen hingen am Sattelknopfe. Er sprach mit dem Pedehr. Er war ebenso wie Kara in den gewöhnlichen Wüstenanzug gekleidet.

Kara Ben Halef sprang vom Pferde und trat zu dem Kamele hin, um dessen Reiter beim Absteigen zu unterstützen. Dieser aber glitt ohne die beabsichtigte Hilfe schnell aus dem Sattel herab und fragte so laut und pressant, daß ich die Worte verstehen konnte:

»Nun sag, wo liegt der Scheik der Haddedihn?!«

Welch eine Stimme! Die kannte ich ja! Täuschte mich mein Ohr, oder war es Wirklichkeit?

»Hier oben in der Halle,« antwortete der Pedehr.

»So komm!«

Mit diesen Worten ergriff der Fremde Karas Hand, um mit ihm die Stufen emporzueilen.

»Ich ersuche euch, nicht so schnell zu gehen,« bat der Pedehr. »Es ist notwendig, daß ich vorher –«

Dem Verschleierten aber fiel es gar nicht ein, auf diese Worte zu achten. Er zog Kara von Stufe zu Stufe in größter Ungeduld hinter sich her, bis er die oberste erreicht hatte. Da fiel sein Blick auf mich. Er blieb stehen, um mich zu betrachten. Seine Gestalt schien plötzlich alle Möglichkeit, sich zu bewegen, verloren zu haben. Er stand starr, wortlos, eine ganze, ganze Zeit. Dann hob er langsam die Arme und schlug die Hände laut zusammen.

»Sihdi?« rief er aus.

»Ich bin es,« antwortete ich.

Da that er die drei Schritte zu mir her, warf sich vor mir nieder, zog meine beiden Hände unter seinen Schleier und drückte sein Gesicht hinein. Es waren glatte, bartlose Wangen, die ich fühlte. Sein Körper bewegte sich konvulsivisch. Er wollte den Ausbruch des Schmerzes, das Schluchzen unterdrücken und konnte es doch nicht. Aus seinen Augen floß eine Flut von Thränen über meine Hände. Kara stand still auf der vorletzten Stufe. Auch er erkannte mich, ließ aber dem Andern das Vorrecht, zuerst mit mir zu reden.

Da hob dieser andere den Kopf empor, sah mir noch einmal forschend ins Gesicht und sagte schluchzend:

»Das, das ist mein Sihdi! Der einzige Freund meines irdischen Lebens! Der kluge Berater meines Herzens! Der treue Leiter meiner irrenden Seele! Der unerschütterliche Fels in jeder Not! Kennst du mich?«

»Hanneh!«

Ich konnte dieses kleine Wort kaum über die Lippen bringen, so tief erschüttert war ich. Meine Augen standen voller Thränen, und meine Stimme bebte. Da warf sie den Turban vom Kopfe, riß den Schleier herab und rief jammernd aus:

»Ja, ich bin es! Aber bist du der noch, der du warst?«

»Ich werde es wieder sein!«

»Ja, du mußt, du mußt, du mußt es wieder sein! Ich mache dich gesund, ich, ich, ich! Und ich beginne damit gleich, gleich jetzt, in diesem Augenblick! Kennst du das Märchen von Chakika, welche vom Himmel kam und dem Tode begegnete? Sie küßte ihn; da wurde aus ihm das Leben.«

»Ich kenne es. Diese lichte, himmlische Chakika ist die herrlichste Wahrheit, die es giebt.«

»So laß mich dieses Märchen sein, und zürne mir wegen meiner Kühnheit nicht!«

Sie rutschte auf den Knieen ganz zu mir heran, zog meinen Kopf an sich und küßte mich auf beide Wangen und dann noch auf die Stirn. Dann fuhr sie unter Thränen fort:

»Wer war es, der dich jetzt mit den Lippen berührte? Nicht Hanneh, das Weib von Hadschi Halef Omar, des Scheikes der Haddedihn! Der Kuß dieser Frau könnte dir nichts nützen trotz aller Liebe und Dankbarkeit, die sie in ihrem Herzen für dich pflegt. Oh, mein Sihdi! Oh, mein Effendi! Ich wußte, daß du uns allen teuer bist, aber wie, wie, wie teuer, das wußte ich noch nicht! Das habe ich erst jetzt begriffen, wo du, von Todes Hand noch festgehalten, mit einem Lächeln auf mich niederblickst, so schwach, so matt und doch so lieb und gut, daß es mir das Herz zerreißen will! Kara Ben Halef, mein Sohn, tritt herbei, und leg deine Hände auf das Haupt dieses Mannes, der zu uns kam, um uns allen nichts als nur Liebe, Liebe, Liebe zu erweisen!«

Er biß die Zähne zusammen, um nicht lautauf zu weinen; aber seine Lippen zitterten und seine Augen standen voll Wasser. Er legte mir nicht nur die Hände sondern auch die Wange auf den Kopf; er hatte mich lieb, so recht von ganzer Seele lieb. Da faltete seine Mutter ihre Hände und sprach weiter:

»Sihdi, ich segne dich! Ich segne dich nicht so, wie andere segnen. Ich gebe dir mehr, als was nur ich dir geben könnte. Ich segne dich durch die Hände meines Kindes, auf dem der Segen seines Vaters und seiner Mutter liegt. Dreifach also ist der Segen, der auf dir ruhen soll in alle Ewigkeit!«

Da erklang die tiefe, klare Stimme des Ustad, der, von uns unbemerkt, hinter uns an der Säule gestanden hatte:

»Nicht nur dreifach soll er sein, und nicht nur gesegnet sollst du haben, sondern auch gesegnet werden!«

Er trat aus der Halle heraus, breitete seine Hände über sie und fuhr fort:

»Ich sehe dich heut zum erstenmal, und doch ist es mir, als seist du mir schon längst bekannt. Ich höre, daß du Hanneh bist, unsers Hadschi Halef Weib; aber für mich und uns bist du in diesem Augenblicke mehr. Du bist die Seele des weiblichen Geschlechtes, die aus der Höhe niederstieg, um Geist in Seele zu verwandeln. Wie hast du mich gerührt! Wie ward mein Herz bewegt von deinem Herzen! Es wallt in mir ein großes Wünschen auf, für welches ich das rechte Wort nicht finde. Du, eines Moslem Weib, verurteilt zu des Harems Einsamkeit, hast einem Nasarah gegenüber dies Gesetz gebrochen, um dem höheren des Herzens zu gehorchen. Wie wert muß doch sein Christentum deines dreifachen Segens sein! Und so gern, wie es noch nie geschah, will ich für dich zu Chodeh beten, an dir zur Wahrheit zu machen, daß, wer da segnet, selbst gesegnet wird!«

Sie schaute zu ihm auf, aus weitgeöffneten Augen, mit einem langen, langen Blicke.

»Bist du der Ustad?« fragte sie.

»Man nennt mich so,« antwortete er.

»Du sagtest, es sei dir so, als habest du mich schon längst gekannt. Habe nicht auch ich dich schon gesehen? Doch wo und wann? Ich kann mich nicht besinnen. In diesen Bergen ist es nicht gewesen. Du hast den Gebieter meines Stammes und meines Zeltes bei dir aufgenommen. Ich danke dir! Erlaubst du mir, daß ich jetzt zu ihm gehe?«

»Ich führe dich,« antwortete er. »Der Pedehr ist bei ihm. Doch, meine Tochter, bist du stark genug, den Hadschi so zu sehen, wie man nur Leichen sieht?«

Da richtete sie sich auf. Ihre Augen blitzten. Sie war ganz Entschlossenheit.

»Kennst du das Weib, Ustad?« fragte sie.

»Ich kenne es,« lächelte er, »und ich sehe, daß du es bist!«

»Vielleicht erschrecke ich, doch eine Klage wirst du nicht aus meinem Munde hören. Auch mein Sohn ist stark. Komm, Kara, laß uns zum Vater gehen!«

Welch eine Frau! Der Ustad ergriff ihre Hand, um sie zu leiten. Sie gab die andere Kara; so gingen sie hinein. Ich horchte. Sie schritten langsam nach der Ecke, in welcher Halef lag; dann war es still, kein Wort, kein Laut zu hören. Wie war sie über mein leidendes Aussehen erschrocken! Halefs Anblick aber war noch schlimmer. Und doch diese Ruhe hinter mir! Ich wiederhole: Welch eine Frau!

Ich schaute den Dschamikun zu, welche Karas Dunkelbraunen und die beiden Kamele abgeschirrt hatten und ihnen nun Wasser und Futter gaben. Aber meine Gedanken waren natürlich weniger dort als in der Halle am Lager des Freundes. Erst nach langer Zeit hörte ich wieder Schritte. Der Pedehr kam zu mir.

»Sie ist eine Heldin und ihr Sohn ein Held,« flüsterte er mir zu. »Sie sind bei ihm. Auch der Ustad wird bleiben, denn wir vermuten, daß Halef bald erwachen werde. Ich sah, daß sich die Falten seiner Stirn bewegten.«

»Und ich? Darf ich hinein?« fragte ich.

»Ich bitte dich darum. Er darf dich nicht vermissen.«

Er holte einige Leute, welche mich samt den Kissen hineinbrachten. Hanneh und Kara saßen zur Seite Halefs, der Ustad zu seinen Füßen. Ich bekam einen Platz in der Nähe. Der Pedehr hatte sich auf der Ecke des Lagers niedergelassen. Er beobachtete den Kranken unausgesetzt. Schakara war auch da, und an der Thür standen zwei Männer, um etwaige Befehle sofort auszuführen.

Ich konnte das Gesicht Halefs deutlich sehen. Die Halle war von Wachskerzen hell erleuchtet. Die Bienenzucht der Dschamikun lieferte dieses außerhalb ihres Gebietes seltene Material. Ich wiederhole, daß das Gesicht des Hadschi ganz dem einer Mumie glich. Hanneh bewegte sich nicht. Ihre Züge waren wie aus Stein geformt. Kara saß so, daß ich die seinigen nicht beobachten konnte. Was mich betrifft, so gab es in mir eine zwar erwartungsvolle, sonst aber ruhige Stille. Es war, als ob jedes Wünschen und Wollen verschwunden sei; aber das bedeutete nicht etwa eine Ergebung in das Unvermeidliche, sondern es war eine Zuversicht, die ich vor der Ankunft Hannehs und Karas keineswegs empfunden hatte.

»Sihdi!«

Was war das? Hatte mich wer gerufen? Ich schaute die Andern fragend an. Sie blickten ebenso fragend zu mir herüber. Keiner hatte dieses Wort gesprochen, aber alle hatten es gehört.

»War es Halef?« erkundigte ich mich.

Niemand wußte es. Seine uns bekannte Stimme war es nicht gewesen. Auch hatte man keine Bewegung seiner Lippen gesehen. Nun hingen wir mit unsern Augen an seinem Munde, welcher ein wenig offen stand.

»Sihdi – Sihdi –!«

Jetzt hörten wir genau, daß Halef es war, obwohl die Stellung seiner Lippen sich nicht im geringsten verändert hatte. Das war eine ganz eigentümliche Stimme, nicht laut, nicht leise, ganz ohne allen Ton und Klang und doch so gut verständlich. Wenn es Schatten oder Schemen gäbe, welche sprechen könnten, so würden sie es ganz gewiß in dieser Weise thun.

»Halef, mein lieber Halef!« antwortete ich.

»Der bin ich nicht!« erwiderte er.

»Nicht mein Hadschi?«

»Der bin ich auch nicht!«

»Also mein Hadschi Halef?«

»Ich bin es nicht!«

»Wer bist du denn?«

»Ich weiß es nicht!«

»Sag mir deinen Namen!«

»Ich habe keinen!«

»Aber du kennst dich doch?«

»Ich bin ich!«

»Wo bist du?«

»Hier!«

»Wo ist das?«

»Bei dir, bei meinem Sihdi! Jetzt bei den Haddedihn! Wo ist Hanneh? Sie ist nicht da! Wo ist Kara, mein Sohn? Er ist auch nicht da. Ich suche sie!«

»Wo gehst du hin, sie zu finden?«

Er antwortete nicht. Darum schwieg auch ich.

Er hatte alle diese kurzen Antworten gegeben, ohne die Lippen zu bewegen. Darum waren die Labiallaute nicht zu hören gewesen. Das hatte aber nicht verhindert, ihn zu verstehen.

»Sihdi – Sihdi –!« erklang es nach einer längeren Pause wieder.

»Ja,« sagte ich.

»Ich bin bei dir.«

»Wieder?«

»Ja. Ich habe deine Augen.«

»Wirklich?«

»Wirklich! Und was du siehst, das sehe ich auch! Nun habe ich sie gefunden. Ich sehe sie! Kara und Hanneh, die ich liebe. Ich sehe noch mehr. Ich sehe – wer – wer ist das? Das ist der – Pe – der Pe – Pedehr und – und – ich muß fort – fort von dir! – Wer – wer – wer bin – bin – wer bin ich und wer –«

Da stand der Ustad mit einer unerwartet schnellen Bewegung auf und rief ganz auffallend laut und deutlich:

»Du bist Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn! Hörst du? Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar!«

»Had – Hadschi Hal – Halef – –«

Er brachte nur diese Silben zusammen; dann verhauchte seine Stimme und wurde nicht mehr gehört. Nun ließ sich der Ustad wieder nieder, bog sich zu mir herüber und fragte mich, leise flüsternd:

»Begreifst du, was ich that?«

»Nein.«

»So denke nach! Ich habe ihn zu sich zurückgeführt.«

»Ist es denn möglich, eine Seele, welche bereits im Begriffe steht, ihre Verbindung mit dem Körper zu lösen, durch Worte festzuhalten?«

»Ja, das hast du jetzt erfahren und wirst den Beweis bald kommen sehen. Für euch Abendländer ist das freilich ein Rätsel. Eure Seelenlehre ist noch nicht einmal so weit gekommen, daß sie sagen kann, was und wo die Seele ist. Wer die sonderbare Ansicht hegt, daß der Offizier im Körper des Soldaten stecke, der wird alle Bewegungen dieses Soldaten als Regungen des Offiziers erklären; über die Seele aber Auskunft zu geben, das wird ihm ganz unmöglich sein!«

Das klang so alt und doch so neu, in jedem Falle aber wahr!

Nun wieder störte kein Laut die Stille um uns her. Wir konnten nichts thun, als warten. Es verging wohl über eine halbe Stunde; da sahen wir, daß die bisherige Starre im Gesicht des Hadschi weichen wollte. Die Mumienähnlichkeit begann, sich zu verlieren, obgleich von einer eigentlichen Wiederbelebung der Züge noch nicht gesprochen werden konnte. Jetzt bewegte er die Lippen, doch wir hörten nichts. Es war zu bemerken, daß seine Augäpfel sich unter den geschlossenen Lidern regten. Es gab ihm eine Anstrengung, welche vergeblich nach dem Erfolge rang. Hierauf zuckten seine Arme und Beine unter der Decke; es ging ein Leben durch seinen ganzen Körper, und fast schreiend erklangen die Worte:

»Sihdi – Sihdi – bist du bei mir?«

Ich sage, »fast schreiend«, aber es war doch kein eigentliches Schreien, nicht einmal ein Rufen, auch nicht das, was man »laut« zu nennen pflegt. Und doch klang es so deutlich, so heftig, so todesängstlich! Man hörte dieser Stimme die außerordentliche Schwäche an, und trotzdem war sie im fernsten Winkel der Halle zu vernehmen.

»Ich bin hier,« antwortete ich.

»Sag, wie heiße ich?«

»Du bist mein Freund Halef Omar.«

»Der Scheik der Haddedihn?«

»Ja.«

»Ich liege bei den Dschamikun?«

»Ja.«

»Bin ich noch krank?«

»Jetzt noch; bald aber wirst du gesunden.«

»Du bist Kara Ben Nemsi?«

»Ja.«

»So staune! Ich weiß, was sterben heißt!«

»Sag es mir!«

»Nicht jetzt. Das Sprechen fällt mir schwer. Sihdi, hast du nicht Glocken hier gehört?«

»Ja, die Glocken des Gebetes.«

»Laßt sie läuten; laßt beten, daß ich leben bleibe. – Ich will zurück zu Hanneh, meiner Seele. Sie ist –«

Er hielt inne. Sein Gesicht bekam zum erstenmal wieder einen Ausdruck, nämlich den der Spannung. Er suchte in sich nach. Dann fuhr er fort, so langsam, als ob er die Worte mühsam aus der Ferne herbeiholen müsse:

»Wie ist mir denn? – habe ich nicht – meine Hanneh – hier gesehen? – Saß nicht auch – Kara, mein Sohn – bei mir – an diesem Lager? – Ich hatte nicht – meine Augen – sondern andere. – Mit diesen Augen – sah ich meine — meine eigene Leiche. – Bei ihr saß Hanneh – wie ein Mann gekleidet – hier, hier – zu meiner rechten Hand – Ich kann den Kopf nicht wenden – die Augen nicht öffnen – sie nicht sehen – und doch, und doch – Hanneh, Hanneh – mein Glück und meine Retterin – ich weiß – du bist bei mir!«

Da war es für einen Augenblick um ihre ganze Selbstbeherrschung geschehen. Sie stieß einen fast überlauten Schrei aus, sprang empor und rief:

»Allah, ich danke dir! Fast wäre ich erstickt vor lauter Qual und Herzeleid! Nun aber kann ich wieder atmen, denn ich weiß, daß mein Geliebter nicht sterben, sondern leben wird. Du, Allbarmherziger, hast ihn mir zurückgegeben!«

Wir hatten während dieser ihrer Worte nur auf sie geschaut und nicht auf Halef gesehen. Nun aber staunten wir über die Wirkung, welche der Klang ihrer Stimme auf ihn hervorgebracht hatte. Er bewegte den Kopf; seine Züge hatten Leben bekommen; seine Augen waren geöffnet und mit dem Ausdrucke des Entzückens auf Hanneh gerichtet. Kara war auch aufgestanden; er trat an die Seite seiner Mutter. Halef sah ihn neben ihr. Da konnte er plötzlich auch die Hände bewegen. Er faltete sie und sprach:

»Auch du bist hier, mein Liebling? Ich bin nicht gestorben und habe doch die Seligkeit, den ganzen, ganzen Himmel hier bei mir!«

Hierauf schloß er die Augen. Mutter und Sohn knieten bei ihm nieder. Sie nahmen seine Hände und sprachen ihre überquellende Liebe in zärtlichen Worten aus. Er antwortete nicht. Da erklangen über uns die Glocken, denn einer der an der Thür stehenden Dschamikun war, sobald Halef diesen Wunsch ausgesprochen hatte, fortgegangen, um ihn zu erfüllen. Der Kranke hörte es und lächelte. Jetzt beteten Tausende für ihn. Wir hier in der Halle auch. Er schlief indessen ein. Mit ihm auch noch ein anderer, nämlich ich.

Das war nach den Anforderungen, welche dieser Abend an mich gestellt hatte, gar nicht verwunderlich. Ich wurde so plötzlich von einer ganz unwiderstehlichen Müdigkeit befallen, daß mein aufrecht sitzender Oberkörper den Halt verlor. Ich fiel um. Man trug mich nach meiner duftenden Veilchenecke, in welcher ich einen so langen und tiefen Schlaf that, daß, als ich am nächsten Tag von ihm erwachte, die Sonne sich fast schon wieder zum Untergange neigte. Ich fühlte sogleich, daß diese lange Ruhe mich außerordentlich gekräftigt hatte.

Wer saß bei mir, als ich die Augen öffnete? Hanneh! Sie hatte einen mitgebrachten Frauenanzug angelegt. Als sie sah, daß meine Augen offen und auf sie gerichtet waren, reichte sie mir die Hand und sagte:

»Ich grüße dich aus vollem Herzen und mit meiner ganzen Seele, mein Effendi. Ich wartete auf dein Erwachen. Inzwischen sitzt mein Kara dort bei Halef, um mir sofort zu melden, wenn ich nötig bin. Jetzt mußt du sogleich essen. Ich werde es Schakara sagen, daß sie dir die Speise bringe.«

»Weißt du, wo sie ist?«

»Ja. Sie ist schnell meine Freundin geworden, denn sie besitzt ein siegreiches Herz, dem niemand widerstehen kann.«

Hanneh stand auf und eilte hinaus, um bald darauf mit der Kurdin zurückzukehren. Während die letztere mir beim Essen behilflich war, ging die erstere zu Kara und Halef, welcher, wie Schakara mir sagte, seit gestern abend in einem immerwährenden, tiefen und wahrscheinlich wohlthätigen Schlafe gelegen hatte. Hanneh beugte sich über ihn und berührte seine Stirn mit ihren Lippen. Sie schien ihn dadurch aufgeweckt zu haben, denn er begann, sich zu regen. Schakara verließ sofort die Halle, um den Pedehr zu holen, welcher das Verlangen geäußert hatte, bei dem Erwachen des Scheikes gegenwärtig zu sein.

Ich hörte, daß Halef leise vor sich hin sprach. Zu verstehen war aber nichts. Auch hatte er die Augen nicht geöffnet. Da kam der Pedehr. Er beobachtete den Kranken kurze Zeit und winkte dann Hanneh, mit ihm zu reden. Sie that es, indem sie laut einige Worte sprach, die seine Kosenamen waren. Da ging ein Lächeln über sein Angesicht. Er lauschte. Sie wiederholte die Worte und knüpfte an sie die Frage, wie er sich befinde. Da hörte ich seine außerordentlich matte und doch so deutliche Stimme erklingen:

»Hamdulillah – es war – kein Traum –! Mein Leben – ist zu mir – gekommen! Hanneh – Hanneh – und – und – und –«

Er schwieg, um nachzusinnen. Da fuhr Kara an seiner Stelle in dem angefangenen Satze fort:

»Und ich ebenso, mein Vater! Kara Ben Halef, dein Sohn; ich bin auch bei dir!«

»Kara – mein – mein Sohn – der junge Held – der Haddedihn –?«

Er bewegte den Kopf; er kehrte das Gesicht dem Sohne zu, doch ohne die Augen aufzuschlagen. Dann sprach er weiter:

»Auch hier –? Zu mir – gekommen? — Ich sah ihn schon –! Geritten –?«

»Ja, mein Vater.«

»Auf – auf welchem Pferde?«

»Auf Ghalib, den du mir schenktest, damit er mich lieben und meinen Willen verstehen lerne.«

Da ging ein schneller, energischer Ruck durch Halefs Körper.

»Steig auf!« sagte er.

»Auf Ghalib?« fragte Kara.

»Ja.«

»Jetzt? Hier?«

»Ja –! Der Stamm der Haddedihn – bist du –! Ich will – die Tapfern sehen!«

Dieser Befehl erklang in mattestem Tone und trotzdem so willenskräftig. Kara sah den Pedehr fragend an.

Dieser nahm ihn bei der Hand, um ihn von dem Lager weg und hinaus auf den Vorplatz zu führen. Dabei hörte ich, daß er ihm die Unterweisung gab:

»Der Braune muß so schnell wie möglich gesattelt werden. Du legst alle deine Waffen an und kommst so, wie man sich in den Kampf begiebt, herein und bis zu deinem Vater hingeritten. Das muß so sein! Dein Anblick giebt ihm neue Lebenskraft. Beeile dich, mein Sohn!«

Halef war jetzt still; aber er wartete. Seine zwar nur leisen, aber ungeduldigen Bewegungen verrieten das. Nach einigen Minuten – es waren wohl kaum mehr als fünf – erklang seine Stimme wieder:

»Kara – schnell – schnell –! Ich habe – habe – keine Zeit –!«

Der Ton war so ängstlich, daß Hanneh rasch aufstand und an die nächste Säule trat, um nachzuschauen. Da kam der Pedehr auch schon herein.

»Es eilt!« sagte sie zu ihm.

»Er kommt sofort,« antwortete er. »Sei mutig, und sei still! Dieser Augenblick wird viel entscheiden. Knie hin zu ihm; du wirst ihm nötig sein!«

Sie folgte dieser Aufforderung soeben, als Halef die nur noch mit Mühe hervorgebrachten Worte hören ließ:

»Er – er kommt nicht –! Ich muß – muß gehen!«

Da aber gab es draußen lauten Schlag der Hufe. Treppenstufen zu ersteigen, das war dem edlen Ghalib ungewohnt; er schien sich zu weigern.

»Jallah, kawahm, kawahm – vorwärts, schnell, schnell!« erscholl Kara’s aufmunternde Stimme.

Da nahm der Braune mehrere Stufen auf einmal und kam von der letzten aus in einem weiten, ärgerlichen Sprung hereingeflogen, um hart an Halefs Lager angehalten zu werden und dort, wie aus Erz gegossen, still zu stehen. Der junge Haddedihn hatte das Messer und die Pistolen in den Gürtel gesteckt, die kunstvoll ausgelegte Beduinenflinte quer über dem Rücken und die lange, doppelschneidige Lanze in der Hand. Das kraftvoll schöne Bild eines Beduinenkriegers, so sah er blitzenden Auges auf den kranken Vater nieder.

Dieser öffnete die Augen und richtete den Blick zu seinem Sohn empor. Er schien es gar nicht zu bemerken, daß Hanneh ihm die Arme unter Kopf und Schultern schob, um ihn ein wenig aufzurichten.

»Ghalib – der Unbesiegliche –!« sagte er. »Er trägt – die Zukunft – meiner Haddedihn –! Doch die – Vergangenheit — stirbt nicht – stirbt nicht –! Die bin – bin ich – mit ihm die – Gegenwart –! Ich bleib bei euch – bei euch –! Ich will – ich will –! Kara – Hanneh – mein Leben – kehrt zurück!«

Er hielt den frohen Blick noch einige Zeit auf Kara gerichtet; dann schloß er die Augen. Hanneh bettete ihn wieder bequem in die Kissen. Mir kam es vor, als ob sein Gesicht jetzt einen ganz, ganz andern Ausdruck habe, nicht mehr den leichenhaften wie vorher. Kara stieg vom Pferd und führte es so leise wie möglich hinaus. Hanneh sah den Pedehr ängstlich fragend an. Er nahm sie bei der Hand, zog sie empor und sagte:

»Die Hoffnung ist erwacht! Komm mit! Wir wollen ihm einen stärkenden Trank bereiten. Wenn er ihn zu sich nimmt, so wird er gerettet sein!«

Als sie miteinander fortgegangen waren, kam Kara wieder herein, erst für einige Augenblicke zu mir; dann setzte er sich zu seinem Vater, welcher zwar nicht ganz wach zu sein aber auch nicht zu schlafen schien. Er bewegte bald dieses und bald jenes Glied in einer Weise, welche darauf schließen ließ, daß es nicht unwillkürlich sondern absichtlich geschehe.

Dann kehrte der Pedehr mit Hanneh zurück. Ich vermutete, daß in dem Gefäße, welches sie trug, von demselben ausgepreßten Fleischsaft sei, der auch mich so gestärkt hatte. Er wurde Halef mit Hilfe des Löffels gegeben; er weigerte sich nicht, ihn anzunehmen, und fiel dann sogleich in einen ruhigen Schlaf, von dem der Pedehr sagte, daß er wenigstens bis zum nächsten Morgen dauern werde.

Hanneh und Kara waren unbeschreiblich glücklich hierüber und stellten, als ich mich jetzt wieder wie gestern hinaus in das Freie schaffen lassen wollte, die Bitte an mich, ihnen da draußen zu erzählen, was ich seit unsererTrennung von den Haddedihn mit Halef erlebt hatte. Dagegen aber erhob der Pedehr ganz entschieden Einspruch. Er wies sie auf die Anstrengungen ihres eigenen Rittes hin und machte sie allen Ernstes darauf aufmerksam, daß sie sich jetzt unbedingt ganz gründlich auszuruhen hätten. Halef bedürfe ihrer heut nicht mehr, da sowohl er als auch Schakara in bester Weise für ihn sorgen würden. Sie mußten gehorchen, und so kam es, daß ich dann später ganz allein draußen vor der Halle saß, um dasselbe Schauspiel des Sonnenuntergangs zu genießen, welches mich gestern schon so erhoben hatte.

Wie viele Menschen habe ich schon sagen hören, daß man die Schönheiten der Natur niemals allein sondern stets in Gesellschaft genießen müsse. Ich bin da ganz anderer Meinung. Schon das Wort »genießen« scheint mir da falsch gebraucht zu sein. Ich könnte mit ganz demselben Rechte sagen, daß ich eine Predigt, ein Oratorium, ein Kirchenlied »genießen« wolle. Auf mich wirkt die Natur erhebend, und zugleich veranlaßt sie mich zur Einkehr in mich selbst. Ich bin ein Teil von ihr und kann sie nicht schauen, ohne mit ihr auch mich zu betrachten. Gesellschaft anderer Leute würde mir da nur hinderlich sein. Durch den Wald will ich allein spazieren, außer ich bin gesellschaftlich gezwungen, noch jemand mitzunehmen. Plauderei entheiligt mir die That. Denn ein solcher Gang zum predigenden Walde ist für mich eine That, und zwar nicht bloß eine körperliche, sondern mehr noch eine seelische. Werde ich begleitet, so bringe ich fast nichts mit heim, als nur die Erinnerung an das, was gesprochen worden ist.

Ganz ebenso ist es mit dem Sonnenauf- und mit dem Sonnenuntergang. Jede Bemerkung, jede Interjektion, sei sie auch noch so begeistert, muß, falls ich sie anzuhören habe, die Erhabenheit und Heiligkeit des Augenblickes mindern. Ich habe menschliche Gesellschaft gern, wie ich überhaupt die ganze Menschheit herzlich liebe; aber die Natur will ich in ungestörter Einsamkeit auf mich wirken lassen, und meine schönsten und gewiß auch besten Lebensstunden sind die, in denen ich in stiller Nacht und ohne einen Plauderer neben mir dem ewig frommen und ewig treuen Sternenhimmel in seine leuchtend hellen Augen sehe.

So auch heut, wo ich allein und von höflicher Rücksicht frei vor der Halle des »hohen Hauses« saß. Ich kenne ein Bild, »Die Genesende« unterzeichnet. Eine weibliche Gestalt sitzt bleichen Angesichtes in hochgelegener, offener Laube, von welcher aus einer der herrlichsten Punkte des Rheintales zu überschauen ist. Soeben dem Tode entronnen, hat sie das Krankenzimmer mit dieser freien, vom Blumendufte umwehten Stelle vertauscht, um neues, sonniges Leben einzuatmen. Sie nimmt es mit einem stillen, milden, unendlich dankbaren Lächeln entgegen; aber die großen, ernsten Augen sind nicht hinunter auf die glitzernden Fluten des Stromes oder die grünenden Rebenhänge, sondern weit, weit hinaus in die grenzenlose Ferne gerichtet, die selbst den Horizont unter sich nur als trügerische Vorspiegelung des Menschenauges kennt. Es ist, als ob diese Augen, welche nur Unbegrenztes schauen, noch immer nach der unsichtbaren Pforte jener Geheimnisse suchten, deren Schlüssel in der verschwiegenen Erde des Friedhofes vergraben liegt. Die Seele, welche sich von dem Körper trennen wollte, hat die Verbindung mit ihm noch nicht vollständig wieder hergestellt. Sie zieht den Blick hinaus, dorthin, wohin sie heimwärts gehen wollte, dem Taucher gleich, der nach vollbrachtem Tagewerke sich von der schweren, unbehilflichen Rüstung trennt und sie am Strande liegen läßt, um, wonnig atmend, wieder frei zu sein. –

An dieses Bild dachte ich am heutigen Abend, was leicht erklärlich war. Auch ich stand im Genesen und fühlte jenen weichen, tief empfänglichen Ernst in mir, dem es ein Bedürfnis ist, über den Horizont der Endlichkeit hinauszuschreiten. Dort, jenseits dieser Grenze, giebt es dann ebenen Weg; die Zeit der Schlagbäume ist überstanden, und kein niederes Interesse kann den Blick von jenen Höhen lenken, in denen nicht einmal die Sterne mehr die Namen tragen, die ihnen von den Menschen gegeben worden sind. Sie wandeln groß und erhaben über uns, und wer ihnen mit dem Herzen, nicht mit dem Rohre folgt, dem offenbaren sie viel mehr, viel mehr, als man durch dieses Rohr über sie erfahren kann. Keine noch so kunstvoll gearbeitete teleskopische Linse wird jemals an Schärfe das Auge der Seele erreichen!

Während ich mich bis fast Mitternacht im Freien befand, saß Schakara bei Halef. Der Pedehr war bei dem Ustad, in dessen Wohnung heut eine wichtige Beratung stattfand, welche nicht in der Halle abgehalten werden konnte, weil diese ja uns überlassen worden war. Der Scheik der Dschamikun kam grad, als ich mich wieder hinein nach meinem Lager bringen ließ. Er teilte mir mit, worüber verhandelt worden war.

»Wir haben über das beabsichtigte ›Fest der fünfzig Jahre‹ gesprochen,« sagte er.

Ein persisches Fest dieses Namens war mir nicht bekannt. Darum sah ich ihn fragend an.

»Hat dir noch niemand etwas hiervon gesagt? erkundigte er sich.

»Nein.«

»Auch Schakara nicht?«

»Nein.«

»Sie hätte gewiß sehr gern davon gesprochen, denn dieses Fest beschäftigt uns alle schon seit längerer Zeit; wahrscheinlich aber ist ihre Meinung gewesen, auch in diesem Punkte gehorsam sein zu müssen. Der Ustad hat nämlich befohlen, euch nicht mit fremden, also auch nicht mit unsern Angelegenheiten zu behelligen. Ihr mußtet unberührt von jeder innern Störung bleiben. Deine Genesung aber, Effendi, ist so weit vorgeschritten, daß ich nun unbedenklich zu dir von diesem Feste sprechen kann. Es gab einen Kampf zwischen dem Ustad und uns, der ein Kampf der Liebe war. Unser Herr wünschte nicht, daß dieses Fest gefeiert werde. Heut abend aber haben wir ihm die Erlaubnis durch unsere vereinten Bitten abgerungen. In zwei Wochen nämlich werden es fünfzig Jahre, daß er zum erstenmal in ein Zelt unseres Stammes trat, und die Dankbarkeit gebietet uns, diesen Tag feierlich zu begehen. Er hat sich bisher ablehnend verhalten; heut aber ließ er sich überzeugen, daß es ein Herzensbedürfnis für uns sei, und hat uns die Genehmigung erteilt – nicht seinet-, sondern unsertwegen, sagte er. Ihr seid zu dieser Zeit noch hier bei uns, ein Umstand, über den wir uns alle freuen –«

»Wird euch diese Freude nicht vielleicht von Hadschi Halef getrübt werden?« fiel ich ein.

»Diese Frage war natürlich von dir zu erwarten. Ich möchte dir gern sagen, was ich denke, befürchte aber, daß du über mich lächeln wirst.«

»Dann bin ich beruhigt! Wenn es nichts Schlimmeres als nur ein Lächeln ist, was du von mir erwartest, mußt du in Beziehung auf ihn wohl gute Hoffnung hegen!«

»Ja, die habe ich. Mein Ausdruck ›Lächeln‹ aber war anders gemeint. Ich bezog ihn nicht auf Halefs Genesung, sondern auf deine Gedanken. Ich habe als sein Arzt Ansichten, welche vielleicht sehr fern von den deinen liegen, das ist es, was ich meinte.«

»Du bist der Hekim; ich aber bin der Laie. Wie könnte es mir beikommen, über dich zu lächeln!«

»Und doch! Denn was ich dir sage, wird nicht die Ansicht allein des Hekim sein. Ich habe es mit einem schwerkranken Menschen zu thun. Wer und was ist das Wesen dieses Menschen? In welcher Beziehung stehen seine Teile zueinander? Das muß ich wissen, wenn ich ihn richtig behandeln soll. Ich vermute aber, daß du über diese Fragen ganz anderer Meinung bist als ich.«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Keinesfalls aber werde ich für deine Gedanken nichts anderes als ein Lächeln haben. Ich bitte dich, sie auszusprechen!«

»So höre!«

Er sprach zwar diese beiden Worte, doch ließ er mich zunächst nichts weiter als nur sie hören. Er hatte sich an meinem Lager niedergesetzt, das Gesicht mir voll zugewendet. Jetzt hob er den Kopf und schaute in das stille, bescheidene Licht der Kerzen, welche in der Nische brannten. Es war, als ob er durch dieses Emporblicken ein ganz anderes Gesicht bekommen habe. Wie rein, wie edel erschienen mir die Linien desselben, die bei unserm ersten Zusammentreffen von häßlichem Schmutz bedeckt gewesen waren! Die Kerzen sandten ihm ihre Flämmchen als winzig kleine und doch fast strahlend helle Punkte in die schönen Augen. Das lange, graue Haar gab einen ganz eigenartigen, lebendig wallenden Rahmen zu diesem Bilde. Da kam eine Erinnerung über mich. Ich sah mich im Atelier eines Freundes. Er arbeitete an einer Darstellung aus der Offenbarung Johannis. Ich sah die Studienblätter durch. Eines von ihnen fesselte mich ganz besonders. Unter einem eingefallenen, nach oben offenen Mauerbogen saß der Seher und schaute himmelan, nach einer Oeffnung in den dunklen Wolken, aus welcher eine Fülle jenseitigen Lichtes auf ihn niederstrahlte. Darunter war zu lesen: »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, und das Meer ist nicht mehr.« Das mit diesen Worten wunderbar harmonierende Gesicht des Inspirierten hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht; es war mir lange, lange geistig gegenwärtig geblieben, bis neue Regungen es in Vergessenheit hatten geraten lassen. Und nun sah ich es plötzlich wieder, in mir und auch außer mir. Denn die Züge des Pedehr glichen in diesem Augenblicke fast ganz genau denen jener Studie, und es war gewiß nicht zu verwundern, daß sie auch dieselbe Wirkung auf mich hatten. Es ging etwas durch mein Inneres, was mich begreifen ließ, daß man unter den Trümmern des Veralteten sitzen könne, um den Blick empor zum Neuen, wirklich Wahren zu erheben.

Grad so, als ob dieser mein Gedanke für ihn laut und vernehmlich geworden sei, wendete sich jetzt der Pedehr mir wieder zu und sagte:

»Es ist für dich wohl ein Neues, was ich dir mitteilen werde. Ich bitte dich, mir meine Frage zu beantworten: Weißt du, was Geist ist?«

»Nein.«

»Weißt du, was Seele ist?«

»Nein.«

»Meinst du, daß beides das gleiche sei?«

»Nein.«

»Weißt du, was Körper ist?«

»Auch nicht.«

Da ging ein so liebes, kluges Lächeln des Einverständnisses über sein Gesicht, und er sprach:

»Ich würde dir das Lob deiner Bescheidenheit nicht versagen, aber du hast es nicht verdient. Du erwartest, von mir zu hören, was du mir nicht sagen willst. Und weil dir die Wahrheit dessen, was du mir sagen könntest, als nicht ganz zweifellos erscheint, so ziehest du vor, diese Zweifel nicht an deine, sondern lieber an meine Worte legen zu können. Du sollst deinen Willen haben. Wer Schonung bietet, der darf wohl selbst auch auf sie rechnen.«

Wie das so klang! Saß da wirklich nur ein ungebildeter Dschamiki vor mir? Zwar der Scheik des Stammes, aber doch ein Mann, der in Beziehung auf seinen äußern und auch innern Werdegang allen andern Dschamikun gleichzurechnen war? Wenn seine geistige Persönlichkeit bedeutend höher stand, als man nach seiner Lebensstellung schließen durfte, so konnte das nur eine Folge seines langjährigen Verkehres mit dem Ustad sein. Hatte ich aber dieses angenommen, so trat sogleich die weitere Frage an mich heran, in welcher Weise und auf welchem Wege wohl dieser letztere zu einer so hohen Entwickelung seiner Individualität gelangt sein könne. Dieser mein Gedankengang wurde durch den Pedehr unterbrochen, welcher weiter sprach:

»Hast du Geist, Sihdi?«

»Ich hoffe es,« antwortete ich.

»Nein, hoffe es nicht! Du hast zwar dieses Phantom, aber eigentlich hat es dich: du bist sein Sklave! Hast du Seele?«

»Meinst du eine Seele oder Seele überhaupt?«

»Sei nicht der spitzfindige, gelehrte Europäer, sondern antworte mir. Hast du Seele?«

»Ja.«

»Nein, sondern auch sie hat dich; aber sie ist kein Phantom, sondern eine erhabene, göttliche Wahrheit, der wir unser Anrecht auf die Seligkeit verdanken. Das sagt ein halbwilder Asiat dem von der Weisheit dieser Welt erzogenen Abendländer. Ob letzterer es glauben wird, das ist wohl sehr die Frage. Der Osten hat den Westen schon so manches gelehrt, was entweder nicht geglaubt oder nicht verstanden worden ist. Und nun der Orient dieser vergeblichen Belehrung müd geworden ist, behauptet man, daß er alt und schwach geworden sei. Doch, ich wollte ja nicht vom Ilmi ahwali nefs, sondern nur als Hekim von der Krankheit unseres Hadschi Halef zu dir sprechen. Ueber die Seele magst du mit dem Ustad reden, der von ihr wohl noch mehr weiß, als was in seinen Büchern steht.«

»Bücher?« fragte ich. »Er hat Bücher?«

Da schaute mich der Pedehr mit einem Blicke an, der mir die Röte in die Wangen trieb, und antwortete:

»Ob – er – Bücher – hat –! Er besitzt sogar vier große, große Bibliotheken! Die erste besteht im Kitab el mukkades; die zweite ist sein Herz, in welchem tausend herrliche Suren stehen; die dritte umfaßt alles, was die Schöpfung seinem Auge lehrt, und die vierte wirst du sehen, wenn du so weit genesen bist, daß du die Treppe emporsteigen kannst, um ihn in seiner Wohnung aufzusuchen. Da wirst du viele, viele Bände finden, die in Sprachen geschrieben sind, von denen ich ein Wort weder lesen noch verstehen kann. Wenn ich ihn nach dem Inhalte frage, so antwortet er, daß die ganze Summe alles dessen, was geschrieben ist, nichts anderes als der Ausruf sei, den die Pilger ausstoßen, wenn sie nach langer, mühsamer Wanderung endlich Mekka liegen sehen: ›Hier bin ich, o mein Gott!‹ Die noch viel längere und viel schwerere Reise durch diese Bände schließe ganz genau mit denselben Worten ab. Ich habe einen großen Teil meines Lebens da oben bei ihm und seinen Büchern gesessen, um seinen Worten zu lauschen und sie in mir nachklingen zu lassen. Daß ich meinen Stamm durch Kampf und Leid zum Frieden führte, habe ich ihm zu verdanken, und daß man mich als einen guten Hekim kennt, ist auch eines seiner Werke, für welche ihm die Liebe der Dschamikun zu danken hat. Grad die Krankheit, welche auch dich und deinen Halef ergriff, hat früher große und schwere Opfer von uns gefordert. Der Ustad aber hat ihre Macht gebrochen, indem er uns lehrte, wie sie zu behandeln sei. Ahnst du, warum sie so gefährlich sei, gefährlicher als viele, viele andere?«

»Sage es mir!«

»Du weißt es nicht, und eure Aerzte wissen es auch nicht.«

»Ich vermute, der langen Betäubung wegen, die sie mit sich bringt.«

»Du triffst das Richtige. Aber sage mir, was der Grund dieser Betäubung ist!«

»Die Seele zieht sich vom Körper zurück.«

»Ja. Aber warum?«

»Natürlich der Krankheit wegen.«

»Du wandelst im Kreise, Effendi. Und du kennst die Seele nicht. Hast du einmal den Ausdruck ›gute Seele‹ gehört?«

»Ja.«

»Böse Seele?«

»Nein.«

»Jetzt kommt das Neue, was ich dir sagen wollte. Nämlich es giebt keine böse Seele. Die Seele scheut alles Böse, sogar schon alles Häßliche. Das Böse und das Häßliche hat nur darum so große Macht über uns, weil die Seele davon abgestoßen wird. Sie zieht sich zurück; dann stehen wir ohne ihren Schutz allein. Der Mensch soll seine Seele nicht versuchen, sondern alles meiden, was sie, die sich nicht beflecken will, beleidigen muß. Er soll sie ja nicht zwingen, sich von ihm, wenn auch nur für die kürzeste Zeit, zu trennen. Hast du schon einmal gesehen, daß ein Mensch in Ohnmacht fällt?«

»Schon oft.«

»So wirst du wissen, daß der Grund fast stets ein böser oder häßlicher war. Bei bösen Dünsten, bei häßlichen Gerüchen oder gar bei wirklichem Gestank befindet sich der Mensch nicht wohl; er atmet schwer; er kann sogar das Bewußtsein verlieren. Die Seele zieht sich von den Sinnen zurück, welche ihr diese Schmerzen bereiten. Wird dir dein Haus oder Zelt so verunreinigt, daß du es nicht mehr aushalten kannst, so verlässest du es. Nun denke über deine Veilchen und über Halefs Rosen nach!«

»Ah! Ich beginne zu begreifen!«

»Diese Krankheit löst gewisse feine Körperteilchen auf, ohne sie aber ausscheiden zu können. Der Verwesungsprozeß beginnt bei lebendem Leibe. Der Geruch wird dir das bewiesen haben. Ich fürchte dein Lächeln und will dir deshalb und einstweilen nur sagen, daß wir die duftenden Rosen und Veilchen nicht etwa nur darum zu euch gestellt und dein Lager mit ihnen bestreut haben, um unsere Nerven des Geruches zu schonen. Es ist vorzugsweise aus andern und tiefern Gründen geschehen. Bin ich ein guter Hekim, so habe ich mein Augenmerk nicht allein auf den Körper, sondern auch auf die Seele zu richten. Ich muß aus allen Kräften und mit allen Mitteln dahin wirken, daß sie sich nicht gänzlich vom Körper loslöse. Du ahnst nicht, wie oft du während deiner langen Bewußtlosigkeit im reinigenden Wasser gelegen hast. Diese Bäder haben noch ganz andere Gründe als nur die Säuberung des kranken Körpers! Lächelst du?«

»Nein.«

»Es schien mir so! Wenn die Zersetzung des Körpers so weit vorgeschritten ist, daß die Seele die Sinne nicht mehr berühren kann, dann ist der Kranke aufzugeben. Darum setzte ich bei Halef meine Hoffnung darauf, daß er noch werde sehen, hören und sprechen können. Sie hat mich nicht betrogen. Aber die Seele des Leidenden darf nicht bloß können, sondern sie muß auch wollen. Es war ein wunderbar glücklicher Gedanke von dir, zu den Haddedihn zu schicken, daß Kara Ben Halef kommen solle. Und die vortreffliche Wirkung wird dadurch verstärkt, daß er seine Mutter mitgebracht hat. Der Anblick dieser beiden Lieben hat die Seele gezwungen, mit dem Körper verbunden bleiben zu wollen. Denn glaube mir, der Leib hat keine Macht, die Seele zu halten, wenn sie sich nicht halten lassen will oder halten lassen darf! Gelingt es dem Arzte, dieses seelische Wollen zur Energie zu steigern, so kann er doppelt frohe Hoffnung hegen. Halef kam mir da mit seinem Wunsche entgegen, seinen Sohn zu Pferde und als Krieger sehen zu wollen, und du weißt, wie gern und schnell ich hierauf eingegangen bin. Ich glaube nun, daß er gerettet ist.«

»Du glaubst es nur?«

»Ja.«

»Wie gern möchte ich hören, daß du überzeugt seist!«

»Warte bis morgen!«

»Giebt es da eine Entscheidung?«

»Wahrscheinlich. Halef ist doch, wie ich gesehen habe, ein ausgezeichneter Reiter?«

»Nicht nur das. Er ist mit ganzer Seele bei allem, was das Pferd betrifft.«

»Mit ganzer Seele! Das ist das, was ich wünsche, denn diese seine Seele ist dadurch zu fassen. Ich denke dabei an den Wettritt zwischen euch beiden und uns. Du wirst dabei bemerkt haben, daß ich wahrscheinlich ein guter Scheik oder Hekim, aber kein tadelloser Reiter bin. Der innige Umgang mit dem Ustad hat mir nicht erlaubt, in der notwendigen, immerwährenden Uebung zu bleiben. Wäre das nicht, so hätte ich die Stute besser geritten und wäre von dir wenigstens nicht so schnell eingeholt worden. Ich erinnere mich, daß Halefs Augen leuchteten. Liebt er solche Anstrengungen der Pferde?«

»Ein Wettreiten auf edlen Rossen geht ihm über alles!«

»Wohl! Es wird bei dem geplanten Feste ein solcher Ritt stattfinden –«

»Das ist ja in zwei Wochen schon!« unterbrach ich ihn. »Ich befürchte, daß er da noch zu schwach ist.«

»Allerdings. Er soll auch nicht etwa mitreiten. Aber schon das Wort, der Gedanke wird von guter Wirkung auf ihn sein. Ich vermute, daß er morgen nicht nur für einige kurze Minuten erwacht. Finde ich, daß ich es wagen darf, so werde ich ihm über diesen Wettritt eine Bemerkung machen. Wirkt sie so, wie ich erwarte, so wird das geschehen, was du vorhin wünschtest: Mein Glaube, meine Vermutung wird sich in Ueberzeugung verwandeln. Aber freilich, kein Mensch und also auch kein Hekim ist allwissend. Wo wäre ein Sterblicher, der zu sagen vermöchte, was schon im nächsten Augenblicke mit ihm geschehen kann. Aber nach menschlichem Ermessen bist du gerettet, Effendi, und ich hoffe, von dem Hadschi morgen dasselbe sagen zu dürfen.«

»Das, o Pedehr, haben wir nur euch zu verdanken, eurer Nächstenliebe und der aufopfernden Pflege, welche –«

»Still, still!« unterbrach er mich. »Sprechen wir lieber von dem Geschenk, welches ich dir morgen zu machen gedenke!«

»Ein Geschenk? Auch noch?«

»Ja.«

»Darf ich schon heut erfahren, was es ist?«

»Ja. Denn ich meine, daß man eine Freude nie zu früh bereiten könne.«

»Nun, so sage es! Was ist es?«

»Rate einmal, Sihdi!«

»Unmöglich! Es giebt so vieles, womit du mich in deiner Güte erfreuen und stützen könntest.«

»Stützen, stützen! Das ist es ja! Du hast es fast erraten!«

»Also stützen? Etwa ein Stock?«

»Ja. Ein Stock. Du sollst morgen versuchen, zum erstenmal wieder aufrecht zu gehen. Und wenn es nur einige Schritte sind, so wird es dich doch stärken.«

»Stärken! Jetzt bist nun du es, der das richtige Wort getroffen hat. Stärken! Daß ich daran denken darf, morgen diesen Versuch zu unternehmen, das läßt schon jetzt mich fühlen, daß es mir gelingen wird. Wie doch schon im Gedanken eine so große Wirkung liegt.«

»So schlafe dich recht aus! Es ist schon spät geworden. Chodeh behüte dich!«

Er ging, und ich that, was er gesagt hatte: Ich schlief tief bis in den nächsten Vormittag hinein.

Als ich erwachte, sah ich Hanneh und Kara bei Halef sitzen. Eben kam Schakara vom Vorplatze herein. Sie sah meine Augen offen, nickte mir still zu und glitt wortlos hinaus, um mir meinen Morgentrank zu holen. Da sie ihn mir brachte, wurden die beiden andern auf mich aufmerksam und kamen zu mir herbei. Ich hörte von ihnen, daß Halef zwar noch schlafe, aber sich zuweilen leise bewege. Der Pedehr hatte angeordnet, sofort zu ihm zu schicken, sobald der Kranke die ersten Zeichen gebe, daß er wieder bei sich sei.

»Wieder bei sich sei!« Diese Worte ließen mich an meine gestrige Unterhaltung mit dem Genannten denken. »Wieder bei sich!« Wer ist dieser »Sich«? Dieser »Er« oder diese »Sie«? Dieses Wesen, diese Persönlichkeit?

Nach der Ansicht des Pedehr ist es die Seele. Der »Geist« ist ihm Phantom. Er kennt am Menschen nur den Körper und die Seele. Die letztere ist das eigentliche Wesen. Was nun aber ist der Leib? Die Seele kann sich von ihm trennen. Unter gewissen Umständen wird aus diesem Können ein Wollen, welches sich sogar – jedenfalls beim Sterben – zum unbedingten Müssen steigert. Ist sie die Herrin und der Leib der Diener? Oder ist dieses Verhältnis für ihn vielleicht ein noch viel niedrigeres? Gleicht er einer, allerdings aus Organen zusammengesetzten, Maschine, welche im Schlafe zu ruhen hat, während sie zu dieser Zeit heimkehrt, um für den morgenden Tag neue Aufgaben und neue Kräfte zu empfangen? Bleibt sie auch während dieses seines Schlafes und während dieser ihrer Abwesenheit durch geheimnisvolle Fäden oder Beziehungen so mit ihm verbunden, daß sie bei jeder Störung zu seinem Schutz zurückgerufen wird? Und wenn es so ist, wo liegt das Heim, zu dem sie einst am Grabe völlig Rückkehr feiert? Im Leibe keinesfalls! Die chemisch-mechanische Thätigkeit gewisser Organe in ihm wird selbst durch die tiefste Ohnmacht nicht beendet, denn diese Kräfte wirken unaufhörlich weiter, bis der dazu nötige Stoff vollständig aufgezehrt worden ist. Aber das willkürliche Leben ist unterbrochen, und alle ihm zugehörigen Bewegungen sind eingestellt, bis sie, die Herrin, wiederkehrt, um den »entseelten« Körper aufs neue zu »beseelen«.

Was gestern vom Pedehr hierüber gesagt worden war, das hatte so einfach, so naiv geklungen. Natürlich hatte er unrecht, er, der geistig arme Mann im unkultivierten Kurdenlande! Mit welch einem unendlich zusammengesetzten und ebenso imponierenden Apparate behandelt dagegen unsere gelehrte Psychologie dieses »Seele« genannte, mit hundert Armen und Beinen zappelnde Gliedertier! Natürlich hat sie recht, diese auf allen Akademien gepflegte und von allen seelenvollen Menschen anerkannte Wissenschaft! Und Geist? Ein Phantom? Ist es nicht grad der Geist, dem wir diese tiefeingehende, beglückende Wissenschaft über die Seele verdanken? Ist nicht er es, der uns mit dem Animismus, dem Okkultismus, dem Spiritismus, der Pneumatologie und ähnlichen übersinnlichen Geschenken gesegnet hat? Und dieser Geist, der die Menschen sogar Geister sehen und mit Geistern sprechen läßt, soll ein Phantom sein? Pedehr, Pedehr, du bist ein lieber, guter Mensch, bist mein und Halefs Retter, ragst seelisch über Tausende empor, doch muß ich dir es sagen: Du hast nicht eine einzige Spur von Geist! –

Man kann sich denken, daß ich an den Stock dachte, der mir für heut versprochen worden war. Die liebe Ungeduld verleitete mich zu der Bitte an Schakara, ihn mir doch recht bald zu bringen. Sie versprach es lächelnd, that es aber nicht, wenigstens nicht gleich.

Es mochte gegen Mittag sein, als Halef die ersten Zeichen gab, daß er erwache. Kara eilte sofort aus der Halle, um den Pedehr zu holen. Als dieser kam, hatte er den Stock in der Hand; er gab ihn mir.

»Ich halte mein Versprechen,« sagte er, »doch warte noch ein wenig. Ich werde dich hinab zu Assil tragen lassen. Dort wirst du im Schatten der Platanen bis zum Abend ungestört sein und dich wohlbefinden.«

Kaum hatte er das gesagt, so ließ sich Halefs Stimme hören:

»Kara, mein Sohn!«

»Hier, mein Vater,« antwortete der Gerufene, der neben dem Pedehr gestanden hatte und nun hin zu dem Hadschi eilte.

»Ich sah dich auf dem Ghalib. Weißt du, wann das war?«

»Gestern war’s.«

»Wo?«

»Hier.«

»Hier? Wo ist das?«

»In dieser Halle.«

»Halle? Warte! Ich will sie sehen!«

Er kehrte seinem Sohne langsam das Gesicht zu und öffnete die Augen. Ihr Blick ging, soweit er reichen konnte, von Person zu Person, von Stelle zu Stelle. Als er mich in meiner Ecke sah, fragte er:

»Wer liegt dort? Ist das nicht mein Sihdi?«

»Ja, ich bin es, mein Halef,« antwortete ich.

»O, Sihdi, Sihdi, ich besinne mich. – Ich war sehr krank. – Ich bin es noch. – Ich starb bereits. – Da rief man mich zurück. – Ich hab sehr viel gesehen. – Doch weiß ich es nicht mehr. – Vielleicht fällt es mir wieder ein. – Ich will nicht sterben. – Ob ich wohl noch leben bleibe?«

Er sprach nur in kurzen Sätzen, leise, aber hörbar. Nach jedem Satze sammelte er sich und holte tief Atem. Als eine Weile vergangen war, bat er:

»Hanneh – Kara – steht auf! – Ich will euch ganz sehen. – Ich liebe euch!«

Sie thaten nach seinem Willen. Da begann sein Auge, sich mehr zu beleben.

»Mein Weib! Wie danke ich dir! – Mein Sohn! Wie schön warst du auf deinem Pferde! – War Ghalib sehr ermüdet?«

»Nur ein einziges Mal,« antwortete Kara.

»Hast du für ihn gesorgt?«

»Ja.«

»Für Barkh auch?«

»Ja, mein Vater.«

»Wenn ich sie sehen könnte!«

Im Nu eilten Hanneh und Kara hinaus, um die Pferde zu holen. Als sie die beiden brachten, kam Assil aus eigener Machtvollkommenheit hinterher gelaufen. Er wußte, wo ich lag, und wendete sich zu mir. Die zwei andern wurden hin zu Halef geführt. Dieser bekam plötzlich Kraft, den Arm erheben zu können.

»Barkh, mein Liebling! – Komm her zu mir!« sagte er, indem er die Hand nach dem Rappen ausstreckte.

Dieser trat ganz zu ihm heran, spielte mit den Ohren und nahm die dargebotene Hand in die Lippen.

»Mein Guter! – Mein Treuer! – Du hast dich nach mir gesehnt! – Ich sehe es dir an!« klagte der Kranke. »Er hat gehungert! – Wie ist’s damit? – Sag es mir, o Pedehr!«

»Es ist so, wie du sagst,« antwortete der Gefragte. »Wenn sie auch nicht gehungert haben, so konnte Schakara sie doch oft nur dadurch zum Fressen bringen, daß sie ihnen ihr grünes Lieblingsfutter gab.«

»Wenn ich gesund bin – wird Barkh wieder fressen – wie vorher. – Aber ob ich nicht – doch sterben werde?!«

»Du wirst leben bleiben!«

»Glaubst du das?«

»Ja.«

»Wirklich?«

»Gewiß! Du wirst von heut an so schnell genesen, daß du wahrscheinlich schon bei unserm großen Wettrennen zugegen sein kannst.«

»Wettrennen?« fiel Halef rasch und hörbar kräftig ein. »Giebt es ein Rennen?«

»Ja.«

»Wo?«

»Hier. Rund um den See.«

»Wann?«

»In zwei Wochen.«

»So ein kleiner Ritt? – Ganz gewöhnlich und gelegentlich?«

»O nein! Es wird ein großes Fest bei uns gefeiert, zu welchem Tausende von Menschen herbeiströmen werden. Es dauert mehrere Tage, und wir werden vieles thun, die Gäste zu unterhalten. Das Hauptstück wird ein Wettrennen sein, welches aus mehreren Abteilungen besteht.«

»Groß? – Mehrere? – Hanneh, Hanneh! – Gieb mir deinen Arm! – Richte mich auf! – Das muß ich weiterhören! – Alles, alles will ich hören!«

Es hatte sich seiner eine Energie bemächtigt, die man vorher für vollständig unmöglich gehalten hätte. Sein Gesicht, sein Blick, seine Stimme, alles, alles war im Handumdrehen anders geworden. Es schien, als ob ganz plötzlich die volle Lebenskraft durch seine Adern pulsiere.

»Reg dich nicht auf! Schone dich!« warnte der Pedehr.

»Aufregen? Schonen?« antwortete er. »Ich spreche doch bloß! Ich strenge mich ja gar nicht an!«

Er machte jetzt zwischen den Sätzen nicht mehr, wie vorher, eine Pause, um Atem zu suchen.

»Sag, was für Pferde werden laufen?« erkundigte er sich.

»Es werden nicht bloß Pferde sein. Wir lassen alle Arten der Tiere laufen, die es bei uns giebt, Schafe, Ziegen, Esel, Maultiere, Lastkamele, Reitkamele, gewöhnliche Pferde, und zum Schlusse wird es mehrere Rennen zwischen Tieren edelster Rasse geben.«

»Wem gehören sie?«

»Das weiß ich noch nicht. Jeder Gast darf sich beteiligen, und es werden viele kommen, welche gute Renner besitzen.«

»Allah, wallah, tallah! Darf ich mich mit melden?«

»Du?«

»Ja, ich!«

»Verzeihe mir, o Scheik der Haddedihn! Eure drei Pferde werden wahrscheinlich die besten sein, und ich bin sehr überzeugt, daß du rasch gesunden wirst; aber die zum Reiten nötige Stärke wirst du in zwei Wochen doch noch nicht besitzen!«

»Wer hat das gesagt? Wer wagt es, das zu behaupten?«

»Jeder Hekim muß das sagen!«

»Allah verderbe alle Hekims, die es – Nein, Allah verzeihe mir! Ich will nie wieder solche böse Worte sprechen!«

Hanneh hatte ihn durch Kissen so gestützt, daß er mit dem Oberkörper halb aufrecht lag. Er machte einen geradezu mehr als bloß Hoffnung erweckenden Eindruck. Der Pedehr aber ließ ihn keinen Augenblick aus dem Auge. Wenn er sich auch nichts merken ließ, so war es für ihn doch selbstverständlich, daß auf die jetzige An- oder vielmehr Aufregung die unausbleibliche Abspannung folgen werde.

»Wird mein Sihdi in zwei Wochen wieder hergestellt sein?« erkundigte sich Halef.

»Ja; aber wettrennen darf er mir noch nicht!«

»Du bist grausam. Aber Kara, meinem Sohne, wirst du es nicht verbieten? Er ist nicht krank.«

»Ich wünsche sogar, daß er sich beteilige.«

»In drei Rennen? Mit jedem unserer Pferde einmal?«

»Wenn du es wünschest, gern!«

»Oh, wüßte ich doch schon jetzt, was für Renner zu besiegen sein werden!«

»Ich kann dir sagen, daß es feine Perser, vorzügliche Turkmenen und echte Araber geben wird.«

»Das ist für heut genug. Kara, mein Sohn, du wirst von jetzt an mit jedem unserer Pferde täglich einen Eilritt unternehmen! Ueberwache sie beim Füttern und beim Tränken! Laß sie – laß sie bis zur – zur Schnelligkeit der Geheimnisse gehen – aber zwinge sie – ja zu dieser nicht –!«

Er begann jetzt wieder, Pausen zu machen. Seine Stimme wurde matter.

»Hanneh, laß mich wieder nieder!« bat er.

Sie nahm die stützenden Kissen weg. Nun lag er wieder wie vorher. Da fuhr er langsamer und leiser fort:

»Ghalib wird siegen – ganz gewiß! – Barkh überholt jedes – jedes andere Pferd! – Assil Ben Rih aber wird – sie alle mit Leichtigkeit – mit Wonne in ihre – in ihre Schande rennen! Mit dem reinen – echten Blut der Haddedihn – ist kein anderes – kein anderes zu vergleichen –!«

Er schloß die Augen. Alle waren still. Nach einiger Zeit hörte ich ihn wie befehlend sagen:

»Kara – Kara, der Bügel – ist zu scharf –!«

Der Pedehr nickte befriedigt vor sich hin. Was er dann leise zu Hanneh und ihrem Sohn sagte, konnte ich nicht mehr verstehen. Dann aber kam er her zu mir und sagte:

»Ich fürchtete entweder die Gleichgültigkeit oder eine größere Aufregung. Nun bin ich doch zufrieden!«

»Und deine Hoffnung –?« fragte ich.

»Ist zur Gewißheit geworden. Wenn keine unvorherzusehende Störung kommt, wird er gerettet sein. Das Rennen wird ihn beschäftigen, auch wenn er zu schlafen scheint. Ja, es wird ihn vielleicht sogar bis in den Traum begleiten. Er wird, wie du gestern sagtest, ›mit seiner ganzen Seele‹ ununterbrochen bei diesem Rennen sein und sich an diesem Gedanken zum neuen Leben stärken. Dich aber werde ich jetzt hinunter zu den Platanen tragen lassen. Dort magst du den Stock versuchen, bis er dir später nicht mehr nötig ist.«

Er ging, und gleich hierauf kamen drei Dschamikun, welche mich hinausbringen sollten. Sie trieben zunächst Assil hinaus, was Kara Veranlassung gab, auch Barkh und Ghalib wegzuführen. Hierbei war das laute Geräusch der Hufe nicht zu vermeiden. Halef bewegte sich. Grad als man mich vom Lager hob, öffnete er die Augen.

»Komm her zu mir, Sihdi –!« sagte er, »du sollst – etwas hören – etwas sehr – sehr Wichtiges –!«

Man setzte mich bei ihm nieder.

»Gieb mir deine Hand!« bat er.

Ich ergriff die seinige. Er sah mir mit seiner alten Innigkeit in die Augen und fuhr mit leiser Stimme fort:

»Sihdi – wie denkst du – über das Sterben?«

»Ich denke überhaupt nicht mehr daran,« antwortete ich.

»Ich auch nicht! – Das alte – alte Weib – ohne Zähne –! Weißt du –? Sie ist fort –! Sie wollte – mich zwingen – zum Sterben –! Da erfuhr ich – daß auch dieses Sterben – eine große, große Lüge ist – so groß – wie es gar keine – keine zweite giebt! – Sihdi, leg dein Ohr – an meinen Mund –!«

Ich folgte dieser Aufforderung, da flüsterte er mir zu:

»So lange ich lebte – steckte ich im Tabuth – das ist der Leib –! Ich sollte – sollte, nein – ich wollte – wollte, nein – ich durfte – durfte auferstehen! – Da rief jemand – im Sarg meinen ganzen – ganzen Namen! – Das hielt mich in – in ihm – von neuem in ihm fest! – Ich war – war nicht allein –! Es standen – standen – ich sah – Sihdi, ich kann – mich nicht besinnen! Es fällt mir – schon noch wieder ein – dann sage – sage ich es dir!«

Ich behielt seine Hand in der meinen, während er hierauf längere Zeit ohne Wort und Bewegung lag. Plötzlich zuckte er zusammen und rief mit erhobener Stimme aus:

»Sihdi, es giebt ein großes Rennen –! Ich muß essen – muß trinken – muß stark werden –! Assil – mein Barkh – und Ghalib, der Ueberwinder –! Ich bin froh – daß ich lebe –! Wir werden siegen – siegen – siegen –! Hamdulillah – Hamdulillah – Hamdulillah!«—

  1. Siehe Karl May, »Der Schut«, pag. 499
  2. Siehe Karl May »Durchs wilde Kurdistan« pag. 205 ff

Viertes Kapitel.

Viertes Kapitel.

Viele meiner Leser sind, wie ich weiß, in Palästina gewesen. Die meisten von diesen werden wohl auch, wie einst der Mann im Gleichnisse Christi, von Jerusalem hinab nach Jericho gegangen sein. Er-Riha wird diese Stadt vom heutigen Araber genannt. Von ihr aus geht es über eine alte, verfallene Brücke nach dem fernliegenden »Toten Meere«. Nach der andern Seite führt, an zerlumpten, niedrigen Beduinenzelten vorüber, ein bequemer Weg nach Aïn es Sultan, wo die eingeborenen Bettler gern unter Wasser tauchen, um die für sie hineingeworfenen Geldstücke herauszuholen. Trinken aber mag man lieber vor als nach dieser Prozedur!

Geht man von hier aus noch weiter, so sieht man den imposanten Dschebel Qarantel vor sich liegen, der sich aus dem Abgrunde wie ein böser Traum aus tiefem Schlaf erhebt. Seine Einsamkeit hat schon in den frühesten Zeiten anziehend auf fromme Anachoreten gewirkt. Die Höhlen wurden von ihnen bewohnt. Zelle gesellte sich zu Zelle. Sie sind hoch am schwindelnd steilen Fall der Felsen gelegen. Heute wird diese Siedlung als Strafkolonie für griechisch-katholische Priester gebraucht.

Warum diese scheinbar unmotivierte Abschweifung nach dem gelobten Lande? Der Aehnlichkeit der Orte wegen. Ich kann die Lage des von dem Ustad bewohnten »hohen Hauses« eigentlich nur Denen deutlich machen, welche den Dschebel Qarantel gesehen haben. Und doch wie so verschieden sind sie beide von einander. Bei Jericho jeder Nomade ein geborener Bettler; hier in dem abgelegenen, kurdischen Orte jeder Bewohner ein Ehrenmann. Dort Einöde, hier das gepflegte Tier- und Pflanzenleben. Dort abgrundtiefes Grauen und hier ein herzerfreuender Blick von der Höhe in die Tiefe. Dort die unerbittlich geballte Faust der geistlichen Oberbehörde und hier aber die stets gütig geöffnete Hand dessen, der nur von der Liebe zu seiner dominierenden Würde emporgehoben worden war. Auch in Jericho habe ich unter freiem Himmel wiederholt ganze Nächte durchgewacht. Warum? Der Unsauberkeit und des Ungeziefers wegen, welches mich aus der Wohnung heraus bis an den verwilderten Garten trieb. Da strahlten mir auch die Sterne; aber die körperliche Qual ließ auch nur häßliche geistige Bilder zu. Ich sah am Tel ed Dem den Chan Chadrur vor mir liegen, welcher die Herberge sein soll, in die der barmherzige Samariter seinen Pflegling brachte. Dort habe ich für eine Flasche allerschlechtesten Bieres drei Mark bezahlt. Ein Glas widerlich parfümiertes Wasser kostete einen Frank. Wer aus Sparsamkeit nicht einkehrt, ist des fernern Weges nicht sicher. Die Verhältnisse sind nach zweitausend Jahren noch ganz dieselben.

Das ist »das gelobte Land«! Wie herrlich weit hat man es dort gebracht! Damals war der Samariter, der verachtete Ketzer, der Barmherzige. Wie ist es jetzt? Wenn ich mir diese Frage unter dem Sternenhimmel Jericho’s vorlegte, so stand kein Stern mehr über Bethlehem, und keine Schar Engel fand sich ein, um ihr »Et in terra pax, hominibus bonae voluntatis« zu singen. Vor christlicher Zeit wurde der Jude von Räubern überfallen, beraubt und fast erschlagen. Jetzt, nach zwanzighundert Jahren, steht es nicht besser um diese und ähnliche, oft intellektuelle und moralische Wegelagerei. Jetzt fallen Christen über Christen her. Besonders wer es wagt, nicht den von jedermann betretenen, sondern seinen eigenen Glaubensweg von oder nach der heiligen Stadt zu gehen, der kann sehr leicht an sich selbst erfahren, was Lucas 10 Vers 30 zu lesen ist. Christus wußte gar wohl, weshalb er grad dem Schrift- und Buchstabenstolz mit seinem Gleichnisse vom barmherzigen Samariter diese ewig unheilbare Wunde schlug. Auch wir Christen haben unser Jerusalem und unser Jericho mit dem »Toten Meere« in der Nähe. An dem Wege zwischen beiden liegt das un- mit dem egogläubigen Strauchrittertum im Hinterhalte. Wo ist die Humanität, die wahre christliche Liebe und Barmherzigkeit? Soll sie auch noch in der Gegenwart nur dem ketzerischen Samariter überlassen bleiben? Gehen etwa auch jetzt noch Priester und Leviten an dem Angefallenen vorüber, ohne sich seiner anzunehmen? Solche Fragen kamen mir in den Sinn, als ich des Nachts unter den staubigen Oleandern von Jericho saß und an die göttliche Lehre von der Nächstenliebe dachte.

Dagegen hier im christenfernen Kurdistan! Welch eine herrliche Auslegung hatte da das Gleichnis des Herrn an uns selbst gefunden. Wer und was waren hier die Barmherzigen? Etwa Christen? Priester und Leviten? Vielleicht auch nur Ketzer, denn ich hatte ja ihre Glaubenssatzungen noch gar nicht kennen gelernt. Es war bisher nur von Chodeh, also von Gott gesprochen worden. Gab es bei ihnen überhaupt Satzungen? Waren sie mir verschwiegen worden, weil man annahm, daß nur die Liebe, nicht aber die Konfession barmherzig sei? Was für ganz andere, viel tröstlichere Gedanken waren mir gestern abend unter dem hiesigen Sternenhimmel gekommen! Hier war ich nicht um meines Dogma willen, sondern als Mensch von guten Menschen aufgenommen und mit größter Aufopferung gepflegt worden. Niemand hatte mich gefragt, wo ich getauft und wo ich konfirmiert oder gefirmt worden sei. Giebt das der Liebe einen mindern oder höhern Wert? »Wer ist mein Nächster?« – »Der, welcher die Barmherzigkeit an mir that!« Wenn aber ein Christ mir Haß oder Neid anstatt der Liebe giebt, was ist er dann für mich? Mein Nächster? Oder noch schlimmer als nur fremd? Ist er dann überhaupt ein Christ?

Wie herrlich war der Nachmittag unter den Platanen, in deren Schatten man für mich die Kissen zum Sitzen aufgerichtet hatte. Die Sonne brannte, doch konnten die Strahlen nicht durch die dichten Wipfel dringen. Die Rosen dufteten; jede Pflanze schien Wohlgeruch auszuatmen. Ich befand mich nicht weit genug vom Hause entfernt, um es und seine Lage ganz überschauen zu können. Es stand auf kompaktem Felsengrund, dessen Spalten durch festes Mauerwerk ausgefüllt worden waren. Sein hinterer Teil nahm die natürlichen Höhlungen des Gesteines ein. Der vordere Teil ragte frei empor, mehrere Stockwerke hoch und war von ansehnlicher Breite.

Das Dach war glatt, vorn mit einer assyrischen Mauerkrönung; wie man sie in Dur-Sargon zu sehen bekommt. Doch habe ich ganz ähnliche Krönungen auch in alten Orten des obern Niles getroffen. Ueber dem Dache gab es in dem Felsen offene Höhlungen, zu denen schmale Stege emporführten. Das erinnerte mich lebhaft an den »Stabl Antar« bei Siut, der ganz ebenso zu ersteigen ist. In einer dieser Höhlen sah ich die beiden Glocken hängen. Sie war halbkugelförmig ausgebaucht. Die Tonschwingungen konnten nur nach der einen, offenen Seite fließen, was ihnen eine erhöhte Stärke und beträchtlich erweiterte Hörbarkeit verlieh.

Glocken hier im persischen Kurdistan? So wird wohl mancher fragen. Ich habe freilich viele, viele Menschen kennen gelernt, welche der falschen Ansicht sind, daß nur das Christentum Glocken besitze und daß es in früherer Zeit noch keine gegeben habe. Wenn sogar im Konversationslexikon von Pierer zu lesen ist, daß die Glocken eine Erfindung der christlichen Kirche seien, so darf man sich nur wundern. Kleinerer Glöcklein bediente man sich schon im frühesten Altertume; aber schon im alten China gab es größere und sogar große. Die zu Peking ist über zwölfhundert Zentner schwer und fast fünf Meter hoch. In Aegypten wurden die Osirisfeste durch Glockenspiele eingeläutet. Man hat kleine Bronzeglocken in Assyrien ausgegraben. Im alten Indien wurden die Buddhisten durch große, metallene Glocken zum Gottesdienste zusammengerufen. Bei den Griechen bedienten die Priester der Kybele und der Persephone ihre Glocken, und Kaiser Augustus ließ eine Glocke vor dem Tempel des Jupiter aufhängen. Glocken indischer oder assyrischer Form kamen nach Persien. Die griechische Kirche liebte und verbreitete besonders das Glockenspiel. Im Quellenlande des Euphrat und des Tigris, wo es heut noch Christen uralten Bekenntnisses giebt, besaßen wohlhabende Gemeinden schon zu frühen Zeiten ihre Glocken. Der Islam verhielt sich ablehnend, doch geduldete Christen durften ihre Glocken behalten. So war es also gar kein Wunder, daß auch die Dschamikun zwei besaßen, zu denen sie, wie ich später erfuhr, durch den Ustad auf ganz eigentümliche Weise gekommen waren. Es führte eine bequeme Treppe zu ihnen hinauf, so daß man also auch des Nachts ohne Besorgnis emporsteigen konnte.

Von da aus, wo ich saß, konnte man den Eingang zu dem freien Platze sehen. Man verschloß ihn durch ein großes Thor, welches jetzt offen stand. Von diesem Platze aus stieg man die Stufen zu der Halle empor. Links führte ein Weg nach einer breiten, hohen Thür, deren starke Steinpfosten gewiß schon seit Jahrtausenden standen. Rechts ging man nach einem Garten, in welchem zwischen Obstbäumen Blumen und Gemüse gepflegt wurden. Dorthin beschloß ich, meinen ersten Spaziergang zu machen. Ich griff zum Stocke und stand auf. Die Beine zitterten zunächst ein wenig, und die Füße wollten lieber auf dem Kissen liegen bleiben. Aber sie mußten gehorchen, und als sie sahen, daß ich bei meinem Willen blieb, fügten sie sich in das Unvermeidliche.

Ich kam über den ganzen Platz hinüber bis zur Garteneinzäunung, an der ich aber halten blieb, um auszuruhen. Nachdem ich dies gethan hatte, ging es weiter, in den Garten hinein. Er war sehr groß. Es gab da eine ganze Menge Beete, von deren Erträgnissen ein großer Haushalt bestritten werden konnte. Zwischen ihnen standen viele Bäume, welche Früchte trugen. In leidlicher Entfernung sah ich ein Weichselgebüsch, an welchem eine Bank stand. Dort wollte ich mich niedersetzen.

Ich ging also hin. Hierbei kam ich an zwei nahe beieinander stehenden, persischen Erikan vorüber, welche so voller Früchte hingen, daß ihrer fast mehr als Blätter waren. Es war eine frühe, eigroße, köstlich blaurot gefärbte Pflaume! Ja, köstlich!!!

Wenn ich hier erst ein und dann sogar drei Ausrufezeichen mache, so hat das seinen guten Grund. Obst geht mir über jede andere Speise. Ich esse da gewiß so viel, wie sogar meine vier Ausrufezeichen schwerlich vermuten lassen. Und Pflaumen? Gar von dieser geradezu zum Stehlen einladenden Sorte? Man würde staunen, wenn ich sagen wollte, wieviel ich da essen und aber auch vertragen kann. Ich sage es also lieber nicht. Das alles gilt aber nur vom Obste. In Beziehung auf andere Speisen sind die sogenannten Tafelfreuden für mich nichts als Tafelarbeiten. Ich weiß, und ich schmecke, was gut ist oder nicht; ich kann sogar auch tadeln; aber ich esse nicht, um zu essen, sondern weil ich leben bleiben will. Gekünsteltes oder Complicirtes schiebe ich zurück. Ich will einfach essen, womöglich nur eine einzige Speise, aber gut. Das Zusammengesetzte ist keineswegs so zuträglich wie man denkt. Ich habe das an mir und tausend Andern erfahren. Wenn die Menschen doch wüßten, was die Art und Zubereitung der Nahrung für einen Einfluß, für eine Wirkung hat! Doch, hierüber könnte man Bücher schreiben, und es würde doch vergeblich sein. Aber, daß ich jetzt als Sechzigjähriger mich körperlich und geistig noch genau so jung und arbeitsfreudig wie ein Zwanzigjähriger fühle, das habe ich wohl vorzugsweise dem Umstande zu verdanken, daß ich so einfach und so wenig wie nur möglich esse. Obst aber, so viel ich immer kann, das ganze Jahr hindurch. Nach dem Preise soll man da nicht fragen. Und Pflaumen! Solche, wie grad hier –!

Da stand ich unter den Bäumen und schaute sehnsüchtig hinauf. Wem gehörten sie? Wer war der Glückliche, der da pflücken oder gar schütteln konnte, ohne erst jemand fragen zu müssen? Der Ustad? Der Pedehr? Weder der eine noch der andere war da. Es gab überhaupt im ganzen Garten keinen Menschen, an den ich eine Bitte hätte richten können. Was nun thun? Soll ich? Oder soll ich nicht? Darf ich überhaupt? Adam und Eva im Paradiese wußten wenigstens, daß sie nicht durften; ich aber wußte nicht einmal das! Doch wozu diese übermäßige Zartheit des Gewissens! Bei solcher Art von Pflaumen! Ich war ja Gast! Und der Garten gehörte einem Orientalen, nicht einem abendländischen Besitzer, bei dem das Bäumeschütteln nicht mit zu den unveräußerlichen Rechten des bei ihm Aufgenommenen gerechnet wird! Ich legte also beide Hände an den einen Stamm und – schüttelte.

Hei! Was gab das für einen Erfolg! Es regnete förmlich Pflaumen auf mich nieder! Das freilich hatte ich nicht gewollt! Es hatten nur einige fallen sollen; aber sie waren beinahe überreif, und in Anbetracht meiner jetzt noch so geschwächten Kräfte hatte ich mich zu energisch in das Zeug gelegt: Weit über die Hälfte der Früchte lagen nun jetzt unten. Ich stand da mit wohl demselben Gefühle wie jener Reiter, der sich links so kräftig auf das Pferd geschwungen hat, daß er rechts, auf der anderen Seite wieder hinuntergefahren ist. Jedes Zuviel ist eben schädlich! Aber da ich die herabgefallenen Pflaumen doch unmöglich wieder oben anheften konnte, so füllte ich mir die Taschen, ließ die andern liegen und ging dann nach der erwähnten Bank, um dort zu thun, was nun das beste war, nämlich meinen Raub genießen.

Ich saß nun so, daß ich die beiden Pflaumenbäume nicht mehr sehen konnte. Das minderte die Kraft der Vorwürfe, welche ich mir zu machen hatte. Ich aß! Aber, es ist nichts so fein gesponnen, El Aradsch bringt es an die Sonnen. Wer ist El Aradsch? Das wird man sogleich sehen und sogar auch hören. El Aradsch heißt: der Lahme.

»Auch Frenk maidanosu mit, zur Abendsuppe!« rief hinter mir eine eigentümlich fette Stimme.

Frenk maidanosu ist ein türkisches Wort und heißt zu deutsch Kerbel. Also für heute abend stand eine Potage von Kerbel in Aussicht. Das war zwar gut und auch leicht verdaulich, aber für mich sollte das in meiner gegenwärtigen Eigenschaft als Pflaumendieb außerordentlich verhängnisvoll werden. Zunächst noch ganz ahnungslos, drehte ich mich um, zu sehen, wer gesprochen hatte und wem die Worte galten. Ich mußte mit der Hand das Weichselgezweig auseinander schieben, um nach dem Hause hinschauen zu können. Ich erblickte zunächst eine unendlich lange, männliche Gestalt, welche bis über die Kniee hinauf barfuß war. Von dieser Gegend an war ein blaues, sackähnliches Hemd zu sehen, welches mit Mühe und Not den Hals erreichte. Dann kam ein unverhältnismäßig kleiner Kopf mit einem Gesicht, welches mir ein Lächeln abnötigte. Dieser Mann war ganz gewiß nicht unter vierzig Jahre alt, hatte aber so junge, kindlich weiche Züge, daß der Kontrast zwischen Gesicht und Gestalt allerdings zum Staunen nötigte. Dazu kam, daß er eine kurdische Ledermütze trug, deren Streifen ihm hinten bis in das Genick und vorn über die Nase herabhingen. Man denke sich einen aus Leder geschnittenen Stern, dessen Mitte auf dem Scheitel liegt, während die Strahlen wie die Beine eines präparierten, monströsen Spinnentieres nach allen Seiten herunterflattern! Seine Arme schienen noch länger zu sein als seine Beine, von denen das eine kürzer als das andere war; er hinkte. Er trug einen leeren Korb in der Hand und ging grad nach der Gegend hin, wo die beiden Pflaumenbäume standen, der eine noch als Zeuge meiner Ehrlichkeit, der andere aber als Beweis der Missethat, die ich begangen hatte.

Das war die Person, welcher die Anweisung zur Kerbelsuppe gegolten hatte. Wer aber hatte sie gegeben?

Ich sah eine jetzt geöffnete Thür, welche ich vorher nicht beachtet hatte. Da stand ein weibliches Wesen, so strahlend weiß wie eine abendländische Festjungfrau gekleidet. Festjungfräulich waren auch die langen Zöpfe, in welche sie ihr herabhängendes Haar geflochten hatte. Festlich auch die beiden Rosen, die rechts und links auf die Ohren niederschauten. Und das Gesicht? Könnte ich es doch beschreiben! Dieses Gesicht war zwar etwas Ganzes, sogar etwas seltsam Harmonisches, und aber doch schien es, als ob jeder einzelne seiner Teile sich bestrebe, herauszutreten und für sich selbst zu bestehen. Jede Wange bildete ein blühend rotes, nach ganz besonderem Ansehen trachtendes Halbkügelein. Das Kinn that sich weiter unten fast noch mehr hervor; es schien auf sein mehr als neckisches Grübchen ganz besonders stolz zu sein. Das Näschen begann erst da, wo andere Nasen fast schon zu Ende sind, und schaute zwischen den beiden Wangen so frohsinnig heraus und in die Welt hinein, als ob seinesgleichen nirgends mehr zu finden sei. Auch die glatte, faltenlose Stirn trat heiter vor. Und die Aeuglein unter ihr! Ja, diese Aeuglein! Wer kann überhaupt Augen beschreiben? Und nun gar so liebe, kleine, gute, außerordentlich lebendige! Und wie das Gewand, so war auch dies Gesicht ein Abglanz allergrößter Sauberkeit. Man darf ja nicht denken, daß es häßlich gewesen sei. O nein! Es war zwar nicht schön, nicht hübsch, nicht lieblich, nicht – ja, was noch nicht? Es war überhaupt alles nicht, aber es war gut, ja wirklich gut! Aber wie alt? Zwanzig? Dreißig? Vierzig? Wer das nur sagen könnte! Ich wollte genauer hinsehen, da aber drehte sie sich um und verschwand nach innen. Wenn diese personifizierte Reinlichkeit etwa die Gebieterin der Küche war, so konnte man von ihr alles, ganz gleich, ob mit oder ohne Kerbel, mit Vergnügen essen!

»Maschallah – Wunder Gottes!« hörte ich jetzt von seitwärts her einen Ruf.

Ich wendete mich zurück und machte nach dorthin eine Lücke ins Gezweige. Da stand der Lahme vor den Pflaumen, so lang, wie er war, vollständig starr und steif vor Schreck. Hierauf kam einige Bewegung in ihn, aber nicht viel; er schüttelte den Kopf.

»Ahija – o wehe!« klagte er.

Hierauf sah man, daß er eine Anstrengung machte, nachzudenken. Es gelang.

»Ja charami – o, du Spitzbube!« rief er aus, indem er sich nach allen Seiten umschaute.

Es ging ihm also eine Ahnung auf, daß die Pflaumen nicht von selbst heruntergefallen seien.

»Iil’an Daknak – verflucht sei dein Bart!« schimpfte er, und als er den Thäter nicht erblickte, fügte er noch viel zorniger hinzu: »Allah jelisak borneta – Allah setze dir einen Hut auf!«

Mit diesem Wunsche leistete er sich die allergrößte Schande für den Dieb. Wer einen europäischen Hut, vielleicht gar einen hohen Cylinder, occidentalisch »Angströhre« genannt, aufgewünscht bekommt, mit dessen Ehre ist es nach streng orientalischen Begriffen ganz gewiß für immer aus! Nun griff der lange Mensch unter die Mütze und rieb sich die Stirn. Er that dies einigemal. Wahrscheinlich wollte er die Antwort auf die Frage, wer der Spitzbube wohl sein könne, herausreiben. Es gelang ihm aber leider nicht.

»Allah ja’lam el gheb – Allah kennt das Verborgene!« seufzte er endlich erleichtert.

Das war das einzige und, wie es schien, ihn sehr beruhigende Resultat, welches er sich aus der Stirn frottiert hatte. Dann kniete er nieder, um die Pflaumen in den Korb zu lesen. Dabei betrachtete er jede einzelne mit einem Blicke, als ob er sie sich ganz besonders vorgemerkt habe. Aber plötzlich fuhr er halb empor. Er hatte etwas Wichtiges gesehen. Das waren die Fußstapfen, welche ich in dem weichen Boden zurückgelassen hatte.

»Men schabar nahl – wer Ausdauer hat, dem gelingt es!« rief er aus.

Er glaubte wohl, auch jetzt noch immer gerieben und nachgedacht zu haben. Nun erhob er sich und hinkte den Spuren langsam nach. Sie führten ihn natürlich her zu mir. Als er um die Ecke des Gebüsches trat, steckte ich soeben eine Pflaume in den Mund. Zunächst blieb er wie eine Salzsäule vor mir stehen. Er bewegte kein Glied. Nicht einmal seine Wimper zuckte.

»Wer bist du?« fragte ich.

»Du – du – du hast die Pflaumen – meines Ustad gestoh –«

Weiter kam er nicht. Die Stimme versagte ihm. Also diese Früchte waren für den Ustad reserviert! Da konnte ich ruhig sein; der gönnte sie mir gewiß. Aber dieser meiner Ruhe stand ein ebenso schnelles wie gewaltsames Ende bevor, denn der Lahme bekam plötzlich seine ganze Bewegungsfähigkeit, sogar zehnfach gesteigert, wieder, und ehe ich nur den Gedanken hätte fassen können, daß so etwas möglich sei, warf er sich mit aller Macht über mich her, schlang die überlangen Arme anderthalbmal um mich herum und begann, aus Leibeskräften um Hilfe zu schreien. Nach den Ausdrücken, die aus seinem Munde flossen, war eigentlich zu schließen, daß er eine ganze Bande von Dieben, Räubern und Mördern ergriffen habe. Er war ein außerordentlich kräftiger Mann, mich aber hatte die Krankheit so geschwächt, daß ich vergeblich versuchte, von ihm loszukommen. Glücklicherweise dauerte es nur ganz kurze Zeit, bis mir die von ihm herbeigerufene Hilfe kam. Wahrscheinlich sah er sie, denn er hörte auf mit Schreien; statt seiner aber hörte ich die fette Stimme der sich eiligst nähernden »Festjungfrau«.

»Wo sind denn die Räuber, die Mörder?« fragte sie.

»Hier, hier! Komm, komm!« antwortete er.

»Wen haben sie ermordet?«

»Die Pflaumen, die Pflaumen des Ustad, die Früchte meines lieben, hohen Herrn!«

»Unsinn! Pflaumen werden doch nicht ermordet!«

»Komm nur; komm, und sieh ihn an!«

Sie kam; sie stand schon da.

»Zeig, Tifli!« gebot sie ihm.

Tifli heißt »mein Kind«, sogar »mein kleines Kind«. Er ließ mich los. Ich hatte im Gefühle meiner Ohnmacht mich ganz passiv verhalten und konnte nun gar nicht anders, ich mußte ihm lachend in das grimmige Kindergesicht sehen. Wenn dieser Mann ein »kleines Kind« war, welche Länge mußten da die großen Kinder wohl hier zu Lande haben! Die »Festjungfrau« war zunächst auch ganz ohne Worte. Sie schien nicht recht zu wissen, aus wem von uns dreien sie klug zu werden habe.

»Das ist er!« sagte er, indem er beide Zeigefinger schnurstracks auf mich richtete.

»Wer?« fragte sie.

»Der Dieb.«

»Was hat er gestohlen?«

»Die Pflaumen! Dort liegen noch welche!«

Er deutete nach den Bäumen. Sie schaute hin, sah die Früchte unten liegen, schlug die dicken Händchen patschend zusammen und jammerte:

»Die besten, grad die allerbesten!«

»Aufgehoben haben wir sie für unsern Herrn!« klagte er mit.

»Bis zur Stunde der höchsten Reife!« fuhr sie fort.

»Dann erst ißt er sie, seine Lieblinge!« fügte er hinzu.

»Er hat wohl noch genug!« tröstete ich.

Da sahen beide mich so erstaunt an, als ob ich etwas ganz Unbegreifliches gesagt habe. Dann fuhr mich der Lange zornig an:

»Sie sind alle sein, alle, alle! Wer bist du denn?«

»Ja, wer bist du? Das wollen wir wissen!« erklärte mir die Besitzerin des frohsinnigen Näschens.

»Das wißt ihr nicht?« antwortete ich.

»Nein,« sagte sie.

»Ihr habt mich noch nicht gesehen?«

»Noch nie! Doch, wer du auch seiest, wie darfst du es wagen, hier Früchte zu stehlen! Kein einziger Dschamiki stiehlt. Du mußt ein Fremder sein!«

»Aus der Fremde kam ich allerdings, doch gehöre ich zum Hause. Ich bin des Ustad Gast.«

»Gast? Seit heut?«

»Seit Wochen schon.«

»Seit Wo – Wo – Wochen – Wo –!«

Das runde, kleine Mündchen blieb ihr offen stehen, so offen, daß man die kerngesunden, perlengleichen Zähne sehen konnte. Die Wänglein verloren die Farben; das Kinn zeigte sich ängstlich gespannt; das Näschen wollte verschwinden, und die Aeuglein schlossen sich, zwar langsam aber ganz. Hatte sie etwa einmal von einer Europäerin gesehen, welche Ritterdienste in solchen Fällen von einer kleinen Ohnmacht zu erwarten sind? Nein! Die Aeuglein öffneten sich wieder. Sie wurden sogar noch größer, als sie vorher gewesen waren.

»Heut – heut – verläßt der – der fremde Effendi – zum erstenmal – das Haus –«, stotterte sie.

»Du hast ihn wirklich noch nicht gesehen?« fragte ich.

»Nein. Niemand von uns – durfte die Halle betreten. Bist du – du etwa der – der Effendi?«

»Ja, ich bin’s.«

Da fuhr sie vor Entsetzen zwei Schritte zurück. Ihr liebes Gesicht verlor nun alle, alle Farbe. Der Lange aber schoß in seinem Schreck noch höher empor, als er eigentlich gewachsen war. Wahrscheinlich wollte er mit der gedankenreichen Stirn so hoch hinaus, daß ihr meine Rache unmöglich etwas anhaben konnte. Diese Bewegung brachte ihn auf eine rettende Idee:

»Ich hole Kerbel!« rief er aus.

Mit drei Sätzen seiner langen Beine war er bei den beiden Bäumen, raffte den Korb auf, schüttete die hineingelesenen Pflaumen wieder heraus und rannte fort, um die fernste Ecke des Gartens zu erreichen. Ich sah ihm lachend nach und hatte dabei nicht acht auf meine »Festjungfrau«. Da erklang es neben mir:

»Und ich muß in die Küche!«

Da drehte ich mich um. Sie war schon weg. Ich schob die Zweige auseinander, um ihr nachzusehen. Sie schoß in größter Eile auf einige Hausbedienstete zu, welche auch von den Hilferufen angelockt worden waren, aber nicht gewagt hatten, näher zu kommen.

»Fort! Weg mit euch!« rief sie, indem sie an ihnen vorüberkam. »“Das Kind“ hat wieder eine Dummheit gemacht. Stört dort den Effendi nicht!«

Hierauf verschwand sie in ihrem wohlthätigen Reiche. Vor mir lag eine ihrer beiden Rosen, die ihr entfallen war. Ich hob sie auf und steckte sie zu mir. –

Warum erzähle ich dies eigentlich nichts weniger als bedeutende Ereignis hier? Weil im Menschenleben oft das, was gleichgültig erscheint, später größere Wichtigkeit gewinnt, als man vorher vermuten konnte.

Nach einiger Zeit kam »das Kind« aus seiner Gartenecke zurück, hütete sich aber wohl, an mir vorbeizugehen. Es machte vielmehr einen Bogen hinterwärts, um wieder in die Küche zu gelangen. Hierauf verließ auch ich den Garten, versäumte aber nicht, mir die Taschen noch einmal mit Pflaumen zu füllen. Noch hatte ich mich nicht lange niedergesetzt, da kam der Pedehr. Er war in der Küche gewesen, und die Köchin hatte ihm erzählt, was geschehen war. Er fragte mich, ob mir ›das Kind‹ sehr wehe gethan habe. Ich beruhigte ihn mit Vergnügen.

»Er wird von uns nur ›Kind‹ genannt,« sagte er. »Andere pflegen ihn El Aradsch, den Lahmen, zu nennen. Es hat mit ihm eine eigene Bewandtnis, welche du später auch noch kennen lernen wirst. Du liebst das Obst?«

»Ja. Ich esse es sehr gern, und zwar ungewöhnlich viel.«

»Thue das, so lange du lebst! Die reine, keusche Lebenskraft ist nicht im Fleische des ausgewachsenen Tieres vorhanden. Genießt man welches, so soll es nur ganz junges sein. Das reife Tier giebt auch dem Menschen, der es genießt, tierische Reife. In der Frucht des Baumes aber ist das reinste Leben aufgespeichert, weil Wurzeln, Stamm und Zweige das Unreine zurückbehalten haben. Nun weißt du, warum der Ustad uns gelehrt hat, nicht nur Felder, sondern auch Gärten anzulegen.«

Hatte der Pedehr recht? Ich habe mich später an seine Weisung gehalten und befinde mich sehr wohl dabei!

Hanneh und Kara kamen abwechselnd zu mir auf den Vorplatz heraus. Ich erfuhr von ihnen, daß Halef still und ruhig schlafe.

Später hatte ich das Vergnügen, die Köchin und »das Kind« wiederzusehen. Sie wollten miteinander hinunter in das Dorf und mußten da an mir vorübergehen. Das Kind hatte jetzt ein längeres Gewand angelegt, welches fast bis an die Knöchel reichte. Die Gebieterin der Küche hatte sich mit einem langen, weiten, weißen, schleierähnlichen Stoff geschmückt, welcher, ihr Gesicht freilassend, von dem Kopfe aus hinten niederfiel und, nach vorn zusammengerafft, die ganze Gestalt einhüllte. Es war an ihr überhaupt, jetzt und auch später, nichts als nur Weiß zu sehen.

Man sah Beiden an, daß sie sich meinetwegen in Verlegenheit befanden. Sie näherten sich nur zögernd. Sie sagte ihm etwas und schob ihn dann mit der Hand, voranzugehen. Da ermannte er sich, that einige schnelle, lange Schritte bis zu mir her, verbeugte sich und sagte:

»Effendi, ich bin Tifl.«

Das war ganz genau dasselbe, als wenn er in deutscher Sprache gesagt hätte: »Effendi, ich bin ein kleines Kind.« Ich mußte lächeln und nickte ihm zu.

»Aber ich bin nicht klein!« fuhr er fort.

Ich nickte wieder.

»Ich bin ein Mann!« versicherte er.

Ich nickte abermals.

»Ich habe Mut, sehr viel Mut. Ich fürchte mich niemals, vor keinem einzigen Menschen!«

»Das hast du an mir bewiesen,« bestätigte ich.

»Ja, an dir! Sogar an dich habe ich mich gewagt! Man hat mich dafür sehr gescholten; aber ich behaupte, daß ich richtig gehandelt habe. Sage du es selbst: Hattest du die Pflaumen meines Herrn herabgeworfen?«

»Ja, das hatte ich.«

»Und mir aber sind sie anvertraut. Habe ich gegen meine Pflicht gesündigt?«

»Nein, du bist ein treuer Wächter im Garten deines guten Herrn.«

Da breitete sich der Ausdruck herzlichster Befriedigung über sein kleines Gesicht. Er drehte sich zu der Köchin um und sagte:

»Hast du es gehört, o Pekala?«

Pekala ist ein türkischer Name und bedeutet »die Köstliche«. Sie machte ein sehr ernsthaftes Gesicht, womit sie aber fast grad das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung hervorbrachte, und antwortete ihm:

»Ich habe es freilich gehört, aber der Effendi ist gütiger gegen dich, als du verdienst. Merke dir: Man hat sogar auch Pflaumendiebe höflich zu behandeln, falls man nicht genau weiß, wer oder was sie sind. Du bist eben unser kleines, unerfahrenes Kind, welches nichts als Fehler macht. Und nun thu, was ich dir befohlen habe!«

Er wendete sich mir wieder zu, und zwar mit einer so komisch verlegenen Miene, daß sein Gesicht jetzt ganz genau demjenigen eines ausgescholtenen kleinen Knaben glich.

»Soll ich es wirklich machen, Effendi?« fragte er mich.

»Was?«

»Pekala hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten.«

»Wofür?«

»Daß ich dich als Spitzbube behandelt und festgehalten habe.«

»Höre, lieber Tifl, das hast du recht gemacht!«

»Recht?« fragte er in freudiger Ueberraschung.

»Ja. Pekala meint es gut mit mir. Sie will das Unrecht, welches ich that, entschuldigen. Aber ich war wirklich ein Pflaumendieb. Ich habe dir also nichts zu verzeihen, sondern ich lobe dich, denn du hast deine Pflicht gethan.«

Da nahm sein Gesicht einen frohen, weichen, und doch beinahe männlichen Ausdruck an.

»Du tadelst mich also nicht?« fragte er.

»Nein.«

»Sondern du hast mich gelobt, wahrhaftig gelobt?«

»Ja.«

»Effendi, das werde ich dir nie und nie vergessen! Mein Herz ist dein Eigentum. Wir gehen jetzt miteinander hinunter in das Dorf. Hast du vielleicht eine Besorgung? Soll ich dir etwas mitbringen?«

»Nein, lieber Tifl.«

»Lieber Tifl! Hast du es gehört, meine gute Pekala?

Lieber Tifl hat er gesagt! Andere Europäer sind ganz anders als er. Er ist grad so wie ich: er ist nicht stolz. Es bleibt dabei: mein Herz ist sein. Komm!«

Er griff nach ihrer Hand, um sie fortzuziehen. Aber sie blieb noch stehen. Ihr Auge war auf meine Brust gerichtet; ich dachte nicht daran, weshalb.

»Hast du die Rosen lieb, Effendi?« fragte sie mich.

»Ja, sehr,« antwortete ich. »Jede Blume. Blumen gleichen den Seelen guter Menschen; sie erfreuen uns, ohne daß diese Freude uns später betrübt. Warum fragst du mich?«

»Weil du die Rose aufgehoben hast, welche ich verloren habe. Es ist die Rose einer niedrigen Dienerin. Erlaubst du mir, dir täglich einige zu pflücken?«

»Ja. Ich nehme sie sehr gern von dir, o Pekala.«

»Ich danke dir! Oemürün tschok ola!«

Das sind türkische Worte. Sie bedeuten den Wunsch: Möge dein Leben lang sein! War sie etwa osmanischer Abstammung?

»Allah billingdsche olsun – Gott sei mit dir!« antwortete ich.

Da schlug sie die kleinen, dicken Hände freudig zusammen und sagte:

»Du verstehst türkisch?«

»Ja.«

»So darf ich in meiner Muttersprache mit dir reden, wenn du zu mir sprichst?«

»Das sollst du sogar, damit ich von dir lerne!«

Da war sie es, die sich stolz mit der Frage an ihren Tifl wendete:

»Hast du es gehört? Lernen will er von mir! Auch mein Herz ist sein Eigentum. Jetzt komm!«

Sie machten mir eine sehr tiefe und darum sehr höfliche Verbeugung, bei welcher er, der Lange, natürlich weit herablassender verfahren mußte als sie. Dann entfernten sie sich. Wie leicht es doch ist, Menschenherzen zu erfreuen! Warum thut man das so wenig?

Kurze Zeit hierauf kam Kara aus der Halle. Er sagte mir, daß sein Vater für einige Augenblicke aufgewacht sei, und dabei, wie noch halb im Schlafe, mit leiser Stimme die Worte gesagt habe:

»Kara muß die Pferde üben!«

Er hatte darum die Absicht, jetzt, wo die Hitze des Tages vorüber war, bis zum Abend auszureiten, und zwar mit allen drei Pferden, weil Assil und Barkh so lange Zeit nicht vom Hause fortgekommen waren. Er sattelte auch sie, weil er es nicht für vornehm hielt, sie nackt nebenherlaufen zu lassen, setzte sich auf Ghalib und ritt dann zum Thore hinaus.

Hierauf mochten kaum zehn Minuten vergangen sein, so hörte ich von der Gegend dieses Thores her ein lautes, schnaufendes Atemholen. Ich drehte mich um. Tifl kam wieder, aber wie! Er machte Sprünge, als ob es sich um sein Leben handle. Seine langen Beine flogen nur so! Um bei dem so eiligen Laufe die Mütze nicht zu verlieren, hatte er sie abgenommen und trug sie in der Hand.

»Was ist geschehen?« fragte ich, als er an mir vorüber wollte.

Er blieb für einen Augenblick stehen.

»Der junge Haddedihn!« antwortete er, indem er die Hand mit der ledernen Spinne durch die Luft schwang.

»Kara Ben Halef?«

»Ja.«

»Der ist soeben fort.«

»Ich weiß es, Effendi.«

»Er reitet aus.«

»Und ich darf mit! Ich habe ihn gefragt! Hamdulillah! Ich bin schnell heraufgerannt, um das Pferd zu holen!«

Hierauf rannte er weiter, nach dem Garten hin, hinter dem sich, was ich noch nicht wußte, eine grasige Weide für Pferde an der Seite des Berges hinzog. Wie »das Kind« sich freute! Für Kara war es freilich nützlich, jemand, der die Gegend kannte, mitzunehmen. Aber grad diesen Tifl? Und wer weiß, auf welchen alten Gaul er sich wagen durfte! Es sollte doch wohl eine Schnelltour mit unsern edlen Tieren werden!

So waren meine Gedanken. Ich kannte »das Kind« eben nicht. Man soll sich stets hüten, vorschnell zu urteilen! Wer kam nach kaum einer Minute im eiligen Trabe aus dem Garten? Sahm, der Braune des Ustad. Ohne Sattel und Zaum! Nicht einmal eine Leine um den Hals! Er sprang nach dem Thore zu. Hinter ihm her rannte »das Kind«, strahlende Wonne im ganzen Gesicht.

»Den willst du reiten?« rief ich ihm zu. »Er geht dir ja durch!«

Da lachte er laut auf. Mit zwei, drei weiten Sätzen hatte er das Pferd erreicht. Ein kühner, wundervoll abgemessener Sprung, und er saß oben. Die langen Beine legten sich fest an den Leib des Pferdes. Ein Wehen mit der Kurdenmütze nach mir zurück, dann flog der seltsame Centaur zum Thore hinaus. Wer hätte denken können, daß dieser so willenlos und unbehilflich erscheinende Tifl ein solcher Reiter sei! Es war zum Verwundern!

Wie aber hatte Kara auf den Gedanken kommen können, grad »das Kind« und keinen andern mitzunehmen? Das war folgendermaßen geschehen:

Als der junge Haddedihn den Berg hinabritt, hatte er die Absicht, den Weg einzuschlagen, den er mit seiner Mutter gekommen war. Dies war ja der einzige, den er kannte, doch auch nicht genau, weil es bei der Ankunft ja nicht mehr Tag, sondern Abend gewesen war. Als er jetzt nun durch den Duar ritt, sah er die Köchin und Tifl vor einem Hause stehen, mit dessen Bewohnern sie sprachen. Er wollte an ihnen vorüber, doch ging das nicht so glatt, wie er gedacht hatte. Assil und Barkh zeigten nämlich die Absicht, stehen zu bleiben. Sie drängten nach Pekala und ihren Begleiter hin.

»Kennen euch die Pferde?« fragte er.

»Sehr gut,« antwortete die »Köstliche«. »Sie haben sogar sehr innige Freundschaft mit uns geschlossen.«

»Wie ist das gekommen? Ich habe noch nie gesehen, daß sie Fremden eine solche Zuneigung schenkten.«

»Wahrscheinlich ist es Dankbarkeit. Sie grämten sich; sie weigerten sich, zu fressen. Da habe ich ihnen die besten und grünsten Leckerbissen aus der Küche hinausgetragen oder durch »unser Kind« geben lassen. Das nahmen sie. So lernten sie uns kennen. Nun freuen sie sich stets, wenn sie uns sehen.«

»Ja, Tiere sind für die ihnen erwiesenen Wohlthaten oft dankbarer als die Menschen. Auch ich danke Euch!«

»Aber diese ihre Dankbarkeit hat die beiden Rappen nicht verleiten können, ihren Herren ungehorsam zu sein.«

»Wie meinst du das? Was deutest du da an?«

Da zeigte sie auf Tifl und antwortete, indem sie pfiffig lächelte:

»Richte deine Frage an diesen hier, an unser Kind! Ich habe es nur gesehen; er aber hat es gefühlt!«

Da sprach der Lange in vorwurfsvollem Tone:

»Warum sprichst du davon, o Pekala? Du solltest es doch nicht verraten! Was habe ich dir gethan, daß du mich so beschämen willst?«

»Es geschieht zu deiner Erziehung. Kinder müssen erzogen werden. Ich hatte es dir verboten, und du thatest es aber doch. Da flogst du freilich herab!«

»Ah, du bist aufgestiegen?« fragte Kara.

»Ja,« gestand Tifl, indem sein Gesichtchen einen unendlich kläglichen Ausdruck annahm.

»Auf welchen? Assil oder Barkh?«

»Ich habe es mit beiden probirt.«

»Nun, weiter?«

Da riß er sich mit der linken Hand die Spinnenmütze vom Kopfe, um mit der Rechten kratzend in die Haare zu fahren, und antwortete:

»Ich mußte herunter!«

»Ja, das glaube ich! Wir haben es sie so gelehrt. Du warst kaum oben, so flogst du wieder herab!«

Da richtete sich »das Kind« in seiner ganzen Länge auf und rief:

»Kaum oben? Oho! Ich bin Tifl, der nur dann aus dem Sattel geht, wenn er will! Es hat mich noch kein Pferd zwingen können, es unfreiwillig zu verlassen!«

»Aber diese beiden doch!«

»Ja. Aber ich würde schwören, daß es eine Lüge sei, wenn ich nicht selbst der heruntergeworfene Tifl wäre! Doch so sehr schnell, wie du meinst, ist es nicht geschehen. Es gab einen Kampf, einen schweren Kampf, doch, doch – doch –«

Er zögerte mit den Worten; es fiel ihm schwer, seine Niederlage einzugestehen. Da fiel die Köchin lachend ein:

»Ich stand dabei; ich sah den Kampf. Tifl glaubte, es erzwingen zu können; aber die Pferde wollten nun einmal nicht, und so mußte das Kind fliegen.«

»Erst nach längerer Zeit? Nicht gleich?« fragte Kara. »Das ist sonderbar! Dann müßtest ja du eigentlich ein besserer Reiter sein, als ich je einen gesehen habe!«

»Der? Das Kind? Ein Reiter? Bloß eigentlich?« fragte Pekala. »Natürlich ist er das! Er ist ja Sa’is beim Schah-in-Schah gewesen!«

»Maschallah! Sa’is? Beim Beherrscher von Persien? Warum ist er das nicht geblieben?«

»Weil das Kind zu sehr wuchs. Es brauchte mit jeder neuen Woche auch eine neue Uniform,« scherzte die Köchin. »Darüber wurde es dem Schah-in-Schah himmelangst; er konnte das nicht aushalten und schickte Tifl also fort. Hier bei uns kann er wachsen, so hoch er will. Wir haben keine kostbaren Stallungen, welche er dadurch demoliert, daß er mit dem Kopfe durch die Decken stößt.«

»O, meine Pekala, was hast du heut wieder einmal für ein böses Herz!« klagte der Lange. »Ich weiß ja, daß ich dem Schah-in-Schah zu lang, zu dünn und also zu häßlich wurde; aber grad dieser meiner Länge wegen sitze ich auf dem schlimmsten Pferde fest, weil meine Beine seinen ganzen Leib umfassen –«

»Und mit den Füßen kannst du unten sogar noch einen besonderen, festen Knoten knüpfen«, fiel sie ein. »Darum bist du der einzige, der unsern Sahm richtig zu reiten versteht.«

»Wer ist Sahm?« fragte Kara.

»Das ist die berühmte, echtblütige Stute des Ustad, auf welcher unser Pedehr von Kara Ben Nemsi eingeholt worden ist. Hätte ›das Kind‹ auf ihr gesessen, so –«

Tifl ließ sie den begonnenen Satz nicht vollenden; er fiel schnell und eifrig ein:

»Ich hätte mich ganz gewiß nicht einholen lassen!«

»Assil schlägt jedes andere Pferd!« behauptete Kara.

»Kennst du unsere Stute?« fragte Tifl.

»Nein.«

»Hast sie aber gesehen?«

»Noch nicht.«

»Soll ich sie holen?«

»Hierher? Warum holen? Ich darf sie wohl später sehen!«

»Du reitest aber jetzt spazieren. Mit deinen edlen Pferden. Wohin?«

»Das weiß ich nicht genau. Ich kenne eure Gegend noch nicht. Ich will unsere Tiere im Laufen üben. Weißt du, des Wettrennens wegen!«

»Bei diesem Rennen werde ich Sahm reiten. Erlaube mir, daß ich jetzt mit dir übe. Ich eile. Ich hole die Stute. Warte hier! In zehn Minuten bin ich wieder hier!«

Er rannte fort, ohne die Antwort Karas abzuwarten. Diesem blieb nichts anderes übrig, als zu verweilen, bis nach noch nicht zehn Minuten Tifl auf ungezäumtem und ungesatteltem Pferde wieder bei ihm eintraf. Er ritt die Stute, damit Kara sie beobachten möge, in den verschiedenen Gangarten einigemale hin und her und fragte ihn dann, was er zu ihr sage. Kara besaß zwar viel von der großen Lebhaftigkeit seines Vaters, hatte dazu aber von seiner Mutter jene Bedachtsamkeit geerbt, welche vorschnelles Reden oder Thun vermeidet. Er hütete sich also, ein Urteil auszusprechen, und lobte ihre sichtbaren Vorzüge, ohne zu sagen, ob er einen Fehler an ihr entdeckt habe. Dann fragte er Tifl, nach welcher Gegend man einen Spazierritt, wie der beabsichtigte sei, am besten machen könne. Der Gefragte antwortete, seinem Namen ›Kind‹ gar nicht entsprechend, außerordentlich sachgemäß:

»Wir müssen einen großen, freien Platz zum Galoppieren haben, dann aber auch steile, beschwerliche Wege, welche uns zeigen, was unsere Pferde auf ihnen zu leisten vermögen. Von hier aus nach Osten liegt eine weite Ebene, welche erst grasig und dann nur noch sandig ist. Jenseits von ihr erhebt sich das Gebirge, über welches zwei Pässe führen, der Boghaz-y-Chärgusch, welcher so heißt, weil es dort in den Büschen viele Hasen giebt, und der Boghaz-y-Ghulam, den man so nennt, weil dort einmal ein Bote des Beherrschers ermordet worden ist. Wenn wir einen dieser Pässe hinaufreiten und durch den andern zurückkehren, lernst du die Gegend kennen, durch welche sich die östliche Grenze unsers Gebietes zieht.«

»Ist es weit?«

»Für gewöhnliche Pferde, ja; für unsere aber nicht.«

»Da mein Vater krank ist, möchte ich nicht erst spät des Nachts heimkehren.«

»Wir kehren um, sobald du willst!«

»Ist die Gegend sicher?«

»Ja.«

»Du siehst, daß ich nur mein Messer bei mir habe; du aber bist ganz unbewaffnet. Auf eurem Gebiete duldet ihr wohl keinen bösen Menschen, doch kommen wir ja, wie du sagst, bis an die Grenze desselben. Und die Massaban sind sogar bis hierher zu euch gedrungen, um euch zu überfallen. Wirklich und unausgesetzt sicher ist wohl kein Ort hier in den Bergen.«

»Das ist richtig. Aber wer solche Pferde reitet wie wir, der kann jedem Uebel schnell und leicht entgehen. Fürchtest du dich vielleicht?«

Welch eine Frage für Kara! Ob er sich fürchte! Das war bei ihm ein vollständig unmögliches Gefühl. Er war zu verständig, sich als beleidigt zu betrachten, und als Gast der Dschamikun hatte er sich zu hüten, selbst beleidigend zu werden. Darum hielt er es für das beste, so zu thun, als ob diese Frage ganz ungehört an seinem Ohre vorübergegangen sei.

»Komm! Vorwärts!« sagte er, indem er seinem Ghalib das Zeichen zum Weitergehen gab. Assil und Barkh hatten ihren Willen gehabt und folgten ohne Widerstreben.

»Kommst du noch vor Nacht zurück?« wurde ›das Kind‹ von der Köchin gefragt.

»Sehnst du dich schon jetzt nach mir?« antwortete er lachend.

»Nicht an dich, sondern an Kara Ben Halef denke ich. Ich weiß, daß es weder Zeit noch Schranken für dich giebt, wenn du auf Sahm sitzest. Er aber hat noch von der Reise auszuruhen. Ich werde dich sehr streng bestrafen, wenn du dich verspätest!«

»Welche Strafe wird das sein?«

»Du bekommst nichts zu essen!«

»Das kenne ich! Mit dem Munde entziehst du mir die Kost, aber schon nach einer Viertelstunde giebst du mir sie mit den Händen doppelt, weil mein Hunger nicht meinem Magen, sondern deinem Herzen wehe thut!«

»Da sehe ich, wie schlecht ich dich erzogen habe! Die Liebe ist verderblich für solche Kinder, du sollst aber von jetzt an meine Strenge kennen lernen!«

»Die giebt es ja gar nicht! Leb wohl, o Pekala. Hast du noch einen Wunsch?«

»Bring frohe und hungrige Gäste mit!«

Das ist ein oft gebrauchter, beduinischer Abschiedsgruß. Die Köchin sagte das wohl nur, um überhaupt etwas zu sagen. Sie ahnte nicht, daß, oder gar in welcher Weise er in Erfüllung gehen werde.

Der Ritt ging zunächst des Sees entlang und dann über das ganze Thal desselben hin, bis es zwischen den Bergen einen tiefen Einschnitt gab, welcher sich jenseits auf die von Tifl erwähnte Ebene öffnete. Dort wurde den Pferden erlaubt, zu galoppieren. Tifl erwies sich als ein unübertrefflicher Naturreiter. Von den feineren, erzieherischen Verhältnissen zwischen Mensch und Tier aber wußte er wohl nichts. Wer ihn so sicher, so fest, so ganz wie mit dem Pferde zusammengewachsen, im Sattel sitzen sah, der mußte es freilich für fast unmöglich halten, daß er sowohl von Assil als auch von Barkh abgeworfen worden sei; aber diese unsere Hengste waren nicht, wie die braune Stute des Ustad, gewohnt, augenblicklichen Instinkten, sondern einem zielbewußten, sich stets gleichbleibenden Willen unterthan zu sein.

›Das Kind‹ machte verschiedene Versuche, den jetzigen Ritt zu einem Wettrennen zu gestalten, hatte aber damit bei dem bedachtsamen Kara keinen Erfolg. Dieser war einerseits viel zu klug, eine Niederlage der ›Sahm‹ sich wiederholen zu lassen, während andererseits sein Stolz ihm nicht gestattet hätte, etwa aus Höflichkeit freiwillig auf den Sieg zu verzichten. Es blieb also bei dem, was er sich vorgenommen hatte, nämlich bei einem Uebungsreiten, welches keinem leidenschaftlichen Zweck zu dienen hatte.

Die Stute hielt, so lange der Boden grasig war, sehr leicht den gleichen Schritt mit unsern Pferden; aber später im tiefen Sande fiel sie bemerklich ab. Das konnte ihr aber nicht zur Schande gereichen, weil sie kein Pferd der sandigen Steppe war. Als dann der Hasenpaß erreicht wurde und der langsame Aufstieg auf steinigem Boden begann, mußten dafür nun unsere Tiere sich anstrengen, es ihr gleichzuthun, worauf Kara von Tifl wiederholt aufmerksam gemacht wurde.

Die Gegend war hier felsig und unfruchtbar. Niedriges, trockenes Gestrüpp überzog die Berge mit schmutzigem Grau, und nur hier oder da gab es einen Baum, dessen dünn benadelte Zweige keinen Schatten spendeten. Als die Höhe des Passes erreicht worden war, konnte man darum die Aussicht nach allen Seiten frei genießen. ›Das Kind‹ deutete auf einen der aufgerichteten Steinhaufen und sagte:

»Das ist das Grenzzeichen. Bis hierher gehört das Land den Dschamikun.«

»Und wem sodann?« fragte Kara.

»Allen Menschen.«

»Giebt es keinen besonderen Besitzer?«

»Das ist der Schah-in-Schah, dem ja das ganze Reich gehört. Die Gegend hier ist so öd und dürr, daß niemand sie haben will. Wer sie bekäme, müßte Steuern zahlen; wer aber kann diese hier aus solchen Felsen ziehen? Wenn der Muhassil kommt, so fragt er nicht, ob der Boden etwas getragen hat, sondern er nimmt alles mit, was man besitzt.«

»Wer ist der Muhassil?«

»Das weißt du nicht?«

»Nein.«

»Das ist der unwillkommenste aller Gäste, die es giebt. Jedermann in Persien soll Steuern zahlen. Auch die freien Stämme werden dazu angehalten. Unser Ustad hat versprochen, es zu thun, und wir halten Wort. Darum wird kein Muhassil zu uns kommen. Andere aber zahlen nicht eher, als bis sie dazu gezwungen werden, denn sie behaupten, ein freier Mann sei auch von Steuern frei. Zu ihnen wird ein möglichst strenger, vielleicht gar hartherziger Offizier oder Beamter gesandt, der Soldaten mitbringt, die ihm helfen müssen, den Mal-i-Divan und den Sadir Avariz mit Gewalt einzutreiben. Sobald er diese Gewalt auszuüben beginnt, hat man ihn mit dem Titel Muhassil zu ehren. Er nimmt zunächst das, was er für den Beherrscher haben will. Sodann nimmt er das, was er für sich selbst haben will, und das ist gewöhnlich alles, was noch da ist.«

»Leistet man ihm denn da nicht Widerstand?«

»Widerstand? Er würde nur gehen, um dann mit noch mehr Soldaten zurückzukehren. Das beste Mittel, ihm zu entrinnen, ist die Flucht. Aber er kommt meist so unerwartet, daß sie unmöglich ist. So hat er kürzlich auch die Kalhuran überrascht, welche eigentlich noch gar keine Steuern zu bezahlen haben.«

»Wer sind diese Kalhuran?«

»Ein Nomadenstamm, dessen Land nicht mehr ausreichte, ihn zu ernähren. Eine Abteilung von ihm bat um neues Land und bekam die Gegend, welche du hier östlich vor uns liegen siehst. Sie beginnt zwar erst jenseits dieser Felsenberge, ist aber von so geringer Fruchtbarkeit, daß lange Jahre dazu gehören, den Boden zu verbessern; darum wurde den Kalhuran gesagt, daß sie erst nach dem zehnten Sommer Steuern zu bezahlen hätten. Sie sind nun erst vier Jahre hier; dennoch sandte man ihnen einen Boten, welcher sie benachrichtigte, daß sie jetzt schon zu bezahlen hätten. Sie weigerten sich. Da stellte sich ganz unversehens ein Muhassil mit einer ganzen Schar von Soldaten bei ihnen ein. Der hat es sich bei ihnen so bequem gemacht, als ob er jahrelang bleiben wolle. Er wird so lange an ihrer Habe saugen, bis sie kein einziges Pferd, kein armes Schaf mehr haben.«

»Maschallah! Der sollte das einmal bei unsern Haddedihn versuchen! Weißt du, welchen Namen dieser Dschady hat?«

»Er heißt Omar Iraki. Der Scheik der Kalhuran ist ein junger Mann, dem der Ustad eine Tochter unsers Stammes zum Weibe gegeben hat. Sein Name ist Hafis Aram. Ich kenne ihn, denn er war ja bei uns, als er sie hinüber zu sich holte. Chodeh beschütze ihn! Vor dem Muhassil aber bewahre er alle Menschen. Grad von diesem Omar Iraki hat man nur Böses, aber kein einziges gutes Wort gehört. Komm, reiten wir hinab! Unten wenden wir uns dann nördlich, um durch den Paß des Couriers heimzukehren.«

Auf dieser Ostseite fielen die Berge steil zur Tiefe. Der Weg ging in zahlreichen Windungen hinab, so daß er immer nur für kurze Strecken zu überschauen war. Um so freier war die Aussicht in die Ferne, über die steppenähnliche Fläche hinüber, zu welcher die beiden jetzt hinunterritten.

Als sie die letzte, unterste Krümmung des Weges überwunden hatten und schon daran dachten, wieder galoppieren zu können, bot sich ihnen plötzlich ein unvorhergesehenes Hindernis dar. Da standen nämlich zwischen den Felsblöcken zerstreut, wohl gegen zwanzig Pferde, deren Reiter an einer versteckten Stelle plaudernd bei einander saßen. Einer hockte als Wächter auf einem hochgelegenen Steine, von welchem aus man einen weiten Ausblick in die Steppe hatte. Das waren persische Soldaten, und zwar Kavalleristen. Eigentliche Uniformen trugen sie nicht. Auch ihr Anführer war an keinem Rangabzeichen, sondern nur an einem langen, schweren Schleppsäbel zu erkennen, den er trug. Ihre Waffen taugten nicht viel; desto besser aber waren ihre Pferde. Die persische Kavallerie ist überhaupt recht gut beritten. Als sie die beiden Reiter sahen, sprangen sie alle auf.

»Sallam!« grüßte Kara kurz, aber in höflichem Tone und indem er ihnen die Hand entgegensenkte.

Sie antworteten nicht. Ihre Augen waren bewundernd auf die vier Pferde gerichtet. Kara hielt nicht an. Er wollte an ihnen vorüber. Da aber stellte sich ihm der Anführer in den Weg.

»Halt!« sagte er in befehlendem Tone. »Wer seid Ihr?«

Man darf nicht vergessen, daß Kara der Sohn meines wackeren Hadschi Halef war, dem, außer wenn er wollte, niemand imponieren konnte.

»Sag vorher, wer bist du?« forderte er den Perser auf.

»Du siehst, daß ich Soldat bin!« antwortete dieser stolz.

»Und du siehst, daß ich keiner bin! Ich diene nicht; ich bin ein freier Mann!«

»Ein Mann?« lachte der andere. »Schau meinen Bart und greif an den deinen dann! Ich stehe hier im Namen des Schah-in-Schah und frage dich nochmals, wer du bist!«

»Und ich sitze hier in meinem eigenen Namen im Sattel und antworte nur dann, wenn es mir beliebt! Allah schütze deinen Bart! Zum Fürchten ist er nicht!«

Als er dies sagte, richtet er seine dunklen Augen mit einem solchen Ausdrucke auf den Perser, daß dieser die Hand, welche er schon erhoben hatte, um Ghalib am Zügel zu fassen, wieder sinken ließ und von ihm zurücktrat.

»Ich höre an deiner Sprache, daß du ein Araber bist,« sagte er. »Ich bin Mülazim ewwel des Beherrschers aller Herrscher. Nun weißt du es.«

»Der Beherrscher aller Herrscher kann nur Allah sein! Ich bin Kara Ben Hadschi Halef, ein Haddedihn vom Stamme der Schammar.«

»Wo kommst du her?«

»Woher es mir beliebt!«

»Wo willst du hin?«

»Wohin es mir behagt!«

»Maschallah! Denn für ein großes Wunder Gottes scheinst du dich zu halten! Ich habe hier zu fragen!«

»So frage die, welche dir zu antworten haben; zu ihnen aber gehöre doch nicht ich!«

Das war keineswegs verwerflicher Hochmut von Kara, sondern das wohlberechtigte Selbstbewußtsein des freigeborenen Arabers der Dschesireh. Wenn die Fragen in höflichem Tone und nicht in der Weise eines Verhöres ausgesprochen worden wären, so hätte er sie wahrscheinlich beantwortet. Auch gefielen ihm die höhnischen Blicke nicht, mit denen Tifl von den sich herandrängenden Soldaten betrachtet wurde. Das verächtliche Lächeln dieser Leute forderte ihn heraus, ihnen zu zeigen, daß zum Lachen gar kein Grund vorhanden sei.

»Auch du gehörst zu Ihnen!« behauptete der Offizier. »Ich stehe an des Gesetzes Stelle. Ich bin hier Polizei!«

»Ich auch!«

Da fuhr der Perser um einige Schritte zurück. Er hatte imponieren wollen und sah und hörte nun aber, daß ihm dies nicht gelungen sei.

»Wagst du vielleicht, mit mir zu scherzen?«

»Sehe ich etwa so spaßhaft aus?«

Sein jugendlich schönes, wie aus dunklem Marmor gemeißeltes Gesicht zeigte allerdings keine Spur von Lust zum Scherzen. Der Grundzug unseres Kara war ein steter Ernst, welcher durch einen elegischen Hauch eher erhöht als gemildert wurde. In seinen Augen, die er von der Mutter hatte, lag etwas, was keine zudringliche Berührung duldete. Das wirkte auch jetzt. Der Oberlieutenant wagte es nicht, seinen Zorn hervortreten zu lassen; ja es klang sogar, als ob er sich entschuldigen wolle, als er nun sprach:

»Du weißt es nicht; aber ich stehe hier über dir, über jedem, der da kommt. Ich habe diesen Platz zu bewachen.«

»Warum?«

»Weil ich die Mörder des Muhassil fangen will.«

»Welches Muhassil?«

»Omar Iraki.«

»Wallah! Ist er ermordet worden?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Von Hafis Aram und seinem Weibe.«

»Chodeh, Chodeh!« rief da »das Kind« erschrocken aus.

»Kennst du Hafis Aram?« fuhr der Offizier fort.

»Nein,« antwortete Kara.

Dann schwang er sich vom Pferde. Sein Interesse war erwacht. Er gedachte dessen, was Tifl ihm erzählt hatte, und es stieg eine Ahnung in ihm auf, daß sich hier ein Ereignis vorbereite, in welches er vielleicht nützlich eingreifen könne. Und mit der Bedachtsamkeit, die weit über seine Jugend ging, ließ er ein interessiertes Lächeln über seine Züge gleiten und sagte:

»Eine Mordthat ist begangen worden! An einem Muhassil! Das ist eine schreckliche That! Kann man erfahren, warum und wie sie geschehen ist?«

»Ja. Ich werde es dir erzählen. Aber vorher mußt du mir sagen, woher du kommst und wohin du willst.«

»Aus welchem Grunde willst du das wissen?«

»Weil du von jenseits gekommen bist, aus dem Gebiete der Dschamikun. Ich sage dir, daß ich es auf sie abgesehen habe! Du aber bist ja kein Dschamiki, sondern ein Haddedihn aus der Dschesireh.«

Da machte Kara eine stolze wegwerfende Handbewegung und fragte:

»Hafis Aram hat den Muhassil ermordet?«

»Ja.«

»Er ist der Scheik der Kalhuran?«

»Ja.«

»Sein Weib ist Dschamikeh?«

»Ja. Sie hat den ersten Schuß auf den Ermordeten gethan. Wir stehen also in Blutrache mit den Dschamikun. Nun sage mir, woher du kommst!«

Es war ein sehr ruhiges und überlegenes Lächeln, welches sich über Karas Lippen legte, als er antwortete:

»Ich sage es dir gern. Hier dieser mein Begleiter kommt mit mir von dem hohen Hause des Ustad. Er ist ein Dschamiki, und ich bin Gast der Dschamikun. Sie und ich, wir sind eins. Was sie thun, verantworte auch ich. Eure Blutrache trifft also auch meine Person!«

Da trat der Perser noch einen Schritt von ihm zurück und rief erstaunt aus:

»Kara Ben Halef – so nanntest du dich?«

»Kara Ben Hadschi Halef, ja!«

»Also, Kara Ben Hadschi Halef, bist du bei Sinnen?«

»Warum diese Frage?«

»Siehst du nicht, daß wir zwanzig Personen gegen euch beide sind? Das genügt doch wohl!«

»Aber es ist falsch! Richtiger ist, daß wir zwei Personen gegen nur zwanzig sind. Das genügt noch besser!«

»Du bist toll, wirklich toll! Hättest du nicht verschweigen können, daß du Gastfreund der Dschamikun bist?«

»Ja, ein anderer hätte das wohl gethan.«

»Warum nicht du?«

»Aus zwei Gründen: Erstens sage ich niemals eine Lüge, selbst wenn sie mir das Leben retten könnte. Und zweitens fürchte ich mich nicht vor euch. Wie ihr von mir denkt und was ihr von mir wollt, das ist für mich von keiner großen Wichtigkeit; die Hauptsache ist, daß ich mich vor mir selbst schämen müßte, wenn ich euch die Unwahrheit gesagt hätte. Und wenn ein Mensch sich selbst verachten muß, so ist dies das allerschlimmste, was ihm im Leben geschehen kann.«

Der Offizier schaute ihn eine ganze Zeitlang an, ohne ein Wort zu sagen. Dann fragte er:

»Du sagst niemals eine Lüge?«

»Nie!«

»Auch nicht in der Not?«

»Nein. Es giebt keine Not, welche die Lüge rechtfertigt, denn die Lüge ist die größte und entsetzlichste Not, an der die Menschen leiden!«

»Aber deine Aufrichtigkeit wird euch euer Leben kosten!«

»Du irrst!«

»Ich irre? Du bist zweifellos verrückt!«

Und sich an seine Leute wendend, fuhr er fort:

»Ihr habt es gehört. Da steht ein Mensch, ein junger Mensch, der niemals eine Lüge sagt, selbst wenn es ihm das Leben kosten sollte. Was sagt ihr dazu?«

Ein allgemeines Gelächter war die Antwort.

»Ich lache ebenso wie ihr,« stimmte er ihnen bei. Dann drehte er sich wieder nach Kara um: »Ihr seid natürlich unsere Gefangenen. Eure Pferde gehören uns!«

»Versuche es, sie dein zu nennen!«

»Ich brauche es nicht zu versuchen, denn ich habe es bereits gethan. Wir bringen hier die größte Beute heim, die jemals gemacht worden ist! Du, Knabe, bist der allerdümmste Kerl, den es auf Erden giebt! Dieser deiner Dummheit darf ich beantworten, was du mich vorhin fragtest. Setze dich!«

Er deutete auf einen Stein, der neben Kara lag. Dieser ließ sich auf ihn nieder. Dies schien Gehorsam zu sein. Auch Tifl war von seiner Stute gestiegen. Er trat zu Kara und setzte sich neben ihm auf den Boden nieder. Die Soldaten umringten die Pferde, um ihre bewundernden Bemerkungen über diese ebenso unerwartete wie unschätzbare Beute zu machen. Der Offizier aber sprach zu Kara weiter:

»Du hast also den Muhassil Omar Iraki nie gesehen?«

»Nie,« antwortete der Gefragte.

»Er war ein Herr, der einen starken Willen hatte. Kein Steuerverweigerer konnte ihm widerstehen. Daher wurde er überall hingesandt, wo Andere vor ihm nichts erreicht hatten. So kam er auch zu den Kalhuran, den räudigen Hunden, welche nicht zahlen wollten. Grad hundert Reiter waren bei ihm, welche von den Verweigerern als teure Gäste aufgenommen und verpflegt werden mußten. Nun waren nicht nur die Steuern, sondern auch unsere Löhne zu bezahlen. Die Schuld wurde von Tag zu Tag größer. Wir nahmen erst nur die Wolle, dann auch die Schafe selbst. Das reichte nicht. Wir griffen natürlich auch nach den anderen Herden. Da rotteten sich die Hunde zusammen, um uns zu widerstehen. Der Muhassil ließ den Scheik Hafis Aram ergreifen und zu sich in das Zelt bringen. Dort wurde er gepackt, niedergeworfen und zu den Füßen des Muhassil festgehalten. Dieser verlangte Geld. Der Scheik behauptete, keines zu haben. Da drohte der Muhassil mit der Peitsche. Hafis Aram aber leugnete fort. Da begann der Muhassil, ihn zu züchtigen, mit eigener Hand, denn er war ein sehr starker Mann, der die Peitsche zu führen verstand. Der Scheik wollte sich losreißen, aber acht Hände hielten ihm am Boden fest. Da war er still. Er nahm die Hiebe auf sich, ohne eine Klage, einen Laut hören zu lassen. Aber seine Augen waren unheimlich starr auf den Muhassil gerichtet, ohne daß er diesem auf seine bei jedem Schlag wiederholte Frage nach dem Gelde eine Antwort gab. Was sagst du zu solcher Hartnäckigkeit, Kara Ben Hadschi Halef?«

»Wißt ihr, was es heißt, einen freien Beduinen zu peitschen? Den Scheik eines ganzen Stammes?« fragte Kara.

»Was soll es weiter heißen, als daß er eben Prügel bekommt? Auch wir alle, die wir jetzt in des Beherrschers Diensten stehen, sind von freien Eltern geboren worden. Haben wir uns etwa dadurch, daß wir den Ungehorsam zwingen, die Gesetze zu erfüllen, in verächtliche Sklaven verwandelt? Stehen wir nicht im Gegenteile höher als die Widerspenstigen? Scheik Hafis Aram wäre ganz gewiß von dem Muhassil erschlagen worden, und zwar mit vollstem Rechte, wenn ihm nicht eine so ganz unerwartete Hilfe gebracht worden wäre, daß wir alle vor Ueberraschung versäumten, ihr zu widerstehen. Rate, von wem sie kam!«

»Ich rate nicht. Sage es!«

»Sie wurde dem Scheik von seinem Weibe gebracht, der Dschamikeh, welche Allah verdammen möge! Sie haßte und fürchtete den Muhassil. Als sie, von einem Gange zurückkehrend, vernahm, daß er ihren Mann habe holen lassen, wurde sie von ihrer Angst herbeigetrieben. Sie lauschte am Zelte, vor dem kein Wächter stand. Sie hörte die Streiche, welche fielen. Da trat sie ein. Sie sah, was geschah, und sprang zum Muhassil hin, um seinen Arm festzuhalten.«

»›Herr, du schlägst einen freien Moslem?

Fünftes Kapitel.

Fünftes Kapitel.

Eine musikalische Familie. Der Vater spielt die erste Violine, der Onkel das Cello, der eine Sohn die zweite Violine und der andere die Viola. Für heut sind alle Freunde eingeladen. Es soll ein Quartett gegeben werden. Kammermusik. Ob von Mozart, Haydn oder einem anderen, das weiß ich nicht. Aber daß man nur Schönes, Gutes, von den vier Künstlern Durchdachtes und Verstandenes hören werde, davon ist man überzeugt. Man freut sich also auf den Genuß. Man kommt. Man weiß, daß man gern gesehen ist. Man nimmt Platz. Die Noten liegen auf den Pulten. Die Instrumente sind bereit, schon wohlgestimmmt. Auch die Zuhörerschaft befindet sich in jener Stimmung, welche dem Erfolge gern und einsichtsvoll entgegenkommt. Da sind die Vier. Sie nehmen Platz. Sie greifen nach den Instrumenten. Durch den Raum geht das Geräusch leise gerückter Stühle; hier ein erwartungsvolles, kurzes Räuspern, dort das Rauschen bequemgelegter Seide. Dann tiefe Stille. Jetzt! Die Bogen berühren die Saiten. Die ersten Takte erklingen.

Die Erwartung hat sich in offenruhende Empfänglichkeit verwandelt. Man lauscht.

Da wird die Thür aufgerissen. Ein Feind der Familie kommt lärmend herein, rücksichtslos störend, ungeladen. Er erklärt, daß er die Absicht habe, einen Strafprozeß gegen die Familie zu führen, und macht in ganz ungesitteter Weise die Anwesenden mit dem Inhalte der Anklage bekannt. Man unterbricht ihn. Man entzieht ihm das Wort. Man sagt ihm, daß er unrecht habe und daß doch jetzt und hier nicht die rechte Zeit und der rechte Ort zu solchen Dingen sei. Man sei zu einem Kunstgenuß versammelt, nicht aber, um sich mit dem jus criminale zu befassen. Da entschließt er sich, mit zuzuhören, nimmt einen Stuhl und setzt sich nieder.

Soll man die unangenehme Scene gewaltsam enden? Ihn hinauswerfen? Nein! Man entschließt sich, ihn gewähren zu lassen und das Stück von neuem anzufangen. Aber in welcher Stimmung befindet man sich nun? Werden die in Geist, Herz und Gemüt anzuschlagenden Accorde so befriedigend ausklingen, wie es vorher mit froher Bestimmtheit zu erwarten war?

Das ist ein Bild. Ich bringe es, um begreiflch zu machen, daß auch die vorhin vom Glockentone berührten Saiten unsers Innern durch den rauhen Gedanken der Blutrache vollständig zum Schweigen gebracht worden waren. Ob sie wieder so ungezwungen und rein erklingen würden wie vorher, das war wohl zu bezweifeln. –

Tifl war, während ich mit dem Multasim sprach, nach dem Tempel gegangen. Als ich nun zu diesem zurückkehrte, hatte er von meinem Platze ein Kissen geholt und an eine der beiden Säulen des hintern Ausganges gelegt. Der Chodj-y-Dschuna stand dabei. Ich sah, daß er mir etwas zu sagen hatte.

»Wir sollen dich nicht stören, Effendi,« entschuldigte er sich. »Ich bitte dich aber, für kurze Zeit zunächst hier zu bleiben. Hier ist der beste Platz, zu hören, wie es klingt, wenn alle Winde zum Gebete kommen. In deiner Ecke dort würde dich die Harfe stören.«

Hierauf ging er nach der Mitte des Tempels, wo eine Harfe lag. An der einen Ecksäule stand Schakara, die ihrige vor sich haltend. Das veranlaßte mich, auch nach den drei andern Ecken zu sehen. Sie waren in ganz gleicher Weise von Dschamikinnen besetzt. Am Haupteingange hatten sich der Ustad und der Pedehr einander gegenüber niedergelassen. Zu ihren beiden Seiten saß die Dschemma. Rund um das Gebäude hatten sich die Bewohner und Bewohnerinnen des Duar aufgestellt. Es war so still, man sagt, »wie in einer Kirche«.

Da gab der Ustad mit der Hand ein Zeichen. Der Chodj-y-Dschuna griff einige einleitende Accorde, um das Metrum anzugeben. Hierauf die vorige Stille wieder. Ich ahnte, was nun kommen solle, und schloß die Augen.

Wo gab es die Lüfte, als es Anfang war? Im göttlichen Gedanken! Unendlich mild, als beginne ein warmer Sonnenstrahl mit leiser Zärtlichkeit dem andern zuzuflüstern, ward dieser Gedanke jetzt zum ersten Ton. Es war ein einig-ungeteilter, aber doch kein einzelner Ton. Er erklang nicht hoch, nicht tief, und doch war er erklungen. War er nach Schwingungen zu messen? Nein! Das irdische Maß ist ja doch nur ein Notbehelf. Es wird sich immer irren! In diesem ersten, einen Tone lagen, wie die Strahlen im Lichte, alle die unzählbaren Klänge der Zeit und Ewigkeit unisono verborgen. So klang es leise, leise, sich selbst kaum ahnend, hin, noch unberührt vom schöpferischen Willen. Aber da, plötzlich, als ob der Schöpfer prüfen wolle, wie er dereinst das Licht geprüft, indem er, bevor die Sonnen waren, die Strahlen alle durch das Weltall blitzte und dann wieder zu sich rief, – so that auch dieser erste Ton sich plötzlich auf, um alle Harmonieen, die es gab und geben wird, aufleuchtend von sich auszusenden und aber augenblicklich wieder in sich zu vereinen.

Nun aber begann es, sich in ihm zu regen. Alles, was dieser eine Aufblitz in unendlicher Fülle zeigte, das hatte sich nun langsam, eines aus oder mit dem andern, harmonisch zu entwickeln. Es teilte sich der Ton und blieb doch ungeteilt. Er gab sich ganz in tausend andern Tönen hin und hörte doch nicht auf, zu sein und zu bleiben, was er war. Der Lufthauch kam und wiegte ihn, als ob er mit und von ihm träume, auf und nieder. Da gebar der Traum das erste Intervall, welchem, ewig stammverwandt, die anderen alle folgten. Sie umschlangen sich, vereint zur Tonika, und klangen in das Erdenparadies hernieder, um, wenn der Mensch seiner Seligkeit gedenkt, sich in ihm wieder aufzulösen, daß er den Stimmen dieser Erde die Klänge des Himmels geben möge.

Wie aber klingt so himmlische Musik? Die Winde sagen es. Sie lauschen überall. Und wo ein frommer, heiliger Ton sich hören läßt, da nehmen sie ihn auf, um ihn zur großen Harmonie zu tragen, die betend aufwärts steigt, um als Lob und Dank zu dem zurückzukehren, aus dessen Mund sie einst als erster Ton erklang.

Die Harfen schwiegen. Ich schlug die Augen wieder auf. Die vier Spielerinnen legten ihre Instrumente fort. Der Chodj-y-Dschuna zögerte, dies auch zu thun. Er schaute mit zagenden Augen zu mir her. Da stand ich auf, ging zu ihm hin und gab ihm, dem Herzensdrange folgend, meine Rose.

»Sie ist vom Ustad,« sagte ich. »Ich bin so arm gegen dich, du reicher Mann. Ich habe nichts Besseres.«

»Du beschämst mich!« antwortete er. »Ich lehre nichts, als das, was ich empfangen habe. Auch daß ich es wiedergeben kann, verdanke ich nicht mir. Nimm du nun meine Rose. Ich bitte dich!«

Er reichte sie mir. Das war so einfach, so menschlich lieb, daß es mich herzlich rührte.

»Sende mir deine Schülerinnen heraus, damit ich auch jeder von ihnen eine breche,« bat ich ihn.

Hierauf ging ich hinaus. Die Mädchen kamen. Die Rosen gehörten nicht mir, sondern ihnen, und doch sah ich ihnen an, daß ich für einen Dank die rechte Weise getroffen hatte.

Tifl wartete mein, um mir zu sagen, daß ich nun wieder nach meinem Platze gehen könne, wenn ich wolle. Ich that es, voller Erwartung, was nun kommen werde. Nichts Gewöhnliches, davon war ich überzeugt! Dieser Gesanglehrer besaß mehr als das, was man Talent zu nennen pflegt!

Es kam jetzt eine Anzahl Dschamikun mit Frauen und Mädchen herein. Sie stellten sich in der Mitte auf, um zu singen, ohne Leitung; der Chodj-y-Dschuna war nicht bei ihnen. Was ich hörte, war ein dreistimmiges Lied. Der Text lautete:

»Ich komm zu dir im Sonnenstrahl
    Und laß mir deine Rosen blühen.
In tiefer Andacht liegt das Thal
    Vom Morgen- bis zum Abendglühen.
Ich sehe aus der stillen Flut
    Die Berge Gottes aufwärts steigen,
Und wo sein Haus auf Säulen ruht,
    Soll heut sich mir der Himmel zeigen.

»Ich komm zu dir im Sonnenstrahl,
    So spricht der Herr und steigt hernieder.
Die Glocken klingen übers Thal,
    Und von den Bergen tönt es wieder.
Brich auf, mein Herz, der Rose gleich,
    In der sich alle Düfte regen.
Es naht sich dir das Himmelreich;
    Brich auf, und dufte ihm entgegen!«

Ueber diesen Text ist nichts zu sagen, kein Wort. Er spricht ja selbst! Wovon? Von einer Begegnung im Beit-y-Chodeh. Nun verstand ich die Worte, welche der Ustad sagte, als er mir die Rose gab. Aber die Tonweise! War das Gesang, oder war es Sprache? Gesangssprache oder Sprachgesang? Ich meine keineswegs Recitativ. Mit diesem hatte es nicht die entfernteste Aehnlichkeit. Unser Gesang ist Kunst; dieser war Natur. Aus unserer Harmonisierung ist jeder einzelne Akkord zu lösen; hier war das eine Unmöglichkeit. Bei uns pflegt man im Liedgesange die Melodie einer einzelnen Stimme, den andern die Begleitung zu geben; hier war alles Melodie, jede Stimme, und doch wurde jede eine von den andern harmonisch unterstützt. Das war schwer, sehr schwer und klang aber doch so außerordentlich natürlich, so ungewollt, so ganz von selbst. Es gab keine Absicht, irgend einen bestimmten Akkord zu bilden, eine Septe in die Sexte herabzuleiten. Alles, was ich über Komposition wußte, war hier gleich Null!

Und aber doch diese Wirkung! Von mir und den Dschamikun selbst will ich in dieser Beziehung nicht sprechen; aber das Lied hatte sämtliche Perser vom Waldesrande herabgelockt. Sie hatten ihre Pferde oben gelassen und sich hinten bei den Säulen hingesetzt. Es war ihnen und ihrem Verhalten anzusehen, welchen Eindruck das Lied auf sie gemacht hatte. Indem sie miteinander sprachen, drückten ihre Mienen und Blicke sehr deutlich den Wunsch aus, daß man doch weitersingen möge.

Er wurde erfüllt. Die vorigen Sänger hatten sich entfernt. Jetzt kamen vier Männer und vier Frauen, also acht Personen. Man nennt das bei uns ein Doppelquartett. Was sie sangen, klang außerordentlich ernst. Die Worte lauteten:

»Wir knieen hier vor deinem Angesichte
    Im Geist vom Geiste, nicht im Staub vom Staube,
Wir flehen um das Licht von deinem Lichte;
    Im Dunkel bleibt der falsche Erdenglaube.
Du bist der Vater. Alle sind wir dein.
    Laß uns im Lichte deine Kinder sein!

Du schufst die Welt als größtes Wort der Liebe,
    Doch will die Menschheit dieses Wort nicht fassen.
Und wenn sie tausend heilge Bücher schriebe,
    Sie würde doch nicht lieben, sondern hassen.
Du bist der Vater. Alle sind wir dein.
    Laß uns in Liebe deine Kinder sein!

In ewgem Frieden kreisen deine Sterne.
    Ihr Licht umfließt die ganze, ganze Erde,
O daß sie doch von diesem Lichte lerne
    Und endlich, endlich menschenfreundlich werde!
Du bist der Vater. Alle sind wir dein.
    Laß uns im Frieden deine Kinder sein!«

Das war ein Gebet! Und wie wurde es gesungen! Nicht etwa nach einer alten, wohlbekannten Melodie, der man auch jeden andern Text unterlegen kann. Hier beteten die Töne noch deutlicher als die Worte. Die Perser waren doch wohl Leute, welche durch Worte nicht so leicht überwältigt werden konnten; aber als der letzte Ton jetzt über das Thal hinüber nach den lauschenden Bergen klang, wo die Hirten still bei ihren Herden standen, da sah ich alle zwölf Köpfe tief herabgesenkt, und es dauerte längere Zeit, ehe sich die Gesichter wieder sehen ließen. Worte klingen sehr leicht nur an das Ohr. Waren bei ihnen die Töne tiefer eingedrungen, um ihnen das erbetene Licht zu der Erkenntnis zu bringen, daß niemand sich der wahren Liebe rühmen darf, wenn er nicht den Frieden seines Nächsten achtet. Dann hätte der zum Menschenherzen trachtende Himmelsklang hier, am Beit-y-Chodeh der Dschamikun, ein Wunder bewirkt, welches den wohlerwogenen Worten und wohlgesetzten Reimen und Liedern anderer nicht gelingen will!

Nun kam Tifl zu mir her und sagte, indem er mich von der Seite her pfiffig anlächelte:

»Effendi, jetzt ist die Zeit gekommen, in der man essen muß – wenn man nämlich etwas hat.«

»Ich habe aber nichts!« klagte ich.

»O, mehr als ich! Sogar Pflaumen!«

»Wo?«

»Da, wo es im Wald am schönsten ist. Der Ort ist nur für einen einzigen, und ich soll dich bitten, heut auch einmal dort sein Gast zu sein.«

»Wer ist’s?«

»Du wirst ihn sehen.«

»Aber, bin ich nicht zu schwach, da hinaufzusteigen?«

»Es ist nicht weit von hier. Auch kannst du unterwegs ruhen, so oft du willst.«

»So laß uns gehen!«

Er führte mich an den Persern vorüber, bergan dem Walde zu. Der Stock erleichterte mir den Weg. Dennoch mußte ich schon am Waldesrande anhalten, um auszuruhen.

Man konnte von hier aus den ganzen Park übersehen, durch dessen vielgewundene Gänge schmale, lebendige Menschenströme wie durch Rosenadern pulsierten. Der Ustad und der Pedehr waren noch im Tempel. Wer Schatten suchte, kam herauf zum Walde. Ueberall glänzten freundliche Gesichter. Heiteres Lachen erscholl. Hier und da erklang schon die abgerissene Zeile eines kleinen Liedchens. Allerlei sangeslustige, flügellose Lerchen stimmten vorschnell ihre Kehlen.

»Man soll jetzt noch nicht singen,« erklärte mir »das Kind«. »O, Sihdi, wir haben viele schöne Lieder! Für Kinder, für Jünglinge und Jungfrauen und auch für die Alten.«

»Singst auch du?«

Da warf er sich in die Brust, richtete sich hoch auf und antwortete:

»Höre, was ich dir sage: Ich singe sie alle, alle stumm! Willst du es hören?«

»Ja.«

»So bitte ich dich aber, zu warten. Jetzt darf ich noch nicht.«

»Warum nicht?«

»So bald nach den ernsten Gesängen hört der Ustad Liebeslieder nicht gern.«

»Liebeslieder? Tifl, Tifl! Was höre ich!«

Der Gute verstand mich gar nicht. Fast schämte ich mich, diesen scherzenden Vorwurf ausgesprochen zu haben. Man sieht: Die Sittenrichterei kann selbst im Scherz den Ankläger an Stelle des vermeintlichen Delinquenten schlagen. Wie gefährlich mag sie da wohl erst im Ernste sein!

Wir gingen weiter, waldaufwärts. Es führte uns ein Weg zwischen hohen Bäumen hin. Es war ein sichtbar wenig benutzter Seitenweg.

»Hier geht nur er,« sagte Tifl.

»Wer?«

»Er! Du mußt es raten!«

Selbstverständlich riet ich nun den Ustad. Nach einiger Zeit kamen wir an einen vor langen Jahren freigemachten Platz, in dessen Mitte ein großer, weitästiger Birnbaum stand. Er hing voll schöner, reifer Früchte. Die hohen Waldbäume gewährten ihm Schutz. Sonst hätte er in dieser Höhe nicht gedeihen können.

Unter ihm stand – ich staunte! – ein wohlgedeckter Tisch. Eine Holzplatte auf in die Erde geschlagenen Beinen, nicht niedrig, wie die orientalischen sind. Vor ihm zwei hohe Bänke, auf denen man ganz nach europäischer Art sitzen konnte. Er war mit einem weißen Tuch belegt, auf welchem weißporzellanene Schalen und Teller, auch eine Weinflasche mit Glas, meiner warteten. Es gab kalte Küche, fein säuberlich verteilt.

Und wer stand da bei diesen Herrlichkeiten? In ihrer ganzen blitzblanken Sauberkeit? Strahlend vor Stolz und Freude? Mit liebevollen Aeuglein und rotblühenden Rosenwänglein? Natürlich Pekala, die Köstliche, heut meine Festjungfrau in wahrster Wirklichkeit!

»Sei willkommen, Effendi!« rief sie mir entgegen. »Ich habe für dich angerichtet. Auch Pflaumen sind da. Tifl hat sie für dich gepflückt. Der Ustad gebot es ihm.«

Ich reichte ihr die Hand.

»Pekala, was bist du doch gut!« sagte ich.

»Gut muß man immer sein; das ist ja Pflicht. Und man ist es auch so gern! Man will ja gar nicht anders sein! Aber euch, euch, Effendi, möchten wir doch recht, recht glücklich machen! Euch möchten wir die größte Liebe zeigen, die wir haben!«

»Warum grad uns, du Liebe? Es sind so viele Menschen da, und es giebt doch wohl nur eine einzige Liebe für sie alle!«

»So sagt auch der Ustad, ganz genau so. Aber ihr macht es uns so leicht, und andere machen es uns so schwer. Doch, was sagst du zu diesem Tische, Effendi?«

Sie stemmte die Arme in die Seiten und schaute mich an, als ob ich etwas ganz Unbegreifliches anzustaunen habe.

»Wunderbar!« antwortete ich.

»Ja, es ist auch wirklich wunderbar! Siehst du das herrliche Fakhfuri takymy

»Ja. Weiß, wie frischer Schnee!«

»Das grüne Scharab kardehi

»Grad wie Smaragd!«

»Das Sofra bezi mit geblümten Mustern?«

»Sehr schön! Das hast wohl du geplättet?«

»Ja. Aber wir haben kein Ütü hier. Ich habe ein Hackebeil heiß gemacht und ein Papier dazwischen gelegt. Da ging es auch. Weißt du, wer eine Türkin ist, der weiß sich stets zu helfen!«

»Wie schade da, daß ich keine bin!«

»Effendi, klage nicht! Du bist ja ohnedies auch recht klug. Es kann nicht jedermann eine Türkin sein. Es muß auch andere Völker geben! Aber siehst du auch das Imek takymy mit den blankgeputzten Griffen? Habe ich es richtig hergelegt?«

»Ja, denn ich nehme es da weg, wo es liegt. Ganz fein aber ist es, wenn das Messer rechts und die Gabel links liegt.«

Ich wollte sie doch nicht eines Fehlers zeihen; darum drückte ich mich in dieser Weise aus. Sie wechselte aber das Besteck schnell um, indem sie sagte:

»Du bist für mich der feinste Mann, und ich denke, daß du mich auch für eine feine Dienerin hältst. Machen wir es also nicht wie für gewöhnliche Leute, sondern fein. Bemerkst du auch den Tapa tschekedscheji? Du siehst, wir haben alles. Du sollst die Flasche doch nicht in der Weise öffnen, wie Tifl damals that, indem er die Hälse herunterschlug. Dann ist es kein Wunder, wenn man betrunken wird!«

Diese Betrachtung lenkte ihre Aufmerksamkeit auf »das Kind«. Sie drehte sich nach ihm um und sagte:

»Ich bediene den Effendi selbst. Du kannst gehen!«

Er that zwei Schritte, blieb dann aber stehen.

»Nun, warum nicht?« fragte sie.

»Weil ich es doch auch einmal sehen möchte.«

»Was?«

»Das Tuch und das Porzellan und alle die seltenen Sachen da auf dem Tisch.«

»Schau dir es nachher an!«

»Und auch wie der Effendi fränkisch sitzt und ißt.«

»Das würde ihn stören!«

»Und wie schön und fein du ihn bedienst, nachdem du alles so trefflich vorbereitet hast.«

Dieses Lob stimmte sie augenblicklich für ihn um.

»So bleib,« sagte sie. »Steig auf den Baum und hole die besten Früchte herab!«

Er war im Nu hinauf.

»Es sind Armudlar, Effendi,« belehrte sie mich.

»Das meine ich auch,« stimmte ich ihr bei.

»Sie heißen Gulab-i-Schahi«, verbesserte Tifl vom Baume herunter, indem er die Sorte nannte.

»Würdest du sie auch als Armud kompostusu essen, Effendi?« fragte sie weiter.

»Wenn man frisches Obst hat, soll man es frisch essen. Aber ich liebe es auch gekocht.«

»So sollst du beides bekommen: die frischen Birnen und auch den süßen Kompostusu. Nun setze dich aber nieder, und iß! Aber alles! Du mußt wieder rund werden – so, wie ich! Du mußt rote, dicke Backen bekommen – so wie meine hier!«

»Ich danke dir, liebe Pekala!«

»Danke mir nicht schon jetzt, sondern dann, wenn du sie hast! Ich habe dich nur so gesehen, wie du durch die Krankheit geworden bist: unendlich hager und mit eingefallenen Wangen. Nun aber sollst du wieder so werden, wie es sich für einen Effendi aus Dschermanistan schickt und gehört. Erlaube mir, dir meine Gestalt und Fülle als Muster anzubieten, welchem du nachzustreben hast, um es zu erreichen und wo möglich noch zu übertreffen! Einer der größten Vorzüge, den wir Türken haben, ist der, daß wir unserer Seele einen möglichst umfangreichen Körper bieten. Da hat sie Platz! Da kann sie sich rühren und bewegen! Da fühlt sie sich nicht eingeengt und kann, wenn sie will, sogar spazieren gehen. Wird sie aber in der Weise, wie jetzt bei dir, zwischen Haut und Knochen eingedrückt, so entstehen jene unglückseligen, ezmisch gewordenen Dschanlar, denen man es nicht übelnehmen kann, daß sie über das Erdenleben stets nur zu schimpfen und zu räsonnieren haben. Ein wohlgestalteter, runder Mann hingegen wird immer guter Laune sein und stets ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen haben. Ich weiß das ganz genau. Ich sehe es an mir!«

»Du bist sehr scharfsinnig, liebe Pekala!«

»Nicht wahr? Beinahe eine Kizfeilesuf! Du mußt mir aber auch ansehen, daß ich gewohnt bin, sehr viel nachzudenken. Ich kann das auch, weil meine Seele vollständig Platz zum ausgiebigsten Nachdenken hat. Da ist nichts zum Verwundern. Nun aber iß! Und erlaube mir noch eine Frage, die ich mir trotz alles Nachdenkens nicht beantworten kann! Gehört etwa noch ein kleiner Tisch hierher?«

»Nein.«

»Nicht? Aber wozu da das andere, kleinere Tuch?«

»Wo?«

»Hier.«

Sie griff in die Innentasche ihres Gewandes und zog eine weiße Serviette hervor. Ich nahm sie ihr aus der Hand und schlug sie aus den Falten. Sie war nicht gezeichnet, doch mit winzigen, liebevollen Stichen eingesäumt. Mein Gesicht fiel, indem ich dieses Leinenstück betrachtete, der Köchin auf.

»Du staunst, Effendi?« sagte sie. »Du bist verwundert? Sogar sehr?«

»Ja,« antwortete ich. »Das hätte ich hier nie gesucht!«

»Nicht? Das freut mich, denn es muß also etwas sehr Feines sein!«

»Es ist ein Peschkir. Man sagt auch Petschata

»Das kenne ich nicht. Wozu ist es?«

»Um beim Essen das Gewand zu schonen. Wenn man etwas verschüttet oder sonstwie Flecke macht, so werden sie von der Petschata aufgefangen. Wer vorsichtig ißt, der braucht sie nur so herzulegen. Wer aber unschön ißt, der steckt die Ecke da oben herein. Man sieht also an der Petschata, was für einen Esser man vor sich hat. Schau her!«

Ich machte es ihr vor. Da schlug sie die Hände zusammen, daß es schallte, und rief entzückt:

»Wie mir das doch gefällt! Das ist fein, wirklich fein! Weißt du, Effendi, ich werde, wenn er sich zu meiner Zufriedenheit beträgt, für unsern Tifl eine machen!«

»Zwei!« rief der Genannte vom Baume herunter.

»Warum?« fragte sie hinauf.

»Für dich auch eine, falls ich mich nicht über dich zu beklagen habe!«

»Ich möchte wissen, worüber du dich bei mir beklagen könntest! Ich trage dich auf allen meinen Händen und sehe dir einen jeden Wunsch von den Augen ab. Du bist der glücklichste Mensch, den es nur geben kann. Drum pflücke ruhig weiter, und laß die Petschata Petschata sein!«

Ich hatte während dieses kleinen, gutgemeinten Wortgefechtes die Serviette wieder zusammengeschlagen und dann weggelegt. Als Pekala dies nun bemerkte, fragte sie:

»Du nimmst sie nicht? Warum? Ich bitte dich!«

Sie nahm sie vom Tisch und hielt sie mir wieder hin. Ich wehrte ihre Hand aber ab.

»Nein, meine gute Pekala! Ich will von diesem Tuche, von diesem Porzellane und mit diesem Messer und dieser Gabel essen, weil ich dich sonst betrüben würde – vielleicht auch noch einen Andern. Aber was nicht unbedingt nötig ist, das werde ich nicht berühren.«

»So sag mir aber, warum?«

»Du ahnst es wahrscheinlich nicht; aber diese Sachen sind, außer für diesen Andern, wohl eigentlich unberührbar. Ich vermute, daß er sie außerordentlich ehrt, ja heilig hält.«

Sie sah mich nachdenklich an, trat dann ganz nahe zu mir her und sagte:

»Das ist wahrscheinlich richtig. Ich will es dir mitteilen, weil mir nicht verboten wurde, davon zu sprechen. Diese und noch einige andere Sachen sind in einer kleinen Lade wohl verwahrt. Es giebt einen Tag, einen einzigen Tag im Jahre, an dem der Ustad diese Lade aufschließt. Da deckt er sich den Tisch mit eigener Hand, ganz so, wie ich es hier gemacht habe. Ich bringe ihm die Speisen selbst hinauf. Ich sehe einen fränkischen Stuhl vor dem fränkischen Tisch; aber der Ustad sitzt noch nicht. Er steht mit gefalteten Händen am Fenster und schaut so unverwandt, wie innerlich betend, zu unserem lieben Beit-y-Chodeh hinüber. Er trägt an diesem Tage ein ganz altes, härenes Gewand, welches auch in dieser Lade liegt und hinten einen Baschlyk hat. Ein ebenso alter Strick schlingt sich um seine Lenden, und um den Hals hat er eine Perlenschnur, an welcher ein kleines Bild hängt; was für eines, das weiß ich nicht. Er ißt erst dann, wenn ich wieder gegangen bin. Er ist an diesem Tage noch ernster und noch stiller, als zu jeder andern Zeit. Niemand darf ihn stören, außer ich, wenn ich ihm das Essen bringe. Aber früh, am Morgen, kommt er herab und teilt an alle, die im hohen Hause wohnen, kleine, freundliche Geschenke aus, die er während des Jahres mit eigenen Händen für sie gefertigt hat. Begreifst du das?«

»Wenn du mir den Tag nennen kannst, so ist es möglich, daß ich es verstehe.«

»Ich habe ihn mir gar wohl gemerkt, und es ist für mich sehr leicht, ihn nicht zu vergessen, weil er mein Geburtstag ist.«

»Vielleicht ist es auch der seinige?«

»O nein. Das weiß ich ganz genau.«

»Woher?«

»Er selbst hat es mir gesagt. Ich habe bisher darüber geschwiegen, weil es so eigen, so geheimnisvoll klang; dir aber möchte ich es erzählen, grad dir.«

»Warum mir, liebe Pekala?«

»Weil er heut für dich jene Lade, die er so heilig hält, geöffnet hat. Er ließ mich zu sich kommen. Er hatte alle diese Sachen für dich bereit gelegt und übergab sie mir mit der Weisung, dich hier mit ihnen zu bedienen, sie aber von niemandem, höchstens noch von ›unserm Kinde‹, berühren zu lassen. Das habe ich gethan. Kein Mensch hat sie gesehen.«

»Sagte er noch sonst etwas hierüber?«

»Ja. Fast ganz dasselbe, was er mir damals sagte. Ich will es dir erzählen. Tifl, steig vom Baume herab. Leg die Birnen her, und geh vor an den Weg! Es soll uns niemand stören.«

Er gehorchte gleich, denn er hatte alles gehört und sah also ein, weshalb er fortgeschickt wurde. Als er gegangen war, berichtete sie:

»Es war an diesem Tage. Der Ustad hatte mich reicher beschenkt als die andern, weil er wußte, daß mein Geburtstag sei. Als es gegen Abend dunkelte, ging ich hinauf zu ihm, um die Reste der Mahlzeiten zu holen. Du wirst gesehen haben, daß vor seinem Gemache ein Schahnischin ist. Da saß er auf dem fränkischen Stuhle, was er sonst niemals thut, und las in einem Buche, obgleich es auch da draußen schon fast dunkel war. Als er mich hörte, kam er herein, um das Licht anzuzünden. Ich hatte mich so sehr gefreut und sagte ihm noch einmal für die heutigen Geschenke Dank. Da schaute er im Dämmerschein der kleinen Kerze von so hoch zu mir hernieder, legte mir die Hand auf den Kopf und sprach:

›Der Eine giebt; der Andere nimmt. Der Eine stirbt; der Andere wird geboren.‹ Wenn die Menschen doch wüßten, daß jeder Geburtstag auch zugleich ein Tag des Sterbens ist! Mein Sterbetag war heute!«

Sie schwieg und wendete sich halb von mir ab, indem sie mit der Hand nach ihren Augen griff. Als sie sich wieder herumdrehte, sah ich die Feuchtigkeit der Thräne noch, die sie hatte entfernen wollen. Dann fuhr sie fort:

»Ich weiß nicht, wie es kam, ich mußte weinen, als ich diese seine Worte hörte. Und indem ich weinte, sprach er sie noch einmal, als ob ich sie ja nie vergessen solle:

›Der Eine giebt; der Andere nimmt. Der Eine stirbt; der Andere wird geboren. Wenn die Menschen doch wüßten, daß jeder Geburtstag auch zugleich ein Tag des Sterbens ist! Mein Sterbetag war heute!‹

Die gute Pekala hatte diese Wiederholung nur schwer zu Ende gebracht. Jetzt hob sie die Falten ihres Schleiers zum Gesicht empor, um es darin zu verbergen, und weinte, leise schluchzend, vor sich hin. Wie kam es doch, daß auch mir die Augen feucht wurden? Es giebt Worte, welche, mögen sie gesprochen werden, wann und wo es auch sei, sich so tief in das Herz des fühlenden Menschen senken, daß er sich ihrer Wirkung nicht entziehen kann.

»Du hast dir das sehr gut gemerkt, liebe Pekala,« sagte ich, um sie von ihrem Schmerze abzulenken.

Sie strich die Thränen fort, ließ den Schleier wieder nieder und antwortete:

»Ich bin dann sogleich draußen vor seiner Thür stehen geblieben und habe die Worte auswendig gelernt, um sie niemals zu vergessen.«

»War das alles, was er sagte?«

»Alles! Aber war das nicht genug, mehr als genug, Effendi? Muß es nicht fürchterlich für einen Menschen sein, zu wissen, an welchem Tage er sterben werde?«

»Noch ganz anders ist es, wenn ein Mensch weiß, daß er gestorben ist!«

»Das ist unmöglich. Kann er denn leben und doch wissen, daß er tot sei? Aber daß es Leute giebt, welche ihren Sterbetag voraus wissen, das habe ich schon oft gehört.«

»Kein Mensch kann ihn wissen, kein einziger, außer er will zum Selbstmörder werden. Gott hat sich die Bestimmung dieses Tages vorbehalten und wird entweder in seiner Güte oder in seiner Gerechtigkeit die Entscheidung treffen.«

»Aber der Ustad weiß ja doch den seinen!«

»Nein, auch er nicht!«

»Hast du nicht soeben seine eigenen Worte gehört?«

»Du deutest sie falsch. Du hast das Wörtchen ›war‹ mit dem Wörtchen ›ist‹ verwechselt.«

»Das verstehe ich nicht, Effendi.«

»Denke nach, und erinnere dich genau! Hat er gesagt ›Mein Sterbetag war heute.‹ Oder sagte er: ›Mein Sterbetag ist heute.‹ War oder ist? Hierauf kommt es an.«

»Ich weiß es: ›war heute‹; so sagte er.«

»Also hat er nicht ein zukünftiges sondern ein schon vergangenes Sterben gemeint. Es ist das ein tiefes, tiefes Wort von ihm gewesen, und ich wundere mich nicht darüber, daß du dich in seiner Deutung irrtest.«

»Also meinte er, daß er schon gestorben sei?«

»Ja.«

»So war sein Wort ein Rätsel!«

»Allerdings.«

»Wer kann es lösen? Ich nicht!«

»Ich auch nicht. Kein anderer Mensch kann es lösen, als nur er allein. Wem der Tod oder vielmehr das Sterben überhaupt ein Rätsel ist, dem wird der wahre Todestag, die eigentliche, wirkliche Zeit des Sterbens, ganz gewiß erst recht verborgen bleiben. Es giebt nur wenige, sehr wenige Menschenkinder, welche wissen, warum und wo und wie und wann man stirbt. Man kann körperlich leben und geistig oder seelisch doch gestorben sein. Und wie das Eine möglich ist, so auch das Andere. Auch Isa Ben Marryam, den wir den Heiland nennen, verlangt vom Menschen, daß er neu geboren werde. Wer hat da aber zu sterben? Die Bibel antwortet: Der alte Adam. Wer ist das? Du siehst also, daß die christliche Religion ein Sterben und Geborenwerden mitten in diesem unsern gegenwärtigen Leben von uns fordert. Hierin liegt eine der verschiedenen Weisen, in denen das Rätsel des Ustad gelöst werden kann. Für ihn ist es schon längst kein Rätsel mehr. Denn wer da weiß, daß er gestorben ist, und sogar den Tag genau kennt, an welchem es geschah, der schaut nicht mehr in ein trügerisches Dämmerlicht, sondern vor seinen Augen liegt der helle Tag in seliger Klarheit ausgebreitet.«

Ich hatte mich an den Tisch gesetzt und zu Messer und Gabel gegriffen; da erscholl vom Rande der Lichtung her die Stimme »unseres Kindes«:

»Der Ustad kommt. Ich trete auf die Seite.«

Er zog sich hinter die Bäume zurück. Ich wollte wieder aufstehen, aber Pekala bat mich:

»Thu nicht, als ob du es weißt! Er wird sich gewiß freuen, dich essen zu sehen.«

Da begann ich denn, zuzulangen. Tifl hatte ihn gewiß schon von weitem bemerkt, denn es dauerte längere Zeit, ehe er erschien. Nun, als er auf die Lichtung trat, legte ich das Besteck natürlich wieder weg. So, wie jetzt er, war wohl auch Abraham einst einhergeschritten, wenn er im Haine Mamra wandeln ging. Und seine Gäste hatten ihm in solcher Ehrfurcht entgegengesehen, wie ich sie fühlte, als dieser Patriarch der Kurden sich mir näherte. Aus seinen Augen schaute mich die Seelengüte an, und mir war es, als ob ich meine Arme um ihn schlingen müsse, um ihm zu sagen, daß ich ihn nie, niemals verlassen möchte.

Ich wollte sprechen, um ihm zu danken. Er sah das und veranlaßte mich durch eine kleine, stille Handbewegung, dies nicht zu thun. Sein Blick überflog den Tisch und blieb auf der unbenutzten Serviette haften. Dann sah er mich mit einem lieben, lieben Blicke an. Er hatte mich durchschaut.

»Es war eine Segenshand, die dieses Speisetuch mit vielen, vielen Stichen für mich säumte,« sagte er. »Es war am Tage, da ich einstens starb, da schenkte sie es mir. Nun nehme ich es in die meinige von Jahr zu Jahr, wenn ich das stumme Gedächtnismahl des eigenen Todes halte. Warum steht heut derselbe Tisch für dich gedeckt? Ich liebe dich und habe dich erkannt. Du bist derselbe, der ich einstens war, in jener Zeit, da ich noch suchen ging. Es lebt der Geist in dir, der damals mich verführte, ihn für den Geist des Weltenalls zu halten. Und doch ist’s nur der Geist der armen, kleinen Erde, der seinen Menschen vorgelogen hat, er sei der Allmächtige, der den ganzen, unendlich weiten Himmel nur allein für sie geschaffen habe. Du wirst wie ich aus diesem Himmel herabgerissen werden, der weder ihm noch dir gehört, wenn du ihm weiterfolgst. Du wirst da unten liegen, so wie einst ich am Boden lag – ein stillgewordener Acker Gottes, über den des Todes Pflugschar gehen muß, damit er zubereitet sei, wenn der Säemann kommt, den man das Leid der Erde nennt. Da wird der Pflug aus deinem Herzen reißen, was jener Erdengeist hineingepflanzt. Und wenn er seine letzte, tiefste Furche zieht und dir die stärkste Wurzel aus dem Herzen zerrt, dann mache dich bereit: Es naht dein – Sterbetag!«

Sein Auge ruhte nicht auf mir. Er hatte vor sich hin, wie in weite Ferne geschaut, als ob er das alles sehe, was er sagte. Nun hob er den Blick zu den Baumkronen empor, deren Zweige und Nadeln im Sonnenstrahle goldgerändert zitterten. Ein milder Farbenschein, wie durch eine rosig angehauchte Lichtglocke geworfen, überflutete sein Angesicht.

»Dann naht der Säemann und giebt den Furchen neues Leben,« fuhr er fort. »Du wirst ihm stillehalten müssen, so wie auch ich ihm stillehielt. Die Egge schmerzt; die Stacheln reißen Wunden. Doch darfst du sie nicht achten. So viele ihrer seien, aus jeder sproßt und grünt es froh zum Himmel auf, damit der stillgewordene Acker Gottes dereinst zum reichen Erntefelde werde. Das meine liegt im wilden Kurdistan. Umringt von Feinden, die mich hassen, neiden! Die Berge tragen meine Einsamkeit; sie sind mit ihr mein Schutz, der nimmer wankt. Wo aber, fragst du, wird das deine liegen?!«

Jetzt senkte er den Blick zu mir nieder und sah mir lächelnd ins Gesicht. Seine Hand legte sich auf mein Haupt und glitt dann leise, fast zärtlich an der Wange nieder. Dann sprach er weiter:

»Wo es liegt? Du weißt es nicht, und doch hab‘ ich’s von dir erfahren. Ich stand an deinem Lager. Kein Mensch war da, als ich und meine beiden Kranken. Du lagst besinnungslos, doch sprachst du mit dir selbst. Da lernte ich dich kennen. Da hörte ich zwar dich, doch auch den Geist, der einst der meine war. Dann klangen liebe Worte, die Worte deiner Seele. Du ahnst wohl nicht, wie mächtig Seelen sind! Sie wird den Geist bezwingen, wie einst die meine ihn bezwang. Was ich dir sage, das ist, als hätte sie es gesagt! Dein Erntefeld liegt fern von diesem meinem Lande. Es ist ein anderes, als das meinige. Ich sehe Thäler und ich sehe Berge. Auch dir ist, so wie mir, die Ebene gram. Drum mache es so wie ich: Such auf den Bergen Schutz, und steige nie zur Fläche nieder, auf der die dunklen Zelte deiner Feinde stehen. Geh in die hehre Einsamkeit, wie ich, und sei, wenn dir ein Gegner naht, so stumm, wie ich es heut zu meinen Feinden war. Auch dir lebt ein Pedehr, der gern es übernimmt, den Feiertag, den du zu leben hast, vom Schmutz des Werkeltages zu befreien!«

Er griff jetzt nach der Serviette, gab sie mir und sagte:

»Du dachtest zart. Ich danke dir dafür. Doch sei mein Gast an meinem Sterbetag! Nimm dieses Tuch getrost! Es ist für mich ein großes Heiligtum. Die mir es gab, sie stand an meiner Seite, als ich im Sterben lag. Die letzte, tiefste Furche ging durch mich. Da bäumte ich mich auf. Ich wollte meinem Leiden nicht gehorchen. Sie aber sagte mir ein großes Wort, ein Wort, so groß, daß es die ganze Welt umfaßt. Da brach ich wieder nieder, um ganz in meiner Kleinheit zu verschwinden. Und als ich dann, nach langer, langer Zeit, als Auferstandener kam, um ihr zu danken, da sagte sie, sie habe mir zu danken, weil sie in mir zum zweiten Male auferstanden sei. Wirst du wohl ihren Namen nun erraten? Er ist auch dir von Herzen lieb geworden.«

»Unsere Marah Durimeh!«

Dieser Name flog förmlich aus meinem Munde. Es konnte ja keine andere sein als sie!

»Ja, sie, die Einzige!« sagte er. »Denk, daß sie hier an deiner Seite sitze und dir erzähle von jemand, dem nichts erspart geblieben ist von allem, was die Erde Schlimmes bietet, und der nur durch das Schweigen jenen Sieg errang, mit dem man nicht den Feind allein, nein, auch sich selbst bezwingt. Denn merke wohl: Dein größter Feind bist du. Um ihn versammelt sich der andern ganze Schar. Sie steht und fällt mit ihm. Er ist’s, der fallen muß in deiner Sterbestunde. Für den, der dann, von dir befreit, das andere Leben lebt, giebt es dann nur noch Menschen, im schlimmsten Fall beklagenswerte Thoren, doch Feinde, Feinde nie!«

Hierauf legte er mir die Hand auf die Brust und sprach in warmem, bittendem Tone:

»Laß dein Herz so ruhig schlagen, wie das meine schlägt! Wenn es aufbegehren will, so gebiete ihm Schweigen! Betrachte die Menschen so, als ob du bereits gestorben seist und von ihnen nicht mehr erreicht werden könntest! Es gehöre ihnen von allem, was du bist und was du hast, nichts, nichts, als nur allein die Liebe!«

Er ging hierauf wieder fort.

Welch ein Mensch! Solche Charaktere können wohl nur in der Einsamkeit der Berge reifen! Aber glücklicherweise ragen Berge überall. Warum sollen es immer nur geographische Höhen sein? Giebt es nicht auch noch andere Alpen, auf denen man sich ein »hohes Haus« erbauen und ein »Beit-y-Chodeh« errichten kann? Redet nicht auch die Heilige Schrift von solchen Bergen? Sagt nicht der Psalmist, daß von ihnen seine Hilfe komme? An was für Berge dachte ich wohl, als ich vor Jahren, im Notizbuche Reiseeindrücke festhaltend, auch folgende Zeilen niederschrieb:

»Schon weicht die Fläche hinter mir;
  Die Ebene beginnt, zu steigen.
So naht das Herz, Jehovah, dir,
    Wenn hinter ihm die Zweifel weichen.

Mir ist, als ob am Horizont
    Ich Bergesspitzen leuchten sähe.
So reinigt, läutert, wärmt und sonnt
    Die Seele sich in Himmelsnähe.

Hinauf, hinauf! Ich raste nicht.
    Ich will und will nicht unten bleiben.
Mein frömmstes, seligstes Gedicht
    Will ich beim Glühn der Alpen schreiben.

Das werde ich dann heimlich, still
    In einem Kirchlein niederlegen.
Vielleicht gereicht’s, so Gott es will,
    Dem, der es findet, einst zum Segen!«

Unsere gute Pekala hatte sich, als der Ustad kam, bescheiden vom Tische zurückgezogen. Nun, als er fort war, kam sie wieder, um von neuem ihres Amtes zu walten. Die Entfernung war allerdings keine große gewesen. Darum hatte sie Verschiedenes von dem, was gesprochen worden war, gehört. Das zeigte sich durch die Frage, welche sie sogleich an mich richtete:

»Nicht wahr, ich hatte mit dem Sterbetage recht, Effendi? Er sprach doch auch mit dir davon.«

»Ja; aber da wirst du mir eine Bitte zu erfüllen haben, liebe Pekala.«

»Sehr gern! Welche?«

»Denke nicht zu oft und zu viel über den deinigen nach! Und sei schweigsam über das, was du hier vernommen hast! Wenn man von so etwas redet, muß man es verstanden haben.«

»Das habe ich freilich nicht. Es war zu schwer für mich.«

»Trotzdem du dich eine Kizfeilesuf genannt hast?« scherzte ich.

»Das bin ich auch. Aber es hat jeder Mensch seinen eigenen Feilesufluk, den der andere nicht begreift. Der meinige wächst in der Küche und sagt mir jeden Tag, daß alle Menschen essen müssen. Darum setze dich nun wieder nieder, und laß mich die Freude erleben, daß es dir schmeckt!«

»Das wird nun wohl nicht so werden, wie du wünschest. Ich bitte dich, noch einige Zeit Geduld zu haben.«

»Warum, Effendi? Willst du nun etwa gar nicht essen?«

»Nicht sogleich. Ich möchte nachdenken. Geh mit deinem Tifl ein Stündchen spazieren, und komm dann wieder!«

»Wie schade! Das ist es ja eben, was meine Feilesufluk nicht begreifen kann! Wenn gelehrte Männer in den Sattel ihres Geistes steigen, um in seinem Reiche herumzugaloppieren, da lassen sie ihn hungern. Sie sagen, sie können nicht essen, wenn sie denken. Was wird er da wohl für Sprünge mit ihnen machen können! Gieb ihm Futter, Effendi, viel Futter! Wenn du das thust, dann wirst du erst bemerken und an dir selbst erfahren, was ich, eure Pekala, unter Nachdenken verstehe! Was soll aus dir werden? Die Seele hat keinen Platz; der Geist muß darben, und der Körper darf nicht essen. Du gehst mir ja zugrunde! Wozu bin ich denn mit meiner schönen, großen Küche da? Doch dazu, daß alles, was ich mache, aufgegessen wird! Doch will ich nicht zanken, denn ich sehe, daß es dir wehe thut. Ich gehe!«

Wehe thun? Das nun freilich nicht! Sie deutete meine Bemühungen, das Lachen zu unterdrücken, falsch. Es waren nur wenige Schritte, welche sie that; dann blieb sie stehen, sah auf die Erde nieder, kam wieder zurück, ganz nahe an mich heran und sagte halblaut, damit Tifl, der sich nun wieder auf der Lichtung befand, es nicht hören möge:

»Weißt du, was ich mir über unsern Ustad ausgesonnen habe? Während er mit dir sprach, kam es mir in den Kopf.«

»Was?«

»Es liegt ein Geheimnis über ihm, und ich habe etwas davon entdeckt. Er kann alles; er weiß alles. Er kennt das ganze Morgen- und wohl auch sehr viel vom Abendlande. Er hat sehr, sehr viele Bücher in abendländischer Schrift. Ich glaube, daß er früher dort gewesen ist, um alles, was man dort lernen kann, sich anzueignen. Da hat er auch an solchen Tischen, wie dieser ist, gegessen. Er kehrte in die Heimat zurück. Dann starb etwas in ihm; denn in dieser Weise meint er es doch, wenn er von seinem Tode spricht. Das Gedeck hier ist ein Andenken an diesen seinen Toten, und darum hebt er es so heilig auf und sucht es an jedem Sterbetag hervor. Was sagst du dazu? Ob ich wohl recht habe?«

»Pekala, du hast ein kluges Köpfchen!«

»Nichts weiter? Das habe ich längst gewußt! Aber es freut mich, daß auch du es nun erfahren hast. Jetzt gehe ich wirklich!«

Und sie ging auch wirklich; Tifl mit. Ich war allein.

Ueber mir schlug ein persischer Ispinos. Er sprang von Zweig zu Zweig, immer weiter herab. Ich warf ihm Brocken hin, und er kam bis an den Tisch heran, um sie zu nehmen. Seine hellen Augen waren ohne Furcht auf mich gerichtet. Warum läßt die sogenannte unvernünftige Kreatur sich von der Güte locken? Warum lacht nur der Mensch über den, der selbstlos alle liebt? Oder ist das nicht der Mensch überhaupt, sondern nur der Menschengeist, der raffinierende Teil der »Schöpfungskrone«? Wie glücklich dann die niederen Geschöpfe, von denen man behauptet, daß sie keinen »Geist« besitzen! Was versteht das gesellschaftliche Tier, Mensch genannt, denn eigentlich unter »Liebe«? Wenn die Hassenden sich zusammenrotten, damit Liga gegen Liga, Konfession gegen Konfession, Fraktion gegen Fraktion aufeinanderplatze, so behaupten auch sie, in Liebe verbunden zu sein. Eine Liebe aber, welche hassen kann, giebt es einfach nicht! In ganz derselben Weise belieb- und zugleich behaßäugeln sich die Völker ebenso wie auch die einzelnen Individuen. Wer aber wahre Liebe bringt oder brachte, die vor allen Dingen und zunächst nach Frieden strebt, der wurde stets und wird noch heute an das liebe Kreuz geschlagen. Und dabei behauptet jede Partei, daß sie allein es sei, die den Frieden wolle! Natürlich aber behält sie sich stillschweigend vor, daß er nur zu ihrem Vorteil abzuschließen sei! Ist das denn Frieden? Nein, sondern neuer Grund zum Kampfe!

Das Weltmeer kann nicht ruhig sein. Es ist eine den Winden preisgegebene, willenlose Flüssigkeit. Aber muß denn die Menschheit mit ihren anderthalbtausend Millionen bewußter und denkender Intelligenzen sich ebenso in stetem Wogengange befinden? Muß der hochbegabte, seiner Verantwortlichkeit sich sehr wohl bewußte Mensch, sobald sein Nachbar wellt, sofort auch Wellen schlagen und sie weitergeben? Giebt es keinen Halt auf weiter See? Kein festes Land? Und muß auch jedes der vorhin gezählten kleinen, winzigen Binnenwässerlein gleich lächerlich hohe Brandung schlagen, wenn vom Andern her ein Lufthauch es berührt? Kennt denn niemand jene Wunderhand, die damals, als auf dem See Genezareth der Ruf »Herr, wir verderben« erscholl, den Elementen sofort Ruhe gab? Weiß man nur in seinem Namen, aber nicht in seinem Geiste zu handeln? Erheben sich nicht augenblicklich tausend Wogen ringsumher, wenn es einmal eine freundliche Herzenswelle wagt, sich von dem allgemeinen Strom zu trennen? Wie manche solche Welle, die nach den Gärten und Feldern des Ufers fließen wollte, um sie zu befruchten, ist von den dunkeln Fluten, auf deren Grund die schwere, stählerne Schlepperkette ruht, mit fortgerissen worden!

Aber droben auf den Bergen, da liegen sie, in tiefer Einsamkeit, vom hohen Forst beschützt, die immer klaren Wasserspiegel. Von unentweihten Quellen gespeist, fließen sie über von Heil und Segen für jedermann, der von dem sumpf- und fieberreichen Strome aufwärts nach seinem Ursprung wandert. Anstatt Menschenrecht herrscht hier noch Gottesrecht. Die holde Fee der Menschheitskinderzeit geht liebreich wandeln von Haus zu Haus. Des Edens fromme Sage wird beim Scheine des brennenden Spanes an jedem Herd erzählt, und wenn die Ahne im lauschenden Kreise der Enkel eine mit ihr altgewordene Mähr erzählt, so hebt sie wohl mit den Worten an: »Als wir noch Kinder waren.« Sie weiß ja nicht, daß sie stets Kind geblieben ist!

So sitzt nach vollbrachtem Tagewerke oft auch die gute Pekala mit »ihrem Kind« auf jener Bank im Garten, wo ich von beiden als Pflaumendieb überfallen wurde. Was mag sie ihm erzählen, die ebenso Kind wie er geblieben ist? Hat doch der Ustad es erreicht, seine früher unbotmäßigen Dschamikun in wohlerzogene, dankbare Kinder zu verwandeln! Mit welchen Mitteln hat er das fertiggebracht? Mit Hilfe jener Fee, welche keine Gewaltthat kennt und doch alle Menschen zwingt: sie heißt – die Güte! Aber mit welchen andern Mächten mag er gerungen haben, um sie in sich abzutöten, ehe er den Weg nach diesen seinen Bergen fand! Es sei ihm nichts, gar nichts erspart geblieben, sagte er. Nun aber war es glücklich überwunden. Warum geben unsere Dichter solchen Lebenskämpfen fast immer einen tragischen Schluß? Kennen sie unsern Herrgott nicht? Die Erdenbühne, für welche er seine Gestalten schafft und, wie es scheint, nach freiem Willen handeln läßt, kennt die Tragik nur als kurze Episode. So ist auch das, was der befangene Mensch für ein Lustspiel, einen Schwank oder gar für eine Farce hält, nichts weiter, als eine vom Schauspieler eigenmächtig extemporierte Scene, welche der unbestechliche Regisseur sehr bald zu rügen weiß. Auf dieser Bühne geht niemand tragisch unter. Wer in dem einen Akt am Boden zu liegen scheint, darf sich im nächsten zum neuen Kampf erheben. Und wenn für ihn nach endlich errungenem Siege die letzte Erdenscene kommt, so hält der Dichter selbst den Kranz für ihn bereit.

Ich saß hier – um mich des Bühnenjargon zu bedienen – vor den pietätvoll aufbewahrten Requisiten mir unbekannter Leidensscenen. Warum war es grad mir erlaubt, sie zu berühren? Weil ich Marah Durimeh kannte? Weil der Ustad Grund zu haben glaubte, anzunehmen, daß ich, so wie er, durch die Schule der Leiden zu gehen haben werde? Es mußte noch einen andern, dritten Grund haben, den ich aber jetzt wohl noch nicht wissen durfte. Ich verzichtete darauf, über ihn nachzudenken. Wer so weitausschauend ist, den Berg mit jenem Amen sagenden Alabasterzelt zu krönen, der weiß auch wohl, wann die rechte Zeit, zu sprechen, gekommen ist.

War denn schon eine Stunde vorüber? Wohl kaum eine halbe. Aber Pekala hatte es nicht länger ausgehalten. Sie kam jetzt mit ihrem Tifl wieder und sagte, jedenfalls um ihre zu schnelle Rückkehr zu entschuldigen:

»Effendi, du mußt nun schnell essen. Kara Ben Halef ritt nach Hause, um beim Vater zu bleiben, damit seine Mutter zum Beit-y-Chodeh kommen könne. Sie ist da und fragt nach dir. Sie möchte dich gern bei sich haben.«

Ich brauchte die dienstfertige »Festjungfrau« eigentlich gar nicht; es lag ja alles bei der Hand. Aber sie ließ es sich nun einmal nicht nehmen, dabei zu sein. Jetzt griff sie nach der Flasche und dem Korkzieher. Indem sie letzteren verlegen betrachtete, sagte sie in ihrer vom Ustad jedenfalls nicht gewollten Offenheit:

»Flaschen sind sehr selten hier bei uns. Ich habe, seit ich hier bin, keine als nur diese hier gesehen. Ich weiß wirklich nicht, wie man es macht, um die Tapa mit diesem eisernen Dinge herauszuziehen.«

»Trinkt der Ustad Wein?« fragte ich.

»Nie. Es ist die einzige Flasche, die er hat. Alles, was gegoren ist, trinkt er nicht. Und alles, woran Blut war, ißt er nicht. Warum, das weiß ich nicht.«

»So lassen wir den Wein unberührt.«

»Aber, er ist doch für dich bestimmt.«

»Es wird schon einmal ein Gast kommen, dem er nötiger ist, als mir. Jetzt fange ich an!«

»Die Muhammedaner sagen ›Bismilla‹, wenn sie zu essen beginnen. Das ist ein gutes Wort. Verzeih, daß ich es vorhin vergessen habe!«

Nun war es unterhaltend, zu beobachten, wie die beiden zuschauten. Ich machte mir den Spaß, die europäische Art, zu essen, so verwickelt wie möglich darzustellen. Welche Wonne dieses Hantieren der »Festjungfrau« bereitete! Wie oft rief sie »dem Kinde« zu: »Du, das ist fein!« Und als ich endlich gar einige Birnen und Pflaumen schälte, schlug sie die Hände zusammen und sagte: »Das ist das Allerfeinste. So etwas giebt’s in der ganzen Welt gar niemals wieder!«

Hierauf war es Zeit, mit Tifl zu den Dschamikun zurückzukehren. Als wir aus dem Walde traten, bot sich mir ein sehr bewegtes, freundliches Bild. Die Perser saßen, links von uns, hier oben. Am Tempel hatte sich der Pedehr zu Hanneh gesellt. Den Ustad sah ich nicht. Ueberall gab es sitzende, stehende oder heiter sich bewegende Menschengruppen. Die jungen Männer unterhielten sich mit verschiedenartigen Spielen, welche den Zweck hatten, Kraft und Gewandtheit zu verleihen.

»Soll ich anfangen, Effendi?« fragte mich Tifl.

»Womit?«

»Singen. Ich sagte dir doch, daß ich sie alle stumm singen werde. Man wollte schon längst damit beginnen. Aber der Pedehr hat mir versprechen müssen, daß ich der erste sein darf.«

»Du willst es hier thun, gleich hier oben?«

»Ja. Meine Stimme geht weit, bis dort zum Berg hinüber, und hier sehen mich auch alle. Paß auf, Effendi, wie still und ruhig alle sein werden, wenn ich anfange!«

Ich wurde wirklich neugierig. »Das Kind« als Solosänger! Ich hatte gar kein so rechtes Vertrauen zu ihm; aber wenn er so singen, wie er reiten konnte, so war das Selbstvertrauen, welches er zeigte, sehr wohlbegründet.

»Was wirst du singen?« fragte ich.

»Was ich dir schon sagte: ein Liebeslied. Dieses bringe ich von allen am besten. Paß auf!«

Er stellte sich in Positur, räusperte sich und begann. Welch eine Stimme! Fast hätte ich ihn mit »Maschallah« unterbrochen. Das war ja ein Tenor, ein Heldentenor von unbeschreiblicher Fülle und herrlichster Klangfarbe! Allwissender Pollini! Von unserm Tifl aber hast du nichts gewußt, sonst wärest du schon längst hier bei den Dschamikun gewesen, um wo möglich den Besitzer dieser geradezu phänomenalen Stimme hier auf- und daheim am Alsterbassin wieder abzuladen! Es war genau so, wie er gesagt hatte: Gleich bei dem ersten Tone schaute alles herauf zu uns, und noch war kaum die zweite Zeile beendet, so hatte auf der Graslehne und im Parke jede Bewegung aufgehört. Ich sah zu den Persern hinüber. Sie waren alle aufgesprungen, wie von der Macht, welche in Tifls Kehle steckte, elektrisiert. Wie reich begabt war dieses »unser Kind«! Und welcher Text war es, der dem Liede unterlag? Folgender:

»Die schönste Blume auf der Welt
Stand morgens an des Nachbars Zelt.
    Da kam der Tag im goldnen Licht
    Und küßte fromm ihr Angesicht.
Kaum glaubte ich dem Sonnenschein:
Das konnte nur ein Märchen sein.

Die schönste Blume auf der Welt
Stand abends an des Nachbars Zelt.
    Da kam die Nacht im Mondeslicht
    Und küßte fromm ihr Angesicht.
Kaum glaubte ich dem Mondenschein:
Das konnte nur ein Märchen sein.

Die schönste Blume auf der Welt
Steht nun bei mir in meinem Zelt.
    Wer kommt nun jetzt mit seinem Licht?
    Wer küßt nun fromm ihr Angesicht?
Wer geht bei uns nun aus und ein?
Das muß erst recht das Märchen sein!«

Das also war ein Liebeslied! Ich lasse es ohne Kommentar, denn es redet seine eigene Sprache!

Als der letzte Ton verklungen war, ertönten von allen Seiten laute Achsant- und Jagadarufe.

»Nun, Effendi, kann ich singen?« fragte er.

»Fast noch besser, als du reiten kannst,« antwortete ich.

»Und waren nicht gleich alle stumm?«

»Alle!«

»Ja; ich singe über alle weg und reite an allen vorbei. Das wirst du sehen, wenn wir Wettrennen haben. Unsere Stute wird die Siegerin sein. Sie steht dort an der Tempelecke.«

»Wie kommt das? Ich denke, Kara ist mit ihr heimgeritten?«

»Ja; aber seine Mutter ist dann auf ihr herübergekommen. Siehst du, daß sie dir winkt?«

Hanneh forderte mich allerdings mit der Hand auf, zu ihr zu kommen. Ich leistete natürlich Folge und erlöste dadurch den Pedehr von der Verpflichtung, bei ihr zu bleiben. Sie ging mit mir nach meiner Ecke, wo wir uns neben einander niedersetzten.

»Hast du schon einmal so herrlich singen gehört wie heute, Sihdi?« fragte sie.

»Wir haben im Abendlande wunderbare Musik und sehr berühmte Sänger und Sängerinnen,« antwortete ich.

»Aber wir nicht. Du kennst doch unsere arabische Musik. Ich habe sie bisher für unvergleichlich gehalten. Aber was ist sie gegen diese hier! Wir schreien, quieken und jammern; das nennen wir singen. Hier aber habe ich zum ersten Male in meinem Leben singen gehört!«

»Wirklich?«

»Ja.«

»Besinne dich, Hanneh!«

»Worauf? Ich weiß nichts.«

»Ich habe im Lager der Haddedihn einige Male deutsche Lieder gesungen, um euch zu zeigen, wie sie klingen. Nun sagst du, du habest nie singen gehört!«

Es machte mir heimlich Spaß, sie in Verlegenheit zu bringen. Sie errötete zwar, war aber doch schnell mit der Antwort da:

»Das hatte ich vergessen. Auch ist es ein Unterschied, ob nur einer singt oder mehrere.«

»Tifl sang auch allein!«

»O, der! Nimm es mir nicht übel, Effendi, aber an den kommst selbst du noch lange nicht. Er selbst ist ein so langer, langer Mensch. Aber seine Stimme ist noch tausendmal länger als er. Sie reicht, so weit das ganze Thal sich dehnt!«

»Es scheint sehr praktisch zu sein, die Stimme nach ihrer Länge zu beurteilen!«

»Natürlich ist das richtig! Thust du das nicht auch? Denke doch, wenn vorhin die beiden Lieder hier im Tempel gesungen wurden! Sie sind aber so lang, daß ich sie noch jetzt in meinen Ohren und in meinem Herzen klingen höre.«

»Wo warst du, als man sang?«

»Halef schlief fest; da brauchte ich nicht ganz in seiner Nähe zu sein. Ich setzte mich an deine Säule, wo ich dich bei unserer Ankunft sah. Da war es plötzlich, als ob sich der Himmel öffne und als ob die heiligen Malaïka ihre Stimmen hören ließen, um Allahs Herrlichkeit zu preisen. Da faltete ich die Hände, denn es war jemand in mir, der beten wollte. Wer es war, das weiß ich nicht; aber ich fühlte es, daß er auch vom Himmel ist. – Was haben dort die Perser mit dem Pferde?«

»Weißt du, warum sie gekommen sind und wie wir sie empfangen haben?«

»Ja. Kara erzählte es mir. Jetzt stehen sie dort bei der ›Sahm‹ des Ustad. Sie sprechen von ihr. Tifl kommt. Sie reden mit ihm. Er thut so stolz. Jetzt lacht er über sie. Sie scheinen sich zu ärgern. Er wird das Pferd gelobt haben; sie aber tadeln es.«

So schien es allerdings zu sein. Sie waren vom Waldesrande herabgekommen, denn sie fühlten wohl das Bedürfnis, nicht so allein für sich zu bleiben. Nun beschäftigten sie sich mit der »Sahm«, deren Verteidiger Tifl machte. Das dauerte längere Zeit. Sie schienen nicht bloß über das Pferd, sondern auch über andere Dinge mit ihm zu sprechen. Dann suchten sie den Pedehr auf, mit welchem sie einige Zeit verhandelten. Es schien wichtig zu sein, denn er schickte einen Boten zu den Aeltesten, um sie zusammenrufen zu lassen. Dann kam er zu mir.

»Effendi, die Dschemma wird gebildet. Ich bitte dich, mit beizuwohnen,« sagte er.

»In welcher Angelegenheit?«

»Der Blutrache wegen. Die Perser wollen fort. Das ist uns lieb. Darum bin ich auf ihren Wunsch, jetzt in Kürze zu verhandeln, eingegangen.«

»An welchem Orte wird es sein?«

»Da oben, wo sie gesessen haben. Bring auch unsere Freundin Hanneh mit.«

»Mich?« fragte sie. »Was hat ein Weib in eurer Dschemma und mit dieser Blutrache zu schaffen?«

»Weil ein Weib, die Frau des Scheikes der Kalhuran, mit in sie verstrickt ist. Wir möchten dich ersuchen, an ihrer Stelle zu sprechen. Kara Ben Nemsi wird sich ihres Mannes annehmen. Unser Ustad wollte es selbst tun; aber weil die Beratung so plötzlich kommt und er fortgegangen ist, um erst gegen Abend wiederzukommen, kann ich ihn nicht damit belästigen.«

Als er fort war, sagte Hanneh:

»Ist das nicht sonderbar, Sihdi, daß man mich zu der Versammlung der Aeltesten ruft?«

»Es ist noch eine viel größere Ehre für dich, als für mich, Hanneh; du kannst stolz auf sie sein!«

»Ich bin es auch. Was sind dieses Dschamikun doch für seltene Menschen! Ich werde für die Frau des Scheikes sprechen, als ob ich sie selbst sei. Ich habe sie gesehen und mit ihr gesprochen. Sie heißt Amineh und soll mit meiner Verteidigung zufrieden sein!«

»Da will ich dir eine wichtige Mitteilung machen, meine liebe Hanneh. Ich halte nämlich diesen Bluträcher nicht für einen Moslem. Wahrscheinlich ist auch sein Sohn keiner gewesen. Es giebt zwei berühmte arabische Rechtslehrer, El Mohekkik und Minhadj, nach deren Aussprüchen man vorkommenden Falles entscheidet. Sie haben beide den Satz aufgestellt: Wenn ein Moslem einen Nichtmoslem tötet, so unterliegt er der Blutrache nicht.«

»O, das ist gut! Ich danke dir, Sihdi!«

»Du bist scharfsinnig. Vielleicht gelingt es dir, herauszubringen, ob er Muhammedaner ist oder nicht.«

»Laß mich nur machen! Werden seine Gefährten auch dabei sein?«

»Nein. Das wäre gegen die Regel.«

»So erlaube, daß ich vorangehe!«

»Wohin?«

»Zu ihm.«

»Aber Hanneh! Warum?«

»Das hörst du später. Er kennt mich nicht und weiß nicht, daß ich bei der Dschemma sein werde.«

Sie stand auf und ging. Dabei zog sie den Burko aus ihrem Ueberwurf und verhüllte mit ihm ihr Gesicht. Ich folgte ihr.

Ghulam el Multasim befand sich wegen der zu erwartenden Verhandlung in Unruhe. Er hatte sich von seinen Gefährten getrennt und war allein, um sich das, was er sagen wollte, zurechtzulegen. Hanneh richtete es so ein, daß sie an ihm vorüberkam. Ich sah, daß sie ihm ein Wort zuwarf. Er antwortete. Sie blieb stehen, nur kurze Zeit, um einige Bemerkungen mit ihm zu wechseln. Dann entfernte sie den Schleier vom Gesicht, nickte ihm zu und entfernte sich. Ich ahnte, warum: sie hatte gesiegt.

Nach einiger Zeit waren die Aeltesten beisammen. Sie setzten sich in einem Kreise nieder, in dessen Mitte der Pedehr sich niederließ. Ich mußte an seiner linken Seite Platz nehmen. Der Bluträcher erschien und stellte sich vor uns auf. Zuletzt kam Hanneh, unverschleiert. Der Pedehr wies ihr ihren Platz an seiner rechten Seite an. Als das der Multasim sah, rief er erstaunt aus:

»Ein Weib? Das kann ich nicht dulden!«

»Diese Frau ist das Weib von Hadschi Halef Omar, des Scheikes der Haddedihn,« entgegnete der Pedehr. »Du mußt es dir gefallen lassen, daß sie für Amineh spricht, die deinen Sohn erschoß! Wenn es dir nicht paßt, so kannst du gehen. In diesem Falle aber hast du auf alles zu verzichten. So will es das Gesetz.«

»Ich bleibe!«

»Nun wohl. So sei die Dschemma hiermit eröffnet. Du hast zunächst deine Anklage mit ihren Beweisen vorzubringen und dann deine Forderungen mit ihren Begründungen zu stellen. Ehe das geschieht, habe ich dich auf etwas aufmerksam zu machen, was für dich von größter Wichtigkeit ist. Wirst du Blut fordern oder den Preis?«

»Blut!« antwortete er, indem er mir einen bezeichnenden Blick zuwarf.

»Du bist persischen Glaubens?«

»Persischen? Ja!«

»So wird deine Blutrache nach schiitischen Gesetzen, und zwar nach den Auslegungen des Khalil behandelt werden müssen. Ich hoffe, daß du rechnen kannst?«

»Beleidige mich nicht!«

»Hast du das Blut berechnet?«

»Blut? Berechnet? Ich verstehe dich nicht.«

»Wie viele Personen sind getötet worden?«

»Eine.«

»Von wie vielen wurde sie getötet?«

»Von zweien.«

»Welchen Geschlechtes waren diese?«

»Ein Mann und ein Weib.«

»Gelten beide in Beziehung auf die Blutrache gleich?«

»Nein, das Weib halb. Was fragst du mich nach so bekannten Dingen!«

»Du wirst es gleich hören. Anderthalb Personen haben eine Person getötet. Nach Khalil gehört also jeder der beiden Täter nur zu drei Vierteilen deiner Rache. Das andere Viertel darfst du nicht berühren. Wenn du es verletzen solltest, bist du selbst der Rache verfallen. Das ist es, was ich dir vorher zu sagen hatte.«

Man sah dem Multasim an, daß ihm diese pfiffige, aber durchaus auf dem Gesetze beruhende Ausführung das Gleichgewicht störte. Solche Bruchteile lassen sich nur dann bezahlen, wenn der Preis, nicht aber Blut gefordert wird. Uebrigens war ich neugierig, ob er unsere unter vier Augen getroffene Verabredung erwähnen werde. That er das, so durfte er sich nicht an den beiden anderen rächen. Forderte er aber deren Blut, so war ich wieder frei. Seine nun zu erwartende Anklage mußte Licht in diese Sache bringen. Er öffnete bereits den Mund, um zu beginnen, da ergriff Hanneh vor ihm das Wort:

»Halt!« sagte sie. »Auch ich habe vorher ein Wort zu sagen. Nämlich nach den Auslegungen von El Mohekkik und Minhadj giebt es keine –«

»Maschallah!« unterbrach sie der Pedehr erstaunt. »Daß du so gelehrt bist, das ahnte ich nicht!«

Sie nickte mir lächelnd zu, antwortete ihm nicht und begann von neuem:

»Nach den Auslegungen von El Mohekkik und Minhadj giebt es keine Blutrache, wenn der Getötete kein Muhammedaner ist. Der tote Muhassil aber war ein Christ.«

»Beweise es!« fuhr der Multasim sie zornig an.

»Bist du, sein Vater, ein Moslem?«

»Ja.«

»Du hast vorhin gesagt, du seist armenischer Christ!«

»Ich scherzte.«

»So hast du dein Leben verwirkt!«

Sie erhob sich, zeigte auf ihn und fuhr im strengsten Tone fort:

»Ich ging vorhin an diesem Lügner vorüber und würdigte ihn, von meinen Lippen gegrüßt zu werden. Er dankte. Ich hatte eine Frage. Er antwortete. Da war ich so höflich, mich zu entschuldigen, daß ich durch den Schleier zu ihm sprechen müsse, weil er kein Dschamiki, sondern ein Moslem sei. Da sagte er, ich brauche das nicht zu thun, denn er sei armenischer Christ. Das war die Wahrheit. Sie entfuhr seiner Unbedachtsamkeit. Als Muhammedaner hat er sich uns jetzt nur vorgelogen!«

Und sich nun direkt zu ihm kehrend, fügte sie hinzu:

»Wähle! Bist du Christ, so giebt es keine Rache. Bist du ein Anhänger des Propheten, so habe ich dir, weil du mich belogst, mein Angesicht gezeigt, und diese Schande schreit nach deinem Blute. Du wirst diesen Berg nicht lebend verlassen. Ich rufe meinen Sohn, der die Ehre seiner Mutter wieder herstellen und dich niederschießen wird wie einen Schakal. Also, wähle!«

Der Multasim war, wie schon einmal gesagt, ein Feigling. Hanneh stand so außerordentlich drohend, und er wußte nicht, daß ihr Sohn jetzt gar nicht hier sei. Die Situation kam ihm bedenklich vor. Das Leben war ihm lieber als die Ehre, und so antwortete er:

»Ob ich Christ oder Muhammedaner bin, das ist jetzt gleich. Ich habe dafür gesorgt, daß mein Sohn gerächt wird. Aber wie ist’s? Wäre ich ein Christ, so hätte ich auf Blut zu verzichten. Ob aber auch auf den Blutpreis? Wer ist so ehrlich, es zu sagen?«

»Wir sind alle ehrlich!« erklärte der Pedehr. »Nicht Blut, aber den Preis hättest du zu bekommen.«

»Wie hoch?«

»Das hätten wir hier zu besprechen. Aber bedenke: Die Peitsche deines Sohnes hat das Blut des Scheikes der Kalhuran vergossen, der ein freier Beduine ist!«

»Dafür hat er sich das Leben meines Sohnes genommen!«

»Aber Peitschenhiebe kosten zweimal so viel wie ein Leben, wenn nicht in Blut bezahlt wird. Wir haben also noch den Preis eines Lebens zu fordern!«

»So fordert es!« lachte der Perser. »Ich verlange als Blutpreis die Stute des Ustad. Das ist so billig, daß ihr selbst euch darüber wundern werdet.«

»Du willst also nicht, daß Leben gegen Leben sich aufhebe?«

»Nein! Und ich biete euch meinen Turkmenen, den ihr alle gesehen habt, als Preis für die Schläge an. Ich hörte, daß bei euch nächstens Wettrennen sei. Wenn wir einig werden, so komme ich. Die beiden Pferde mögen mit einander laufen. Der Sieger rettet das seine und gewinnt das andere dazu.«

Das war ein überraschender Vorschlag. Aber ich durchschaute ihn, obgleich seine Worte friedlich klangen. Er hielt sein Pferd für der Stute überlegen. Er war überzeugt, daß er diese gewinnen werde. Damit wäre dann die Rache beigelegt gewesen, und unsere geheime Abmachung hätte nicht zu gelten. Aber dieser Mensch wollte die Stute haben und auch mich. Das Wettrennen gab ihm Gelegenheit, wiederzukommen, also in meiner Nähe zu sein. Wer weiß, was er plante. Ich hatte vorsichtig zu sein.

Der Pedehr war ein energischer Mann. Er bedachte sich nicht lange. Pferd gegen Pferd, das elektrisierte auch ihn, wie uns alle. Die Stute »Sahm« war zwar nicht sein eigentliches Eigentum; aber er kannte den Ustad, und er kannte noch einen, den er rief. Dieser eine war – Tifl. Als er kam, fragte ihn der Pedehr:

»Hast du dort den turkmenischen Fuchs gesehen?«

»Ja,« antwortete »das Kind«.

»Er soll zum Rennen mit unserer ›Sahm‹ laufen.«

»Darüber wird meine Pekala lachen!«

»Meinst du das wirklich?«

»Ja. Ich lache auch!«

Da fragte der Multasim in höhnischem Tone:

»Ist dieser lächerliche Mensch euer Sachverständiger? Wird etwa er die Stute reiten?«

»Wer sie reitet, ist gleichgültig. Es geht nicht Reiter gegen Reiter, sondern Pferd gegen Pferd!«

Da schien dem Perser ein weiterer Gedanke zu kommen. Er sah eine Weile sinnend vor sich nieder und sagte dann:

»Ich setze jedes Pferd, welches ich mitbringe, gegen jedes Pferd, welches ihr ihm entgegenstellen könnt. Gehst du darauf ein?«

»Welche Bedingung stellst du da?«

»Erstens, daß ihr gezwungen seid, mitzumachen. Und wenn ich euch zehn Pferde brächte, so hättet ihr zehn Pferde gegen sie zu setzen.«

»Und zweitens?«

»Und zweitens verlange ich, daß jedes siegende Pferd das besiegte gewinnt.«

»Du bist sehr kühn!«

»Das sagst du, weil du dich fürchtest. Ich bin meiner Sache so gewiß, daß ich sogar fordern möchte, außer den Pferden auch Kamele stellen zu können.«

Da ging ein leises Lächeln über das Gesicht des Pedehr. Er streifte mich mit einem schnellen, fragenden Blicke, den der Perser nicht bemerkte, und fragte diesen, nachdem ich mit einem ebenso unbemerkten Kopfnicken geantwortet hatte:

»Hast du vielleicht die gefährliche Absicht, uns um unser ganzes Vollblut zu bringen?«

»Ja, die habe ich! Ich werde dafür sorgen, daß euch nie wieder beikommen kann, euch mit der Kavallerie eines Muhassil zu messen! Wenn ihr Mut habt, so schlagt in meine Hand! Wo nicht, so seid ihr mir verächtlich!«

»Deine Verachtung ist dein Eigentum, von welchem dich kein Mensch befreien wird. Du wirst sie also wohl für dich behalten müssen!«

»Brülle, wie du willst, alter Löwe; beißen aber kannst du nicht. Nimmst du die Wette an, so reiße ich dir auch noch die letzten Zähne aus!«

»Ich warne dich, Unvorsichtiger!«

»Und ich lache!«

»So sei es denn! Bring also auch Kamele! Wir halten gegen alles, was du zum Wettlauf bringst. Aber es bleibe so, wie du gesagt hast: Es ist gleichgültig –«

»Wem die Tiere gehören!« fiel da der Multasim schnell ein. »Ihr könnt nicht verlangen, daß ich, der ich in der Stadt wohne und ein einzelner Mann bin, so viel Vieh besitze wie ihr!«

Er ahnte gar nicht, wie willkommen diese neue Bedingung dem Pedehr war. Dieser besaß die Klugheit, ein bedenkliches Gesicht zu zeigen; erklärte aber dann doch:

»Wenn ich hierauf eingehe, so kannst du ja das Vollblut von ganz Persien gegen uns zusammentreiben. Aber es sei! Die Besitzer und Reiter sind gleichgültig. Jedem Tiere, welches ihr bringt, muß von uns ein Gegner gestellt werden. Pferd gegen Pferd; Kamel gegen Kamel! Jedes kann gegen jedes laufen, so oft es dir oder uns gefällt. Und zuletzt die Hauptsache: Der Besiegte geht sofort in den Besitz des Siegers über!«

Da ging über das Gesicht des Multasim ein so triumphierender Ausdruck, als ob er eine schwere Schlacht geschlagen und gewonnen habe. Er hielt dem Pedehr die Hand hin und rief aus:

»Angenommen! Endlich, endlich habe ich euch! Schlag ein!«

»Hier ist sie,« sagte der Pedehr, indem er ihm die seine gab. »Du lachst. Ich lache nicht. Die Sache ist mir ernst. Es steht mehr, viel mehr auf dem Spiele, als du denkst.«

»Wo? Doch nur bei euch!«

»Irre dich nicht! Wir haben zwar nur gesagt Pferd gegen Pferd und Kamel gegen Kamel; aber wer die sind, die sich eigentlich und in Wahrheit hinter diesen Tieren gegenüberstehen, das scheinst du nicht zu wissen!«

»Nicht? Da sage ich dasselbe Wort zu dir: Irre dich nicht! Die Wette ist fertig, denn du bist der Scheik und hast eingeschlagen. Es kann nichts rückgängig gemacht werden, und darum habe ich nicht notwendig, vorsichtig zu schweigen, wenn du mir mit leeren Drohungen und Warnungen, die mich einschüchtern sollen, kommst. Du sagst, ich wisse nicht, wer sich gegenübersteht. Ich weiß es nur zu gut; du aber weißt es nicht. Soll ich es dir etwa sagen?«

»Du stehst ja hier, um zu sprechen. Selbst wenn ich dir das Wort verbieten könnte, würde ich es doch nicht thun.«

»Wohlan; ihr sollt es hören! Aber es genügt mir nicht, es nur euch zu sagen. Ich möchte, daß es jeder Dschamiki zu hören bekomme!«

»Das wird geschehen. Was hier gesprochen wird, erfährt der ganze Stamm.«

»Und ich will, daß meine Gefährten dabei sind, wenn ich spreche. Sie sollen euch die Wahrheit aller meiner Worte bekräftigen.«

»So sei dir erlaubt, sie herbeizurufen, obgleich sie in der Dschemma der Dschamikun nichts zu suchen haben!«

»Ich rufe sie nicht, sondern ich hole sie!«

»Auch das sei dir gestattet!«

»Erlaubt? Gestattet? Du redest ja außerordentlich hoch herunter! Nimm dich in acht! Höre erst, was wir dir sagen werden, und dann schau, ob du noch so hoch da oben stehst!«

Er entfernte sich. Da sahen wir, daß der Ustad wieder auf dem Festplatze angekommen war. Er sah uns hier versammelt und kam langsamen Schrittes zu uns herauf. Der Pedehr berichtete ihm, warum die Dschemma zusammenberufen und was in ihr gesprochen und beschlossen worden war. Er beendete seinen Bericht mit der Entschuldigung:

»Ich hätte dich fragen sollen, ehe ich über die ›Sahm‹ bestimmte. Wir würden in ihr unser bestes Pferd verlieren. Aber ich war überzeugt, deiner Zustimmung gewiß sein zu können.«

»So erleichtere ich dein Gewissen, indem ich dir sage, daß du recht gehandelt hast,« erklärte der Ustad.

»Ich danke dir! Der Multasim wird höchstwahrscheinlich mit den besten Vollblutpferden kommen, die er nur aufzutreiben vermag. Aber er hat in seinem kurzsichtigen Eifer nicht an unsere Gäste gedacht. Mit Assil Ben Rih, Barkh, Ghalib und unserer Sahm müssen wir ja siegen, denn ich zweifle nicht, daß sie mitlaufen dürfen werden.«

Er sah mich bei diesen Worten an. – Darum sagte ich:

»Das versteht sich ganz von selbst. Dschamikun und Haddedihn, diese beiden Namen klingen jetzt zusammen wie ein einziges Wort. Mag der Multasim bringen, was er will; er wird geschlagen werden. Ich kenne unsere Pferde!«

»Und ich meine zwei Hudschuhn!« fügte Hanneh rasch hinzu. »Was die Dschamikun für Kamele besitzen, das weiß ich nicht; aber so schnellfüßig und ausdauernd sie auch sein mögen, sie wurden hier im Gebirge geboren und auferzogen und können also unmöglich das leisten, was jedes meiner echten Bischari-Hudschuhn im Wettlaufe zeigen wird. Ich wette mit ihnen den ganzen Besitz der Haddedihn gegen jeden andern Preis!«

Der Ustad und der Pedehr sahen einander lächelnd an.

»Da hörst du es ja!« sagte der letztere. »Der Tag des Rennens wird noch interessanter werden, als wir zu ahnen vermochten. Der Tag deines Kommens! Auch in dieser Beziehung ein Siegestag für uns. Wir können ruhig sein. Schau hingegen die Perser dort! Wie erregt sie sind! Was ist in sie gefahren? Warum wünschte der Multasim überhaupt, daß sie hören, was er sagen will? Der Umstand, daß die Wette von uns angenommen worden ist, scheint ihn ganz verwandelt zu haben. Man sollte meinen, daß hinter ihr noch ganz andere, verborgene Absichten stecken! Vielleicht sind sie so unvorsichtig, sich zu verraten. Wer sich so benimmt, wie jetzt sie, bei dem ist nichts mehr von Bedachtsamkeit zu suchen.«

Die Perser zeigten jetzt allerdings ein ziemlich auffälliges Benehmen. Ihre bisherige Ruhe und Gemessenheit war verschwunden. Die Gruppe, welche sie bildeten, stand keinen Augenblick still. Die einzelnen Personen sprachen und quirlten durcheinander, als ob die Geister der Besessenen in sie geraten seien, von denen das Evangelium erzählt. Es mußte ein für sie sehr wichtiger Gedanke sein, der sie gar nicht daran denken ließ, daß der Mensch sich in allen Lebenslagen zu beherrschen habe.

Und ihre jetzige war doch eine solche, daß sie sich wohl hätten hüten sollen, sich in dieser Weise auffällig zu benehmen. Noch während sie zu uns kamen, bemerkte man an ihnen nichts von der Besonnenheit, mit welcher die Beisitzenden der Dschemma ihnen entgegenblickten.

Der Ustad hatte sich nicht zu uns gesetzt, sondern sich unter einen nahen Baum gestellt, wo er alles hören konnte. Er schaute in die weite Ferne. Für die Perser hatte er kein Auge.

»Hier sind wir!« begann der Multasim. »Wir haben beschlossen, daß ein anderer euch das sage, was ich euch sagen wollte. Vorher aber habe ich mich nach den Reitern meines Sohnes zu erkundigen. Wo sie sich befinden, das hörte ich von dem langen Menschen, der sich Tifl nennt; aber ich konnte ihm das unmöglich glauben. Darum frage ich jetzt: Wo sind diese Leute?«

»Drüben im hohen Hause,« antwortete der Pedehr.

»Als Gäste?«

»Nein.«

»Als was sonst?«

»Als Gefangene.«

»Wer hat sie gefangen genommen?«

»Ich!«

»Mit welchem Rechte?«

»Mit dem Rechte, welches uns der Schah-in-Schah verlieh: Wer unser Gebiet mit den Waffen in der Hand betritt, ohne unsere Erlaubnis zu besitzen, ist uns verfallen.«

»Wir sind auch bewaffnet!«

»Ich sehe es. Auch ihr habt das Gebot des Beherrschers übertreten, und ich könnte mit euch thun, was mir beliebt. Es wird ganz auf euer weiteres Verhalten und auf meine Entscheidung ankommen, ob ich euch fortreiten oder einsperren lasse.«

»Das wagst du nicht!« rief der Perser aus.

»Ich wage nie etwas, denn es kommt mir niemals bei, irgend etwas Unüberlegtes zu thun. Ich kann euch alles, was ihr bei euch habt, abnehmen. Auch eure Pferde sind von dem Augenblicke, an welchem ihr einen der Pässe dort im Osten hinter euch hattet, unser Eigentum, unsere rechtmäßige Beute. Du siehst, wie gütig wir handelten, indem wir auf die Wette eingingen, durch welche wir uns selbst genötigt haben, etwas, was uns schon so gehört, noch extra zu gewinnen!«

»Hiervon sprechen wir jetzt nicht. Ich besitze dein Wort, und das wirst du nicht brechen!«

»Gewiß nicht! Aber ihr selbst könnt es sehr leicht durch ein unangemessenes Verhalten brechen. Ich warne euch!«

Der Multasim wurde verlegen. Er sah zu seinen Gefährten hinüber, als ob er sich aus ihren Augen neuen Mut holen wolle, und fuhr dann fort:

»Wann giebst du diese Leute wieder frei?«

»Wann es mir gefällt.«

»Ich fordere eine bestimmte Antwort!«

Da schaute der Pedehr ihm mit einem großen, langen Blicke in die Augen und sagte dann:

»Du forderst? Und in diesem Tone? Ich warne dich zum zweitenmal! Weißt du, was das bedeutet? Die dritte Warnung bricht mein Wort. Dann seid auch ihr dem Rechte verfallen, welches euch so außerordentlich verhaßt zu sein scheint. Sprich also höflich, sage ich dir! Du bist nicht hier, um Steuern einzutreiben, sondern wir sind hier versammelt, um euch den Hochmut auszutreiben! Ich behalte diese Leute nicht in unserm Duar. Ich werde sie freigeben, aber genau zu der Zeit und in der Art und Weise, wann und wie es uns gefällt.«

»Und ihr Eigentum?«

»Sie haben keines.«

»Es gehört dem Schah!«

»Das ist nicht wahr. Dein Sohn hat sie ausgerüstet. Sie waren nicht Soldaten, sondern seine feilen Schergen.«

»So gehörte es ihm und jetzt mir, der ich sein Erbe bin!«

»Es gehört den armen Menschen, denen er es abgenommen hat. Ich werde nach ihnen forschen, um es ihnen wiederzugeben. Darauf gebe ich dir auch mein Wort. Und damit ist diese Angelegenheit erledigt!«

Damit hätte sich der Multasim gewiß nicht beruhigt, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, die dritte Warnung zu vermeiden. Er machte eine entschuldigende Handbewegung zu den andern Personen hin und sagte dann, sich wieder zu dem Pedehr wendend:

»Wir beschlossen vorhin, die Gefangenen mit uns zu nehmen, wenn wir fortreiten. Giebst du sie uns mit?«

»Nein.«

»Besinne dich! Giebst du sie uns mit?«

»Nein!«

»Denke an die Folgen! Jetzt sage ich: Ich warne dich! Giebst du sie uns mit?«

»Zum drittenmal: Nein! Nun gut! Es ist bei den Dschamikun nicht gebräuchlich, Raubtiere gegen Menschen loszulassen!«

»So bin ich mit dir fertig. Nun wird ein Anderer sprechen!«

Er wollte diesem Anderen Platz machen; da aber fiel der Pedehr in entschiedenem Tone ein:

»Nicht ohne daß ich es erlaube! Du warst zur Dschemma geladen und durftest also reden.«

»Aber du gabst zu, daß ich meine Gefährten holte!«

»Daß sie zuhören, aber nicht, daß sie sprechen sollten! Ich bin es, der die Dschemma leitet; ich allein habe also zu bestimmen, wer sprechen darf und wer nicht. Befehlen lasse ich mir nichts. Einem höflichen Worte aber wird mein Ohr geöffnet sein.«

»So bitte ich dich, zu erlauben, daß einer meiner Freunde euch das sage, was uns eigentlich hierher zu euch geführt hat.«

»Die Blutrache.«

»Nein. Sie kam hinzu. Die eigentliche Ursache, daß wir zu euch wollten, ist eine andere. Unser Weg führte uns durch das Gebiet der Kalhuran. Ich schlug grad diesen ein, um meinen Sohn mit aufzusuchen. Ich fand nur seine Leiche, wenige Stunden, nachdem er ermordet worden war. So bin ich also auch als Bluträcher da. Die eigentliche Ursache werdet ihr von diesem Mirza hören, dessen Worte bei uns als Befehle gelten.«

»Wie heißt er?«

»Ahriman Mirza.«

»Den kennen wir nicht.«

»Ich weiß es, aber ihr werdet ihn kennen lernen. Er ist von kaiserlichem Geblüt, und seine Macht geht über das ganze Reich.«

»Wie kommt es da, daß wir uns seines Namens nicht erinnern. Seine Abstammung gilt hier im Lande der Dschamikun nicht mehr, als der Stammbaum jedes anderen Unterthanen des Beherrschers. Er steht nicht höher, als ich stehe und als auch unser Tifl steht, über den du spottetest. Sein Wort hat keinen größeren Wert, als jedes andere Wort, welches von uns in Erwägung gezogen wird. So mag er denn vortreten und sprechen.

Wir werden ihn hören und ihm dann die Antwort geben, welche wir für die richtige halten.«

Da trat der Multasim zurück und der Andere vor. Ich hatte bisher nicht auf die Einzelnen, also auch nicht auf ihn geachtet. Jetzt sah ich ihn genau an.

Was zunächst seinen Anzug betrifft, so bestand dieser aus roten Schnürstiefeln mit goldenen Zügen, einer ebenso roten, weiten, persischen Hose, vorn und an den Seiten mit breiten, auffallend reichen Goldstickereien versehen, einer roten, mit silbernen Tressen fast ganz bedeckten, langen Weste, einer braunen Ueberjacke mit eng aneinanderstehenden Knöpfen, deren Brillantsteine doch ganz unmöglich echt sein konnten, und weit herabfallenden, orientalischen Schlappärmeln, kostbar rotseiden unterfüttert, und einer Lammfellmütze jener seltenen Art, welche von ungeborenen, lebendig aus der Mutter geschnittenen Lämmern stammt. Sie hatte vorn eine Agraffe, deren Diamant, wenn er nicht Bergkrystall gewesen wäre, gewiß ein Fürstentum gekostet hätte. Waren die Tressen und Stickereien vielleicht auch nicht echt? Um das bestimmen zu können, mußte man sie genauer betrachten, als jetzt möglich war.

Dieser Mann hing fast ganz voller Waffen. Es giebt ja Charaktere, welche schon durch den Anblick einer so überschwenglichen Arminierung imponieren wollen. Ein gebogener Säbel und eine breite, federnde Tigerklinge an der Seite. Im strotzenden Gürtel ein Messer, einige Dolche und mehrere Pistolen. Querüber von der linken Schulter nach der rechten Hüfte ein gefüllter Patronengürtel. In der Hand eine fast übermäßig lange, orientalische Flinte mit rotgelb glänzendem Bronzelauf. Die Schäfte, Griffe und Scheiden dieser Waffen brillierten in blitzenden Facetten. Selbst der Handknauf der tief in das Fleisch schneidenden, stahlharten Krokodilhautpeitsche, welche zum handlichen Gebrauche neben dem Säbel hing, flimmerte blutigrot, als ob er aus lauter dunklen Rubinen zusammengesetzt sei.

Und nun die Person selbst:

Habe ich jemals einen schönen Mann gesehen, so war es dieser hier! Hoch und schlank gewachsen, doch stark und voll gebaut, ließ der edel geformte Körper ungewöhnliche Kraft und große Gewandtheit ahnen. Und dieser Kopf! Er kam mir bekannt vor. Ich besann mich. Ich hatte einmal ein Bild gesehen: Loki mit dem herrlichen Heimdall um Friggas Halsband kämpfend. Der Künstler hatte es verstanden, dem Kopfe und den Zügen Lokis jene dämonisch verführende Schönheit zu geben, welche Seligkeit verspricht und doch aber nur Verderben giebt. Und nun ich diesen Ahriman Mirza vor mir stehen sah, war es mir, als ob er jenem Maler als Modell gesessen haben müsse. Ganz besonders deutlich war ihm die Ueberzeugung anzusehen, daß er ein schöner Mann sei, dem niemand widerstehen könne. Aber das »Licht« seiner Augen stand nicht gerade, sondern schief; das willensstarke Kinn zog das Lächeln des Mundes nieder, und die begehrlichen, zum Hohne geneigten Lippen waren voller und breiter, als sich mit dem übrigen Gesicht vertrug.

Und seine Stimme! Kraftvoll und wohllautend, der feinsten Schattierung, der unwiderstehlichsten Ueberredung fähig. Aber plötzlich zischend scharf, schrill, widerlich rauh. Es war die Stimme eines Verführers unter zweien, aber auch eines grausamen Kommandanten unter vielen!

Als er stolz und hochaufgerichtet vor uns stand und aller Augen auf sich ruhen sah, zog er einen der Dolche aus dem Gürtel und steckte ihn vor sich in die Erde. Ich wußte sehr wohl, was das bedeutete, schnellte mich aber doch, der augenblicklichen Eingebung folgend, hin zu ihm und zog den Dolch wieder heraus, um ihn zu betrachten. Sofort riß er ein Pistol hervor und richtete es auf mich. Der Hahn knackte.

»Du nimmst den Kampf auf?« fragte er drohend.

»Nein,« antwortete ich.

Wir sahen einander in die Augen. Es war mir, als ob wir noch öfters so vor einander stehen würden. In den seinen lag der Haß sprungbereit. Mein Blick war kalt; er verriet mich nicht. Da ließ er die Waffe sinken, nahm die verächtlichste Miene an, die ich jemals gesehen habe, und sagte:

»Ich weiß, du bist jener Dschermane, der mit dem Scheik der Haddedihn im Orient spionieren geht! Aber du kennst ihn nicht. Du kennst nicht einmal seine bekanntesten Gebräuche. Wenn ein Feind zum Feinde kommt, um mit ihm zu reden, so sticht er die Klinge seines Messers in die Erde, um anzudeuten, daß die Feindschaft ruht, so lange gesprochen wird. Dasselbe meinte auch ich. Du Unerfahrener hast mich nicht verstanden. Ich konnte dich niederschießen, wenn ich wollte. Ich habe dich aber begnadigt. Doch nicht auf lange Zeit. Sofort wieder in die Erde mit dem Chandschar! Sonst schieße ich!«

Ich bückte mich und steckte ihn genau an seine vorige Stelle. Ich hatte gesehen, wovon ich mich hatte überzeugen wollen. Dieser Dolch glich auf das Haar dem Chandschar, den ich in Amerika damals von Mirza Dschafar als Geschenk bekommen hatte. Beide mußten unbedingt aus der Hand eines und desselben Waffenschmiedes hervorgegangen sein. Zwischen beiden mußte es irgend eine innige Beziehung geben, die ich aber nicht kannte. Und zwischen meinem Freunde Dschafar und diesem Ahriman Mirza, mußte irgend ein Verhältnis liegen, von dem ich jetzt, in diesem Augenblicke, zu ahnen wagte, daß es für mich von der schwerwiegendsten Bedeutung sei. Es verstand sich ganz von selbst, daß der Perser nicht erfahren durfte, weshalb ich nach dem Messer gegriffen hatte. Mochte er mich immerhin für einen unerfahrenen Menschen halten! Es gewährt ja stets nur Vorteil, vom Feinde unterschätzt zu werden.

Als das Messer wieder an seinem Platze war, erklang die Stimme des Persers höhnisch:

»Ein Glück für dich, daß du mir gehorchst! Wahrscheinlich wirst du dich noch oft so voller Angst, wie jetzt, zu fügen haben!«

Ich gestehe, daß es mich bedeutende Selbstüberwindung kostete, ihm nicht in das vom Spotte so schnell verunschönte Gesicht zu lachen. Aber um der anwesenden Dschamikun willen war ich gezwungen, doch wenigstens eine Antwort zu geben, und so sagte ich in ruhigem Tone:

»Ich habe nicht dir, sondern dem Gebrauche gehorcht. Ist dieser Chandschar dein Eigentum?«

»Wem sollte er sonst gehören!«

»Und kennst du ihn?«

»Frag nicht so thöricht!«

»Ist der ein Thor, der an Märchen glaubt?«

»Wird vielleicht in ›Tausend und eine Nacht‹ von diesem Chandschar erzählt?« lachte er übermütig auf.

»Nein. Aber in ›Tausend und ein Tag‹ ist von einem ähnlichen die Rede, der niemals tötet, obgleich jeder Stich

durch Leib und Seele geht. Der deinige ist es nicht. Das habe ich gesehen.«

»Das glaube ich wohl! Er ist kein Märchendolch. Sieh zu, daß du seine Schärfe nicht vielleicht einmal kennen lernst!«

Ich kehrte an meinen Platz zurück. Der ganze Vorgang war den Dschamikun ein Rätsel. Hanneh sah mich fragend an. Sie kannte mich und ahnte also, daß ich nicht ohne guten Grund gehandelt hatte. Der Ustad lehnte am Stamme des Baumes und sah nicht her. Er kannte meinen Chandschar. Hatte er den des Persers gesehen? Wenn ja, so aber wohl nicht deutlich. Aber er mußte sich doch einen Grund denken, daß ich nach dem Dolche gegriffen hatte! Sein Gesicht war still. Es verriet kein Wort von dem, was er sich dachte.

Nun, nachdem diese kleine, unerwartete Scene vorüber war, begann Ahriman Mirza zu sprechen. Er sah uns dabei nicht an. Auch er schaute hinaus in das Weite. Giebt es jenseits des Horizontes Punkte, an denen Gedanken zusammentreffen können oder gar zusammentreffen müssen? In welcher Ferne lag da wohl die Stelle, an der sich beides zu vereinen hatte: Das, was der Ustad dachte, und das, was der Mirza sprach? Das letztere klang, als ob er es sich selbst schon tausendmal vorgesprochen habe und auch noch tausendmal vorsprechen werde. Er konnte es auswendig, wie die Engel ihr Halleluja singen und die Teufel ihr Dschehenna brüllen. Er sagte:

»Unser Reich lag in Frieden. Der Schah-in-Schah herrschte, und wir thaten, was uns beliebte. Der Schah war streng, und wir waren noch strenger als er. Wir standen uns gut dabei. Das Volk gehorchte uns mehr als ihm, denn es sah uns, ihn aber nicht. Es wohnten nur Wenige in der Nähe seines Thrones. Wir setzten seine Diener in ihre Aemter und geboten ihnen, wie sie ihm zu dienen hätten. Sie ehrten ihn in Worten, uns in Werken. Dabei dachte das Volk, daß es glücklich sei. Da kamen fremde Menschen, mit ihrer längst vergessenen, vergrabenen Lehre von der Liebe. Sie erzählten von Isa Ben Marryam, der zwar gestorben, doch wieder auferstanden sei. Sie sprachen nichts als nur von Frieden und Versöhnung, von Gnade und Barmherzigkeit. Sie zogen predigend durch das Land und kamen auch zu uns, um uns, wie sie sagten, zu bekehren. Schon glaubten wir, daß sie Propheten seien, die uns durch die Macht ihrer Liebe zwingen würden, den Platz zu räumen und dem Volke den Weg zum Herrscher freizugeben. Da schauten wir sie uns an. Wir verglichen ihre Worte mit ihren Werken. Wir sahen, für wen die Worte, und für wen die Werke waren. Wir wurden wieder ruhig, denn sie glichen uns. Sie hatten nichts in das Land gebracht, als nur einen andern Namen. Sie hatten unsere Strenge in ihre Liebe umgetauft. Sie sprachen vom Frieden und bekämpften einander selbst. Sie lehrten die Versöhnlichkeit und entzweiten sich untereinander doch immer mehr. Sie predigten von der Gnade, verziehen einander aber nie. Sie verkündeten Barmherzigkeit und versagten einander des allerärmsten Bettlers Brot. Da sahen wir Strengen einander an, lachten und sagten: ›Das sind Leute, die wir brauchen können! Ihre Lehre ist uns ungefährlich. Nach ihren Worten zwar hat Isa Ben Marryam die Welt erlöst; nach ihren Thaten aber kann er kein Erlöser sein, da er nun schon seit zweitausend Jahren als Heiland bei und in ihnen lebt, ohne ihren gegenseitigen Haß in Liebe verwandeln zu können!‹ So sagten wir und ließen sie uns ruhig dienen, wie uns noch niemand gedient hatte. Unsere Herrschaft war von ihnen nicht erschüttert sondern nur befestigt worden. Ja, wir konnten nur wünschen, daß diese Religion des in der Liebe versteckten Hasses ewig dauern möge, denn da war in alle Unendlichkeit hinein der Schah-in-Schah nur dem Namen nach ein Herrscher, die Macht aber hatten wir!«

Als Ahriman Mirza so weit gekommen war, hielt er inne. Er schaute zu dem Ustad hinüber, in dessen Gesicht sich eine auffällige Veränderung vollzogen hatte. Der Herr des »Hohen Hauses« hatte seinen Blick aus der Ferne zurückkehren lassen. Seine Hände lagen jetzt gefaltet ineinander. Betete er? Wenn er es that, so konnte es nur ein Gebet des Dankes sein, welches er still und unhörbar zum Himmel sandte, denn seine ehrwürdigen und doch so jugendlichen Züge wurden von dem Ausdrucke einer Freude verklärt, die sich auf keinen irdischen Gegenstand beziehen konnte. War ihm dort, wohin er geschaut hatte, ein Blick in jene Welt geöffnet worden, in welcher tausend Jahre sind wie eine kurze Erdenstunde? War ihm dort die Erkenntnis aufgegangen, daß in den beiden schnell verflogenen Erdenstunden, welche seit Christi Kreuzestod verflossen sind, doch auch noch Anderes geschehen ist, als Ahriman Mirza zu erwähnen für gut befand? Fast schien es so, denn indem er jetzt seine Hände trennte, hob er erst den einen und dann den andern Arm empor, breitete beide aus, als ob er das ganze Thal seiner geliebten, treuen Dschamikun mit allem, was darüber draußen lag, umfassen wolle, um es segnend an das Herz zu drücken, und sprach:

»Und doch und doch wird einst die Zeit erscheinen, in der alle irdische Kreatur erkennen muß, daß Isa Ben Marryam im Geist und in der Wahrheit ihr Erlöser ist! Er ging voran. Wir haben ihm zu folgen. Ihm war die Nächstenliebe gleich der Gottesliebe. Wer auch nur einen einzigen Stein aufhebt, um seinen Bruder mit ihm zu treffen, der steinigt seine eigene Seligkeit und wird gerichtet werden! Ben Marryam nahm den reuigen Verbrecher vom Pfahl des Kreuzes weg mit sich in Chodehs Paradies. Nur wer sein Kreuz auf sich genommen hat, um, was er that, zu büßen, wird, wenn er stirbt, des Heilandes Worte hören: ›Wahrlich, ich sage dir, du wirst noch heute mit mir in meinem Himmel sein!‹ Ben Marryam war so göttlich groß, daß er sogar die Teufel liebte. Er fuhr zu ihnen nieder in die Hölle, um sie zum Thore jener Zeit zurückzuführen, in der sie Chodehs gute Engel waren –«

Bis hierher hatte Ahriman Mirza den Ustad mit seinen Worten kommen lassen. Jetzt aber glühten seine Blicke zornig auf wie Funken, die aus dunkeln Kohlen sprühen. Sein diabolisch schönes Gesicht verzerrte sich zur Häßlichkeit, und kreischend, scharf und schrill klang seine Stimme:

»Aber die Teufel lachten über ihn und seine selige Zeit! Sein hoher Schah-in-Schah lebt in der Menschheit Worten, doch nicht in ihren Thaten. Wer ist der wahre Herr der Erdenwelt? Der, den ihr Satan nennt! Das Himmelreich des Einen wird ihr nur immerfort verheißen; das Reich des Andern aber ist schon da! Der Eine thront in ewiger Himmelsliebe, die aber hier auf Erden unaufhörlich haßt. Mit ihrer Ewigkeit ist es also schon längst vorbei. Der Andre thront in diesem ihrem Hasse, der wahrhaft ewig ist, weil er ja niemals liebt. Sein Reich wird folglich nie zu Ende gehen! Nun öffne, Ustad, deinen weisen Mund, und sag mir: Wer vertauscht die mächtige Wirklichkeit mit einem leeren Schein, der nichts vermag, als Thoren zu betrügen? Man sagt von deinem Isa Ben Marryam, es sei der Teufel einst zu ihm getreten und habe ihn versucht. Was für ein Teufel ist das wohl gewesen? Der Hölle ist er sicher unbekannt. Wenn sie den Heiland aller Welt versucht, versucht sie ihn nicht so, wie jeden kleinen Menschen. Sie läßt sein Evangelium sich zeigen und blättert nach, was es enthalten mag. Wenn sie sodann auf jeder, jeder Seite das gleißnerische Wort der Liebe liest, von der sie weiß, daß sie kein einziges Menschenkind, viel weniger die ganze Welt erfüllen kann, wen wird sie da wohl prüfen? Ben Marryam in öder Felsenwüste, wo es nichts giebt, was ihn verführen könnte? Ben Marryam auf hoher Tempelzinne, wo ihn der Menschen Bosheit nicht berührt? Ben Marryam auf einsamer Bergesspitze, von welcher aus sie ihm wohl ihr Reich, doch er nicht ihr das seine zeigen kann? So thöricht ist sie nicht! Aber sie wird alle ihre Teufel senden, um auf Erden nachzuschauen, ob sich irgendwo ein Mensch befindet, der nicht mit den andern Schäflein auf des Hasses Weide geht! An diesen wird sie sich, zunächst in ihrer verführerischesten und dann, wenn dies nichts fruchtet, in ihrer abschreckendsten Gestalt zu hängen wissen, um ihn entweder zur Herde zurückzulocken oder durch den Haß zum Gegenhaß, zur Rache zu verführen. Wo wäre der Mensch, der ihr widerstehen könnte? Ich will ihn sehen!«

Er sah den Ustad auffordernd an, doch dieser antwortete nicht. Da fuhr er fort:

»Zeige mir den ganz Unmöglichen, Undenkbaren, den ich als Mensch vernichten will und der, in diese Vernichtung stürzend, kein Wort des Fluches, sondern Segen für mich hat! Zeige mir ihn, so sei alles, alles sein, was ich besitze, und mein Herz mit allem Haß dazu, den er zur Liebe wandeln möge! Zeige mir ihn, den es nie gegeben hat und niemals geben wird, den aus dem Himmel einst Verschollenen, der plötzlich, unerwartet, mitten in der Hölle unter Teufeln sitzt und für die betet, die ihn da hinabgerissen haben! Ich will ihm die Macht und Gewalt über alle diese Teufel geben, damit er sie bekehre und die Hölle ein Beit-y-Chodeh werde, unendlich größer und unendlich herrlicher als das, welches hier vor unsern Augen steht! Zeige ihn mir, so bin ich dein! Wo nicht, so bist du aber mir mit allen deinen Dschamikun verfallen!«

Er trat einige Schritte vor, bis fast an den Ring, den die Aeltesten bildeten. Die halb geballte Faust emporgehoben, schaute er den Ustad mit einem so herausfordernden Blicke an, als ob er wirklich über eine Hölle mit allen ihren Teufeln zu gebieten habe.

Was hatte ich über diesen Mann zu denken? War er ein Besessener? Oder litt er an einer Monomanie, die ihn um die Kenntnis seiner selbst gebracht hatte? Ahriman Mirza! Hieß er wirklich so, oder wurde er nur so genannt? Welcher Vater giebt seinem Sohne den Namen Ahriman! Wie hatte ich ihn zu nehmen? Ernst oder lächerlich? Ich sah die Dschamikun einen nach dem andern an. Auf ihren Gesichtern war nichts zu lesen. Aber der Ustad?

Dieser wendete sich dem Perser zu. Sein Gesicht zeigte die mildstrahlende Güte, in welcher er vorhin zu mir an den Tisch gekommen war. Er sprach zu ihm, und zwar ganz so herzlich, wie dort zu mir. Und wie erstaunte ich, als er mit Worten begann, die ich als einen augenblicklichen Einfall von mir, also als mein geistiges Eigentum betrachten mußte! Er sagte:

»In den Märchen von ›Tausend und ein Tag‹ wird folgendes erzählt: Es war am Tag, an welchem die Erlösung suchen ging. Sie klopfte an an allen, allen Erdenpforten. Doch als sie sagte, wer sie ausgesandt, da fand sie keine Thür, die ihr geöffnet wurde. Da ging sie trauernd weiter, bis zum tiefsten Schlund, in welchem die verdammten Geister wohnen. Sie setzte sich an seinem Rande hin und weinte über Chodehs Menschenkinder. Es floß der Thränen still vergoss’ne Flut. Wohin? Der Schmerz weint bei geschloss’nen Augen. Sie sah es nicht! Doch als sie dann die nassen Lider hob, da kam es aus dem Dunkel hell emporgestiegen. Wer waren sie, die engelslicht und rein an ihr, der Trauernden, vorüberschwebten und, leuchtend wie der letzte Sonnenstrahl, der Abschied nahm, im Abendrot verschwanden? Da kam er selbst, von Chodeh einst verbannt, der sich erkühnt, dem Himmelsherrn zu gleichen! Er stand vor ihr, sah lange stumm sie an und breitete dann seine starken Schwingen. ›Gieb mir die Hand!‹ sprach er. ›Ich trage dich im Abendrot zurück zur Morgenröte. Was keiner Himmelsliebe möglich war, hast du erreicht durch deine Erdenthränen. Wenn die Erlösung um die Menschen weint, so muß sogar das Herz der Hölle brechen. Ich war der Erste aller Kreatur. Ich war der erste, der den Herrn betrübte. Nun will ich auch der Allererste sein, der reuig wiederkehrt mit der Erlösung!‹ Er schaute ätherwärts. Da kam der Abendstern. Süß dufteten ringsum die Nachtviolen. Da schloß der Abgrund sich. Der Himmel that sich auf. Und mit dem Duft der Blumen schwanden Beide.«

Ahriman Mirza war Wort für Wort dem Märchen mit immer wachsender Spannung gefolgt. Jetzt zischte er in sich überstürzender Weise dem Ustad zornig zu:

»Was soll das sein? Was willst du mir mit diesem Märchen sagen? Wo hast du es her? Sind es deine eigenen Gedanken? Von diesen ›Tausend und ein Tag‹ hörte man noch nichts! Du willst mir entgehen, indem du dich hinter alte, mythenhafte oder neue, selbstersonnene Lügen versteckst. Gieb mir Antwort auf das, was du von mir hörtest! Ich sagte: Zeige mir einen solchen Unmöglichen, Undenkbaren, so bin ich dein. Wo nicht, so bist du aber mir mit allen deinen Dschamikun verfallen! Du weißt nicht, was euch droht. Ich bin gekommen, euch zu vernichten!«

Da kam der Ustad langsamen Schrittes herbei, trat in den Kreis, sah mitleidig auf ihn hernieder und antwortete:

»Du armer, armer Mann! Deine Macht mag noch so groß sein; die Allmacht aber, gegen welche du dich aufbäumst, ist doch noch größer! Hast du nicht zugestanden, daß du alles, alles geben würdest, selbst dein Herz mit seinem ganzen Hasse, wenn du einen einzigen wahrhaft Liebenden fändest? Du hast am falschen Ort gesucht. Suche an der rechten Stelle! Denn daß du überhaupt suchst, das hast du mit diesen deinen Worten zugegeben. Und man sucht doch nichts, ohne daß man es begehrt und es zu haben wünscht. Du willst uns vernichten? Wohl durch deinen Haß? Ich aber sage dir, daß ich es bin, der dich vernichten wird! Und zwar durch meine Liebe, indem ich dich segne! Du wirst von diesem meinem Segen aufgezehrt werden, so aufgezehrt, daß nichts mehr von dir übrig bleibt. Und doch zu gleicher Zeit wirst du in diesem meinem Segen erstehen und wachsen zu einem neuen, wunderbaren Leben. Ich gebe ihn dir, den Segen, der dich ganz und voll erneuern wird!«

Bei diesen Worten legte er ihm die beiden Hände auf die Schultern. Der Perser aber fuhr vor ihm wie vor einer Natter zurück und rief aus:

»Ich mag ihn nicht! Ich schüttele ihn ab! Dein Segen ist ein Fluch für mich!«

»Ich habe ihn dir gegeben, und er bleibt! Du bist ihm verfallen und der Liebe, die dich verfolgen wird, bis du vor ihr zusammenbrichst!«

Da lachte Ahriman Mirza in schallendem Hohne auf und antwortete:

»Du sprichst so kindisch und zugleich so altersschwach, wie eure sogenannte Frömmigkeit ja stets zu reden pflegt! Sie ist die alt und schwach gewordene, lächerliche Tante aller der augenverdrehenden Seelen, welche so gern die Hände auflegen, um ihre Bettlerarmut und Begehrlichkeit hinter dem nur allzu durchsichtigen Schleier des sogenannten Segens zu verbergen. Hast du schon einmal einen Menschen gesehen, der dir seinen Segen umsonst gegeben hat? Was hast du bezahlen müssen, bevor oder nachdem du ihn bekamst? Wer sind die von Himmelsgaben strotzenden Millionäre, welche zu segnen wagen? Untersuche ihre Taschen, um darin noch weniger als nichts zu finden. So stehst auch du vor mir in deiner ganzen, armseligen Bettelhaftigkeit! Was giebst du mir? Ein leeres Wort, welches dich nichts kostet! Und was forderst du dafür? Mich selbst mit allem, was ich bin und was ich habe. Ja, nicht nur das! Du verlangst auch gar noch das, was ich durch diesen Segen zu werden habe! Du siehst es jetzt an dir: euer Himmel giebt nur Worte und läßt sie sich mit dem vollen Inhalte einer ganzen Zeit und Ewigkeit bezahlen. Die Hölle aber giebt, giebt und giebt ohne Unterlaß. Sie teilt die ganze Fülle der Glückseligkeit an den durch euch verarmten Menschen aus und will nichts, nichts von ihm dafür, als daß er sie genieße! Sag, bist du vielleicht schon so tief in eure Lügenhaftigkeit versunken, daß du es wagen kannst, dies leugnen zu wollen?«

Da wich die bisherige Milde aus dem Gesichte des Ustad. Sein Gesicht wurde tiefernst, und sein Auge richtete sich auf den Perser, als ob der Blick desselben alle Bestandteile seines Leibes und seiner Seele aufzulösen vermöge.

»Du stehst weit, weit jenseits jener Grenze, an welcher das Geschöpf zum Teufel wird!« sagte er. »Deine Gedanken besitzen die betrügerische Geschmeidigkeit der Hölle. Wollte ich dich mit Worten schlagen, so müßte ich mit ihnen zu dir hinab in die Dschehenna steigen. Aber ich verzichte auf das Wort, denn ich weiß, daß dich deine eigene That zerschmettern wird! Im heiligsten der Bücher steht geschrieben, daß die Menschen sich von der Weisheit Chodehs nicht überzeugen und von seiner Gerechtigkeit nicht strafen lassen. Und in den Büchern der Geschichte ist zu lesen, daß sie seine Güte verachten und keine Nächstenliebe haben. Sie sind hartnäckiger als die Teufel, welche sich vom Geiste Chodehs strafen ließen und sich selbst in der Hölle die gegenseitige Hilfe nicht versagen. Was die nicht thun, die ihr Menschen nennt, das thaten die, welchen ihr den Namen Teufel gebt: Sie nahmen das Kreuz auf sich, welches die Folge ihres Sündenfalles war. Nun sollen sie auch die Ersten vor allen Andern sein, die sich der göttlichen Macht der Gnade fügen. Wenn der Himmel über die Hartherzigkeit seiner Erdenkinder weint, werden die Thränen der Erlösung an ihnen vorüber in die Hölle träufeln. Dann wird aus dieser Thränenflut ein Jubel sich erheben. Die Tiefe wird zur Höhe, die Dunkelheit zum Lichte, der Fluch zum Segen aufwärts steigen. Und wer ist der, der dann sich aus dem Abgrund heben wird, um der Erlösung stumm ins Auge zu schauen? Der ihr dann sagt, daß er in Reue wiederkehren wolle? Das wirst du sein, Ahriman Mirza, du selbst, der hier vor meinen Augen steht! Und wenn sich hinter dir die Hölle schließt und vor und über dir der ganze Himmel öffnet, so wirst du selbst, du selbst die Antwort sein, die er dir giebt auf das, was heut die Hölle hier durch deinen Mund gefragt! – Nun habe ich dir weiter nichts zu sagen. Was du noch vorzubringen hast, das ist der Andern Sache. Ich überlasse dich dem Scheik der Dschamikun!«

Er verließ den Kreis, in welchem er mitten unter uns gestanden hatte, und schritt die grüne Alm hinab, dem Tempel zu. Der Perser verschränkte die Arme über der Brust, warf den stolzen Kopf zurück und schaute ihm nach, bis er hinter dem Rosengebüsch verschwunden war. Dann sagte er in schneidender Ironie:

»Ein alter Mann, der nicht mehr denken kann und darum nur noch lieben will, weil er sich ohne Liebe hilflos fühlt! Wie stolz könnt ihr auf diesen Schwächling sein, der für die Faust, die ich gegen euch ballen werde, nicht eine mutige Antwort, sondern nur die von der Angst geöffnete Hand des Segens hat! Mit welchem Rechte hat er überhaupt gesprochen? Ist er ein Dschamiki? Bei euch geboren? Er scheint nicht zur Dschemma zu gehören. Er verwies mich auf den Scheik. Warum hat er meine Rede unterbrochen? Ich sprach zur Dschemma, aber nicht für Andere. Ich wollte euch sagen, weshalb wir eigentlich hierher zu euch gekommen sind.«

Da antwortete der Pedehr:

»Was du da fragst, geht keinen Fremden an. Wurdest du unterbrochen, so sprich jetzt weiter. Aber fasse dich kurz! Es ist nur Gefälligkeit von uns, daß wir dir überhaupt Gehör schenken!«

»Welche Güte!« lachte er. »Ich danke euch!«

Er ließ seine Gestalt eine höchst nachlässige, mißachtende Haltung annehmen und fuhr dann fort:

»Ich erzählte von jenen Anhängern Isa Ben Marryams, welche wir, als sie kamen, für Feinde hielten und dann aber ganz im Gegenteile als unsere allerbesten und brauchbarsten Helfer anerkannten. In ihrer inneren Zerrissenheit sorgen sie ja selbst dafür, daß sie uns nie beherrschen können werden. Der Raum zwischen dem Schah-in-Schah und seinem Volke wird von uns und ihnen ausgefüllt. Wer bei dem Herrscher etwas erreichen will, der hat sich an uns zu wenden. So war es stets, und so muß es immer bleiben! Aber da hörten wir vor einiger Zeit, daß ein Mann beim Schah-in-Schah gewesen sei, ohne uns vorher zu fragen, und daß er einen Stamm regiere, dessen Angelegenheiten alle direkt zwischen ihm und dem Schah-in-Schah entschieden werden, ohne daß man uns Beachtung schenkt. Ja, wir erfuhren sogar, daß jeder Mensch, der diesem Stamme angehört, sich selbst persönlich an den Herrscher wenden könne. Wir erkundigten uns. Es war der Stamm der Dschamikun. Der Mann aber, der sich erdreistet hat, in solcher Weise uns unserer heilig gewordenen Rechte zu berauben, ist nicht etwa ein Dschamiki, sondern ein vollständig Landfremder, von dessen Herkommen niemand etwas weiß. Auch er spricht von Isa Ben Marryam. Auch er redet, ganz wie jene Vorherigen, von Frieden und Versöhnung, von Gnade und Barmherzigkeit. Darum mußten wir ihn für ebenso uns nützlich wie die Andern halten, so lange wir nichts näheres erfuhren. Da aber verbreitete sich das Gerücht, daß die Dschamikun eine große Schar der Massaban gefangen genommen und nach Teheran abgeliefert hätten. Diese Massaban gehören zu uns. Sie bilden zwar keinen Stamm für sich, stehen aber unter unserm ganz besondern Schutze. Auf den Vorschlag eures Ustad hat der Schah-in-Schah, ganz ohne sich vorher bei uns zu erkundigen, diese Massaban nach den Fiebergegenden verbannt, die einer Hölle gleichen. Da wir übergangen worden sind, ist es uns nicht möglich gewesen, dies zu verhindern. Durch diese unerhörte, eigenmächtige That eures Ustad habt ihr euch verraten. Wir haben euch erkannt. Könnt ihr leugnen, daß es wahr ist, was ich erzähle?«

»Leugnen?« antwortete der Pedehr. »Bei den Dschamikun darf die Lüge nicht wagen, sich einzuschleichen. Und sollte sie sich etwa offen zeigen, so offen, wie heut ihr zu uns gekommen seid, so würde sie genau so weichen müssen, wie ihr am Schlusse des Rennens beschämt abzuziehen haben werdet.«

»Das Rennen warte ab!« fuhr der Perser auf. »Wir verfügen über Pferde von so adeligem Blute, wie –«

Da fiel der Pedehr schnell ein:

»Von so adeligem Blute, wie eure Freunde, die Massaban, besitzen, die Mörder, Räuber und Diebe sind, von denen wir das Land befreien mußten! Jetzt sage ich dir, was du uns soeben sagtest: Durch diese Freundschaft habt ihr euch verraten. Wir haben euch erkannt! Ihr seid noch größere Massaban als die, welche der Schah-in-Schah nach der Hölle des Südens schickte! Nehmt euch in acht, daß ihr ihnen nicht zu folgen habt!«

»Scheik –! Drohst du uns?!« erklang es schnell und giftig.

»Ja!« antwortete er. »Der Ustad hatte für dich und euch nur Liebe. Er kann nichts anderes haben. Du lachtest über seine offene Hand des Segens, welche er deiner Faust entgegenhielt. Du nanntest ihn furchtsam, einen Schwächling. So wisse denn: Die geballte Faust, die du von ihm erwartet zu haben scheinst, wird sich dir sicher zeigen, sobald er es für nötig hält! Ich bin diese Faust! Wenn ich meine Finger, die Tausende von Dschamikun, zusammenziehe, so giebt das einen Schlag für euch, der euch wohl noch ganz anders treffen würde, als wir jene unglücklichen Massaban getroffen haben, welche nur die Werkzeuge waren, während ihr die Thäter seid. Du hast gehöhnt, daß der Ustad sich ohne Liebe hilflos fühle. Er ist nicht ohne Liebe. Wir alle lieben ihn; das ist genug! Und er ist der Gebieter dieser Faust, auf deren Stärke er sich stets verlassen kann! Ich habe vorhin den Multasim gewarnt; jetzt warne ich dich: Zwinge mich nicht, mein Wort zurückzunehmen! Du selbst wirst es mir brechen, sobald du abermals beleidigend wirst. Hüte dich, so weiter wie jetzt aus deiner eingebildeten Höhe zu uns herabzusprechen! Thust du das noch einmal, so stecken wir euch zu euren edlen Kavalleristen, die jedenfalls ebenso adeligen Blutes sind wie die Massaban und auch ihr!«

Man sah Ahriman Mirza an, daß diese Rede des Pedehr aufregend auf ihn wirkte; aber die Sorge, daß dieser seine Drohung wahrscheinlich ausführen werde, veranlaßte ihn, sich zu beherrschen. Er fuhr mit den beiden Daumen hüben und drüben hinter seinen Gürtel und krallte die übrigen Finger um die in demselben steckenden Waffen. Dadurch wurde das Gürtelschloß frei, welches ich bis jetzt entweder nicht gesehen oder nicht beachtet hatte. Nun aber zog es meine Aufmerksamkeit derart auf sich, daß ich mir Mühe geben mußte, sie geheimzuhalten. Auf dem goldenen oder vergoldeten Grunde dieses Schlosses war nämlich ein silberner Ring angebracht, der ein Sa und ein Lam umschloß, welche beiden Buchstaben über sich das Verdoppelungszeichen hatten. Ahriman gehörte also zu den Sillan, und wie es schien, bekleidete er in dieser geheimen Verbindung einen hohen Rang, vielleicht gar den allerhöchsten! Ich hatte dieses Zeichen bisher nur an Fingerringen gesehen. Daß er es so groß und deutlich an dieser augenfälligen Stelle trug, konnte keinen anderen Grund als den angegebenen haben.

Hatte ich ihn bisher schon an sich für einen ungewöhnlichen Mann halten müssen, so war er nun auch in besonderer Beziehung zu den Sillan zu distinguieren. Freilich ließ er mir nicht Zeit, diesen meinen heimlichen Betrachtungen nachzuhängen, denn er sprach jetzt weiter, und zwar schnell; in abgerissenen Sätzen, denen man es anhörte, daß er so rasch wie möglich zu Ende kommen und nicht gegen die Warnung des Pedehr verstoßen wolle. Eigentümlicherweise gebrauchte er jetzt nicht mehr die erste Person der Mehr-, sondern der Einzahl. Er verriet hierdurch den Druck, den die Drohung des Scheikes auf ihn ausübte und gegen den sich sein Selbstbewußtsein so gern aufgebäumt hätte und aber doch nicht konnte.

»Ich durfte das nicht länger dulden,« sagte er. »Ich beschloß, selbst hierher zu gehen. Ich mußte diesen fremden Ustad sehen. Ich hatte zu erfahren, wie es bei euch steht. Ich wollte vor allen Dingen nach eurer Liebe suchen. Ich brauchte dazu keine lange Zeit. Ein kurzer Besuch genügte. Meine Augen sind scharf. Es entgeht ihnen nichts! Ich nahm mir vor, euch zu –«

Hier hielt er inne. Er hatte wohl etwas sagen wollen, was er nun mitten im Satze als eine Unvorsichtigkeit erkannte. Dann sprach er weiter, immer nur im Ich:

»Ich kam zu den Kalhuran. Ich hörte, was dort geschehen war. Ich erfuhr, daß die Mörder zu euch seien. Ich sah eure Boten und sprach mit ihnen. Ich richtete es so ein, daß wir eher wieder abritten als sie. Ich erfuhr, daß ihr den Mördern des Muhassil Schutz gewährt. Ihr fürchtet euch nicht, dies zu thun. Ist das die gewöhnliche Liebe, die kein Opfer bringt? Auf alle Fälle aber war es kühn von euch! Ich hörte von euren fremden Gästen. Ihr habt sie aufgenommen und wochenlang gepflegt. Die Krankheit war ansteckend, außerordentlich gefährlich für euch. Ist das die Liebe, die kein Opfer bringt? Wir kamen hier an. Ich sah euer Hohes Haus, euer Beit-y-Chodeh. Ich hörte eure Musik und eure Lieder. Ich spreche nicht davon. Dieses Geplärr ist mir zuwider! Ich redete mit diesem lächerlichen Tifl. Das ›kleine Kind‹ ließ mich auf die Erwachsenen schließen. Was ich noch sah und hörte, wißt ihr selbst. Es war und ist und bleibt genug für mich! Und nun – nun – nun?«

Er schaute zum Tempel hinab und dann hinüber, rund um das ganze Thal. Seine Augen leuchteten. War das Wohlgefallen oder Mißfallen? Man sah es ihm nicht an. Hierauf ließ er den Blick im Kreise über die ganze Dschemma gehen. Seine Hand fuhr nach den Augen und legte sich über sie. Kam der tief aufseufzende Atemzug, den man jetzt hörte, aus seinem Munde? Er hatte einen Rundblick über das Paradies der Dschamikun gehalten. Tauchte jetzt, bei zugehaltenen Augen, in seinem Innern das Bild eines anderen, noch herrlicheren auf?

Als er die Hand nun wieder fallen ließ, kam es mir vor, als ob seine Wange plötzlich eingefallen und bleicher sei. Der dunkle Bart zuckte um seine Lippen, und seine Stimme zitterte leise, indem er das Wort von neuem ergriff:

»Wäre euer Ustad hier, so würde ich ihm auch ein Märchen erzählen, nicht aus ›Tausend und eine Nacht‹, auch nicht aus seinem ›Tausend und ein Tag‹, sondern aus ›Tausend und eine Qual‹. – Es giebt Einen, den ich glühend, glühend hasse. Und wahrlich, wahrlich, ich weiß, daß es ihn giebt! Und es giebt ein Buch, welches ich vernichten möchte, daß kein Blatt, keine Zeile, kein Buchstabe übrig bliebe! Dieses Buch sagt von diesem Einen: ›Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist.‹ Würde ich einem Menschen gebieten, ein Buch über mich, mich, mich zu schreiben, so müßte darin zu lesen sein: ›Tausend Qualen sind vor dir wie ein Lächeln – wenn sie vergangen sind! Aber diese eine, eine, letzte, die nach den tausend früheren kam, sie ist die fürchterlichste, die entsetzlichste, die unbeschreiblichste, weil sie niemals, niemals, niemals enden wird. Sie muß ewig sein, weil jener Eine, Eine ewig ist!‹«

Er beugte den Kopf und stand zusammengesunken da, als ob er zusammenbrechen wolle. Da aber richtete er sich plötzlich wieder auf und sprach in wieder energischem Tone:

»Rückblicke, wo doch niemand je zurückkann! Weder der Mensch, noch der Teufel, noch die Hölle! Ich komme zum Schluß. Ich mache euch einen Vorschlag. Ihr sollt ihn hören. Anzunehmen braucht ihr ihn heut noch nicht. Ich gebe euch Zeit bis zum Tage des Wettrennens. Da sollt ihr mir sagen, was ihr beschlossen habt. Also hört!«

Unweit von uns saß Tifl mit einigen Männern, mit denen er sich unterhielt. Pekala, welche jetzt nicht mehr mit Speiseangelegenheiten beschäftigt war, hatte sich zu ihnen gesellt. »Das Kind« schaute soeben zu uns herüber. Da winkte der Perser ihm zu, näherzukommen, und setzte dann seine Rede fort:

»Ihr seht mich heut zum erstenmal. Auch mein Name war euch bisher unbekannt. Ihr wißt also nicht, wer und was ich bin, werdet es aber erfahren, sobald ihr meinen Vorschlag angenommen habt. Ich bin der oberste derer, durch welche man mit dem Schah-in-Schah verkehrt. Meine Freundschaft kann selig machen, und meine Feindschaft kann verdammen. Das ist mein altes Recht, welches ich mir nicht nehmen lasse. Wer es antastet, richtet sich zu Grunde. Euer Ustad hat sich an diesem Rechte vergriffen. Ich sollte ihn wohl eigentlich verderben. Die Macht dazu ist in meinen Händen. Aber er gefällt mir, und auch ihr habt mir gefallen. Ich weiß, daß ihr einen vom Beherrscher eigenhändig unterschriebenen Vertrag besitzet. Ich könnte ihn euch abverlangen. Oder ich könnte den Schah-in-Schah veranlassen, ihn für nichtig zu erklären. Dann wäre es mit euch aus. Ich würde mit Militär kommen und euer Gebiet besetzen, um euch zu vertreiben. Viel mitzunehmen würde euch wohl nicht bleiben. Ihr kennt ja unsere Macht und unsere Art. Dies alles werde ich thun, ganz unbedingt und sicher, wenn ihr meinen Vorschlag von euch weiset. Ich bin aber überzeugt, daß ihr zu klug seid, dies zu thun. Ich möchte euch Freund sein und Freund bleiben. Ihr sollt euern Ustad behalten, euer Land, euer Eigentum und alle eure Rechte. Es soll bei euch alles und jedes genau so bleiben, wie es ist. Ich will nichts, gar nichts von euch haben, sondern ich will euch ganz im Gegenteile etwas geben, etwas so Seltenes und Köstliches, daß die Großen des Reiches alle ihre Finger danach lecken. Ihr hört und seht, wie gut ich es mit euch meine. Ich bin als euer wahrer, als euer bester Freund zu euch gekommen.«

Er ließ seine Augen wieder im Kreise herumgehen; sie trafen selbstverständlich auf sehr erwartungsvolle Gesichter. Der Pedehr aber lächelte still vor sich hin. Niemand sagte ein Wort. Darum fuhr der Perser fort:

»Macht euch klar, was ich euch bringe! Auf der einen Seite ist euch tiefste Armut, Vertreibung über die Grenze, wohl gar Vernichtung gewiß. Auf der anderen Seite behaltet ihr alles: es bleibt alles genau so, wie es ist, und ich bringe euch dazu noch ein Gnaden- oder auch Ehrengeschenk des Schah-in-Schah, um welches euch das ganze Land beneiden wird, weil es euch noch inniger mit ihm verbindet. Sag, was du denkst, o Scheik!«

»Du scheinst mächtiger und gütiger zu sein, als sogar der Himmel. Selbst Chodeh giebt nicht mehr, als man besitzt. Wir haben genug. Laß uns das!«

»Hast du einen Sohn?«

»Nein.«

»Ich hörte es. Er ist tot.«

»Ermordet von deinen Massaban!«

»Das ist vorüber! Hast du eine Tochter?«

»Nein.«

»Wer ist dein Erbe?«

»Der Stamm wird es sein.«

»Wer wird nach deinem Tode Scheik?«

»Der, welchen die Dschemma wählt und unser Ustad bestätigt.«

»Kann er schon vorher gewählt werden? Also wenn du noch lebst?«

»Ja. Ich wünsche sogar, daß es geschehe.«

»Hierauf bezieht sich mein Vorschlag.«

»Maschallah! Du willst dich in die Wahl meines Nachfolgers mischen?«

»Nein. Es soll gar nicht gewählt werden. Ich will ihn euch bezeichnen.«

»Wer soll es sein?«

»Tifl.«

Man kann sich die Wirkung dieses einen, kleinen, einsilbigen Wörtchens denken! Aber niemand sprach. Tiefe Stille herrschte rundum. Auch der Pedehr schwieg, doch war jetzt sein Lächeln ein ganz anderes als vorher.

»Also Tifl wird als zukünftiger Scheik gewählt,« setzte der Perser seine Rede fort, »und der Schah-in-Schah giebt ihm eine Frau.«

»Das also ist das Gnaden- oder Ehrengeschenk?« fragte der Pedehr.

»Ja. Ein kostbares Geschenk, denn sie ist die Tochter eines Freundes von mir, der Prinz ist und also den Titel Mirza hat. Ich sehe, daß ich mich nicht in euch getäuscht habe. Ihr scheint vor Entzücken über dieses unerwartete Glück ganz starr zu sein.«

»Macht das Entzücken starr?«

»Ich denke es. Die Sprache hat es dir aber nicht geraubt. Was hast du mir zu sagen?«

»Ich? Hier kann doch wohl nur der, den es betrifft, zu sprechen haben. Tifl, komm her!«

Der Gerufene trat näher. Er lachte am ganzen Gesicht; aber es war ein Lachen deutlichster Verlegenheit.

»Hast du gehört, was gesagt worden ist?« fragte ihn der Pedehr.

»Ja,« antwortete »das Kind«.

»Was sollst du werden?«

»Scheik.«

»Willst du?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich bin ja viel zu dumm dazu!«

»Aber das ist ja grad der Grund, weshalb er dich vorgeschlagen hat!«

»Wenn er so dumm ist, wie er denkt, daß ich bin, so mag er es selber werden!«

»Jetzt hältst du dich aber doch wieder für klug!«

»Auch das ist richtig!«

»Wieso?«

»Um Scheik zu sein, dazu bin ich zu dumm. Und um mich zum Scheik machen zu lassen, bin ich zu klug. Eben weil ich mich für dumm halte, bin ich gescheit. Bei diesem Perser aber ist es umgekehrt: er hält sich für gescheit und ist folglich dumm!«

Das war ein urechtes Tiflwort. Alle lachten, nur Ahriman Mirza nicht.

»Noch etwas, lieber Tifl!« fuhr der Pedehr fort. »Hast du alles gehört?«

»Ja.«

»Auch daß du eine Frau bekommen sollst?«

»Auch das.«

»Was meinst du dazu?«

»Ich mag keine.«

»Aber sie ist eine Prinzessin!«

»Umso schlimmer!«

»Also nicht?«

»Nein! Wenn ich mir eine Frau nähme, so könnte es doch wohl keine andere sein als meine Pekala. Die bäckt und kocht. Die kann alles und thut alles. Die erzieht mich sogar. Eine Prinzessin aber müßte ich erziehen, und das ist mir nicht einmal bei meiner Pekala eingefallen und kann mir also bei einer Fremden erst recht nicht einfallen!«

»Aber du sollst doch von ihr erzogen werden! Das ist es ja eben, was dieser Ahriman Mirza will! Einen dummen Scheik der Dschamikun mit einer verschmitzten, arglistigen, ränkevollen Frau, welche ihren Anhang mit allen Fehlern, Gebrechen und Sünden, an denen wir dann langsam zugrunde gehen sollen, mit zu uns bringt! Und das bezeichnet man als ein Gnaden- und Ehrengeschenk des Schah-in-Schah! Solche Geschenke giebt die Hölle, aber nicht der Beherrscher, der nur das Gute will! Uebrigens, mein lieber Tifl, will ich dir ein Wort der Wahrheit sagen. Schau dir den Perser an! Genau!«

Tifl that es sehr eingehend.

»Bist du fertig!« fragte dann der Scheik.

»Ja.«

»Gefällt er dir?«

»Nein!«

»Uns auch nicht. Auch wir gefallen ihm nicht, obgleich er, um uns zu überreden, das Gegenteil behauptete. Das war aber von ihm gelogen. Er hat sich über dich lustig gemacht. Er kennt dich nicht, deinen Mut, deine Gewandtheit, deine Fertigkeiten, deine Treue und Liebe, dein reines Herz, dein tiefes Gemüt und alle, alle die tausend Himmelsgaben, die dir von Chodeh verliehen worden sind. Er ist genau und wirklich das, was du vorhin von ihm sagtest: dumm! Wenn der neue Scheik der Dschamikun jetzt gleich bestimmt werden sollte und wir hätten die Wahl zwischen dir und ihm, so versichere ich dir, daß wir dich wählen würden; er aber müßte mit einer Nase abziehen, die gewiß zehnmal größer wäre als der Weg von Teheran nach Isfahan! So, das mußte ich dir sagen, weil wir dich lieben und achten und es nicht dulden können, daß ein Fremder glaubt, seine Prinzessin genüge den Ansprüchen, die unser Tifl machen kann! Mit solchem Köder fängt man keinen Dschamiki! – Ich erkläre die Dschemma für beendet! Die Versammlung der Aeltesten ist nicht da, um Albernheiten anzuhören! Zugleich aber erinnere ich noch einmal daran, daß ich diesen Fremden nur so lange Sicherheit biete, als sie jedes beleidigende Wort vermeiden. Tifl, nimm vierzig Krieger, die sich bewaffnen mögen, und schaffe die ungeladenen Perser bis jenseits des Hasenpasses! Ich wähle dich dazu, damit sie sehen, daß selbst der, den sie für den Allerdümmsten von uns halten, zum Befehlshaber einer ganzen Reiterschar geeignet ist!«

»Unser Kind« eilte freudestrahlend fort.

Einen solchen Ausgang der Verhandlung und eine solche Beantwortung seines Vorschlages hatte Ahriman Mirza nicht erwartet. Er kochte vor Grimm; das war ihm anzusehen. Aber er sah ein, daß er, wenigstens für jetzt, seinem Hasse keinen Ausdruck geben dürfe. Er hatte von seiner raffinierten Intelligenz geglaubt, daß sie der naiven Klugheit der Dschamikun über sei, und mußte sich nun doch als der von ihr Geschlagene fühlen. Er zwang seine Wut hinunter, aber sie bebte in dem Klange jedes Wortes, als er, indem die Aeltesten alle aufstanden, laut ausrief:

»Ich soll niemand beleidigen, werde aber selbst als dumm bezeichnet! Wir rechnen später hierüber ab! Uebrigens habe ich nicht verlangt, daß ihr euch schon heut entscheiden sollt!«

»Wir haben es aber trotzdem gethan,« antwortete der Pedehr.

»Ich nehme es nicht an!«

»Um deine Niederlage nicht einzugestehen!«

»Schweig! Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe: Ich gebe euch Zeit bis zum Tage des Rennens.«

»Wir werden dann nichts anderes zu sagen haben als heut.«

»Warte es ab! Man weiß nicht, was inzwischen geschieht. Was die Wette betrifft, so werden wir dich zwingen, an ihr festzuhalten!«

»Ich habe keine Ursache, zurückzutreten.«

»Wir kommen alle, alle Zwölf!«

»Uns ist das gleich. Aber wißt ihr auch, was ihr damit thut?«

»Nun – was?«

»Der Tag des Rennens ist ein Freudentag für alle Dschamikun und ein Ehrentag für unsern Ustad. Wir feiern ihn seinetwegen. Wenn ihr euch an dieser Feier beteiligt, so ehrt ihr ihn. Das mußte ich euch sagen.«

Da stieß Ahriman Mirza ein häßliches Lachen aus und antwortete:

»Die Muhammedaner feiern ihren Freitag und die Christen ihren Sonntag, beide Allah und Gott zur Ehre. Aber ich sage euch, daß der Teufel, indem er sich an dieser Feier beteiligt, seine besten Ernten hält. Kein anderer Tag bringt der Hölle soviel ein, wie solche Feiertage, an denen der Mensch von wem? – von wem? gezwungen wird, sich aus den schützenden Armen der segenbringenden Arbeit zu reißen. Hat er sie aus der Hand gelegt, so gehe er, wohin er will, er wird vom Teufel gepackt und hat keinen anderen Schutz und Schirm als nur sich selbst und jenes mir verhaßte Haus, in welchem er sich doch nicht den ganzen Tag verbergen kann! Wenn wir kommen, so kommen wir nicht eures Ustad willen, sondern aus ganz anderen Gründen. Versteckt euch in euer Beit-y-Chodeh oder thut sonst, was ihr wollt, wir packen euch doch! Der Alte hat mich gesegnet. Nun segne auch ich euch. Wie ich es meine, und was mein Segen bringt, das werdet ihr erfahren!«

Er wollte sich abwenden und gehen, da nannte Hanneh seinen Namen:

»Ahriman Mirza, noch ein Wort!«

»Was?« fragte er, indem er sie verwundert ansah.

»Du wirst es gleich sehen. Ich muß dir jemand zeigen.«

Wer sich in der Nähe befand, der schaute wegen der sich auflösenden Dschemma jetzt her zu uns. So auch Pekala. Darum konnte Hanneh, ohne ihren Namen nennen zu müssen, ihr winken, herbeizukommen. Pekala gehorchte. Ihre ganze schneeweiße, rotblühende und wohlgenährte Erscheinung war ein neugieriges Fragezeichen, was sie wohl bei den Aeltesten und Fremden zu schaffen haben werde. Hanneh nahm sie bei der Hand, führte sie zu dem Mirza und sagte da zu ihr:

»Schau dir diesen Irani an! Er verlangte, daß Tifl Scheik der Dschamikun werde!«

»Warum nicht?« fragte die Festjungfrau ganz ernsthaft. »Er hat ganz das Geschick dazu! Der Tag der Wahl muß ja früher oder später eintreten. Da schlage ich ihn vor!«

Diese Antwort hatte Hanneh freilich nicht erwartet! Sie fuhr fort:

»Er soll eine persische Prinzessin heiraten!«

»Welche?«

»Dieser Irani weiß es. Er will sie ihm bringen.«

»Warum nicht? Für meinen Tifl ist die Tochter des Schah-in-Schah grad gut genug! Wenn sie kommt, werde ich sie erziehen. Vor allen Dingen hat sie unserm Ustad und meinem Tifl zu gehorchen. Andere Gepflogenheiten gelten bei mir nicht. Er mag sie bringen. Ich werde sie mir ansehen. Paßt sie mir nicht, so mag er sie in seine eigene Küche stecken. Für ihn ist sie dann wohl noch viel zu gut!«

Jetzt nun erklärte Hanneh dem Perser, indem sie ihm mit ihrem freundlichsten Lächeln in das Gesicht sah:

»Das ist Pekala, welche Tifl für besser als deine Prinzessin gehalten hat! Das mag bei euch wohl anders sein; bei uns aber befassen sich mit dem Heiratsstiften nur alte Weiber, denen die Zähne zum Regieren ihres Zeltes ausgefallen sind! Du hast so oft vom Teufel gesprochen. Bei den Dschamikun und bei den Haddedihn nehmen die Männer nicht von ihm, sondern aus Allahs Hand ihre Frauen. Führe deine Prinzessin zu den Massaban. Die glauben vielleicht an das Gnaden- und an das Ehrengeschenk; wir aber nicht!«

Der selbstbewußte, überstolze Mann! Sich von Frauen so etwas sagen zu lassen! Und grad dieser sein Hyperstolz verbot ihm, eine Antwort zu geben! Er drehte sich um und ging zu seinem Pferde, denn seine Gefährten machten sich auch schon mit den ihrigen zu schaffen. Sie wollten fortreiten. Als der Multasim Sattel und Zaum seines Fuchses geordnet hatte, stieg er nicht sogleich auf, sondern kam zu mir, der ich abseits stand und ihnen zuschaute.

»Denkst du daran?« fragte er kurz.

»Ja,« antwortete ich ebenso.

»Ich habe es als Geheimnis betrachtet.«

»Ich auch.«

»Die Wette gilt?«

»Gewiß!«

»Aber sie hebt die Blutrache nicht auf!«

»Eigentlich doch!«

»Für mich nicht!«

»Nun, dann auch nicht für mich!«

»Ich fasse dich!«

»Oder ich dich!«

Er sah mich erstaunt an. Er hatte wohl angenommen, daß nur ganz allein er diese Angelegenheit deuten und behandeln könne, wie es ihm beliebte.

»Du mich?« fragte er. »Bist denn du der Bluträcher, oder bin ich es?«

»Eigentlich keiner von uns, nun aber alle beide.«

»Das verstehe ich nicht!«

»So bedaure ich dich um dein Gehirn! Du hattest eine Blutrache gegen den Scheik der Kalhuran, weil er deinen Sohn erschossen hat. Er hatte eine gegen dich, weil sein Blut durch die Peitsche deines Sohnes vergossen worden ist. Beides wurde durch die Wette ausgeglichen. Du bestehst im Geheimen trotzdem noch auf Blut, und zwar auf dem meinigen. Nun wohl, so trete auch ich nicht zurück und fordere das deinige. Ich habe sogar ein größeres Recht dazu, denn der Scheik der Kalhuran war Moslem, dein Sohn ein Christ, und außerdem ist Kugelblut um vieles, vieles billiger als Peitschenblut. Du packst mich, und ich packe dich, wann, wo und wie es uns paßt. Du bist vor mir nur auf dem Gebiete der Dschamikun sicher. Das merke dir!«

»So gegenseitig habe ich es nicht gemeint,« sagte er, indem er verlegen vor sich niedersah.

»Das dachte ich mir, denn ihr hochedeln und vornehmen Beschützer der Massaban denkt nicht anders als sie, die Räuber und die Mörder. Nun aber weißt du, woran du bist!«

Da war seine Verlegenheit weg, und der Trotz trat ihm wieder in die Augen.

»Es sei, wie du sagst!« zischte er mich an. »Also Blut gegen Blut! Das meinige und das deinige! Du kennst mich nicht, kannst mich leider auch nicht kennen lernen, denn der Augenblick, an dem dies möglich wäre, wird der Augenblick deines Todes sein!«

»Wie das so fürchterlich klingt!« lachte ich. »Es ist ja gar nicht so! Es ist im ganzen Land bekannt, daß du der größte Feigling Persiens bist. Ich werde dir mit offener Waffe entgegentreten, die aber weder Dolch noch Pistole, sondern etwas ganz anderes ist. Doch du wirst mir nur mit verborgener Arglist kommen, um an mir zum verächtlichen Meuchelmörder zu werden. Ich bin darauf gefaßt. Das sage ich dir in aller Ehrlichkeit.«

»Gefaßt?!« entfuhr es ihm. »So sei gefaßt, dreimal oder tausendmal gefaßt; mein wirst du sicher werden!«

Sein Benehmen in diesem Augenblick war unvorsichtig. Seine blitzschnelle Antwort und der versteckt sein sollende Blick seines heimtückischen Auges ließen mich vermuten, daß er schon einen Plan gefaßt habe. Und da stand für mich sehr fest, daß es ein bald möglichst auszuführender sei.

Er eilte zu seinem Pferde, denn die Andern waren schon aufgestiegen. Ahriman Mirza saß in einem reichgeschmückten Schuhsattel, von welchem ebenso wie von jedem Riemen bunte Fransen und Quasten rund um den Leib des Pferdes niederhingen. Er spornte es hin zum Pedehr, hielt vor ihm an und sagte:

»Wir reiten fort, hinüber nach dem Hasenpaß, wie du gesagt hast. Aber bevor wir den Duar verlassen, haben wir mit den Reitern des Multasim zu sprechen. Ihr gebt sie nicht frei. Dagegen ist nichts zu machen.

Aber er hatte diese Leute seinem Sohne nur geliehen. Er ist ihr Herr und Gebieter und hat sie viel zu fragen und ihnen viel zu sagen.«

»Ihr Herr und Gebieter bin jetzt ich,« antwortete der Pedehr. »Es ist, sobald ihr hier angekommen waret, ein Bote nach dem Hohen Hause geschickt worden. Sobald ihr euch dort sehen laßt, wird man auf euch schießen. Mit diesen Leuten darf nur der sprechen, dem ich es gestatte, euch aber erlaube ich es nicht. Richtet euch danach!«

»Du scheinst nicht zu wissen, wie sehr du dich irrst. Hast du sie für zusammengelaufenes Gesindel gehalten, welches der Muhassil angeworben hat?«

»Ja. Das sind sie auch!«

»Nein. Sie sind Milizen, die seinem Vater, dem Multasim, vom Sipahsalar, geliefert worden sind. Ihre Uniformen haben sie abgelegt, weil sie einstweilen aus dem Dienste des Krieges in den der Finanzen traten. Ihre Anführer sind wirkliche Offiziere, welche dich beim Sipahsalar verklagen werden, und er wird dich bestrafen lassen. Du hast trotz der Unterschrift des Schah-in-Schah, welche sich nur auf eure Rechte und auf eure eigene Gerichtsbarkeit bezieht, nicht die Erlaubnis, dich an Soldaten zu vergreifen, welche von einem ganz Andern zu richten sind!«

»Ich richte sie nicht. Ich bestrafe sie nicht. Ich weiß genau, wie weit meine Rechte gehen. Ich habe diese Menschen eingesperrt, weil es in diesen meinen Rechten liegt. Dein Multasim mag mir die vom Sipahsalar unterzeichnete Beglaubigung bringen, daß sie wirklich Soldaten sind! Wir werden mit diesem Zeugnisse zum Beherrscher gehen und ihn fragen, ob seine Offiziere und Soldaten etwa vorhanden seien, um gegen friedliche Bewohner seines eigenen Landes Krieg zu führen, oder ob diese Bewohner nur zu dem Zwecke Soldaten werden, um wie verachtete Massaban gegen ihre Mitunterthanen losgelassen zu werden.«

»Das wage nicht!«

»Ich habe dir schon einmal gesagt: Ich wage nicht! Die Ausübung heiliger Rechte ist kein Wagnis!«

»Die Rechte Ghulams, des Multasim, sind ebenso heilig!«

»Seine Rechte? Und auch nur vielleicht! Aber wie er sie ausübt, das ist nichts weniger als heilig! Das hat der Herrscher nicht gewollt, als er sie ihm verlieh! Oder – sind sie ihm etwa gar nicht vom Schah-in-Schah verliehen? Ich habe gehört, sein Kontrakt sei damals von zwei Ministern unterzeichnet worden. Befindet sich auch das allerhöchste Siegel dabei?«

»Das geht dich nichts an!«

»Es geht jeden an, der hier im Lande wohnt. Und uns geht es gar doppelt an, weil dieser Multasim es wagt, mit den Waffen in der Hand unser Gebiet zu betreten, um hier den Herrn zu spielen! Ich bin der Scheik der Dschamikun. Mir ist ihr Glück und der Frieden ihres Landes anvertraut. Es ist meine Aufgabe, in diesem Frieden für die Wohlfahrt des Landes, welches ihnen gehört, zu sorgen. Wir wollen auch mit Andern in demselben Frieden leben. Wir haben es gethan. Wir sind es nicht, die ihn jemals brechen werden. Aber sollten sie das zu thun wagen, dann wehe ihnen!«

»Wehe!« lachte der Mirza. »Willst du es nicht gleich dreimal ausrufen? Ein solches Wehegeheul aus einem Munde, der sich der Friedfertigkeit und der Nächstenliebe rühmt, muß ja, wenn es zum Himmel eures Chodeh aufgestiegen ist, von den Lippen aller Seligen, die dort wohnen, lobpreisend widerhallen! Liebe und Wehe! Hier hast du dich ebenso entlarvt, wie vorhin euer frommer Ustad sich verriet!«

»Und du bist ganz derselbe Verdreher der Ursachen und der Folgen gegen mich wie gegen ihn! Als du dich aufmachtest, um zu uns zu reiten, hattest du vergessen, die Ueberlegung zu Rate zu ziehen. Und weder unterwegs noch hier an deinem Ziele bemerktest du, daß du die Vorsicht daheim gelassen hast. Du behauptest, so große Macht zu besitzen, daß wir uns vor dir zu fürchten hätten. Bist du denn so thöricht gewesen, zu glauben, daß sich diese Macht auch über uns erstreckt? Hast du angenommen, daß es uns nicht einfallen werde, nach ihr zu forschen, um sie kennen zu lernen? Du prahlst ebenso wie der Multasim mit der Gewalt, die euch gegeben worden sei. Wohlan! Wir werden thun, was jeder Kluge thun würde. Wir schlagen nicht blind auf sie los, sondern ganz so, wie du zu uns gekommen bist, so werden wir dorthin gehen, woher sie zu stammen hat, wenn sie keine angemaßte ist. Und wenn –«

»Also Spione!« unterbrach ihn der Perser.

»Nein! Ein Spion sagt dem Feinde nicht mit dieser meiner Ehrlichkeit, was er zu thun beabsichtige. Und grad diese Ehrlichkeit hast du außer Berechnung gelassen. Was wird der Schah-in-Schah sagen, wenn er erfährt, daß du dich rühmst, mächtiger zu sein als er! Was wird er thun, wenn er hört, daß es euer wohlerworbenes Recht sei, ihn als eine Puppe zu behandeln, der ihr von allem Reichtume und allen Erzeugnissen des Landes nur den billigen Weihrauch streut, um alles andere in den eigenen Säckel stecken zu können! Was wird er beschließen, falls er vernimmt, daß ihr diejenigen seiner Unterthanen mit Vernichtung bedroht, welche nur allein ihm gehorchen wollen und sich also weigern, euch als Götzen zu betrachten, vor denen man anbetend niederzusinken hat! – Diese Folgen deines Rittes hast du nicht bedacht. Du hast dir angemaßt, hierzu zu kommen, um uns kennen zu lernen. Es hat uns nur einer zu kennen, der Schah-in-Schah, vor dem unsere Herzen offen liegen. Aber eure Herzen? Ihr seid so unvorsichtig gewesen, sie vor uns zu öffnen, während ihr sie gegen ihn verschlossen hieltet. Nur wird sein Blick in ihre tiefsten Tiefen gehen, und was sich ihm da offenbart, das kann nichts anderes als das Wehe sein, welches ich dir zugerufen habe. Dieses Wehe stammt also nicht von mir; es wohnt in euch selbst und wird aufsteigen wie ein verzehrendes Feuer und wie ein alles verschüttender Aschenregen, wenn die Hand des Herrschers niederfährt, um den Janardagh aufzusprengen und auseinander zu reißen. Dann wird das Land von all den giftig bösen Dünsten frei, die diesem Berge des Unheiles bisher entstiegen, und wenn der dunkle Rauch, der über Chodehs Erde ging, verschwunden ist, wird endlich, endlich jedermann den reinen Himmel und den wahren Herrscher schauen! – Ich bin mit dir zu Ende – für heute und jetzt. Reitet fort! Ihr möget euch wenden, wohin ihr wollt, es erwartet euch dort nicht dieses, sondern ein noch ganz anderes Ende!«

Während die beiden mit einander sprachen, waren auch die andern Perser zu ihnen herangekommen. Sie hatten den letzten Teil der Rede des Pedehr gehört und sahen nun den Mirza an, was er thun werde. Er bohrte die Innenspitzen seiner Schuhbügel in die Flanken des Pferdes, daß dieses vor Schmerzen sich bäumte und fast überschlug. Dann warf er die Hand verächtlich in die Luft und rief unter grellem, weithin schmetterndem Lachen aus:

»Ein noch ganz anderes Ende! Alter Narr! Es giebt ja gar kein Ende! Welch ein Glück, wenn es so wäre, wie du sagst! Vielleicht aber hast du recht, denn uns fehlt nichts weiter, als nur das Eine, die Allwissenheit! Versuchen wir es! Ist es ein Phantom, oder ist es Wirklichkeit! Reiten wir ihm zu, dem von dir angedrohten, von Anderen aber heiß ersehnten Ende!«

»Dem Ende – dem Ende!« lachten die Andern ihm nach.

Sie trieben ihre Pferde an und ritten, das Beit-y-Chodeh jetzt in einem weiten Bogen vermeidend, die grüne Alm hinab und verschwanden bald hinter dem Gebüsch der unten liegenden Gärten. Wir schauten ihnen nach, bis wir sie nicht mehr sahen. Dann wendete sich der Pedehr mir zu, indem er fragte:

»Sind dir schon einmal derartige Menschen begegnet, Effendi? Sollte man sie nicht für etwas ganz Anderes halten?«

»Es ist mir an ihnen vieles rätselhaft,« antwortete ich.

»Kannst du mir sagen, was?«

»Wohl kaum! Es giebt Empfindungen, für welche die Sprache keine Worte hat. Es kommen uns Ahnungen, die wir uns nicht einmal in Gedanken deuten, noch viel weniger aber in hörbare Laute kleiden können. Es war mir, als ob Ahriman Mirza zwei verschiedene Leben besitze und zwei verschiedenen Reichen angehöre. Seine hörbare Rede gehörte dem einen an, dem andern aber der Sinn, der in ihr lag, und der Geist, der sie ihm diktierte. Ich habe viele, viele Menschen kennen gelernt, so einen aber noch nicht! Es gab, während er sprach, gewisse Stellen, an denen ich mir sagte, daß ich mich hüten müsse, an mir selbst irre zu werden. Er riß mir Gedanken aus der Tiefe, von denen ich niemals eine Ahnung gehabt habe. Und er wußte sie so zu leiten und zu gestalten, daß es mir schwer wurde, sie als irrig zu erkennen. Wehe dem denkschwachen, vertrauensvollen Opfer, welches er sich erwählt! Es muß ihm unbedingt verfallen sein! Da taucht ein Bild vor meinen Augen auf, ein Bild, widerlich und schön zugleich. Aber es gehört nicht hierher in Tempelsnähe. Könnte ich es dir zeigen, so würde in ihm wohl wenigstens einigermaßen die Antwort auf die Frage liegen, die du an mich gerichtet hast.«

»Sprich immerhin! Es giebt kein Bild im Himmel und auf Erden, welches der Sonnenglanz, der jetzt von unserem Beit-y-Chodeh für heut Abschied nehmen will, nicht doch verklären könnte.«

»Du sagst: im Himmel und auf Erden. Und dieses Bild bezieht sich allerdings auf beide. Ich habe daheim ein liebes altes Buch. Es ist gewiß vierhundert Jahre alt und von meinen Vorfahren auf mich gekommen. Es enthält nur Bilder, keinen Text, aber die Rückseiten wurden von den Händen der jeweiligen Besitzer fromm beschrieben. Denn diese Bilder wurden zur Erklärung und Veranschaulichung dessen gedruckt, was uns das Kitab el mukkadas erzählt. Es ist für mich von unschätzbarem Werte. Ich habe es schon als Kind sehr oft mit meinen kleinen Händen aufgeschlagen und schaue auch noch jetzt so gern hinein. Es dünkt mich heut, als sei ich es selbst, dessen Gefühle und Gedanken, dessen Kämpfe, Niederlagen und Siege auf diesen Blättern abgebildet seien. Die Menschheit in ihrer Kinderzeit, dem Vater vertrauend und in dankbarer Liebe ihn verehrend. Des Knaben Trotz und Unbedachtsamkeit, die, wie einst Israel, nicht gehorchen wollen. Des Jünglings heißgeliebte Ideale, im Harfenton der Psalmen aufwärts erklingend. Hierauf der eigene Sinn, welcher verlangt, mit den Augen schauen zu müssen, was das Herz bisher ohne Einwand glaubte. Das immer suchende und nicht ermüdende Forschen nach Bestätigung. Der Kampf mit andern Völkern, die andere Götter hatten. Die fürchterliche Gegnerschaft dessen, der einst zu Hiob kam, um ihn zu vernichten. Das feste Halten an dem Gottesglauben, trotz aller Siege, denen ich erlag. Der schwere, heiße Kampf des tapferen Judas Makkabäus, sich aus diesen Niederlagen wieder aufzurichten und, obwohl von seinen eigenen Brüdern verachtet und verdammt, die Höhe von Moria wieder zu ersteigen und sich die Liebe seines Volkes zu erringen. Wie war das so schwer, jawohl das aller-, allerschwerste. Doch glaube ich, ich habe es erreicht!«

Der Pedehr hatte sich in das Gras niedergelassen. Ich stand aufrecht vor ihm. Ich hatte von einem Bilde reden wollen, und wovon sprach ich aber nun? Konnte ich dafür? Warum waren die schönen, mildglänzenden Augen, mit denen er zu mir aufblickte, so liebreich fragend und so seelengut! Seine Dschamikun nannten ihn Pedehr, den Vater. Sie liebten ihn; sie ehrten ihn; sie vertrauten ihm. Er verdiente das, denn er war ihnen im wahrhaftesten Sinn des Wortes und in vollster Wirklichkeit ein Vater. Wie kam es doch, daß ich jetzt an den meinigen denken mußte! Er war ein einfacher Bürgersmann gewesen, schlicht und recht, wie arme Leute sind, vor deren Thür die Dürftigkeit am Tage wacht und auch des Nachts nicht schläft. Er hatte jenes Forschen und Suchen nicht begreifen können. Die materielle Not ist blind gegen Ideale. Er litt unter meinen äußeren Niederlagen; an den inneren Siegen aber, zu denen sie mich führten, konnte er nicht teilnehmen; sie brachten ihm keinen Gewinn. Und als ich endlich, endlich oben war, aus voller Brust tief Atem holend, weil ich in meinem Glauben an die Menschheit die Ueberzeugung in mir trug, daß mir vergeben sei, da legte er sich hin und starb, mich zwingend, meine schöne Hoffnung, alles, alles an ihm gut machen zu können, nach jenem Lande zu richten, in welchem ein jeder nachzusühnen hat, was hier auf Erden zu sühnen vergessen worden ist!

War es der Pedehr, der vor mir saß und mich so still und doch so erwartungsvoll anschaute? Diese Stirn! Dieser fragende Blick! Auch mein Vater war so, wie er, trotz seines hohen Alters immer jung gewesen! Was wollte dieses Auge? Dieser Blick? Was kann ein Vater wollen, wenn der vor ihm sitzende Sohn von seinen Fehlern spricht. Verzeihen doch, verzeihen! Sang man da unten im Tempel jetzt wieder das »Rosenlied?« Nein. Es klang mir nur im Innern, und es bedurfte nur einer geringen Aenderung, so war auch ich gemeint:

»Brich auf, mein Herz, der Rose gleich,
In der sich alle Düfte regen.
Gott ist an Gnade überreich;
Brich auf, und dufte ihm entgegen!«

»Effendi, was thust du hier?« fragte der Scheik. »Höre ich recht? Stand das in deinem Bilderbuche? Du beichtest ja dich selbst hinein! Oder nicht?«

»Ja, Pedehr, ich beichte!« gestand ich ihm. »Das Bilderbuch, von dem ich spreche, enthält die Beichte aller, aller Welt. Wenn ich von dieser Menschheitsbeichte spreche, so darf auch die nicht fehlen, die ich der Menschheit schuldig bin! Sie nehme diese Beichte mit in die ihrige auf! Dann kann ihr nicht vergeben werden, wenn sie nicht mir vergiebt!«

Da faßte er mit seinen beiden Händen die meinigen, zog mich halb zu sich nieder und sprach:

»Aber du beichtest hier im fernen Kurdistan! Vor mir allein! Die Menschheit hört dich nicht!«

»Sie wird mich hören! Denn sie wird es lesen!«

»Etwa in einem deiner Bücher?«

»Ja!«

»Und genau so ehrlich und so offen, wie du hier zu mir gesprochen hast?«

»Genau so!«

»Ef – fen – di –!«

Er sah mich staunend, fast erschrocken an. Mir aber war so warm, so leicht, so frei ums Herz. Ich fühlte, daß ein frohes Lächeln um meine Lippen spielte.

»Weißt du, was du dir da vorgenommen hast? Diese deine Menschheit wird dir gern verzeihen; aber alle, alle, die ihr Ganzes bilden, werden einzeln vortreten, um dich zu verdammen!«

»Ich fürchte mich weder vor der Menschheit noch vor dem Einzelnen! Was hier geschieht, geschieht auch dort! Ich beichte auch für dort! Vor dem, der jenseits richtet! Läßt er dann, so wie man hier mit mir gethan, die einzelnen vor seine Stufen treten, so bin ich frei von Schuld!«

Da zog er mich vollends zu sich nieder, schlang seine Arme um meinen Hals, küßte mich auf beide Wangen und sprach:

»Mein lieber, lieber Sohn! Glaubst du, daß ich mit meinen Dschamikun auch mit zur Menschheit gehöre? Ja? Du nickst! Du bist ergriffen! Ich sehe Thränen! Weine nicht! Ich sage dir: Unter denen, die aus der Menschheit treten, weil sie nicht menschlich denken und verzeihen, wird sich kein einziger Dschamiki befinden! Für die andern aber, die es thun, sei das, was du schreibst, wie nicht geschrieben, denn du beichtest der Menschheit, aber nicht denen, die aus ihr getreten sind!«

Da stand der Ustad vor den Säulen des Tempels und gab ein Zeichen nach dem »hohen Hause« hinüber. Man hatte auf dieses Zeichen gewartet, denn die Sonne war im Untergehen, und sogleich erklangen die Glocken. Der Pedehr erhob sich, zog mich mit sich empor, behielt mich mit der Linken umarmt und zeigte mit der Rechten nach dem Alabasterzelt hinauf.

»Erzähle mir von deinem Bilde weiter!« sagte er. »Es wird sich jetzt ein anderes zeigen. Auch aus einem Kitab el mukkadas, aber nicht aus einem geschriebenen, welches man nach Belieben öffnen und schließen kann, sondern aus dem, welches unaufhörlich über die ganze Erde offen ausgebreitet liegt. Wenn du die Bilder deines Buches recht verstanden hast, so wirst du auch dieses recht verstehen.«

Jetzt drehte der Ustad sich nach unserer Seite. Als er uns in Umarmung stehen sah, nickte er zu uns herauf und verließ den Tempel, um herbeizukommen. Die Augen aller anwesenden Dschamikun und ihrer Gäste waren hinüber nach dem höchsten Punkte des Gebirges gerichtet.

Die Sonne hatte unser Thal verlassen und senkte sich jenseits der Berge nieder. Während sie diese auf der uns abgelegenen Seite beleuchtete, begann hier die Dämmerung emporzusteigen. Schon webten um den See dunkle Schatten, die wie abgeschiedene Seelen über seine Gewässer zu schiffen schienen. So, wie diese Dämmerung emporstieg, um schließlich das ganze Thal in Dunkel zu hüllen, so klettert auch das Leid im Menschenherzen immer höher und höher, um es gänzlich auszufüllen. Giebt es denn keinen Punkt, den es nicht erreichen kann, den es niemals ganz zu umnachten vermag? Doch!

Schon waren die Bergeshäupter im Süden, Osten und Norden in ihr letztes, tiefstes Violett gefärbt; dann wurden sie von den Strahlen verlassen, die empor zum Firmament flüchteten, um sich in dem Glanze der Sterne aufzulösen. Im Westen aber, wo der Himmel in Flammenglut gestanden hatte, erschien der letzte Tagesgruß im Abendrot, um sich am Alabasterzelte sterbend auszuleuchten. Es stand in dieser keuschen Abschiedsglut, als sammelte es am Thore der Seligkeit die hochgestiegenen Pilgerseelen allesamt, die, durch des Lebens Leid und Weh verklärt, dem höchsten Erdenpunkt entschweben sollen, damit der Felsengrund, auf dem das »hohe Haus« errichtet wurde, sich als vom Herrn mit eigener Hand gelegt erweise.

Der Himmelsstrahl brach sich auf dem halbdurchsichtigen Steine in alle seine Erdenfarben. Sie schimmerten und blitzten, als sei das ganze Zelt mit den Schmuckstücken der Herrscher aller Zeiten und aller Welten ausgelegt. Und noch als diese märchenhafte Herrlichkeit vom abendlichen Dunkel erreicht und unsern Augen entzogen wurde, war es anzusehen, als ob jeder einzelne der Brillanten sich weigere, für heut bis morgen ausgelöscht zu werden.

Ich stand noch längere Zeit und schloß die Augen, um dieses wunderbare Bild fürs Leben festzuhalten. Man sagt, die Erde könne schon die Hölle sein. Jawohl; ich glaube es! Doch mit demselben Rechte der Ewigkeit, sich uns schon hier in der Zeit zu offenbaren, kann uns die Erde auch ein Himmel sein. Wenn der Himmel nur von Engeln oder Seligen und die Hölle nur von Teufeln oder Verdammten bevölkert wird, so kommt es ja wohl nur auf die Menschen an, welches von beiden sie sein und wozu sie die Erde machen wollen!

Der Pedehr riß mich aus meinem Sinnen.

»Nun, Effendi,« fragte er, »gleicht dieses Bild dem deinen, von welchem du sprechen wolltest?«

Mit einigen kurzen Worten erklärte er dem Ustad, auf was sich diese seine Frage bezog. Dann antwortete ich:

»Könnte ich dir deutlich machen, was das ist, was wir im Abendlande ein Pendant nennen. Sonderbarerweise sind beide Bilder ähnlichen Inhaltes und einander nahe verwandt. Ich möchte das meinige ›Vom Himmel nach der Erde‹ und dieses hier ›Von der Erde nach dem Himmel‹ unterzeichnen. In meinem alten Buche fehlen Blätter. Ich habe es versucht, die Lücken durch meine Phantasie zu ergänzen. Das erste Blatt, welches ich ihm geben möchte, ist das, von dem ich sprach. Ich dachte folgendes: Ein hoher Punkt in Ahuramazdas lichtem Himmel, der steil zur Tiefe fällt, in der die Erde liegt. Da oben eine Schar seiner Engel, die wißbegierig und verlangend nieder in das Unbekannte schauen. Zu ihnen tritt Ahriman, der Empörer, der sich dünkt, Gott gleich zu sein. Er will hinab, doch nicht allein. Er sucht sie zu verführen, den Himmel zu verlassen und mit ihm ein Reich zu gründen, in dem der Herr nichts zu befehlen habe. Um sie dem ewigen Gebieter abwendig zu machen, spricht er zu ihnen in jener Weise, welche man heut diabolisch nennt. Er bethört sie so mit Aftergründen und trügerischen Schlüssen, wie heut Ahriman Mirza es mit uns zu thun versuchte. Und erstaunlich ist es wohl: der Ahriman auf meinem Bilde glich ganz genau dem Mirza, der dort am Waldesrande vor uns stand. Hat diesselbe Idee auch stets die gleiche Gestalt, mag sie stammen, woher sie auch sei? Das Böse hat für den ersten, flüchtigen Blick wohl immer eine verlockende Gestalt. Aber wenn man sie zwingt, den Mund zu öffnen, so ist das sicherste Erkennungszeichen die Leidenschaft, mit der sie alles treibt und thut und redet. Der, welcher einst dem Teufel den Quastenschwanz und Pferdefuß verlieh, hat sicherlich in seinem Dienst gestanden. Die Hölle ist ein Sumpf, auf dem die Decke üppig grünt und blüht, den irren Lebenswanderer anzulocken. Der Himmel glänzt, sie aber kann nur gleißen. Ihr Gold ist falsch, wie ihre Diamanten. Die flimmernden Steine des Mirza sind wohl auch nicht echt!«

Die verschiedenen Gruppen der Dschamikun vereinigten sich, um unter dem noch fortdauernden Glockenläuten nach dem Duar zu ziehen. Meine Sänfte wurde gebracht. Hanneh stand in der Nähe. Ich lud sie ein, mit einzusteigen. Es war genügend Platz für zwei Personen da. Sie nahm es an, doch sagte sie:

»Laß uns noch warten, bis die Sterne leuchten! Ich möchte gern das Zelt da oben in ihrem Lichte schauen.«

Das war mir recht. Der Ustad und der Pedehr gingen. Der letztere kam aber noch einmal zurück zu mir und fragte mich:

»Effendi, erlaubst du mir, ihm zu sagen, was wir gesprochen haben? Ich kann kein Geheimnis vor ihm haben, und möchte doch auch gern, daß er von deiner tapfern Beichte erfahre, die weder Menschenfurcht noch sonstige Feigheit kennt.«

»Ich kenne keinen Grund, es ihm zu verschweigen,« antwortete ich. »Es ist nichts in mir, was ich ihm verheimlichen möchte.«

Hierauf führte ich Hanneh quer durch den Tempel. Wir setzten uns an seinen Stufen nieder. Sie war still, ich auch. Ein jetzt noch matter Schein lag zwischen hier und dort. Nur der Abendstern stand schon in vollem Glanze. Früh heißt er Morgenstern. Er ist derselbe; nur die Namen sind verschieden. Nicht so auch Gott? Zwischen den beiden Namen des Sternes liegt eine Nacht. Welche Nächte sind es, die zwischen den verschiedenen Namen Gottes liegen? Und wer ist es, von dem diese Dunkelheiten ausgegangen sind? Von ihm, dem ewigen Lichte, nicht!

»Ich sehe es,« sagte Hanneh leise, als ob das Alabasterzelt ein Heiligtum sei, von welchem man nicht in lauten, rauhen Worten sprechen dürfe.

Auch ich sah es nun. Der Berg, auf dem es lag, erschien uns jetzt als eine formlose, finstere Masse. Nur in der Höhe hatte er Konturen, welche der Himmel ihm verlieh. So scheinen auch die Berge des Lebens in der Tiefe ohne Gestalt zu sein; aber sie tritt um so mehr und um so deutlicher hervor, je näher sie zum Firmamente steigen. Auch das Zelt selbst erschien noch schattenhaft. Im Innern war es ohne Licht, doch nahte dies von oben. Als ob der Gedanke, der es erstehen ließ, erst jetzt geboren und sofort zum Körper werde, so that es sich im heller werdenden Schein der Sterne vor unsern Augen immer weiter und immer deutlicher auf, bis es in magischer Schönheit, klar und rein, dem Meister dankte, welcher die im Gesteine verborgene Bergesseele aus ihrer schwermassigen Gestaltlosigkeit befreit und ihr im bedeutungsvollen Bildnisse die Erlösung gebracht hatte.

Wir saßen und schauten, ohne zu sprechen. Was soll man reden, wenn man von Gefühlen bewegt wird, für die es keine Worte giebt! Nach wohl geraumer Zeit stand Hanneh auf. Wir gingen zur Sänfte und wurden heimgetragen. Im Duar herrschte lautes, froh bewegtes Leben. Droben war es still.

Als wir unsern Saal betraten, fiel es mir auf, daß sich mein Lager nicht mehr dort befand. Kara saß bei seinem Vater. Der Ustad und der Pedehr standen dabei. Halef schlief. Aber sein Gesicht hatte nicht die Ausdruckslosigkeit, welche dem vollständigen Unbewußtsein eigen ist.

»Er war froh über seinen Traum,« sagte Kara leise, um ihn nicht etwa zu wecken.

»Hat er wieder geträumt?« fragte Hanneh.

»Ja. Und zwar wieder vom Effendi.«

»Doch nicht etwa von den fürchterlichen Maden!«

»Doch! Der erste Traum war wiedergekehrt. Ich weiß, daß so etwas zuweilen geschieht. Auch schrie er wieder. Bald aber beruhigte er sich. Ich sah ihm sogar an, daß er sich über etwas freute, und als er dann erwachte, sagte er mir, worüber. Das machte ihn so glücklich!«

»Was?«

»Die Würmer hatten einander schließlich selbst aufgefressen, bis endlich die letzte aller Maden so dick geworden war, daß sie an sich selbst zerplatzen mußte. Der Effendi aber stand so heiter und so rüstig da, als ob er gar nicht von ihnen berührt worden sei. Nachdem der Vater mit dies erzählt hatte, schlief er wieder ein.«

»Wie sonderbar! Was sagst du dazu, Sihdi?«

»Ich bin kein Ruja tschykaran,« antwortete ich.

»Eigentümlich ist es freilich, daß der eine Traum so deutlich und so sicher an den andern knüpfte.«

»Warum eigentümlich?« fragte der Pedehr. »Ist es nicht mit dem Leben ganz dasselbe? Knüpft da nicht auch das eine an das andere an? Wenn in dieser Beziehung etwas sonderbar sein kann, so ist es nur der unbegreifliche Wahn, daß ein von der Seele und von dem Geiste so unendlich reich ausgefülltes Dasein in dem Leibe von Würmern und von Maden enden könne! Der Traum des Hadschi ist mehr, als ein Traum, denn er zeigt uns die Wirklichkeit. Wenn alle Menschen, die auf Erden wohnen, nichts als Würmer oder Maden wären, und nur ein einziger besäße Geist und Seele, sie würden doch nicht im stande sein, ihn auch nur körperlich, und noch viel weniger geistig oder seelisch zu vernichten! Der Effendi kann nicht nur, wenn andere von ihm träumen, sondern auch wenn sie von diesem Traume erwachen, vollständig ruhig sein!«

»Nicht nur ruhig!« sagte der Ustad; »sondern sogar glücklich! Komm, Effendi; geh mit mir!«

Er nahm mich bei der Hand und führte mich hinaus nach der Stelle, wo ich abends immer gesessen hatte. Er legte mir seine Rechte aufs Haupt und sprach:

»Hier war es, wo, grad so wie jetzt, diese meine Hand auf dir ruhte. Kannst du dich noch besinnen, mit welchen Worten ich dich willkommen hieß?«

»Ja,« erwiderte ich.

»Sage sie!«

»Ich heiße dich zum zweitenmal willkommen und bitte dich, bei mir zu bleiben, so lange es dir und deinem höheren Ich, welches ihr Seele zu nennen pflegt, bei mir und meiner Seele gefällt. Ich habe auf dich gewartet!«

»Ja; so sagte ich. Du hast es dir gemerkt. Und heute wiederhole ich diese meine Worte. Ich heiße dich zum drittenmale willkommen! Bis jetzt warst du bei mir. Heut aber hat es sich herausgestellt, daß auch deine Seele bei der meinen ist. Effendi, weiß du, was das heißt? Noch nicht!«

Er ließ seine Hand von mir herabgleiten, deutete nach dem Tempel, der drüben hell im Sternenlichte stand, und fuhr fort:

»Es giebt Welten, von denen du keine Ahnung hast. Wie die Sterne immer weiter und weiter entfernt von der Erde liegen, so erheben sich diese Welten in unirdischen Entfernungen über einander. Keine niedere kann die höher liegende stören. Wer sich in eine höhere emporgerungen hat, der bleibt für die niedere unerreicht; es sei denn, daß er freiwillig zu ihr niedersteige. In allen diesen Welten giebt es Bewohner, welche die höhere entweder hassen oder sich nach ihr sehnen. Die Hassenden sind für sie unschädlich. Die sich Sehnenden werden emporgehoben. Es liegt eine unermeßliche Macht in diesem Sehnen. Sie ist wie die Gewalt des gläubigen Gebetes, welchem Chodeh nicht widerstehen kann, wenn es selbstlos ist! Diese Welten sind vor deinem Auge unsichtbar, deiner Seele aber wohlbekannt. Aber daß sie vorhanden sind, das kannst du fühlen, wenn sich in deiner Seele Sehnsucht nach einer höheren regt. Diese Sehnsucht ist eine schmerzliche, weil der Geist, von dem sie sich nicht trennen darf, nicht folgen will. Er ist das Selbst; sie aber ist die Liebe. Er will nicht auf das verzichten, was er jetzt besitzt, weil er nicht an das glaubt, was wohl ihr Auge sieht, aber nicht das seine. – Wie unendlich glücklich bist du da, Effendi! Du besitzest diesen Glauben; ja, er ist sogar doppelt dein: Was deine Seele glaubt, glaubt auch dein Geist. Was sie erstrebt, wird auch von ihm ersehnt. Du wirst es erreichen!«

Er senkte den Kopf und schwieg eine kleine Weile. Dann sprach er mit leiserer Stimme weiter:

»So war es nicht bei mir! Mein Wesen war nicht ein vereintes wie das deinige; es war geteilt. Der Zwiespalt wohnte zwischen meiner Stirn und meinem Herzen. Ahnst du wohl, wie er hieß?«

»Ahriman Mirza?« wagte ich zu raten.

»Ja; er war es! Er ist’s zu jeder Zeit, der sich zwischen Geist und Seele drängt, um wo möglich beide zu vernichten. Du kennst ihn nicht in dieser fürchterlichen Thätigkeit, weil bei dir Geist und Seele einig sind. Er konnte nicht zwischen sie treten. Und aber dennoch solltest du ihn kennen. Er griff bei dir an anderer Stelle zerstörend ein. Er drängte sich zwischen sie beide und den Körper! Dein leibliches, dein äußeres Leben war es, welches er vernichten wollte, um dadurch auch sie bis auf den Tod zu treffen! Nicht innerlich, denn das vermochte er nicht, sondern in diesem äußeren, leiblichen Leben rang er dich nieder, und du hattest es nur dem unantastbaren Frieden und der unbesieglichen Kraft deines Innern zu verdanken, daß es dir gelang, dich aufzuschnellen und nach langem, schweren Kampfe endlich für immer obzusiegen! Niemand, kein Mensch hat das gesehen! Doch einer sah es, und der vergißt es nicht. Er hörte auch, was du da drüben zum Pedehr gesagt. Ich weiß, du wirst es thun; du wirst es halten! Und noch eines weiß ich darum auch, nämlich daß du der wirklich bist, als den ich dich bei mir erwartet habe. Bis jetzt stand dir der Raum der Dschemma offen, weil du der kranke Gast des ganzen Stammes warst. Von heute an wohnst du bei mir, in meinem stillen, lieben Heim, wo du, vom Alltag nicht gestört, dem Klange der Glocken näher bist als hier. Du sahst wohl schon, daß deine Lagerstätte hier in der Halle fehlt. Es ist bei mir schon alles für dich vorbereitet. Gieb mir die Hand!« – –

Im Reiche des silbernen Löwen II

Reiseerzählung

Im Reiche des silbernen Löwen II

Inhalt

Am Tage nach dem am Schlusse des vorigen Bandes beschriebenen Abende unternahmen wir den geplanten Ritt nach dem Turm von Babylon, jetzt von den dortigen Beduinen Birs Nimrud genannt. Man rechnet von Bagdad nach Hilla oder Hilleh drei kurze Tagereisen. Mit unsern schnellen Pferden brauchten wir nicht so lange Zeit, und darum fiel es uns nicht ein, den Ritt schon am Vormittag zu beginnen; wir ließen vielmehr grad wie damals die größte Tageshitze vorüber und ritten, nachdem wir uns von unserem Wirte und seinem dicken Onbaschi verabschiedet hatten, den Fluß hinauf und über die Brücke nach dem rechten Tigrisufer.

Als wir von dort aus einen Blick zurücksandten, lag die Stadt, grad wie damals, in hellem Sonnenglanz vor unsern Augen. Links sahen wir den Volksgarten, die von Midhat Pascha angelegte Pferdebahn und die Quarantäneanstalt, hierauf das Kastell und hart am Wasser das Gouvernementgebäude; rechts lag die Vorstadt mit der alten Mostansir. Dann dehnte sich die von Minarehs und Moscheekuppeln überragte Häusermasse aus, über die sich der Dunst- und Staubschleier breitete, welcher Bagdad eigen ist.

Von hier aus wendeten wir uns nach dem Oschach-Kanal, und als wir diesen hinter uns hatten, sahen wir vor uns die freie – – Wüste. Ja, es ist Wüste. Da, wo vor nicht gar langer Zeit Garten an Garten sich reihte, wo Tausende von Palmen winkten, Blumen dufteten und herrliche Früchte glänzten, da dehnt sich eine unabsehbare, trostlose Wüste westwärts bis an das Ufer des Euphrat aus.

Durch diese Einöde führte unser Weg erst nach dem Khan Assad und dann nach dem Khan Bir Nust, den wir kurz vor Abend erreichte. Im Khane selbst zu übernachten, fiel uns wegen des dortigen Ungeziefers nicht ein; wir suchten ihn nur auf, um unsere Pferde zu tränken, und ritten dann noch ein Stück in der Richtung nach dem Khan Iskenderijeh weiter, wo wir abstiegen, die Tiere anpflockten und unsere Decken zum Lager ausbreiteten.

Wir hatten bis hierher keinen einzigen schiitischen Pilger und keinen einzigen Leichentransport gesehen; dennoch sagte Halef, als wir uns nebeneinander niedergesetzt hatten:

»Sihdi, riechst du nichts? Mir ist ganz so, als ob wir uns im Pesthauche der Todeskarawane befänden. Geht es dir nicht auch so?«

»Ja, ganz genau wie dir,« antwortete ich. »Die Erinnerung wirkt auf unsere Geruchsnerven. Ich sehe die Todeskarawane nicht bloß an mir vorüberziehen, sondern ich rieche sie auch. Es war entsetzlich damals, ganz entsetzlich, und es ist kein Wunder, daß unsere Nasen den Leichenduft, welcher ihnen damals so grausam mitspielte, heut noch nicht vergessen haben.«

Todeskarawane, Karwan el Amwat, wie der Beduine sagt, was ist das?

Ich glaube, diese Frage am besten und kürzesten mit einer bereits schon früher gegebenen Antwort zu erledigen:

Der Muhammedaner schiitischen Glaubens ist überzeugt, daß ein jeder Moslem dieser Sekte, dessen Leiche in Kerbela oder Nedschef Ali begraben wird, ohne alle weiteren Hindernisse sofort in das Paradies komme. Bekanntlich zerfallen die Anhänger des Islam in die beiden Abteilungen der Sunniten und Schiiten. Das Wort Sunna, zu deutsch »Weg« oder »Richtung«, bezeichnet alle auf eine That oder einen Ausspruch Muhammeds bezüglichen Traditionen, welche für solche Fälle, in denen der Kuran sich entweder gar nicht oder undeutlich ausspricht, als Gesetze Geltung haben. Die Sunna bildet also für den Anhänger derselben neben dem Kuran die hauptsächlichste Quelle der Religions- und Lebensvorschriften. Nebenbei, doch ebenso hauptsächlicherweise unterscheiden sich die Sunniten von den andersgläubigen Muhammedanern auch dadurch, daß sie die drei Kauen Abu Bekr, Omar und Othman als rechtmäßige Nachfolger des Propheten anerkennen. Zu ihnen gehören fast alle Moslemin in Afrika, auch Ägypten, in der Türkei, in Syrien, Arabien und in der Tatarei. – Schia heißt soviel wie Partei. Die Schiiten verwerfen die genannten drei Kalifen und behaupten, nur Ali und seinen Nachkommen habe die Kalifenwürde gebührt. Sie sind meist über Persien und Indien verbreitet, während sie in andern Ländern nur vereinzelt vorkommen. Man schätzt sie zu zwanzig Millionen, während es über zweihundert Millionen Sunniten giebt.

Die Schiiten widmen Ali und seinen Nachkommen, besonders aber seinen Söhnen Hassan und Hussein, eine so übertriebene und dabei leidenschaftliche Verehrung, daß er und alle zu seiner Nachfolge berechtigten Nachkömmlinge von einigen extremen Parteien sogar für Inkarnationen Gottes gehalten werden. Sie haben, obgleich sie das nicht zugeben, die ursprüngliche Lehre durch mystische und pantheistische Hineinlegungen verfälscht und stellen die Behauptung auf, daß die Sunniten zu vernichten oder doch noch viel mehr als die Juden, Christen und Heiden zu hassen und zu verfolgen seien. Daher die Jahrhunderte alten, erbitterten und blutigen Kämpfe zwischen diesen beiden Richtungen. Es ist Blut, sehr viel Blut geflossen; es sind Grausamkeiten verübt worden, welche niederzuschreiben sich die Feder sträubt, und noch heut ist dieser Haß nicht verlöscht. Er glimmt fort und fort und bricht bei jeder Veranlassung in helle, vernichtende Flammen aus. Es versteht sich ganz von selbst, daß diese Erbitterung ihre meisten Opfer in den Gegenden sucht und findet, wo Sunniten und Schiiten vermischt wohnen oder aber öfters aufeinander stoßen, und das findet ganz besonders statt in der Grenzprovinz Irak Arabi mit den beiden nicht weit von Bagdad liegenden heiligen schiitischen Städten Nedschef Ali und Kerbela.

Die erstere Stadt hat ihren Namen von dem in der Nähe liegenden Nedschef-See erhalten und wird auch Meschhed Ali, d. h. Grabmal Alis, genannt, weil dieser da begraben worden ist. Sie ist ungefähr fünfzig Kilometer südlich von den Ruinen von Babylon gelegen, auf welchem Wege man auch über das Dorf Kefil kommt, wo sich die Ruhestätte des Propheten Hesekiel befindet. Kerbela, auch Meschhed Husseïn, d. i. Grabmal Husseïns, genannt, ist die Hauptstadt eines Sandschäk, zählt über sechzigtausend Einwohner und soll an Reichtum Bagdad weit übertreffen. Sie wird durch einen Kanal mit dem rechten Euphratufer verbunden und bildet den hervorragendsten Wallfahrtsort der Schiiten, von denen es noch heiliger als Nedschef Ali gehalten wird.

Es ist nicht meine Absicht, auf die ersten Kämpfe zwischen den Sunniten und Schiiten und den Tod Alis und seiner Söhne Hassan und Hussein einzugehen. Es genügt, zu sagen, daß, wie wir auch noch sehen werden, die Gedenkzeit an Husseins Tod von den Schiiten mit größter Leidenschaft begangen wird, und zu wiederholen, daß die Bekenner der Schia die Überzeugung hegen, ein jeder ihrer Anhänger gehe sofort in den Himmel ein, falls er in einer der beiden Städte begraben werde.

Aus diesem Grunde ist es der heißeste Wunsch eines jeden Schiiten, in dieser heiligen Erde ruhen zu dürfen; aber da die meisten Schiiten in Persien und gar Indien leben und der weite Transport der Leichen also ein außerordentlich kostspieliger ist, so ist es nur dem Reichen möglich, nach seinem Tode nach Kerbela oder Nedschef Ali geschafft und dort beerdigt zu werden; der Arme aber muß sich selbst transportieren, d. h. er nimmt von seinen Angehörigen für immer Abschied und bettelt sich unter allen möglichen Anstrengungen und Leiden durch die weiten Länderstrecken nach dem fernen Ziele seiner Wanderungen und seines Lebens, um dort dann seinen Tod zu erwarten.

Diese Wanderungen kommen zu jeder Jahreszeit vor und erstrecken sich meist auf ganz bestimmte Wege, weiche gebräuchlich geworden sind, weil sie sich als die besten und kürzesten erwiesen haben; auch sind gewisse Strecken, Richtungen oder Abweichungen von den Behörden vorgeschrieben. Diese Wege gleichen einem Flußsysteme: Das Gebiet der Quellen, Bäche und einzelnen Wasserläufe ist weit ausgebreitet; dann nähern sich die Zuflüsse einander nach und nach, um die Nebenarme zu bilden, welche sich später zu dem Hauptstrome vereinigen. je weiter entfernt, desto unbedeutender, aber zahlreicher sind die Wasser, je näher dem Ziele, desto geringer wird zwar ihre Zahl, aber desto bedeutender sind sie geworden, bis sie endlich, alle vereinigt, im Hauptbette als mächtiger Fluß der Mündung entgegenrauschen. Ebenso ist es auch mit dem Menschenstrome, den diese Pilgerwanderungen bilden: Die einzelnen schiitischen Wanderer, denen man in den fernliegenden Gegenden begegnet, finden sich an gewissen Vereinigungspunkten zusammen und bilden da Gesellschaften, die sich an weiterliegenden Knotenpunkten vereinigen, um dann von rechts und links immer neue Zuflüsse aufzunehmen, bis sie zu bedeutenden Zügen anwachsen und schließlich die großen, gefürchteten Todeskarawanen ergeben, gefürchtet deshalb, weil sie nicht nur aus dem verkommensten, zu allen Schandthaten fähigen Menschenmateriale, sondern auch aus den zahlreichen Leichentransporten bestehen, die sich ihnen angeschlossen haben. Man denke sich Hunderte und Hunderte von toten Menschenkörpern, welche nur in dünne Decken gewickelt sind oder in längst zerbrochenen Särgen liegen; seit Monaten unterwegs, sind sie dem glühenden Sonnenbrande und allen Einwirkungen der langen Reise und des Wetters ausgesetzt gewesen; sie befinden sich also in allen möglichen Graden der Verwesung und verbreiten einen Gestank, den jeder Windhauch stundenweit verbreitet. Da ist es wahrlich kein Wunder, daß das hohl- und triefäugige Gespenst der Pest diesen Karawanen auf dem Fuße folgt! Diese Pilgerzüge führen zahllose Leichen mit sich und den Tod hinter sich; darum wird jeder solche Zug mit dem sehr bezeichneten Namen Karwan el Amwat, d. i. Todeskarawane, benannt.

Diese Zuzüge der Pilger und Leichentransporteure werden am stärksten, wenn der zehnte Muharrem, der Todestag Husseins, nahe ist. Da kommen die Karawanen der Inder, Afghanen, Beludschen und Perser vom iranischen Tafellande herab; von allen Seiten nahen sie, und sogar auf Schiffen werden Pilger und Leichen herbeigeschleppt, denn von Indien her ist der Seeweg kürzer als der beschwerliche Weg über Land. Man versuche es aber einmal, ein solches den Schatt el Arab heraufkommendes Schiff zu besteigen! Wegen des von ihm verbreiteten Gestankes weicht ihm jedes andere Fahrzeug schon von weitem aus, und einer europäischen Nase würde es vollständig unmöglich sein, sich ihm ohne ein eisernes Muß bis auf Kiellänge zu nähern. Und dabei behaupten die Menschen, welche die Leichen zu begleiten und zu bewachen haben, diese methodischen Ausdünstungen seien nicht Gestank, sondern Hawa es Sema und Rawaji ed Dschani!

Wenn ein Schiit gestorben ist und nach der heiligen Begräbnisstätte geschafft werden soll, so bleibt seine Leiche vielleicht monatelang liegen, ehe die Reise beginnen kann. Hat dann der Aufbruch endlich stattgefunden, so ist ein weiter, weiter Weg in qualhaft langsamer Weise zurückzulegen. Die Hitze des Südens brütet mit entsetzlicher Glut auf die Strecken hernieder, welche zurückgelegt werden müssen; die Särge zerplatzen, und die Decken, in denen die Leichen sich befinden, werden von Produkten der Zersetzung durchdrungen oder gar zerstört. Der ehrliche Mann, welcher den Zug kommen sieht, weicht entsetzt zur Seite aus, und nur der Schakal und der räuberische Beduine schleichen sich herbei, der eine, angezogen von dem Geruche der Verwesung, und der andere, herbeigelockt von den Schätzen, welche die Karawane mit sich führt, um sie am Ende der Wallfahrt den Hütern des heiligen Grabes zu übergeben. Da werden diamantenbesetzte Gefäße, perlenbesäte Stoffe, kostbare Waffen und Geräte, gewaltige Mengen vollwichtiger Gold- und Silberstücke, unschätzbare Amulette, aus edlem Metall hergestellte und mit herrlichen Steinen geschmückte Nachbildungen kranker Gliedmaßen, für welche der Spender Heilung sucht, kurz, alle möglichen Gaben und Schätze nach Kerbela und Nedschef Ali gebracht, wo sie in den unterirdischen Kellern verschwinden. Diese Gegenstände werden, um die Räuber zu täuschen, in sargähnlichen Verpackungen verborgen; aber die durch die Erfahrung klug gewordenen Beduinen lassen sich durch diese Vorsicht schon längst nicht mehr täuschen. Sie kommen ganz sicher zu den gesuchten Schätzen, indem sie bei ihren Überfällen alle Särge öffnen. Später bietet dann der Kampfplatz ein wüstes Durcheinander von gefällten Tieren, ermordeten Menschen, umhergeworfenen Leichenresten und zerstreuten Sargtrümmern, und der einsame Reiter, welcher zufälligerweise an diese Stätte des Todes und der Zerstörung kommt, lenkt sein Pferd von ihr ab, um dem Hauche der Pest und Ansteckung zu entgehen, und ruft aus: »Allah ia Allah, schi bikab’bib schar irrahs – Gott, o Gott, da steigen einem die Haare zu Berge!«

Und auf dem Wasserwege befinden sich die Pilger und Transporteure in ganz derselben Gefahr. Die Pilgerschiffe kommen aus dem Schatt el Arab in den Euphrat, dann durch den Arm von Semawat und durch den Arm von Bahr-i-Nedschef herauf, oft zu Flotten vereinigt. Auf den Decks und in den Unterräumen lagern Lebende und Tote bunt durch- und nebeneinander, und sogar die Schiffsränder sind oft nach außen und innen mit Särgen behangen. Welch eine infernalische Luft da herrschen muß, kann man sich denken! An dem erwähnten Kanale lauern die Beduinen vom mächtigen Stamme der Elbu-Thefir, um die Schiffe abzufangen; jedes muß ihnen den Wert von tausend und noch mehr Mark bezahlen, sonst wird es ausgeplündert und jeder Lebende niedergemetzelt.

Man denke aber ja nicht, daß mit der Ankunft an den heiligen Stätten alle Widerwärtigkeiten zu Ende seien! Nun beginnen die ebenso schwierigen wie langwierigen Unterhandlungen mit der bei der Moschee angestellten Geistlichkeit, welche die höchstmöglichen Forderungen stellt und das Wort Nachgiebigkeit weder im Herzen noch auf der Zunge kennt. Je reicher der Tote war und je näher dem Heiligtume er begraben werden soll, desto höher steigt die Summe, welche dafür gefordert wird, und man muß schließlich jeden Betrag zahlen, um nur die Leiche endlich einmal loszuwerden. Auch den armen Pilgern wird es nicht leicht gemacht, in heiliger Erde Ruhe zu finden. Was sie noch besitzen, wird ihnen abgepreßt. Körperlich und geistig und nicht zum wenigsten auch moralisch ganz heruntergekommen, an allen möglichen Krankheiten leidend, irren sie hungernd und dürstend umher, und nur wenigen gelingt es, in einer der zwar viel gelobten, aber doch fast gar nichts leistenden Wohlthätigkeitsanstalten für kurze Zeit Aufnahme zu finden. Da kann es freilich nicht ausbleiben, daß folgt, was Schiller, wenn auch aus anderer Veranlassung, sagt: »Da werden Weiber zu Hyänen.« Von allem entblößt und mit dem Tode des Verschmachtens kämpfend, sind sie auch zu allem fähig, um diesem Tode zu entgehen oder ihn doch so weit wie möglich hinauszuschieben. Diebstahl und Erpressung, Raub und Mord müssen ihnen liefern, was ihnen die Gerechtigkeit oder Menschlichkeit versagt, und so kommt es, daß die heiligen Städte und ihre Umgebungen sich keineswegs der Sicherheit erfreuen, welche ihrer Berühmtheit angemessen wäre. Und wer sich vor diesen Verzweifelten sicher fühlen darf, den muß schon der Anblick der Kranken und Sterbenden empören, weiche allerorts herumliegen und auf ihr Ende warten, weil es niemand giebt, der sich ihrer erbarmen will. Wenn von den Abertausenden der herbeigekommenen Pilger nur ein Viertel stirbt, so nennt man das ein ausnahmsweise sehr gesundes Jahr. Das ist jedenfalls mehr als genug gesagt!

Zufolge der großartigen Spenden und der ebenso großen Erpressungen besitzen Nedschef Ali und Kerbela mehr Reichtümer als wohl irgend eine andere Stadt des Orientes. Die Kuppel über Alis Grabmoschee wird Kuh-i-Sär genannt; der Boden des Innern soll aus reingoldenen Platten bestehen, und wenn man der Beschreibung der unterirdischen Gewölbe traut, so müssen diese Schätze enthalten, gegen welche alle Reichtümer von Golkonda keines Vergleiches würdig sind.

In Kerbela sollen noch mehr Reichtümer als in Nedschef Ali liegen. Ein mit gediegenem Golde gedeckter Dom leuchtet den nahenden Pilgern entgegen. Wer dort ein Grab findet, dem werden selbst die schwersten Sünden vergeben und alle Thore des Himmels, selbst das siebente, sofort geöffnet. Es werden also wohl nicht die tugendhaftesten Schiiten sein, welche die größten irdischen Opfer bringen, um nach ihrem Tode hierhergebracht zu werden. Aber Kerbela wird auch von lebenden Missethätern aufgesucht. Vornehme Sünder geistlichen und weltlichen Standes fliehen, um der Hinrichtung zu entgehen, nach dieser Stätte, deren Asylrecht sie vor allen Verfolgungen schützt, und bleiben, nachdem sie sich die Erlaubnis dazu mit dem größten Teile ihres Vermögens erkauft haben, bis zu ihrem Ende da. Irdische Schätze und moralische Verworfenheit sind hier an einer und derselben Stelle aufgehäuft; man hat die »heiligen« Orte zu Ansammlungsstätten für körperlich und ethisch Tote gemacht, und nicht der große, Pestgestank verbreitende Pilgerzug allein, sondern auch jeder kleine Reisetrupp, welcher solche moralische Leichen nach dem ihnen einzig nur noch offenen Asyl bringt, müßte eigentlich als »Todeskarawane« bezeichnet werden.

In neuerer Zeit ist es der Karwan el Amwat verboten, ihren Weg durch eng bewohnte Ortschaften zu nehmen; früher aber durfte sie mitten durch Bagdad ziehen. Sie kam durch Schedt Omer, das östliche Thor, herein und verließ, die Schiffbrücke benützend, die Stadt auf demselben Wege, den auch ich mit Halef damals und jetzt geritten war. Kaum war sie verschwunden, so ging der Pesthauch über die Kalifenstadt; die Seuche begann zu wüten, und Tausende fielen der muhammedanischen Gleichgültigkeit zum Opfer, welche sich mit der Ausrede behilft, daß »alles im Buche des Lebens verzeichnet stehe«.

Im Jahre 1831 hatte die Stadt weit über hunderttausend Einwohner. Als die große Schiiten-Karawane sich näherte, welche diesmal weit größer und also auch gefährlicher als gewöhnlich war, begaben sich die hervorragendsten der dort wohnenden Europäer zum Pascha, um ihn zu bitten, ihr den Durchzug zu verweigern; aber alle ihre Bemühungen und Vorstellungen waren vergeblich. Das einzige, was sie erreichen konnten, war, daß die Mullahs gefragt werden sollten. Diese entschieden: »Das Verlangen der Christen ist eine Versündigung gegen den Kuran. Wenn die Pest diese Ungläubigen tötet, so geschieht ihnen recht, weil sie die heilige Lehre des Islam verwerfen. Sollten aber auch Gläubige sterben, so hat es Allah gewollt, welcher die Todesstunde jedes seiner Anbeter kennt, und sie gehen alle in den Himmel ein. Es darf also der Karawane nicht verboten werden, durch die Stadt zu ziehen.« Nach dieser Entscheidung wurde gehandelt, und die Folge war, daß die Seuche sich in einer noch nie dagewesenen Weise über die Stadt verbreitete. Es fielen ihr täglich Tausende zum Opfer; es half nichts, daß man sich vollständig abschloß und verkroch. Die Leichen konnten schließlich nicht mehr begraben werden; sie lagen verwesend auf den Gassen und in den Häuserwinkeln und verbreiteten Miasmen, welche durch die Mauern zu dringen schienen und täglich neue Opfer forderten. Die Stille des Grabes lag auf der unglücklichen Stadt; es gab sogar keinen Mueddin mehr, dessen Ruf zum Gebete vom Minareh herniederklang. Es gab weder Handel noch Wandel, weder Kauf noch Verkauf. Die Bäcker waren verschwunden, die Sakka’in dahingerafft; man konnte selbst für viel Geld nichts Eßbares erhalten – das Gespenst des Hungers ging von Straße zu Straße, von Haus zu Haus, um hinter der Seuche grausige Nachlese zu halten. Unglücklicherweise gesellte sich zu diesem Unheile eine beispiellose Überschwemmung des Tigris, welcher die aus Erde bestehenden Mauern durchweichte und die ganze Stadt überflutet. In einer einzigen Nacht versanken fünftausend Häuser in seinen gierigen Wogen. Als sich die Wasser zurückgezogen hatten, bildete der durchtränkte Boden einen einzigen, großen Seuchenherd, das Sterben dauerte noch lange fort, und als es endlich, endlich vorüber war, hatten zwei Drittel der Einwohnerschaft den Bescheid der Mullahs mit dem Tode bezahlt.

Später ist das anders geworden. Besonders hat der so viel gepriesene und ebensoviel angefochtene Midhat Pascha unter den alten, unglücklichen Vorurteilen und Gepflogenheiten aufgeräumt. Die Leichenkarawane darf nur die Grenze des nördlichen Stadtbezirkes berühren, um mit möglichster Schnelligkeit über die Brücke zu gehen.

Gewöhnlich wird ihr eine hohe Fahne mit dem persischen Wappen, ein Löwe, hinter dem die Sonne aufsteigt, vorangetragen. Dann folgen diejenigen Pilger, welche noch gut bei Kräften sind, hagere Gestalten mit sonnverbrannten Gesichtern, aus deren dunklen Augen die stolzeste religiöse Selbstüberschätzung spricht, Reiter auf Kamelen und Pferden, deren Sättel und Decken mit allerlei gleißendem Schmuck behangen sind, Fußgänger mit eingelegten Waffen, eintönige Gebetsformeln vor sich hinschnarrend und dabei mit haßerfüllten Blicken unter den Zuschauern nach Andersgläubigen suchend, um sie anzuspucken oder mit Schimpfworten zu bewerfen. Schwerbeladene Maultiere oder Esel tragen die Särge, in denen die »Gäste des siebenten Himmels« der islamischen Seligkeit entgegengetragen werden, einstweilen aber eine faulende Gallerte bilden, deren fürchterlicher Duft das Holz durchdringt und nichts weniger als himmlisch ist. Meist sind die kräftigeren Maultiere in der Weise beladen, daß rechts und links je ein Sarg hängt und der Reiter mit hoch emporgezogenen Beinen auf dem Sattel hockt. Die schwächeren Esel pflegen nur eine Leiche zu tragen, die sich entweder in einem Sarge befindet oder in eine Decke geschnürt ist. Man erblickt Fußgänger, welche zu zweien eine Leiche tragen, dazwischen oft auch einen einzelnen, der einen Toten mühsam auf dem Rücken schleppt. Indem man für die übermäßig bepackten, unbarmherzig geschlagenen und mißhandelten, wund und blutig geriebenen oder gedrückten Tiere tiefes Mitleid hegt, fragt man sich, ob diese vom fanatischen Übermute aufgeblähten, im Vorüberpassieren auf uns schimpfenden und fluchenden Menschen eines ähnlichen Gefühls wert seien. Sie sind geradezu in Verachtung alles dessen, was nicht schiitisch ist, eingehüllt, und jede Miene ihres Gesichtes, jede Bewegung ihres Körpers oder auch nur ihrer Hand ist eine Beleidigung für den, den sie für andersgläubig halten.

Je weiter der Zug vorübergeht, desto fragwürdiger werden die Figuren, die ihn bilden. Es kommen die Ärmeren, die ganz Armen, die Bettler und schließlich die Marodeure, das Gesindel. Sie gehen barfuß; ihre Kleidung ist zerrissen; oft besitzen sie nur einen einzigen Fetzen, um ihre größte Blöße zu verhüllen; an Stöcken und Knütteln, alten Gewehrschäften und Lanzenstücken humpeln oder schwanken sie vorbei; aber ihre Augen blicken stolz, und Verachtung wohnt selbst zwischen den häßlichen Runzeln ihrer Gesichter. Sie sind die von Allah allein Begnadeten, die von ihm für die Seligkeit Auserwählten, die bevorzugten Besitzer des Himmels, und wer nicht mit ihnen humpelt, nicht mit ihnen höhnt und speit, der ist ein verdammter Sohn des Teufels, ein verfluchter Erbe der tiefsten Höllenqualen. Sie haben sich wie indische Fakirs verunstaltet, sich Wunden beigebracht, mit Kamel-, Pferde- und noch anderem Mist beschmiert, als ob der Gestank der Leichen noch keine genügende Wonne für sie sei, und aus diesem Unflate heraus lassen sie für Allah ihre Gebete und für die Menschen, an denen sie als Scheusale vorüberschwanken, ihre spott- und hohnvollen Schimpfreden schallen.

Als ich bei unserer ersten Anwesenheit in Bagdad mich mit Halef unter den Zuschauern befand, bedeckte dieser infolge des Gestankes die Nase mit dem Zipfel seines Turbantuches. Einer der Perser bemerkte dies und trat herbei.

»Sak – Hund,« rief er; »warum verhüllst du dir die Nase?«

Halef verstand das Persische noch nicht; darum antwortete ich für ihn:

»Glaubst du denn wirklich, daß die Ausdünstung dieser Leichen ein Geruch des Paradieses sei?«

Er sah mich verächtlich von der Seite an und meinte:

»Weißt du nicht, was der Kuran sagt? Er sagt, daß die Gebeine der Gläubigen nach Amber, Gul, Semen, Musch, Naschew und Nardjin duften.«

»Diese Worte stehen nicht im Kuran, sondern in Ferid Eddin Attars Pendnameh; merke dir das! Warum übrigens habt ihr euch denn selbst die Nase und den Mund verhüllt?«

»Das sind die andern; ich bin es nicht!«

»So beklage dich zunächst über die Deinen, und dann magst du zu uns kommen! jetzt haben wir nichts mit dir zu schaffen!«

»Mann, deine Rede ist stolz! Du bist ein Sunnit. Ihr habt Herzeleid gebracht über den echten Kalifen und seine Söhne. Allah verdamme euch bis in die finsterste Tiefe der Hölle hinab!«

Er wendete sich mit einer drohenden Handbewegung von uns ab, und wir hatten da gleich ein Beispiel des unversöhnlichen Hasses, welcher – je länger, desto heller – zwischen Sunna und Schia lodert. Dieser Mensch wagte es, uns in der unmittelbaren Nähe einer Bevölkerung von Tausenden von Sunniten zu beschimpfen; wie erst muß es da einem Manne ergehen, den man in Nedschef Ali oder gar in Kerbela als Nichtschiit entdeckt!

Ich will noch ein zweites Beispiel dieses fanatischen Hasses erwähnen. Wir, nämlich der Engländer Lindsay, der persische Prinz Hassan Ardschir Mirza, Halef und ich, folgten nebst noch anderen Personen damals der uns vorangezogenen Todeskarawane, deren Gestank noch auf dem Wege lag, obgleich inzwischen ein Tag vergangen war. Es schien uns ganz so, als ob wir uns in einem ungelüfteten, mit Pockenkranken angefüllten Spital befänden. Zuweilen überholten wir einen Pilger, welcher sich in Kerbela begraben lassen wollte, oder eine Gruppe von Schiiten, welche einem armen, abgetriebenen Tiere mehrere Leichen aufgebürdet hatten, die es schwitzend, keuchend und vielfach strauchelnd weiterschleppte, während hinter ihm die Luft durch den Todeshauch der Verwesung so verschlechtert wurde, daß sie fast nicht zu atmen war.

Da saß am Wege ein Bettler, vollständig nackt, bis auf einen schmalen, um seine Lenden gegürteten Schurz. Er hatte seinem Schmerze um den ermordeten Hussein in folgender, höchst widerlichen Weise Ausdruck gegeben: die Oberarme und Schenkel waren mit spitzigen Messern durchstochen, und in die Unterarme, die Waden, in den Hals, durch die Nase, das Kinn und die Lippen hatte er von Zoll zu Zoll lange Nägel getrieben; im Unterleibe und in den Hüften hingen, in das Fleisch eingebohrt, eiserne Haken, an denen schwere Gewichte befestigt waren; alle anderen Teile seines Körpers waren mit Nadeln gespickt, und in die nackt rasierte Kopfhaut hatte er lange Streifen geschnitten. Durch jede Zehe und jeden Finger war ein Holzpflock getrieben, und es gab an seinem ganzen Körper keine Stelle, welche nicht eine dieser schmerzhaften Verwundungen aufzuweisen hatte.

Ich selbst bin ein durch und durch gesunder, überaus kräftiger Mann, dessen Natur – eine wahre Hippopotamusnatur – weder durch Hunger und Durst, Hitze und Kälte, Nachtwachen oder andere Anstrengungen so leicht angegriffen wird, aber einer solchen Mißhandlung meines Körpers würde ich wohl sehr bald erliegen. Zwar habe ich bei indischen Fakirs oft noch größere Verwundungen gesehen und weiß wohl, daß der religiöse Fanatismus über manchen Schmerz hinweghilft und daß ein Anhänger dieser neuen Lehren hier von Suggestion oder Hypnose sprechen würde, muß aber mein Erstaunen darüber ausdrücken, daß dieser Mensch so und überhaupt noch leben konnte. Es kam mir nicht bei, hier irgend einen Heroismus zu bewundern, sondern ich fühlte mich im Gegenteile und im höchsten Grade angewidert. Gern wäre ich mit abgewendeten Augen an dem blutrünstigen, von einem ganzen Schwarm von Fliegen und Mücken bedeckten Kerl vorübergeritten; aber er erhob sich bei unserem Nahen, streckte uns die Hände entgegen und rief uns an:

»Dirigha Allah, waj Mohammed! Dirigha Hassan, Hosseïn!«

Er war entsetzlich anzusehen; aber ich fühlte von Mitleid keine Spur in mir, sondern hätte ihm lieber eine Ohrfeige anstatt eines Almosens gegeben. Welch eine Dummheit, welch ein Unverstand, sich wegen des Todes eines Menschen – denn etwas anderes ist Hussein doch nicht gewesen – so scheußliche Martern zuzufügen! Und dabei hielt sich dieser ekelhafte Kerl für einen Heiligen, dem nach dem Tode der oberste Rang des Paradieses sicher ist und der auch bereits hier auf der Erde neben reichlichen Almosen die demütigste Verehrung aller Menschen zu beanspruchen hat!

Der Prinz, als reicher Perser und Schiit, warf ihm einen goldenen Tuman zu.

»Hasgadag Allah – Gott segne dich!« belohnte ihn der Bettler für diese reiche Gabe.

Lindsay griff in die Tasche und gab ihm einen Gersch zu zehn Piastern.

»Subhalan Allah – gnädiger Gott!« erklang es jetzt schon weit weniger belobend, denn nicht Lindsay, sondern Allah wurde als Geber bezeichnet.

Ich gab nur einen Piaster. Der »Heilige« machte erst ein höchst erstauntes, dann aber ein sehr zorniges Gesicht und schrie mich an:

»Azdar – Geizhals!« Dann fuhr er mit der Gebärde des Abscheues und immer steigender Schnelligkeit fort: »Azdari, pendsch Azdarani, deh Azdarani, hezar Azdarani, lek Azdarani – du bist ein Geizhals, du bist fünf Geizhälse, du bist zehn Geizhälse, du bist hundert Geizhälse, du bist tausend Geizhälse, du bist hunderttausend Geizhälse!«

Er trat meinen Piaster unter die Füße, spie darauf und zeigte eine Wut, von welcher man nicht wußte, ob man über sie lachen oder sich vor ihr fürchten solle. Das war meinem kleinen, wackeren Halef denn doch zuviel; er duldete niemals eine Beleidigung, mochte sie nun gegen ihn oder gegen mich gerichtet sein; darum fragte er mich:

»Sihdi, ich verstehe ihn nicht. Was heißt Azdar?«

»Geizhals,« antwortete ich ihm.

»Allah’l Allah! Und wie heißt ein recht dummer, alberner Mensch auf persisch?«

»Bisaman.«

»Und ein recht grober Flegel?«

»Dschaf.«

»Ich danke dir, Sihdi!«

Dann drehte er sich dem Schiiten zu, hielt ihm die flache Hand emporgerichtet entgegen, wischte sie am Beine ab, welche Gebärde als größte Beleidigung gilt, und rief:

»Bisaman, Bisaman, Dschaf, Dschaf, Dschaf!«

Was hierauf erfolgte, spottet jeder Beschreibung. Der »heilige Märtyrer« öffnete die Schleusen seiner Beredsamkeit und zeigte sich im Besitze von Schimpfwörtern und Drastika, welche unmöglich wiederzugeben sind. Wir beugten uns vor seiner Überlegenheit in dieser Beziehung, verzichteten auf die Fortsetzung dieser interessanten Unterhaltung mit ihm und ritten weiter.

Was wir dann bei und mit der Todeskarawane erlebten, ist bereits erzählt worden und bedarf der Wiederholung nicht; es ging aber an unserem geistigen Auge vorüber, als wir nun jetzt nach Jahren in tiefer, nächtlicher Einsamkeit an demselben Wege saßen, den wir damals geritten waren. Das Gedächtnis brachte uns die damaligen Begebenheiten mit vollster Deutlichkeit und Schärfe zurück, und so kam es, daß wir auch jene entsetzlichen »Wohlgerüche des Paradieses« in unseren Nasen zu spüren schienen. Wir wußten, daß dies nur Täuschung war; die Luft drang mit balsamischem Hauche in unsere Lungen und verhieß uns einen stärkenden Schlaf. Nachdem wir unser einfaches Mahl verzehrt und auch für die Pferde gesorgt hatten, wickelten wir uns samt unseren Gewehren in die Decken und schlossen die Augen.

Wir konnten dies thun, denn ich durfte mich auf meinen außerordentlich leisen Schlaf verlassen, und unsere beiden Pferde waren darauf abgerichtet, uns jede Annäherung durch Schnauben zu verraten. An meinen Hengst geschmiegt, dem ich selbstverständlicherweise seine gewohnte Sure in das Ohr gesagt hatte, schlief ich bald ein und erwachte nicht eher, als bis ich von der jetzt im Frühjahre sehr fühlbaren Morgenkühle geweckt wurde.

Da es hier am Wege kein Wasser gab, konnten wir die Pferde erst im Khan Iskenderijeh tränken; wir stiegen also auf und ritten zunächst diesem Ziele zu.

Unter einem Khan versteht man hier das, was man im Abendlande nicht ganz richtigerweise ein Karawanenserai nennt. Die Khans oder Hans zwischen Bagdad und den Ruinen von Babylon sind von fast gleicher Bauart. Sie wurden von Persien aus zum Besten der Pilgerzüge gestiftet und bilden kleine, mit Mauern umgebene Festungen, welche genügenden Schutz gegen etwaige Überfälle der Beduinen bieten sollen. Unter einem Turme, der eine weite Umschau über die Wüste gestattet, tritt man durch ein starkes Thor in den Hof, welcher von gewölbten Gemächern umgeben ist. In der Mitte erhebt sich eine Plattform, auf welcher man des Nachts schläft und am Tage sich zum Abhalten der Gebete vereinigt. Hinten befinden sich die Unterkünfte für die Pferde und Kamele. Die Aufnahme in diese Khans braucht nicht bezahlt zu werden, doch kommt sie dem an Reinlichkeit gewöhnten Reisenden durch das vorhandene Ungeziefer teuer genug zu stehen und wird noch widerwärtiger für ihn, wenn ihn während seiner Anwesenheit das Unglück trifft, eine Leichenkarawane hereinziehen zu sehen, deren stinkende Särge vor ihm aufgestapelt werden. Und wenn er sofort die Flucht ergriff und erst am Nordpol einhielt, er könnte doch sicher sein, den Leichenduft noch dort auf dem ewigen Eise in seiner gequälten Nase zu spüren!

Wir langten nach zwei Stunden bei dem Khane an und ritten durch das Thor. Dieser Ort ist groß genug, Hunderte von Menschen und Tieren zu fassen, war aber heut nicht sehr in Anspruch genommen. Die Anwesenden schenkten uns eine nicht gewöhnliche Aufmerksamkeit, worauf wir freilich uns persönlich gar nichts einzubilden brauchten, denn sie galt nicht uns, sondern unsern Pferden, zu denen man sich drängte, um sie unter Ausrufen der Bewunderung zu betrachten. Da uns dies lästig wurde, wendete ich mich an den Aufseher, welcher uns gegen ein Bakschisch von den Zudringlichen befreite.

Als wir an dem Brunnen abstiegen, befanden sich schon zwei Männer dort, welche dasselbe thaten, was wir auch thun wollten; sie tränkten ihre Pferde. Wir wollten sie nicht stören, sondern warteten, bis sie fertig waren. Indem wir ihnen zusahen, bemerkte ich an dem Finger des einen einen silbernen Ring, der mir auffiel. Schärfer hinblickend, erkannte ich, daß die Platte desselben nicht rund oder quadratisch, sondern achteckig war. Ich trat rasch hin und gab mir den Anschein, als ob ich hinunter in das Wasser sehen wolle, ob auch für uns noch genug vorhanden sei, nahm dabei aber seine Hand in die Augen. Ja, es war der Ring der Sillan. Die Inschrift bestand aus einem Sâ, welches mit einem Lâm verbunden war, und darüber stand ein Teschdid, welches ich trotz seiner Kleinheit deutlich erkannte. Ein verstohlener Blick nach der Hand des andern zeigte mir, daß dieser auch einen genau solchen Ring an dem gleichen Finger trug. Diese zwei Männer waren Sillan.

Indem ich mir dies sagte, stieg in mir der Gedanke auf, ob das nicht eine gute Gelegenheit sei, die Wirkung unserer Ringe einer Probe zu unterwerfen. Jetzt, indem ich dies erzähle und die späteren Ereignisse alle kenne, weiß ich freilich, daß die Ausführung dieses Gedankens eine große Unvorsichtigkeit war; damals aber schien sie es nicht zu sein. Was konnte es uns schaden, wenn auch wir für Sillan gehalten wurden! So fragte ich mich. Es konnte gar nichts Schlimmes, sondern höchstens eine Befriedigung unserer Wißbegierde darauf erfolgen, und das war doch jedenfalls nicht bös, sondern im Gegenteile angenehm. Was hätten wir von diesen zwei einfachen, gewöhnlichen Menschen fürchten können! Und wenn doch, so waren wir ja Männer, denen so kleine Unannehmlichkeiten nichts anzuhaben vermochten.

Wieder zu Halef zurückgekehrt, zog ich die dem Pädär-i-Baharat und seinen Begleitern abgenommenen Ringe aus der Tasche, steckte mir den goldenen an, gab ihm einen der zwei silbernen und sagte:

»Schieb schnell und unbemerkt diesen Ring an den Finger! Diese Männer sind Sillan. Ich bin neugierig, was sie thun oder sagen werden, wenn sie unsere Ringe sehen.«

»Maschallah, das ist ein guter Gedanke!« lachte er leise, wobei seine Augen freudig aufleuchteten. »Vielleicht bringt uns diese Begegnung ein Abenteuer, von welchem wir später erzählen können. Wenn sie mich fragen, werde ich ihnen sagen, daß –«

»Nichts wirst du ihnen sagen,« unterbrach ich ihn. »Das Sprechen überlässest du mir. Wir können nicht wissen, was wir erfahren und was geschieht, und müssen also vorsichtig sein.«

»Aber Sihdi, ich muß doch wohl auch etwas sagen oder thun?!«

»Du hast mir in allem, was ich sage oder thue, beizustimmen; das ist es, was ich von dir verlange, weiter nichts! Und nun paß auf, und betrag dich ja nicht ungeschickt!«

»Ich? Ungeschickt?« fragte er im Tone des Beleidigten. »Sihdi, hast du mich, deinen Freund und Beschützer, jemals ungeschickt gesehen? Hätte meine Hanneh, die holdeste der herrlichsten Rosen und Reseden der Mädchenparadiese, mich jemals als Mann ihres Herzens angenommen, wenn ich ein ungeschickter ––«

Weiter hörte ich seine Worte nicht, denn ich hatte schnell meinen Tschibuk gestopft, ging wieder zu den Männern hin und bat den einen von ihnen, welcher rauchte:

»Der Tabak ist die Speise der Seele, und sein Rauch trägt die Gedanken von der Erde empor. Ich habe kein Feuer und bitte dich, mein Herz zu erfreuen.«

Eine so höfliche Bitte war nicht abzuschlagen. Ich hatte angenommen, daß er sich des gewöhnlichen, hier gebräuchlichen Feuerzeuges bedienen werde; er zog aber Zündhölzer aus dem Gürtel und brannte eins derselben an. Dieser an und für sich so geringfügige Umstand war für mich doch nicht ohne Bedeutung, denn er gab mir Anhalt zu Schlüssen, welche ich sonst nicht hätte ziehen können. Er war so höflich, das Feuer mir nicht in die Hand, sondern auf den Tabak zu geben. Dies benutzte ich, den Tschibuk so zu halten, daß sein Auge auf den Ring an meinem Finger fallen mußte. Was ich beabsichtigte, geschah; er bemerkte ihn, ließ vor Überraschung das noch brennende Hölzchen fallen und rief aus:

»Abahraka’Ilah – gesegnet sei Gott! Was muß ich sehen an deiner Hand!«

Ich hob die Hand warnend empor und warf einen forschenden Blick rundumher. Da fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu:

»Verzeih, o Herr! Meine Überraschung, dich schon hier zu finden, war so groß, daß ich die gebotene Vorsicht fast vergessen hätte!«

Er hielt mich also für jemanden, der eigentlich nicht hier, sondern anderswo, vielleicht weit von hier, zu suchen war. Ich mußte sehr geschickt verfahren und fragte ihn also:

»Wo vermutetest du mich?«

»In Bagdad, wo du nicht eher als gestern erst angekommen sein kannst.«

»Du hast das Richtige getroffen; ich habe mich aber dort nicht aufgehalten.«

»Ist dir die Weisung des Säfir dort sogleich ausgehändigt worden?«

»Ja.«

Des Säfir! Dieses Wort wirkte wie ein elektrischer Schlag auf mich. Der Säfir war da! War das derselbe Säfir, von welchem der Bimbaschi erzählt hatte? Wo befand er sich? Welchen Zweck verfolgte er? Auf was bezog sich seine Weisung? Wer und was war ich? Oder, deutlicher gesagt, wer und was war der Mann, für den ich jetzt gehalten wurde? Diese und noch andere Fragen gingen mir durch den Kopf. Vielleicht war es möglich, die betreffenden Antworten herauszulocken.

Der Mann sah jetzt meinen Halef forschend an, gewahrte den silbernen Ring an dessen Hand und richtete dann in sehr devotem Tone die Frage an mich:

»Sei gütig, und verzeih, o Herr, wenn ich zu fragen wage, ob dieser Mann vielleicht Astab ist, von dem mir der Säfir sagte, daß er dich begleite!«

»Er ist es,« nickte ich, indem mir die Ahnung aufging, daß ich für den Pädär-i-Baharat gehalten wurde. Diese Ahnung verwandelte sich in Gewißheit, als der Mann weiterfragte:

»Du hast dich während dieser Reise Kaßim Mirza zu nennen?«

»Kaßim Mirza ist mein jetziger Name,« stimmte ich bei.

Der Pädär-i-Baharat hatte sich mir gegenüber ganz desselben Namens bedient. Er bekleidete die Stelle eines nicht gewöhnlichen Sill, deshalb nahm ich eine würdevolle Haltung und den Ton eines Vorgesetzten an. Wie neugierig ich war und mein kleiner Hadschi erst, das läßt sich wohl leicht denken! Um nicht lange in Ungewißheit zu bleiben, hing ich meiner Antwort die Frage an:

»Der Säfir hat dich also nach Bagdad geschickt, um mich dort aufzusuchen?«

»Ja, o Herr.«

»Er hat dir eine Botschaft an mich aufgetragen?«

»Ja, o Herr.«

Dieses »Ja, o Herr« konnte mir leicht gefährlich werden, wenn ich immer nur der Fragende sein und von ihm stets nur so kurze Antworten bekommen sollte. Darum fuhr ich in dringenderem Tone fort:

»Welche Botschaft ist es? Sprich! Ich liebe es nicht, überflüssige Fragen zu thun.«

»Verzeih, o Herr! Der Säfir ist sehr streng mit uns. Wir dürfen nur antworten, wenn wir gefragt werden, und müssen dann so kurz wie möglich sein. Ich habe dir zu sagen, daß du nicht in Bagdad bleiben, sondern sofort kommen sollst.«

»Warum?«

»Die ›Leichen‹ müssen bald eintreffen; sie werden nicht auf dem Karawanenwege gebracht, sondern sind der größeren Sicherheit wegen auf dem Nahr Sersar nach dem Euphrat geschafft worden, wo sie auf Kelleks abwärts kommen.«

»Wohin?«

Er warf mir einen Blick halben Erstaunens zu und antwortete:

»Das mußt du doch besser wissen als ich, o Herr!«

Da hatte ich mich also beinahe verdächtig gemacht! Ich lenkte also schnell ein:

»Natürlich kenne ich die gewöhnliche Stelle; ich dachte aber, der Säfir habe für diesmal, weil du von einer größeren Sicherheit sprachst, eine andere bestimmt.«

»Die bisherige Stelle ist die beste, die es giebt; es ist also kein Grund vorhanden, eine andere zu wählen.«

Ich fragte mich im stillen, um welchen Transport es sich eigentlich handle. Um »Leichen«! Er hatte diesem Worte eine eigentümliche Betonung gegeben. Eigentliche, wirkliche Leichen waren wohl nicht gemeint, was aber sonst? Bedienten sich die Sillan etwa einer Geheimsprache, etwa in der Weise, wie unsere Verbrecher untereinander in der Kochemer Loschen sprechen? Ich wollte das gern wissen und fragte darum, obgleich ich dabei riskierte, nun einen wirklichen Fehler zu begehen:

»Weißt du, was es diesesmal für ›Leichen‹ sind?«

Ich betonte dabei das Wort »Leichen« genau so wie vorhin er. Er faßte keinen Verdacht und antwortete in gutem Vertrauen:

»Wenn du es nicht weißt, so weiß es der Säfir jedenfalls auch noch nicht. Der Absender wird Gründe gehabt haben, es geheim zu halten. Aber diese ›Leichen‹ sind nur das Eine, wovon ich dir sagen soll; es giebt noch etwas Anderes, was viel wichtiger zu sein scheint.«

»Was?«

»Die Karwan.«

»Welche?«

»Das mußt du doch am besten wissen!«

Es schien, als ob er wieder Argwohn fassen wolle; darum nahm ich einen strengeren Ton an und sagte:

»Drücke dich höflicher aus, sonst zeige ich dir, wie du mit mir zu sprechen hast! Wohl weiß ich es am besten; aber du redest von einer Karwan im allgemeinen, und da wir es oft mit Karawanen zu thun haben, so kannst du in diesem Falle eine ganz gewöhnliche meinen und nicht die, auf welche wir es besonders abgesehen haben. Wenn du etwa nicht klug genug bist, dies einzusehen, und auch ferner nicht deutlicher reden kannst, werde ich für ähnliche Fälle vom Säfir andere Boten verlangen, die weniger dumm und höflicher sind als du!«

Da hauchte er vor Schreck förmlich zusammen und sagte in flehendem Tone:

»Thue das nicht, o Herr, nur das nicht! Du weißt ja, was es mich kosten würde! Verzeihe mir, verzeihe mir! Ich habe natürlich keine andere, als die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi gemeint, von deren Aufbruch du den Säfir unterrichtet hast.«

»Khudaya schukr – Gott sei Dank! jetzt wirst du deutlicher! Ich rate dir, es stets zu sein, denn ein Bote, der in Rätseln spricht und den Mund nicht öffnen kann, ist nicht zu brauchen. ja, ich habe ihn von ihr benachrichtigt. Was läßt er mir nun sagen?«

»Er hat Späher nach ihr ausgesandt, die ihn benachrichtigt haben, daß sie heut oder morgen in Bagdad eintreffen wird. Du könntest ihr zufällig begegnen und dabei erkannt werden, Darum mußt du schnell von Bagdad fort und zu ihm kommen. Dies war es, was ich dir noch zu sagen hatte.«

»Was noch?«

»Weiter nichts.«

»Da du mich glücklicherweise schon hier getroffen hast, brauchst du nun nicht nach Bagdad zu reiten. Das wird euch wohl willkommen sein. Ihr reitet also mit mir zu ihm zurück!«

Ich sagte das in befehlendem Tone, obwohl ich die Kerle im stillen nun dahin wünschte, wo der Pfeffer wächst und zwar alle beiden Arten, der schwarze und der weiße. Wenn ich sie mitnehmen mußte, setzte ich mich und Halef Widerwärtigkeiten aus, die uns zwar nicht gefährlich zu werden brauchten, uns aber sehr unangenehm werden konnten. Zu meiner Freude aber fiel er schnell ein:

»Verzeih, o Herr, daß wir nicht mit dir reiten können, weil wir auch hinüber oder vielmehr hinauf nach Madaïn müssen!«

»Nach Madaïn? Also nicht nur hinauf nach Bagdad zu mir?«

»Nein. Wir sollten zunächst dich aufsuchen und dann den Tigris abwärts nach Madaïn gehen. Das würde uns erst hier aufwärts und dann drüben wieder abwärts geführt haben, ein sehr langer Weg, den wir uns nun dadurch kürzen können, daß wir von hier aus gleich direkt hinüberreiten.«

»Dann kommt ihr wieder zum Säfir?«

»O nein. Wir haben dann noch, ehe wir zurückkehren können, eine wichtige Botschaft von ihm nach Kut el Amara zu bringen.«

Dieser Säfir schien sehr ausgebreitete Verbindungen zu unterhalten! Dies ging mich aber weiter nichts an, als daß es mir in diesem Augenblicke sehr lieb sein mußte. Der Weg von hier nach Madaïn betrug acht Stunden, von da nach Kut el Amara zwölf und von dort nach den Ruinen von Babylon, wo ich den Säfir vermutete, wieder vierzehn Stunden. Selbst wenn die beiden Sillan sich mit ihren nicht sehr kräftig aussehenden Pferden noch so sehr beeilten, mußten sie sich doch Zeit zum Essen und Schlafen nehmen und konnten also, wie ich ihre Leistungen nach ihrem Äußeren schätzte, unter zwei und einem halben Tag nicht bei dem Säfir eintreffen. Indessen waren wir, da wir ja bloß einige Punkte kurz besuchen wollten, längst wieder auf dem Rückwege und hatten also keine zweite, uns in Verlegenheit setzende Begegnung mit ihnen zu erwarten. Dies beruhigte mich so, daß ich die freilich etwas zudringliche Frage wagte:

»Welche Botschaften habt ihr nach Madaïn und Kut el Amara zu bringen?«

»Nimm es nicht übel, O Herr, das sollen wir verschweigen!«

»Auch gegen mich?«

»Gegen jedermann, und da der Säfir dich nicht als Ausnahme genannt hat, müssen wir dich als mitinbegriffen halten.«

»Recht so! Das gefällt mir von dir! Man darf selbst einem Vorgesetzten zuliebe nicht von seiner Pflicht abgehen. Hat der Säfir euch vielleicht eine gewisse Stelle angegeben, wo ich ihn treffen soll?«

»Du kennst sie ja, o Herr!«

»Gewiß! Aber er hält sich doch nicht stets dort auf und könnte euch gesagt haben, wo er dann anderwärts zu finden ist.«

»Wenn er nicht da ist, wirst du auf ihn warten sollen. Das Tamariskengestrüpp so weit oberhalb von Hilleh ist groß und dicht genug, dich und alle, die du dort findest, zu verbergen. Selbst heut noch kommt kein Mensch mehr hin, seitdem die große Mordthat dort begangen wurde. Man hätte doch fast zwei Stunden weit über heißen Sand zu gehen, und die Geister der Erschlagenen gehen Tag und Nacht umher, wie die Bewohner von Hilleh alle glauben. Du bist, o Herr, dort noch sicherer als im Schoße Ibrahims

»Gut! Ihr habt mir also wirklich gar nichts mehr zu sagen?«

»Gar nichts; aber – –oh doch! Da fällt mir noch ein: Er sagte, etwas wissest du noch nicht, und diese Unkenntnis könnte dich unterwegs vielleicht zu einem Fehler verleiten. Er ist nämlich wegen der Karwan-i-Pischkhidmät Baschi mit den Ghasai-Beduinen eine Verbindung eingegangen; ein Trupp von ihnen hat sich hier zerstreut und giebt sich, um keinen Verdacht zu erregen, für Solaib-Araber aus. Das sollen wir dir sagen, weil du es wissen mußt. Und nun haben wir dir wirklich gar nichts mehr mitzuteilen, o Herr!«

»Gut! Ich bin mit euch zufrieden, und ihr habt ein Bakschisch verdient; das werdet ihr von mir erhalten, wenn wir uns in Hilleh wiedersehen. Wann seid ihr von dort aufgebrochen?«

»Gestern abend.«

»So werdet ihr in Madaïn euch tüchtig ausschlafen müssen. Säumt also nicht hier, sondern macht, daß ihr hinüberkommt!«

»Wir werden sofort aufbrechen, denn unsere Pferde sind satt geworden; wir haben hier nichts mehr zu suchen. Allah sei mit dir! Dour-i sär-ät bigär-där, Agha – ich will dein Haupt umkreisen, o Agha!«

Sie stiegen auf und ritten zum Thore hinaus. Halef führte nun unsere Pferde an das Wasser, und während er ihnen zutrinken gab, blinzelte er mich pfiffig-lustig an und sagte:

»Allah macht Köpfe hell und Köpfe dunkel; der deinige strahlte wie die Sonne am Himmel; die ihrigen aber waren umnachtet mit der Finsternis des Unverstandes, sodaß ich in die Tiefen ihrer Klugheit wie in einen dunklen Brunnen schaute, in dem kein Tropfen Wasser zu finden ist. Dein Auge hat sie durchschaut, wie die Sonne durch die Scheiben des Glases blickt; sie hingegen halten dich für einen andern Menschen, von dem wir mit Überzeugung sagen können, daß er weder er ist noch du bist. Sie haben sich einer so albernen Vermischung dreier Persönlichkeiten schuldig gemacht, daß selbst ich sie kaum wieder auseinander bringe, der ich doch Hadschi Halef Omar, der berühmte Oberscheik der Haddedihn bin vom großen Stamme der Schammar!«

»Wird. dir dieses Auseinanderbringen denn wirklich gar so schwer?« fragte ich lachend.

»Leicht ist es nicht, Sihdi, denn ich habe nicht alles verstanden, weil von drei Personen und vier Ortschaften die Rede war, die ich wieder vermischte. Während von diesen Personen gesprochen wurde, ritt meine Seele zwischen Bagdad, Madaïn, Kut el Amara und Hilleh immer hin und her, ohne Einsicht in die Tiefen der Weisheit zu finden, welche über deine Lippen floß.«

»Es handelt sich nicht um drei, sondern nur um zwei Personen.«

»Nein, um drei. Du, der Säfir und der Pädär-i-Baharat; ihr seid doch drei Personen; das wirst du mir nicht bestreiten wollen. Diese Leute wurden so durch- und ineinander gemengt, daß ich jetzt nicht weiß, ob du der Pädär oder dieser der Säfir oder der Säfir du oder du der Säfir oder aber der Säfir der Pädär sein soll. Mit wem bist du denn eigentlich verwechselt worden, und wie muß ich es anfangen, dich mit ihm, und euch dann mit dem dritten auseinanderzubringen?«

»Der Sill hat mich für den Pädär-i-Baharat gehalten; das mußt du doch verstanden haben!«

»Mit dem Pädär-i-Baharat? Wenn er das gethan hat, so konnte es nicht verstanden werden, denn es war ja gar kein Verstand dabei! Wer dich, den berühmten Emir Hadschi Kara Ben Nemsi Effendi, für diesen Schurken hält, der verdient durchgepeitscht zu werden. Hätte ich diese Frechheit des Sill durchschaut, so wäre meiner Kurbadsch eine Arbeit geworden, von welcher der Rücken dieses Menschen noch lange hätte erzählen können! Aber nun du mir das gesagt hast, begreife ich alles andere: Der Säfir, dieser Feind unseres guten Bimbaschi, befindet sich in Hilleh?«

»In der Nähe von Hilleh. Sein Versteck liegt in einem Tamariskengebüsch zwei Stunden oberhalb der Stadt. Er ist dort wohlgeborgen, weil man außer der Beschwerlichkeit des Weges auch die Geister der Erschlagenen scheut, welche dort umgehen.«

»Gut, sehr gut! Das gefällt mir außerordentlich! Ich werde auch dort umgehen und ihm als Geist erscheinen! Und ich werde einen andern Geist mitnehmen, der aus der Haut eines Nilpferdes gefertigt worden ist! Und dieser Geist wird auch umgehen, sehr umgehen, außerordentlich kräftig umgehen, aber nicht im Wasser oder am Ufer, sondern auf seinem Rücken! Er wird so lange auf diesem Rücken umgehen, bis der Säfir selbst auch ein Geist geworden ist, nämlich ein Geist der Wehmut und der Klage über die Hiebe, die er von mir bekommen hat, weil er unsern lieben Bimbaschi um sein Geld und seine Stellung brachte! Was wird der Schurke dort in seinem Versteck wohl treiben?«

»Du hast ja gehört, daß er auf Leichen wartet.«

»Die gönne ich ihm; ich wünsche, daß er sie bekommt! Mag er sie verzehren in jeder Weise, die ihm beliebt, gekocht, gebacken, gebraten oder gleich frisch aus dem Sarg heraus! Aber war nicht auch von einer anderen Karawane die Rede?«

»Ja, von der Karwan-i-Pischkhidmit Baschi.«

»Das verstehe ich nicht. Ich spreche jetzt doch ziemlich gut persisch, aber was ein Pischkhidmät Baschi ist, das weiß ich nicht.«

»Dieses Wort bedeutet einen Farrasch-Baschi oder wenigstens so etwas ähnliches, also einen Hofbeamten des Schahin-Schah.«

»Also einen hohen Angestellten, der sich jetzt unterwegs bei einer Karawane zu befinden scheint?«

»Ja.«

»Was hat der Säfir mit diesem vor?«

»Das weiß ich nicht.«

»Du weißt es nicht? O Sihdi, wie tief betrübst du meine Seele! Dein Auge ist doch sonst so scharf, und dein Ohr pflegt alle Töne zu vernehmen, vom Brausen des Sturmes und dem Schlage des Donners herab bis zum lieblichen Gesange der Ssaraßur. Und die Absichten dieses Säfir, der doch tausendmal größer als eine Grille ist, sind dir verborgen geblieben!«

»Hast etwa du sie durchschaut?«

»Nein. Warum fragst du denn mich? Ich bin nur da, um dein Beschützer, Behüter und Bewahrer zu sein; weiter habe ich nichts zu thun; aber wenn es sich um geheime Absichten handelt, welche durchschaut und entdeckt werden sollen, so bist du es, der nachzusuchen und nachzuforschen hat, bis er die im Säfir steckende Grille findet.«

»Eine Grille zirpen zu hören und die geheimen Absichten eines voller Arglist steckenden Verbrechers zu durchschauen, daß sind zwei sehr verschiedene Dinge; zu dem einen gehört nur ein offenes Ohr, zu dem andern aber mehr, viel mehr.«

»Dieses ›Mehr‹ solltest du aber doch besitzen, Sihdi!«

»Du ebenso!«

»Ich bitte dich, verlange dies jetzt nicht von mir! Du weißt, daß mir alle Gaben des Verstandes und der Weisheit verliehen worden sind; aber seit ich diesen Ring des Sill am Finger habe, ist es mir, als ob ich vor den Kopf geschlagen worden sei. Ich habe dich aus der Verwechslung mit dem Pädär und diesen aus der Vermischung mit dem Säfir befreit; mehr kann ich heut nicht thun. Denke nach, so wirst du es finden!«

»Das habe ich schon gethan; du aber verstandest meine Antwort nicht. Was der Säfir mit der Karawane des Kammerherrn will, das kann ich nicht wissen, aber doch vermuten.«

»Nun, und was vermutest du?«

»Daß er sie mit Hilfe der von ihm angeworbenen Ghasai-Beduinen überfallen will. Aus dieser Verbindung mit den Ghasai ziehe ich übrigens den für uns vielleicht wichtigen Schluß, daß er entweder nicht genug Sillan bei sich hat, oder daß diese sich zum Überfalle einer Karawane nicht hergeben würden, weil sie keine Räuber und Mörder sind, sondern weniger verbrecherische Aufgaben verfolgen.«

»Aber der Pädär-i-Baharat war auch ein Sill und wollte uns doch morden!«

»Das kann eine Ausnahme gewesen sein. Du hattest ihn geschlagen, und wir wissen, daß Schläge nur mit dem Blut abgewaschen werden können.«

»Ich glaube nicht an eine Ausnahme, Sihdi. Nun denke ich, wenn der Säfir die Karawane des Kammerherrn überfallen will, muß er sich doch gute Beute von ihr versprechen?«

»Allerdings. Daß er dies thut, ist leicht begreiflich, obgleich ich auch da keine Gewißheit, sondern nur eine Vermutung hege. Diese Vermutung hängt mit der Majdana koma in Paris zusammen.«

»Paris, die Hauptstadt der Franken? Eine Majdana koma, wo alles gezeigt wird, was ein Volk geschafft und gearbeitet hat? Wie hängt diese mit dem Säfir und dem geplanten Überfalle zusammen?« fragte er erstaunt. »Sihdi, du bist der klügste Mann unter allen, die ich kenne; deine Gedanken sind so scharf und zutreffend, daß ich oft, sehr oft mit Bewunderung geglaubt habe, daß dir nichts verborgen bleiben könne, aber den Säfir kannst du unmöglich mit Paris und der Majdana koma zusammenbringen!«

»Ich werde es wenigstens versuchen. Der Schah hat nämlich die Absicht, nach Paris zu reisen, um diese Majdana koma zu sehen; alle seine Beamten sind damit einverstanden; aber die Geistlichkeit ist dagegen; er jedoch weiß ebensogut wie jeder andere Moslem, wie man diese frommen Leute zur bessern Einsicht bringen kann: man muß sie kaufen. Diese schiitischen Geistlichen sind alle für Gold zu haben, vom obersten Imam-Dschuma bis herunter zum niedrigsten Mullah. Man beschenkt einige Moscheen, giebt einigen einflußeichen Imams einen klingenden Händedruck, und wenn das noch nicht hilft, so greift man zum untrüglichsten und wirksamsten Mittel, welches noch nie vergeblich angewendet worden ist, nämlich man sendet eine Karwan-i-Raschwa nach den heiligen Städten und kann dann sicher sein, daß der Erfolg nicht auf sich warten läßt. Die Priesterschaft von Meschhed Ali und Kerbela hat auf die Anhänger der Schia einen Einfluß, mit welchem sich derjenige aller hohen und niederen Imams nicht vergleichen läßt.«

»Weiter, Sihdi! Ich beginne jetzt zu begreifen. Du stehst im Begriff, meinen vorhin ausgesprochenen Zweifel zu besiegen.«

»Eine solche Karwan-i-Raschwa vertraut man nur einem treuen und wohlgeprüften Manne an, den man genau kennt, von dem man weiß, daß man sich auf ihn verlassen kann. Und wen kennt der Schah bei den an seinem Hofe herrschenden Verhältnissen wohl genauer als seine Kammerherren? Unter diesen Vertrauten sucht er sich den vertrautesten und zuverlässigsten heraus, um ihm die reichen Gaben mit den ebenso wichtigen, wie geheimen Aufträgen zu übergeben, und wenn der Transport dann aufgebrochen ist, kann er ebensogut eine Karwan-i-Raschwa wie eine Karwan-i-Pischkhidmät Baschi genannt werden, weil ein Pischkhidmät Baschi, ein Kammerherr, sich an ihrer Spitze befindet.«

»Das klingt freilich so einfach,« gestand der Hadschi, »daß ich mich darüber wundere, es nicht selbst erdacht zu haben.«

»Ich werde noch weiter denken, lieber Halef. Warum wird der betreffende Reisezug die Karawane des Kammerherrn genannt? Würde sich ein Kammerherr irgend einer Karawane zufällig anschließen, so gäbe es keinen Grund, sie nach ihm zu benennen; sie würde die Hauptsache sein, und er befände sich bloß als Mitglied wie jedes andere bei ihr. Die Bezeichnung als seine Karawane giebt aber Grund zu dem Schlusse, daß er das Haupt und sie von ihm abhängig sei; er ist nicht zufällig gekommen, sondern er hat sie gebildet; er ist ihr Unternehmer und Gebieter. Wenn ich hiermit das Richtige treffe, so muß ich fragen, welchen Grund ein Kammerherr haben kann, eine Karawane zu bilden? Gewiß nicht aus eigenen Mitteln und zu eigenem Zwecke; er handelt jedenfalls im Auftrage eines andern und dieser andere wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nur der sein, dessen Kammerherr er ist. Ich bin dabei der Ansicht, daß die Bezeichnung &Karawane des Kammerherrn‹ keine öffentliche, amtliche oder von dem Unternehmer beabsichtigte ist; ich denke vielmehr, daß sie nur von dem Pädär-i-Baharat und dem Säfir in dieser Weise bezeichnet wird. Und das bringt mich auf einen ferneren Beweis dafür, daß ich nicht falsch geraten habe.«

»Es sollte noch einen Beweis geben?« fragte Halef. »Ich fände keinen!«

»Es giebt noch mehrere, doch dieser eine genügt zum Schluß. Du hast gehört, daß der Pädär-i-Baharat den Säfir über die Karawane unterrichtet hat; er ist in Persien, wahrscheinlich in der Hauptstadt, gewesen und hat das Vorhaben des Kammerherrn erlauscht. Eine auf Befehl des Herrschers unternommene Reise zum Zwecke der Überbringung wertvoller Geschenke wird gewiß möglichst geheim gehalten, zumal die von ihr verfolgte Absicht gegen die bisherige Stimmung der Geistlichkeit gerichtet ist. Es hat also jedenfalls viel Zeit, viel Aufmerksamkeit und List, viel Geld, um irgend einen oder mehrere Wissende zu bestechen, also ungewöhnliche Opfer gekostet, in dieses Geheimnis einzudringen, und wenn dies alles dem Pädär-i-Baharat nicht zuviel gewesen ist, so muß es sich um eine außerordentlich lohnende Sache handeln. Er hat dann von Persien aus einen Boten hierhergesandt, und der Säfir hat der Karawane Kundschafter entgegengeschickt; auch das sind Umstände, welche darauf schließen lassen, daß diese Karwan-i-Pischkhidmät Baschi von großer Wichtigkeit für diese beiden ist, wahrscheinlich von größerer noch, als die sogenannten ›Leichen‹, welche auf dem Euphrat herabkommen werden.«

»So meinst du wohl, daß sie auch für uns wichtig ist, Effendi?«

»Jetzt noch nicht; sie kann es aber unter Umständen werden. Wir beabsichtigen kein Zusammentreffen weder mit dem Pädär-i-Baharat noch mit dem Säfir; aber wenn es dennoch stattfinden sollte, so müssen wir freilich gewärtig sein, mit in diese geheimnisvolle Angelegenheit gezogen zu werden, denn wir haben den Säfir vor und den Pädär hinter uns, und der Ort, an welchem sie sich treffen wollen, ist zugleich derjenige, den wir beabsichtigen, aufzusuchen. Es giebt wahrscheinlich nur ein Mittel, sie zu vermeiden.«

»Welches?«

»Auf den Besuch der Stätten, welche wir sehen wollen, zu verzichten und nach Bagdad zurückzukehren, wobei wir, um nicht auf den Pädär zu treffen, einen andern Weg einzuschlagen hätten.«

»Das fällt mir nicht ein, Sihdi! Was ich mir einmal vorgenommen habe, das wird ausgeführt; am allerwenigsten würde ich wegen dieser Kerls darauf verzichten; denn das würde grad so aussehen, als ob wir uns vor ihnen fürchteten. Wir haben beschlossen, nach den Ruinen von Babylon zu reiten, und werden es auch thun. Oder bis du etwa anderer Meinung?«

»Nein.«

»So laß uns aufbrechen! Die Pferde haben getrunken, und unser kleiner Wasserschlauch ist bald gefüllt. Mag kommen, wer da will, die Sillan oder andere Halunken, ich bin in jedem Augenblicke bereit, ihnen mit meiner Peitsche zu erklären, daß ihnen die Gefühle meines Herzens mit großer Lebhaftigkeit entgegenschlagen; hörst du wohl, Effendi, entgegen – –schlagen, habe ich gesagt!«

Er zog bei diesen Worten die Kurbadsch aus dem Gürtel und machte mit ihr einige pfeifende Hiebe durch die Luft. Um diese seine Energie auf das richtige Maß zurückzuführen, antwortete ich:

»Laß die Peitsche da, wo sie war! Wir haben uns vor Unbesonnenheiten zu hüten, und du weißt, daß wir deiner Hanneh versprochen haben, alles zu vermeiden, was uns unnötigerweise in Gefahr bringen kann.«

»O, was das betrifft, Sihdi, so kenne ich meine Hanneh, welche dem Sonnenaufgange mit allen seinen Schönheiten und seinen wunderbaren Herrlichkeiten gleicht: Sie ist besorgt um die Gesundheit meines Körpers und um die Sicherheit meines Lebens, doch auch um meinen Ruhm. Sie will mich nur mit ganzen, unverletzten Gliedern haben, aber sie will auch stolz sein dürfen auf die Thaten meiner Tapferkeit.

Sie verlangt zwar von mir, vorsichtig zu sein, würde sich aber meiner schämen, wenn sie erführe, daß ihr Halef nicht mehr der mutige Krieger sei, der er stets gewesen ist. Du hast mir einmal von einer wackeren Mutter erzählt, welche zu ihrem in den Kampf ziehenden Sohne sagte, er solle entweder als Sieger oder auf dem Schilde, also als Leiche, die man auf den Schild gebettet hat, zurückkehren; ich will meiner Hanneh beides bieten- ich werde als lebendiger Sieger auf dem Schilde bei ihr einziehen, denn als verstorbene Leiche meine Arme um ihren verwitweten Hals zu schlingen, das fällt mir gar nicht ein, und das habe ich dir auch bereits einmal gesagt. Ist deine Dschanneh vielleicht anders gesinnt als die holde und unvergleichliche Besitzerin meines Frauenzeltes? Hat sie deinen Körper und die Unverletzlichkeit deiner Glieder etwa lieber als deinen Ruhm, als die Ehre, das Weib eines Mannes zu sein, vor dem alle Schurken zittern und den alle Halunken fürchten?«

»Was das betrifft, so kann ich dich beruhigen; meine Dschanneh, mit welcher sich keine Haremsbewohnerin der ganzen Erde vergleichen kann, möchte auch keinen Feigling zum Manne haben.«

»Das freut mich um ihretwillen, doch bitte ich dich, in dem Lobe, welches du ihr jetzt brachtest, eine Ausnahme gelten zu lassen. Wenn du sagst, daß keine sich mit ihr vergleichen könne, so mußt du bedenken, daß mich das sehr betrüben muß, indem du deine Dschanneh über meine Hanneh stellst!«

»Darf ich meine Frau nicht ebenso loben wie du die deinige?«

»Ja; aber es darf nicht so weit gehen, daß meine Hanneh sich vor deiner Dschanneh tief verneigen müßte. Lassen wir es bei dem Übereinkommen, daß sie beide unvergleichlich sind! So, nun habe ich den Wasserschlauch an den Sattel gebunden und wir können fort.«

»Ja, reiten wir weiter! Wollen aber nicht vergessen, die Ringe der Sillan von den Fingern zu ziehen und wieder einzustecken.«

»Warum?«

»weil wir nur dann, wenn es uns beliebt, wenn es uns Nutzen bringt, für Sillan gelten wollen. Wenn jeder Sill, der uns begegnet, uns für seinesgleichen hält, können wir in unangenehme Lagen kommen.«

»Das ist richtig, Effendi. Stecken wir sie also ein, bis wir sie wieder brauchen, den Sillan zu zeigen, daß unsere List hoch über ihrer Klugheit steht.«

Wir stiegen wieder auf und verließen den Khan. Die Karawanen pflegen, wenn sie nach Hilleh gehen, von hier aus noch die Khans Nasrijeh und Mohawid aufzusuchen; wir aber unterließen dies, weil wir jede uns nicht willkommene Begegnung vermeiden und gern auch denselben Weg reiten wollten, den wir damals eingeschlagen hatten, um durch das Umbiegen der Todeskarawane ihren Gestank zu vermeiden.

Ich spreche zwar von einem Wege, aber es war keiner vorhanden. Wir ritten über freies Feld oder vielmehr über die offene, ungebahnte Wüste, wobei wir sehr viele alte, längst ausgetrocknete Kanäle und Gräben zu passieren hatten. Zwar hatte ich mich damals schon im Fieberstadium der Pest befunden, in einem traumhaften Zustande, der es mir unmöglich gemacht hatte, mir die Gegend einzuprägen, dennoch aber erkannten wir heut jeden sich nur einigermaßen aus der Öde hervorhebenden Punkt, an welchem wir vorübergekommen waren.

»Hier war es, Sihdi,« sagte Halef, indem er sein Pferd anhielt, »wo wir damals abstiegen, um die größte Tageshitze vorüberzulassen und wo mir dein Aussehen aufzufallen begann. Dein Angesicht war grau, und dunkle Ringe zogen sich um deine lieben Augen. Ich mußte dir Wasser und Essig geben, aber dein Blick blieb dennoch ohne Seele, und ich begann zu ahnen, daß du alle deine Kräfte anstrengtest, um aufrecht zu bleiben, und mir das verschwiegest, um mein Herz nicht zu betrüben.«

»Ja, es war eine schlimme, schlimme Zeit, lieber Halef,« nickte ich. »Ich war kein Mensch mehr, sondern nur ein Schemen. Indem wir über die Wüste jagten, flog sie wie ein trostloses Hirngespinst an mir vorüber, und die Menschen, welche bei mir waren, glichen schattenhaften Phantomen. Wenn es dir recht ist, werden wir uns nach der damaligen Zeiteinteilung richten und heut an derselben Stelle am Birs Nimrud übernachten.«

»Ganz wie du willst, Effendi. Wie lange haben wir noch bis Hilleh zu reiten?«

»In der Richtung, welche wir genommen haben, sind es wohl vier Stunden.«

»So kommen wir in der größten Sonnenglut dort an und können sie vorüberlassen, ehe wir dann weiterreiten.«

Ich hatte mich mit der erwähnten Zeitbestimmung nicht getäuscht. Gegen Mittag erreichten wir die am linken Euphratufer liegenden Palmenpflanzungen. Wir sahen die Ruine El Himmar rechts vor uns liegen, dann die Höhe des Bab el Mudschellibeh und den Hügel Qasr, welcher die Überreste der einstigen Königsburg darstellt, in deren Räumen Alexander der Große starb. Der näher liegende Hügel Amran Ibn Ali trug wahrscheinlich die berühmten hängenden Gärten der Semiramis. Auch links sahen wir eine Menge Ruinen liegen, deren gewaltigste noch heutigen Tages Babel heißt. Die muhammedanische Sage erzählt, daß in ihrem Innern die beiden gefallenen Engel Harut und Marut an den Beinen aufgehängt worden seien und noch jetzt in derselben Stellung dort hängen. Als wir Hilleh erreichten, ritten wir über die Schiffbrücke hinüber und kehrten in einem Menzîl ein, welches wir dem Khan vorzogen, weil es grad heut keine Gäste hatte, dafür aber ein ziemlich großes, unterirdisches Gemach, dessen Kühle eine wahre Wohlthat war. Als wir die Pferde unter ein Schutzdach gestellt und mit Futter und Wasser versehen hatten, stiegen wir da hinab, wo Halef sich, während ich mich auf ein Kissen legte, mit Erlaubnis des Wirtes in die Matbach begab, um mit eigenen Händen für uns ein Huhn mit Reis zu bereiten.

Hilleh ist ganz aus den Ziegeln der babylonischen Trümmerhaufen erbaut worden und bildet den Hauptort des Bezirkes Divanijeh. Hier trennen sich für die Karawanen die Wege nach Kerbela und Nedschef Ali. Unter den öffentlichen Gebäuden ist die Moschee Esch Schems das bedeutendste. Die zehntausend Bewohner sind schiitische Perser und Araber und so fanatisch gesinnt, daß ich mich sehr hütete, dem Wirt zu sagen, daß ich ein Christ sei. Er hätte mich keinen Augenblick bei sich geduldet, und alles, was ich berührt hätte, wäre für unrein erklärt und einer priesterlichen Säuberung unterworfen worden, deren nicht geringe Kosten ich hätte tragen müssen. Da ich von Unreinheit und Säuberung spreche, muß ich bemerken, daß die Bewohner Hillehs gar keine Veranlassung haben, auf ihre Reinlichkeit stolz zu sein; soviel ich sah, scheint die Stadt vielmehr eine Ablagerungsstätte alles möglichen orientalischen Schmutzes zu bilden.

Unser Huhn konnten wir zwar mit Appetit verzehren, weil es von Halef selbst gebraten worden war, aber als wir uns hierauf saure Milch bestellten – Hilleh ist nämlich wegen seiner sauren Milch weithin berühmt – mußten wir die obere Schicht abschöpfen, weil sie wegen des daraufliegenden Schmutzes für uns ungenießbar war. Der Wirt, welcher dies sah und es übelnehmen wollte, fragte mit gerunzelter Stirn nach der Ursache. Halef, der in solchen Sachen immer Zungenfertige, antwortete:

»Verzeihe uns, o Vorbild frommer Gastlichkeit! Wir sind Büßer und haben, um uns zu strafen und in der Enthaltung zu üben, ein Gelübde gethan, von keiner Speise, welche wir genießen, das Beste zu essen, und du wirst doch zugeben, daß das, was wir abgeschöpft und weggeworfen haben, von deiner Milch das Beste war.«

»Allah sei euch gnädig und gebe euch Kraft, euer Gelübde bei allen Speisen und nicht bloß bei der Milch auszuführen! Ihr hättet von dem Huhn doch auch das Beste übrig lassen sollen, habt es aber ganz verzehrt!«

»Du irrst, denn wir haben es nicht verzehrt.«

»Ich sehe aber doch nichts!«

»Wirklich nicht? Erlaube, daß mir um das Licht deiner Augen bange wird! Was wäre ein Huhn, wenn ihm nicht die Knochen zur Aufrechterhaltung seines körperlichen Wuchses verliehen worden wären? Und wie könnte es bestehen, wenn es nicht die Federn besäße, welche nicht nur seine Kleidung, sondern auch den Schmuck seiner Schönheit bilden? Wenn Allah dich mit der Gabe der Vernunft gesegnet hat, wirst du also einsehen, daß die Knochen und die Federn am Huhn das Beste sind, was es besitzt. Nun schau hierher! Da siehst du die Knochen liegen, und wenn du in die Küche gehst, wirst du auch die Federn entdecken, von denen wir keine einzige mitgegessen haben. Unser Gelübde ist also erfüllt. Wir hätten auch von der Milch die Knochen und Federn übrig gelassen, haben aber leider keine drin gefunden!«

Der Mann wußte nicht, was er dazu sagen sollte, und ging verdrießlich brummend zur Thür hinaus. Halef aber lachte lustig vor sich hin und sagte:

»Das hätte Hanneh, die lieblichste aller Lieblichkeiten, hören sollen! Habe ich mich mit den Knochen und Federn in der Milch nicht vortrefflich ausgedrückt?«

Nach einiger Zeit kam der Wirt mit drei Männern zurück, welche in alte, verschlissene Meschlachs gekleidet waren und nicht sehr vertrauenerweckend aussahen. Sie betrachteten uns mit auffälliger Neugierde und setzten sich nahe bei uns nieder. Nachdem sie sich Tschibuks und Kaffee bestellt hatten, wendete sich einer von ihnen mit den Worten an uns:

»Wir sahen draußen eure Pferde stehen und haben sie bewundert. Wer so ein Tier besitzt, muß reich, sehr reich sein. Darf ich fragen, wo eure Heimat liegt?«

Halef warf mir einen fragenden Blick zu; ich nickte leise mit dem Kopfe, und so übernahm er die Antwort:

»Wir wohnen im fernen Lande Schibiri, wo die Berge bis zum Mond hinaufreichen und weiß vom Schnee sind, in welchen sich dort der Regen zu verwandeln pflegt.«

»Allah! Wie kalt muß es dort sein! Wir wissen hier nicht, was Schnee ist, haben aber davon gehört. Es wohnen wohl Sunniten dort?«

»Nein, lauter Schiiten.«

»So segne Allah dieses Land und lasse ihm hunderttausend Palmen für jeden Bewohner wachsen! Sind die Leute dort wohlhabend?«

»Ja, alle!«

»Das sieht man an euren Pferden. Wenn diese Bewohner auf Reisen gehen, stecken sie wohl nur Gold in ihre Taschen?«

Halef war, indem er den Reichtum bejahte, sehr unvorsichtig gewesen; er konnte dadurch die Raublust dieser drei Menschen leicht auf uns lenken; jetzt antwortete er klüger:

»Nein; sie stecken gar nichts ein, denn man ist dort so gastfreundlich gesinnt, daß niemand Geld zu haben braucht.«

»Aber jede Gastfreundschaft muß belohnt werden; sie tragen also wohl Kostbarkeiten mit sich? Vielleicht Perlen oder gar edle Steine?«

»Edle Steine? Was für Steine meinst du da?«

»Diamanten, Rubine, Smaragde, Türkise.«

»Allah’l Allah! Sind etwa diese bei euch hier edel?«

»Natürlich!«

»Welch ein Land! Und welch ein Volk seid ihr. Bei uns in Schibiri bestehen sämtliche Gebirge massiv aus solchen Steinen. Die werden also gar nicht geachtet; die Wege sind mit Diamanten gepflastert, und die Häuser werden aus Rubinen und Türkisen gebaut. Zum Bau der Moscheen nimmt man nur Smaragde, die so groß sein müssen wie zehn eurer Kieselsteine.«

»Maschallah! Soll man das wohl glauben?!«

»Natürlich muß man’s glauben, denn es ist ja wahr. Wir haben aber auch Steine, welche edel sind und ungeheures Geld kosten.«

»Wie heißen diese?«

»Kara Tasch, Haßwa, Hattan, Palandiz Taschy und noch andere ähnliche.«

»Sag, sind die Menschen wahnsinnig dort?!«

»Welch eine Frage!«

»Das sind ja lauter Steine, aus denen unsere Berge hier bestehen!«

»So seid ihr und eure Berge verrückt, aber doch nicht wir! Den Wahnsinn kennt man in Schibiri nicht; hier aber scheint er in den meisten Köpfen, besonders in den eurigen, zu wohnen.«

»Wieso?«

»Weil uns nur verrückte Menschen nach Gold und nach Edelsteinen fragen können. Glaubt ihr denn, daß wir, wenn wir solche Dinge bei uns hätten, es euch sagen würden? Bei uns in Schibiri ist kein Mensch so dumm, wie die Bewohner der hiesigen Gegend zu sein scheinen.«

Jetzt sah der Mann ein, daß er von Halef gefoppt worden war; er griff nach seinem Messer und rief drohend aus:

»Schweig! Wenn du beabsichtigest, uns zu beleidigen, wirst du sofort hier diese Klinge fühlen!«

»Laß sie stecken!« antwortete der Hadschi lachend. »Wir haben auch Messer. Deine große und unzeitige Neugierde verdiente eine Lehre, die ich dir gegeben habe. Wir halten unsern Kef und wollen ruhen; da kommst du, uns zu stören. Warum lässest du uns nicht unbelästigt? Woher weißt du, daß wir mit dir sprechen wollen? Wir sind keine Knaben, denen man mit dummen, unvorsichtigen Fragen kommen darf. Das will ich dir noch sagen, und nun laßt uns in Ruhe!«

Da sprang der Mann auf, hielt ihm die geballten Fäuste hin und schrie:

»Das sind Beleidigungen, für welche ich dich erstechen würde, wenn ich nicht – – – wenn wir nicht – – – wenn wir nicht zum Stamme der Solaib gehörten! Hast du von diesem Stamme gehört?«

Nach einem allgemeinen und sehr alten Übereinkommen erfreuen sich die Solaib des ungestörtesten Friedens. Niemand darf einen Solaib feindlich behandeln; dafür aber sind die Genossen dieses Stammes auch verpflichtet, ihrerseits alles zu vermeiden, was herausfordernd wirken kann. Wir wußten von den zwei Boten des Säfir, daß dieser sich mit Ghasai-Beduinen verbunden hatte, welche sich für Solaib ausgaben; höchst wahrscheinlich gehörten diese drei zu ihnen. Da der Hadschi die Schuld an dieser immerhin unangenehmen Scene trug, ließ ich ihn nicht weitersprechen, sondern richtete nun selbst die warnenden Worte an den Sprecher.-

»Wenn du wirklich ein Solaib bist, so mach der Friedfertigkeit deines Stammes keine Schande, und setz dich ruhig nieder! Wir sind, wenn wir mit jemand sprechen wollen, gewöhnt, das Wort selbst zu ergreifen. Warte also ab, was uns beliebt!«

»Wallahi!« höhnte er. »Ihr scheint euch für sehr vornehme Personen ausgeben zu wollen; ich aber will euch sagen, was ihr seid! Ihr seid ––«

Ich sprang rasch auf, trat ganz nahe zu ihm heran und fragte:

»Nun, was sind wir? Sprich!«

Er hatte den Mund noch offen und vergaß, ihn zuzumachen, obgleich er mit der Antwort zögerte. Während ich seinen Blick mit meinem Auge festhielt, wich er langsam Schritt um Schritt zurück, setzte sich dann nieder, wo er vorhin gesessen hatte, und sagte kein Wort. Auch ich suchte meinen Platz wieder auf und that so, als ob außer uns niemand anwesend sei. Es dauerte nicht lange, so entfernten sich die Beduinen, doch nicht, ohne uns vorher noch drohende Blicke zugeworfen zu haben.

»Sihdi, der hatte Angst vor dir!« lachte Halef. »Ich sah ihm die Feigheit gleich am Anfange an.«

»Das ist kein günstiges Zeugnis für dich! Reizt man einen Feigling zum Zorne?«

»Er hat doch mich gereizt und nicht ich ihn!«

»Läßt man sich von einem Feigling reizen?«

»Wie du nur wieder einmal bist, Sihdi! Du selbst hast mich doch durch deinen Wink aufgefordert, ihm zu antworten!«

»Habe ich dich aufgefordert, es in der Weise zu thun, in welcher es geschehen ist?«

»Konnte ich anders? Was hatte er nach unserm Vermögen zu fragen? Ein ehrlicher Mann thut das nicht, und von einem unehrlichen Menschen muß es beleidigen, denn er hält mich für dumm genug, es ihm zu sagen. Ich habe zwar gesagt, daß ich ihn für einen Feigling halte, aber ich füge hinzu, daß er dazu ein Schurke ist; es giebt auch feige Schurken. Was denkst denn du von diesen Leuten?«

»Ich halte sie für Ghasai-Beduinen, die bei dem geplanten Überfall der Karawane beteiligt sein sollen. Ich wollte, sie wären nicht hierhergekommen.«

»Wenn ich dich nicht kennte, so würde ich sagen: Das klingt beinahe wie Angst! Mögen sie sein, wer und was sie sind, mir ist es gleich. Und wenn sie das sind, was du denkst, so haben sie auf die Karawane acht zu geben und also keine Zeit dafür übrig, sich mit uns zu beschäftigen. Wir sind vor ihnen sicher. Doch – – – horch!«

Wir hörten das Geräusch scharrender und schlagender Hufe und begaben uns schnell nach dem Hofe. Die Beduinen, bei denen sich auch der Wirt befand, hatten unsere Pferde losgebunden und bemühten sich, aufzusteigen; die Hengste sträubten sich dagegen. Als Halef das sah, griff er nach seiner Peitsche; ich nahm ihn beim Arme und sagte:

»Nicht schlagen! Es ist frech von ihnen, ja; aber sie sollen ihren Willen haben und ihre Strafe dadurch finden, daß sie abgeworfen werden.«

Er bezwang seinen Grimm und antwortete mit. einem nicht etwa freundlichen Lachen:

»Ganz recht, Sihdi, ganz recht! Aber sie sollen so herunter, daß sie es nicht bald und leicht vergessen werden. Überlaß das mir! Ich bringe das besser fertig, denn ich habe es mit den Rappen eingeübt.«

Er machte ein sehr harmloses, ja beinahe wohlwollendes Gesicht, ging auf die Leute zu und fragte:

»Ihr wollt die Pferde wohl einmal probieren?«

»Ja, das wollen sie,« nickte der Wirt. »Aber die Tiere haben den Scheïtan im Leibe und wollen niemand in den Sattel lassen.«

»Ja, sie sind gewöhnt, nur gute Reiter zu tragen und scheinen diesen Solaib nichts zuzutrauen.«

Da dies etwas höhnisch klang, fiel einer der Beduinen schnell ein:

»Das mögen sie nur abwarten! Das Aufsteigen zu verwehren, ist weiter nichts; aber wenn wir erst einmal oben sitzen, dann sollen sie erfahren, ob wir Reiter sind oder nicht! Wir fordern dich auf, sie nur erst zu beruhigen!«

»Diese liebe kann ich euch erweisen; aber ich sage euch vorher, daß sie euch abwerfen werden.«

»Schwatze nicht, sondern probiere es!«

»Wenn ihr wollt, ja; aber gebt mir nicht die Schuld, wenn ihr die Hälse brecht!«

»Unsere Hälse gehören uns, aber nicht dir; wir werden sie selbst zu hüten wissen!«

»Gut! Macht also, daß ihr hinaufkommt! Und haltet euch fest, sonst seid ihr schneller wieder unten als hinauf!«

Daß diese Leute sich ohne Erlaubnis an unsere Pferde gemacht hatten, braucht nicht aufzufallen. Der Beduine ist ein geborener Reiter und gerät sehr leicht in Ekstase, wenn er ein selten gutes oder wohl gar reinblütiges Pferd sieht. Sein Verlangen, es einmal zu probieren, ist ein ganz selbstverständliches. Daher die Begeisterung und der Wunsch dieser drei Männer, welch letzteren sie wegen des vorangegangenen Streites gar nicht erst hatten aussprechen wollen.

Die Hengste waren aufgeregt; sie schlugen noch jetzt um sich, obgleich wir, ihre Herren, nun zugegen waren. Da hob Halef den Arm und rief das eine Wort »Schusch!« Sie standen sofort unbeweglich still; zwei der Beduinen stiegen auf und fanden den gewünschten Gehorsam. Sie ritten die ganze Schule durch und ahmten schließlich die Bewegungen des Barud-Spieles mit den plötzlichen Zickzackbewegungen nach, was hier in dem engen Hofe nicht ungefährlich war. Ich bemerkte, daß die Augen der Pferde fortwährend auf Halef gerichtet waren; die klugen Tiere wußten, um was es sich handelte. Eben jagten beide Reiter von entgegengesetzten Seiten aufeinander los, da erscholl Halefs Ruf »Litaht, litaht!«

Der Hadschi trennte beide Worte durch einen schrillen Pfiff. Das war das Zeichen. Die Pferde warfen sich mitten im Galoppe hoch in die Luft – ein katzenartiges Krümmen des Rückens, ein blitzschnelles Auffußen und wieder Hochspringen – – die Reiter flogen in weiten Bogen aus den Sätteln und mit lautem Pralle auf die scharfkantigen Ziegel nieder, welche zerstreut umherlagen. Es herrschte kurze Zeit tiefe Stille; die Pferde standen still, und die Abgeworfenen lagen still; auch der Wirt und der dritte Beduine bewegten sich zunächst nicht; dann aber eilten sie zu den am Boden Liegenden hin. Auf dem Gesichte Halefs lag der Ausdruck stolzer Freude.

»Was sagst du dazu, Sihdi?« fragte er. »Wie sind die Hengste dressiert?«

»Vorzüglich,»antwortete ich. »Aber ich glaube, die Reiter haben Schaden genommen!«

»Das ist mir gleich. Was haben sie sich mit unsern Pferden zu schaffen zu machen! Ich habe sie gewarnt, und du bist Zeuge, daß sie für ihre Hälse selbst sorgen wollten. Schau hin; sie haben ihren Lohn!«

Der eine wollte sich aufrichten; er konnte nicht, denn er hatte das Bein gebrochen; der andere lag besinnungslos; ob auch er verletzt war, ließ sich jetzt nicht entscheiden. Wir gingen, um unsere Sachen aus der Stube zu holen. Als wir wiederkamen, hatten die Kerls sich miteinander besprochen und einen Beschluß gefaßt, den der Wirt uns mitteilen zu sollen schien, denn er erkundigte sich in feindseligem Tone bei mir:

»Sag, ihr scheint fortzuwollen?«

»Ja,« nickte ich.

»Das geht nicht. Ihr müßt bleiben!«

»Warum?«

»Du siehst, was hier geschehen ist. Dieser Mann hat das Bein gebrochen, und dieser da ist vielleicht gar tot!«

»Was geht das uns an? Wir haben sie gewarnt.«

»Aber ihr habt den Pferden ein Zeichen gegeben, sie abzuwerfen!«

»Das geht dich nichts an! Du hast uns zunächst zu sagen, was wir dir für das Essen zu bezahlen haben.«

»Das werdet ihr später erfahren. Ich laß euch nicht fort.«

»Pah! Du wirst uns wohl nicht halten!«

»Das werde ich ganz gewiß, und wenn ihr mir nicht gehorcht, so werde ich meine Klage bis zum Pascha treiben!«

»Damit machst du uns nicht bange! Wenn du denkst, uns dadurch furchtsam zu machen, daß du euerm hiesigen Sandschaki den hohen Titel eines Pascha giebst, so irrst du dich. Wir stehen unter dem direkten Schutze des Padischah, und selbst wenn das nicht wäre, so würden wir uns selbst zu beschützen wissen. Willst du uns sagen oder nicht, was das Essen kostet?«

»Nein!«

»So bezahle ich, was mir beliebt. Es wird mehr sein, als du zu fordern hast. Hier hast du!«

Ich nahm das Geld aus dem Beutel und reichte es ihm hin, da schlug er mir von unten an die Hand, daß die Geldstücke zur Erde flogen. Ich warnte ihn:

»Höre, Mann, ich bin nicht gewohnt, daß man nach mir schlägt oder mich in ähnlicher Weise beleidigt. Versuchst du das noch einmal, so zeige ich dir, wie ich solche Frechheiten zu bestrafen pflege! Geh weg!«

Er stellte sich mir nämlich in den Weg, weil er sah, daß ich in den Sattel wollte; Halef hatte sich schon aufgeschwungen. Die Beduinen riefen dem Wirte zu, uns nicht fortzulassen. Dieser wagte es auch wirklich, mich am Arme zu packen.

»Laß los!« forderte ich ihn auf.

»Du bleibst!« herrschte er mich an, indem er mich festhielt.

»So flieg dorthin, wo schon die andern liegen!«

Ich gab ihm einen Hieb unter das Kinn, daß er zurücktaumelte, faßte ihn bei der linken Hüfte und unter dem rechten Arme, hob ihn auf und warf ihn auf den dritten Beduinen, welcher ihm zu Hilfe kommen wollte. Beide stürzten nieder. Ehe sie sich aufraffen konnten, saß ich auf dem Pferde, und wir ritten fort. Hinter uns brüllten die Kerls; wir achteten nicht darauf und trabten, ohne von ihnen verfolgt zu werden, durch den westlichen Stadtteil und der dortigen Palmenwaldung der Gegend zu, in welcher südlich von der Stadt der Birs Nimrud in der Nähe der Ruine Ibrahim Chalil liegt.

Die Entfernung beträgt nicht ganz drei Stunden, in welcher Zeit uns nur wenige einsam wandernde Menschen begegneten. Als wir dort anlangten, war die Sonne im Untersinken begriffen, und wir machten am Fuße der Ruine genau an derselben Stelle Halt, an welcher wir damals unser Lager aufgeschlagen hatten. Es war kein Mensch rundum und weithin zu sehen; wir konnten unsere Pferde ohne Aufsicht unten stehen lassen und stiegen auf die Höhe des Turmes, um einen Blick über das weite Feld der Ruinen zu werfen. Oben angekommen, befanden wir uns an einer der berühmtesten Stätten der Religions- und Weltgeschichte.

Babel!

»Und die Menschen sprachen: Wohlan, lasset uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, damit wir uns einen Namen machen!« So erzählt die heilige Schrift. Die Stadt wurde gebaut und Babel genannt. Der Name ist noch da; aber wo ist die Stadt und wo der Turm? Trümmer und nichts als Trümmer weit umher, und da, wo der Turm bis gen Himmel reichen sollte, stand ich nun zum zweitenmal und gedachte der Worte: »Wo der Herr nicht das Haus baut, da arbeiten die Meister umsonst, und wenn der Herr nicht die Stadt behütet, da wachen die Wächter umsonst!«

Nach Herodot hatte die zu beiden Seiten des Euphrat liegende Stadt einen Umfang von 480 Stadien, also beinahe 120 Kilometer. Sie wurde von einer 200 Ellen hohen und 50 Ellen starken Mauer umgeben, welche von starken Türmen und einem breiten, tiefen Wassergraben beschützt wurde. Hundert eherne Thore führten durch diese Mauer, und von jedem dieser Thore ging eine gerade Straße durch die ganze Stadt nach dem gegenüberliegenden. Die bis vier Stockwerke hohen Häuser waren aus Backsteinen erbaut, welche untereinander mit Erdharz verkittet wurden. Die Gebäude hatten prächtige Fassaden und wurden durch freie Höfe voneinander getrennt. In dem weiten Häusermeere lagen große Plätze und prachtvolle Gärten, in denen zwei Millionen Menschen Erholung suchen und finden konnten. Auch die Ufer des Stromes waren von gigantischen Mauern eingefaßt, deren erzene Thore des Nachts verschlossen wurden. Über den Fluß führte eine herrliche, dreißig Fuß breite Brücke, deren Dach abgenommen werden konnte. Nach Diodor war sie eine Viertelstunde, nach Strabo eine Stadie lang. Um diese Brücke zu bauen, mußte der Strom abgeleitet werden; man grub also im Westen der Stadt einen See aus, welcher 75 Fuß tief war und einen Umfang von zwölf Meilen hatte; hierein ließ man die Fluten laufen. Dieser auch später beibehaltene See diente zur Verteidigung der Stadt, zur Regulierung der Flußüberschwemmungen und zur Bewässerung der Felder, was mittels vieler Schleusen geschah. An jedem Ende der Brücke stand ein riesiger Palast; beide Paläste waren durch einen unterirdischen Tunnel verbunden.

Die hervorragendsten Gebäude von Babel, welches keilschriftlich Bab ilu, d. i. Pforte Gottes, heißt, waren das alte, über eine Meile im Umfange haltende Königsschloß, die hängenden Gärten der Semiramis und der von einer dreifachen Mauer umgebene neue Palast, den zahllose Bildhauerarbeiten schmückten.

Die berühmten Gärten der Semiramis wurden von einer 22 Fuß dicken Mauer umgeben und bildeten ein Viereck von 160.000 Quadratfuß Flächenraum. Auf hohen, gewölbten Bogen erhoben sich amphitheatralisch gelegene Terrassen, zu denen man auf zehn Fuß breiten Stufen emporstieg. Die Plattformen dieser Terrassen waren mit 16 Fuß langen und 4 Fuß breiten Steinen belegt, damit kein Wasser hindurchdringe. Auf diesen Steinen gab es eine dicke Lage verkittetes Rohr, hierauf zwei Reihen gebrannter Ziegel, welche mit Harz verbunden waren, und dann hatte man noch eine Bleidecke hergestellt, auf welche man die beste Pflanzenerde so hoch aufschüttete, daß die stärksten Bäume tief und bequem Wurzeln schlagen konnten. Auf der obersten Terrasse befand sich ein ungeheurer Brunnen, welcher das nötige Wasser aus dem Flusse sog und dann über die Gärten ergoß. Unter jeder Terrasse waren Hallen angebracht mit prächtigen, des Nachts erleuchteten Gartensälen, in denen man sowohl den Duft der köstlichsten Blumen wie auch die herrliche Aussicht auf alle Teile der Stadt und ihre Umgegend genießen konnte.

Das größte Bauwerk der Stadt aber war der Turm zu Babel, von welchem uns die heilige Schrift erzählt. Die Talmudisten behaupten, er sei siebzig Meilen hoch gewesen. Nach orientalischen Überlieferungen betrug seine Höhe 10.000 Klaftern, nach andern Traditionen 25.000 Fuß, und es soll eine ganze Million Menschen zwölf Jahre lang an ihm gearbeitet haben. Während dies selbstverständlich übertrieben ist, scheint die Wahrheit zu sein, daß sich allerdings mitten aus dem großen Tempel des Baal ein Turm erhoben hat, dessen Grundfläche ungefähr tausend Schritte im Umfange hatte, während seine Höhe bis 800 Fuß betrug. Er bestand aus acht Stockwerken, deren jedes höhere eine kleinere Basis hatte als dasjenige, auf welchem es stand. Durch ein achtmal um die Außenmauer des Turmes laufendes Treppenwerk gelangte man auf die Höhe des Turmes. Jedes dieser Stockwerke enthielt große gewölbte Hallen, Säle, Zimmer und Gänge, deren Bildsäulen, Tafeln, Tische, Stühle und Gefäße von purem Golde waren. Im untersten Stockwerke stand die Bildsäule des Baal, welche tausend babylonische Talente wog und also einen Wert von mehreren Millionen Thalern hatte. Auf dem obersten Stockwerke befand sich eine Sternwarte, in welcher die Astronomen ihre Beobachtungen vornahmen.

Alle diese Schätze des Turmes, welche nach Diodorus 6300 goldene Talente wert gewesen sein sollen, wurden von Xerxes geraubt und fortgeschafft. Nach der morgenländischen Mythe soll sich in dem Turme auch ein Brunnen befunden haben, dessen Tiefe genau so groß wie die Höhe des Turmes gewesen sei. Alexander der Große wollte den eingestürzten Turm wieder herstellen und ließ über zehntausend Menschen nur an der Wegräumung des Schuttes und der Trümmer arbeiten, wurde aber durch seinen frühen Tod verhindert, seinen Vorsatz auszuführen.

Das war Babel. Und jetzt – – –?

Wie oft hatte ich die Weissagung Jeremias gelesen, welche wie Posaunenschall über das von Gott gerichtete Sinear erklang! An den Wassern Babylons, an den Ufern des Euphrat und an den Rändern der Seen und Kanäle saßen die heimatlosen Söhne Abrahams; ihre Saitenspiele, Psalter und Harfen hingen stumm an den Weiden, und ihre Thränen rannen zum Zeichen der Buße über ihre Sünden. Und wenn ja eine der Harfen erklang, so ertönte sie vor Sehnsucht nach der Stadt, die den Tempel Jehovas barg, und der Schluß des Klageliedes war: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt.« Und der Herr erhörte diese Gebete. Es erklang die gewaltige Stimme Jeromijahus aus Anathot, den wir Jeremias nennen, und das weinende Volk lauschte seinen Worten.

»Dies ist das Wort des Herrn wider Babel und das Land der Chaldäer: Es ziehet von Mitternacht ein Volk herauf, das euer Land zur Wüste machen wird; es hat Bogen und Schild und ist grausam und unbarmherzig; sein Geschrei ist wie das Brausen des Meeres. Fliehet aus Babel, damit ein jeder seine Seele errette, denn es ist ein Kriegsgeschrei und großer Jammer im Lande! Es spricht der Herr Zebaoth: Siehe, ich will den König zu Babel heimsuchen; rüstet euch wider Babel! Jauchzet über sie um und um; ihre Grundfesten sind gefallen und ihre Mauern abgebrochen. Kommet her gegen sie! Öffnet ihre Kornhäuser; erwürget alle ihre Rinder; belagert sie, und lasset keinen entfliehen! Sie hat wider den Herrn gehandelt; darum sollen ihre Männer fallen und ihre Krieger untergehen zu derselben Zeit. Schwert soll kommen über Babel und seine Fürsten, über die Weissager und Starken, über Rosse und Wagen und über den Pöbel, der darinnen ist. Gleichwie Gott Sodom und Gomorrha umgekehrt hat, so soll auch Babel zum Steinhaufen werden und ihre Stätte zur Wüste!«

Und in wie schrecklicher Weise ist dieses Wort des Propheten in Erfüllung gegangen! Mit 600.000 Streitern zu Fuß, 120.000 Reitern und 1.000 Sichelwagen, ungezählt noch Tausende von Kamelreitern, kam Cyrus und eroberte die Stadt trotz ihrer festen Lage und trotzdem sie auf zwanzig Jahre mit Lebensmitteln versehen war. Später ließ Darius Hystaspis die Mauern niederreißen, und Xerxes entblößte sie von allen ihren Schätzen. Selbst der große Alexander konnte das Schicksal der Stadt nicht aufhalten. Es dauerte nicht lange, so wurde auf dem von den Mauern noch eingeschlossenen Teile der Stadt Getreide gebaut; dann benutzten die Partherkönige Babylon als Wildgehege. Seit der Herrschaft der Araber ist der Name Babylon ganz aus der Geschichte verschwunden, und heut ist nichts mehr von ihr zu sehen als ein weites, verwittertes Backsteinchaos, in welchem sich selbst das scharfe Auge des Forschers nicht zurechtfinden kann. – –- »So vergeht die Welt mit aller ihrer Herrlichkeit, und nur Gottes Wort bleibt ewiglich!«

Die Sonne wollte untergehen, und so stiegen wir wieder hinab zu unsern Pferden, um die Decken für das Nachtlager auszubreiten. Dabei gelangten wir auf einen Vorsprung des Trümmerkolosses, von welchem aus wir etwas sahen, was uns ganz oben doch entgangen war.

Es gab nämlich einen alten Kanal, welcher, im Sommer wohl stets austrocknend, jetzt voll Wasser war und, grad auf den Birs Nimrud zuführend, diesen nicht ganz erreichte, sondern in der Entfernung von vielleicht einer Viertelwegsstunde von demselben endete. Er mußte mit demselben in Verbindung stehen, und wir sahen eine Anzahl von Fahrzeugen sich auf ihm bewegen.

»Wer mag das sein, Sihdi?« fragte Halef.

»Das weiß ich natürlich ebensowenig wie du,« antwortete ich. »Vielleicht kann es uns gleichgültig sein; wir wissen nicht, welche Richtung diese Fahrzeuge haben. Wollen sie betrachten.«

Wir thaten das und bemerkten schon nach kurzer Zeit, daß sie sich nicht entfernten, sondern näherten. Da wir auf solche Entfernung nicht von dort gesehen werden konnten, blieben wir noch eine Weile stehen; dann aber mußten wir die Stelle doch verlassen, weil wir sonst in der Gefahr standen, ihnen sichtbar zu werden. Indem wir hinunterstiegen, sagte Halef:

»Sihdi, ich habe einen Gedanken; aber ob er der richtige ist, das weiß ich nicht.«

»Er betrifft die Leute dort auf den Fahrzeugen?«

»Ja.«

»Nun?«

»Ich denke an das, was die Boten des Säfir sagten, nämlich daß ›Leichen‹ den Euphrat herunterkommen würden. Lache mich nicht aus!«

»Das fällt mir gar nicht ein, denn ich habe ganz denselben Gedanken, obgleich ich keinen Grund finde, anzunehmen, daß es sich grad um diese ›Leichen‹ und um nichts anderes handle.«

»Aber bedenke, daß wir, wenn diese Vermutung die richtige ist, es mit dem Säfir zu thun haben!«

»Das bedenke ich allerdings.«

»Wir müssen vorsichtig sein. Der Ort, wo wir lagern wollen, liegt grad auf der Seite der Ruine, nach welcher diese Leute kommen werden.«

»Wenn sie überhaupt kommen, ja, dann freilich. Jetzt müssen wir es ruhig abwarten, ob sie dies beabsichtigen. Der Art und Weise nach, in welcher sie sich bewegten, sind die Fahrzeuge nicht Boote, sondern kleine Kelleks, welche man bis an das Ende des Kanales rudern wird. Was dann geschieht, werden wir erfahren. Diese Leute können etwas vorhaben, was sie nur nach jener Stelle führt und nicht weiter; sie können die Kelleks aber auch mit Gegenständen beladen haben, welche dann von dem Kanale aus nach den Ruinen geschafft werden sollen. In diesem Falle führt die gerade Linie allerdings auf uns zu, was freilich noch lange nicht besagt, daß sie grad nach dem Punkt kommen müssen, wo wir uns befinden. Wir werden wachsam sein und schon jetzt dafür sorgen, daß wir wenigstens für unsere Pferde eine Stelle finden, wo sie nicht so offen wie jetzt stehen, nämlich zwar am Rande des Schuttberges, aber doch auf der freien Ebene. Es ist glücklicherweise noch hell genug, nach einem solchen Versteck zu suchen.«

Als wir unten ankamen, gingen wir am Fuße der Ruine hin, und es dauerte gar nicht lange, so bemerkte ich etwas, was meine Aufmerksamkeit erregte, obwohl es mit unserer Absicht, einen verborgenen Ort für die Pferde zu suchen, nicht zusammenzuhängen schien. Es gab da nämlich eine Halde lockeren Schuttes, aus vollständig verwitterten und zerfallenen Luftziegeln bestehend, welche von oben herabgefallen waren. An dieser Halde führte da, wo wir jetzt standen, eine Fährte empor. Ich glaube nicht, daß sie ein anderer, zumal ein Beduine, entdeckt haben würde; aber für ein in den Prärien und Urwäldern Amerikas geschärftes Jägerauge war sie deutlich genug. Ich deutete auf sie und fragte meinen kleinen Hadschi:

»Siehst du diese Spuren, Halef?«

»Spuren?« fragte er verwundert. »Ich sehe nichts. Was für Leute sollen da hinaufgestiegen sein?«

»Es handelt sich nicht um Menschen, sondern um Tiere, welche öfters hier auf- und abwärts zu spazieren scheinen.«

»Wohl gar Löwen!« lachte er.

»Das nicht. Es sind kleine Tiere, die hier einen oft benützten Pfad zu haben scheinen.«

»Möglich! Ich sehe nichts; auch kann uns der Spaziergang dieser kleinen, uns unbekannten Tiere gar nicht interessieren. Komm, wollen weiter!«

»Nein. Wir suchen ein Versteck, und die Tiere, welche hier verkehren, sind keine zahmen, sondern wild; wilde Tiere aber pflegen verborgene Lagerstätten zu haben; wir werden diesen Spuren folgen.«

Wir stiegen also die Halde empor und kamen an eine von unten nicht bemerkbare Stelle, wo sie einen nach der Ruinenwand führenden Einschnitt hatte, der sich durch die Mauer fortzusetzen schien. Ob hier einst ein Thor gewesen oder die Mauer aus einem besondern Grunde an dieser Stelle verwittert und eingestürzt war, das ließ sich nicht sagen, aber die Lücke war groß genug, nicht nur uns, sondern auch die Pferde durchzulassen. Wir drangen in sie ein. Sie führte lang und schmal durch gewaltige Ziegelmassen nach einem viereckigen Innenraum, der am besten mit einem sogenannten Lichthofe zu vergleichen war, obgleich wir keine Fenster sahen, die sich vor Zeiten nach ihm geöffnet hatten. Seine Umfassungsmauern waren an vielen Stellen zerrissen und abgebröckelt, und der Boden, auf welchem wir uns befanden, bestand aus lockerem Ziegelmehl, welches hier Stockwerke tief zu liegen schien. Es war in diesem Innenhofe dunkler als draußen, dennoch sahen wir die Losung der betreffenden Tiere in ziemlicher Menge herumliegen und entdeckten nun auch, welcher Art sie waren; es schien hier ihr Kampf- und Tummelplatz zu sein, denn wir sahen große Borstenflocken und viele Stacheln rund umher, welche den Besiegten ausgerissen oder abgebrochen worden waren.

»Maschallah!« rief Halef aus. »Wir scheinen da einen Suk el Kanafid entdeckt zu haben. Meinst du nicht auch, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich. »Dieser so tief versteckte Hof, der wohl seit zwei Jahrtausenden von keines Menschen Fuß betreten wurde, paßt einzig gut für diese nächtlichen Stachelborster. Sie können in dem weichen Schutte und den zu Mehl zerbröckelnden Mauern leicht ihre Gänge graben, die oft von bedeutender Tiefe sind – –ah, da fällt mir das Gemach ein, in welches der Bimbaschi eingesperrt worden ist! Er sagte, daß es da Stachelschweine gegeben habe; er sprach von einem Erdhaufen in der Erde, und ich war sehr geneigt, anzunehmen, daß dieser Haufen aus zerfallenen Ziegeln bestanden habe, durch deren Mehl diese Tiere leicht hineinkommen konnten. Es hat da also einen Gang für sie gegeben. Ob der wohl auch für Menschen weit genug wäre? Und ob dieser Gang vielleicht gar in diesen Hof hier mündet?«

»Sihdi, träume nicht! Du willst da Dinge zusammenbringen, welche gar nicht zu einander gehören!«

»Woher weißt du, daß sie nicht zusammen gehören?«

»Die Höhe stimmt nicht.«

»Wieso?«

»Nach der Beschreibung des Bimbaschi hat das Gefängnis höher gelegen, als wir uns hier befinden.«

»Ja, hier an dieser einen Stelle; aber dort vor uns, von dieser bis zu dieser Ecke steigt der Schutt fast um ein Stockwerk höher an und – – schau hin! Siehst du die Löcher, welche in die zerissene Mauer führen?«

»Hm! Ich sehe sie; aber ich wundere mich, daß die Kanafid grad da einen Gang gegraben haben sollen, wo du einen brauchst?«

»Brauchst? Ich brauche keinen, denn ich bin nicht gefangen. Ich verbinde Umstände, welche im Zusammenhange zu stehen scheinen, vollends miteinander, und ob ich da recht habe oder nicht, das hat keine Folgen für uns; aber dennoch werde ich diesen Hof hier morgen etwas eingehender untersuchen, als es jetzt möglich ist. Wir müssen uns beeilen, denn in zehn Minuten wird es vollständig dunkel sein.«

»Und das Versteck für die Pferde – –?«

»Ist gefunden. Wir schaffen sie hierher.«

»Das denke ich auch. Sie werden zwar etwas klettern müssen, befinden sich dann aber hier so sicher wie im Schoße Ibrahims. Komm, holen wir sie!«

Die zehn Minuten waren noch nicht verflossen, so hatten wir die Pferde in dem Hofe untergebracht und suchten dann unsern Lagerplatz wieder auf, weil wir eine etwaige Annäherung dort am leichtesten bemerken konnten.

Der Abendwind hatte sich erhoben; er kam aus nördlicher Richtung, und das war uns insofern lieb, als er uns, falls die Leute am Kanale ja die Absicht hegten, nach der Ruine zu gehen, das Geräusch ihrer Schritte zutragen mußte. So vergingen wohl zwei Stunden, da begann Halef zu pusten und verdrießlich vor sich hin zu brummen, bis er dann in höchst ärgerlichem Tone fragte:

»Riechst du etwas, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich, denn ich hatte dieselbe Bemerkung wie er gemacht.

»Es beginnt sich in meiner Nase ein sehr schmerzliches Unbehagen zu entwickeln, und die Grundpfeiler der Gesundheit meiner Geruchsnerven scheinen ins Wanken geraten zu wollen. Ich glaube – –ah – – bah pschah – –pfui! Das wird ja immer schlimmer. Das ist schon kein Geruch mehr, sondern ein Höllenduft, grad als ob eine Leichenkarawane hier vorüberzöge!«

»Sie wird wohl auch kommen!«

»Wer – –? Was – –? Die Leichenkarawane?«

»Ja, wenn auch keine große, wie wir damals gesehen haben. Man riecht ganz deutlich, daß sie immer näher kommt. Verhülle deine Nase, aber öffne deine Ohren desto mehr. Horch!«

Wir hörten Schritte, welche in nicht sehr beträchtlicher Entfernung an uns vorübergingen; einzelne kurze Worte, wie Kommandorufe, ließen sich vernehmen; dann wurde es wieder still.

»Allah sei Dank, sie sind vorüber!« seufzte Halef erleichtert auf. »Der Wind hat ihre Düfte mitgenommen, und wir können nun wieder Atem holen.«

»Das magst du thun; ich aber werde diese Wohlgerüche noch länger genießen, denn ich will ihnen folgen.«

»Folgen? – Warum?«

»Ich muß wissen, wer sie sind und was sie hier treiben.«

»Oh, Sihdi, laß sie thun, was ihnen beliebt! Was kann es dir für Nutzen bringen, wenn deine Augen sie sehen, aber deine Nase für immer krank und elend wird!«

»Das Wohlbefinden meiner Nase muß mir jetzt leider gleichgültig sein. Ich bin nun überzeugt, daß es sich wirklich um die ›Leichen‹ handelt, welche der Säfir erwartet, und möchte gern wissen, was es mit ihnen für eine Bewandtnis hat.«

»Gar keine, jedenfalls gar keine weiter, als daß es gewöhnliche Leichen sind, welche nach Kerbela oder Meschhed Ali geschafft werden sollen.«

»Nein! Der Bote, welcher von ihnen sprach, betonte das Wort in ganz eigentümlicher Weise. Und gewöhnliche Leichen würde man auch auf dem gewöhnlichen Wege transportieren, nicht aber so heimlich den Euphrat hinab, in den Kanal hinein und dann auf Menschenarmen noch hierher.«

»So willst du ihnen also wirklich nach?«

»Ja.«

»Dann laß ich dich nicht allein fort; ich gehe mit.«

»Das ist nicht nötig; ich brauche dich nicht.«

»Ob du mich brauchst oder nicht, geht mich nichts an. Sollst du etwa den Teufelsgestank allein einatmen, während ich hier in den schönsten, reinsten Lüften schwelge? Ich bin mit dir geritten, um alles, aber auch alles, was dir begegnet, mit zu erleben; also will und muß ich nun auch hier meinen Teil von diesen beglückenden Gaben der Verwesung haben. Wenn du mich nicht freiwillig mitnimmst, laufe ich dir heimlich nach; darauf kannst du dich verlassen!«

»Es ist mir nicht lieb, Halef, wirklich gar nicht lieb, daß du mitgehen willst!«

»Aber warum?«

»Ich habe deiner Hanneh versprochen, daß ––«

Da fiel er mir schnell in die Rede:

»Schweig, Sihdi, schweig! Was du ihr, der Wonne meines Herzens und der Seele meines Lebens, versprochen hast, das hast du, aber nicht ich ihr zu halten. Erfülle ihr ihren Wunsch, indem du mich nicht mitnimmst! Ich aber laufe hinter dir her, denn ich sehe wirklich nicht ein, weshalb ich hier allein liegen bleiben soll!«

»Es ist möglich, daß ich mich Gefahren aussetzen muß, welche dir ––«

»Gefahren aussetzen? Du?« unterbrach er mich wieder.

»Und da mutest du mir zu, dich ohne die Stärke meines Schutzes zu lassen? Mutest du das mir wirklich zu, Effendi?«

»Ja.«

»So sage ich dir, daß ich mit dir gehen und dich nicht verlassen werde, selbst wenn zehntausend Teufel ihre Krallen nach dir ausstrecken!«

Da er so fest auf seinem Vorsatz bestand, mußte ich mit der Wahrheit heraus:

»Ich bitte dich dennoch, hier zu bleiben, denn dein Mut ist mir zu flink! Du weißt von früher her, daß du zu Unvorsichtigkeiten geneigt bist, welche uns zuweilen großen Schaden bereitet haben. Es ist jedenfalls besser und gewährt uns mehr Sicherheit, wenn ich den jetzigen Gang allein unternehme.«

»O Sihdi, Sihdi, welche tiefe Betrübnis bringst du über meine Seele! Was geschehen ist, das ist vorüber, und ich bin längst nicht mehr der Sausewind, den du meinst, sondern der bedachtsame und kluge Oberscheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar. Wenn du mich so schwer und bitter kränken willst, so thue es; ich aber behalte dich dennoch lieb und kenne meine Pflicht, welche mir gebietet, dir in jeder Gefahr treu zur Seite zu stehen. Ich werde sie erfüllen und, wenn du mich nicht mitnimmst, hinter dir herlaufen wie ein Hund, der seinen Herrn beschützt, obgleich er Schläge von ihm bekommen hat!«

Was konnte ich da machen? Ich mußte ihm seinen Willen thun, denn er war wirklich imstande, seinen Vorsatz auszuführen und mir ohne meine Erlaubnis zu folgen. Darum sagte ich:

»Da du in dieser Weise darauf bestehst, will ich nicht länger widerstreben und wünsche nur, daß du mir keine Veranlassung zu Vorwürfen giebst. Komm, wir wollen unsere Gewehre zu den Pferden schaffen!«

»Warum das?«

»Wenn man sich anzuschleichen hat, darf man sich nicht mit langen, schweren Waffen schleppen. Wärest du hier geblieben, so hätte ich dir meine Gewehre gegeben; da du aber darauf bestehst, mitzugehen, müssen wir sie verstecken.«

»Das können wir doch hier thun!«

»Nein. Wir wissen nicht, was geschieht, und müssen unsere Sachen an einer Stelle beisammen haben. Komm; wir nehmen auch die Decken mit!«

Er sah die Notwendigkeit dieser Maßregel nicht ein; ich aber gehorchte dem Gebote der Vorsicht, gegen welches ich nie zu handeln pflege, und es sollte sich leider später herausstellen, daß ich sehr wohl daran gethan hatte.

Nachdem wir also wieder hinauf zu den Pferden gestiegen waren, diese fester angepflockt und die in die Decken gewickelten Gewehre in das Geröll versteckt hatten, machten wir uns auf den Weg, den geheimnisvollen Leuten, welche an uns vorübergegangen waren, zu folgen.

Das war nicht leicht, weil seitdem gewiß eine Viertelstunde vergangen war und wir ihre Schritte also längst nicht mehr hören konnten. Glücklicherweise wurde das, was sich unsern Ohren entzogen hatte, unsern Augen bemerkbar gemacht, denn wir waren der Richtung, welche wir einzuschlagen hatten, noch gar nicht lange gefolgt, so sahen wir, indem wir um eine Biegung der Ruine schwenkten, in nicht sehr großer Entfernung einige Feuer vor uns leuchten, und zugleich drang in unsere Nasen ein Gestank, der so unbeschreiblich und dabei scharf und stechend war, daß wir, fast zurückprallend, stehen blieben.

»Allah behüte uns vor dem neunmal geschwänzten Teufel!« klagte Halef. »Oh Muhammed, o ihr heiligen Kalifen alle, o ihr Ahnen und Urahnen aller Gerechten und Frommen, die auf Erden leben, welche Qualen der Hölle und welche Leiden der Verdammnis erwarten uns, wenn wir dorthin müssen, wo diese Feuer der Vernichtung meiner Nase brennen! Müssen wir denn wirklich hin, Sihdi, wirklich?«

»Du nicht, aber ich!«

»So gehe ich auch, und wenn ich tausendmal daran ersticke! Zwar wird mich meine Nase dereinst, wenn ich Rechenschaft abzulegen habe, wegen ihres gewaltsamen Unterganges verklagen, und ich werde diesen Mord an ihr sehr schwer zu büßen haben, aber wenn du vorwärts gehst, so kann ich doch unmöglich stehen bleiben! Was mögen diese Unglückseligen dort wohl brennen?«

»Ich vermute, daß sie die Feuer mit den Umhüllungen der Leichen, also mit den Särgen und den Decken nähren, die von dem Safte der Toten ganz durchtränkt worden sind und darum nun diesen pestilenzialischen Gestank verursachen.«

»Eine größere Dummheit kann es gar nicht geben!«

»Es ist keine Dummheit, Halef. Da ihr Thun und Treiben jedenfalls das Licht des Tages zu scheuen hat, brauchen sie Beleuchtung und müssen dann später alles vernichten, was zu ihrer Entdeckung führen könnte; beide Zwecke erreichten sie dadurch, daß sie die Särge verbrennen. Wie sie diesen unerhörten Gestank aushalten können, ist mir fast unbegreiflich. Du mußt bedenken, daß sie sich in der unmittelbaren Nähe der Gestankesquellen befinden, während wir mit dem Winde kommen und jetzt also nur einen geringen Teil der Seligkeit genießen, welche dort bei ihnen auf uns wartet.«

»Ich möchte den Euphrat voller Thränen weinen, denn das Herz wird mir schwerer, als alle hiesigen Schutt- und Trümmerhaufen wiegen; aber kein Mensch kann dem, was vor ihm liegt, entgehen, und so wollen wir den ganzen Mut der Seele und alle verfügbaren Kräfte des Geistes zusammennehmen und dieser zehntausendfachen Hölle der Teufelsdüfte entgegengehen. Komm!«

Er wollte voran; ich aber schob ihn hinter mich und sagte:

»Du hast mir zu folgen und nichts, aber auch gar nichts zu thun, was ich dir nicht erlaube; merke dir das!«

»Warum bist du plötzlich so streng, Effendi?«

»Weil du zu hitzig vorwärts willst. Diese unbedachtsame Schnellfertigkeit muß ich mir verbitten! Ich bin geschickter und erfahrener als du, und wenn du dich nicht ganz genau nach mir richtest, stehe ich für nichts. Wir dürfen uns nicht sehen lassen und müssen also Deckung suchen; wir schleichen uns hier links ins Trümmer-Warr hinein und folgen ihm, bis wir die Feuer erreicht haben. Jetzt komm!«

Es lagen zahlreiche und verschiedene große Mauerbrocken umher, bestehend aus Ziegelsteinen, welche von dem Erdpechkitt noch fest zusammengehalten wurden; man konnte sich recht gut hinter ihnen verstecken. Bald gehend oder springend, bald schlüpfend, schleichend oder kriechend, bewegten wir uns vorwärts, rechts von uns die dunkle, offene Wüste und links die drohenden Gigantenreste des Babelturmes, an dessen Fuß die herabgestürzten Mauernstücke bald haushoch, bald noch höher lagen. Zwischen solchen Bruchstücken brannten die Feuer; es waren drei, denen wir bald so nahe kamen, daß wir die sich dort bewegenden Gestalten deutlich erkennen konnten. Freilich nahm, je weiter wir vorwärts kamen, die Unerträglichkeit des Gestankes zu, und als wir endlich so nahe waren, daß wir jedes Wort, welches gesprochen wurde, deutlich verstehen konnten, war sie so groß. daß ich das Gefühl hatte, als ob mein Inneres sich umkehren und alle meine Eingeweide nach außen befördern wolle. ich mußte wirklich alle, aber auch alle Kraft aufbieten, um eine gewaltsame und überlaute Eruption des Ekels, welcher in mir arbeitete, zu verhüten.

Glücklicherweise trieb der Wind den dicken Qualm, der sich bei ruhiger Luft auf uns gelagert hätte, fort; dennoch hatten die sich beim unstäten Scheine der flackernden Feuer hin und her bewegenden Gestalten das Aussehen von Teufeln, welche die Seelen Abgeschiedener aus den Särgen holten, um sie der Hölle einzuverleiben. Denn es waren wirklich Särge, welche einer nach dem andern geöffnet oder vielmehr aufgesprengt oder aufgerissen wurden; es waren lange, mumienartige Packe, welche aufgewickelt wurden, um zu den Leichen zu kommen, die darin staken. Ich zählte über dreißig Männer, welche bei dieser fürchterlichen Arbeit beschäftigt waren und sie in einer Weise ausführten, welche erkennen ließ, daß sie darin große Übung besaßen. Das Holz der Särge wurde zertreten, um als Feuerungsmaterial zu dienen; die Decken und Matten, welche als Umhüllungen der Leichen nun ihren Zweck erfüllt hatten, gingen denselben Weg.

Das Schrecklichste, was sich dem Auge bot, war der Zustand, in welchem sich die Leichen befanden. Ja, wenn sie fest und hart wie Mumien gewesen wären, so hätte das, was ich sah, vielleicht nur meine geistige und nicht auch meine körperliche Konstitution empört; aber die Überreste bildeten, von den Knochen abgesehen, eine teils halb, teils ganz flüssige Masse, welche – –doch es ist besser, ich schweige!

Es ist nicht zu sagen, in welcher Weise diese Kerls mit den Menschenresten, welche doch für Kerbela oder Nedschef Ali bestimmt waren, umgingen. Die Skeletteile flogen nur so hin und her; sie sollten, wie ich hörte, später auch verbrannt werden; das übrige ließ man einfach laufen, wie es lief. Die Verwandten der hier in dieser Weise behandelten Toten hatten große Summen zahlen müssen, um den letzten Wunsch der Sterbenden, an einem der heiligen Orte begraben zu werden, erfüllen zu lassen, und nun ging man mit den Überresten hier in einer Weise um, welche den übernommenen Verpflichtungen geradezu Hohn sprach.

Während wir das abscheuliche Gebaren dieser dreißig Männer beobachteten, machten wir die höchst auffällige Bemerkung, daß die Särge und Pakete nicht bloß Leichen enthielten, sondern neben diesen auch noch verschieden gestaltete, größere oder kleinere Bündel, die mit großer Sorgfalt herausgenommen, abgewischt und dann an einer besonders dazu bestimmten Stelle nebeneinander gelegt wurden. Der Inhalt dieser Bündel mußte den Leuten also wertvoller sein als die ihnen anvertrauten Leichen. Worin aber bestand dieser Inhalt? Es versteht sich ganz von selbst, daß uns diese Frage lebhaft interessierte; vielleicht war sie sogar von Wichtigkeit für uns; aber da es unmöglich war, aus der Form auf das darin Befindliche zu schließen, so blieb uns nichts anderes übrig, als unsere Beobachtungen fortzusetzen und ruhig abzuwarten, was noch geschehen werde.

Die Gesichter der Leute wurden von den Feuern derart beleuchtet, daß wir sie deutlich erkennen konnten, doch befand sich keines dabei, welches wir schon einmal gesehen hatten. Dadurch wurde die von mir heimlich gehegte Erwartung, den Säfir unter ihnen zu sehen, zu Schanden.

Es dauerte trotz der von ihnen entwickelten Eile lange, ehe sie alle Särge und Pakete geöffnet hatten und alles von der Leichenbrühe durchzogene Holz und Zeug in die Flammen geworfen worden war. Zuletzt wurde ein großer Haufe trockenen Tamariskengestrüppes aufgeschichtet, in welchen man, als er in Brand gekommen war, die herumliegenden Knochenteile warf. Da an diesen noch die nicht von der Fäulnis losgelösten Fleischfetzen hingen, wurde der Gestank jetzt ein so höllischer, daß es uns geradezu unmöglich war, ihn länger zu ertragen. Wir zogen uns soweit zurück, bis wir in die Luft kamen, welche wenigstens ohne sofortiges Erbrechen eingeatmet werden konnte, obgleich sie noch keineswegs die Bezeichnung »rein« verdiente.

Was nun noch bei den Feuern geschah, konnten wir nicht sehen, weil der zwischen uns und ihnen liegende Pestqualm so dick war, daß sie uns nur als kleine, graue Nebelpunkte erschienen. Halef machte seinem bedrängten Innern durch ein so anhaltendes Husten, Räuspern und Niesen Luft, daß ich ihn zur Vorsicht mahnen mußte.

»Vorsicht?« fragte er im Tone der Empörung. »Du verlangst Unmögliches von mir, Sihdi! Es ist jedenfalls ganz gleich, ob ich vorsichtig oder unvorsichtig ersticke. Wie kann ein Mensch an Vorsicht denken, wenn seine Nase im tiefsten Abgrunde der Dschehenna steckt, während sein übriger Körper noch auf der Erde weilt? Wenn ich der Teufel wäre und für meine lieben Verdammten die schrecklichste der Qualen zu ersinnen hätte, so würde ich ihnen befehlen, die Leichen persischer Schiiten ins Feuer zu werfen und die Düfte dieser von der Sunna abgefallenen Leichen einzuatmen. Ich sage dir, du bringst mich nicht eher wieder dorthin, wo wir jetzt gewesen sind, als bis dieser Gestank der Geruchsverzweiflung sich vollständig verzogen hat!«

»Habe ich dir zugemutet, mich zu begleiten? Oder hast du nicht vielmehr mich gezwungen, dich mitzunehmen?«

»Ja, ich bin selbst schuld daran, Sihdi, daß mein ganzes Dasein sich in heller Empörung befindet; nun aber wird es keiner Macht der Erde gelingen, mich noch einmal dorthin zu locken, wo das Verderben aller wohlriechenden Nerven mir entgegengähnt!«

»So wirst du also hier auf mich warten?«

»Warten? Wieso?«

»Ich gehe natürlich, sobald der dickste Qualm sich verzogen hat, wieder hin.«

»Wieder hin? jetzt? Bist du bei Sinnen, Effendi? Bedenke, was du thust! Wenn du dich infolge der entsetzlichen Gerüche so umkehrst, daß deine Innenseite nach außen und deine Haut nach innen kommt, so erwartest du bei mir vergeblich die Geschicklichkeit, mit dir die zum Weiterleben erforderliche Umwendung vorzunehmen!«

»Das glaube ich wohl; aber ich muß trotzdem wieder hin, wenn ich erfahren will, was dort geschieht.«

»Kannst du das nicht später auch erfahren?«

»Nein. Die Leute, welche ich beobachten will, werden, sobald sie dort fertig sind, keinen Augenblick unnötig weilen, sondern sich sofort entfernen; ich aber muß ihnen folgen, um zu erfahren, wohin sie sich wenden.«

»Würde es nicht besser sein, wenn wir sie laufen ließen, wohin sie wollen?«

»Nein. Ich will nicht nur ihr heutiges Ziel, sondern auch noch anderes erfahren.«

»Sihdi, nimm es mir nicht übel, wenn ich dich frage, ob dies nicht bloß eine, wenn auch sehr mutige, Neugierde von dir ist!«

»Hast du mich je einmal neugierig gesehen? Denke doch an unsern Gastfreund in Bagdad, den Bimbaschi! Du hast jedes von ihm erzählte Wort gehört und mußt also ganz so wie ich ahnen, daß wir jetzt auf dem Punkte stehen, das Geheimnis seines Feindes, des Säfir, zu entdecken. Ich glaube, es liegt die Möglichkeit vor uns, ihm einen großen Dienst zu erweisen, und ich bin der Meinung, daß wir uns diese Möglichkeit nicht durch die Scheu vor den Gerüchen dort zerstören lassen dürfen. Zu dieser Erwägung kommt, aufrichtig gestanden, noch ein weiterer Punkt – – – – –«

»Noch ein Punkt!« unterbrach er mich im Tone der Resignation. »Sihdi, wenn du beginnst, Punkte zu bringen, dann ist’s mit jedem Widerstande aus; ich kenne dich! Ich weiß, daß dieser Punkt mich überwältigen wird, bitte dich aber trotzdem, ihn mir mitzuteilen.«

»Er betrifft den Ort, an welchem wir uns befinden. Wir stehen an einer geschichtlich hochberühmten Stätte. Die heilige Bibel der Christen sogar erzählt vom Birs Nimrud, dessen Ruinen da vor uns wie dunkle Gespenster aus einer noch dunkleren Zeit auf zum nächtlichen Himmel ragen. Sie sagt: Die Menschen sprachen: ›Kommt, wir wollen eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht, und lasset unsern Namen berühmt machen, ehe wir in alle Länder zerstreut werden!‹ Und einer sagte zu dem andern: ›Kommt, laßt uns Ziegel machen und sie im Feuer brennen!‹ Und die Ziegel brauchten sie für Steine und Erdpech für Mörtel. Aber der Herr kam herab, um die Stadt und den Turm zu sehen, den die Söhne Adams bauten, und sprach: ›Siehe, es ist ein Volk und eine Sprache unter allen, und das haben sie begonnen, zu thun und werden von ihren Gedanken nicht ablassen, bis sie selbe im Werke vollbracht haben. Daher kommet, lasset uns niedersteigen und daselbst ihre Sprache verwirren, daß einer des andern Rede nicht verstehe!‹ Und also zerstreute sie der Herr von da in alle Länder, und sie hörten auf, die Stadt zu bauen. Und darum heißt man ihren Namen Babel, weil daselbst die Sprache der ganzen Erde verwirrt worden ist. Und von da zerstreute sie der Herr über alle Gegenden. – – – So erzählt die heilige Schrift, und die seitdem verflossenen Jahrtausende haben das damals verlassene Bauwerk zwar stürzen, aber nicht vollständig zerstören dürfen, weil es gegenwärtig und in ferneren Zeiten emporragen soll als eine zwar steinerne, aber desto beredtere Predigt von der allmächtigen Weisheit Gottes, vor welcher die prahlerische Vermessenheit des Menschengeschlechtes in den Staub zu sinken hat. Dieser Birs Nimrud hat gewaltige Weltreiche entstehen und vergehen sehen, und mächtige Fürsten, welche über viele Millionen herrschten, sind gewillt gewesen, ihn wieder aufzubauen, damit er ein Denkmal ihres Namens und ihrer Größe sei; aber keiner hat es vermocht, diese Absicht auszuführen. Du siehst, wir stehen an einem geschichtlich hochbedeutenden Orte, in dessen Nähe wir beide, du und ich, die trübsten und gefährlichsten Stunden unseres Lebens verbracht haben. Alles, was sich auf ihn bezieht, muß uns im höchsten Grade interessieren, sogar das menschliche Ungeziefer, welches sich durch seine Mauern bohrt, um hinter denselben die Früchte des Verbrechens aufzuhäufen. Menschen, welche den Himmel stürmen und Gott gleich sein wollten, haben an ihm gearbeitet, und nun bildet er ein Versteck der moralischen Armseligkeit und Verkommenheit, die nicht nach der Höhe, sondern nach der Tiefe strebt, weil sie das Licht des Tages und das Auge des Gesetzes zu scheuen hat. Begreifst du, daß es mich fortzieht, diesen Leuten nach? Begreifst du, daß ich wissen möchte, was sich heut hinter den Steinen ereignet, welche die Enkel Noahs zusammenfügten, um sich einen Namen zu machen?«

»Also doch Neugierde, Sihdi, nichts als Neugierde! Ich fürchtete mich vor deinem ›Punkte‹; zwar weiß ich nicht, ob du schon alles gesagt hast, was du sagen wolltest, aber ich bin jetzt – –horch! Was war das? Wer hat geschossen?«

Es war allerdings ein Schuß gefallen, vor uns, in der Gegend, wo die Feuer brannten. Und gleich darauf hörten wir einen zweiten. Der stinkende Qualm war nicht mehr so dicht wie vorher; es ging nicht mehr über Menschenkraft, den Geruch zu ertragen. Ich mußte wissen, wer geschossen hatte und weshalb geschossen worden war. Darum schlich ich, ohne Halef aufzufordern, mir zu folgen, mich wieder der Stelle zu, von welcher aus wir vorhin die unsagbar widerliche Scene beobachtet hatten. Der kleine, wackere Hadschi folgte mir aber doch gleich auf dem Fuße. Zwar hatte er sich vorhin von keiner Macht der Erde dazu bewegen lassen wollen, aber mich der Gefahr allein entgegengehen zu lassen, das brachte er doch nicht über das Herz. Ich hinderte ihn nicht daran, obgleich ich es lieber gesehen hätte, wenn er zurückgeblieben wäre.

Als wir unsern frühern Beobachtungspunkt erreichten, war kein Mensch mehr zu sehen. Die Feuer brannten noch, beleuchteten aber nur die verlassene, nach Leichen grausig duftende Stätte, auf welcher noch zahlreiche Sarg- und Körperreste lagen, die den Flammen nicht übergeben worden waren, weil, wie die Schüsse vermuten ließen, der Vorgang ein unerwartetes, vorzeitiges Ende gefunden hatte. Aber von wem waren diese Leute gestört und von welcher Seite war geschossen worden?

Mochte das sein, wie es wollte, ich nahm als gewiß an, daß die dreißig Leichenschänder sich nach der Stelle der Ruinen entfernt hatten, wo nach dem Berichte unsers Bagdader Bimbaschi der Eingang nach den verborgenen Räumen zu suchen war, in denen man ihn gefangen gehalten hatte. Ihnen jetzt dorthin zu folgen, wäre nicht nur zwecklos, sondern wohl gar gefährlich gewesen, weil sie, mochten die zwei Schüsse von dieser oder von jener Seite gefallen sein, sich nun jedenfalls außerordentlich vorsichtig verhielten und wir ihnen also sehr leicht in die Hände laufen konnten. Darum hielt ich es für geraten, den Platz, wo wir uns befanden, einer kurzen Besichtigung zu unterwerfen und alles übrige bis zum Tagesanbruch aufzuschieben. Unserer Sicherheit wegen aber umschlich ich den Platz erst einmal in sehr vorsichtiger Weise und überzeugte mich, daß sich außer uns beiden niemand in seiner Nähe befand.

Als das geschehen war, durften wir uns an die Feuer heranwagen. Wir thaten das, obgleich der Gestank noch so stark war, daß er uns eigentlich hätte soweit wie möglich forttreiben sollen. Es war mir auf meinen Reisen gar manche schwere Beleidigung meiner Geruchsnerven vorgekommen, wenn ich Verhältnisse berührte, von denen man weder mündlich noch gar schriftlich etwas erzählen darf, aber so schlimm, so unbeschreiblich schlimm wie heut war es noch nie und keinesorts gewesen.

Die Untersuchung des Platzes hatte nur den einen Zweck, womöglich zu erfahren, was sich in den geheimnisvollen Bündeln befunden hatte. Unser Forschen war nicht ohne Resultat; es mußten zwei von ihnen beschädigt gewesen oder die Verschlüsse aufgegangen sein, denn wir sahen an zwei Stellen Proben des Inhaltes, wenn auch nicht viel, an der Erde liegen. Es war Safran, und zwar in Fäden und auch in Pulverform. Als ich diese Bemerkung machte, mußte ich daran denken, daß unser Bimbaschi, der frühere Oberste der Zollbeamten zu uns gesagt hatte: »Jetzt aber würde bei der Höhe des Zolles, der auf ihm liegt, Safran der einträglichste Gegenstand des Schmuggels sein.« Man weiß, daß der orientalische, besonders aber der persische Safran, wenn unverfälscht, von allen Sorten der beste ist; aber seit ich gesehen habe, daß man ihn sogar in den Särgen persischer Schiiten über die dortige Grenze pascht, mag ich von diesem Gewürz nur dann etwas wissen, wenn ich die Überzeugung habe, daß es von unserm abendländischen Crocus sativus gewonnen wurde. Eben machte Halef eine gleichklingende Bemerkung zu mir, als wir durch das Geräusch von Hufschlägen überrascht wurden, welche sich, wie wir hörten, sehr schnell näherten. Es klang, als ob viele Reiter im Trabe geritten kämen. Waren es etwa die Pascher, welche zu Pferde zurückkehrten, um die noch übrigen Reste der Leichen zu verbrennen?

»Sie kommen wieder; sie kommen!« warnte mein Hadschi, indem er mich bei der Hand ergriff, um mich mit sich fortzuziehen. »Schnell, schnell! Wir müssen uns verstecken! Der beste Platz ist da oben auf dem Mauerstück. Ich klettere voran!«

Er ließ mich wieder los und eilte auf einen Ruinenteil zu, welcher die Höhe eines kleinen Hauses und so viele hervorstehende Zacken und Kanten hatte, daß er allerdings leicht zu ersteigen war. Ich freilich hätte mir einen andern Zufluchtsort gewählt, weil dieser im hellen Schein der Feuer lag; doch konnte man, wenn man sich einmal oben befand, nicht gesehen werden, und da Halef bereits am Emporklimmen war und ich es nicht für geraten hielt, mich von ihm, dem leicht Unvorsichtigen, zu trennen, so blieb mir nichts anderes übrig, als sein Beispiel nachzuahmen. Ihn umkehren zu lassen, dazu gab es keine Zeit.

Der betreffende Mauerrest bestand aus meist verglasten Ziegeln, welche mit Asphalt verbunden waren. Dieser Kitt hatte Tausende von Jahren festgehalten; warum sollte man sich ihm nicht auch heut anvertrauen können? Leider aber war seine Zuverlässigkeit eine weit geringere, als ich dachte; das sollten wir zu unserm Schaden erfahren. Halef befand sich schon einige Meter hoch über der Erde, und ich hob eben den Fuß, um ihm nachzusteigen, als der Mauervorsprung, über den er kletterte, losbrach und auf mich herabstürzte. Es war ein mehrere Zentner schweres Stück, weiches mich zu Boden riß und auf mir liegen blieb. Ich hörte den Schreckensruf des Hadschi, welcher natürlich nachstürzte; ich fühlte einige Augenblicke lang die Last auf meiner Brust; dann hörte und fühlte ich nichts mehr, denn ich hatte das Bewußtsein verloren, obgleich ich noch heut behaupte, daß mein Kopf nicht mitgetroffen wurde.

Als ich wieder zu mir kam, war ich zwar von dem Drucke, aber leider nicht auch in anderer Weise frei, denn ich konnte weder die Arme noch die Beine bewegen; sie waren gebunden. Neben mir lag Halef, ebenso gefesselt wie ich. Um uns saßen wohl zwanzig Asakir, deren Anführer ein alter verwetterter Kol Agasi, war. Sie gehörten zur Kavallerie; ich sah die Pferde in der Nähe stehen. Bei ihnen befanden sich zwei Zivilisten, bei deren Anblick ich sofort wußte, woran ich war, nämlich der Wirt, bei dem wir in Hilleh eingekehrt waren, und der dritte Beduine, dessen zwei Gefährten von unsern Pferden abgeworfen worden waren. Diese guten Menschen hatten uns eine so liebevolle Anhänglichkeit bewahrt, daß sie uns doch noch gefolgt waren, wenn auch nicht gleich, aber doch später, und zwar in militärischer Begleitung. Daraus war zu schließen, daß sie uns angezeigt hatten, ein Umstand, welcher mich auf die Vermutung leitete, daß der Beduine, den wir für ohnmächtig gehalten hatten, nicht bloß bewußtlos, sondern tot gewesen war. Beide hielten die Augen auf uns gerichtet, und sobald ich die meinigen geöffnet hatte, rief der Wirt dem Kol Agasi zu:

»Er ist wach; er hat die Augen auf. Jetzt ist es also Zeit, ihn zu verhören!«

Der alte Subalternoffizier bewegte keine Miene und antwortete keine Silbe; aber als die Aufforderung einmal und dann noch einmal wiederholt worden war, wendete er sein Gesicht dem Wirte zu, musterte ihn mit einem Blicke geringschätzigen Staunens und fragte dann:

»Mit wem sprichst du denn eigentlich?«

»Mit dir!« antwortete der Gefragte.

»Mit mir? Das kann ich nicht glauben, denn wenn du mich wirklich meintest, müßte ich dir die Bastonnade geben lassen, weil du mir nicht die Höflichkeit und Achtung zollst, welche ich zu fordern habe.«

»Aber wenn ich nicht sprechen darf, wozu bin ich euch da mitgegeben worden?«

»Ich mußte euch mitnehmen, um von euch zu erfahren, ob diejenigen, welche wir ergreifen würden, auch wirklich diejenigen seien, welche ihr gemeint habt. Und wer hat dir gesagt, daß du nicht sprechen darfst? Es ist dir nicht verboten; ja, du sollst reden, aber in höflicher Weise und möglichst nur dann, wenn du gefragt wirst. Das merke dir! Du gehörst nicht zu uns, denn du bist nicht Soldat; ich aber bin Offizier Seiner gebieterischen Herrlichkeit, des Beherrschers aller Gläubigen, welchem Allah ein tausendfaches Leben schenken möge, und wenn du mir etwas mitteilen willst, so darf dies nur in Form einer unterthänigen Bitte geschehen!«

Da fiel der Beduine schnell ein:

»Wenn dieser mein Freund schweigen soll, so werde ich desto lauter sprechen. Ich bin ein freier Ben Arab und habe keinem Soldaten zu gehorchen. Ich verlange, daß die Mörder meines Gefährten, welcher beim Sturze vom Pferde den Hals gebrochen hat, sofort verhört werden!«

»Wer und was bist du?« fragte der Kol Agasi in verächtlichem Tone. »Ich will es dir sagen: Ihr habt euch zwar für Solaib-Araber ausgegeben, seid aber, wie sich herausgestellt hat, Ghasai-Beduinen, und die Angehörigen dieses deines Stammes sind uns als räuberisches Gesindel und Diebe bekannt. Man sollte euch hängen, ohne eine einzige Ausnahme zu machen! Und da behauptest du, ein solcher Ghasai, daß du keinem Soldaten zu gehorchen habest, und willst mir befehlen, was ich thun soll? Mensch, wenn du noch ein einziges Wort zu mir sprichst, ohne dein Haupt in tiefster Ehrfurcht zu verneigen, so zeige ich dir, wer hier zu gebieten und wer zu gehorchen hat!«

»Allah! Du nennst uns Diebe und Gesindel? Ich werde mich augenblicklich entfernen!«

Er machte eine Bewegung, als ob er aufstehen wolle; aber der Kol Agasi befahl ihm:

»Du bleibst! Ihr seid mir mitgegeben worden; ich bin also für euch verantwortlich, denn ich habe euch wiederzubringen. Nötigenfalls werden unsere Kugeln euch verhindern, uns zu entlaufen. Jetzt kein Wort mehr, bis ich euch auffordere, zu sprechen! Wir sind tapfere Soldaten des Padischah, dessen Kismet im hellsten Glanze strahlen möge, aber keine Wächter des Zolles, welche Allah verdammt hat, sich von den Abfällen des Schmuggels zu ernähren. Wenn wir heut gezwungen worden sind, einmal in die Fußstapfen der Zöllner zu treten, so haben wir zwar gehorchen müssen, bleiben aber trotzdem, was wir waren.«

»Wir haben euch nicht zugemutet, in diese Fußstapfen zu treten!«

»Das würde euch auch wohl schlecht bekommen sein! Aber es hat sich doch gefügt, daß diejenigen, welche wir fangen sollten, Schmuggler sind, und da wir sie einzuliefern haben, ist es ganz genau dasselbe, als ob wir mit den Obliegenheiten der Zollaufpasser beleidigt worden seien. Nun aber schweig; ich bin fertig mit dir!«

Das Verhalten des Kol Agasi war mir in seinen Gründen nicht ganz klar. Hielt er wirklich so ausschließlich auf seine militärische Ehre, daß ihm der heutige Dienst als eine Beleidigung erschien? Im Grunde genommen konnte mir diese seine Ansicht gleichgültig sein. Interessanter war für mich der Beweis, daß die drei Beduinen, ganz wie ich gedacht hatte, nicht Solaib, sondern Ghasai-Beduinen waren. Das ließ auf die Berechtigung auch meiner andern Vermutungen schließen.

Der Unfall mit den auf mich gestürzten Ziegeln schien nicht ohne Folgen zu bleiben. Meine Brust schmerzte, und das Atmen fiel mir schwer. Wie stand es mit Halef? Er lag so still und bewegungslos an meiner Seite, daß ich ihn für schlafend oder gar tot hätte halten können, wenn seine Augen nicht offen und in steter Bewegung gewesen wären. Ich drehte den Kopf nach ihm und flüsterte ihm zu:

»Bist du verletzt?«

»Nein,« antwortete er ebenso leise.

»Habe ich lange bewußtlos gelegen?«

»Zehn Minuten ungefähr.«

»Konntest du nicht fliehen?«

»Fliehen? Ohne dich, Sihdi? Bin ich nicht dein Freund, der alles mit dir zu teilen, zu leiden und zu ertragen hat?«

»Wenn du frei wärst, könntest du mir mehr nützen als jetzt!«

»Sie fielen über mich ebenso schnell her wie über dich. Ich hätte mich verteidigen, also schießen und stechen müssen, und das wollte ich nicht, weil sie kein Gesindel, sondern Soldaten des Sultans sind.«

»Das war allerdings recht! Hat dich der Kol Agasi ausgefragt?«

»Er sprach bis jetzt kein Wort zu mir. Er hat nach uns gesucht und, als er die Feuer sah, zwei Kundschafter ausgeschickt. Auf diese ist von den Safranschmugglern geschossen worden, und er denkt, daß wir es gewesen sind. Das habe ich aus seinen Reden gehört.«

»Wir können ihm beweisen, daß wir es nicht gethan haben.«

»Wie denkst du über unsere Lage? Die Kerls waren wirklich Ghasais, wie du ganz richtig vermutetest. Der eine hat das Bein gebrochen, und der andere scheint gar tot zu sein.«

»Es ist mir trotzdem gar nicht bange; also brauchst auch du keine Angst zu haben.«

»Angst? Das würde mir nicht einfallen, selbst wenn der ganze Ghasai-Stamm sämtliche Beine und Hälse gebrochen hätte. Wie aber steht es mit dir, Effendi? Die Last, welche mich herabriß und auf dich fiel, war sehr schwer.«

»Die Brust schmerzt mich ein wenig; weiter ist es nichts. Die Rippen sind nicht beschädigt; so viel fühle ich.«

»Allah sei Dank! Wenn die Steine auf mich gefallen wären, so hätten meine Rippen gewiß nicht widerstanden, denn die Zusammensetzung meiner harmonischen Körperteile zeichnet sich durch größere Zartheit aus als die Erschaffung deiner festen Knochen.«

Er hatte das lauter gesagt, als er beabsichtigte; darum hörte der Kol Agasi, daß wir miteinander sprachen, und rief uns zu:

»Ihr habt zu schweigen! Wißt ihr nicht, daß Gefangene nicht miteinander sprechen dürfen?«

Ich nahm sogleich die Gelegenheit wahr, ihm im höflichsten Tone zu antworten:

»Habe die Güte, o tapferer Jüzbaschi, mir zu erlauben, dich um die Erfüllung eines Wunsches zu ersuchen!«

Daß ich ihn als Hauptmann, also einen Rang höher, bezeichnete, brachte ein beifälliges Lächeln auf seinem Gesicht hervor, und seine Stimme klang freundlich, als er mich aufforderte:

»Laß mich hören, was du willst!«

»Ich sehe dir an, daß du nicht nur ein braver, wohlverdienter Offizier bist, sondern auch die hohen Vorzüge der Gerechtigkeit und Herzensmilde besitzest. Wir wissen nicht, weshalb ihr uns gefangen genommen und gebunden habt, und bitten dich, uns als Kommandant dieser vorzüglichen Truppen mitzuteilen, aus welchem Grunde du die Überwältigung unserer Personen anbefohlen hast.«

Er war vielleicht ein Menschenalter lang gewöhnlicher Soldat gewesen; ihm fehlte der Scharfsinn, die Absicht meiner höflichen Ausdrucksweise zu begreifen, darum fühlte er sich geschmeichelt und erwiderte in anerkennender Weise:

»Allah hat dir die Sprache der Gebildeten verliehen. Deine Worte klingen darum ganz anders als diejenigen, welche ich vorhin aus dem Munde deiner Ankläger vernommen habe. Wie schade, daß grad ein Mörder und Schmuggler diese Gabe der schönen Rede besitzt!«

»Erlaube mir, o Jüzbaschi, daß ich dich nicht verstehe! Du hältst uns also für Schmuggler?«

»Allerdings. Es ist ja klar erwiesen, daß ihr welche seid. Wir haben die Stege, an welcher wir euch ergriffen, ganz genau untersucht; dann brachten wir euch hierher, wo es nicht so nach Leichen stinkt wie dort. Was es mit diesen Leichen und ihrer verbrecherischen Verbrennung für Bewandtnis hat, das wissen wir nicht; aber wir sahen den Zafarahn den ihr verschüttet habt, an der Erde liegen; der hat uns verraten, daß ihr Schmuggler seid.«

»Es thut mir unendlich leid, daß die Umstände zusammengetreten sind, das helle Auge eines sonst so scharfsinnigen Mannes, wie du bist, zu täuschen. Die Schmuggler, von denen du sprichst, gehen uns gar nichts an.«

»Nichts? So ist es wohl auch irrtümlich, wenn ich euch für Mörder halte?«

»Ja. Deine Güte wird es mir verzeihen, daß ich mich erkundige, warum du eine so kränkende Meinung von uns hast.«

»Das will ich dir sagen, weil du so höflich fragst. Wir befanden uns in der Nähe, nämlich da drüben auf dem Hügel der kleinen, aber berühmten Moschee, in weicher die Gebeine Ibrahims des Erzvaters liegen. Da sahen wir mehrere Feuer brennen, und ich sandte zwei meiner Leute aus, nachzusehen, wer sie angezündet habe. Sie führten diesen Auftrag aus, wurden von euch gesehen und hörten die Kugeln, die aus euern Flinten kamen, an sich vorüberpfeifen. Ihr habt auf sie geschossen. Seid ihr da nicht Mörder?«

»Nein. Wir wissen, daß auf sie geschossen worden ist, denn auch wir haben die zwei Schüsse gehört; aber ich habe mich schon einmal unterfangen gehabt, deiner freundlichen Einsicht den Umstand mitzuteilen, daß die Schmuggler, welche geschossen haben, uns gar nichts angehen.«

»Erlaube mir, daß nun ich es bin, der das, was gesagt wird, nicht begreifen kann! Du behauptest, nicht zu ihnen zu gehören, und wir haben euch doch bei ihnen getroffen.«

»Da du ein Liebling Allahs bist, o Jüzbaschi, so wird er dich über diesen Punkt sofort erleuchten. Wenn du die Güte hast, die Gedanken deiner Seele rückwärts zu lenken, so wirst du dich ganz genau erinnern, daß du uns nicht bei ihnen gesehen hast. Als du zu der Stelle des Gestankes kamst, waren sie längst fort, denn sie haben sie augenblicklich verlassen, als sie auf deine beiden Kundschafter geschossen hatten.«

»Kannst du das beweisen?«

»Ich? Ein Mann von deiner durchdringenden Klarheit weiß ganz genau, daß ich nichts zu beweisen habe. Die Sache liegt vielmehr mit deiner Erlaubnis so, daß derjenige, welcher uns anschuldigt, zu beweisen hat, daß wir schuldig sind.«

»Ich muß gerecht sein und dir mitteilen, daß du auch ein Liebling Allahs zu sein scheinst, denn deine Worte enthalten ebensoviel Scharfsinn wie die meinigen. Ich gebe zu, daß wir, als wir die erwähnte Stelle erreichten, nur euch beide sahen, leider freilich fliehend. Warum das? Wer gerechte Sache hat, braucht doch nicht die Flucht zu ergreifen!«

»Als wir nach dem Birs Nimrud ritten, hatten wir nur die Absicht, die berühmten Ruinen dieser Gegend in Augenschein zu nehmen. Es wurde dabei Abend, und wir suchten einen Platz zum Lagern während der Nacht. Wir sahen Feuer brennen und näherten uns ihnen; der Gestank trieb uns zurück, doch bemerkten wir gegen dreißig Männer, welche Särge öffneten, in denen Leichen und Schmuggelwaren steckten. Die Särge und Leichen wurden verbrannt, die Waren aufgehoben. Dann hörten wir zwei Schüsse, worauf sich die Schmuggler schnell entfernten. Hierauf gingen wir hin, denn die Wißbegierde trieb uns, den Platz zu betrachten. Während wir dies thaten, hörten wir euch nahen. Wir glaubten, es seien die Pascher wieder, und wollten uns eiligst verstecken, denn wir sind ehrliche Menschen, welche die Gesetze Allahs und des Padischah achten, und mögen nichts mit Leuten zu thun haben, die gegen diese Gesetze sündigen. Dabei stürzte mein Gefährte, und ich wurde von den Steinen zu Boden gerissen. Was dann geschah, das weißt du besser als ich. Jetzt liegt vor deinen scharfen Augen alles klar, und deine untrügliche Einsicht wird nicht zögern, die auf uns liegenden Vorwürfe von uns zu nehmen.«

»Deine Worte besitzen die Unwiderstehlichkeit der Kuransuren; aber ich will dir aufrichtig gestehen, daß ich mich nicht ganz allein auf sie verlassen kann, sondern mich erst bei den Kundschaftern erkundigen muß.«

»Bevor du das thust, mag deine Nachsicht mir erst noch eine Bemerkung gestatten! Als wir uns den Feuern näherten, hatten wir weder unsere Pferde noch unsere Gewehre bei uns, sondern sie an einem sichern Ort zurückgelassen. Dein wohlgeübtes Denkvermögen aber wird nicht zögern, zu bestätigen, daß man ohne Gewehre unmöglich schießen kann. Und wie ich gehört habe, waren es nicht Pistolen-, sondern Flintenschüsse.«

»Es ist sehr einsichtsvoll von dir, daß du dich an mein geübtes Denkvermögen wendest. Wenn ihr eure Gewehre nicht bei euch gehabt habt, müssen es allerdings andere Leute gewesen sein, welche geschossen haben; dennoch aber werde ich nicht versäumen, die Erkundigungen, von denen ich sprach, einzuziehen.«

Er that dies, und das Resultat war, daß die Kundschafter erklärten, sie seien zwar nicht so nahe gewesen, wie nötig gewesen wäre, um die Gesichtszüge zu unterscheiden, aber zwei in der Weise und so sauber gekleidete Männer wie wir hätten sie bei den Schmugglern nicht gesehen. Hierauf wendete sich der Kol Agasi uns wieder zu:

»Ihr habt gehört, daß der Bericht zu euerm Vorteil ausgefallen ist. Habt ihr noch etwas hinzuzufügen, so erlaube ich euch sehr gern, es zu thun.«

»Ich danke dir!« antwortete ich. »Ich habe schon sehr viele und sehr hohe Offiziere des Padischah von Stambul kennen gelernt, aber unter ihnen war keiner, der dich an Scharfsinn, Menschenfreundlichkeit und Gerechtigkeitsliebe übertroffen hätte. Wenn du mir gestattest, werde ich einen Bericht an Hazreti, den Seraskier senden und darin deiner so gedenken, daß er sein Auge auf dich richten wird.«

»An Hazreti, den Seraskier, den Unüberwindlichen?« fragte er, halb freudig, halb erstaunt. »Verzeih, daß ich mich wundere! Kennst du ihn denn? Hast du am Babi humajun solchen Einfluß, daß der Gebieter der Kriegsangelegenheiten deinen Bericht überhaupt bekommt, gar nicht zu fragen, ob er ihn lesen oder sogar beachten wird?«

Diese Frage brachte Wasser auf die Mühle meines kleinen Halef, der ja stets redefertig war, wenn es galt, mein und also auch sein eigenes Lob zu verkündigen. Sie hatte so lange stillgestanden, daß er jetzt keinen Augenblick zögerte, sie höchst energisch in Bewegung zu setzen. Kaum hatte der Kol Agasi seine Frage ausgesprochen, so fiel der Hadschi, ohne eine Antwort von mir abzuwarten, mit größtem Eifer ein:

»Wie kannst du Worte aussprechen, in denen eigentlich eine Beleidigung für uns liegt! Du bist ein tapfrer und ein kluger Mann, aber du hast vergessen, das zu thun, was du gleich anfangs hättest thun sollen, nämlich uns zu fragen, wer wir sind. Ich bin der oberste und also gebietende Scheik der Haddedihn vom großen und weithin bekannten Stamme der Schammar. Mein Name lautet Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas In Hadschi Dawuhd al Gossarah. Und dieser mein Gefährte, dessen Freund und Beschützer ich bin, heißt Emir Kara Ben Nemsi Effendi. Er stammt aus Dschermanistan, welches Land außer den Gebieten des Padischah das größte Reich auf Erden ist und sich über mehr als zehntausend Gebirge, Ebenen, Seen und Flüsse erstreckt. Er hat mit mir alle Gegenden des Westens und Ostens, des Nordens und Südens durchritten, um Wunder des Mutes und der Tapferkeit zu verrichten. Seine Freunde lieben und seine Feinde fürchten ihn. Wir haben den Löwen getötet und den schwarzen Panther aus der Welt geschafft. Wir haben ganze Stämme der Beduinen besiegt und bei keinem Angriffe den Rücken nach vorn und den Bauch nach hinten gehabt. Mein Emir spricht alle Sprachen der Völker, nennt alle Sterne des Himmels bei ihren angeborenen Namen und kann dir sagen, wie alle Tiere, Pflanzen und Steine heißen, die es giebt. Er ist der berühmteste Krieger, der weiseste Gelehrte und der herrlichste Mensch, den ich kenne. Sultane, Kaiser, Könige und Fürsten lauschen auf seine Wünsche, denn sie lieben und verehren ihn, und wenn sein Bericht über dich nach Stambul zum Seraskier kommt, so wird dieser die Schrift an seine Stirn drücken und dann, wenn er sie gelesen hat, jedes Wort mit demselben Gehorsam beherzigen, als ob es von der Hand des Beherrschers aller Gläubigen geschrieben worden sei. Daß wir jetzt deine Gefangenen sind, ändert nichts an unserm Ruhme, denn es ist nur der Zerbröckelung der Mauer zuzuschreiben, daß wir jetzt in einer Weise vor dir liegen, welche unserm Stande und unsern Eigenschaften so wenig angemessen ist. Von eurem Sandschaki in Hilleh will ich gar nicht sprechen, aber wenn der Pascha in Bagdad erfährt, daß wir nur noch eine Minute gefesselt geblieben sind, nachdem wir dir unsern Namen genannt haben, so wird aus seiner Kantscheleria ein Wetter über dich ergehen, welches von dir abzuwenden ich dir ernstlich rate, weil du durch die Vorzüglichkeit deiner Eigenschaften unsre Herzen gewonnen hast. Jetzt weißt du, wer wir sind und wirst darnach zu handeln wissen!«

Der Hadschi hatte mehr als stark aufgetragen, aber der Orientale ist das gewöhnt, und der Kol Agasi war zu sehr Orientale, als daß ihn die Übertriebenheiten des Hadschi hätten befremden können; ich sah es ihm vielmehr an, daß sie den beabsichtigten Eindruck auf ihn nicht verfehlt hatten. Der in Aussicht gestellte Bericht an den Kriegsminister und die Drohung mit der Kanzlei des Pascha in Bagdad waren von guter Wirkung, welcher freilich seine Pflicht gegenüber stand. Er sah eine Weile überlegend vor sich nieder; dann schien er einen Entschluß gefaßt zu haben, denn er hob den Kopf und fragte mich:

»Ist es so, wie der Scheik der Haddedihn gesagt hat, Emir?«

»Ja,« antwortete ich unbedenklich.

»So möchte ich der Gerechtigkeit, auf welche ihr euch berufen habt, gern Folge leisten, falls du mir die Möglichkeit bietest, es verantworten zu können.«

»Wie denkst du dir diese Möglichkeit?«

»Du kannst sie mir geben, indem du dich legitimierst.«

»Nichts ist leichter als das. Mach mir die Hände frei, so will ich dir mehr Legitimationen zeigen, als du zu deiner Rechtfertigung brauchst. In meiner Tasche habe ich ein Bujurulti, einen Tezkeresi und sogar auch einen Ferman, mit der Tughra des Beherrschers versehen.«

»Allah! Wirklich mit der Tughra?« fragte er in ehrfurchtsvollem Staunen.

»Natürlich!« antwortete ich in einem Tone, als ob dies etwas ganz Gewöhnliches sei.

»So laß diese hohen, kaiserlichen Schriften stecken; ich könnte sie jetzt bei dem schlechten Scheine des Feuers doch nicht lesen; es ist aber ganz genau so, als ob ich sie gelesen hätte, Emir. Ich bitte dich, mir einen Rat zu geben! Die Unterschrift des Padischah gebietet mir, euch freizulassen; aber mir ist befohlen worden, euch nach Hilleh zu bringen. Hältst du es für möglich, beiden Pflichten zu gleicher Zeit gerecht zu werden?«

»Ja.«

»Auf welche Weise?«

»Du giebst uns frei, und wir reiten mit euch nach Hilleh.«

»Werdet ihr das auch? Wirklich?«

»Ja. Ich gebe dir mein Wort.«

»Dein Yrza mebni wad?«

»Ja.«

»ich nehme es an und bitte dich um die Erlaubnis, euch selbst loszubinden!«

Er war infolge der kaiserlichen Unterschrift so von Hochachtung erfüllt, daß uns kein gewöhnlicher Soldat berühren sollte. Warum er darauf verzichtet hatte, die Legitimationen zu lesen, das war nicht schwer zu erraten. Erstens konnte er höchst wahrscheinlich gar nicht lesen, und zweitens wußte er jedenfalls nicht, wie er ein in seine Hände gelangendes Dokument, mit der Tughra versehen, vorschriftsmäßig zu behandeln hatte. Daß wir frei sein sollten, erregte den Widerspruch des Wirtes und des Ghasai-Beduinen. Als der Kol Agasi uns die Fesseln abnahm, rief ihm der erstere zornig zu:

»Halt ein! Du hast nicht das Recht, Leuten, welche Schmuggler und Mörder sind, die Freiheit zu geben, ohne daß du dazu beauftragt bist. Thust du es dennoch, so werde ich dich anzeigen, sobald wir in die Mehkeme kommen!«

Der Alte wollte antworten; ich hielt ihn durch einen Wink davon ab, wendete mich selbst an den Sprecher und sagte:

»Du hast hier gar nichts zu bestimmen, denn wenn es mir beliebt, so wird man in der Mehkeme nicht über uns zu entscheiden haben, sondern du wirst der Angeklagte sein. Ich sollte eigentlich gar nicht mit dir reden, will dir aber doch in meiner übergroßen Güte einige Bemerkungen machen. Pascher sind wir nicht; das werde ich beweisen. Auch waren wir es nicht, die auf die Soldaten geschossen haben; das steht außer allem Zweifel, weil wir ohne Gewehre sind. Also könnte es sich nur noch um die beiden verunglückten Beduinen handeln. Da behaupte ich, daß sie unsere Pferde stehlen wollten, und du bist mit ihnen im Einvernehmen gewesen. Wären wir nicht noch zur rechten Zeit in den Hof gekommen, so wären sie auf und mit ihnen fortgeritten und wir hätten die Tiere niemals wiedergesehen. Da aber unser Erscheinen dies verhinderte, thaten sie, als ob sie die Hengste bloß probieren wollten. Nur aus unverdienter Höflichkeit und um nicht mit ihnen in Streit zu geraten, gaben wir ihnen die Erlaubnis, aufzusitzen ––«

»Ihr sagtet ihnen aber nicht, wie gefährlich dies sei!« fiel mir der Wirt in die Rede.

»Das Abgeworfenwerden ist stets gefährlich. Übrigens haben wir sie gewarnt. Der Scheik der Haddedihn hat sie wörtlich aufgefordert, ihm nicht die Schuld zu geben, wenn sie die Hälse brechen sollten. Er erhielt die Antwort, daß sie ihre Hälse, die ihr Eigentum seien, selbst zu hüten wüßten.«

»Aber der Scheik hat den Pferden dann das Wort ›Litaht!‹ zugerufen, worauf die Reiter abgeworfen worden und verunglückt sind!«

»Kannst du das beweisen?«

»Ja.«

»Nein!«

»Ja!« wiederholte er in bestimmtem Tone. »Ich kann es beschwören.«

»Daß der Scheik es den Pferden zugerufen hat?«

»Ja.«

»Wir behaupten dagegen, daß er dieses Wort nicht den Pferden, sondern den Reitern zugerufen hat. Er sah, daß es für diese zu gefährlich wurde und forderte sie durch seinen Ruf auf, abzusteigen. Sie gehorchten nicht und wurden also abgeworfen. Kannst du etwa beschwören, daß nicht die Reiter, sondern die Pferde gemeint gewesen sind?«

Er sah mich betroffen an und antwortete nicht, so überraschte ihn meine unerwartete Auslegung. Ich fuhr fort:

»Du siehst also, daß wir uns im vollen Rechte befinden und daß das Unrecht nur auf eurer Seite liegt. Übrigens ist das Unglück in deinem Hofe geschehen, und ich bin überzeugt, daß die Mehkeme dich darum zur Verantwortung ziehen wird. jetzt kennst du meine Ansicht, und wenn du noch ein einziges Wort gegen uns zu sprechen wagst, werde ich dir nicht mehr mit dem Munde, sondern in einer andern, fühlbarern Weise antworten!«

Der Mann war über das verlorene Wortgefecht wütend, wagte aber infolge meiner Drohung nicht, eine Entgegnung auszusprechen, sondern ließ nur einen halblauten Fluch hören. Sein Gefährte aber, der Beduine, konnte seinen Grimm nicht beherrschen; er fuhr mich zornig an:

»Du thust ja, als seist du der Sultan selbst! Bilde dir nicht ein, daß ich mich vor dir fürchte oder vor dem, was du in der Mehkeme sagen willst! Du hast die Absicht, uns als Pferdediebe zu bezeichnen. Ich fordere dich auf, mir zu beweisen, daß wir euere Pferde stehlen wollten!«

»Du hast hier gar nichts zu fordern!« entgegnete ich. »Wenn ein Beweis für nötig gehalten wird, werde ich ihn vor dem Gerichte führen.«

»So habe ich mit dir und mit euch allen jetzt nichts mehr zu thun. Ich mag nichts von euch wissen und gehe fort. In der Mehkeme aber sehen wir uns wieder!«

Diese Drohung sollte seinen Rückzug decken. Ich war überzeugt, daß er seine Sache verloren gab und sich gar nicht wieder zeigen wollte. Als er von der Stelle, wo er saß, aufgestanden war, sprang auch der Wirt auf und sagte:

»Ich gehe mit. Wo Schmuggler und Mörder freigelassen und ehrliche Leute beleidigt werden, habe ich nichts zu schaffen. Aber es bleibt bei dem, was gesagt worden ist und was ich wiederhole: In der Mehkeme sehen wir uns wieder!«

Man hatte uns, als wir ergriffen wurden, nichts von unserm Eigentum genommen; darum konnte ich in den Gürtel greifen und den Revolver ziehen. Ich richtete ihn auf die beiden und drohte:

»Die Sache steht jetzt anders, als sie vorhin stand. Vorhin waren wir gefangen, jetzt aber werdet ihr es sein. Ihr wollt euch entfernen und habt allen Grund dazu; uns aber liegt daran, daß ihr bei uns bleibt, und so werden wir dafür sorgen, daß ihr nicht gegen unsern Willen fortgehen könnt.«

Und zu dem Kol Agasi gewendet, fuhr ich fort:

»Im Namen der Tughra, welche ich bei mir trage und der jeder Beamte und Unterthan des Padischah zu gehorchen hat, fordere ich dich auf, diese beiden Männer, damit es ihnen unmöglich ist, zu entlaufen, so zu binden, wie wir vorhin gebunden gewesen sind! Ich erwarte, daß du diesem Wunsche sofort nachkommst!«

Der alte Offizier besann sich keinen Augenblick; er gab auf der Stelle den entsprechenden Befehl, und so wurden sie, die unsere Gefangennahme veranlaßt hatten, ganz in derselben Weise gefesselt, wie wir vorher es gewesen waren. Die Tughra that eben Wunder. Es ist das der arabeskenartig verschlungene Namenszug des Sultans, in einer besonderen Schrift geschrieben, welche Diwahni genannt wird. Viele leiten den Ursprung der Tughra auf Murad I. zurück, welcher einst eine Urkunde durch den Abdruck seiner Hand beglaubigte. Andere wieder erzählen dasselbe von dem Sultan Orchan. Hervorragende Kenner aber behaupten, daß die Tughra oder Thogra von dem Sultan Mohammed II., dem Eroberer Konstantinopels, stamme. Als dieser im Jahre 1453 durch Einnahme dieser Stadt das oströmische Reich vernichtete und beim Einzuge in Konstantinopel an die Sophienkirche kam, tauchte er, der Schreibunkundige, seine Hand in Tinte und drückte sie zum Zeichen der Besitzergreifung an die Kirchenthür. Das war die erste Tughra, welches Wort von dem alttürkischen turgai abgeleitet wird. Es heißt soviel wie »es stehe«, »es habe Bestand«. Die Tughra hat allerdings eine entfernte Ähnlichkeit mit einer offenen Hand. Sie wird auf türkische Münzen geprägt, wo sie das Brustbild des Herrschers vertritt und über dem Eingang der von ihm errichteten Paläste und öffentlichen Gebäuden wie Moscheen, Stiftungen, Kasernen, Schulen etc. angebracht. Auf Urkunden wird sie von besonderen Beamten, welche Nischandji’s heißen, in Gold, auch in Rot oder Schwarz ausgeführt. Außerordentlich selten ist es, daß der Sultan sich herabläßt, seinen Namenszug auf einem ihm vorliegenden Dokumente mit eigener Hand zu zeichnen. Der Betreffende muß bei ihm in höchster Gunst stehen, oder es müssen dabei Umstände obwalten, welche nur der Kenner der jeweiligen dortigen Verhältnisse zu benützen weiß. Es kann da vorkommen, daß ein sehr niedriger Beamter auf einem nur ihm persönlich offenstehenden Wege mehr erreicht, als selbst der Scheik ul Islam oder der Großwesir.

So kann ich jetzt, da der Betreffende kürzlich gestorben ist, sagen, daß ich meine türkischen Legitimationen immer durch einen Unterbeamten bezogen habe, dessen Stellung bei uns im Abendlande eine der niedrigsten sein würde. Das war mein Freund Mustapha Moharrem Aga, welcher fünfzig Jahre lang Kapudschi der hohen Pforte gewesen ist. Thürsteher! Das ist doch ein höchst minderwertiger Rang, wird man meinen; aber der Einfluß dieses ebenso braven wie originellen Kapudschi reichte bis in die geheimsten Gemächer hinauf. Er genoß dort ein großes Vertrauen, ein fast beispielloses Wohlwollen, und es galt da fast als ein heiliger Brauch, seinen allerdings bescheidenen und immer in sonderbarer Weise vorgebrachten Wünschen entgegenzukommen. Es sind während seiner langen, in dieser Beziehung einzig dastehenden Amtierung eine Menge großer, berühmter oder einflußreicher Männer an der hohen Pforte erschienen und wieder verschwunden. Mustapha Moharrem Aga aber blieb in seiner Stellung, bis der Tod ihn aus derselben rief. Ob eine erbetene Audienz gewährt wurde oder nicht, das hing gewöhnlich von ihm ab; es genügte ein kleiner, kurzer Wink von ihm, so wurde der Betreffende angenommen, oder er mußte, selbst wenn er eine hervorragende Persönlichkeit war, auf die Erfüllung seines Wunsches verzichten. Ich hatte Gelegenheit, mir das Wohlwollen dieses Kapudschi durch meinen vorzüglichen Deschebeli-Tabak zu gewinnen, und er hat es mir bis an sein Ende treu bewahrt. Ich habe es nie mißbraucht, nie eine Bitte ausgesprochen, und grad deshalb stets Legitimationen mit der eigenhändigen Tughra des Großherrn besessen. Es ist mir natürlich nicht eingefallen, ihn zu fragen, auf welche Weise er zu der direkten Unterschrift gelange, doch als er beim erstenmal diese Frage in meinen Augen las, sagte er lächelnd: »Kismet etmeghe ogrenmejen effendilik dahi etmez« = wer nicht den Diener machen kann, der kann auch den Herrn nicht machen. Es braucht wohl nicht gesagt zu werden, daß eine Legitimation mit der eigenhändigen Tughra beim Vorzeigen einen ganz anderen Eindruck macht als eine gewöhnliche, im Jazy odassy ausgestellte; ich habe das sehr oft beobachten können. Ein Beispiel davon ist die Ehrfurcht, welche die bloße Erwähnung jetzt dem Kol Agasi abnötigte.

Der Wirt war so klug, ruhig zu sein, als er gebunden wurde; der Beduine aber räsonnierte über diese unverdiente und unwürdige Behandlung eines »freien Mannes«. Der Offizier hätte ihn gewiß auch zum Schweigen gebracht; dem kam aber Halef zuvor. Diesem war es bei seinem Temperament unmöglich, solche Reden anzuhören; er zog seine Peitsche aus dem Gürtel, trat zu dem Schimpfenden hin und sagte:

»Was nennst du dich? Einen freien Mann? Siehst du nicht, daß du gefesselt bist? Ist ein Gefesselter frei? Wo hast du deinen Verstand? Oder wahrscheinlich ist, du hast niemals welchen gehabt, denn wenn nur eine kleine Spur davon in deinem Kopfe wäre, so würdest du dich jetzt hüten, die Thür deines ungewaschenen, flatterigen Mundes zu öffnen. Mein Effendi hat dir schon gesagt, was und wie er von dir denkt; ich werde etwas hinzufügen, was die Größe deiner Erhabenheit sofort in die wahre Null deines Nichtses verwandeln wird. Ihr habt euch uns gegenüber für Solaib ausgegeben, und nun stellt es sich heraus, daß ihr zu den Ghasais gehört. Warum diese Täuschung, diese Lüge? Ein freier, ehrlicher Ben Arab wird niemals seinen Stamm verleugnen. Ich würde lieber sterben, als verneinen, daß ich zu den Haddedihn gehöre. Und nun will der Mund, der uns belog, sich gar in ein großes, weit offenes Maul verwandeln, welches thut, als ob es uns verschlingen möchte! Klappe es zu, und halte es ja verschlossen, sonst zeichne ich dir meine Verachtung mit dieser Kurbadsch so quer über das Gesicht, daß dich jedermann, so lange du lebst, gleich als den Schuft erkennt, der du in meinen Augen bist! Wag nur ein Wort, so haue ich zu!«

Er hob die Peitsche zum Hiebe, es war ihm Ernst; der Beduine aber schwieg. Die Drohung des Hadschi hatte ihn doch eingeschüchtert.

Nachdem sich die erst für uns so bedrohlich scheinenden Verhältnisse auf einstweilen ganz befriedigende Weise geklärt hatten, galt es nun die Frage unserer Rückkehr nach der Stadt. Ich legte sie dem Kol Agasi vor, und er antwortete:

»Wenn es dir recht ist, Emir, brechen wir sogleich auf. Wir brauchen nicht zu warten, bis es Tag geworden ist, denn wir kennen ja den Weg.«

»Lieber würde es mir sein, wir warteten.«

»Warum?«

»Der Schmuggler wegen.«

»Die gehen mich nichts an. Du hast von mir schon gehört, daß es eine Beleidigung für einen alten, ehrenvoll gedienten Soldaten ist, den Zollspürhund zu machen.«

»Ich habe es gehört und mute dir auch nicht zu, diesen Leuten des umgangenen Zolles wegen nachzulaufen. Es würde ein Dienst sein, den du mir erweisest.«

»Wieso?«

»Wir müssen ihre Spuren sehen, was doch jetzt bei Nacht nicht möglich ist.«

»Warum ihre Spuren?«

»Um unsere Unschuld feststellen zu können.«

»Allah! Du sprichst in Rätseln! Was haben die Stapfen dieser Menschen mit eurer Unschuld zu thun?«

»Es handelt sich darum, klarzulegen, daß wir nicht zu ihnen gehören. Wir suchen unsere Spur und dann die ihrige. Indem du, der du ja den dazu nötigen Scharfsinn besitzest, beide miteinander vergleichst, wirst du dich überzeugen, daß sie und wir einander nichts angehen, und kannst in der Mehkeme unser Zeuge sein, wofür ich dir die größte Dankbarkeit widmen werde.«

Aufrichtig gestanden, war es mir weniger um sein Zeugnis zu thun, als vielmehr um zu erfahren, ob die Spuren nach der von mir vermuteten Stelle führen würden. Der Alte wiegte nachdenklich den Kopf und erkundigte sich:

»Wirst du in deinem Berichte an den Seraskier diesen meinen Scharfsinn mit erwähnen?«

»Gewiß!«

»So bleiben wir und warten, bis es hell geworden ist. Aber könnt ihr eure Pferde solange ohne Aufsicht lassen?«

»Ja. Sie sind Radschi Pack und würden lieber verschmachten, als ihren Platz verlassen. Wir müssen auch der Spuren wegen hier bleiben, denn wenn ihr in der Dunkelheit auf ihnen herumreitet, die nicht berührt werden dürfen, sind sie dann morgen nicht mehr zu unterscheiden.«

»Das mit diesen Fährten ist mir ganz neu. Ich habe stets gedacht, Spur sei Spur.«

»Da befandest du dich im Irrtume. Das Lesen der Fährten ist höchst interessant, aber auch nicht leicht. Es bildet geradezu eine Wissenschaft, welche studiert werden muß.«

»Beschäftigt man sich in deinem Vaterlande Dschermania mit dieser Wissenschaft?«

»Nein, Ich habe es anderswo gelernt.«

»Es wird dich freuen, zu erfahren, daß ich Dschermania sehr genau kenne.«

»Ah! Du kennst es wirklich?«

»Sehr genau, wie ich schon sagte. Es wird auch Dschermanistan genannt. Habe ich recht?«

»Ja.«

»Es liegt zwischen dem Garb Tarabulus und Ustrali. In der Mitte liegt der große See Filimenk,und um die Grenzen laufen die Flüsse Iswitschera, Londra, Budschdan und

Tschin. Im Norden steht der Berg Dschewwa und im Süden der Berg Danimarka. Nicht wahr, Emir, du siehst ein, daß ich dein Vaterland sehr genau kenne?«

»Ja, sehr genau,« antwortete ich möglichst ernst.

Höchst stolz auf diesen geographischen Triumph, warf er einen stolzen Blick im Kreise herum und fuhr fort:

»Das sind die Errungenschaften davon, daß ich mich in meiner dienstfreien Zeit sehr gern mit der Dscheografia beschäftige. Die Bewohner von Dschermanistan sind sehr bewegliche Nomaden; sie wohnen in grünen oder blauen Zelten, ziehen bald dahin, bald dorthin und züchten Kamele, welche, wie die unserigen, einen, oftmals aber auch zwei Höcker haben. Ihre Datteln sind zwar nicht so wohlschmeckend wie diejenigen, welche wir verspeisen, dafür aber gedeihen bei ihnen die Ziegen besser als bei uns. Ihre Häuptlinge zahlen dem Sultan von Stambul einen jährlichen Tribut, welcher in Teppichen und Haremspantoffeln besteht, wofür sie die Erlaubnis haben, zur Erlangung der nötigen Lebensklugheit unsere Makahtib und Mädahris besuchen zu dürfen. Sie sind eifrige und treue Anhänger des Propheten; man findet sie bei jedem Pilgerzuge mit den Kuran in den Händen, und Mekka und Medina sind ihnen die heiligsten Städte der Welt. Du wirst mir bezeugen, Emir, daß diese meine Schilderung den Inbegriff der Wahrheit enthält!«

Was sollte ich antworten? Ich wollte ihn nicht kränken und konnte die Dummheiten, welche er vorgebracht hatte, doch unmöglich bestätigen. Da half mir Halef aus der Verlegenheit. Dieser war kein Türke, sondern ein Beduine, und zwar ein in der westlichen Sahara geborener, der sich durch nichts verpflichtet fühlte, dem Beherrscher in Konstantinopel eine besondere Verehrung zu zollen. Dafür aber hatte er, weil er mich liebte, eine ganz besondere Sympathie für mein Vaterland. Seine Kenntnisse über dasselbe waren allerdings auch sehr fragwürdiger Natur, denn was ich ihm von Deutschland erzählt hatte, das war stets sehr schnell von ihm wieder vergessen worden; auch konnte er sich den Occident nicht anders als nur unter orientalischen Verhältnissen denken, und so wirkte, wenn er einmal von einem europäischen Lande oder Volke sprach, das, was er vorbrachte, meist sehr Heiterkeit erweckend; aber klüger war er in dieser Beziehung dennoch, als der Kol Agasi. Ganz besonders ärgerte es ihn, daß dieser von Tribut gesprochen hatte. Das war eine Herabwürdigung der deutschen Nation, eine Beleidigung, welche er, weil ich ein Deutscher war, unmöglich dulden konnte. Darum wartete er gar nicht ab, ob oder was ich dazu sagen würde, sondern er fiel sehr schnell und in eifriger Weise ein:

»Wie? Du meinst den Inbegriff der Wahrheit gesagt zu haben? Ich muß dir mitteilen, daß dieser dein Inbegriff über alle Begriffe unbegreiflich ist, und daß ich noch nie eine Wahrheit gehört habe, welche in Wahrheit so viele Unwahrheiten enthält, wie die deinige.«

»Wie?« fragte der Alte erstaunt. »Das sagst du mir, der ich in der Dscheografia so bewandert bin! Und zwar sagst du es in einer Weise, welche so ganz entfernt ist von der Höflichkeit, die man im Umgange mit Offizieren des Großherrn anzuwenden hat!«

»Was du über Dschermanistan gesagt hast, das hast du nicht als Offizier, sondern als Dscheograf gesagt, und wenn ein Dscheograf unrecht hat, so verbietet es mir die Wahrheitsliebe, ihm aus Höflichkeit recht zu geben. Übrigens bist du selbst noch viel unhöflicher gewesen als ich!«

»Ich? Inwiefern und gegen wen?«

»Gegen meinen Emir Kara Ben Nemsi Effendi. Schaue ihn einmal an! Sieht er so aus, als ob sein Volk die Teppiche und Pantoffeln für eure Harems herzuschenken habe? Ich sage dir, die Deutschen schenken nicht einmal ihren eigenen Frauen Pantoffeln, also noch viel, viel weniger fremden Weibern! Und wenn du denkst, daß sie euch Teppiche schicken, so irrst du dich da ebenso, denn sie haben ja selber keine. Dein allergrößter Irrtum aber liegt in dem Tribute, von welchem du gesprochen hast. Das deutsche Volk besteht aus Helden, aus lauter unüberwindlichen Kriegern, die sich selbst vor der Hölle und dem Teufel nicht fürchten. Wollte der Sultan es wagen, mit ihnen zu kämpfen, so würden sie ihn einfach in die größte ihrer Kanonen laden und ihn wieder heim nach Stambul schießen. Es giebt ein unübertretbares Gesetz bei ihnen, durch welches auf das strengste verboten wird, einem fremden Fürsten Tribut zu zahlen, und es ist ganz im Gegenteil der deutsche Sultan, dem ausländische Herrscher Steuern zu entrichten haben. So weiß ich zum Beispiel ganz genau, daß die Beherrscher von Ulah, Midilli, Merakesch, Süwedsch, Dschibeltar und Firangistan ihm hohe Tribute zu entrichten haben, denn er hat sie alle besiegt und im letzten Kriege sogar die Völker von Brasilli, Sibir memleketi und Brasilli, Sibir memleketi und Prussia überwunden. Es ist also eine Beleidigung meines Effendi, wenn du behauptest, daß sein Volk Tribut zahlen müsse, während es doch im Gegenteil Tribut gezahlt bekommt. Und ebenso falsch war das, was du von den Deutschen in Beziehung auf die Pilgerzüge und auf Mekka und Medina erzähltest. Du wirst dort niemals einen Deutschen sehen, denn die Bewohner von Dschermanistan sind keine Muhammedaner, sondern entweder Christen oder überhaupt gescheite Leute. Die Kamele haben dort nicht nur einen oder zwei, sondern drei oder gar vier Höcker, und die Datteln wachsen dort so groß und schwer, wie bei euch die Kürbisse sind. In ihren Flüssen giebt es Fische, Kadyrga balydschylargenannt, welche ihren eigenen Schwanz nicht sehen können, weil man von ihm aus bis vor zum Kopfe einen halben Tag lang im Galopp zu reiten hätte, und wenn sie von einer Stadt zur andern reisen, thun sie das nur auf eisernen Straßen, indem sie ihre Wagen von feuerspeienden Pferden ziehen lassen, welche stählerne Glieder haben und mit brennenden Kohlen gefüttert werden.«

Der Kohl Agasi saß mit vor Erstaunen offenem Munde da und sah den Sprecher sprachlos an. Er war das, was man vulgär mit dem Ausdrucke »baff« zu bezeichnen pflegt. Seinen Leuten ging es ebenso.

»Nun, was sagst du jetzt?« fuhr Halef fort. »In deiner Dscheografia steht wohl nichts davon, daß die Deutschen solche Feuerpferde haben, und keine Muhammedaner sind?«

»Wird – – wird – – das Pferd, welches – – welches der Emir mit hat, auch mit glühenden Kohlen gefüttert?« fragte der Offizier, seine Sprache wieder gewinnend:

»Nein, dieses nicht. Du brauchst dich also nicht zu fürchten.«

»Und – – und ist er – – wirklich kein Anhänger des Propheten, sondern ein Christ?«

»Er ist ein Christ, also ein sehr gescheiter Mann.«

»Verzeih, O Scheik der Haddedihn, daß ich einen Gedanken ausspreche, der vielleicht nicht voller Achtung klingt! Du nennst ihn einen gescheiten Mann; aber ist es klug von ihm, als Christ hier diese Gegend aufzusuchen?«

»Warum sollte das etwa unklug sein?«

»Weil hier die berühmten Orte der schiitischen Wallfahrten liegen. Es ist für ihn äußerst gefährlich, sich auch nur eine Stunde hier zu verweilen, denn sobald die Schiiten in der Nähe ihrer heiligen Orte jemanden als Christen erkennen, so ist er verloren. Wißt ihr das nicht?«

»Wir wissen allerdings, daß furchtsame Leute so denken, wie du sagst; aber wir haben das, was andere Menschen Angst zu nennen pflegen, nicht kennen gelernt. Wir gehen, wohin es uns gefällt, und bleiben dort, solange es uns beliebt. Wir sind hierher gekommen, weil wir den Birs Nimrud besuchen wollten, und es ist uns gar nicht eingefallen, daran zu denken, ob das für uns gefährlich sein kann oder nicht. Wir hegen nicht die geringste Besorgnis um unser Wohl und unsere Sicherheit, und falls wir Schiiten begegnen, welche entdecken, daß der Emir ein Christ ist, so werden sie in demselben Augenblicke zugleich auch die Entdeckung machen, daß es für sie am klügsten ist, sich vor unserem Zorn in acht zu nehmen. Ich sage dir, es ist keine Kleinigkeit, den obersten Scheik der Haddedihn oder den berühmten und unüberwindlichen Emir Kara Ben Nemsi Effendi zum Feind zu haben. Du mußt nämlich wissen, daß wir Zaubergewehre besitzen, mit denen man endlos schießen kann, ohne laden zu müssen. Wir sind überhaupt nicht so wie andere Menschen. Wir denken, reden und handeln anders als sie; wir schießen, stechen und hauen ganz anders als sie; wir werden – –kurz und gut, solange ihr euch bei uns befindet, seid ihr sicher vor jeder Gefahr. Und wenn in diesem Augenblicke hundert Schiiten kämen, um über uns und euch herzufallen, so würden wir uns nicht fürchten, sondern es getrost mit ihnen aufnehmen.«

»Wie wolltet ihr euch wehren, da ihr eure Flinten nicht bei euch habt?«

»Kann man sich nur mit Hilfe von Flinten verteidigen? Ich sage dir, es giebt noch ganz andere Waffen, und man kann sich der Angreifer noch auf ganz andere Weise entledigen, als nur mit Hilfe von Pulver und Blei. Wer Geistesgegenwart, List und Mut besitzt, ist jedem Feinde überlegen, dem eine dieser Eigenschaften fehlt; wir haben das sehr oft erfahren, und um dir das beweisen zu können, wünsche ich fast, daß jetzt eine Schar von Schiiten käme, um mit uns anzubinden.«

»Allah verhüte das! Ich bin ein tapferer Soldat und Offizier, aber diese Leute, welche Ali und seine Söhne mehrverehren als den Propheten selbst, sind keine ehrlichen Krieger. Ich pflege dem Feinde gerade offen entgegenzugehen; sie aber lieben die Heimtücke und die Hinterlist. Ist es mir beschieden, im Kampfe zu sterben, so soll es doch wenigstens nicht von einer Kugel sein, die mit feiger Hand von hinten auf mich geschossen wird. Seid ihr wirklich bloß in der Absicht hierhergekommen, den Birs Nimrud zu sehen?«

»Ja.«

»Ich will nicht in euch dringen, mir mehr zu sagen, als ihr wollt; aber es ist mir unmöglich zu glauben, daß man einen so weiten und gefährlichen Ritt unternehmen kann, nur um einen großen, wüsten Haufen von Trümmern und Ziegelsteinen zu betrachten. Ich bitte um die Erlaubnis, meine Anordnungen für die Nacht erteilen zu dürfen, denn da wir beabsichtigen, erst am Tage nach Hilleh zu reiten, werden wir jetzt zu schlafen versuchen!«

Er gehörte zu der großen Zahl der Leute, denen es unverständlich ist, wenn andere etwas thun oder unternehmen, ohne die Absicht auf gewöhnliche, äußerliche materielle Vorteile dabei zu hegen. Wahrscheinlich war er trotz allem, was wir gesagt und gesprochen hatten, doch immer noch der Ansicht, daß wir in irgend einer Beziehung zu den Schmugglern ständen.

Er bestimmte die Posten, welche natürlich auch die Gefangenen zu bewachen hatten, und wickelte sich in seinen Mantel, damit ein Zeichen oder Beispiel gebend, welchem seine Untergebenen sogleich folgten. Halef streckte sich auch lang aus und fragte mich leise:

»Meinst du vielleicht, Sihdi, daß es für uns geraten ist, abwechselnd zu wachen?«

»Nein«, antwortete ich. »Der alte Kol Agasi meint es ehrlich. Wir werden auch ohne unsere Decken ganz gut schlafen, denn es ist heut nicht kalt. Gute Nacht!«

»Gute Nacht sage auch ich, obgleich ich weiß, daß ich keine Ruhe finden werde. Der Gestank der Leichen liegt noch so fest in meiner Nase, daß mich der Tod heut fliehen würde, also noch viel mehr der Schlaf, sei der deinige um so fester!«

Dieser sein Wunsch ging in Erfüllung. Ich schlief sehr gut und so lange, bis der Hadschi mich weckte. Er versicherte mir, kein Auge geschlossen zu haben, denn »die Empörung seiner Nase habe ihn gequält bis jetzt zu diesem Augenblick«. Die Soldaten nahmen ein kurzes, frugales Frühstück und stiegen dann auf, um sich von uns nach der Stelle führen zu lassen, an weicher unsere Pferde sich befanden. Diese begrüßten uns mit frohem Wiehern; sie hatten sich nach uns gesehnt, aber doch keinen Versuch gemacht, sich loszureißen.

Als wir sie von der Schutthalde herabgeführt brachten und der Kol Agasi sie sah, rief er bewundernd aus:

»Ja, das ist wirklich Radschi Pack! Dergleichen hat selbst der Pascha von Bagdad nicht in seinem Besitze und ich begreife es sehr gern, wenn andere lüstern darnach werden. Solche Pferde sind für Diebe eine Versuchung, welcher kaum zu widerstehen ist. Was müßt ihr für reiche Männer sein! Nehmt euch in acht, daß man sie euch nicht einmal heimlich entführt!«

War er über die Hengste entzückt, so war er in demselben Grade nun auch neugierig auf meine Gewehre. Ich gab ihm den Bärentöter in die Hand; er kannte die Schwere desselben nicht, obgleich sie ihm anzusehen war, und ließ ihn fallen.

»Allah!« rief er aus. »Das ist ja keine Flinte, sondern eine Kanone, eine doppelte Kanone! Wie weit kannst du mit dieser fürchterlichen Barudi schießen?«

»So weit, wie keine Kugel eines Feindes reicht,« antwortete Halef. »Die Kugeln dieser Doppelbüchse gehen so weit, wie wir wollen, und oft auch noch weiter, viel weiter. Und nun betrachte dir auch das andere, kleinere Zaubergewehr! Das schießt ohne Aufhören, immerfort, von heut an bis zum Ende dieses Jahres und, wenn wir es wünschen, auch noch einige Monate länger. Betrachte es!«

Der Hadschi nahm mir den Stutzen aus der Hand, um ihn dem Kol Agasi zu geben; dieser aber wehrte mit beiden Händen ab und rief:

»Nein, nein; ich danke dir, o Scheik der Haddedihn! Ich bin ein strenggläubiger Anhänger des Propheten und darf also mit meiner Hand keinen Gegenstand berühren, welcher mit irgend einer Zauberei in Verbindung steht. Allah bewahre und behüte mich vor dem Teufel und allen seinen bösen Geistern, welche solche immerfort schießende Flinten machen! Ich brauche diese hier nicht anzufassen; ich glaube auch ohnedem, daß sie die Eigenschaft besitzt, von welcher du gesprochen hast. ich weiß, daß es Mächte und Kräfte giebt, welche nicht von dieser Erde stammen, und daß man sie sich dienstbar machen kann; ich aber will nichts mit ihnen zu schaffen haben!«

Halef lächelte befriedigt. Er hatte seinen Zweck erreicht und gab mir das Gewehr zurück.

Nun galt es, uns mit den Spuren zu beschäftigen. Ich wollte, wie bereits gesagt, sehen, wohin die Schmuggler gestern abend den Safran geschafft hatten. Sie waren fast eine ganze Nacht an diesem Ort geblieben und dann, kurz vor Tagesanbruch, nach dem Kanale zurückgekehrt, denn ich erblickte ihre Kelleks draußen auf dem Wasser; sie ruderten nach Norden zu, woher sie gestern gekommen waren. Das sah ich, ohne aber dem Kol Agasi etwas davon zu sagen. Die Augen des Hadschi aber lenkte ich durch einen verstohlenen Wink auf das, wovon ich nicht sprechen wollte.

Zunächst führte ich den Offizier auf die Spuren, welche wir am vergangenen Tage bei unserer Ankunft gemacht hatten, dann auf die von dem Kanale herlaufende Fährte der Pascher. Diese war tief eingedrückt, weil die Leute schwer getragen hatten. Wieder zu unsern Fußeindrücken zurückgekehrt und ihnen bis zu den Feuerstätten folgend, erklärte ich ihm alles, was er nicht von selbst zu finden vermochte, und betonte besonders den Umstand, daß unsere Spur erst hier, wo wir gefangen genommen worden waren, auf diejenige der Pascher stieß und wir also nicht mit ihnen verkehrt haben konnten.

»Ich begreife alles sehr leicht, Emir«, sagte er. »Du kannst überzeugt sein, daß ich dir jedes deiner Worte glaube. Du hast mir bewiesen, daß diese Schmuggler euch vollständig unbekannt gewesen sind und ihr also keine Ahnung davon hattet, daß sie sich hier befinden würden. Ich werde das, wenn du es wünschest, in der Mehkeme sagen.«

»Ich bitte dich darum.«

»Du hast nicht zu bitten sondern zu fordern, denn du willst ja einen Bericht an den Seraskier senden. Wenn ich ja vorher noch daran gezweifelt hätte, daß du einen Einfluß bei ihm hast, so würde dieser Zweifel vollständig verschwunden sein, seitdem ich dich zu Pferde sitzen sehe. Wer ein solches Pferd besitzt und es in der Weise wie du reitet, der hat das Zeug dazu, selbst Seraskier zu sein!«

Fast hätte ich über dieses Lob laut aufgelacht; ich drückte jedoch die Anwandlung dazu nieder. Mein kleiner Hadschi aber blieb nicht still dazu, sondern griff sofort zum Worte:

»Seraskier? Mein Effendi? Kann ihm nicht einfallen, sogar nicht einmal im Traume einfallen!«

»Warum?« fragte der Kol Agasi verwundert.

»Weil er nicht will.«

»Aber der Seraskier ist doch der Gebieter, der höchste Mann im Heere des Padischah!«

»Aber wie lange? Er ist bei all seiner Würde ein Diener des Großherrn, der ihn in jedem Augenblick absetzen, fortjagen und sogar aus irgend einem Grunde zum Tode verurteilen kann. Mit ihm tauschen wir nicht; nach seiner Stellung sehnen wir uns nicht. Wir haben es besser als er, denn wir stehen höher. Ich bin der Fürst und Gebieter meiner Haddedihn; wer kann mich absetzen? Und mein Effendi ist auch sein eigner Herr und keines Fürsten Sklave; kein Sultan, kein Schah-in-Schah, kein Kaiser und König kann ihm das rauben, was er ist und was er hat. Nein, wir haben keine Lust, Seraskier zu sein, weder er noch ich!«

Wir folgten jetzt den Spuren der Schmuggler weiter, von den Feuern weg in südlicher Richtung, bis sie von den Ruinen nach rechts fort in das freie Feld führten. Das sah für den Nichtkenner so aus, als ob sie, immerfort gehend, eine schon vorher beabsichtigte Bogenrichtung eingeschlagen hätten. Ich aber sah ganz deutlich, daß sie da, wo ihre Fährte von dem Gemäuer ablenkte, angehalten hatten. Sie waren hinauf zur Höhe gestiegen, wo die Stelle lag, von welcher unser Bimbaschi in Bagdad gesprochen hatte. Da hinauf hatten sie die Schmuggelware geschafft und dann, wieder herabgekommen, ihren Weg hinaus ins Freie fortgesetzt. Dieser Umweg war notwendig gewesen, weil sie sonst auf die Soldaten gestoßen wären, deren Feuer sie natürlich hatten brennen sehen. Von diesen meinen Gedanken aber erfuhr der Offizier nichts. Wir kehrten an dieser Stelle um, ritten auf unsern eigenen Spuren zurück und schlugen dann den ungefähr dreißig Kilometer langen Weg nach der Stadt ein.

Der Wirt und der Ghasai-Beduine, welche sich den Soldaten angeschlossen hatten, um unserer Arretur beizuwohnen, hatten wohl nicht geahnt, daß sie auf dem Rückweg selbst gefangen sein würden. Sie waren jetzt nicht mehr gebunden, doch wurden ihre Pferde von je einem Soldaten an den Zügeln geführt, und Halef ritt eng hintendrein, um sie stets im Auge zu haben, während ich mich neben dem Kol Agasi hielt, welcher den Zug anführte.

Jetzt erfuhr ich auch, warum dieser Offizier nicht hatte glauben wollen, daß wir bloß hergekommen waren, um den Turm zu sehen. Nämlich als wir eine ziemlich lange Zeit still nebeneinander her geritten waren, legte er mir die etwas schüchtern klingende Frage vor:

»Ist es wirklich wahr, Emir, daß du ein Christ bist?«

»Es ist wahr.«

»So sag einmal: Giebt es bei den Christen auch Schmuggler?«

»Leider, ja.«

»Du sagst leider; es scheint also, daß du die Schmuggelei für eine Sünde hältst?«

»Alles, was das Gesetz verbietet, ist von dem Standpunkte dieses Gesetzes aus eine Sünde.«

»Aber wie komme ich als Türke dazu, zum Beispiel für den Safran, der in Persien viel billiger ist als bei uns, hier so viel mehr zu bezahlen, weil es dem Großherrn gefallen hat, einen Zoll auf dieses Gewürz zu legen?«

»Ich bin nicht der Großherr und bitte dich also, diese Frage nicht mir, sondern ihm vorzulegen.«

»Du willst mir ausweichen. Sag mir einmal aufrichtig, ob es Christen geben kann, welche auch anderswo als in ihrem Vaterlande Schmuggel treiben!«

»Ich halte das nicht für unmöglich.«

»So ist der Gedanke, den ich hatte, doch nicht so ganz dumm gewesen.«

»Welcher Gedanke?«

»Ich hielt dich für den Anführer der Pascher.«

»Ah! Wirklich?«

»Ja. Und ich dachte, du seist nur dadurch, daß wir euch fingen, verhindert worden, dich mit ihnen zu entfernen.«

»Hoffentlich bist du jetzt anderer Meinung?«

»Ganz anderer. Aber ich gehöre nicht zu den Zollhunden, welche hinter den Paschern hergehetzt werden und wäre dir, falls du zu ihnen gehört hättest, in Beziehung auf diese Zusammengehörigkeit ganz und gar nicht gefährlich geworden. Das wollte ich dir noch sagen, damit du einsiehst, daß ich nur Soldat und sonst weiter nichts bin.«

Ich verstand ihn besser, als er dachte. Er war immer noch nicht ganz überzeugt, daß die Pascher mich nichts angingen, und hätte, wenn ich als solcher ertappt worden wäre, gegen ein gutes Bakschisch in Hilleh ganz gern darüber geschwiegen. Das war der versteckte Sinn seiner Rede, auf den ich aber glücklicherweise nicht einzugehen brauchte. Seine Aussage über mich vor der Mehkeme war mir auch ohne Trinkgeld Sicher, weil ich durch die Hoffnung auf meinen Bericht ihn mir zum Freunde gewonnen hatte. Übrigens muß ich erwähnen, daß ich ihn mit dieser Hoffnung nicht etwa belogen hatte, denn ich besaß wirklich die Absicht, etwas für ihn zu thun, selbst wenn ich die Gelegenheit dazu bei den Haaren herbeiziehen mußte. Freilich war ich dabei der Ansicht, daß dies nicht grad durch einen Bericht an den Seraskier zu geschehen brauchte. Bei einem ihm näherstehenden Vorgesetzten war jedenfalls eher etwas zu erreichen, als bei diesem hohen Herrn, dem ein im fernen Hilleh garnisonierender Kol Agasi höchst wahrscheinlich sehr gleichgültig war. Daß man sich den letzteren durch die Verabreichung eines Trinkgeldes nicht zum Todfeind machen würde, konnte man bei seinen armseligen Einkünften leicht denken. Das Einkommen eines Kol Agasi betrug – – wenn es überhaupt gezahlt wurde! – – damals in Hilleh nach unserem Gelde achtzig Pfennige pro Tag, mit welcher Summe er alle seine Bedürfnisse ohne Ausnahme zu bestreiten hatte.

Unser weiteres Gespräch, bis wir die Stadt erreichten, bezog sich auf unwichtige Gegenstände, doch zeigte die Art und Weise, wie er sich dabei gegen mich benahm, mich fragte oder mir antwortete, daß wir den von uns beabsichtigten Eindruck auf ihn gemacht hatten; er war voller Ehrerbietung und Höflichkeit gegen mich. Daß ich kein Muhammedaner, sondern ein Christ war, schien mir in seinen Augen nichts zu schaden; er kam mit keinem Wort darauf zurück. – – –

Als wir Hilleh erreicht hatten, ritten wir zunächst nach der Wohnung des Wirtes, vor welcher angehalten wurde.

»Ich habe euch, meiner Weisung nach, wieder zurückgebracht,« sagte der Kol Agasi zu ihm; »ihr könnt also in dein Haus gehen. Aber ich werde einen Posten an die Thür stellen, welcher euch zu verwehren hat, es zu verlassen, bis ihr nach der Mehkeme geholt werdet, wo ihr eure Anklage vorzubringen und ihre Wahrheit zu beweisen habt. Ich mache euch darauf aufmerksam, daß ihr euch also auch jetzt noch als Gefangene zu betrachten habt. Unterlaßt darum jeden Versuch, euch ohne Erlaubnis von hier zu entfernen!«

Sie gefangen, wir aber frei! Das ärgerte sie gewaltig; sie waren aber klug geworden und sagten nichts dazu. Wir ritten unter Zurücklassung eines Postens weiter, der sogenannten Makarri ikamet des Sandschaki zu.

Im Hofe derselben angelangt, wurden wir von dem Kol Agasi aufgefordert, abzusteigen. Es gehörte nicht viel Scharfsinn dazu, den Grund dieser Aufforderung zu erraten und uns über unsere gegenwärtige Lage klar zu sein. Wie wir uns dazu zu verhalten hatten, das wollte ich nicht von den hiesigen Verhältnissen, sondern von unserm eigenen Willen abhängig machen. Darum fragte ich ihn, ruhig im Sattel sitzend bleibend:

»Warum absteigen?«

»Weil man doch nicht sitzen bleibt, wenn man nicht weiter reitet.«

»Hm! Was das betrifft, so kommt es bei uns zuweilen vor, daß wir zwar anhalten, aber doch nicht absteigen.«

Ach habe euch aber abzuliefern!«

»Das kannst du auch thun, indem wir uns im Sattel befinden.«

»Aber, Emir, ihr könnt doch unmöglich zu Pferde in das Gefängnis kriechen!«

»Ah! Ins Gefängnis sollen wir?«

»Natürlich! Ihr seid ja gefangen!«

»Ich spüre nichts davon!«

»Weil ihr nicht gebunden seid? Ich habe euch ja arretiert und euch nur darum ohne Fesseln hierhergebracht, weil ihr mir versprochen habt, mir gutwillig hierher zu folgen. Nun aber muß ich euch in das Gefängnis bringen.«

»Du? Ich denke, du bist Offizier, aber nicht ein gemeiner Sindandschi, welcher Verbrecher zu bedienen hat!«

»Fyrtyna! Ich wollte es keinem Menschen raten, mich für einen solchen Kerl zu halten! Ich bin Offizier des Beherrschers aller Gläubigen, aber kein Gefängnisdiener!«

»So zürne auf dich selbst! Denn soeben hast du gesagt, daß du die Obliegenheiten eines solchen Kerls‹ ausüben willst. Ich werde das leider mit in den Bericht an den Seraskier aufzunehmen haben!«

»Allah, Wallah, Tallah! Du kannst es getrost weglassen, denn ich werde es nicht thun, wenn du mir die Bitte erfüllst, welche ich jetzt aussprechen werde.«

»Ich werde sie erfüllen, wenn ich kann.«

»Du kannst.«

»So sprich sie aus!«

»Ich gehe jetzt zum Sandschaki, um ihm zu melden, daß ich euch gebracht habe und euch ihm übergebe. Bis das geschehen ist, macht ihr keinen Versuch, den Hof hier zu verlassen. Was dann geschieht, das geht mich nichts mehr an. Seid ihr einverstanden?«

»Wenn du mir einige Fragen beantwortest.«

»Welche?«

»Wie ist dein Name?«

»Amuhd Mahuli.«

»Ich muß ihn wissen, weil ich ihn doch in dem Berichte zu erwähnen habe und es ungewiß ist, ob ich wieder Gelegenheit finde, mit dir zu sprechen. Du kennst die Umgebung dieses Gebäudes?«

»Ja.«

»In welchem Teile wohnt der Sandschaki?«

»Grad vor dir. Da befinden sich auch die Stuben seiner Mamuhrin

»Wo ist das Gefängnis?«

»Zur ebenen Erde rechts, wo du die kleinen Löcher in der Mauer siehst.«

»Ich danke! Das sind keine Wohnungen für uns! Da drüben wird der Hof von einer Mauer abgeschlossen. Was liegt hinter ihr?«

»Eine freie Gasse.«

»Wie breit ist sie?«

»Es können fünf oder sechs Personen an dieser Stelle nebeneinander gehen. Warum fragst du das?«

»Weil wir zwar gute Reiter sind, aber aus gewohnter Vorsicht uns stets vorher zu erkundigen pflegen, wenn es gilt, die Hälse zu riskieren.«

»Die Hälse? Ich verstehe dich nicht!«

»Ist auch nicht notwendig. Und nun höre, was ich dir sage! Wir werden genau zehn Minuten auf dich warten. Das ist Zeit genug, dem Sandschaki deine Meldung zu machen. Bist du dann noch nicht wieder da, so reiten wir fort.«

»Kann ich mich wirklich auf dieses dein Versprechen verlassen?«

»Ich breche nie mein Wort.«

»So will ich gehen, denn ich vertraue dir. Ihr braucht nicht zehn Minuten zu warten, denn ich werde schon eher wiederkommen.«

Er ging, indem ich darüber lächeln mußte, daß er mir mein Wort abgenommen hatte. Seine Leute waren ja da! Warum hatte er sie nicht aufgefordert, uns zu bewachen und jeden Fluchtversuch zu verhindern? Traute er ihnen weniger als meinem Versprechen? Der Eindruck, den wir auf ihn gemacht hatten, schien ein für uns noch günstigerer zu sein, als ich gedacht hatte. Er glaubte nicht, daß wir uns trotz ihrer Überzahl von ihnen halten lassen würden, und da hatte er auch recht!

Das Gebäude bestand, wie alle Häuser der Stadt, aus Ziegeln, welche den Trümmern des einstigen, großen Babylon entnommen waren; es sah sehr schmutzig und baufällig aus. Der Hof war nicht groß, bot uns aber hinreichend Platz zu den Bewegungen, welche später vielleicht nötig wurden. Die Mauer, von welcher ich gesprochen hatte, besaß etwas über Manneshöhe, zeigte aber einige Stellen, wo die oberen Ziegellagen, weil verwittert, herabgefallen waren, und es erschien mir ganz und gar nicht als ein Wagnis, an einer dieser Stellen mit unsern Pferden über sie hinwegzukommen. Das war es, warum ich gefragt hatte, was hinter ihr liege.

Eigentlich hätte mir bange sein können. Ein Christ, gefangen, in Hilleh, dem Hauptorte schiitischer Unduldsamkeit, der Schuld am Tode eines Menschen und an der Verletzung eines andern, vielleicht auch des Schmuggels angeklagt –-das waren Gründe genug, besorgt zu sein. War hier doch schon allein der Umstand, ein Christ zu sein, höchst gefährlich für mich! Aber ich sah dem Kommenden mit größter Seelenruhe entgegen, und als ich mein Auge auf Halef richtete, lächelte er mich getrost und zuversichtlich an und fragte:

»Hast du schon einen Plan, Sihdi?«

»Nein,« antwortete ich, indem ich mich, um von den Soldaten nicht verstanden zu werden, des moghrebinischen Dialektes bediente. »Um einen Plan zu haben, müßte ich wissen, was sich nun ereignen wird; da ich das aber nicht weiß, können wir nichts thun, als ruhig warten.«

»Aber wie wir uns im allgemeinen zu verhalten haben, das kannst du mir mitteilen?«

»Ja. Ich werde nicht leugnen, daß ich Christ bin, hier am allerwenigsten; ich bin das mir und meinem Glauben schuldig, du hast dich ganz nach mir zu richten und alles so zu thun, wie ich es thue. Ich vermute, daß wir über die Mauer setzen werden. Das muß, da die dahinterliegende Gasse nicht breit ist und um nicht jenseits anzurennen, in schiefer Richtung, und zwar von rechts nach links geschehen, sodaß wir beidem Sprunge nördlich schauen. Das mußt du dir merken, damit wir keinen Augenblick auseinanderkommen und du nicht etwa umzuwenden brauchst.«

»Allah! Bin ich etwa blind, Sihdi? Traust du mir zu, in der Weise über die Mauer zu kommen, daß wir uns draußen mit den Rücken anschauen?«

»Nein; aber es war nicht unnötig, davon zu sprechen.«

»So meinst du, daß wir gar nicht absteigen?«

»Wir werden wahrscheinlich doch herunter müssen; aber ins Gebäude gehen wir auf keinen Fall, und von den Pferden trennen wir uns keinen Augenblick, sondern behalten die Zügel stets in den Händen.«

»Aber wir sind angeklagt; man will uns verhören, und wir können die Pferde doch nicht mit hinein ins – – – ah, du willst ja gar nicht hinein in die Mehkeme!«

»Nein. Wer uns verhören will, der muß zu uns herauskommen.«

»Muß herauskommen, muß! Ob er will oder nicht! O, Sihdi, lieber Sihdi, wie freue ich mich darauf! Das ist doch endlich wieder einmal ein Fall, eine Begebenheit, bei welcher wir zeigen, daß wir gewohnt sind, stets nur das zu thun, was uns beliebt. Ich bin neugierig, außerordentlich neugierig, was alles sich dabei ereignen wird. Vielleicht kommt es dazu, daß wir die Waffen brauchen!«

»Auch das müssen wir gewärtig sein, obgleich ich es nicht wünsche. Anfassen darf uns niemand, denn wenn wir es einmal dazu kommen lassen, so haben wir das Spiel schon halb verloren. Wir können noch so kräftig sein, wenn uns die Überzahl zusammendrückt, so daß wir keinen Raum mehr zur Verteidigung haben, werden wir überwältigt. Sieh dort an der Thorseite die vielen Menschen! Der gestrige Vorfall ist in der Stadt bekannt geworden; jetzt hat man erfahren, daß wir eingeliefert worden sind, und nun kommen die Neugierigen, um zu erfahren, was mit uns geschieht.«

»Das können wir ihnen jetzt schon sagen: Wir reiten fort und lachen Hilleh aus.«

»Sei nicht allzu sicher! Es ist ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß diese Angelegenheit eine ganz andere, eine schlimmere Wendung nimmt, als wir denken. Schau, die Entscheidung beginnt; man kommt!«

Wir sahen den Kol Agasi aus der Thür treten; ihm folgte eine ganze Anzahl von Personen. Hinter ihm kam ein Offizier in der Uniform eines Mir Alai, der wohl zufälligerweise grad jetzt bei dem Sandschaki gewesen war. Dann traten Diener heraus, welche einen Stuhl und verschiedene Kissen trugen, dann Beamte der Mehkeme, einer von ihnen mit einem monströsen Tintenfasse, Feder und Papier. Das war jedenfalls der Protokollant, woraus wir schlossen, daß das Verhör sofort und zwar sonderbarer-, uns aber sehr willkommenerweise hier im Hofe stattfinden sollte. Wie wir einigen später fallenden Äußerungen entnahmen, war heut überhaupt öffentlicher Gerichtstag, und da unser Fall ein eklatanter war, hatte der Sandschaki beschlossen, ihn gleich zuerst vorzunehmen und, ohne uns erst in einer langen Untersuchungshaft schmachten zu lassen, uns eine desto strengere, exemplarische Strafe zu diktieren. Bei einer Anklage, wie die gegen uns gerichtete war, konnte er sich einmal in seinem ganzen Glanze zeigen; Zuschauer waren ja genug vorhanden. Hinter diesen Beamten sahen wir mehrere Personen in sehr würdevoller Haltung schreiten, die Beisitzer des Gerichtes, wie ich später erfuhr. Und nun kam er selbst, der Herr und Gebieter Hillehs und des Sandschak, in welchem es liegt. Man sah es ihm beim ersten Blicke an, daß er ein Alttürke war, also ein Herr, von welchem ich als Christ keine Spur von Wohlwollen oder Schonung zu erwarten hatte. Seine Gestalt war klein und schmächtig, desto größer sein Turban, der mir aber trotz seines Umfanges nicht im mindesten imponierte. Zu seiner Linken ging ein Mann, dem ich zunächst keine Aufmerksamkeit schenkte, dafür aber später um so größere. Er war persisch gekleidet.

Alle diese Personen kamen, den Kol Agasi ausgenommen, nicht etwa auf uns zu, sondern sie schritten am Gebäude hin bis zu einer Stelle, wo eine alte, ziemlich zerfetzte Markise an der Mauer niederhing, welche von einem schnell vorausgesprungenen Diener aufgeschoben wurde. Sie bildete das Sonnendach der Stelle, an welcher die öffentlichen Gerichtssitzungen abgehalten wurden.

Der schon erwähnte Stuhl wurde unter ihren segensreichen Schutz gestellt, und der Sandschaki nahm auf ihm wie auf einem Throne Platz. Zu seiner Rechten und Linken legte man die Kissen nieder, um den hervorragenden juridischen Koryphäen, Gelegenheit zu bieten, mit untergeschlagenen Beinen so weich wie möglich zu sitzen; die geistig weniger begabten Koryphäen nahmen den Platz, wo und wie sie welchen fanden. Der persisch gekleidete Mann hatte sich unmittelbar neben dem Stuhle niedergelassen. Als sich die Mehkeme in dieser Weise entwickelt hatte, kam die Menge der Zuschauer herbei, um den Mahill el Adl in einem Halbkreis zu umschließen.

Mittlerweile hatte der Kol Agasi uns erreicht. Sein Gesicht war sehr ernst, und seine Stimme klang bedenkenschwer, als er uns mitteilte:

»Ich habe euch gemeldet, und da die Mehkeme zur heutigen Sitzung versammelt war, beschloß der Sandschaki, sogleich über euch Gericht zu halten. Ihr werdet mit größter Strenge behandelt werden und habt keine Nachsicht zu erwarten.«

»Weiß er, daß ich ein Christ bin?« erkundigte ich mich.

»Ja; ich habe es ihm gesagt. Ich habe ihm auch mitgeteilt, wer ihr seid.«

»Was sagte er dazu?«

»Wer ihr seiet, daß gehe ihn gar nichts an; er brauche weiter nichts zu wissen, als daß er es mit Schmugglern und Mördern zu thun habe, und solche Menschen dürfe man nicht schonen.«

»Ich danke dir für diese Mitteilung. Du siehst, daß wir Wort gehalten haben und hier geblieben sind. Von jetzt an ist es dir also gleichgültig, was wir thun?«

»Nein.«

»Du sagtest es doch vorhin!«

»Ich wußte nicht, was kommen werde. Der Mir Alai meines Regimentes war bei dem Sandschaki; er befahl mir, mit meinen Leuten das Thor zu besetzen, damit jeder etwa von euch unternommene Fluchtversuch vergeblich sei; mit Mördern könne man nicht vorsichtig genug verfahren. Ich muß natürlich gehorchen. Ich hoffe, daß du mir nicht darüber zürnst, Emir!«

»Du besitzest mein Wohlwollen in noch ganz demselben Maße wie vorher.«

»Aber wenn ihr fliehen wollt und ich verhindere euch daran, was wird da aus deinem Bericht an den Seraskier?«

»Ich schreibe ihn und schicke ihn auch ab. Wenn du unsere Flucht unmöglich machst, verdienst du ja das Lob, welches ich dir erteile, doppelt.«

»Aber wenn ihr hingerichtet werdet, kannst du den Bericht nicht schreiben!«

»Mach dir in dieser Beziehung keine Sorge! Ehe der Sandschaki uns hinrichten läßt, hängen wir ihn am ersten, besten Stricke auf!«

»Du kannst bei so ernsten Dingen scherzen?! Aber steigt ab, und kommt mit mir! Ich soll euch vor die Richter bringen.«

Ehe ich hierauf antworten konnte, ließ Halef einen unterdrückten Ruf der Überraschung hören.

»Was ist’s?« fragte ich.

»Schau den Mann, der jetzt bei dem Perser steht und mit ihm spricht!« antwortete er.

»Er steht mit von uns abgewendetem Gesichte; ich sehe es nicht.«

»Aber ich habe es gesehen!«

»Kennst du ihn?«

»Ja. Auch du wirst ihn sofort erkennen, wenn er sich herumdreht.«

»Wer ist’s?«

»Safi.«

»Was? Wer? Etwa Safi, der Sill, der uns dem Pädär in die Hände liefern wollte?«

»Und den du begnadigt hast, obgleich ich ihm so gern meine Peitsche hätte schmecken lassen. Ja, er ist es.«

»Du irrst dich nicht?«

»Nein. Paß nur auf! jetzt, jetzt dreht er sich herum!«

Ich sah das Gesicht und erkannte ihn. Es war allerdings der Mann aus Mansurijeh. Er hatte uns jedenfalls auch erkannt. Was wollte er hier in Hilleh? War er in Angelegenheiten der Sillan hier? Warum sprach er mit dem Perser? Kannte er ihn? Dann gehörte dieser jedenfalls auch zu dem Geheimbunde. Hatte der Verräter ihm gesagt, daß wir diejenigen seien, von denen der Pädär durch Prügel gezüchtigt worden war? Wer war dieser Perser? Welchen Grund oder welchen Zweck hatte seine Anwesenheit? War er nur persisch gekleidet, oder war er persischer Unterthan? Fand dies letztere statt, so hatte er doch wohl kein Recht, in einer Mehkeme zu sitzen, welche den uns betreffenden Fall behandeln wollte!

Während mir alle diese Fragen durch den Kopf gingen, drängte der Kol Agasi zum Absteigen.

»Wir bleiben sitzen!« antwortete ich.

»Aber ihr könnt doch unmöglich zu Pferde vor der Mehkeme erscheinen!«

»Warum nicht?«

»Es ist verboten.«

»Von wem?«

»Im Gesetze.«

»Es giebt kein Gesetz, welches bestimmt, daß man nur zu Fuß vor den Richtern zu erscheinen hat!«

»Wenn es kein Gesetz darüber giebt, so ist ein solches Beginnen doch gegen allen Brauch!«

»Du irrst. Es ist ein bei mir alter Brauch, von dem ich niemals lasse. So oft ich in einer Mehkeme zu erscheinen habe, komme ich nicht anders als zu Pferde angeritten.«

»Ich auch,« stimmte Halef bei. »Ich bin der oberste Scheik der Haddedihn, bei denen man einen Mörder nur dann zum Tode verurteilen darf, wenn er im Sattel sitzt.«

»Aber eure Gebräuche haben doch hier in Hilleh keine Geltung!«

»So wird es endlich Zeit, daß wir ihnen Geltung verschaffen!« entschied der kleine Hadschi in seinem bestimmtesten Tone.

»Ich kann es nicht verantworten! Denkt, wie es mir vom Mir Alai, dem Obersten meines Regimentes, ergehen wird, wenn ich euch geführt bringe, während ihr auf euern Pferden sitzt! Ich kann das unmöglich wagen!«

»Das muten wir dir auch gar nicht zu; wir können auf deine Begleitung verzichten,« antwortete ich. »Komm, Halef!«

Es wäre mir wohl unmöglich gewesen, mich zu erinnern, jemals in einer solchen Stimmung, wie meine jetzige war, gewesen zu sein. Es lag etwas in mir, was mich nicht dazu kommen ließ, diese Mehkeme ernst zu nehmen. Und Halef schien bei ganz derselben guten Laune zu sein. Er lachte am ganzen Gesicht, als er meine Aufforderung hörte, und antwortete in heiterem Tone:

»Wollen wir nicht auf das Verhör verzichten und lieber gleich sofort mitten hineinreiten, so daß die weisen Herren nach allen Seiten auseinanderfliegen?«

»Fast hätte ich Lust dazu. Aber ich denke, es ist besser, wenn wir von dieser Tollheit absehen. Wir würden doch nur um den Genuß kommen, den uns der Wortsieg über diese scharfsinnigen Männer des Gesetzes bereiten wird. Also seien wir vernünftig! Komm, vorwärts!«

»Ja, vorwärts, Sihdi! Wir wollen in der Weise mit ihnen sprechen, wie wohl noch niemand mit einer Mehkeme gesprochen hat. Komm!«

Es folgte nun eine Scene, welche mir unvergessen geblieben ist und auch ferner bleiben wird, eine Gerichtsverhandlung, welche ich für unmöglich halten würde, wenn ich sie nicht selbst erlebt hätte. Kenner der dortigen und damaligen Verhältnisse werden allerdings, wenn sie diese Zeilen lesen, nicht in Verwunderung geraten. Der interessante Vorgang ist nur dadurch ungewöhnlich, daß die beiden Angeklagten Männer waren, denen weder eine der beisitzenden Personen noch infolgedessen der ganze hohe Gerichtshof imponieren konnte. Der einzige Grund, bedenklich zu sein, hätte in dem Umstande gelegen, daß wir uns mitten in einer hochfanatischen Bevölkerung befanden und der von dem Publikum gebildete Halbkreis von Minute zu Minute sich vergrößerte. Diese durch das offene Thor hereinströmenden Menschen waren alle bewaffnet, und es gab keinen Grund zu der Annahme, daß die famose Mehkeme gegebenen Falles die erforderliche Macht oder auch nur Bereitwilligkeit besitzen werde, uns gegen Gewaltthätigkeiten in Schutz zu nehmen. Es galt, zu bedenken, daß Halefs sunnitisches und nun gar mein christliches Bekenntnis sehr leicht zu Pulver auf die Pfanne jeder hier vorhandenen Pistole werden konnte. Auf der andern Seite aber kannten wir gar wohl den Eindruck, den ein furchtloses Auftreten grad auf so leicht erregte Menschen zu machen pflegt. Wir sahen also dem uns erwartenden Vorgange zwar mit lebhafter Spannung aber keineswegs ängstlich entgegen und ritten auf den erwähnten Halbkreis zu, welcher sich, als wir ihn erreichten, öffnete, um uns hindurchzulassen. Der Kol Agasi folgte uns nicht, sondern begab sich nach dem Thore zu seinen dort postierten Soldaten, weiche die Aufgabe hatten, unserer etwaigen Flucht entgegenzutreten. Die Lücke der Zuschauer wurde hinter uns sogleich wieder geschlossen.

Der Herr Vorsitzende hatte sich unser Erscheinen vor seinen Schranken ganz anders gedacht. Er sah uns aus weit geöffneten, erstaunten Augen an und rief uns zornig zu:

»Wie könnt ihr es wagen, zu Pferde und bewaffnet vor uns zu erscheinen! Herunter von den Pferden, und weg mit euern Waffen!«

»Ich halte es für besser, daß wir sitzen bleiben,« antwortete ich in ruhigem Tone.

»Es ist euch hier keine eigene Meinung gestattet; ihr habt nur zu gehorchen!« entgegnete er in demselben befehlenden Tone wie vorher.

»Wir sind ja gehorsam, und zwar grad indem wir sitzen bleiben. Wir gehorchen nämlich der Notwendigkeit.‹,

»Was ist das für eine Ausrede? Ich verstehe dich nicht. Sprich deutlicher!«

»Wenn meine Vermutung richtig ist, hat man dir von unsern Pferden erzählt?« fragte ich.

»Natürlich! Diese Bestien sind es ja, wegen deren wir euch wahrscheinlich das Todesurteil sprechen werden!«

»Wir können diesem Urteile vom Sattel aus ruhig entgegensehen. Stiegen wir aber ab, so könnte leicht etwas geschehen, was euch den Stoff zu einer neuen Anklage gäbe.«

»Was meinst du? Was könnte geschehen?«

»Du siehst, daß unsere Pferde Radschi Pack sind; sie werden, wie jedes reine Blut, gefährlich, wenn man sie von ihren Herren trennt. Sähen sie, daß man uns zwingt, sie zu verlassen, so würden sie uns dennoch hierher folgen und dabei aber jeden, der sie daran hindern wollte, mit den Hufen niederschlagen. Wir haben sie also, um Unglück zu vermeiden, mit hierhergebracht.«

»Ihr könnt aber absteigen und sie an den Zügeln halten; das gebietet die Achtung, welche ihr der Mehkeme schuldig seid. Man sitzt nicht vor den Richtern, sondern man steht vor ihnen. Ich verlange, daß auch ihr das thut!«

Ich wollte eine verweigernde Antwort geben; da kam mir aber Halef zuvor, indem er den Sandschaki fragte:

»Kannst du die Folgen dessen, was du verlangst, verantworten?«

Sein Gesicht zeigte dabei jenen pfiffig lauernden Ausdruck, welcher stets dann bei ihm zu beobachten war, wenn ihn ein Hintergedanken leitete.

»Was ich befehle, verantworte ich,« lautete die Antwort.

»So werden wir nach deinem Willen thun.«

Er sprang aus dem Sattel, und ich folgte seinem Beispiele, denn ich wußte, was er beabsichtigte. Nämlich wenn wir die Zügel lang hielten und unsere Pferde also die Köpfe frei hatten, standen sie still; nahmen wir ihnen aber diese Freiheit, indem wir sie kurz hielten, so wehrten sie sich höchst energisch und versuchten alles, um sich loszureißen. Halef gab seinem Hengste beim Absteigen die wohlberechnete Stellung, daß sich grad hinter ihm Safi, der Sill aus Mansurijeh, befand, und rief ihm und seinen Nachbarn warnend zu.-

»Geht zurück! Dieses Pferd duldet nicht, daß man ihm so nahe steht!«

Es fiel niemandem ein, diesem Rufe zu gehorchen. Er faßte die Zügel nahe am Maule, worauf sein Nedjedi den Kopf hochzuwerfen versuchte, um sich loszureißen. Als ihm dies nicht gelang, schlug er hinten aus und traf den Sill, glücklicherweise nicht gefährlich, aber doch so, daß der Geschlagene zurückgeworfen wurde und einige andere mit niederriß. Mein Ben Rih verhielt sich ganz ebenso, denn es war selbstverständlich, daß ich ihn auch kurz genommen hatte. Er traf sogar zwei Männer, welche weit fortgeschleudert wurden, und während sich darüber ein großes Geschrei erhob, ließen wir die unaufhörlich ausschlagenden Pferde im Kreise um uns tanzen, bis der Halbkreis der in allen Tonarten schimpfenden Zuschauer soweit zurückgewichen war, daß niemand von den drohenden Hufen mehr erreicht werden konnte. Die Verletzten wurden noch weiter fortgeschafft, und soviel Köpfe es gab, soviele Stimmen riefen uns alle möglichen Flüche und Verwünschungen zu. Halef aber brüllte, sich an den Sandschaki wendend, noch lauter, sodaß er sie alle überschrie:

»Da hast du die Folgen! Nun verantworte sie auch! Wer kein Pferdekenner ist, soll nicht Befehle erteilen, von deren Wirkungen er nichts versteht!«

Man, sah es dem Beamten an, daß er diese Beleidigung zornig zurückweisen wollte; aber der Oberst machte eine beruhigende Handbewegung und warf ihm einige Worte zu, welche wir des Lärmes wegen nicht verstanden. Hierauf wurde uns der sehr willkommene und allerdings auch beabsichtigte Befehl:

»Steigt wieder auf! Es sei euch einstweilen gestattet. Später werden wir euch samt euern Bestien zu zähmen wissen.«

»Wir werden es thun,« nickte ihm Halef in gütiger Weise zu; »aber wir geben dir zu bedenken, daß Reiter und Pferd sich ähnlich zu sein pflegen. Auch wir haben die Gewohnheit, uns nicht nach einem fremden, sondern nach unserm eigenen Willen zu richten. Das darfst du nicht vergessen!«

Leider, oder vielleicht auch glücklicherweise, achtete der Sandschaki nicht sehr auf diese Worte, denn er war damit beschäftigt, seinen Dienern diejenigen Befehle zu geben, deren Ausführung nötig war, um den Lärm zu stillen und die Aufregung der Anwesenden zu beruhigen. Sie mischten sich unter die Schreienden und wütend Gestikulierenden, und es gelang ihnen auch, ihre Aufgabe zu erreichen.

Nur einer schien sich nicht so schnell wie die andern beherrschen zu können; das war der persisch gekleidete Mann, mit welchem Safi vorhin, als wir noch nicht nahe waren, gesprochen hatte. Der letztere war ein Stück fortgetragen worden; da saß er wimmernd und mit den Händen die Körperstelle streichend, an welcher er getroffen worden war. Der Perser stand bei ihm, focht, immer nach uns deutend, mit den Armen drohend in der Luft und war von allen der letzte, welcher seinen vorher innegehabten Platz aufsuchte. Ehe er sich dort niedersetzte, sagte er so laut, daß jedermann es hörte, zu dem Sandschaki:

»Du siehst, o Pascha, daß drei Personen schwer verletzt worden sind! Das darf nicht unbestraft geschehen sein, denn nicht die Pferde sind schuld daran, sondern es ist von den Reitern beabsichtigt worden. Dort sitzt Safi, ein treuer Unterthan des Padischah; er ist ein Bekannter von mir und steht unter meinem Schutze; ich hoffe, daß der Huftritt, der ihn getroffen hat, so streng wie möglich geahndet werde. Nur wenn dies geschieht, kann ich in so lobender Weise, wie du es wünschest, von dir zu meinem Herrn, dem königlichen Sillullah, sprechen, dessen Sa’id ich bin.«

Erst jetzt, indem er sprach, fand ich Zeit, den Mann genauer, als vorher möglich gewesen war, anzusehen. Er war, wie bereits gesagt, nach persischer Weise gekleidet und nicht hoch, aber desto breiter gewachsen. Seine Stimme klang gebieterisch, und zwar so, als ob er gewohnt sei, zu befehlen, und dabei eigentümlich schnarrend. Wangen und Kinn waren rasiert; dafür trug er einen um so längeren Schnurrbart, durch dessen linke Hälfte eine feuerrote Narbe ging, welche von der Stirn bis herab zur Mundspitze reichte. Die Augenhöhle, über welche sie lief, war leer. Der Hieb, dessen Spur diese Narbe war, hatte ihm das linke Auge gekostet. Ich beobachtete, daß er, während er sprach und auch später sehr oft die Hand hob, um die Barthaare über die Narbenlücke zu streichen.

Man wird mir glauben, wenn ich sage, daß ich überrascht war. So, wie dieser Mann da vor uns neben dem Sandschaki stand, hatte der Bagdader Bimbaschi uns den Säfir beschrieben. Die ganze Erscheinung war so charakteristisch, daß an einen Zweifel gar nicht gedacht werden konnte. Er war es, der unserm alten Gastfreunde und seinem dicken Kepek im Birs Nimrud den Schwur abgenommen hatte. Der Säfir, der Anführer der Schmuggler, den ich so gern hatte sehen wollen, stand also vor mir!

Ihn hier, bei dem Statthalter zu treffen, das hatte ich freilich nicht erwartet. Es war eine Kühnheit oder vielmehr eine Frechheit von ihm, die Stadt und das Haus aufzusuchen, wohin er eigentlich als verurteilter Verbrecher, als Strafgefangener gehörte. Wer diesen Mann zum Feinde hatte, der konnte nicht behaupten, daß er es mit einem schwachen, verächtlichen Gegner zu thun hatte. Aus dem von ihm gebrauchten Worte Sa’id war zu schließen, daß er sich für einen hohen Beamten des persischen Schah ausgegeben hatte; wahrscheinlich behauptete er, im Auftrage desselben unterwegs und hier anwesend zu sein. Welche spezielle Absicht er dabei verfolgte, das konnte mir gleichgültig sein; sie betraf wahrscheinlich die Schmuggelei, welche mich nichts anging. Aber aus der Gegenwart Safis und aus dem Umstande, daß er diesen in seinen Schutz nahm, war zu schließen, daß er zu den Sillan gehöre. Jedenfalls war er nicht ein gewöhnliches, sondern ein hervorragendes Mitglied dieses geheimen Bundes, und nun ich das wußte, stand es bei mir fest, daß ich Hilleh nicht verlassen würde, ohne den Birs Nimrud wieder aufzusuchen, um an Stelle unsers Bimbaschi mit diesem angeblichen oder auch wirklichen Perser abzurechnen. Grad daß er ein so verwegener Mensch war, vor dem man sich zehnfach in acht zu nehmen hatte, das machte mir erst recht Lust, mit ihm anzubinden. Halef hatte, als wir mit dem Polen auf dessen Dache saßen und dieser uns seine Erlebnisse erzählte, zu ihm gesagt: »Ich wollte, wir würden einmal von dem Säfir in den Turm gesperrt,« und dann hinzugefügt: »Ich würde niemals ohne Peitsche in den Birs Nimrud steigen!« jetzt fand sich für ihn vielleicht die Gelegenheit, zu beweisen, daß diese seine Worte nicht prahlerisch, sondern ernst gemeint gewesen seien.

Aber diesen Gedanken im gegenwärtigen Augenblicke nachzuhängen, dazu gab es keine Zeit, denn wir hatten auf den Perser zu achten, welcher in seiner Anklage fortfuhr.

»Diese beiden Menschen sind überhaupt gewaltthätige Personen, welche schon längst verdient haben, totgepeitscht zu werden.«

»Kennst du sie?« fragte der Statthalter.

»Ja. Ich könnte dir sehr viel von ihnen erzählen; es genügt aber vollständig, wenn ich dich über eine ihrer Missethaten unterrichte. Sie sind auf einem Kellek den Tigris herabgekommen und haben des Nachts einige Freunde von mir, welche am Ufer gelandet waren und ruhig schliefen, überfallen, gebunden, ausgeraubt und dann noch beinahe totgeschlagen.«

»Allah! Weißt du das gewiß?«

»Ja, Es ist sogar ein Zeuge anwesend, der es beschwören kann.«

»Wer?«

»Safi, der dort sitzt. Er ist dabei gewesen.«

»WO ist es geschehen?«

»Oberhalb Bagdad.«

»So liegt der Thatort nicht in meinem Bereiche, und ich habe leider nicht darüber abzuurteilen.«

»Das weiß ich gar wohl; aber ich bin überzeugt, daß diese That als Verschärfung der Strafe heut mit angerechnet werden kann.«

»Das versteht sich ganz von selbst. Ich werde dafür sorgen, daß es diesen Hunden unmöglich ist, noch irgend welchen Schaden anzurichten.«

»So bitte ich dich, den Umstand, daß der eine von ihnen ein Christ ist, ganz besonders zu beherzigen! Der andere giebt sich für einen Scheik der Haddedihn aus, eine Lüge, wie man sich keine größere denken kann. Du brauchst ihn nur anzuschauen, um sogleich im klaren über ihn zu sein. Ich behaupte, daß er ein von seinem Stamme ausgestoßener Pferdedieb ist. Auf welche andere Weise kämen solche Schufte zu solchen Pferden?! Wer weiß, welchem hohen Herrn sie sie gestohlen haben, denn nur sehr reiche und sehr hochstehende Leute können so ›reines Blut‹ besitzen. Wenn du sie ihnen abnimmst und nachforschest, so wirst du sehr bald erfahren, wem sie eigentlich gehören, und dir durch die Rückgabe ein Verdienst erwerben, welches man dir sehr hoch anrechnen wird.«

Das leuchtete dem Sandschaki sofort ein; er antwortete schnell: »Ich bin ganz deiner Ansicht und werde diese Halunken solange auf die Fußsohlen schlagen lassen, bis sie ein Geständnis ablegen und mir sagen, wo ich den oder die rechtmäßigen Besitzer der Pferde zu suchen habe. Setz dich jetzt wieder nieder, denn es verlangt mich, ihnen so schnell wie möglich zu zeigen, daß ihre verbrecherische Laufbahn hier vor diesem Gerichte ein ebenso gerechtes wie gewaltsames Ende nimmt. – Es mag der Bastonnadschi mit seinen Leuten kommen!«

Auf diesen laut ausgerufenen Befehl entfernte sich ein Diener, welcher bald darauf den Genannten brachte. Der Bastonnadschi, ein Wort, welches am besten mit »Stockmeister« übersetzt wird, bekleidet ein Amt, dessen Ausübung für diejenigen, welche ihm übergeben werden, eine sehr schmerzhafte ist, denn wenn er sich auch mit noch anderen Handlungen zu beschäftigen hat, welche mit der irdischen Gerechtigkeit im Zusammenhange stehen, so richtet sich doch seine Lieblingsbeschäftigung vorzugsweise auf Körperteile, welche im höchsten Grade gefühlvoll zu sein pflegen, nämlich auf die Fußsohlen. Es hat zwar nie einen Bastonnadschi gegeben, welchem Gelegenheit geworden ist, die Empfindlichkeit der meinigen einer eingehenden und liebevollen Prüfung zu unterwerfen, aber ich kann mich trotzdem in die Lage eines armen Teufels versetzen, dem es vergönnt ist, einen solchen Akt des orientalischen Strafvollzuges an sich vornehmen zu lassen. Es ist wirklich kein Wunder, daß der Herr Bastonnadschi dort überall in einem ebenso hohen wie gefürchteten Ansehen steht.

Dieser hier kam, wohl über ein Dutzend Stöcke unter dem Arme, in würdevoller Haltung herbeigeschritten. Ihm folgten seine Untergebenen, die »Stockknechte«. Sie trugen eine hölzerne Vorrichtung, welche einer Bank glich, der zwei Beine fehlten, an deren Stelle zwei Riemen angebracht waren. Diese Bank wird von arabisch sprechenden Sachkundigen Dschamal ‚l Alahm genannt. Die Anwendung dieses sehr praktischen Werkzeuges geschieht in folgender Weise: Die Bank wird so auf die Erde gelegt, daß die beiden, an der einen Schmalseite befindlichen Beine emporstehen; dann bekommt der Delinquent die Einladung, Platz zu nehmen. Er thut dies entweder freiwillig oder gezwungen in der Weise, daß er sich auf die Bank legt, und zwar mit dem Rücken, welcher dieses Mal nichts zu befürchten hat, nach oben. Hierauf wird ihm der eine Riemen über das Genick und der andere über den Leib und die fest anliegenden Arme geschnallt, die er also nicht bewegen kann. Die Unterschenkel werden aufwärts gebogen und an den Bankbeinen festgebunden, wodurch die Sohlen der nackten Füße in diejenige horizontale Lage kommen, welche in der freundlichen Absicht des Bastonnadschi liegt. Sobald diese Hal el Kabil erreicht worden ist, sind die wichtigen Vorbereitungen beendet, und der Meister verteilt die Stöcke unter die Knechte, welche die Hiebe auf die Fußsohlen in der vorgeschriebenen Weise zu verabreichen haben, während er darüber wacht, daß nichts an der bestimmten Zahl und Stärke fehlt.

Also auch für uns wurde so ein trautes »Kamel der Schmerzen« gebracht und vor uns hingelegt, worauf die zur Ausübung Berufenen einige Schritte zurücktraten und dann in erwartungsvoller Haltung stehen blieben. Ich sah, wie die Augen der Umstehenden glänzten und ihre Gesichter einen festlich frohen Ausdruck annahmen. Der Sandschaki deutete mit der Hand auf die Marterbank und richtete an uns die Verwarnung:

»Ihr seht, was euch erwartet, wenn ihr leugnet. Ich werde euch so lange hauen lassen, bis ihr alles eingesteht. Erspart euch die Hiebe, und gebt mir aufrichtige Antworten auf meine Fragen!«

Er machte eine Kunstpause, während welcher er sich einen neugestopften Tschibuk geben ließ. Hierbei muß ich bemerken, daß natürlich sämtliche Beisitzer des Gerichtes rauchten, was ich ihnen übrigens gar nicht übelnahm, weil ich selbst auch ein außerordentlich tapferer Raucher bin. Hierauf trat er der vorliegenden Angelegenheit nicht eigentlich näher, sondern er fiel gleich mitten in den vorhandenen juridischen Stoff hinein, indem er die Frage an uns richtete:

»Ihr seid Mörder?«

Weil er dabei mich ansah, war ich es, welcher antwortete:

»Nein.«

»Ihr seid Schmuggler?«

»Nein.«

»Ihr habt diese Pferde gestohlen?«

»Nein.«

»Mensch, sag ›Ja‹, sonst bekommt ihr sofort die Bastonnade! Habt ihr oberhalb Bagdad am Ufer des Flusses die Leute, von denen vorhin gesprochen wurde, überfallen?«

»Nein.«

»Sie beraubt?«

»Nein.«

»Ihnen Schläge gegeben?«

»Ja.«

»Endlich, endlich ein Geständnis! Das ist euer Glück, denn es wären nur fünf Minuten vergangen, so hättet ihr die Knochen aus dem Fleische eurer Füße hervorragen sehen. Antworte weiter! Du bist ein Christ?«

»Ja.«

»Dieses Eingeständnis bringt dich um, denn daß du ein Giaur, ein von Allah verfluchter Giaur bist, das ist schlimmer als alles, dessen du außerdem beschuldigt wirst. Hast du gewußt, daß ein Christ sein Leben wagt, wenn er die Gegend der hiesigen heiligen Orte betritt?«

»Ja.«

»Und das hat dich nicht abgehalten, hierher zu kommen? Wie unrettbar mußt du der Laufbahn des Verbrechens verfallen sein, da du ihr willig bis hierher gefolgt bist, wo dir schon als Christ dein Leben keinen Augenblick sicher ist! Dich erwartet hier ein schreckliches Ende und dort die Verdammnis in alle Ewigkeit, denn die Rache Allahs ist fürchterlich; er vergiebt nie!«

»Woher weißt du das?« »Der Kuran sagt es.« »Der Kuran sagt grad das Gegenteil!«

»Was kannst du, der Giaur, vom heiligen Buche der Gläubigen wissen!«

»Dieses Buch sagt in der 110. Sure: ›Preise das Lob des Herrn, und bitte ihn um Vergebung, denn er vergiebt gern!‹ Du scheinst die Sure aber nicht zu kennen.«

Er warf den Kopf empor, sah mich eine Weile überrascht an und rief mir dann zornig zu:

»Schweig! Ein gläubiger Sohn des Propheten muß sein Buch besser kennen, als du, ein Christ, es kennen kannst. Was du sagst, ist Lüge, muß Lüge sein, weil ihr Isa verehrt, der ein Sohn der Unwahrheit ist!«

»Ein Sohn der Unwahrheit? Nimm dieses Wort zurück, denn du schändest damit eure eigene Lehre, deine eigene Religion!«

»Hund! Beleidige mich nicht! Beweise, was du gesagt hast!«

»Nimm den Kuran, und schlag die neunzehnte Sure auf! Da wirst du lesen: ›Das ist Jesus, Mariens Sohn, das Wort der Wahrheit!‹ Und du bezeichnest den, den eure Offenbarung das Wort der Wahrheit nennt, als einen Sohn der Unwahrheit?«

»Schweig!.« herrschte er mich an.

»Ich schweige nicht! Meinen Christenglauben brauche ich nicht zu verteidigen; er ist so herrlich und erhaben, daß er meiner schwachen Worte nicht bedarf. Aber hier stehen zahlreiche Moslemim, welche ruhig dulden, daß du den Islam schändest. Gehe in die Dschawahmi und in die Medahris, so wirst du hören, daß Jesus am jüngsten Tage herniedersteigen wird, um alle Lebendigen und Toten zu richten! Und den, welchen der Islam den Gebieter des jüngsten Tages nennt, wagst du, einen Sohn der Unwahrheit zu heißen? Ist diese Beleidigung des Islam etwa dadurch möglich, daß du ein Anhänger der Sunna bist, während die Schia die Wahrheit lehrt?«

Diese Frage war, um mich so auszudrücken, ein rednerischer Handstreich von mir, den ich unternahm, weil die meisten der Anwesenden Schiiten waren. Die Wirkung zeigte sich sofort in einem beifälligen Gemurmel, welches sich hören ließ. Dadurch ermutigt, fuhr ich fort:

»Du hast mich einen Hund und einen von Allah verfluchten Christen genannt. Den Hund verzeihe ich dir; wo aber steht im Kuran oder in einer seiner Auslegungen zu lesen, daß Allah die Christen verflucht habe? Wo steht geschrieben, daß wir Ungläubige, daß wir Heiden seien? Muhammed giebt uns, weil wir an denselben Gott glauben, zwar nicht alle sieben, aber doch auch einen Himmel. Wer sind die eigentlichen Feinde des Islam? Sind wir Christen es, oder seid ihr es selbst? Wer hat euch entzweit? Etwa wir? Wer hat gegen Ali, den Kalifen, gestritten, und von wessen Hand wurde Hussein getötet? Sind das Christen oder Muhammedaner gewesen?«

Jetzt wurden so zahlreiche Beifallsrufe laut, daß der Sandschaki einsah, er dürfe mich unmöglich in dieser Weise fortfahren lassen. Er sprang auf, warf die Arme abwehrend in die Luft und rief:

»Wer hat dir, dem Christen, befohlen, vom heiligen Islam zu sprechen? Wir sind hier versammelt, um über eure Schandthaten zu Gericht zu sitzen, und ihr seid die Angeklagten. Du hast nicht ohne meine Erlaubnis zu sprechen, sondern nur meine Fragen kurz und bündig zu beantworten!«

»Und du,« antwortete ich, »lässest mich nicht weitersprechen, weil du dich vor den hier anwesenden Bekennern der Schia fürchtest. Ich sage dir, wenn ein Christ in die Gegend von Meschhed Ali oder Kerbela kommt, so ist darin nichts Besonderes zu sehen, denn er ist ein für die Schiiten gleichgültiger Mann, dessen Herz weder an Abu Bekr, Omar und Osman, noch an der Dynastie der Omajjaden hängt, auch hat er den traurigen Tag von Kerbela nicht verschuldet. Betritt aber ein Sunnit, wie du einer bist, diese Stätten, so ist das eine Beleidigung, eine Schändung der heiligen Orte, denn er bekennt sich zu denen, welche damals Husseins Blut vergossen und seinem Vater das Recht der direkten Nachfolge des Propheten verweigerten. Darum habe ich geglaubt, keine Sünde zu begehen, indem ich hierher komme, und darum bin ich überzeugt, daß für die wahren und verständigen Anhänger des Islam mein Glaube kein Grund dazu ist, mich feindlich zu behandeln.«

Da stand einer der Beisitzer, ein silberhaariger, ganz in Seide gekleideter Greis, von seinem Sitze auf, erhob den Arm zum Zeichen, daß er sprechen wolle, und sagte:

»Dieser Christ hat Worte gesprochen, die wie die Worte eines wahren Gläubigen klingen, und ich erkläre, daß ich ihnen meinen Beifall spende. Solche Worte pflegt kein Mörder, kein Dieb zu sprechen. Ich habe gehört, daß er in die Tiefen des Kuran eingedrungen ist. Wer das gethan hat, darf nicht Giaur genannt werden, denn seine Seele ist der unserigen verwandt, weil sie uns in den heiligen Suren begegnete. Wenn er als Angeklagter ebenso spricht, wie er als Christ gesprochen hat, werden wir ihn so frei entlassen, wie er ungefesselt hierhergekommen ist.«

Er setzte sich wieder nieder. Dieser Mann war, wie ich später erfuhr, einer der reichen Indier, welche im Alter nach Hilleh ziehen, um ihre letzten Tage in der Nähe von Kerbela und Meschhed Ali zu verleben, ohne von der dortigen muhammedanischen Geistlichkeit bis auf die letzte Rupie ausgesaugt zu werden. Hinter uns und zu beiden Seiten hörten wir »afak, afarim« und »jißlaho« rufen, Beifallsworte, welche uns in erfreulicher Weise bewiesen, daß er nicht der einzige war, der nicht dieselbe Meinung wie der Sandschaki hatte.

Dieser machte ein verlegenes Gesicht; man sah ihm an, daß er nach Worten suchte und doch keine für den Augenblick passenden fand. Da kam ihm der Perser zu Hilfe, indem er laut erklärte:

»Wir befinden uns nicht hier, um über den Kuran und seine Auslegungen zu sprechen, sondern um über Mörder, Schmuggler und Diebe zu Gericht zu sitzen. Was dieser Christ für Ansichten über die Sunna und Schia hat, gehört nicht hierher; wir haben es mit den Verbrechen zu thun, die er mit seinem Begleiter begangen hat, und dürfen uns von seiner Kenntnis der Suren nicht blenden lassen. Ich bitte dich, o Pascha, den Wirt und den unverletzten Ghasai kommen zu lassen, welche die Schuld dieser beiden Kerls beweisen werden.«

Dieser Mensch verhielt sich ganz so, als ob er Mitglied der Mehkeme sei, was doch keineswegs der Fall war. Ich hob mir eine Bemerkung darüber für später auf; jetzt war ich still.

Es wurde fortgeschickt, und wir hatten Pause, bis die Zeugen kamen. Halef füllte diese Zeit mit Bemerkungen aus, welche er über die einzelnen Persönlichkeiten machte; sie waren oft so komisch, daß ich laut lachen mußte, worüber der Sandschaki und besonders der Perser in Zorn gerieten, doch ohne ihm durch Worte Ausdruck zu geben.

Endlich wurden die beiden Genannten vom Kol Agasi herbeigebracht und von dem Vorsitzenden ausgefragt. Sie stellten den Vorgang natürlich höchst ungünstig für uns dar. Wenn es nach ihren Verdrehungen und Ausschmückungen gegangen wäre, hätten wir freilich auf keine Nachsicht rechnen können.

Als sie ihre Aussage über das Ereignis im Hofe des Wirtes gemacht hatten, erzählten sie auch unsere Gefangennahme am gestrigen Abend und was darauf gefolgt war. Sie stellten auch das in einer Weise dar, daß wirklich nicht viel Phantasie dazu gehörte, uns für Verbündete oder gar für die Anführer der Schmuggler zu halten. Mit großem Vergnügen hörten wir dann zu, als der Perser sich Mühe gab, aus den von ihnen angegebenen Punkten den unumstößlichen Beweis zu ziehen, daß wir diejenigen seien, der eigentlich doch er nur war.

»Man weiß,« sagte er, »daß der Schmuggel in großartiger Weise betrieben wird; man weiß, daß sowohl dem Schah-in-Schah als auch dem Padischah dadurch große Summen verloren gehen; man hält bei Tag und Nacht die Augen offen, um zu entdecken, auf welchem Wege und in welcher Weise diese Menge von Waren herüber und hinüber geschafft werden, doch ist alle diese Mühe und Aufmerksamkeit bisher vergeblich gewesen, weil man nicht auf den Gedanken gekommen ist, daß man die Fäden nur deshalb nicht entdecken kann, weil sie sich in der Hand eines Fremden, eines Christen vereinigen. Und nun es endlich durch einen Zufall oder vielmehr infolge der gestrigen Verunglückung zweier Menschen, die er auch verschuldet, gelungen ist, ihn zu ergreifen, ihn und den gefährlichsten seiner Leute, dürfen wir uns auf keinen Fall durch seine spitzfindigen Reden irre machen lassen, sondern müssen sie beide durch die Bastonnade zwingen, alles einzugestehen. Das ist meine Meinung, und wer eine andere Ansicht hegt, der gilt für mich als ein Verräter an der Gerechtigkeit.«

Das war wirklich mehr als dreist, frech und unverschämt! Dieser Mensch war selbst der Anführer der Schmuggler und mußte als solcher von unserer Unschuld überzeugt sein; dennoch wagte er es, uns offen in die Augen zu sehen. Hätte er gewußt, daß wir ihn besser kannten, als er ahnte! Wie gern hätte ich ihm den Beweis seiner Verworfenheit entgegengeschleudert, wenn es mir nicht grad dadurch unmöglich geworden wäre, den Coup, welcher mir jetzt vorschwebte, gegen ihn auszuführen. Er konnte durch die leiseste Andeutung meinerseits gewarnt werden und sich mir dann so entziehen, daß er nicht zu fassen war. ich begnügte mich also damit, ihn ruhig lächelnd anzusehen und, als er gesprochen hatte, dem Sandschaki zu sagen, daß der Kol Agasi beweisen werde, daß wir mit den Paschern in keine Beziehung zu bringen seien.

Der Genannte zeigte sich sofort bereit dazu; er beschrieb die Spuren, erklärte mit ihrer Hilfe, daß uns nur der Zufall an die Feuer der Schmuggler geführt habe und endete schließlich mit der gewiß zutreffenden Bemerkung.

»Sie gaben mir ihr Wort, nicht zu fliehen; sie hätten sich sehr leicht entfernen können, haben es aber nicht gethan. Ein Schmuggler hält kein solches Versprechen heilig, und daß sie ohne allen Zwang mit hierhergeritten sind, muß uns ein Beweis ihrer völligen Unschuld sein.«

Er hatte seine Sache wirklich gut gemacht, sah mich dann aber auch mit einem Blicke an, welcher ebenso deutlich wie in gesprochenen Worten fragte: »Du kannst mit mir zufrieden sein: wirst du denn aber diese meine Rede auch mit in deinen Bericht an den Seraskier aufnehmen?« Ich nickte ihm eine stille Bejahung zu und mußte dann meine Aufmerksamkeit dem Statthalter schenken, welcher im Zorne über die uns so günstige Aussage des Kol Agasi sich an den Vorgesetzten desselben, den Oberst wendete:

»Was sagst du dazu, oh Mir Alai, daß dein Untergebener es wagt, diese schon völlig überführten Verbrecher zu verteidigen und für unschuldig zu erklären? Ich hoffe, daß du ihn dafür in Strafe nimmst!«

Der Oberst, welcher schon einmal zu unsern Gunsten eingegriffen hatte, antwortete:

»Er hat als Zeuge gesagt, was er für wahr und für richtig hält; wie kannst du verlangen, daß ich ihn dafür bestrafe?«

»Ich befehle es dir!«

»Du irrst dich über den Bereich deiner Macht. Du bist der Verwalter deiner Statthalterschaft, und ich bin der Kommandant meines Regimentes. Ich bin für gewisse, genau vorgeschriebene Fälle verpflichtet, dir militärischen Beistand zu leisten, aber persönlich zu befehlen haben wir einander nichts. Der Kol Agasi hat ausgesagt, was ihm von seinem Gewissen vorgeschrieben wurde; ich an seiner Stelle hätte ganz dasselbe gethan.«

»Aber du mußt doch einsehen, daß er Schuldige verteidigt! Es ist erwiesen, daß diese beiden Angeklagten den Tod eines Menschen und den Beinbruch eines anderen verschuldet haben. Es ist erwiesen, daß sie Schmuggler sind und gestern bei ihrem verbotenen Gewerbe eine himmelschreiende Leichenschänderei begangen haben. Dies sind zwei todeswürdige Verbrechen. Und drittens ist es erwiesen, daß sie am Tigris mehrere Personen überfallen, beraubt und mißhandelt haben. Es ist mir unbegreiflich, wie man da noch zu ihren Gunsten sprechen kann!«

»Ist das wirklich alles erwiesen?«

»Natürlich! Du hast es ja gehört!«

»Erlaube mir, anderer Meinung zu sein! Um einen Angeklagten zu überführen, muß man ihn doch wohl vor allen Dingen verhören?«

»Das habe ich ja gethan!«

»Nein. Du hast Fragen gestellt; aber ein Verhör war das nicht zu nennen. Es ist ja nicht einmal eine Mazbata aufgenommen worden. Du weißt ebenso wie ich, daß ein Verhör ohne Mazbata nur ein gewöhnliches Gespräch und also nicht gültig ist. Hier sitzt der Schreiber; aber seine Feder ist noch trocken; er hat sie noch nicht einmal in die Tinte getaucht. Und doch ist es vorgeschrieben, daß wir alle die Mazbata zu unterschreiben haben, wenn das Verhör Geltung haben soll. Übrigens habe ich weder richtige, unanfechtbare Beweise gesehen, noch liegt ein Geständnis der Angeklagten vor. Auch muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß nur die Mehkeme in ihrer Gesamtheit über Schuld oder Unschuld zu bestimmen hat, nicht du allein. Wir sitzen nicht als stumme Zuhörer hier, sondern wir sind versammelt, um unter deinem Vorsitze Recht zu sprechen!«

Das klang scharf. Dieser Offizier besaß Ehrgefühl. Nahm er sich unser nur darum an, weil dieses Gefühl beleidigt worden war? Oder waren es nebenbei auch persönliche Gründe, die ihn veranlaßten, zu opponieren? Ich bemerkte bei ihm, während er sprach, einen ganz eigenen Gesichtsausdruck, und es waren so seltsame Blicke, welche dabei aus seinen Augen zu uns herüberschweiften.

Der Sandschaki konnte die ihm gewordenen Vorwürfe nicht entkräften; er kämpfte vergeblich mit seinem Ärger und stieß zornig hervor:

»Bei so ungewöhnlichen Fällen, wie der vorliegende ist, habe ich das Recht, auch zu ungewöhnlichen Mitteln zu greifen. Diese Menschen werden bestraft!«

»Wenn sie überführt worden sind!«

»Ich habe sie überführt!«

Da lachte der Mir Alai so halblaut vor sich hin und sagte:

»Sie werden nicht bestraft, gleichviel, ob ihre Schuld zu beweisen ist oder nicht.«

»Das klingt unklar. Sprich deutlicher!«

»So will ich deutlich sein: Diese beiden Männer werden sich nicht bestrafen lassen.«

»Wie? Was?«

»Auf keinen Fall!«

»Ich begreife dich nicht!«

»Schau sie an! Sehen sie so aus, als ob sie mit sich machen lassen werden, was dir beliebt?«

»Maschallah! Sie sollen sofort andere Gesichter machen! Da du es verlangst, werde ich ein regelrechtes Verhör anstellen und eine Mazbata anfertigen lassen. Jede Frage und jede Antwort soll niedergeschrieben werden, und wenn die Kerle nur eine einzige Frage verneinen, bekommen sie ohne Gnade die Bastonnade.«

»Werden sie absteigen?«

»Sie müssen!«

»Wer aber wird es wagen, inzwischen ihre Pferde zu halten?«

»Die werden einstweilen weggejagt; sie mögen laufen, Wohin sie wollen, wenn sie nur nicht hier im Hofe bleiben. Also, es wird begonnen!«

Es wird begonnen! Es war auch wirklich Zeit dazu. Denn was es bis jetzt gegeben hatte, das war nur Kinderei gewesen. Der Katib tauchte mit gerunzelter Stirn und wichtiger Miene seine Feder in die Tinte, und der Vorsitzende warf uns zum zweitenmal die schreckliche Frage zu:

»Ihr seid Mörder? Ich rate euch, es sofort zu gestehen, denn wenn ihr es nicht thut, werdet ihr ohne Säumen dort angeschnallt!«

Er zeigte bei diesen Worten auf das »Kamel der Schmerzen«. Ich antwortete:

»Hamdulillah! Endlich scheint der Scherz zu Ende zu sein und der Ernst zu beginnen! Darum frage ich dich: Hast du schon einmal einem Verhöre beigewohnt?«

»Bist du verrückt? Mir eine solche Frage vorzulegen!«

»Du hast keinen Grund, dich darüber zu wundern. Vielmehr haben wir alle Veranlassung, erstaunt zu sein, daß du ein Verhör anstellen willst, ohne zu wissen, welche Fragen dabei zunächst vorzulegen sind.«

»Welche Fragen?« donnerte er mich an.

»Vor allen Dingen mußt du doch wissen, wer wir sind!«

»Das weiß ich: Mörder seid ihr!«

»Ich verbiete dir, uns so zu nennen! Du darfst diesen Ausdruck nicht eher auf uns anwenden, bis bewiesen ist, daß wir ihn verdienen. Wenn du nicht weißt, was sich ––«

»Schweig!« befahl er mir. »Wenn du mich beleidigest, bekommst du soviel Hiebe, daß ––«

»Still!« unterbrach ich ihn in meinem kräftigsten Tone. »Jetzt spreche endlich ich einmal und du hast ruhig zuzuhören, bis ich fertig bin! Ich gebe dir mein Wort: Wenn du mich noch einmal unterbrichst, ohne von mir gefragt worden zu sein, reite ich dich vom Stuhle herab und unter die Füße meines Pferdes! Du willst uns verurteilen, ohne gefragt zu haben, wer wir sind; ich aber frage dich: Wer bist denn du? Doch nicht etwa der hiesige Sandschaki? Wenn du der wärest, müßtest du doch wenigstens die geringen Kenntnisse besitzen, welche dazu gehören, ein ganz gewöhnliches Verhör zu leiten. Da du das aber nicht verstehst, halte ich dich für alles andere, nur nicht für einen so hohen Verwaltungsbeamten. Was sollte aus dem Reiche des Padischah werden, wenn er seine Provinzen von so unerfahrenen Leuten regieren ließe. Beweise mir also, wer und was du bist, ehe du verlangst, daß wir auf deine Fragen Antwort geben! So, jetzt bin ich einstweilen fertig. Nun kannst du auch einmal sprechen, bis ich wieder anfange!«

Es herrschte tiefe Stille rund umher. So etwas war diesen Leuten noch niemals vorgekommen. Ein Christ, mehrerer Verbrechen beschuldigt, wagte es, hier vor der Mehkeme und mitten in einer schiitischen Bevölkerung in dieser Weise mit dem höchsten Beamten des Sandschak zu sprechen! Dieser selbst war wie vom Schlag getroffen. Er stotterte einige Worte, welche ich nicht verstand; darum fuhr ich fort:

»Und solltest du trotz alledem der Sandschaki sein, so fordere ich dich auf, mir vor allen Dingen zu sagen, vor was für einem Gericht wir uns befinden. Es ist unser gutes Recht, dies zu erfahren, und wir haben nicht die mindeste Lust, darauf zu verzichten. Ist es ein Scherije oder ein Nisamije? Und wenn es ein Nisamije ist, müssen wir wieder wissen, ob wir ein Hukuk-mehkemeleri, ein Dschesa-mehkemeleri oder ein Tidschavet-mehkemeleri vor uns haben. Gieb also Antwort! Sprich!«

»Es ist ein Dschesa-rnehkerneleri,« antwortete er so kurz, weil er seine Betroffenheit noch nicht zu überwinden vermochte.

»Also sind die Mitglieder nicht vom Justizminister angestellt, sondern hier von euch selbst gewählt worden. Wer von euch ist ein Christ?«

»Niemand.«

»Niemand? Und doch wißt ihr, daß ich ein Christ bin! Ein Gericht, welchem ich mich zu unterwerfen hätte, falls ich Bewohner von Hilleh wäre, müßte aus Moslemim und Christen zusammengesetzt sein. Das mußt du wissen! Und nun gestehst du ein, daß ihr lauter Muhammedaner seid! Du hast gewußt, daß euch kein Recht über mich zusteht und es dir dennoch angemaßt! Du hast mir Ausdrücke wie Hund, verfluchter Christ, Schmuggler, Mörder zugeschleudert und bist dir doch bewußt gewesen, daß du mir nichts, kein Wort zu sagen, zu befehlen hast! ich werde mich darüber bei dem Umuru adlieh we meshebieh nasreti beschweren und ihm mitteilen, was für einen Sandschaki er hier in Hilleh sitzen hat! Aber es ist noch schlimmer, noch viel schlimmer, denn ich bin kein Unterthan des Großherrn, sondern ein Fremder, ein Ausländer. Als solcher stehe ich nur unter der Gerichtsbarkeit meines Vaterlandes, und ihr hättet euch in dieser Angelegenheit an das Sefaret oder an die Kanschelarije meiner Regierung zu wenden gehabt. Um dies nicht thun zu müssen, sondern mich ohne alles Recht verurteilen zu können, hast du mich lieber gar nicht gefragt, wer und woher ich bin; jetzt verstehe ich dich. Aber das wirst du schwer zu büßen haben, denn mein Hardschijeh nasreti wird von dem eurigen Rechenschaft fordern über die Gesetzwidrigkeiten und Beleidigungen, welche ich hier erduldet habe, und dann wirst du wohl erfahren, was es zu bedeuten hat, wenn ein Unterthan meines Vaterlandes und meines Kaisers hier, weil er ein Christ ist, nicht nur Hund genannt, sondern wie ein herrenloser Hund getreten und behandelt wird! Ich bin wieder fertig und erlaube dir, auch ein Wort zu sagen.«

»wie heißest du, und welches Reich ist dein Vaterland?« fragte er.

»Mein Name ist – –«

»Halt! laß mich an deiner Stelle sprechen!« unterbrach mich da der Mir Alai, der meinen Worten mit größter Aufmerksamkeit gefolgt war. Und sich von seinem Sitze erhebend, rief er mit lauter Stimme: »Dieser fremde Mann heißt Emir Kara Ben Nemsi Effendi; er stammt aus dem großen, berühmten Reiche Almanja, dessen Kaiser der Freund des Großherrn ist, und hat sich der Armen, Bedrängten und Hilflosen unsers Landes stets mit aufopfernder liebe und Güte angenommen, ohne zu berücksichtigen, daß sie nicht seines Glaubens sind. Er kennt keine Angst; er fürchtet keine Gefahr; er flieht keinen Feind, und seine Klugheit ist ebenso groß wie seine Stärke und seine Tapferkeit. Und dieser sein treuer Begleiter, den ihr hier neben ihm seht, weicht nie von ihm und nimmt an allen seinen Thaten teil. Sein Name lautet Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah.«

»Wie? Du kennst uns? Du kennst mich? Du kennst sogar meinen ganzen Namen, den ich allerdings noch sehr verlängern könnte?« fragte Halef in stolzem, freudigem Tone.

»Ja, ich kenne euch. Darum habe ich vorhin behauptet, daß ihr euch auf keinen Fall bestrafen lassen werdet, denn euer Wille giebt euch Flügel, und euer Zorn bricht Löcher durch die Mauern.«

»Aber ich erinnere mich deiner nicht. Wo bist du uns begegnet?«

»Ich habe euch gesehen droben zwischen den Bergen der Teufelsanbeter; es ist schon lange her. Ich war damals noch Mülasim und befand mich bei den Truppen, welche der Mir Alai Omar Amed kommandierte. Dieser war ein überstrenger, rücksichtsloser Mann, wofür er mit dem Feuertode bestraft wurde. Ihr befandet euch ja in der Nähe und habt es gesehen1, daß Pir Kamek, der Oberste der Teufelsanbeter, mit ihm in das Feuer des Scheiterhaufens sprang, worauf beide verbrannten. Dann vermittelte dein Emir Kara Ben Nemsi Effendi den Frieden zwischen den Dschesidi und uns. Da erst erfuhren wir, was wir euch zu verdanken hatten. Wir waren rundum eingeschlossen, und keiner von uns wäre mit dem Leben davongekommen, wenn der Emir sich unser nicht angenommen hätte. Es wurde dies von Mund zu Mund erzählt, und alle gewannen euch lieb. Wir hörten auch alles, was ihr vorher gethan und erlebt hattet. Später, als ich in Kerkuk und dann in Suleimanieh stand, wurde oft noch mehr von Kara Ben Nemsi und seinem Hadschi Halef Omar erzählt, von euern Pferden, euern Gewehren und euern Thaten bei den Beduinen der Dschesireh und den Kurdenstämmen der Berge und der Thäler. Ich war stolz darauf, euch zu kennen, und wünschte, euch einmal wiederzusehen. Heut ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen, und ihr könnt euch denken, daß ich mich darüber freue. Ich möchte euch so gern dafür dankbar sein, daß ihr uns allen damals das Leben gerettet habt, aber leider bin ich nicht der Sandschaki von Hilleh, sondern nur der Kommandant meines Regiments. Doch wenn es einen Dienst giebt, den ich euch leisten darf, so bitte ich, es mir unbedenklich zu sagen; ich werde von Herzen gern thun, was ihr wünschet. Daß ihr mich nicht erkannt habt, ist kein Wunder. Ein unbedeutender Mülasim konnte eure Aufmerksamkeit ja nicht erregen, und wenn euer Blick ja einmal auf mich gefallen sein sollte, so ist das wohl nur so kurz und vorübergehend geschehen, daß ihr euch mein Gesicht nicht merken konntet. jetzt erlaubt mir, das eine zu bemerken: Ich gehöre zur Mehkeme und habe als Soldat die Aufgabe übernommen, euch nicht fliehen zu lassen. Diesen Verpflichtungen muß ich nachkommen; in allem andern aber, was darüber hinausgeht, werde ich euch meine Hilfe und meinen Schutz sehr gern gewähren, wenn ich auch überzeugt bin, daß Kara Ben Nemsi und sein Halef dieses Schutzes gar nicht bedürfen, obgleich sie scheinbar Gefangene sind.«

Diese Begegnung mit dem Mir Alai war auch einer der so oft von mir erlebten Beweisfälle, daß jede gute That, jedes menschenfreundliche Verhalten nicht von anderer Seite her belohnt zu werden braucht, weil es Bestimmung Gottes ist, daß solche Handlungen die spätere Vergeltung ganz aus sich selbst heraus entwickeln. Übrigens schien der Oberst ein tüchtiger Offizier zu sein, da er in der gar nicht sehr langen Zeit zwischen damals und jetzt vom Mülasim zum Mir Alai avanciert war.

Er hatte, wie schon erwähnt, so laut gesprochen, daß ihn alle hörten. Der Eindruck, den seine Worte machten, war ein für uns günstiger und sehr leicht zu bemerken. Wenn ich die freundlichen Blicke sah, welche auf uns ruhten, so kam es mir gar nicht so vor, als ob ich, »der von Allah verfluchte Christ,« mich mitten unter fanatischen, christenfeindlichen Schiiten befände. Wahrscheinlich war diesem Fanatismus schon dadurch für uns die Gefährlichkeit genommen worden, daß ich vorhin die Schia so wohlwollend erwähnt und dabei auf den Glaubenshaß der Sunniten hingedeutet hatte. Sodann war mein Auftreten gegen den Sandschaki ein hier gewiß noch nie dagewesenes gewesen, ich möchte sagen, ein Schauspiel, welches die regste Teilnahme für dem Träger der Hauptrolle erweckte; man vergaß den Andersgläubigen und sah nur den mutigen Mann in ihm. Dazu kam, daß der Statthalter Sunnit und infolgedessen hier also überhaupt nicht beliebt war; man gönnte ihm im stillen die Zurechtweisungen, welche er erfuhr. Und als sich nun der Mir Alai mit solcher Wärme unser annahm, wurde die Stimmung eine noch freundlichere für uns. Sah ich doch, daß der alte Indier mir mit befriedigtem Lächeln zunickte.

Ganz anders freilich verhielten sich der Sandschaki und der Perser. Sie waren über die günstige Aussage des Oberst wütend und flüsterten miteinander. Ich sah, daß der Pascher dem Beamten eifrig mitteilte, wie er sich verhalten müsse, um seine Absicht doch noch zu erreichen. Der letztere ging auf die Vorschläge des ersteren ein; wahrscheinlich gab es eine geheime Abmachung dabei, denn er reichte ihm in der Weise, wie man ein Versprechen bekräftigt, die Hand und ergriff dann, sich uns wieder zuwendend, das Wort:

»Es ist in der vorliegenden Angelegenheit eine Wendung eingetreten, welche eine Änderung des Verfahrens nach sich zieht. Hätte der Mir Alai mir gesagt, daß er die Angeklagten kennt, so würde mein Verhalten gleich von Anfang an ein anderes gewesen sein. Haben diese beiden Männer damals dem Mir Alai durch Vorzeigung ihrer Legitimationen bewiesen, daß sie wirklich diejenigen seien, für welche sie sich ausgaben?«

»Nein,« antwortete der Oberst. »Sie waren als Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar bekannt und wurden so genannt.«

»Hast du vielleicht dann später ihre Legitimationen gesehen?«

»Nein; aber ich erkläre, daß sie die Personen sind, für welche ich sie halte.«

»Das genügt mir nicht. Da der eine von ihnen ein Christ und Unterthan eines fremden Staates zu sein vorgiebt und dies vielleicht nur thut, um sich unserer Gerichtsbarkeit zu entziehen, ist die größte Vorsicht und Gewissenhaftigkeit geboten. Ich muß Legitimationen sehen!«

»Legitimationen?« fragte Halef lachend. »Meinst du, daß ich, ein freier Beduine und Scheik meines Stammes, einen Paß bei mir trage, wenn ich einen Ritt unternehme?«

»Du siehst aber, daß du hier einen brauchst!«

»Wer soll ihn mir ausstellen? Wo ist die Behörde, an welche sich ein unabhängiger Ibn Arab in dieser Angelegenheit zu wenden hätte? Es giebt eben keine. Und du sagst, daß ich hier einen brauche? Warum und wozu?«

»Weil du vor dem Gerichte stehst, welches wissen muß, wer du bist.«

»Schau dort den Ghasai an! Auch er steht vor Gericht, sogar als Zeuge; hat er dir einen Paß vorgezeigt?«

»Das ist nicht nötig, denn der Wirt kennt ihn.«

»Hat dieser einen Paß von ihm gesehen?«

»Das ist gleichgültig!«

»Maschallah! Der Mir Alai kennt uns, und du glaubst ihm nicht; einem gemeinen Manne aber schenkst du dein Vertrauen! Dieser ist ein Wirt, ein gewöhnlicher Kaffeesieder, der andere aber ein hoher Offizier! Wäre ich der Mir Alai, ich spräche wegen Beleidigung ein sehr ernstes Wort mit dir!«

Da schnellte, obgleich diese Worte nicht an ihn gerichtet waren, der Säfir von seinem Sitze auf und rief in zornigem Tone:

»Ist es möglich, daß ein Angeklagter hier an dieser Stelle, also vor denen, die ihn zu richten haben, sich solche Beleidigungen erlauben darf?! Er hat damit die Bastonnade verdient, die ihm augenblicklich gegeben werden sollte!«

Halef griff mit der Hand nach der Stelle seines Gürtels, wo er die Peitsche hängen hatte; er wollte eine Unvorsichtigkeit begehen; darum ließ ich ihn nicht zu Worte kommen, sondern kam ihm zuvor, indem ich dem Perser antwortete:

»Wer bist denn du, da du dir erlaubst, hier das Wort zu ergreifen? Gehörst du zur hiesigen Mehkeme, oder bist du wenigstens ein Bewohner dieser Stadt, in welchem Falle deine eigenmächtige Einmischung doch wenigstens einigermaßen zu entschuldigen wäre?«

»Wer ich bin, das geht dich gar nichts an!« antwortete er in verächtlicher Weise.

»Ich werde dir beweisen, daß es mich mehr angeht, als du jetzt zu denken scheinst. Wir haben nicht die mindeste Lust, einen Menschen sich hier einmischen zu lassen, der an einen ganz andern Platz gehört als hierher an die Seite des obersten Beamten vom Bezirke Divanijeh!«

»Wie meinst du das?«

»Das wirst du erfahren, sobald es mir beliebt; jetzt aber habe ich keine Lust, es dir zu sagen.«

»Nicht keine Lust, sondern keinen Mut hast du!«

»Pah! Denk du, was du willst! Es wird sich sicher zeigen, wer den größern Mut besitzt, du oder ich! Einstweilen will ich nur fragen, ob der Sandschaki von Divanijeh selbst weiß, was er zu thun und zu lassen hat, oder ob er einen Vormund nötig hat, der die Aufgabe besitzt, an seiner Stelle zu sprechen und zu handeln!«

»Schweig!« fuhr mich da der Sandschaki an. »Dieser Mann ist mein Freund, und ich erlaube ihm, zu sprechen, wann und was er will!«

»Was du ihm erlaubst, kommt hier gar nicht in Betracht. Die Hauptsache ist, daß ich ihm verbiete, sich in unsere Angelegenheit zu mischen. Ich bin ein christlicher Europäer, und mein Begleiter ist ein freier Haddedihn; eure Mehkeme hat also keine Macht über uns. Und wenn ich euch die Gewalt abspreche, über uns zu richten, so muß ich es mir erst recht verbitten, daß ein Mensch, der nicht einmal hierher, sondern hinüber nach Farsistan gehört, sich anmaßt, grob gegen uns zu sein. Wenn du es nicht für deine Pflicht hältst, ihm dies zu verbieten, werden wir es selbst übernehmen, ihm den Mund zu schließen!«

»Allah! Wie wolltet ihr das anfangen?«

»Das wird sich sofort zeigen, sobald er es wagt, uns wieder zu beleidigen. Es kommt nur auf mein Belieben an, so befinde ich mich nicht als Angeklagter, sondern als Kläger hier vor euern Augen. Vor allen Dingen erkennen wir unsere Zuständigkeit vor eurer Mehkeme nicht an.«

»So beweise, daß du ein Franke, und zwar ein christlicher bist!«

»Nichts ist leichter als das; es soll sofort geschehen!«

Ich trieb mein Pferd bis nahe zu ihm hin, nahm meine drei Legitimationen heraus, gab sie ihm und ließ dann den Rappen wieder an seine vorige Stelle zurückgehen. Er faltete eines der Dokumente nach dem andern auseinander, las sie durch, prüfte die Siegel und die Unterschriften sorgfältig, doch ohne ihnen die vorgeschriebenen Höflichkeiten zu erweisen, und sagte dann, wobei seiner Stimme die Enttäuschung deutlich anzuhören war:

»Es stimmt! Er ist derjenige, für den er sich ausgegeben hat. Er gehört vor einen christlichen Richter, und ich kann nichts thun, als ihn nach Bagdad bringen lassen.«

»Ganz recht!« fiel ich ein. »Und dort wird es mein erstes sein, zu bezeugen, daß du dem Siegel und der Unterschrift des Padischah die schuldige Ehrerbietung verweigert hast. Es scheint, ich als Christ und Ausländer kenne die Pflichten, welche du zu erfüllen hast, weit besser als du selbst! Und nun du dich überzeugt hast, wer ich bin, legitimiere ich meinen Begleiter als den weitbekannten Hadschi Halef Omar, welcher der oberste Scheik sämtlicher Haddedihn ist vom großen Stamme der Schammar. Ich hoffe, daß niemand es wagt, an der Wahrheit meiner Worte zu zweifeln!«

Da fiel der Säfir schnell ein:

»Ich bezweifle sie! Diese Legitimationen sind gefälscht. Er will der gerechten Strafe durch sie entgehen. Man muß sie zerreißen, sofort zerreißen; dann gehört er uns und kann nichts gegen das Urteil der Mehkeme machen. Gieb sie her; gieb sie mir!«

Er griff zu und riß sie dem Sandschaki aus der Hand. Die Dokumente befanden sich in der größten Gefahr; ich durfte keinen Augenblick zögern, sie zu retten, riß den Revolver aus dem Gürtel, richtete ihn auf den Säfir und befahl:

»Laß sie fallen, augenblicklich fallen! Sobald auch deine andere Hand zugreift, zerschmettere ich sie dir!«

Er hielt die Schriftstücke in der Linken; mit einer Hand allein konnte er sie nicht zerreißen; dazu gehörte auch die Rechte noch.

»Du wirst dich hüten, vor der Mehkeme auf mich zu schießen!« lachte er. »Sieh her, wie die Fetzen fliegen werden!«

Er griff mit der andern Hand zu; ich gab sofort zwei Schüsse ab. Er ließ die Legitimationen fallen, stieß einen Schrei aus, warf die verletzte Hand empor und kam auf mich zugesprungen. Ein scharfer Druck meiner Kniee – der Hengst that einen Sprung auf ihn zu und riß ihn nieder. Im nächsten Augenblicke war ich aus dem Sattel, hob mit der linken Hand die Dokumente auf, schlug mit der Rechten dem Säfir den Revolvergriff an den Kopf, daß er, schon halb aufgerichtet, wieder niederstürzte, und schwang mich wieder in den Sattel.

Die ehrwürdigen Mitglieder der Mehkeme waren, wie von Spannfedern getrieben, emporgeschnellt. Sie schrieen vor Entsetzen über meine Missethat: der Oberst aber rief ein wiederholtes »Afarim!« Die Zuschauer schrieen auch; es gab eine Scene der Aufregung, welche ich nicht, ohne sie zu benutzen, vorübergehen ließ:

»Jetzt fort, Halef, fort!«

Indem ich dem Hadschi diese Worte zuwarf, trieb ich mein Pferd durch die lebhaft gestikulierenden und wirr durcheinander rufenden Leute; er folgte mir sofort. Wir galoppierten über den Hof hinüber nach der Stelle, welche ich vorher bezeichnet hatte; es war eine Wonne, mit welcher Leichtigkeit wir über die Mauer hinaus auf die Gasse kamen, die sehr schmal war, aber recht bald in eine breitere mündete. Dann ging es schlank durch die Stadt, bis wir sie hinter uns hatten und uns auf dem uns wohlbekannten Weg nach Bagdad befanden. Da fragte Halef:

»Warum solche Eile, Sihdi? Wer solche Pferde reitet wie wir, kann doch von keinem Menschen eingeholt werden!«

»Das ist wahr; aber ich will den Anschein erwecken, daß wir froh sind, Hilleh hinter uns zu haben, und gar nicht daran denken, jemals wiederzukommen.«

»Willst du denn zurückkehren?«

»Natürlich!«

»Wann?«

»Schon heute.«

»Hamdulillah! Ich ahne den Grund; ich weiß, was du beabsichtigst.«

»Was?«

»Du hast dem Säfir die Hand zerschossen; aber das ist noch nicht genug; du willst noch weiter mit ihm abrechnen. Ist diese Vermutung richtig?.«

»Ja.«

»So sage ich dir, daß dieser dein Entschluß wie aus meiner eigenen Seele kommt. Er hat unsern Mut bezweifelt; wir werden ihm beweisen, daß wir von dieser Gabe Allahs mehr besitzen, als er jemals besessen hat!«

»Was das betrifft, so ist es mir sehr gleichgültig, ob er mich für feig oder für mutig hält; aber der Mehkeme und besonders dem Sandschaki will ich zeigen, wer vor das Gericht gehört, der Perser oder wir.«

»Wie, Sihdi? Du willst die Mehkeme wieder zusammenrufen lassen?«

»Ja.«

Da trieb er seinen Hengst zu einem Luftsprunge an und rief, indem sein Gesicht vor Freude förmlich strahlte, jubelnd aus:

»Welche Wonne, welche Seligkeit! Das ist es, was ich liebe und was so ganz nach meinem Herzen ist. Respekt müssen sie vor uns bekommen, Respekt vor dir und mir! Einsehen müssen sie, daß sowohl die Eigenschaften unserer Vorzüge als auch die Vorzüge unserer Eigenschaften von ihnen niemals erreicht werden können! Zur Erkenntnis müssen sie kommen, daß wir eine Beispiellosigkeit aller Unvergleichlichkeiten besitzen, vor welcher alle unsere Feinde in den Staub zu sinken haben. Ich werde sie auffordern, uns doch einmal einen Menschen zu nennen, dem Allah so viele und so herrliche Gaben des Körpers und des Geistes wie uns verliehen hat! Sie müssen in tiefster Demut und Unterwürfigkeit – –!«

»Still, Halef!« unterbrach ich ihn lachend. »Wenn ich dich so fortsprechen lasse, wirst du noch erhabener, als sogar Allah ist. Denk an die Ehrfurcht gebietende Majestät, mit welcher wir gestern abend von den Ziegeltrümmern herab- und den Soldaten geradezu in die Hände gefallen sind, dann wirst du dir gewiß etwas weniger bewundernswürdig erscheinen!«

»O, Sihdi, erinnere mich doch nicht an diesen Sturz! Bin ich etwa der Erbauer von Babylon? Kann ich dafür, daß die Ziegel nicht mehr zusammenhalten? Du behauptest, mich lieb zu haben, und bist doch so ungerecht gegen mich! Du hast ganz denselben Fall gethan; aber werfe ich ihn dir etwa vor? Ist das nicht ein Beweis, daß mein Verstand mehr Bildung des Herzens besitzt als der deinige? Doch, ich will dich nicht kränken, denn ich bin dein wahrer Freund, und als solcher rate ich dir, niemals wieder eine solche Kletterei wie gestern zu unternehmen!«

»Ich muß leider bezweifeln, diesen guten Rat befolgen zu können.«

»Warum?«

»Weil wir zum Birs Nimrud zurückkehren und da wahrscheinlich noch mehr zu klettern haben werden, als gestern.«

»Auf welchem Wege gedenkst du, das zu thun? Etwa durch die Stadt zurück?«

»Nein. Wir müssen über den Euphrat.«

»Schwimmen?«

»Vielleicht; aber wenn es uns möglich ist, ein Floß zu bauen, werden wir das natürlich vorziehen.«

»Und wann kehren wir um?«

»Jetzt noch lange nicht. Es ist sicher, daß wir verfolgt werden, und wir müssen den Anschein erwecken, daß wir so schnell wie möglich nach Bagdad wollen. Darum ist es notwendig, uns im nächsten Khan für kurze Zeit sehen zu lassen und dann noch ein Stück über denselben hinauszureiten. Unsere Verfolger werden wahrscheinlich bis zu diesem Khane reiten, dann aber umkehren, wenn sie erfahren, was für einen Vorsprung wir ihnen mit unsern bessern Pferden abgewonnen haben. Wir müssen uns also beeilen, obgleich wir uns nicht zu fürchten brauchen.«

Wir waren während dieser Auseinandersetzungen soweit gekommen, daß wir jetzt el Kulea links von uns am Euphrat liegen hatten; nun ging es auf den Wardijeh-Kanal zu. Als dieser passiert worden war, erreichten wir Dschimtschima, von wo aus sich hohe Erdwälle in gerader Linie nach Nordost ziehen, um dann im rechten Winkel und nordwestlicher Richtung nach dem Flusse zurückzukehren; wahrscheinlich bezeichnen sie die Eindämmungen des früheren, alten Euphratlaufes. Hierauf kamen wir an dem an allen Seiten zerrissenen Tell Amran Ibn Ali vorüber, welcher diesen arabischen Namen von einem muhammedanischen Heiligen hat, der hier begraben liegt, und sahen dann die gewaltigen Trümmerhaufen des Kasr sich erheben. Kasr heißt soviel wie Schloß; dieser Name hängt mit der Bedeutung dieser Ruine zusammen, denn das Kasr ist das Residenzschloß Nabuchodonosors gewesen, welcher sich diese Wohnung baute, nachdem seine Vorfahren in einem auf der rechten Seite des Euphrat gelegenen Schlosse residiert hatten. Die Ruinen sind noch jetzt 400 Meter lang und 350 Meter breit, und doch soll dieses Schloß, wie der jüdische Geschichtsschreiber nach dem Chaldäer Berosus berichtet, in nur fünfzehn Tagen errichtet worden sein. Selbst wenn man annimmt, daß sämtliche Materialien vorher erst vollständig fertiggestellt und herbeigeschafft worden sind, um nur noch zusammengesetzt zu werden, erscheint diese Angabe unglaublich; allein es wurde eine jetzt in London befindliche Keilinschrift ausgegraben, welche neben andern wichtigen Stellen auch die folgende enthielt: »ina XV yumi sibirsa usaklil«, zu deutsch: »in fünfzehn Tagen habe ich dieses herrliche Werk vollendet«. Wieviel Tausende von Menschenhänden haben dazu gehört, den Bau in so kurzer Zeit zustande zu bringen! Und dieses gewaltige Unternehmen war nur eines von den vielen, welche von Nabuchodonosors Unternehmungsgeist und Thatkraft zeugen! Die erwähnte Inschrift sagt freilich auch in sehr stolzer Weise in Beziehung hierauf: »Ich habe den Palast errichtet, den Sitz meines Königtumes, das Herz Babels im Lande Babylonien; ich habe seine Fundamente tief unter dem Flußspiegel legen lassen; ich habe den Bau dokumentiert auf Cylindern, von asphaltiertem Mauerwerk umschlossen. Mit deinem Beistande, o erhabener Gott Merodach, habe ich diesen unzerstörbaren Palast errichtet. Möge der Gott in Babel thronen; möge er dort seine Wohnung nehmen; möge er ihre Einwohner siebenfach mehren; möge er durch mich das Volk Babyloniens beherrschen bis zu den fernsten Tagen!« Die heilige Schrift aber sagt:2 »Nachdem zwölf Monate um waren, da er auf der Burg zu Babylon wandelte, hub der König an und sprach: »Ist das nicht das große Babylon, das ich zur Wohnung des Königs erbaute durch meine starke Macht und zu Ehren meiner Herrlichkeit?« Und als der König das Wort noch im Munde hatte, fiel eine Stimme vom Himmel: »Dir, o König Nabuchodonosor, wird gesagt: Dein Reich soll dir genommen werden, und man wird dich von den Menschen verstoßen, und deine Wohnung wird bei den wilden Tieren sein; Gras wirst du fressen wie ein Ochs, und sieben Zeiten werden über dir ablaufen, bis du erkennst, daß der Allerhöchste im Reiche der Menschen herrschet, und dasselbe giebt, wem er will!« Dieses Gericht ging an ihm in Erfüllung, als der Größenwahn seinen Geist umnachtete. Noch nicht hundert Jahre später kam Cyrus, der Eroberer Babylons, und später machte Alexander der Große der persischen Satrapenherrschaft ein Ende, um, noch jung und voller Thatenlust, in diesem Palaste zu sterben. Der »unzerstörbare«, wie die Keilinschrift ihn nennt, liegt nun seit ungezählten Jahren in Trümmern!

Nördlich davon erreichten wir die Mudschelibeh, auch Maklubeh edar Babil genannt, die durch diesen letzteren Namen allein noch an das alte Babylon erinnert. Das sind die Trümmermassen der sogenannten hängenden Gärten, deren unendlich kostspielige Anlage auf den nicht ganz geheilten Wahnsinn Nabuchodonosors deuten,

Später passierten wir den Nil-Kanal und machten dann am Tell Ukraïneh einen kurzen Halt, um die Pferde verschnaufen zu lassen. Kein Mensch war uns bisher begegnet; jetzt aber sahen wir drei Reiter, welche es sehr eilig zu haben schienen. Sie kamen nicht direkt vom Khan Mohawid her, sondern schienen ihn in einem Bogen umritten zu haben und lenkten erst nun in den von ihm herkommenden Weg ein. Es war daraus zu schließen, daß sie Ursache hatten, sich dort nicht sehen zu lassen. Wer sich aber vor den Augen anderer zu scheuen hat, erregt Verdacht, und so sahen wir ihnen mit begründetem Mißtrauen entgegen.

Als sie sich uns weit genug genähert hatten, sahen wir, daß sie persisch gekleidet waren, und einige Sekunden später erkannten wir sie.

»Maschallah!« sagte Halef. »Das ist ja der Pädär-i-Baharat mit seinen beiden Halunken! Welch ein Zusammentreffen! Wer hätte das für möglich gehalten!«

»Es war nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich,« antwortete ich. »Wir wissen ja, daß der Pädär-i-Baharat von dem Säfir erwartet wird.«

»Warum bist du da nicht auf den Gedanken gekommen, ihm auszuweichen?«

»Weil es nicht nötig ist, eine offene Begegnung mit ihm zu scheuen. In Bagdad hatten wir uns vor einem hinterlistigen Überfalle in acht zu nehmen; hier aber giebt es nicht den geringsten Grund, uns vor ihnen zu verbergen. Ich denke vielmehr, daß sie es sind, welche Ursache haben, uns zu meiden.«

»Das ist sehr richtig, Effendi. Jetzt aber bin ich neugierig, wie sie sich verhalten werden. Ich werde aus Fürsorge die Peitsche aus dem Gürtel nehmen!«

Wir hatten uns, als wir abgestiegen waren, auf den Boden niedergesetzt, und zwar so, daß die Pferde zwischen uns und den Nahenden standen; darum konnten sie uns nicht eher erkennen, als bis sie uns erreicht hatten. Als da aber die Augen des Pädär-i-Baharat auf uns fielen, riß er unwillkürlich sein Pferd zurück und stieß einen Fluch zorniger Überraschung aus.

»Seht, wer da sitzt!« rief er seinen Gefährten zu. »Allah giebt sie in unsere Hände; wir wollen sie sofort zum Schejtan senden!«

Er nahm sein Gewehr nach vorn, um es auf uns anzulegen; aber Halef war ihm zuvorgekommen, indem er das seinige auf ihn gerichtet hatte, und antwortete mit der Drohung:

»Thu sofort die Flinte weg, sonst frißt dich meine Kugel! Du wärst der Kerl, uns zu dem zu schicken, zu dem du selbst gehörst! Macht euch nur schleunigst davon, sonst werden euch die Schwielen von letzthin aufgewärmt!«

Da auch ich, um die Sache abzukürzen, meinen Stutzen in Anschlag nahm, getraute sich keiner von ihnen, einen Schuß zu wagen; aber der Grimm des Pädär war so groß, daß er trotz der auf ihn gerichteten Gewehre halten blieb und uns zuschrie:

»Denkt ja nicht, ihr Hunde, daß euch das, was ihr gethan habt, geschenkt wird! Wir treffen euch auf alle Fälle wieder, und dann werden wir Riemen aus euren Fellen schneiden, um euch damit totzupeitschen. Allah zerschmettere alle eure Knochen!«

Nun ritten sie weiter. Für Halef war es natürlich unmöglich, auf diese Drohung zu schweigen; er rief ihm nach:

»Die deinigen koche der Teufel und gebe sie seiner Urahne als Bulamadsch es Suwehd zu essen!«

Dann wendete er sich lachend an mich:

»Sihdi, habe ich das nicht gut gemacht mit dem Bulamadsch es Suwehd?«

»Ja, du bist außerordentlich geistreich gewesen; ich bewundere dich, lieber Halef!«

»Spotte nicht! Ich mußte ihm doch antworten, denn es wäre eine Feigheit von mir gewesen, ihm das letzte Wort zu lassen. Wie kann dieser Dummkopf drohen, daß er uns wiedertreffen und sich dann rächen werde? Er sieht ja, daß wir uns auf dem Wege nach Bagdad befinden!«

»Da irrst du. Er hat uns nicht reiten, sondern nur hier sitzen sehen; er weiß also nicht, daß wir schon in Hilleh waren, sondern ist der Meinung, daß wir aus Bagdad kommen und von ihm eingeholt worden sind. Darum ist er so überzeugt, uns wiederzusehen.«

»Das kann leicht möglich werden, da wir doch nach dem Birs Nimrud zurückwollen. Er wird freilich von dem Säfir erfahren, daß wir schon dort gewesen und jedenfalls nach Bagdad geritten sind.«

»Viel wichtiger als dieses ist mir der Umstand, daß der Pädär-i-Baharat den Khan Mohawid vermieden hat. Es muß eine Ursache dazu vorhanden sein.«

»Aber welche wohl, Effendi?«

»Ich vermute, daß sich Leute dort befinden, die ihn nicht sehen sollen. Errätst du, wer das ist?«

»Erraten? Ich? Sihdi, du weißt, daß ich alle Dinge durchschaue, sobald sie den Mut besitzen, mir vor die Augen zu kommen; aber was sich vor meinem Angesicht verbirgt, das kann ich doch nicht sehen; darum habe ich das Erraten stets dir überlassen und bleibe dieser Gewohnheit auch in dem gegenwärtigen Falle treu. Also sag du, wer es ist!«

»Mit Gewißheit kann natürlich auch ich es nicht bestimmen, aber ich denke, daß ich mit meiner Vermutung das Richtige treffe. Ich ahne nämlich, daß es die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi ist, welche im Khane Einkehr gehalten hat. Es sind Leute bei dieser Karawane, welche den Pädär kennen; darum sandte ja der Säfir die beiden Boten, ihn zu warnen. Er ist auch ohne diese Warnung auf seiner Hut und hat einen Umweg gemacht, um nicht gesehen zu werden. Nun sucht er den Säfir auf, um ihm zu melden, daß der Pischkhidmät Baschi schon nahe ist und der Überfall der Karawane nun bald stattfinden kann.«

»Sihdi, denkst du nicht, daß wir diese Leute warnen müssen?«

»Ja, das ist unsere Pflicht. Hoffentlich schenken sie uns Glauben!«

»Warum sollten sie die Wahrheit dessen, was wir sagen, bezweifeln?«

»Es ist mir oft geschehen, daß grad solche wohlgemeinte Warnungen mit Undank zurückgewiesen wurden. Können wir Beweise bringen, wenn man welche verlangt?«

»Eigentliche Beweise freilich nicht; aber wenn es einer wagen sollte, mir in das Gesicht zu sagen, daß er uns keinen Glauben schenke, so erleuchte ich seinen dunkeln Verstand mit den Strahlen meiner Peitsche. Komm, laß uns weiterreiten! Ich möchte gern sobald wie möglich wissen, ob es wirklich die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi ist, die wir sehen werden.«

Wir setzten unsern Ritt fort, sahen nach noch nicht einer halben Stunde den Khan vor uns liegen und lenkten in das Thor desselben ein. Als wir den Hof vor uns liegen sahen, zeigte uns der erste Blick, daß die Karawane hier war. Es gab außer ihr mehrere Gruppen von Pilgern und Leichentransporteuren, welche sich aber bescheiden in die Winkel zurückgezogen hatten, denn der Zug des Kammerherrn war so reich ausgestattet, daß sich niemand in die Nähe der zu ihm Gehörigen wagte. Wir aber ritten ungeniert zwischen den Personen hindurch, um an dem Brunnen abzusteigen. Dieses ungezwungene Verhalten schien ihr Mißfallen zu erregen; wir hörten sie darüber murren und bemerkten gar wohl die unfreundlichen Blicke, welche sie uns deshalb zuwarfen, machten uns aber nichts daraus.

Die Karawane zählte zwölf wohlbewaffnete Reiter zu Pferde und sechs Lastkamele, welche mit, wie es schien, wertvollen Paketen beladen waren. Die Pferde gehörten dem mittelguten persischen Schlage an; eines von ihnen aber war das wirklich schöne Produkt einer Kreuzung zwischen arabischer und turkmenischer Rasse. Es schien dem Pischkhidmät Baschi zu gehören und trug ein reiches, silberplattiertes Geschirr. Dieses Zurschautragen der Wohlhabenheit war für die hiesigen Verhältnisse nichts weniger als klug, sie forderte die Raublust geradezu heraus.

Im Schatten der Plattform war ein kostbarer Teppich ausgebreitet, auf welchem der »Kammerherr«, seine Hukah rauchend, Platz genommen hatte. Er war ein schwarzbärtiger Mann in den dreißiger Jahren und so splendid gekleidet, daß man sein Bestreben, seinen hohen Stand zur Geltung zu bringen, nicht verkennen konnte. Sein Anzug war mit echt goldenen Borden und Tressen besetzt; ein weicher Kaschmirshawl schlang sich um seine Hüften; die schwarze, hohe Schmaschenmütze gehörte wohl zu den teuersten, die ich gesehen hatte, und seine Waffen funkelten nur so von eingelegter Arbeit. Welch eine Unvorsichtigkeit inmitten einer Bevölkerung, die den Raub nicht als ein Verbrechen, sondern nur als lohnenden Sport betrachtet! Ähnlich, wenn auch nicht so kostbar, waren auch seine Begleiter gekleidet und bewaffnet.

Als wir abgestiegen waren, schickte er einen dieser Leute mit der Aufforderung zu uns, zu ihm zu kommen.

»Was sollen wir bei ihm?« fragte ich.

»Ihm pflichtschuldigst sagen, wer und was ihr seid, und ihm beweisen, daß euch das Recht zusteht, in seiner beglückenden Nähe zu verweilen.«

»So! Wer ist denn er?«

»Er ist der Pischkhidmät Baschi des Beherrschers der Welt und darf den Titel Aemin-i-Huzur führen.«

Der Mann sagte das in einer so dünkelhaften Weise, und in den Gesichtern seiner dabeistehenden Gefährten lag eine solche Fülle der Anmaßung, daß ich in abweisendem Tone antwortete:

»Des Beherrschers der Welt? Wo giebt es einen Regenten, der die Welt beherrscht? Pischkhidmät Baschi? Also ein Angestellter, welcher Dienste zu verrichten hat! Aemin-i-Huzur? Also Vertrauter einer andern Gegenwart, aber nicht der meinigen! Ich bin kein Diener wie er; wie kannst du sagen, daß ich mich ihm pflichtschuldigst zu nahen habe!«

»So weigerst du dich also?« fragte er streng.

»Weigern? Pah! Bin ich ein Kammerdiener, der unter seinem Befehle steht? Befinden wir uns etwa in Persien? Ihr seid hier fremd, und wir sind es auch; ihr seid hier eingekehrt, um auszuruhen, und wir befinden uns zu demselben Zwecke hier; wir haben gleiche Rechte. Es ist mir vollständig gleichgültig, wer ihr seid; was geht es euch an, wer ich bin? Wenn euer Pischkhidmät Baschi mir einen Wunsch vorzutragen hat, so mag er zu mir kommen; zu befehlen hat uns hier kein Mensch etwas!«

»Du willst also nicht hin zu ihm?« erkundigte er sich in demselben rücksichtslosen Tone wie vorher.

»Nein.«

»So werden wir euch zu zwingen wissen!«

»Versuche es! Du hast seine Nähe eine ›beglückende‹ genannt; wir aber wissen, daß das Glück an ganz andern Orten zu suchen ist, als in der Nähe von Leuten, welche nicht einmal die Regeln der allereinfachsten Höflichkeit, die der gewöhnliche Mensch besitzen muß, kennen gelernt haben.«

»Das ist eine Beleidigung! Wenn ihr uns nicht gutwillig folgt, werden wir Gewalt anwenden!«

Ich setzte mich an den Rand des Brunnens, nahm meinen Henrystutzen zur Hand, deutete auf eine fern von uns gezogene Schnur, an welcher der Khandschi Zwiebeln aufgehängt hatte, und sagte:

»Seht dort die Baßal-Reihe! Ich werde die ersten fünf auf der linken Seite treffen. Paßt auf!«

Der Hof war groß; die Zwiebeln hingen in einer Entfernung von vielleicht neunzig Schritten von uns; ich drückte fünfmal los, und jeder Schuß traf die angegebenen Ziele. Einige der Perser eilten hin, um sich zu überzeugen; als sie wieder kamen, meldeten sie mit Erstaunen, daß ich alle fünf Zwiebeln, ohne wieder zu laden, obgleich mein Gewehr doch nur einen Lauf besitze, getroffen habe.

»Es ist ein Zaubergewehr,»erklärte Halef. »Dieser weltberühmte Emir und Effendi schießt und trifft zehntausend und noch mehrmal, ohne nur zu laden. Was seid ihr gegen uns!«

Er machte dabei eine wegwerfende Handbewegung. Ich fügte in ruhigem Tone hinzu:

»Ich wollte euch nur zeigen, was ihr zu erwarten habt, wenn ihr auch nur eine Hand gegen uns zu erheben wagt. Ihr seid zwölf Personen; und in zwölf kurzen Augenblicken werden euch zwölf Kugeln aus diesem Gewehre zur Erde gestreckt haben. Nun thut, was ihr nicht lassen könnt!«

Sie standen da und schauten einander verlegen an. Der Henrystutzen hatte, wie immer, seine Schuldigkeit gethan und ihnen Respekt eingeflößt. Der »Oberste der Kammerherren« war natürlich Zeuge des Vorganges gewesen; auch er war besorgt geworden; er rief seinen Leuten zu:

»Geht weg von ihm! Mit so rücksichtslosen, groben und gewaltthätigen Menschen, wie diese beiden Männer sind, können Leute, welche unter dem majestätischen Schutze des Allbeherrschers wandeln, nicht verkehren. Sie sind aus der tiefsten Stufe der Bevölkerung geboren und im Dunkel der Unwissenheit erzogen worden; darum ist ihr Betragen dasjenige ganz ungebildeter Personen; man beschmutzt sich mit ihnen. Wir verachten sie!«

Auf diese Worte zogen sich seine Untergebenen augenblicklich von uns zurück; es trat aber noch eine andere Wirkung ein, die er wahrscheinlich nicht vermutet hatte. Mein leicht erregbarer und in Beziehung auf den Ehrenpunkt höchst empfindlicher Hadschi glaubte nämlich, die Beleidigung, welche in den Ausdrücken des Kammerherrn lag, nicht auf sich sitzen lassen zu dürfen. Er sprang von dem Brunnenrande, auf welchem er mit mir saß, herunter, schnellte zu dem Perser hin und herrschte ihn zornig an:

»Was hast du gesagt? Von der tiefsten Stufe der Bevölkerung und dem Dunkel der Unwissenheit hast du gesprochen? Du kennst wohl diese Stufe und dieses Dunkel aus eigener Erfahrung sehr genau? Uns beiden sind sie unbekannt! Auch hast du gewagt, das Wort der Verachtung über deine niemals abgewischten Lippen zu bringen? Wer bist du denn eigentlich, daß es dir beifällt, in diesem hohen, aber halsbrecherischen Tone mit uns zu sprechen? Du kriechst in der Kammer deines Gebieters herum wie eine niedrige Sakkaja in den Löchern der Erde; du sinkst vor ihm auf die Kniee und schlägst mit deiner Stirn den Boden zu seinen Füßen. Du bist ein Diener seiner Einfälle und ein Sklave seiner Launen. Die Kleider und die Waffen, in denen du dich brüstest, hast du dir nicht erworben wie ein Mann, welcher Ehre besitzt, sondern er hat sie dir geschenkt, weil du seinen Speichel wie Honig verzehrst. Wir aber sind die freien Herren und Gebieter unserer selbst. Wir thun, was uns beliebt, und beugen unsere Nacken vor Allah allein, aber vor keinem einzigen seiner Geschöpfe, auch dann nicht, wenn sich dasselbe so lächerlicherweise ›Beherrscher der Welt‹ nennen läßt. Wer steht da höher, wir oder du? Und wem gehört die Verachtung, welche an unsere Ohren drang, uns oder dir?«

Der kleine mutige Kerl hatte diese Strafrede so schnell hervorgesprudelt, daß es unmöglich gewesen war, ihn zu unterbrechen; nun aber, als er eine Pause machte, um Atem zu holen, riß der Oberste der Kammerherren den Dolch aus dem Gürtelshawl und antwortete in zornigem Tone:

»Schweig, Hund! Wenn du noch ein einziges solches Wort sagst, steche ich dich nieder oder lasse dich durchpeitschen, daß dir die Haut auseinanderspringt!«

Auch seine Leute nahmen eine drohende Haltung an; dem Hadschi aber fiel es ganz und gar nicht ein, sich bange machen zu lassen. Er deutete auf mich, der ich den Stutzen schußbereit in den Händen hielt, und erwiderte, indem er laut auflachte:

»Was sagtest du? Wie war das? Mich erstechen? Sieh dort meinen Effendi an! Ehe du den Dolch erhoben hättest, würde seine Kugel dir durch den Schädel fahren. Und mich schlagen lassen? Hast du eine Peitsche? Ich sehe keine. Schau aber du doch einmal her an meine Seite! Da hängt eine Kurbadsch, welche aus liebevoll verbundenen Nilhautstreifen zusammengeflochten ist; die hat schon mit dem Rücken manch eines Menschen gesprochen, der sich höher dünkte, als seine Nase reichte, und von uns niedergebogen wurde, um durch unsere Hiebe zur Demut und Bescheidenheit gebracht zu werden. Bilde dir ja nicht ein, daß wir uns vor euch fürchten, weil ihr zwölf Personen seid und wir sind nur zwei! Es ist uns niemals eingefallen, unsere Gegner zu zählen; je mehr ihrer sind, desto lieber ist es uns, und so sage ich auch euch ganz aufrichtig, was wir zu thun gesonnen sind: Mein Effendi hält euch mit seinem Gewehre in Schach; er wird jeden, der die Hand erhebt, sofort über den Haufen schießen; ich aber nehme, wie du siehst, jetzt meine Kurbadsch vom Gürtel und schlage sie dem um die Ohren, der noch ein einziges Wort der Beleidigung zu uns spricht. Du hast mich)Hund‹ genannt; nimm dich in acht, und zwinge mich ja nicht, dir zu zeigen, wer hier als Herr auftreten und wer als Hund behandelt wird!«

Er stand vor dem Perser, welcher von seinem Teppich aufgesprungen war, und fuchtelte ihm drohend mit der Peitsche vor dem Gesicht herum. Der Zurechtgewiesene war natürlich wütend; unter andern Verhältnissen hätte er sich auch anders verhalten; aber er sah den Lauf meines Gewehres gerade auf sich gerichtet und meinen Finger am Drücker, und das hielt ihn ab, zu handeln, wie er sonst gehandelt hätte. Vielleicht nahm er an, daß meine drohende Haltung nicht für ihn gefährlich sei, daß ich doch nicht schießen würde; aber zwischen Vermutung und Gewißheit ist ein großer Unterschied, und er besaß nicht den Mut, diesen Unterschied kennen zu lernen. Man sah ihm an, daß er nach einer Weise suchte, sich ohne Blamage aus der Affaire zu ziehen, und es trat auch wirklich ein Umstand ein, der seiner Verlegenheit zu Hilfe kam.

Die Scene hatte selbstverständlich die Aufmerksamkeit auch der andern im Khane Anwesenden erregt; sie waren herbeigekommen, um zu beobachten, wie dieselbe verlaufen werde. Da stand der Khandschi mit einigen Soldaten, welche ihm zum Schutze des Ortes beigegeben waren. Er hatte als erster Beamter hier die Verpflichtung, auf Ruhe und Ordnung zu sehen, schien aber ein bequemer und wenig thatkräftiger Mann zu sein, dem es gar nicht einfiel, sich mit unserer Angelegenheit zu beschäftigen. Seine Soldaten lächelten vergnügt vor sich hin; ihnen machte das Intermezzo Spaß; das gab doch einmal eine amüsante Unterbrechung des alltäglichen und langweiligen Einerlei, zu dem sie hier verurteilt waren. Die Pilger, Leichentransporteure und anderen Personen verhielten sich ebenso. Nur einer von ihnen schien Lust zu haben, sich persönlich beteiligen zu wollen. Sein scharf geschnittenes, von der Sonne gebräuntes Gesicht war lebhaft bewegt; er blieb nicht ruhig stehen, sondern bewegte sich hin und her, um bald Halef, bald mich genauer und forschend zu betrachten. Ich sah es ihm an, daß er etwas vorhatte, und als er jetzt den Perser so unentschlossen stehen sah, trat er zu ihm hin, verbeugte sich tief vor ihm und sagte:

»Hazreti, verzeih, daß ich ein Wort an dich richte! Ich kann dir über diese beiden Männer Auskunft geben.«

»Wer bist du?« fragte ihn der Angeredete, sichtlich erfreut, aus seiner Unschlüssigkeit erlöst zu werden.

»Ich war ein tapferer Krieger des Beduinenstammes der Obeïde, bin aber wegen diesen Leuten, die Allah zerreißen möge, ausgestoßen worden und muß nun, um nicht hungern zu müssen, der Diener fremder Menschen sein.«

Das Gesicht dieses Mannes kam mir bekannt vor, doch konnte ich mich nicht besinnen, wann und wo ich es gesehen hatte; da kam Halef zu mir zurück und sagte mit leiser Stimme.

»Sihdi, ich erkenne ihn; er ist einer der beiden Spione, welche wir damals mit der Schande bestraften, daß wir ihnen die Bärte abschneiden ließen.«3

Jetzt besann ich mich auch; Halef hatte recht. Die zwei Beduinen waren durch diese Bestrafung ehrlos geworden und infolgedessen von ihrem Stamm verstoßen worden; jetzt ergriff der Mann die sich ihm so unerwartet bietende Gelegenheit, sich an uns zu rächen. Mir war gar nicht bange dabei, und Halef setzte sich mit erwartungsvollem Lächeln wieder neben mich auf den Brunnenrand.

Der Perser ließ sich wieder auf seinen Teppich nieder, steckte den Dolch in den Shawl, ließ eine möglichst würdevolle Miene sehen und forderte nun den einstigen Obeïde auf:

»Erzähle mir, was du von ihnen weißt! Wenn du eine gerechte Sache gegen sie hast, sind wir bereit, dir beizustehen.«

»Meine Sache ist nicht nur eine gerechte, sondern eine blutige,« kam der Beduine dieser Aufmunterung nach, »denn eine Schande, wie sie mir angethan worden ist, kann nur mit Blut vergolten werden. Der Stamm der Haddedihn fing damals Streit mit den Obeïde an; wir rüsteten zum Kriege, und unser Scheik sandte zwei Kundschafter aus, die Absichten der Haddedihn zu erforschen. Einer dieser Kundschafter war ich; Allah wollte, daß wir Unglück hatten; wir wurden ergriffen und zu alten Weibern gemacht, indem man uns die Bärte schor. Dadurch ging unsere Ehre verloren, und wir wurden von den Unserigen ausgestoßen.«

»Du sprichst von dir, wolltest aber doch von ihnen reden!«

»Verzeih; es wird sofort geschehen! Ich kannte diese Männer damals noch nicht, habe sie aber später genau kennen gelernt und sehr viel über sie gehört. Der Kleine dort heißt Hadschi Halef Omar und ist jetzt der Scheik der Haddedihn – – –«

»Was sind die Haddedihn? – Sunniten?«

»Ja.«

»So wird Allah sie und ihn verfluchen und verderben! Wie darf er es wagen, diesen Khan zu betreten, der nur für die gläubigen Bekenner der heiligen Schia erbaut worden ist! Sobald er fort ist, muß dieser Ort von seinem Gestanke gereinigt werden!«

»Allah, Wallah! Der Gestank des andern ist noch viel größer!«

»Wieso?«

»Weil er weder ein Sunnit noch ein Schiit, sondern überhaupt kein Moslem ist.«

»Was denn? – Etwa ein verfluchter Jehudi

»Nein, sondern noch schlimmer, denn er ist ein ungläubiger Nasrani

»Ein Nasrani?« fuhr der Perser auf. »Ist das möglich? Ist das auch nur denkbar? Hat man eine so verfluchte Entweihung des heiligen Pilgerweges jemals erlebt? Was ist da zu thun! Ermannt euch, ihr Leute; es ist eine Bestie, ein nach Verwesung duftendes Aas in unserer Mitte! Werft euch auf den Kerl, schafft ihn, lebend oder tot, vor das Thor hinaus!«

Halef griff wieder nach seiner Peitsche und wollte vom Brunnenrande herunterrutschen; ich hielt ihn zurück und sagte:

»Bleib! Es wird jetzt interessant. Ich bin neugierig, ob sie den Mut besitzen, sich an mir zu vergreifen.«

Sie besaßen ihn nicht; sie fluchten und schimpften in allen Tonarten, blieben aber da stehen, wo sie standen. Der Obeïde bestärkte sie in dieser Feigheit, indem er die Warnung aussprach:

»Seid nicht unvorsichtig, sondern nehmt euch in acht! Dieser Ungläubige ist euch unbekannt, ich aber kenne ihn, denn ich habe alles gehört, was man von ihm berichtet.«

»Du widersprichst dir doch!« warf der Kammerherr ein. »Erst klagst du ihn an, und dann warnst du uns vor ihm!«

»Weil ich nicht will, daß ihr gegen ihn unterliegen sollt.«

»Wir sind ihm überlegen!«

»Im Kampfe nicht! Er ist stark und geschmeidig wie ein Panther und erlegt den Löwen des Nachts mit einer einzigen Kugel. Das große, schwere Gewehr, welches dort neben ihm lehnt, hat Geschosse, welche mehrere Tagreisen weit fliegen und dann noch jeden treffen, den er will, denn ihm hilft der Scheitan, mit welchem er ein Bündnis geschlossen hat. Und mit dem kleinen Gewehre kann er, obgleich er niemals zu laden braucht, soviel tausend- und millionenmal schießen, wie er will, denn es ist in der Hölle angefertigt worden, wo alle seine Ahnen und Urvorväter wohnen. Im Kampfe könnt ihr nichts gegen ihn erreichen; es giebt nur ein einziges Mittel, ohne Schaden für sich selbst mit ihm fertig zu werden; das ist die List!«

Ich hätte bei diesen Worten beinahe laut aufgelacht. Daß er in meiner Gegenwart die List empfahl, war doch ein gar zu auffälliger Beweis dafür, daß er selbst von diesem Artikel keine Spur besaß. Auch der Perser sah dies ein; er schaute ihn erstaunt an, schüttelte den Kopf und sagte:

»Wir sollen uns nicht an ihn wagen, sondern listig sein? Und das sagst du uns vor seinen eigenen Ohren?«

»Warum nicht? Er weiß es doch, ganz gleich, ob er es hört oder nicht, denn seine Verschlagenheit ist fast noch größer als die Stärke seines Körpers und die Unfehlbarkeit seiner Gewehre.«

»Und da sollen wir ihn mit List überwinden? Willst du uns angeben, auf welche Weise, durch welche List?«

»Das kann ich nicht; das ist eure Sache. Ich habe euch gewarnt und ihn euch übergeben; nun könnt ihr machen, was ihr wollt.«

»Ich höre, daß du selbst eine Angst vor ihm hast, die gar nicht zu messen ist; ich aber fürchte mich nicht und weiß, was ich zu thun habe.«

Das war nur Redensart; er fürchtete sich doch, denn anstatt einen thätlichen oder wörtlichen Angriff gegen mich zu unternehmen, wendete er sich an den in seiner Nähe stehenden Khandschi:

»Du bist der von dem Pascha eingesetzte Aufseher dieses Khan?«

»Ja, Hazreti,« nickte der Befragte mit breitem, verlegenen Lächeln.

Er hatte natürlich die Warnungen auch gehört, fürchtete sich infolgedessen ungeheuer vor Halef und vor mir und ahnte zu seiner größten Beunruhigung, daß man ihm zumuten werde, in irgend einer Weise gegen uns vorzugehen.

»Der Khan steht an dem Wege nach den heiligen Stätten der von Allah gesegneten und begnadeten Anhänger der Schia?« fragte der Perser weiter.

»Ja.«

»Er ist also wohl nur für diese Rechtgläubigen vorhanden?«

»Ja.«

»Der Zutritt eines Ungläubigen muß als todeswürdige Entweihung dieses Ortes gelten?«

»Ja.«

»Und du hast darüber zu wachen, daß er die Bestimmung erfüllt, für welche er errichtet worden ist?«

»Ja.«

»Und mit aller Strenge dafür zu sorgen, daß jede ungesetzliche oder entwürdigende Benutzung unterbleibt?«

»Ja.«

Es machte mir außerordentliches Vergnügen, daß das wohlgenährte, runde Gesicht des Khandschi bei jedem ja länger und immer länger wurde. Der Perser aber peinigte ihn noch weiter:

»Du hast gehört, daß sich jetzt ein Christ innerhalb dieser Mauern befindet?«

»Ja.«

»So fordern wir dich auf, augenblicklich deine Pflicht zu thun! Die Anwesenheit dieses Menschen ist ein himmelschreiendes Verbrechen gegen Allah, gegen den Propheten, gegen die Gebote des Islam und gegen alle Bekenner desselben, welche sich hier befinden. Wir verlangen die schnellste und schwerste Bestrafung, hier gleich, vor unsern Augen! Hörst du wohl! Wenn du dich, was aber gar nicht möglich ist, weigern solltest, werde ich mich bei unserm Beherrscher der Welt beschweren, der deinen Padischah anhalten wird, dich mit zehnfacher Bastonnade und dem Tode zu bestrafen!«

Als der Oberste der Kammerherren jetzt seinen Strafantrag beendet hatte, war das Gesicht des Khanwächters so lang geworden, daß die weitere Verlängerung auch nur um ein Muh-i-Schutur eine absolute Unmöglichkeit war. In ganz demselben Maße war auch seine Verlegenheit gewachsen; er wußte weder wo ein noch wo aus, und das erweckte mein Mitleid für den harmlosen, friedfertigen Menschen. Ich ergriff deshalb das Wort, mich an ihn wendend:

»Tritt näher zu mir her, Khandschi! Du hast bisher gehört, was andere meinen; nun sollst du auch unsere Ansicht kennen lernen. Aber sei höflich, sonst gehen unsere Gewehre augenblicklich los!«

Er hatte solche Angst vor uns, daß er nur wenige Schritte that, meiner Aufforderung zu folgen.

»Ist dieser Khan wirklich nur für die Anhänger der Schia da?« fragte ich.

»Ja,« nickte er.

»Für Andersgläubige ist er verboten?«

»Ja.«

»Bist du Schiit?«

»Nein.«

»Sind deine Soldaten Schiiten?«

»Nein.«

»Und doch seid ihr hier? Sogar als Beamte? Auch der Obeïde, welcher uns beschuldigt hat, ist kein Schiit. Ich achte das Gesetz, erwarte aber, daß auch andere es respektieren. Wenn dieser Khan nur für Schiiten vorhanden ist, so haben alle, die das nicht sind, ihn unverweilt und für immer zu verlassen. Packe also deine und deiner Soldaten Habseligkeiten zusammen! Sobald ihr fortgeht und der Obeïde mit, werden auch wir den Khan verlassen.«

Es war eine wahre Wonne, das Gesicht zu sehen, welches der arme Teufel machte; die Verlegenheit knickte ihn beinahe zusammen. Ich fuhr fort:

»Ich halte es außerdem für notwendig, daß jeder, der sich für einen Schiiten ausgiebt, nachweisen muß, daß er wirklich einer ist. Wer das nicht kann, hat sich auch zu entfernen. Haben die Leute, welche sich so feindlich gegen uns benehmen, dir ihre Legitimationen vorgezeigt?«

»Nein.«

»So sollst du zunächst die meinigen sehen. Ich verlange aber, daß du ihnen die Ehrfurcht erweisest, welche bei Androhung strengster Bestrafung vorgeschrieben ist!«

Ich nahm die Dokumente, heut zum zweitenmal, aus der Tasche, öffnete sie und gab sie ihm. Ob er lesen konnte oder nicht, war mir gleich; er sah die Siegel und rief erschrocken aus:

»Maschallah! Ein Bujurultu, ein Jol teskeressi und gar ein Ferman, alle mit der eigenhändigen Unterschrift des Großherrn, welcher der Liebling Allahs und des ganzen Himmels ist!«

Er legte die Siegel an die Stirn, den Mund und das Herz und verbeugte sich dreimal tief, fast bis auf die Erde herab. Dann gab er mir die Legitimationen zurück. Ich nahm eine vierte hervor und fuhr fort:

»Da unsere Gegner sich für Leute aus Farsistan ausgeben, will ich dir beweisen, daß wir auch dort der größten Hochachtung und Höflichkeit versichert sind. Selbst die höchsten Würdenträger müssen uns die Ehren erweisen, welche wir auf Grund dieses Schriftstückes zu beanspruchen haben. Bist du der persischen Sprache mächtig›«

Bei dieser Frage reichte ich ihm meinen persischen Ferman hin.

»Des Lesens nicht,« antwortete er in außerordentlich respektvollem Tone.

»So will ich dir sagen, daß dieser Ferman von dem Schah-in-Schah auch eigenhändig unterschrieben und untersiegelt worden ist. Die Inschrift des Siegels lautet: ›Sobald die Hand Nasr-ed-Dins das Siegel des Reiches ergreift, erfüllt die Stimme der Gerechtigkeit die Welt vom Monde an bis zu den Fischen.‹ Ich hoffe, du siehst nun ein, daß mein Dasein von der Gewogenheit sowohl des Großherrn, als auch des Schah von Persien erleuchtet wird, und hast dich demgemäß gegen uns zu verhalten. Du bist nicht persischer Unterthan und kannst also über die Drohung lachen, welcher dieser angebliche Pischkhidmät Baschi vorhin ausgesprochen hat; eine Beschwerde von mir aber würde dich nicht nur um deine Stelle, sondern auch noch um viel mehr bringen!«

Er erwies, obgleich er Türke war, jetzt auch dem persischen Ferman die schon erwähnten Höflichkeiten und gab ihn mir dann mit der sehr devoten Versicherung zurück:

»Ich bitte dich demütig, o Liebling des Großherrn, mir in Bagdad und Stambul zu bezeugen, daß ich euch weder mit einer Miene noch mit einer Silbe beleidigt habe, denn gleich der erste Blick auf euch sagte mir, daß euch alle Pforten des Reiches und also auch die Thore dieses Khans geöffnet sind. Betrachte mich als deinen Diener! Ich bin bereit, alle deine Befehle augenblicklich zu erfüllen!«

»Das erwarte ich allerdings! Vor allen Dingen verlange ich, daß nun auch diese angeblichen Perser beweisen, daß sie Perser, und zwar Schiiten sind. Wir haben uns legitimiert; nun kommt die Reihe an sie, dies auch zu thun!«

»Du hast recht, und ich erwarte, daß sie diesem Verlangen nachzukommen vermögen!«

Er drehte sich von mir ab und nach dem Kammerherrn um. Ich hatte diesem mit meinem persischen Ferman imponiert; er sah die vorhin gegen mich gerichtete Waffe jetzt in meinen Händen, und der Ausdruck der Verlegenheit, welcher dabei auf seinem Gesichte erschien, verriet mir, daß er nicht imstande war, den von ihm verlangten Nachweis zu führen. Er versuchte, das unter einem möglichst selbstbewußten Tone zu verbergen, indem er den Khandschi zornig fragte:

»Ist es denn möglich, daß du den Mut hast, einen solchen Ausweis im Ernste von mir zu verlangen? Du warst bisher vollständig überzeugt, daß ich der Pischkhidmät Baschi des Schah von Persien wirklich bin, und jetzt forderst du mich infolge der Worte eines vollständig Fremden plötzlich auf, dir Beweise vorzuzeigen! Steht dir als Moslem deine Würde so wenig fest, daß sie ein so schwaches Lüftchen aus dem Lande der Ungläubigen umzuwehen vermag?«

»Es handelt sich hier nur um meine Würde als Beamter des Großherrn. Sobald ich sein von Allah gesegnetes Siegel erblicke, habe ich meine Pflicht zu erfüllen, ohne nach der Religion und dem Glauben dieses Effendi zu fragen, welcher mir bewiesen hat, daß er unter dem ganz besondern Schutze des Padischah steht. Du hast den Streit mit ihm begonnen, indem du dich als ein Mann gebärdetest, der das Recht besitzt, hier als Gebieter aufzutreten. Dieses Recht gebührt dir selbst als Pischkhidmät Baschi nicht; aber da du dich für ihn ausgiebst, ist es meine Pflicht, den Beweis von dir zu verlangen!«

»Meine Untergebenen können es mir bezeugen.«

»Was sie sagen, gilt nichts, denn ich kenne sie nicht. Wenn du ein so hoher Herr bist, der in der immerwährenden Gegenwart des Schah-in-Schah wandelt, mußt du doch das Siegel und die Unterschrift desselben in den Händen haben. Da dieser fremde Effendi beides besitzt, darf ich wohl sagen, daß es dir doch viel leichter als ihm sein muß, eine solche Beglaubigung deines Herrschers zu erlangen.«

»Ich habe sie nicht von ihm gefordert, weil ich es für vollständig unmöglich hielt, daß irgend ein Mensch an der Wahrheit meiner Worte zweifeln könne. Ich habe zwar Briefe meines Gebieters mit, die muß ich aber an den heiligen Orten abgeben und darf sie keinem andern Menschen zeigen als denen, an die sie gerichtet sind.«

»Das ist nicht vorteilhaft für dich. Du hast ja selbst gesagt, daß nur Schiiten hierher gehören und jeder Andersgläubige den Khan zu verlassen habe. Wenn du mir nicht beweisen kannst, daß du ein Bekenner der Schia bist, muß ich dich nach deinem eigenen Willen mit deinen Leuten aus dem Thore weisen!«

»Welche Schande!« fuhr der Perser auf. »Muß ich mir das wirklich sagen lassen!«

»Ja, das mußt du! Du bist ein Fremder, der sich nicht legitimieren kann, und hast mir, dem Kommandanten dieses Ortes, zu gehorchen.«

»Und was geschieht, wenn ich dir den Gehorsam verweigere?«

»So habe ich einen Bericht abzufassen, den ich fortsende, und werde euch hier behalten, bis die Antwort darauf eingetroffen ist.«

»Wir lassen uns aber nicht halten!«

»Allah bewahre dich vor schädlichem Ungestüm! Meine Asaker fürchten sich nicht vor euch, und dieser wohlbewaffnete Effendi würde mir mit seinem tapfern Scheik der Haddedihn gewiß beistehen. Ihr habt gesehen, wie er schießen kann!«

Der Kammerherr sah sich fragend im Kreise seiner Leute um; sie zeigten jetzt ganz andere Gesichter als vorher; der frühere Ausdruck der Zuversichtlichkeit war vollständig verschwunden. Meine Schießprobe und die vorgezeigten Legitimationen hatten die beabsichtigte Wirkung hervorgebracht: der Khandschi war mutig, der Kammerherr aber bedenklich geworden. Meinem kleinen, wackern Hadschi machte das Spaß; er griff mit der Hand nach den Waffen in seinem Gürtel und fragte mich in unternehmendem Tone:

»Du bist natürlich einverstanden, Effendi? Wollen wir es diesen Leuten sofort zeigen, wie zwei erfahrene Krieger es anfangen, zwölf Gegner in zwei Minuten widerstandsunfähig zu machen?«

»Ja, das wollen wir, aber in anderer Weise, als du denkst,« antwortete ich. »Grad weil ich kein Moslem bin, sondern ein Christ, werde ich diesen Zwiespalt, an dem wir unschuldig sind, auf friedliche Weise lösen.«

Ich wendete mich an den Khandschi und fügte hinzu:

»Würdest du es gelten lassen, wenn jemand, den du kennst, dir die Versicherung gäbe, daß dieser persische Mirza wirklich der Pischkhidmät Baschi des Schah ist?«

»Ja,« antwortete er.

»So sag, ob du mich jetzt kennst!«

»Dich! Natürlich kenne ich dich! Du hast mir ja die allerhöchsten Schriftstücke vorgezeigt; folglich kenne ich dich so gut, als ob ich, wenn du mir gestattest, von Jugend auf an deiner eigenen Stelle gewesen sei.«

»Du würdest also meine Worte gelten lassen?«

»Wie meine eigenen!«

»Gut, so versichere ich dir, daß dieser Mirza wirklich derjenige ist, für den er sich ausgegeben hat, und bitte dich, ihn hier im Khan verweilen zu lassen, so lange es ihm beliebt!«

»Du hast es gesagt, und es soll geschehen, Effendi!«

»Maschallah!« rief da Halef aus. »Du vergiltst die Beleidigungen, welche wir anzuhören hatten, mit dieser großen, unverdienten Güte? Wie kannst du mich um die Glückseligkeit bringen, diesen zwölf Personen zu beweisen, daß wir zwei, ich und du, viel mehr als zwölf bedeuten!«

Ich antwortete ihm nur mit einem Winke auf die Perser, und da begriff er mich. Die verblüffte Miene, welche der Kammerherr jetzt zeigte, bereitete mir mehr Genugthuung, als ich durch die Ausführung der Absicht Halefs gefunden hätte. Er starrte mich förmlich an und stieß, indem er mit dem Kopfe schüttelte, die Worte hervor.

»Allah akbar – Gott ist groß! Wie groß aber auch ist mein Erstaunen!«

»Worüber?« erkundigte sich Halef lachend.

»Daß ein Christ, ein Ungläubiger, der mich heut zum erstenmal sieht, es wagt, mich als den Abglanz des Beherrschers zu bestätigen!«

»Wenn du glaubst, daß dies ein Wagnis sei, so irrst du dich. Man sieht dir grad jetzt diesen Abglanz so deutlich an, daß ein Irrtum vollständig ausgeschlossen ist. Dein Gesicht strahlt uns in der ganzen Fülle seiner Weisheit entgegen, und wir sehen ein, daß du viel zu klug und zu erhaben bist, als daß wir dir das sagen dürfen, was wir dir eigentlich mitzuteilen hätten.«

»Mitzuteilen? Mir? Was meinst du?«

»Daß ihr euch in einer großen Gefahr befindet, von welcher ihr keine Ahnung hättet, wenn du nicht eine so große Leuchte des Scharfsinnes wärest.«

Der Perser mußte die in diesen Worten liegende Ironie heraushören; er hielt es aber, da es sich um eine Warnung handelte, für angezeigt, so zu thun, als ob er sie nicht bemerkt habe, und erkundigte sich weiter-

»Du sprichst von einer Gefahr. Meinst du, daß sie sich auf mich, auf uns beziehe?«

»Natürlich auf euch; ich habe ja soeben gesagt, daß sie euch bedrohe. Wenn sie uns beträfe, würden wir kein Wort darüber verlieren, denn die Gefahr ist die Luft, in der wir leben und das Wasser, an welchem wir uns täglich erquicken. Wir lieben die Gefahr; wir können und mögen ohne sie nicht sein, und je größer sie ist, desto lieber haben wir sie. Wir kennen diese eure Gefahr sehr genau, denn wir haben selbst auch schon in ihr gesteckt und ihr dabei gezeigt, daß wir mit ihr spielen, so ungefähr, wie zwei Riesen mit einem Zwerge scherzen.«

Es war lächerlich, daß der kleine Kerl sich mit einem Riesen verglich; er nahm eben den Mund wieder einmal recht voll, was mir, als dem Europäer, natürlich mehr auffiel als dem Perser, welcher die Ausdrucksweise des Hadschi für ganz selbstverständlich zu halten schien und seine Nachforschung in gespannter Weise fortsetzte:

»Ich wüßte nicht, was für eine Gefahr uns bedrohen könnte. Wir stehen unter dem mächtigen Schutze des Schah-in-Schah und sind überzeugt, daß uns nirgends etwas geschehen kann.«

»In Persien mögt ihr von diesem Schutze sprechen, aber nicht hier. Ihr habt ja vorhin gesehen, wie gering seine Macht gegen unsern Willen war. Sag mir doch einmal, ob deine Truppe einen besonderen Namen hat!«

»Was sollte sie für einen besonderen Namen haben? Sie ist eine Karwan wie jede andere auch.«

»Du irrst. Sie besitzt einen Namen, den man ihr gegeben hat, ohne daß du etwas davon weißt.«

»Welchen?«

»Man nennt sie die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi.«

»Diesen Namen wirst du ihr wohl in diesem Augenblicke erst selbst gegeben haben!«

»Nein. Wir haben ihn gekannt, längst ehe wir dich sahen. Wir wußten, daß diese Karwan-i-Pischkhidmät Baschi unterwegs sei und erwartet werde, und als wir euch hier trafen, erkannten wir euch sofort. Darum nur konnte mein Effendi gegen den Khandschi behaupten, daß du der Oberst der Kammerherren seist.«

»Der Sinn deiner Rede ist mir außerordentlich dunkel. Du sagtest, daß unsere Karwan erwartet werde. Ich frage dich, wo und von wem? Wir haben uns in tiefster Verborgenheit zur Reise gerüstet und sind so heimlich aufgebrochen, daß niemand etwas von uns wissen kann.«

»Allah hat erlaubt, daß Menschen vorhanden sind, welche schärfere Augen und Ohren besitzen, als du zu haben scheinst. Eure Vorbereitungen sind beobachtet worden; man weiß, daß ihr kostbare Waren geladen habt, um sie nach den heiligen Stätten zu bringen. An euerm Wege warten Räuber, denen eure Ankunft bereits gemeldet worden ist. Ihr sollt überfallen werden und wenn ihr nicht auf unsere Warnung hört, so ist es nicht nur um das Eigentum des Schah-in-Schah, sondern wahrscheinlich auch um euer Leben geschehen.«

Ich hatte den Hadschi nicht unterbrochen; er fühlte sich als den Herrn der Situation, und diesen für ihn so großen Genuß wollte ich ihm nicht verkümmern. Dabei nahm ich als ganz selbstverständlich an, daß er für seine wohlwollende Absicht Dank und Anerkennung ernten werde. Zu meinem Erstaunen mußte ich aber einsehen, daß ich mich da einer Täuschung hingegeben hatte. Als er jetzt schwieg, sah der Kammerherr bald ihn, bald mich forschend an, brach in ein kurzes, höhnisches Gelächter aus und sagte dann:

»Abarak Allah! Gott sei gesegnet, daß er so liebe, gute Menschen wie euch geschaffen hat! Ich bin im höchsten Grade erstaunt darüber, daß es so herrliche, so unvergleichliche Leute giebt! Wir haben euch ganz anders, nur nicht wie Freunde behandelt, und als Antwort darauf seid ihr auf unser Glück, auf unser Heil bedacht! Es trieft Segen von euern Zungen und Wohlthat von euern Lippen. Das ist nur darum möglich, weil einer von euch ein Christ ist, dessen Lehre ihm ja, wie ich gehört habe, gebietet, allen seinen Feinden Gutes zu erweisen. Diese unmännliche Lehre habe ich aber stets verachtet, und ebenso verachte ich jeden, der sich zu ihr bekennt. Ihr habt also zu wählen zwischen meiner Verachtung oder meinem Gelächter, und ich bin überzeugt, daß dieses letztere auf euch passen wird. Denn lächerlich ist es im höchsten Grade, mir zuzumuten, das zu glauben, was jetzt gesagt wurde.«

»So zweifelst du an dem, was ich von den Absichten dieser Räuber gesagt habe?« fragte Halef in zornigem Tone.

»Daran nicht, ganz und gar nicht; aber die Personen der Räuber sind wahrscheinlich ganz andere, als du uns glauben machen willst. Du hast von einer wertvollen Ladung gesprochen, nur um zu erfahren, was wir geladen haben. Das übrige brauche ich nicht zu sagen; du kannst es dir denken!«

»Verstehe ich dich richtig› Willst du etwa sagen, daß wir –«

Sein Zorn war so groß, daß er den Satz nicht ganz aussprechen konnte, aber mit der Rechten nach der Peitsche griff, um die unterbrochene Rede in dieser Weise zu vollenden. Ich faßte seinen Arm, hielt ihn fest und sagte:

»Keine Unüberlegtheit, Halef! Was dieser Mann denkt und spricht, kann uns höchst gleichgültig sein. Mag er später zu seinem Schaden erkennen, daß er jetzt und hier die größte Unklugheit seines Lebens begangen hat. Wir sind mit ihm fertig. Komm!«

»Ja, reiten wir fort, Sihdi,« stimmte er mir bei. »Er wird es bitter bereuen, daß er heut wie auch in seinem ganzen Leben nicht gescheiter als sein Vater, Großvater, und Vorahne gewesen ist, welche die unverzeihliche Dummheit begangen haben, sich von dem Fatum der Schiiten einen solchen Sohn, Enkel und Urenkel aufhängen zu lassen. Allah gebe, daß alle Nähte seines Leibes und seiner Seele aufplatzen, wie bei einem alten, zerrissenen Alduwan

Ich mußte über diesen drastischen Wunsch laut lachen; der Perser getraute sich nur, die beiden Fäuste gegen uns zu schütteln und uns im höchsten, aber ohnmächtigen Zorne zuzurufen:

»Ja, macht im Namen aller Teufel, daß ihr fortkommt, und laßt euch ja nicht wieder vor uns sehen! Ich habe heut abermals einen Christen kennen gelernt, und er ist nicht anders und nicht besser als so viele, die ich schon vor ihm gesehen habe. Es ist wahr, was das alte, persische Sprichwort sagt: Wer einem Isävi begegnet, der stoße ihn mit dem Fuße von sich, sonst hat er die Folgen in diesem und in jenem Leben zu tragen!«

Ich saß schon auf dem Pferde und hatte mich einige Schritte weit entfernt. Als ich diese Worte hörte, lenkte ich wieder um, ritt zu ihm zurück und antwortete.

»Ich könnte dir jetzt die Faust in das Gesicht schlagen, ohne daß du den Mut hättest, dich zu wehren; aber ich werde es nicht thun, eben weil ich ein Isävi bin. Ich fordere dich nur auf, nicht zu vergessen, was du jetzt gesagt hast. Wir sollen uns nicht wieder vor euch sehen lassen? Du bildest dir doch nicht etwa ein, daß wir uns vor euch fürchten? Das würde nach dem, was hier geschehen ist, der reine Wahnsinn sein. Und ich sage dir, daß ihr herzlich froh sein und Allah danken werdet, sobald ihr uns wieder erblickt. Ich weiß schon jetzt genau, daß wir uns sehr bald wieder begegnen werden, und dann werdet ihr euch hüten, uns mit den Füßen von euch zu stoßen, sondern uns von ganzem Herzen und aus voller Seele willkommen heißen. Merke dir diese Vorhersagung; ich werde dich an sie erinnern!«

Jetzt ritten wir fort, ohne auf das zu achten, was uns noch nachgerufen wurde. Der Khandschi war mit seinen Asaker an das Thor gegangen; ich gab ihm und ihnen das erwartete Bakschisch, worauf sie sich tief verneigten und uns Glück auf unserm weitern Wege wünschten.

Der Sicherheit wegen und um die Perser zu täuschen, damit sie erwarteten Falles die von uns beabsichtigte Richtung dem Säfir nicht verraten könnten, folgten wir dem nach Khan Nasrijeh führenden Wege so weit, bis man uns nicht mehr sehen konnte, und wendeten uns dann nach links, um auf geradem Wege durch das wüste Feld den Euphrat zu erreichen.

Halef dachte, wie das so seine Gewohnheit war, zunächst still über unsere letzte Begegnung nach; dann, als er sich alles zurechtgelegt hatte, erkundigte er sich:

»Du hast diesem allerdümmsten der persischen Kammerherren gesagt, daß er uns sehr bald wiedersehen werde. War dies nur eine Redensart, oder denkst du wirklich, daß wir wieder mit ihm zusammentreffen werden?«

»Ich denke es nicht nur, sondern ich bin sogar überzeugt davon.«

»Weißt du schon auch den Ort dieses baldigen Wiedersehens?«

»Nein, denn ich weiß ja nicht, wo der Säfir sich über die Karwan hermachen wird. Auf dem Wege von dem Khan, den wir ebenfalls verlassen haben, bis nach Hilleh kann dies unmöglich geschehen, in der Nähe der heiligen Stätten auch nicht, also höchst wahrscheinlich kurz hinter Hilleh, und da eignet sich kein Ort besser dazu, als das Ruinenfeld von Babylon. Wenn ich mich in alles hineindenke, ist es mir nicht schwer, zu erraten, wie das Ereignis vor sich gehen wird.«

»Du weißt, daß mein Verstand nur lange und schwere Arbeiten gewöhnt ist; mit kürzeren Dingen, wie zum Beispiel das Erraten ist, giebt er sich grundsätzlich niemals ab. Darum bitte ich dich, die Kostbarkeit der Zeit in Betracht zu ziehen und mir gleich zu sagen, was deine Vernunft, welche kürzer als die meinige ist, sich ausgesonnen hat!«

»Es scheint, daß meine Vernunft trotz ihrer Kürze mehr wert ist, als deine so lang ausgestreckte, lieber Halef!«

»Irre dich nicht, Sihdi! Ich mag dir doch nicht zutrauen, der ganz verkehrten Ansicht zu sein, daß eine lang ausgedehnte Klugheit durch diese Ausreckung dünner wird!«

»Diese Frage wollen wir, obgleich sie höchst wichtig ist, doch lieber unerörtert lassen. Du weißt, daß der Säfir sich in Hilleh befindet. Der Pädär-i-Baharat, dem wir begegnet sind, wird ihn dort treffen und ihm mitteilen, daß das Eintreffen der Karwan-i-Pischkhidmät Baschi in kurzer Zeit zu erwarten ist. Der Säfir, von dem ich vermute, daß die Perser ihn nicht persönlich kennen, wird ein ganz zufällig erscheinendes Zusammentreffen mit dem Kammerherrn herbeiführen und sich bemühen, sein Vertrauen zu erwerben. Ich bezweifle nicht, daß ihm dies gelingen wird, und dann hat er die Karwan in den Händen. Er wird sie verleiten, denjenigen Weg einzuschlagen, welcher seinen Absichten entsprechend ist ––«

»Sihdi,« fiel da Halef ein, »Jetzt ist deine Kürze mit meiner Länge zusammengetroffen; ich verstehe dich! Der Säfir wird sich sogar an die Spitze der Karwan stellen, um sie in das Verderben zu führen.«

»Nein, das wird er wohl nicht.«

»Warum nicht?«

»Er ist wahrscheinlich zu klug dazu.«

»So hältst du diese meine Ansicht also nicht für eine vortreffliche?«

»Allerdings nicht, trotz der ungeheuren Länge deiner Vernunft. Es muß doch später unbedingt herauskommen, daß die Karwan verunglückt ist. Hätte er sich ihr beigesellt, so würde man ihn zur Verantwortung ziehen, und das hat er zu vermeiden.«

»Höre, Sihdi, die Kürze deines Verstandes ist wirklich nicht ganz übel! Sie hat auch ihre Vorteile, und ich bin, wie du siehst, gerecht genug, dich hiervon zu benachrichtigen.«

»Ich danke dir, und hoffe, daß diese deine Gerechtigkeit sich auch fernerhin bewähren werde! Also ich vermute, daß der Überfall an irgend einer Stelle des Trümmerfeldes vor sich gehen wird, und ich bin der Ansicht, daß diese Stelle nicht weit von derjenigen liegt, wo wir die Schmuggler belauscht haben.«

»Warum dort?«

»Weil sich in der Nähe das Versteck befindet, in welches man die Beute höchst wahrscheinlich schaffen wird. Gleichgültig ist es uns natürlich, durch welche Vorspiegelungen man die Karwan dorthin lockt; Hauptsache ist, daß wir denselben Platz zum heutigen Ziele haben. Wir werden, wie ich hoffe, noch vor der Karwan dort ankommen und ihr, vorausgesetzt, daß wir sie finden, gegen den Säfir Beistand leisten.«

»Ja, das werden wir, Effendi, das werden wir!« stimmte er begeistert bei. »Das müssen wir ja schon um des Sandschaki willen.«

»Allerdings!«

»Wir bringen ihm den Säfir als überwiesenen und während der That ertappten Räuber. Da muß er einsehen, wie falsch er uns behandelt hat, und uns um Verzeihung bitten. Wie freue ich mich darauf! Das wird ein Sieg sein, auf den wir stolz sein können. Meinst du nicht auch, Sihdi?«

»Wir wollen vom Stolz jetzt noch nichts sagen. Unsere Absicht ist gut, aber zwischen ihr und der Ausführung liegt eine weite Strecke.«

»Sogar der Euphrat liegt dazwischen! Nicht?«

»Ja.«

»Wenn wir nach den Ruinen wollen, müssen wir an das rechte Ufer hinüber; nach Hilleh, wo die Brücke ist, können wir nicht zurück; wie kommen wir auf die andere Seite?«

»Hoffentlich finden wir Schilf oder überhaupt Material, uns ein Floß zusammenzustellen; ist dies nicht der Fall, so müssen wir schwimmen.«

»Weißt du, wie breit der Fluß in dieser Gegend ist?«

»Gewiß über dreihundert Amtahr

»Das ist viel, sehr viel!«

»Du bist doch ein guter Schwimmer!«

»Oh, was das betrifft, so ist es mir gar nicht bange, hinüberzukommen; aber bei so einer Strecke ist es gar nicht zu umgehen, daß alles naß wird, was trocken bleiben soll.«

»Es giebt Mittel, dies zu vermeiden. Wollen jetzt schneller reiten, damit wir am Flusse Zeit gewinnen, ein Floß zu bauen, falls wir finden, was wir dazu brauchen.«

»Es wäre wohl am besten, wenn zufällig ein Floß oder Boot gefahren käme, dessen Besitzer uns hinüberschaffte.«

»Auf so eine Gelegenheit magst du nur verzichten. Wir müssen vermeiden, gesehen zu werden, denn jeder uns begegnende Mensch kann ein Verbündeter des Säfir sein und ihn davon benachrichtigen, daß wir nicht nach Bagdad geritten sind. Du hast ja gehört, daß sein Versteck zwei Stunden oberhalb Hilleh liegt. Das müssen wir wohl in Erwägung ziehen, weil zu bedenken ist, daß die Mitglieder seiner Bande nicht immer dort stecken, sondern sich auch an den Ufern oder auf dem Flusse hin und her bewegen werden. Sobald man uns bemerkt, ist Zehn gegen Eins zu wetten, daß unser Plan mißglückt.«

Der Ritt bis zum Euphrat bot nichts Bemerkenswertes. Das Terrain war eine von keiner Erhöhung, aber desto häufiger von tiefen Rinnen unterbrochene Ebene. Als wir an dem frohen Schnauben unserer Pferde bemerkten, daß wir in der Nähe des Wassers angekommen waren, stiegen wir ab und legten den Rest des Weges, um nicht so leicht gesehen zu werden, gehend zurück. Dann mußte Halef mit den Pferden in eine der erwähnten Rinnen steigen, während ich mich dem Ufer vorsichtig näherte, um nachzusehen, ob wir unbemerkt an das Wasser könnten.

Es war kein Mensch zu sehen; die Sonne stand schon sehr tief, und ihre in spitzem Winkel auf den Strom fallenden Strahlen wurden mir in die Augen gebrochen, daß mich diese schmerzten. Froh überrascht wurde ich von einer Menge Tarfa-Sträucher, welche dicht am Wasser standen und uns erlaubten, wenn nicht uns selbst, so doch diejenigen Gegenstände, welche nicht naß werden durften, trocken hinüberzubringen. Ich holte Halef, und als wir die Pferde versorgt hatten, begannen wir, Zweige zu schneiden und in Bündel zu vereinigen.

Leider wuchs die Tarfa hier nur schwach, nicht einmal fingerstark. Von einem Floße, welches uns zu tragen vermochte, war keine Rede. Die Sonne ging unter, und es wurde Abend, ehe wir den leichten, zu einem schwimmenden Haufen vereinigten Bündeln die betreffenden Sachen anvertrauen konnten. Es war Halefs Aufgabe, dieses Floß zu dirigieren, indem er es im Schwimmen vor sich herzustoßen hatte; mir fiel die Führung der Pferde zu. Ich knüpfte Schlingen an die lang entschnallten Zügel und schob je einen Arm in eine dieser Schlingen. In dieser Weise die Hengste führend, stieg ich in das Wasser; sie folgten mir sofort und willig. Das edle Pferd der Dschesireh ist nicht wasserscheu.

In anderer Beziehung konnte es uns nicht so lieb sein, daß es Abend geworden war, aber in Hinsicht auf unsere Sicherheit hätte die Helle des Tages uns leicht gefährlich werden können. Die Kühle des Flusses that uns und den Pferden wohl; wir schwammen mit Bequemlichkeit, und als wir das jenseitige Ufer erreicht hatten, fühlten wir uns so wenig angestrengt, daß Halef sagte:

»Das war keine Arbeit, sondern ein Bad, Sihdi; ich bin wie neugeboren.«

»Hoffentlich ist es für die dir anvertrauten Sachen nicht auch ein Bad gewesen!«

»O nein! Ich habe sie mit meinen Augen behütet, wie ein Kamel sein Füllen bewacht. Wir nehmen alles wieder an uns, und lassen dann dieses Floß schwimmen, wohin es schwimmen will.«

»Nein, sondern wir werden es an das Ufer befestigen.«

»Warum?«

»Weil es uns möglicherweise verraten kann.«

»Verraten? Nimm mir meine Worte nicht übel, Sihdi, aber du treibst die Vorsicht viel zu weit! Selbst wenn dieser Tarfahaufen zufällig von den Leuten des Säfir entdeckt würde, kämen sie gewiß nicht auf den Gedanken, daß wir es sind, die ihn benutzt haben.«

»Gedanken sind unberechenbar. Millionen Menschen haben schon Unmöglichkeiten gedacht, und hier haben wir es mit etwas sehr Möglichem zu thun. In unserer Lage können wir nicht zu vorsichtig sein. Oder hast du vergessen, welche Mahnung ich im Namen deiner Hanneh vorkommendenfalls an dich richten soll?«

»Die Wünsche meiner Hanneh, welche die Rose unter allen Blüten und Blumen des Erdreiches ist, sind mir stets allgegenwärtig; darauf kannst du dich verlassen. Ja, ich bin sogar überzeugt, daß du nicht so oft an deine Dschanneh denkst, wie ich mich der holden Gebieterin meines Frauenzeltes erinnere. Aber sag selbst, was aus unsern hoffentlichen und berühmten Erlebnissen werden soll, wenn du mit deiner übertriebenen Vorsicht alle Begebenheiten zurückscheuchst, welche sich uns nähern wollen! Habe doch einmal die Güte, in die Jahrhunderte und Jahrtausende der Weltgeschichte zurückzuschauen! Wie viele berühmte Sultane, Kaiser, Könige, Kalifen, Scheiks und Helden hat es gegeben! Sie sind gar nicht zu zählen! Aber wenn diese Männer alle so vorsichtig gewesen wären, wie du bist, so hätten wir keine Weltgeschichte, denn da wäre überhaupt gar nichts geschehen, und wo jetzt überall die Berühmtheiten strahlen, würde es so finster sein wie im Magen einer Ziege oder in einem Stiefel, den man am Fuße trägt.«

»Wenn er nicht zerrissen ist!« warf ich ein.

»Ich bitte dich, zu schweigen, Effendi! Wenn ich Beispiele anführe, um etwas zu beweisen, so sind sie tadellos; also ist auch dieser Stiefel kein zerrissener, sondern einer, den selbst ich anzuziehen mich nicht schämen würde!«

»So ziehe ihn schnell an, denn wir müssen weiter! Wir sind nicht über den Euphrat geschwommen, um uns hier über Fußbekleidungen und Ziegenmagen zu unterhalten. Wir müssen uns vielmehr beeilen, an den Birs Nimrud zu kommen.«

»Denkst du nicht, daß wir vorher das hiesige Versteck des Säfir aufsuchen sollten?«

»Ich würde dies allerdings vorschlagen, wenn der Ort uns etwas näher bekannt wäre. Da wir aber das Ufer erst mühsam nach ihm absuchen müßten, würden wir zu viel Zeit verlieren. Wenn sich die Notwendigkeit ergeben sollte, das Versteck zu entdecken, werden wir später nach ihm suchen. jetzt wollen wir fort von hier.«

Wir hatten während dieser halblauten Wechselrede die Pferde wieder gesattelt und alles auf dem Floße Befindliche an uns genommen. Nun stiegen wir auf und ritten in südlicher Richtung fort. Wir durften uns während dieses Rittes nicht so nahe am Ufer halten, daß der Hufschlag unserer Pferde von dort aus gehört werden konnte; darum bogen wir weiter, als sonst wohl nötig gewesen wäre, nach rechts hinaus; ob mehr oder weniger, das wußten wir nicht, weil es noch dunkel war und wir die Krümmungen des Euphrat nicht kannten.

Als wir eine Weile geritten waren, bemerkten wir zu unserer Linken einen zwar nur leisen, aber doch bemerkbaren Schein, welcher nur mit einem Feuer in Verbindung gebracht werden konnte. Wir blieben halten, und Halef sagte:

»Sihdi, ich vermute, daß dort das Versteck liegt. Das Ufer, an welchem das Feuer brennt, liegt tiefer als die Ebene; darum sieht man nur den Schein und nicht das Feuer selbst. Meinst du, daß ich recht habe?«

»Es ist möglich, daß du das Richtige getroffen hast,« antwortete ich.

»Wollen wir hin, um zu erfahren, wer sich dort befindet?«

»Wir? Wenn nachgesehen werden soll, genügt es, daß einer von uns hingeht.«

»Ich oder du?«

»Natürlich ich!«

»Allah! Warum willst nur immer du es sein, auf welchen der Ruhm der Entdeckungen fallen soll! Ich kenne dich zu genau, als daß ich annehmen könnte, daß es Mißgunst von dir sei. Du wirst dich wahrscheinlich wieder in den bekannten Sattel setzen, um mir deine heißgeliebte Vorsicht vorzureiten?«

»Das thue ich allerdings.«

»Und weißt doch, wie tief es mich betrübt! Es mag ja sein, daß ich früher, in der Zeit, als du mich kennen lerntest, ein wenig ungestüm und vielleicht auch unbedächtig gewesen bin; daran war meine Jugend schuld. Das ist nun vorüber. jetzt bin ich Besitzer eines Harems mit der besten Frau des Erdenlebens und habe sogar einen Sohn, der sich nach den Regeln meiner Weisheit und Erziehung richtet. Wenn du mich trotzdem noch für unbedachtsam hältst, so ist das eine Beleidigung, auf welche ich jedem außer dir mit meiner Peitsche antworten würde.«

»Höre, lieber Halef, diese deine Verteidigung spricht nicht für, sondern gegen dich!«

»Wieso?«

»Daß du auch jetzt die Peitsche erwähnst, wo doch außer uns beiden kein Mensch zugegen ist, bildet einen unumstößlichen Beweis, daß du dich auch jetzt noch nicht beherrschen kannst. Wie ist es mir da möglich, dir Aufgaben anzuvertrauen, zu deren Lösung unerschütterliche Ruhe, kaltes Blut und eine Umsicht gehören, die sich auch von der geringsten Aufwallung nicht beeinflussen läßt?«

»Ja, wenn man dich so reden hört, so klingt das allerdings genau so, als ob du das allergrößeste Recht besäßest, in dieser Weise von mir zu sprechen. Aber überzeuge dich doch einmal durch die That!«

»Das habe ich schon oft versucht.«

»Wie, wo und wann?«

»Du kannst noch fragen?«

»Ja.«

»Fordere ja keine Beispiele von mir; sie würden dich doch nur kränken! Wenn ich dir erlaubte, jetzt allein da hinüberzugehen, würdest du uns wahrscheinlich verraten oder gar festgenommen werden.«

Das liebe, kleine Kerlchen fühlte sich durch diese Behauptung so schmerzlich berührt, daß er fast weinend bat:

»Sihdi, du versenkst meine Seele in die tiefste Tiefe der Traurigkeit. Ich will dir nichts vorwerfen und auch nicht aufzählen, wie oft ich für dich gestritten und gelitten habe; ich will auch nicht erwähnen, daß ich noch jetzt bereit bin, mein Leben und alles, was ich besitze, hinzugeben; wie kannst du mich da in dieser Weise betrüben! Willst du die Schuld der Undankbarkeit auf dich laden? Sie ist ein Schmutz, den man durch alles Waschen niemals von sich entfernen kann!«

»Lieber Halef, ich sehe mich gezwungen, jetzt genau so zu sagen, wie du vorhin gesprochen hast: Wenn man dich so hört, klingt das grad so, als ob du das allergrößeste Recht besäßest, in dieser Weise mit mir zu sprechen!«

»Das ist auch richtig, Effendi, sehr richtig!«

»Nein!«

»Ich bitte dich, nicht mit mir darüber zu streiten, sondern mir dein Vertrauen zu schenken! Ich fordere und verlange als Beweis deiner Freundschaft, daß du mich gehen lässest, um nachzuschauen, was für Leute dort das Feuer, welches wir sehen, angezündet haben!«

Was konnte ich einer solchen Dringlichkeit gegenüber thun? Ich fühlte die Verpflichtung, ihm seine Bitte abzuschlagen, denn ich kannte ihn zu gut, als daß ich ihn ohne Sorgen hätte gehen lassen können; aber ich brachte es nicht über das Herz, ihm das Leid anzuthun, seinen Wunsch unerfüllt zu lassen. Er benutzte mein unentschlossenes Zaudern, noch einen stärkeren Trumpf auszuspielen:

»Ich sage dir, Sihdi, daß ich es als eine Beleidigung auffassen muß, wenn du mich jetzt abermals wie so oft wie einen Knaben behandelst, der zu nichts zu gebrauchen ist! Soll ich, der oberste Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar, dein allezeit bereiter und treuer Freund und Beschützer, stets nur so hinter dir herlaufen, wie ein Hund hinter seinem Herrn herläuft?«

»Nein.«

»Du behandelst mich ganz genau so, als ob dies deine Absicht sei!«

»Bedenke, was dazu gehört, eine Anzahl schlauer Feinde zu belauschen und zu beobachten!«

»Denkst du, daß ich das nicht kann?«

Ja, das denke ich.«

»So beleidigst du dich selbst, denn du bist im Anschleichen mein Lehrmeister gewesen, und wenn ich nichts gelernt habe, obgleich ich doch sonst kein unanstelliger Mann bin, so kann die Schuld doch nur allein an dir liegen!«

»Ich danke dir, lieber Halef!« lachte ich.

»Lache nicht; ich meine es ernst! Übrigens will ich auf das Belauschen und Beobachten gern verzichten. Ich will nur erfahren, wer die Leute sind. Ich gehe hin, schleiche mich an sie heran, bis ich sie sehen kann, und komme sofort wieder. Das ist doch so leicht, daß ich mich fast schäme, es thun zu wollen, und wenn du auch jetzt noch auf deiner Weigerung beharrst, weiß ich wirklich nicht, was ich von dir denken soll!«

»Gut, ich werde dich also mitnehmen!«

»Mitnehmen?« fuhr er auf. »Davon ist keine Rede gewesen. Du hast gesagt, es genüge, daß nur einer von uns gehe, und nun sprichst du plötzlich vom Mitnehmen! Nein, ich will meiner Hanneh, der unvergleichlichsten Frau unter den Weibern des Erdreiches, erzählen dürfen, daß ich auch einmal etwas ganz allein ausgeführt habe. Darf ich gehen oder nicht, und zwar allein?«

»Du zwingst mich, ja zu sagen, und so mag das Wagnis denn unternommen sein!«

»Es ist kein Wagnis!«

»Doch! Grad der Umstand, daß du es für kein Wagnis hältst, sollte mich bestimmen, dir die Erlaubnis zu versagen. Du sollst aber dennoch gehen, nachdem wir unsere Vorbereitungen getroffen haben.«

»Vorbereitungen?« fragte er verwundert.

»Ja.«

»Warum, wozu?«

»Um Unvorsichtigkeiten und Irrtümern zu begegnen. Du nimmst nur dein Messer mit und lässest die andern Waffen und auch die Peitsche hier, welche leicht größeres Unheil anzurichten vermag als Pulver und Blei.«

»Sihdi, was thust du mir an!«

»Nichts, gar nichts.«

»Doch, viel, sehr viel! Wenn ich in die Lage komme, mich wehren zu müssen, so brauche ich doch Waffen!«

»Du sollst eben vermeiden, in diese Lage zu kommen. Du hast gesagt, daß du nur hingehen und dann gleich wieder zurückkehren willst; dazu brauchst du keine Schußwaffen und auch keine Peitsche. Um aber in einem unvorhergesehenen und außerordentlich dringlichen Fall zur Abwehr geschickt zu sein, darfst du dein Messer mitnehmen; das ist genug.«

»Genug! Wenn vielleicht zwanzig oder dreißig Kerle auf mich einspringen!« lamentierte er.

»Das darf nicht geschehen!«

»Wenn es aber doch geschieht?«

»Gut! Ich sehe ein, daß ich dich nicht gehen lassen darf, da du schon jetzt, ehe du noch einen Schritt gethan hast, von zwanzig oder dreißig Personen sprichst, mit denen du dich herumbalgen willst!«

»Halt! Sei still! Ich füge mich! Ich lasse sogar mein Messer hier, wenn du dies von mir verlangst!«

»Du magst es behalten. Und sodann wollen wir uns nach einem Orte für unsere Pferde umsehen.«

»Warum?«

»Damit sie niemand findet, wenn nach uns gesucht wird.«

»Du bleibst doch hier bei ihnen!«

»So sollte es eigentlich sein; aber es liegt die Ahnung in mir, daß ich sie verlassen muß, um mich nach dir um zuschauen.«

»Diese Ahnung trügt dich, Sihdi!«

»Wollen es hoffen! Ich bin aber vorsichtig, obgleich du mir diese Eigenschaft zum Vorwurfe machst, und bedenke jeden möglichen Fall. Wenn dir etwas Unerwartetes geschieht, was dich verhindert, zurückzukehren, muß ich mich um dich bekümmern ––«

»Das hast du nicht nötig!« fiel er ein.

»Warte es ab! Und wenn ich in diesem Falle die Pferde verlassen muß, müssen sie sich an einem Orte befinden, wo sie wenigstens nicht schon von weitem zu entdecken sind.«

»Ich will nicht mit dir streiten, denn ich sehe ein, daß es doch nutzlos sein würde. Was du einmal willst, das thust du auch!«

»Leider nicht! Ich wollte dich nicht fortlassen, und nun gehst du doch!«

»Darüber freue ich mich! Aber wie sollen wir bei dieser Dunkelheit nach einem Orte suchen, an welchem wir sie verstecken können?«

»Ich weiß schon einen.«

»Wo?«

»Die letzte, tiefe Rinne, über welche wir quer geritten sind. Wenn sie sich da unten befinden, können sie selbst am Tage nur dann entdeckt werden, wenn ein ungünstiger Zufall jemand in die Nähe führt. Dorthin kehren wir zurück. Komm!«

Wir lenkten um und hatten ungefähr fünf Minuten zu reiten, bis wir die betreffende Vertiefung erreichten. Der Schein der Sterne hatte sie uns vorhin deutlich gezeigt, und er war uns auch behilflich, jetzt wieder bequem hinabzukommen. Als Halef alles, was er nicht mitnehmen Sollte, da niedergelegt hatte, stiegen wir wieder hinauf. Der Schein des Feuers war auch von hier aus zu erkennen, aber nur, weil wir schon von ihm wußten.

»Du wirst vielleicht eine halbe Stunde brauchen, um hinzukommen,« sagte ich; »auf dem Rückweg kannst du schneller sein. Ich rechne also anderthalb Stunden, aber allerhöchstens! Hörst du es? Wir müssen noch vor der Ankunft der Perser bei den Ruinen sein, und so ist diese Zeit eine wahre Ewigkeit. Mehr kann ich dir nicht geben.«

»Ich brauche nicht so viel.«

»Doch! Du mußt beim Anschleichen vorsichtig sein; das erfordert Zeit. Und eine Weile mußt du doch dort bleiben, wenn ich dir auch geradezu verbiete, so weit an die Leute heranzugehen, daß du sie belauschen kannst. Das ist für dich allein zu gefährlich.«

»Warum für mich? Ich bin überzeugt, daß ich es ebensogut mache wie du.«

»Höre, veranlasse mich nicht noch im letzten Augenblicke, dich zurückzuhalten! Du kennst meine Bedenken und zeigst mir dennoch ein Selbstvertrauen, welches mich wieder wankend macht!«

»O, Sihdi, wie ist es doch so schwer, mit dir zu verkehren! Was wirst du noch alles von mir verlangen!«

»Gar nicht viel. Versprichst du mir, so vorsichtig zu sein, wie ich es wünsche?«

»Ja.«

»Nur so weit an die Leute heranzugehen, daß du sie zählen kannst?«

»Ja.«

»Sie nicht etwa zu belauschen?«

»Ja.«

»Dann sofort zurückzukommen?«

»Ja.«

»Dich auf keinen Kampf und Streit einzulassen, sondern sofort zu fliehen, falls man dich bemerken sollte?«

»Ja.«

»Wirst du diese Stelle hier schnell wiederfinden?«

»Effendi, ich habe bereits gesagt, daß ich kein Knabe bin! Hoffentlich kann ich nun gehen?«

»Das kannst du. Vorher aber will ich dir noch kurz folgendes sagen: Du hast mich förmlich gezwungen, dir diese Kundschaft anzuvertrauen; ich thue es ungern, weil mir nichts Gutes ahnt und wir grad jetzt eine höchst wichtige Angelegenheit auszuführen haben. Wenn du dich nicht in acht nimmst und durch deine Schuld in eine üble Lage gerätst, welche die Ausführung deiner Absichten verzögert oder gar unmöglich macht, so hast du dich für immer um mein Vertrauen gebracht und ich übertrage dir niemals wieder eine Aufgabe, wie die gegenwärtige ist!«

»Sihdi, was mußt du von mir denken, daß du in dieser Weise zu mir sprechen kannst! Wenn das Hanneh gehört hätte, die Perle aller Kostbarkeiten der Erde und des Meeres, so müßte sie mich für einen Taugenichts halten, obwohl sie überzeugt ist, daß ich nicht weniger leiste, als jeder Mensch und Held zu leisten vermag. Ich entferne mich jetzt und kehre sicher glücklich wieder. Allah sei mit dir!«

»Ich wünsche, daß er lieber mit dir gehe!« antwortete ich; dann hörte ich seine Schritte schon nicht mehr.

Es giebt Dummheiten, welche der Mensch erst später und auch solche, die er sofort einsieht. Zu der letzteren Art gehörte diejenige, welche ich jetzt begangen hatte. Kaum war Halef verschwunden, so hätte ich ihn zurückholen mögen, und es wäre gut für ihn und mich gewesen, wenn ich dies gethan hätte. Aber ich hatte ihn zu lieb, als daß ich ihm diese Kränkung hätte anthun mögen, welche um so größer gewesen wäre, als er den Kundschafterweg schon angetreten hatte. Ich stieg wieder in die Vertiefung hinab und setzte mich bei den Pferden nieder.

Hat man etwas gethan, was man lieber hätte unterlassen sollen, so giebt das ein Gefühl des Unbehagens, welches nicht nur die Seele belastet, sondern auch den Körper ergreift; so wenigstens ist es bei mir. Indem ich jetzt so still auf dem Grunde der Rinne saß, war es mir, als ob ich etwas Schädliches gegessen hätte. Ich kenne Leute, welche behaupten, daß die Seele des Menschen den Körper beim Tode in der Gegend des Plexus solaris verlasse und daß dieser Plexus überhaupt in inniger Beziehung zu dem Seelenleben stehe. Ich habe weder Gelegenheit noch Zeit gefunden, mich mit irgend jemandem eines Plexus wegen herumzustreiten; aber das muß ich als ehrlicher Mann zugeben, daß ich jenes unangenehme Gefühl, welches die Folge jeder begangenen Unklugheit ist, stets an derjenigen Körperstelle empfinde, welche der Sitz meines Plexus solaris ist. Er gab mir auch jetzt seine Unzufriedenheit kund, und es war mir leider nicht möglich, ihm zu beweisen, daß er unrecht habe. Ich war, mit einem Worte, mit mir selbst höchst unzufrieden.

Ich saß eine viertel, eine halbe, eine ganze Stunde.

Dann stieg ich wieder hinauf und setzte mich oben nieder. Das Feuer brannte noch, denn ich erkannte den Schein. Wäre Halef entdeckt worden, so hätte man es wahrscheinlich ausgelöscht. Dieser Gedanke beruhigte mich. Aber es verging wieder eine halbe Stunde und dann noch eine viertel Stunde, ohne daß er zurückkehrte. Hatte er etwa seine Beobachtungen glücklich gemacht und dann aber die Stelle, an welcher ich ihn erwartete, nicht wiedergefunden? Ich wußte doch, daß er einen ganz guten Ortssinn besaß!

Als abermals eine halbe Stunde verstrichen war, wurde mir bange um ihn, und ich hielt es für meine Pflicht, mich nach ihm umzusehen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als nach dem Feuer zu gehen. Ihn anderswo zu suchen, oder gar nach ihm zu rufen, wäre eine Fortsetzung des bereits begangenen Fehlers gewesen. Freilich mußte die Vorsicht, mit welcher ich nun zu verfahren hatte, wo möglich eine noch größere sein, als diejenige, die ich ihm angeraten hatte, denn wenn er entdeckt oder gar ergriffen worden war, und zwar wahrscheinlicherweise von den Leuten des Säfir, unter denen es welche gab, die ihn kannten, so mußten diese sich sagen, daß ich wohl auch in der Nähe sei, was sie dann jedenfalls veranlaßte, auch nach mir zu forschen.

Vor allen Dingen mußte ich, soweit dies unter den gegenwärtigen Umständen möglich war, für die Sicherheit unserer Pferde sorgen. Es war zwar anzunehmen, daß sie während der Nacht nicht entdeckt würden; aber es lag im Bereiche der Möglichkeit, daß ich durch irgend einen Umstand bis zum Tage ferngehalten wurde, und dann konnte es leicht um die kostbaren Tiere geschehen sein, und nicht bloß um sie, sondern auch noch um unsere Waffen. Denn daß ich die meinigen jetzt nicht mitnehmen würde, das verstand sich ganz von selbst. War meinem Halef ein Unglück widerfahren, so ging ich jetzt Ungewißheiten entgegen, denen ich meine beste Habe nicht aussetzen durfte. Bei dem großen Werte, den die Tiere und die Gegenstände für uns besaßen, würde mich, so glaubte ich, nichts, aber auch gar nichts, abhalten können, zur rechten Zeit wieder hier zu sein. Ich stieg also wieder hinunter, wickelte alles, was ich nicht mitnehmen wollte, fest in unsere Decken, band die Pferde an die Riemenpflöcke, welche ich fest in die Erde schlug, und behielt nur mein Messer im Gürtel stecken. Nachdem ich die Hengste liebkost und ihnen das bekannte »Schusch!« zugerufen hatte, konnte ich überzeugt sein, daß sie sich bis zu unserer Rückkehr ganz ruhig verhalten, gegen jeden Fremden aber mit Zähnen und Hufen verteidigen würden; dann machte ich mich auf den Weg, welcher, wie ich mir sagen mußte, ein für mich höchst gefährlicher werden konnte.

Eigentlich war es mir unmöglich, mit Bestimmtheit sagen zu können, was für Leute sich dort an dem Feuer befanden; aber es giebt Gedanken, welche, wenn sie kommen, sofort in der Weise überzeugend wirken, daß ein Zweifel an ihrer Richtigkeit gar nicht erst entstehen kann. Mag man sie Eingebungen oder sonstwie nennen, sie werden dem Menschen wie Depeschen über vollendete und nicht anzuzweifelnde Thatsachen übermittelt und von ihm als Wahrheiten aufgenommen und festgehalten. Ich habe das sehr oft an mir selbst erlebt und bin von dem Glauben, den ich solchen, sagen wir einmal Inspirationen, entgegenbrachte, niemals getäuscht worden. So nahm ich auch jetzt so fest, als ob ich die Beweise darüber in den Händen hätte, an, daß ich es mit dem Verstecke des Säfir zu thun hatte und wenn auch nicht grad persönlich ihn, so doch Kumpane von ihm zu sehen bekommen würde. Ich hatte die volle Überzeugung einer vor mir liegenden Gefahr und nahm aber mit ganz derselben Selbstverständlichkeit an, daß sie mich zwar fassen, aber nicht überwältigen könne. Dies war auch der in mir liegende Grund gewesen, daß ich mich von den für uns doch unersetzlichen Pferden und Gewehren mit so verhältnismäßig geringer Besorgnis getrennt hatte.

»Sei still!«

Der Feuerschein wurde um so heller, je mehr ich mich ihm näherte. Ich bewegte mich in gerader Linie auf ihn zu und hätte Halef unbedingt sehen müssen, wenn er sich auf dem ebenso geraden Rückwege zu mir befunden hätte. Ich ging gebückt und trat so leise wie möglich auf; dabei lauschte ich aufmerksam nach rechts und links, um seine Schritte zu hören, falls er sich doch unterwegs befände und nur von der direkten Richtung abgewichen wäre; diese Aufmerksamkeit blieb jedoch ohne Resultat.

Als ich noch ungefähr hundert Schritte zu gehen hatte, legte ich mich nieder und kroch weiter, doch nach der Seite ab, weil mir die Vorsicht gebot, nicht unmittelbar am Ziele anzukommen; ich mußte es zunächst von einer Stelle aus in Augenschein nehmen, welche mir die möglichste persönliche Sicherheit bot. Am hohen Ufer angekommen, sah ich die Wasser des Stromes unter mir und hörte ihr leises, von keinem stärkeren Accent unterbrochenes Rauschen.

Sonderbar! Besorgt um den Freund war ich hierhergekommen, um nach ihm zu suchen, und doch richtete sich meine Aufmerksamkeit zunächst nicht dorthin, wo ich nach ihm zu forschen hatte, nämlich nach dem Feuer, sondern auf die von links herbeiströmenden Fluten, deren nachtdunkle Fläche wie mit einem weichen, phosphoreszierenden, sich immerfort bewegenden Filigrannetze überzogen war. Dieses geheimnisvolle »Finsterleuchten« zog meine Blicke an und hielt sie eine ganze Weile fest.

Das war nicht der Euphrat, den wir am Tage gesehen hatten und über den wir vor kurzem geschwommen waren, sondern ein geheimnisvolles, lebendes, schlangengleiches Wesen, welches, aus dem Paradiese vertrieben, seinen unartikulierten, endlosen Leib in stummer Pein hier vorüberwand, ein nie versiegender Hinweis auf die unerbittliche Gerechtigkeit dessen, der sich nicht spotten läßt. Hier an diesem Flusse hatte sich einst das Gericht vollzogen, von welchem der Psalmist sagt:4 »An den Flüssen Babylons, dort saßen wir und weinten, wenn wir Sions gedachten. An den Weiden, die drinnen sind, hingen wir unsere Harfen auf; denn die uns gefangen wegführten, und die uns wegnahmen, forderten da von uns Lieder. Wie aber sollten wir singen den Gesang des Herrn im fremden Lande!« Vielleicht hatten da, wo ich jetzt lag, auch solche Klagende gesessen und sehnsüchtig hinabgeschaut in die Fluten, die von den Höhen kamen, über welche der Weg nach Palästina führte. Und wenn sie hier in der Einsamkeit mit ihren Klagen geendet hatten, so stiegen sie in die Binsenfähre, um hinüberzusetzen an das linke Ufer, an welchem ihre niedrigen Ziegel- oder Erdhütten lagen.

Das war noch ganz derselbe damalige Fluß, und rechts von mir, unten im Wasser, lag eine Binsenfähre von genau derselben Form, welche diese Fahrzeuge zu jener Zeit schon hatten, rund und niedrig ausgebaucht, wie eine große, leicht schwimmende Wasserschüssel.

Diese Fähre war halb von dem dichten Tamariskengestrüpp verdeckt, welches sich in fast undurchdringlicher Üppigkeit längs des Ufers hinzog. Es war nur eine einzige, vom Gebüsch befreite, freie Stelle zu sehen; dort brannte das Feuer, an welchem ich nur einen einzigen Mann bemerkte. Ein zweiter saß ganz am Wasser, demselben zugewendet und regungslos; er angelte.

Das gab ein so friedliches Bild; wo war da die Spur von einer Gefahr für mich zu sehen! Befand ich mich an dem gesuchten Versteck, von dem man glaubte, daß die Geister der Erschlagenen des Nachts da ihr Wesen trieben? Oder waren diese beiden Männer nur harmlose Fischer, welche jetzt in der Dunkelheit und Kühle einen Fang machen wollten, um ihn dann am Morgen unten in Hilleh zu verkaufen? Es widerstrebte mir, sie für so unschädlich zu halten, wie sie aussahen. In einem solchen, sich gern um seine eigene Achse drehenden Binsenfahrzeuge zwei volle Wegstunden weit stromaufwärts rudern, ist keine Arbeit, die man eines beabsichtigten Fischfanges wegen unternimmt, von dem man nicht einmal sagen kann, ob er ein Ergebnis haben wird. Zudem war es grad diese Friedlichkeit der Situation, welche mich in meinem Argwohn bestärkte; sie kam mir so gemacht, so künstlich vor. Ich sagte mir, daß – wie man sich auszudrücken pflegt – etwas dahinterstecke, und hätte diese beiden Männer ihre Rolle ruhig und ungestört weiterspielen lassen, wenn ich aus irgend einem andern Grunde und nicht Halefs wegen hergekommen wäre. Ich mußte wissen, warum er nicht zurückgekommen war und konnte das nur hier erfahren. Wer weiß, was man ihm angethan, mit ihm begonnen hatte! Es konnte jede Minute kostbar sein, und so durfte ich nicht hier liegen bleiben und unthätig abwarten, ob ein Fisch anbeißen werde oder nicht. Ich mußte etwas thun, aber was?

Ich glaubte, zunächst erfahren zu müssen, ob diese zwei Personen sich wirklich so allein, wie es den Anschein haben sollte, hier befanden, und beschloß also, längs des hohen Uferrandes hinzukriechen, um zu entdecken, ob wohl jemand unten in dem Buschwerk stecke. Ich schob mich demnach sehr langsam und vorsichtig in der erwähnten Richtung an der Erde hin.

Es verging wohl über eine Viertelstunde, bis ich die hier oben vollständig kahle Strecke so weit, wie unten das Gebüsch reichte, abgekrochen hatte. Da lag ich nun wieder und überlegte. Ich hatte trotz meiner scharfen Augen und Ohren nichts gesehen und nichts gehört. Wenn sich jemand hier versteckt hatte und gegen mich im Hinterhalte lag, so konnte das nur unten im Gestrüpp sein; ich mußte also hinunter; aber das war ebenso schwer wie gefährlich – – schwer, weil der obere Teil der Böschung aus tiefem, lockeren Sande bestand, mit dem ich wahrscheinlich hinunterrutschte, weil er mich nicht tragen konnte, und gefährlich, weil ich von jedem, der da unten steckte, gesehen werden mußte, wenn ich von oben abwärts kam. Es gab freilich noch eine andere Art und Weise, meinen Zweck zu erreichen, wenn ich nämlich meinen Weg noch weiter fortsetzte, dann das Wasser aufsuchte und nachher an demselben wieder aufwärts schlich; so vermied ich es, von der Böschungshöhe zu kommen, wurde vom Scheine des Feuers nicht getroffen und konnte also nicht gesehen werden. Aber das erforderte Zeit, mehr Zeit, als ich meiner Ansicht nach zu diesen nebensächlichen oder gar überflüssigen Vorbereitungen verwenden durfte. Vielleicht kam ich doch auch gleich hier unbemerkt hinab, und vielleicht hatte die Sandböschung doch mehr Halt, als ich dachte, denn es gab verschiedene dunklere Punkte in derselben, welche ich für Steine oder sonstige festere Stellen nahm, deren Färbung sich von der helleren des Sandes abhob. Grad vor mir, ganz in der Nähe, gab es zwei solche Stellen und seitwärts wieder drei. Aber wenn ich die Nebenumstände in Erwägung zog, war es doch besser, wenn ich mich zu dem erwähnten Umweg entschloß, und so kroch ich denn langsam weiter. Durch diese Bewegung geschah es, daß ich die zwei mir vorhin nahe liegenden Punkte in einigen Augenblicken erreichte. Ich wollte an ihnen vorüber, hielt aber still, denn sie bewegten sich! Kamen diese Steine etwa durch den von mir verursachten Druck mit dem Böschungssande ins Rollen? Nein, es waren ja gar keine Steine, sondern es fuhren vier Arme plötzlich aus dem Sande heraus, ebensoviele Hände klammerten sich um meinen Hals und meine Oberarme, und eine Stimme rief.

»Lahaun, lahaun, ia ridschal – hierher, hierher, ihr Männer! Wir haben ihn; haltet ihn fest, sehr fest!«

Man glaube nicht, daß ich erschrocken sei; ich war solche Überraschungen gewohnt, aber diese hier kam so schnell über mich, daß ich keine einzige Sekunde zur Gegenwehr bekam. An Hals und Armen festgehalten, wollte ich mich aufschnellen, es gelang mir auch, mich von dem einen loszureißen; ich kam halb empor und wollte nach dem andern fassen; da aber warf mir der erstere zwei Hände voll Sand in das Gesicht; eine Unzahl dieser Körnchen drang mir in die Augen; meine Hände wurden dadurch natürlich von dem Feinde ab und nach den gefährdeten Augen gelenkt, und dadurch ging mir der erlangte Vorteil sofort wieder verloren. Das Sehvermögen war mir genommen und damit auch die Möglichkeit, mich meinen Gegnern zu entziehen; es kamen mehrere dazu; ich hörte wohl zehn, zwölf verschiedene Stimmen durcheinander schreien. Ich wurde am ganzen Körper gepackt, wieder niedergerissen, gebunden und erst die Böschung hinab und dann durch das Gebüsch geschleift, bis man mich am Feuer lang auf die Erde warf. – – –

  1. Siehe: Karl May »Durchs wilde Kurdistan«, S. 56
  2. Daniel 4,26-29
  3. Siehe Karl May, »Durch die Wüste« Seite 364
  4. Psalm 136(137)

Lieber Leser, hast du vielleicht einmal die Augen so voller Sand gehabt, daß auch nicht ein einziges Körnchen mehr Platz gefunden hätte? Nein? Ich auch nicht alle Tage, dafür aber damals so gründlich wie nur möglich. Ich will nicht behaupten, daß dadurch ein gefährlicher Zustand hervorgerufen werde, aber unangenehm, höchst unangenehm ist er auf alle Fälle. Und wenn man dazu gefesselt ist, so daß man den geblendeten Augen nicht mit den Händen zu Hilfe kommen kann, und sich von Menschen umgeben weiß, denen alles andere, nur nichts Gutes, ja sogar das Schlimmste zuzutrauen ist, so ist das nichts weniger als eine Erleichterung zu nennen.

Wie ich mich zu verhalten hatte, darüber brauchte ich nicht erst lange nachzudenken. Ich hatte ruhig zu bleiben und nichts zu sagen, sondern nur auf das zu achten, was gesprochen wurde. Was meine Augen betraf, so mußte ich es der augenblicklich höchst energischen Thätigkeit der Thränendrüsen überlassen, sie nach und nach von dem Sande zu befreien. Wenn das geschehen war und ich wieder sehen konnte, dann mußte es sich finden, was ich weiter zu thun hatte. Zunächst durfte ich mir sagen, daß ich mich sehr wahrscheinlich ganz in der Nähe meines lieben Halef befand, was aber keineswegs eine wohlthuende Beruhigung für mich war, da ich aus Erfahrung wußte, daß es leichter ist, sich selbst allein, als außerdem noch einen zweiten aus einer solchen Lage, wie unsere jetzige war, zu befreien.

Während mir die sandigen Thränen immerfort über die Wangen rannen, verfolgte ich mit größter Aufmerksamkeit, was um mich her gesprochen wurde. Es entging mir kein einziges Wort, denn es fiel keinem Menschen ein, so leise zu sprechen, daß ich es nicht gehört hätte.

»Welch ein Fang!« sagte einer, den ich an seiner Stimme als den Pädär-i-Baharat erkannte. »Noch heut sind wir ihnen begegnet und mußten glauben, daß sie nach Bagdad wollten; wir gaben unsere Rache schon verloren; da sind sie uns in die Hände gelaufen!«

»Allah hat uns lieb; ihm sei Dank und Preis gesagt!« fügte ein anderer bei; das war Astab, der Begleiter des Pädär. »Der Hund rührt und bewegt sich nicht; er wird doch nicht etwa tot sein?«

»Tot? Wovon? Ihr habt ihn hierhergeschleift; dabei ist sein Kopf über die Erde gestreift; da ist er trotz der Weichheit des Sandes ohnmächtig geworden. Diese christlichen Schufte sind nur mit dem Munde stark, sonst aber können sie nichts vertragen. Wir warten, bis er wieder zu sich kommt; dann muß er gestehen, was sie hier zu suchen hatten.«

»Sie haben nichts, gar nichts gewollt,« sagte ein dritter, dessen Stimme mir ihn als den Wirt aus Hilleh verriet. »Nur der Zufall kann sie hierher geführt haben, denn es ist ganz unmöglich, daß sie etwas von diesem Verstecke und von unsern Plänen wissen.«

»Ja, unmöglich!« gab der Pädär zu. »Nur aus diesem Grunde war trotz aller Drohungen aus diesem verfluchten Scheik der Haddedihn kein Wort herauszubringen. Holt ihn aus der Fähre; bringt ihn her! Er soll die Freude haben, seinen berühmten und geliebten Emir aus Dschermanistan auch in unsern Händen zu sehen.«

Ich hörte, daß einige fortgingen; dann ließ sich einer, der noch nicht gesprochen hatte, vernehmen:

»Ich erwarte, daß nun die Strafe beginnt, welcher diese Halunken durch ihre Flucht aus der Mehkeme entgangen sind. Sie müssen wenigstens totgeprügelt werden!«

Das war der Ghasai-Beduine, welcher sich für einen Solaib ausgegeben hatte. Es waren also fast alle unsere hiesigen lieben Freunde und Bekannten beisammen.

»Trage nur darum keine Sorge!« beruhigte ihn der Pädär. »Sie werden totgepeitscht, und zwar so langsam, daß sie Monate darüber zubringen. ich würde sofort damit beginnen; aber du weißt ja, wie außerordentlich streng der Säfir in solchen Dingen ist. Er duldet keine Eigenmächtigkeit und beantwortet jede Übertretung unserer Gesetze mit dem Tode des Betreffenden.«

»Er treibt die Strenge zu weit!«

»Nein, denn nur durch sie können Zucht und Ordnung erhalten werden. Jeder andere Verein hat die Möglichkeit, den Ungehorsam mit der Ausstoßung zu ahnden; uns aber ist das versagt, weil der Ausgestoßene uns verraten würde; nur der Tod giebt Sicherheit. Wir dürfen den beiden Gefangenen nicht einmal die Taschen untersuchen, weil die Hand des Säfir die erste ist, welche hineinzugreifen hat. Es genügt, zu wissen, daß sie keine Waffen als nur ihre Messer bei sich trugen, und die haben wir.«

Wie außerordentlich lieb mir das war! Sie hätten bei genauer Durchsuchung die Ringe der Sillan gefunden, die wir ihm und seinen Begleitern abgenommen hatten.

»Wird der Säfir sie nicht etwa leichter bestrafen, als wir wünschen?« fragte der Ghasai.

»Gewiß nicht! Er hat, wie ihr erzähltet, selbst mit ihnen abzurechnen, und ich bekomme eine der ersten, vielleicht die wichtigste Stimme, wenn wir über sie zu Gericht sitzen werden; das genügt vollständig. Du hast dich vorhin über die Strenge unserer Gesetze beklagt, und zwar mit Unrecht, denn sie kommt deinem Wunsche entgegen, indem sie unbedingt den Tod dieser Männer fordert. Nur die Art und Weise dieses Todes unterliegt noch dem Beschlusse. Jetzt still! Sie bringen den Kleinen. Ich werde jetzt von ihm zu erfahren suchen, wo die Pferde und ihre andern Sachen stecken.«

Der Hadschi wurde gebracht und neben mich gelegt; er war auch gefesselt, vielleicht sogar geknebelt, um nicht sprechen oder gar rufen zu können, falls ihm der Gedanke kommen sollte, mich zu warnen.

»Bindet ihm den Mund auf, damit er meine Fragen beantworten kann!« befahl der Pädär.

Als man dieser Weisung Folge geleistet hatte, sagte er in höhnischem Tone zu dem Hadschi:

»Du siehst, daß ich recht hatte; da liegt er; wir haben ihn!«

»Ist er tot?« fragte Halef besorgt.

»Nein. Es ist ihm nur die Besinnung abhanden gekommen. Sobald er wieder bei sich ist, werdet ihr Hiebe erhalten, die bis auf die Knochen gehen!«

»Das freut mich ja ungeheuer!« antwortete Halef lachend. »Es ist eine lobenswerte Einrichtung bei euch, daß diese Hiebe auf euch zurückfallen werden!«

»Du bist wohl nicht bei Sinnen?«

»Oh, ich habe sie alle beisammen! Ihr hattet mir zwar den Mund, nicht aber die Ohren zugebunden, und da ihr so klug gewesen seid, laut genug zu sprechen, so habe ich alles gehört. Ihr dürft uns ja ohne den Säfir nicht einmal in die Taschen greifen, viel weniger also prügeln!«

»Hund! Ich werde dir beweisen, daß wir dich prügeln, daß das Blut zur Erde läuft, wenn du die Fragen, welche ich an dich richte, nicht augenblicklich beantwortest. Also höre, was ich wissen will! Warum seid ihr nicht nach Bagdad geritten?«

»Weil wir gar nicht dorthin wollten.«

»Wohin denn?«

»Nach Burdsch Awaineh.«

»Das liegt doch im Süden der Ruinen; ihr aber rittet nördlich auf Bagdad zu. Du sagst also einen Widerspruch!«

»Allah behüte deinen Verstand! Du scheinst zu den unglücklichen Menschen zu gehören, deren Gehirn in Unordnung geraten ist und die darum grad in der besten Zusammenstimmung den ärgsten Widerspruch entdecken.«

»Die Unordnung liegt in deinem, aber nicht in meinem Gehirn. Ich verlange die Erklärung!«

Ich gestehe, daß ich höchst neugierig auf diese Erklärung war. Ich kannte meinen kleinen Hadschi; er war in seinen Thaten schnell und unbedachtsam, sonst aber außerordentlich schlau; in Worten überlisten ließ er sich fast nie. Wie er grad auf die Ruine Burdsch Awaineh zu sprechen gekommen war, das bildete für mich ein Rätsel; aber daß er sich ganz gut herausreden und dabei nicht das Geringste verraten werde, davon war ich überzeugt. Er antwortete:

»Da du die Ordnung meines Verstandes bezweifelst, werde ich dir beweisen, daß weder an ihm noch an ihr etwas zu tadeln ist. Mein Effendi gehört zu den höchst wichtigen und gelehrten Herren, welche gern alte Ruinen untersuchen, um die Denkmäler früherer Zeiten auszugraben. Er kam mit mir hierher, um dies hier auch zu thun. Wir wollten zu diesem Zwecke nach Burdsch Awaineh, wurden aber leider am Birs Nimrud festgenommen und nach Hilleh geschafft. Von dort sind wir zwar entflohen, aber das Nachgraben in Burdsch Awaineh hat mein Effendi trotzdem nicht aufgegeben. Wir stellten uns darum, als ob wir nach Bagdad wollten, ritten aber bloß bis zum Khan Nasrijeh. Zurück nach Hilleh und über die dortige Brücke durften wir natürlich nicht; darum wendeten wir uns dem Euphrat zu, durchschwammen ihn und legten uns dann nieder, um zu schlafen. Bevor wir die Augen schlossen, sahen wir den Schein dieses Feuers, und ich ging, um nachzusehen, wer es angezündet habe. Als ich oben angekommen war, fuhr der lose Sand mit mir herunter und ich mitten unter euch hinein. Ich wurde gefangen genommen und nicht wieder fortgelassen. Die Strahlen deiner unübertrefflichen Weisheit werden dir erklären, daß mein Effendi neugierig gewesen ist, warum ich nicht zu ihm zurückgekehrt bin; er ist gegangen, um nachzusehen, und hat bei euch denselben Empfang wie ich gefunden. Nun sage mir, ob in meinem Gehirn oder in dem, was wir thaten, ein Widerspruch zu finden ist!«

Er hatte das in einem so fließenden Tone der Unbefangenheit und Selbstverständlichkeit erzählt, daß es mich gar nicht wundernahm, als der Pädär erwiderte.

»So ist euer Hiersein zur Genüge erklärt. Wo ist die Stelle, an welcher ihr schlafen wolltet? Wir werden eure Pferde holen.«

»Unsere Pferde? Die sind nicht dort.«

»Nicht?« klang die erstaunte Frage.

»Nein.«

»Wo befinden sie sich?«

»Im Khan Nasrijeh natürlich, wo wir sie in Aufbewahrung gegeben haben.«

»Und eure Waffen?«

»Die sind auch dort. Das ist doch ganz selbstverständlich!«

»Selbstverständlich? Ich begreife es nicht!«

»Nicht? Wirklich nicht? So ist es also doch dein Gehirn und nicht das meinige, welches in Unordnung geraten ist! Wir sind hier unschuldig überfallen und nach der Mehkeme geschafft worden; wir haben fliehen müssen; man verfolgt und sucht uns; wir haben über den Euphrat schwimmen müssen, dessen Wasser unser Eigentum beschädigt oder ganz verdorben hätte. Und bei all diesen vielen Gründen und Erklärungen findest du es unbegreiflich, daß wir nichts mitgenommen haben?!«

»Du wirst und mußt aber doch zugeben, daß ihr das alles in Burdsch Awaineh gebraucht hättet!«

»Natürlich brauchen wir es, und wir bekommen es auch. Wir erwarten nämlich noch einen zweiten Effendi, welcher mit mehreren Dienern und Begleitern in zwei Tagen nachkommt. Dieser kehrt im Khan Nasrijeh ein, bekommt vom Khandschi alle unsere Sachen und wird sie uns mitbringen, ohne daß sie im Euphrat durchnäßt werden oder in Hilleh Gefahr laufen, von dem Sandschaki als unser Eigentum weggenommen zu werden. Wenn du nun noch etwas unbegreiflich findest, so sage es! Ich bin bereit, mich auch noch weiter der sehr beeinträchtigten Klarheit deines Verstandes anzunehmen.«

Ich muß sagen, daß ich mich über meinen kleinen, pfiffigen Hadschi freute. Die von ihm angegebenen Erklärungen und Gründe waren, besonders auch infolge der Art und Weise, wie er sie vorgebracht hatte, so vortrefflich, daß er seine Sache gar nicht besser hätte machen können. Der Pädär schien vollständig überzeugt zu sein, daß ihm die Wahrheit gesagt worden sei, denn er versetzte:

»Über die Beleidigungen meines Verstandes werde ich später mit dir abrechnen, denn in diesem Augenblicke bin ich zur Milde geneigt, weil du meinem Befehle Folge geleistet und mir die geforderte Auskunft gegeben hast. Darum will ich dir auch als Belohnung deiner Fügsamkeit sagen, daß alle eure im Khan Nasrijeh angewendete Vorsicht vergeblich gewesen ist, denn wir werden doch alles bekommen, was ihr dort in Verwahrung gegeben habt.«

»Hast du vielleicht die Absicht, mich zum Lachen zu bringen?« fragte Halef. »Bilde dir ja nichts über meine Fügsamkeit ein! Alles was ich thue oder sage, das sage und thue ich nur, weil es mir gefällt, nicht aber aus Gehorsam gegen dich oder einen andern Menschen. Und der Effendi, den wir erwarten, wird sich hüten, sich auf irgend eine Weise das ablocken zu lassen, was er uns in Burdsch Awaineh zu übergeben hat!«

»Du redest wie ein unerfahrener, blinder Knabe, welcher nicht sieht, was vor ihm liegt. Ihr werdet ja gar nicht nach Burdsch Awaineh kommen, sondern wir werden uns dort befinden und ihn in einer Weise empfangen, daß er niemals daran denken wird, die rechtgläubigen Bewohner dieser Gegend durch seine ungläubige Gegenwart zu beleidigen. Pferde und Waffen, wie die eurigen sind, läßt man sich nicht entgehen, wenn man sie einmal gesehen hat.«

»So hätte ich dich also zu der Sorte von Menschen zu rechnen, welche man Diebe oder gar Räuber nennt?«

»Ja, thue das; thue es getrost!« lachte der Pädär. »Du hast überhaupt gar keine Ahnung von unsern— ah, schaut, der Christ bewegt sich! Seine verlorene Seele scheint zurückgekehrt zu sein, um von uns zu erfahren, daß wir sie zur Hölle senden werden.«

Meine Augen waren zwar noch nicht ganz vom Sande frei, aber ich konnte sie doch wenigstens für kurze Augenblicke öffnen und hielt es darum für an der Zeit, ein Lebenszeichen zu geben. Als er dies bemerkte, schürte er das Feuer heller, um mein Gesicht ganz deutlich sehen zu können, und sprach mich höhnisch an:

»Sei gegrüßt, o tapfrer Held der Ziegelsteine, nach denen ihr in Burdsch Awaineh graben wollt! Dein Erwachen giebt meiner Seele Trost und lindert mir den Schmerz, den ich empfand, als ich dich für tot hier liegen sah. Ich bin voller Begierde, euch hier am Euphrat die Freundschaft zu vergelten, die ihr uns am Tigris erwiesen habt. Es wird mir eine Wonne sein, mit der Peitsche in die Tiefen deines Körpers einzudringen und das Geheul der Angst und des Schmerzes zu vernehmen, mit welchem ihr zur Hölle fahren werdet!«

Hierauf zu schweigen, hätte als ein Zeichen der Furcht gelten können, darum antwortete ich zunächst mit einem kurzen, verächtlichen Lachen.

»Lache nicht, Hund!« fuhr er zornig auf. »Du scheinst noch nicht zu wissen, wo und bei wem du dich befindest. Öffne deine Augen und schau mich an! Kennst du mich?«

Ich warf ihm einen Blick zu und lachte wieder.

»Allah vernichte dich! Du hast mich erkannt und lachst dennoch abermals! Ich sage dir, daß diese deine erzwungene Lustigkeit sich sehr bald in das Gejammer der Verzweiflung verwandeln wird! Du hast keine Ahnung von dem Schicksale, welches dich erwartet!«

»Mein Schicksal kenne ich freilich nicht, denn das steht in Allahs Hand; dafür aber kenne ich das deinige um so besser, weil ich es bin, der darüber zu bestimmen hat,« antwortete ich nun.

»Habt ihr gehört, was er jetzt sagte? Indem sein Kopf, als ihr ihn hierher brachtet, auf der Erde schleifte, ist der Inhalt dieses verruchten Schädels verletzt worden. Der Kerl ist wahnsinnig, vollständig wahnsinnig, das bestätigen die verrückten Worte, welche aus seinem Munde gekommen sind. Wie schade, wie jammerschade das ist! Nun hat er nicht Verstand und Gefühl genug, die unendliche Liebe zu begreifen, mit welcher wir uns seines Glückes und seines Wohlbefindens annehmen werden. – – – Horch – –!«

Es war vom Flusse her ein Pfiff erklungen, dem jetzt ein zweiter und dann ein dritter folgte. Die Anwesenden sprangen alle auf, Halef und mich natürlich ausgenommen.

»Sie kommen schon!« sagte der Pädär. »Sie kommen schon, leider! Wie gern hätte ich diesen beiden Schurken hier die Qualen ausgemalt, mit denen wir sie beglücken werden!

Nun müssen wir sie fortschicken, weil uns die Seichtigkeit des Kanales zwingt, die Kelleks zu teilen und die Särge umzuladen. Diese Arbeit darf keinen Augenblick aufgehoben werden, wenn bis zum Tagesanbruch alles im Machzan untergebracht sein soll. Der Bote muß sofort aufbrechen, um den Säfir zu benachrichtigen. Es muß noch einer mit, weil er diese Gefangenen mitzunehmen hat!«

Nach diesen in hastiger Weise gemachten Bemerkungen stellte er sich an das Wasser und pfiff auch dreimal. Es wurde mit demselben Zeichen erwidert, und dann wurden einige lange und schwer beladene Kelleks herbeigerudert und an das Ufer befestigt. Da die Aufmerksamkeit aller auf diese Flöße gerichtet und also von uns abgelenkt war, glaubte Halef die Gelegenheit wahrnehmen zu müssen, sich mit mir zu verständigen. Er sagte:

»Ich kann nicht dafür, Sihdi! Nicht ich bin schuld, sondern es stand im Buche des Geschickes verzeichnet, daß wir Gefangene dieser Leute werden sollten. Denkst du, daß es uns möglich sein wird, wieder loszukommen?«

»Nur dann, wenn du jetzt schweigst. Wir dürfen uns kein Wort entgehen lassen. Wahrscheinlich hören wir Dinge, welche uns zu statten kommen werden.«

»O, man wird so klug sein, nichts zu sagen, was uns Nutzen bringen kann!«

»Wenn wir auch nichts Direktes erfahren, so können doch Worte fallen, aus denen, wenn wir sie richtig zusammensetzen, günstige Schlüsse zu ziehen sind. Sei also jetzt ganz still! Und wenn der Pädär noch mit uns spricht und wir ihm antworten müssen, so überlaß das mir, denn in unserer Lage kann das kleinste Wort von der größten Bedeutung sein!«

Als das erste Floß angelegt worden war, sprang ein Mann von demselben zu dem Pädär herüber und sagte:

»Du bist selbst *da? Das ist ein gutes Zeichen. Es ist alles nach Wunsch abgelaufen?«

»Ja. Eure erste Abteilung ist gestern glücklich angekommen, und die Ladung wurde richtig untergebracht. Wenn wir heut bis zum Anbruche des Tages fertig werden, ist auch für eure Waren nichts zu besorgen. Wir müssen also augenblicklich mit der Arbeit beginnen.«

»Wen habt ihr denn hier liegen? Zwei gefesselte Menschen! Also Gefangene, Leute, die uns gefährlich sind?«

»Ja; ein christlicher und ein sunnitischer Hund, die wir in die Dschehenna schicken werden. Ich erzähle dir das nachher; jetzt haben wir keine Zeit, davon zu sprechen. Ich lasse sie sofort zum Säfir bringen, der sie einstweilen, bis wir mit diesem Transporte fertig sind, in das Zyndan des Nimrud sperren wird.«

Der Neuangekommene wendete sich seinem Floße wieder zu. Der Pädär winkte zwei Männer zu sich und sprach so leise mit ihnen, daß ich nichts hören konnte; seine Blicke und Gesten sagten mir aber, daß die Weisungen, welche er ihnen erteilte, unsere Personen betraf. Dann kam er zu uns, gab mir einen Tritt an den Leib und sagte:

»Für jetzt muß ich mich leider von euch trennen; aber laß es dir ja nicht einfallen, daraus auch nur die geringste Hoffnung für euch zu schöpfen! Ich komme nach, und dann rechne ich mit euch ab. Es giebt kein Wort des Schreckens, welches ausreichend wäre, das zu beschreiben, was wir mit euch vornehmen werden. Der Teufel sei euer Wächter, bis ich euch wiedersehe!«

»Er wird es besser mit uns meinen, als du; darauf gebe ich dir mein Wort!« antwortete ich.

»Willst du mir etwa drohen, räudiges Hundefell?«

»Was ich sage, ist keine leere Drohung, sondern es geschieht. Nicht du wirst mit uns, sondern wir werden mit euch abrechnen, sobald du es wagst, uns wieder vor die Augen zu treten. Mach dich gefaßt darauf!«

Er stieß einen Fluch aus, versetzte mir noch einen sehr kräftigen Fußtritt und gab dann seinen Leuten einen auf uns bezüglichen Wink. Wir wurden angefaßt und nach der Binsenfähre getragen, in welcher man uns nebeneinander legte. Die beiden Männer, denen er vorhin seine Befehle erteilt hatte, stiegen zu uns herein, lösten die Fähre von dem Ufer und griffen zu den Rudern, um vom Lande zu stoßen. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.

Die geflochtenen Ränder der Fähre waren so hoch, daß wir nicht über sie hinwegblicken konnten. Wir sahen ein Stück Himmel über uns, weiter nichts. Die Bewegungen des leichten Fahrzeuges waren sanft und gleichmäßig; man merkte, daß unsre Wächter große Übung in der Führung eines solchen Binsenkorbes besaßen. Sie kümmerten sich nicht um uns und arbeiteten, weil sie Eile hatten, aus Leibeskräften. Da wir gefesselt waren, nahmen sie an, daß eine besondere Beaufsichtigung nicht nötig sei.

Als eine Weile vergangen war, näherte Halef seinen Mund meinem Ohre und fragte:

»Darf ich jetzt sprechen, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich ebenso leise.

»Bist du zornig auf mich?«

»Wie ein Löwe!«

»Das beruhigt mein Herz, denn ich habe noch mit keinem einzigen Löwen gesprochen, der mir gesagt hat, daß er zornig auf mich sei. Ich kann dir nur wiederholen, daß ich keine Schuld an unserm Unglück habe. Es brach so plötzlich über mich herein, wie der Sand einbrach, der in seinem Unverstande das Gleichgewicht des Haltes verlor und erst mit meinen Füßen, dann aber mit der ganzen Ausdehnung meines Körpers in die Tiefe flog. Ich sage dir, diese Perser oder was sie sind, waren im ersten Momente nicht weniger bestürzt, als ich es war!«

»Konntest du denn ihre Überraschung nicht benutzen?«

»Wozu?«

»Schnell aufzuspringen und zu fliehen?«

»O Sihdi, was du doch manchmal für sonderbare Gedanken hast? Erstens liegt es in der Bestimmung des Kismet, daß das Fallen immer schneller vor sich geht als das Aufspringen, was du doch wohl auch schon an dir selbst erfahren hast. Zweitens war mein Weg von oben herab bis zu ihnen herunter weiter als der ihrige zu mir, die doch einfach sitzen geblieben waren, und so dauerte meine Überraschung auch länger als die ihrige. Drittens lag ich unter einem ganzen Berg von Sand, sie aber nicht. Viertens besaß ich nur zwei Beine zum Ausreißen, sie aber besaßen zusammen wohl zwanzig Hände zum Zugreifen. Fünftens waren ––«

»Halt ein, sonst bist du morgen mit deinem Aufzählen noch nicht fertig!« fiel ich ein. »Ich habe das Unheil vorausgesehen. Es ist richtig eingetroffen, was ich befürchtete. Ich hätte selbst gehen, dich aber nicht schicken sollen. Du bist nicht vorsichtig genug!«

»Sihdi, zanke nicht auf mich, sondern auf dich! Ich habe mich ganz genau so verhalten, wie du es wolltest, du dich aber nicht so, wie ich es wünschte.«

»Wie meinst du das?«

»Du wünschtest, ich solle vorsichtig sein, und das bin ich auch gewesen; daß die Böschung dann so unvorsichtig war, mit mir dorthin zu rutschen, wohin sie gar nicht gehört, das mußt du ihr vorwerfen, aber nicht mir. Dann, als ich gefangen war und mir sagte, daß du mir folgen werdest, wünschte ich von ganzem Herzen, du möchtest dich nicht auch ergreifen lassen. Hast du diesen meinen Wunsch etwa befolgt?«

»Hm, nein!«

»Gut! Du siehst also ein, daß du nicht mit mir, sondern mit dir zu zürnen hast. Also zanke nicht!«

Ich hätte laut auflachen mögen. Der pfiffige Kleine wälzte alles von sich auf mich und zwar in so diplomatischer Weise, daß es mir fast unmöglich war, ihm unrecht zu geben. Und dann fügte er zur Abwehr eines vielleicht doch von mir beabsichtigten Seitenhiebes hinzu:

»Ich glaubte, du seist wirklich ohnmächtig; du warst es aber nicht?«

»Nein.«

»So hast du gehört, welche Antworten der Pädär von mir bekommen hat?«

»Ja.«

»Sag aufrichtig, habe ich das nicht gut gemacht?«

»Vortrefflich!«

»Ich danke dir! Dieses dein Eingeständnis giebt mir die beglückende Überzeugung, daß die Kürze meiner Einsicht der Länge deines Verstandes doch noch ebenbürtig ist. Wir stehen uns also vollständig gleich und sind in Beziehung auf unsere tiefe, von den Persern besorgte Ergriffenheit vollständig miteinander quitt. Wir können uns darum nun in freundschaftlicher Einigkeit der Hauptsache zuwenden: Denkst du, daß es uns glücken wird, freizukommen?«

»Gewiß.«

»Wann? Wo? Wie?«

»Das ist zuviel auf einmal gefragt. Wir müssen abwarten, was geschehen wird.«

»Man wird uns dem Säfir ausliefern?«

»Ja.«

»Was wird er mit uns thun?«

»Er wird uns, wie du von dem Pädär gehört hast, in dem Zyndan des Nimrud unterbringen.«

»Hast du eine Ahnung, was für eine Art von Gefängnis das ist?«

»Ich denke, daß es derselbe unterirdische Raum im Birs Nimrud sein wird, in welchem unser Bagdader Bimbaschi gesteckt hat.«

»Allah! Wie kommst du auf diese Idee?«

»Es sind verschiedene Gründe, die mich auf sie führen. Wir können das jetzt nicht ausführlich erörtern.«

»Meintest du nicht, daß es aus diesem Raume einen Ausweg gebe?«

»Ich bin beinahe überzeugt davon, doch fragt es sich, ob dieser Ausweg auch für Menschen gangbar ist. Mag geschehen, was da will, und mag es kommen, wie es will, wir müssen wünschen, nicht voneinander getrennt zu werden.«

»Das ist richtig, und darum werde ich, falls man uns trennen will, dies einfach nicht zugeben!«

»Wie willst du das anfangen?«

»Das weiß ich jetzt noch nicht; aber im betreffenden Augenblicke werde ich es wissen.«

»Du wirst nichts, gar nichts wissen. Wenn man uns trennen will, wird man es thun, ohne daß wir es verhindern können. Unsere Befreiung steht mir außer allem Zweifel; nur darf sie nicht zu lange auf sich warten lassen, schon unserer Pferde wegen. Wollen doch vor allen Dingen einmal unsere Fesseln untersuchen. Du hast die Finger frei?«

»Ja.«

»Mir hat man die Hände leider auf dem Rücken zusammengebunden. Ich werde mich umdrehen. Untersuche einmal, ob du sie vielleicht aufknüpfen kannst!«

Ich legte mich auf die andere Seite, so daß ich ihm den Rücken zudrehte, und fühlte dann, daß er trotz seiner auch gefesselten Hände sehr eifrig an den Knoten, welche mehrfach und zwar sehr fest geknüpft worden waren, herumarbeitete. Es dauerte lang, wohl eine Viertelstunde, bis ich merkte, daß sie locker wurden. Ich half durch Drehen der Hände und Dehnen der Riemen nach, und es gelang mir, zunächst die rechte Hand frei zu bekommen, die linke aber noch nicht, weil man die Vorsicht angewendet hatte, die Banden nicht direkt um beide Handgelenke, sondern um jedes besonders zu schnüren und dann noch unter dem Gürtel zweifach hindurchzuziehen.

Die Befreiung dieser Hand hatte eine ziemliche Kraftanstrengung erfordert und einen Ruck verursacht, welcher sich dem leichten Fahrzeuge mitteilte; es schwankte.

»Was macht ihr da!« rief uns der eine der Ruderer zu, indem er sich nach uns umdrehte. »Liegt ruhig, sonst werfen wir um, und ihr müßt elend ersaufen!«

Der andere war leider bedenklicher; er sagte.

»Wer weiß, was sie miteinander vorhaben! Das sind durchtriebene Hunde. Untersuche doch einmal ihre Fesseln! Ich führe inzwischen das Ruder allein.«

Sobald ich das hörte, war ich überzeugt, vor einem Augenblicke der Entscheidung zu stehen. Es wurde unbedingt entdeckt, daß eine meiner Hände frei war. Was dann? Sollte ich sie mir wieder festbinden lassen? Nein! Dann gab es einen Kampf und wir fielen alle in das Wasser. Und wenn dies auch nicht geschah, so waren uns die beiden Gegner, weil sie Waffen besaßen und ich mich nur eines Armes bedienen konnte, weit überlegen. Das war also auch zu vermeiden. Da gab es nur noch einen Fall, nämlich meine Flucht. Aber Halef konnte, weil gefesselt, nicht mit. Durfte ich ihn verlassen? Warum nicht? Bekam ich meine Freiheit wieder, so konnte ich ihm dann mehr nützen, als wenn ich mit ihm gefangen blieb. Aber ich wagte mein Leben. Die Füße waren zusammengebunden und die linke Hand hing noch am Gürtel fest. Dazu war vorauszusehen, daß man auf mich schießen werde, denn die beiden Männer waren im Besitze von Pistolen. Pah! Ich brauchte nur schnell im Wasser zu verschwinden, so hatte ich keine Kugel zu fürchten. Also, frisch gewagt!

Diese Gedanken gingen mir so schnell durch den Kopf, daß ich am Entschlusse stand, noch ehe sich der Ruderer zu uns niedergebückt hatte. Ich flüsterte Halef noch rasch zu:

»Sei ohne Sorge; ich hole dich!«

Dann richtete ich mich auf und sprang über den Rand des Fahrzeuges in das Wasser. Die Flut schlug über mir zusammen, doch hörte ich noch einen doppelten Schrei vorher.

Mein Sprung brachte natürlich die Fähre aus dem Gleichgewichte; gebaut wie ein runder Korb, mußte sie sich im Kreise drehen, und so hatten die Rudersleute zunächst ihre ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten, sie wieder in das Gleichgewicht zu bringen. Dadurch gewann ich Zeit und säumte nicht, sie zu meinem Vorteil auszunützen.

Wir hatten uns auf einer Krümmung des Flusses und darum in der Nähe des rechten Ufers befunden; meine Aufgabe war, dieses so rasch wie möglich zu erreichen. Der rechte Arm genügte mir zum Schwimmen. Als ich untergetaucht war, brachte ich mich durch einige Seitenschläge in die gewünschte Richtung und kam erst wieder empor, als mir der Atem ausgehen wollte. Da sah ich den Binsenkorb als umrißlosen Gegenstand wohl über dreißig Schritte von mir schaukeln. Ich ging wieder nieder und wiederholte das, bis ich ihn nicht mehr sehen und also annehmen konnte, daß man von ihm aus auch mich nicht entdecken werde. Von da an blieb ich oben und gelangte ohne sonderliche Anstrengung an das Ufer, von welchem aus ich die zornigen Stimmen der beiden Euphratpiraten brüllen hörte.

Am Wasser sitzend, machte ich mich nun von den Banden frei. Das geschah, da ich nicht beobachtet wurde, ziemlich leicht. Ich zog an dem Gürtel, bis der hintere Teil desselben, und mit ihm die Hand, nach vorn gekommen war, und knüpfte diese mit der Rechten los. Nun standen mir alle zehn Finger zur Verfügung, auch den um die Fußgelenke geschlungenen Riemen aufzuknoten, was nicht mehr als eine Minute erforderte. Dann befand ich mich im Wiederbesitze aller meiner Glieder und konnte das thun, was das zunächst Notwendige war – die Pferde aufsuchen.

Wir waren wohl nicht ganz drei Viertelstunden unterwegs gewesen und dabei den Krümmungen des Flusses gefolgt. Ich kannte jetzt diese Windungen, denn wenn wir auch nicht über den Rand der Fähre hatten blicken können, so hatte es in dem Flechtwerke doch Lücken gegeben, die uns, erst einmal entdeckt, hinauszusehen erlaubten. Ich brauchte also nicht dem Laufe des Stromes zu folgen, sondern ging erst ein Stück schräg in das Land hinein und wendete mich dann in die Richtung, welche mich geraden Weges zu den Pferden führen mußte.

Wenn man einen Winnetou zum Lehrmeister im Dauerlaufe gehabt hat und so hübsch frisch, naß und erquickt aus dem Wasser gestiegen ist, wie jetzt ich, so fördern die Schritte doppelt. Schon nach einer guten halben Stunde sah ich rechts von mir den Feuerschein und kam dann an die Rinne, in welcher ich die Pferde wußte.

Die lieben Tiere empfingen mich mit frohem Schnauben. Wäre es Tag gewesen, so hätten sie vor Freude gewiehert. Sie lagen noch grad so da, wie ich sie verlassen hatte; ich streichelte sie zum Dank für ihre Folgsamkeit; dann aber mußten sie auf, denn es galt, nach dem Birs Nimrud zu eilen. Am liebsten wäre ich freilich hinüber zum Pädär-i-Baharat geritten, um ihm und seiner Sippe zu zeigen, wie lange man mich hatte festhalten können; aber das wäre eine nicht nur unnütze, sondern für unsere Zwecke sogar schädliche Prahlhanserei gewesen, und so verzichtete ich darauf. Halefs Barkh bekam die Gewehre und andern Gegenstände zu tragen; Ben Rih mußte mit mir fürlieb nehmen, und so ging es denn zu Pferde der Gegend wieder zu, aus welcher ich soeben als Schnelläufer zu Fuße gekommen war. Welche Ereignisse mich dort unten am Birs Nimrud erwarteten, darauf war ich neugierig. Es galt, Halef zu befreien. Auf welche Weise das zu geschehen hatte, das kam ganz auf den Ort an, wohin man ihn geschafft hatte, und auf die von mir dort vorzufindenden Verhältnisse. Das aber nahm ich mir für alle Fälle vor, daß es keinem Menschen wieder gelingen sollte, meine Person in seine Gewalt zu bringen. Der Mensch denkt und –——- ist dabei so gedankenlos, daß dann grad das Gegenteil von dem geschieht, was er glaubt, ganz logisch und folgerichtig gedacht zu haben!

Ich wäre gern Galopp geritten, durfte dies aber nicht, wegen der vielen ausgetrockneten Kanäle, Gräben und sonstigen Einsenkungen, welche ich zu passieren hatte; doch kam ich trotzdem so schnell vorwärts, daß ich schon nach drei Viertelstunden den Karawanenweg nach Kerbela kreuzte. Dann kam Tahmasia und später Tell Markeh, worauf ich nach dem Birs Nimrud einbog.

Hier brauchte ich wieder einen Ort, an welchem ich die Pferde verbergen konnte. Das gestrige Versteck, wo wir die Spuren der Stachelschweine gesehen hatten, war zwar vortrefflich gewesen, dann aber allen unsern Begleitern bekannt geworden; darum durfte ich es nicht wieder wählen. Als wir in der Frühe mit den Soldaten nach Hilleh geritten waren, hatte ich, freilich ohne spezielle Absicht, den Teil der Ruinen, an welchem wir vorübergekommen waren, genau in Augenschein genommen, und so erinnerte ich mich jetzt eines Mauereinschnittes, von dem ich glaubte, daß er meinem Zwecke entsprechend sei. Ich ritt also der Gegend zu, in welcher er sich befand, und verfehlte ihn nicht.

Ich stieg ab und untersuchte die Stelle näher; ich hatte mich nicht getäuscht; sie paßte sehr gut für die Absicht, welche ich verfolgte; darum schaffte ich die Pferde hinein, pflockte sie an und befahl ihnen, sich zu legen, was sie sofort thaten. Ein Messer hatte ich nicht mehr, weil mir das meinige von dem Pädär abgenommen worden war, ich steckte also einen meiner zwei Revolver zu mir; alles andere ließ ich zurück, dann ging ich, um nach Halef zu suchen.

Nach meiner Berechnung mußte er schon vor mir angekommen sein; meine Flucht hatte seine Begleiter unbedingt zur größten Eile angetrieben. Da ich annahm, daß das Zyndan, in welches man uns hatte schaffen wollen, das frühere Gefängnis unseres Bimbaschi sei, dessen Eingang ich kannte, so wußte ich, wohin ich meine Nachforschungen zu richten hatte: Ich mußte über die Stelle hinweg, an welcher die Särge geöffnet und verbrannt worden waren. Dorthin wendete ich mich.

Da ich die Örtlichkeit genau kannte, bot sie mir keine Schwierigkeiten, doch nahm ich mich außerordentlich in acht, von jemand gehört oder gesehen zu werden. Ich benutzte jede Ecke, jeden Vorsprung, um vorher zu horchen, ehe ich weiterging, und das nahm mehr Zeit in Anspruch, als ich an diesen Schleichweg eigentlich hatte wenden wollen. Es herrschte tiefe Stille ringsumher; sogar die Luft schien unbeweglich zu sein. Das war so recht der Tod, der einst, vor nun über zweitausend Jahren, seine Sterbedecke über das damals so leichtlebige Babel ausgebreitet hatte! Ich kam auch an die Stelle, von welcher aus ich mit Halef das Verbrennen der Leichen zuerst bemerkt hatte, und blieb da unwillkürlich stehen. Da klang eine unterdrückte Stimme links aus den Ziegeltrümmern heraus:

»Sihdi!«

Dieses Wort zog mich rasch nach der Seite hin. War es Halef gelungen, zu entfliehen, und hatte er mich hier erwartet, weil er wußte, daß ich unbedingt kommen und nach ihm suchen werde?

»Halef, bist du es?« fragte ich.

»Ja. Sprich leise, und komm schnell her, sonst entdecken sie dich!«

»Zeige dich erst! Tritt einmal hervor!« forderte ich ihn in meiner so oft bewährten Vorsicht auf.

»Da bin ich! Aber schnell, komm schnell! Sie sind ganz in der Nähe, dort, da hinten und auch drüben; sie sehen dich!«

Er hatte sein Versteck auf einen Augenblick verlassen, er war es, der kleine, schmächtige Kerl, in dem mir wohlbekannten Anzuge. Er winkte während seiner Worte in hastiger Weise mit beiden Händen; es mußte wirklich für mich gefährlich sein, länger stehen zu bleiben. Ich huschte zu ihm hinüber und zwischen die Trümmerstücke hinein. Da wurde ich gepackt, bekam einen Schlag, wie mit dem Helme einer Axt, auf den Kopf und brach wie ein lebloser Klotz zusammen.

Wenn der Mensch sich doch nicht erkühnte, vorherbestimmen zu wollen, was geschehen oder nicht geschehen soll! Das sage ich jetzt, und habe es schon wie oft gesagt, und doch muß ich eingestehen, daß grad ich während meines wechselvollen und ereignisreichen Lebens den soeben gerügten Fehler öfter als hundert und auch tausend andere begangen habe. Und dabei kenne ich doch die alte, gute Kirchenliederstrophe:

»Du bist doch nicht Regente,
Der alles führen soll;
Gott sitzt im Regimente
Und führet alles wohl!« – –

Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem langen, schmalen, nicht viel über manneshohen Raum, dessen Wände aus Ziegeln bestanden. Er wurde von einem irdenen Öllämpchen, welches in einer Nische stand, nur so erleuchtet, daß man nichts als die nächste Umgebung dieser Nische, die noch mehrere solcher Lämpchen enthielt, erkennen konnte. In einer Ecke, bis zu welcher der spärliche Lichtschein drang, sah ich in dem Boden, von welchem der Sand entfernt worden war, ein Loch in die Tiefe führen; neben demselben lagen die ausgehobenen Deckelbretter und dabei mehrere Werkzeuge und Stricke. Ich sagte mir sofort, daß dies der Gang sei, in welchem der Bagdader Bimbaschi mit seinem dicken Kepek gelegen und den er uns beschrieben hatte. Ich war in eine Falle gegangen, glücklicherweise in eine mir bekannte, obwohl ich mich noch niemals hier im Innern des Birs Nimrud befunden hatte.

Es verstand sich ganz von selbst, daß es nicht Halef gewesen war, der mich zu sich gerufen hatte. Und wenn ich das jetzt nicht schon von selbst eingesehen hätte, so wäre es mir ad oculos demonstriert worden, denn der Betreffende hockte mir gegenüber an der Wand des Ganges und beobachtete mich so scharf, daß ich sah, er sei als mein Wächter angestellt. Er war von kleiner, schmächtiger Gestalt und trug den Anzug des Hadschi, jedenfalls eine Entschuldigung für mich, daß ich ihn in der Dunkelheit für Halef gehalten hatte. Als er sah, daß meine Augen jetzt geöffnet und auf ihn gerichtet waren, verzog er sein bartloses Gesicht zu einem höhnischen Grinsen, nickte mir lachend zu und sagte:

»Allah sei Dank, daß du endlich erwachst! Der Hieb, den wir dir gaben, war zu kräftig ausgeholt. Ihr Christenhunde scheint eiserne Schädel zu besitzen, denn mir und jedem Rechtgläubigen hätte dieser Schlag die Pforten des Paradieses geöffnet. Nicht wahr, das haben wir schlau angestellt?«

Da ich diese Frage nicht beantwortete, fuhr er in selbstgefälligem Tone fort:

»Ihr selbst nennt euch berühmte Leute, und so dürft ihr euch nicht darüber wundern, daß wir eure Besonderheiten kennen. Als nur dein Begleiter gebracht wurde, sagte der Säfir sogleich, daß du ihn nicht im Stiche lassen, sondern kommen werdest, um nach ihm zu forschen. Ich mußte, da ich gleicher Gestalt mit ihm bin, die Kleidung mit ihm wechseln, und dann stellten wir uns auf, dich zu erwarten. Ich bekam den Platz, von welchem anzunehmen war, daß du dich da am wahrscheinlichsten vorüberschleichen werdest, und der Säfir gab mir die Weisung, dich so in den Hinterhalt zu locken, wie ich es gethan habe. Es war beobachtet worden, daß dein Genosse dich stets ›Sihdi‹ nennt, und dieses Wort ist es gewesen, mit dem es mir gelang, deinen anfänglichen Verdacht zu zerstreuen. Allah hatte dir die Schärfe des Gesichtes und des Gehöres genommen, sonst hättest du unbedingt merken müssen, daß es ein anderer war, der dich rief.«

»Wo bin ich jetzt?« frage ich.

Ich erwartete natürlich nicht, die Wahrheit zu hören; aber wenn ich mich in ein Gespräch mit ihm einließ, so war es vielleicht möglich, aus seinen Worten etwas zu kombinieren, was er mir nicht sagen durfte oder wenigstens nicht sagen wollte.

»Das möchtest du wohl sehr gern wissen?« lachte er. »Ich will die Güte meines Herzens über dich ergießen und dir die gewünschte Auskunft geben: Du befindest dich hier in der Vorkammer zur Hölle, in welcher der Teufel mit allen seinen Untergebenen auf dich wartet, um ihnen zu zeigen, wie ein Christenhund deines Schlages geschunden werden muß. Sag, wie gefällt dir das?«

»Ganz gut!«

»Verstelle dich nicht! Ich sehe dir doch die Angst an, welche in deinem Innern wohnt. Ich brauche es dir gar nicht erst mitzuteilen, weil du es dir selbst sagen mußt, daß der Scheitan für dich das höchste, was die Hölle leisten kann, erfinden wird.«

Er hatte wahrscheinlich die Absicht, mir dieses »Höchste« so recht behaglich auszumalen, kam aber nicht dazu, denn es machte sich jetzt in dem erwähnten Loche ein Geräusch bemerkbar, wie wenn langsame, tastende Schritte auf Stufen steigen, und dann kamen drei Männer hervor, von denen ich den zweiten und dritten nicht, den ersten dafür aber um so besser kannte; es war der Säfir. Er warf einen kurzen, forschenden Blick auf mich und sagte dann zu meinem Wächter:

»Ich sehe, der Schurke ist aufgewacht. Hast du mit ihm gesprochen?«

»Ja,« antwortete der Kleine.

»Was hat er gesagt?«

»Daß es ihm hier ganz gut gefällt.«

»Das hat nicht er, sondern seine Verzweiflung gesprochen. Er kann sich denken, was ihn erwartet. Hier giebt es andere Richter als in der Mehkeme zu Hilleh und auch keine Mauer, über die man fliehen kann. Jetzt haben wir leider keine Zeit, uns mit ihm abzugeben; mit um so größerer liebe aber werden wir uns nachher mit ihm beschäftigen. Schafft ihn hinab! Er kommt zum Pischkhidmät Baschi; wir haben keinen andern Platz; zu seinem Scheik der Haddedihn dürfen wir ihn nicht bringen, denn wenn sie beisammen sind, so treiben sie Allotria, und das muß verhütet werden.«

»Darf ich meine Kleider wieder haben?« fragte der Wächter. »Ich will diesen Anzug des verfluchten Sunniten keinen Augenblick länger tragen, als es unbedingt notwendig ist. Es ist ja alles vermaledeit, was so ein Kerl berührt!«

»Nimm deinen Anzug wieder, wenn wir jetzt hinunterkommen! jetzt verbindet ihr diesem Ungläubigen die Augen; er darf nichts sehen. Und gebt ihm einstweilen die Beine frei, damit er gehen kann und ihr ihn nicht zu tragen braucht!«

Man kam diesem Befehle nach. Als es geschehen war, mußte ich aufstehen und wurde nach dem Loche geführt, um hinabzusteigen. Ich zählte, indem ich dies that, achtzehn Stufen, was mit der Erzählung des Bimbaschi stimmte. Unten angekommen, hörte ich, als gesprochen wurde, an dem Klange der Stimme, daß wir uns in einem ziemlich großen Raume befanden. Jedenfalls war dies Nummer Eins der fünf Vierecke, welche er uns zur Erläuterung gezeichnet hatte.

Ich wurde weiter geführt. Ein Vorhang, welcher mich berührte, verriet mir, daß wir nach Nummer Drei kamen. Hier sagte der Wächter:

»Jetzt werde ich mit dem Haddedihn die Anzüge wechseln.«

Ich hörte, daß er nach rechts ging, und schloß daraus, daß man Halef in dem Raume Nummer Vier untergebracht hatte. Der Säfir erhob dagegen Einspruch, indem er ihm befahl:

»Warte, bis wir hier mit dem Christen fertig sind! Bist du einmal verunreinigt, so kommt es auf eine Minute länger auch nicht an!«

Hierauf hörte ich Riegel zurückschieben und eiserne Stäbe klirren. Man öffnete den aus starken Drahtstäben bestehenden Vorhang, den ich aus dem Berichte des Bimbaschi kannte, und schob mich nach Nummer Fünf. Kaum waren wir dort eingetroffen, so hörte ich eine Stimme:

»Endlich, endlich kommt ihr, mich loszulassen! Ich hätte es in Fesseln und in dieser Finsternis nicht länger ausgehalten!«

»Du wirst es dir noch länger gefallen lassen,« antwortete der Säfir lachend. »So liebe Gäste läßt man nicht so schnell fort.«

»Aber ich habe ja alles gethan, was ihr von mir verlangtet! Nun haltet auch Wort und laßt mich frei!«

»Beruhige dich, mein Liebling; wir sind noch nicht ganz fertig mit dir!«

»Was wollt ihr noch?«

»Du hast uns nur eine Anweisung gegeben. Wir verlangen mehr!«

»Nur eine? Ihr wolltet doch nur diese eine; sie war hoch genug; die Summe, welche ich unterschrieben habe, stellt fast mein ganzes Vermögen dar!«

»Eben darum sind wir noch nicht mit dir fertig. Wir wollen dein Vermögen nicht fast, sondern ganz.«

»Allah kerihm – Gott sei mir gnädig! Was habe ich euch gethan, daß ihr mich zum Bettler machen wollt? Bedenkt doch, daß ich in der beglückenden Nähe des Beherrschers wohne, der mir seine ganze Macht zur Verfügung stellen wird, mich an euch zu rächen!«

Da stießen sie alle ein großes Gelächter aus, und der Säfir antwortete:

»Entweder bist du verrückt oder im höchsten Grade dumm. Es kommt doch nur auf uns an, ob du Gelegenheit zur Rache findest oder nicht. Ich darf nur wollen, so bekommst du deinen beglückenden Beherrscher nicht wieder zu sehen. Ich brauche dir nur den Lauf dieser Pistole an die Stirn zu halten und loszudrücken, so ist es mit dir und deiner ganzen Rache zu Ende!«

Er schien ihm die Pistole wirklich vorzuhalten, denn der Kammerherr rief im allerängstlichsten Tone:

»Halt; schieß nicht; schieß nicht! Ich will ja alles, alles thun, was ihr von mir verlangt!«

»Gut! Für jetzt verlange ich weiter nichts von dir, als daß du schweigst, solange wir uns hier befinden. Wir können deine Lamentationen nicht erhören. Wir sind gekommen, dir zu zeigen, wie gut wir es mit dir meinen. Du klagst darüber, daß dir die Zeit so lang geworden sei; sie soll dir kürzer werden. Hier bringen wir dir einen Kameraden, mit dem du dich unterhalten kannst. Er ist für den Tod bestimmt und wird hier in diesem Raume vor deinen Augen in einer Weise sterben, welche dir die prächtigste Unterhaltung bieten wird, die sich nur denken läßt. Schau ihn einmal an! Er ist zwar nur ein unreiner aussätziger Christenhund, aber – – –«

»Das ist da dieser Kara Ben Nemsi Effendi!« unterbrach ihn, vor Überraschung laut schreiend, der Kammerherr.

Der Säfir hatte mir nämlich, um ihm mein Gesicht zu zeigen, die Binde von den Augen genommen und die Lampe emporgehoben.

»Kennst du ihn etwa?« fragte er schnell.

»Ja.«

»Woher?«

»Ich traf ihn unterwegs im Khan, wo er einen Streit mit mir begann.«

»So könnt ihr euch hier ganz vortrefflich weiterstreiten. Ihr habt die beste Gelegenheit dazu, und es wird euch binnen sechs oder sieben Stunden kein Mensch stören. Früher hast du ihn nicht gekannt?«

»Nein. Aber er kennt euch.«

»Woher weißt du das?«

»Er hat mich vor euch gewarnt.«

»Wieso?«

»Er sagte mir, daß ihr es auf die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi abgesehen hättet.«

»Maschallah! Wie ist es möglich, daß er dies gewußt hat? Sag, wie hast du es erfahren, und wer hat es dir verraten?«

Er wendete sich mit dieser Aufforderung an mich. Seine dunkeln Augen blitzten mich an, und die feuerrote Narbe in seinem Gesichte schien anzuschwellen und verdunkelte sich. Da ich nicht sofort antwortete, fügte er drohend hinzu:

»Sprich schnell, sonst öffne ich dir den Mund!«

Da sagte ich ruhig:

»Bilde dir nichts ein! Ich spreche nur dann, wenn es mir gefällt. Ich höre aus deinen Worten, daß du beabsichtigst, in sechs oder sieben Stunden wiederzukommen. Diese Zeit genügt mir, mit mir ins reine zu kommen, in welcher Weise ich mit dir dann sprechen werde.«

»Gut! Vortrefflich!« lachte er mir in das Gesicht. »Also nach dieser Frist wirst du wissen, wie du mit mir zu verkehren hast?«

»Ja.«

»Und ich weiß schon jetzt in diesem Augenblicke, wie ich mich zu dir verhalten werde und welches Ende unsere Bekanntschaft nehmen wird. Du wirst diesen Ort hier lebend nicht verlassen; du wirst hier sterben, und dein Tod wird ein schrecklicher sein, ein so schrecklicher, daß dir dann die Hölle als ein Ort der Erlösung gelten wird!«

»Daß dies deine Absicht ist, weiß ich; aber ebenso genau weiß ich, daß ich mich weder vor dir noch vor dem Tode und der Hölle zu fürchten brauche. Das Ende meines Lebens steht nicht in deiner, sondern in Allahs Hand, und da er ein gerechter Richter ist, so bin ich überzeugt, daß er dich eher, viel eher fassen wird, als du mich!«

»Ich habe dich ja schon!« zischte er mich an.

»Nur einstweilen, für kurze Zeit; er aber wird dich nicht wieder aus seinen Händen lassen. Du kannst mich nicht hier halten; du bist zu schwach dazu; wen aber der Zorn Allahs packt, für den giebt es keine Hoffnung, zu entkommen; er wird zermalmt.«

Er trat einen Schritt zurück, schlug die Hände in ironischer Verwunderung zusammen und rief mir spottend zu:

»Was für ein großer, für ein berühmter und wunderbarer Prophet du bist! Wünschest du, daß ich vor dir niederfalle und dich verehre? Ich sage dir, daß du wie ein Mensch gesprochen hast, der an unheilbarer Verrücktheit leidet. Wenn du vom Zorne Allahs faselst, so setze ich den meinigen dagegen, und du wirst sehr bald erfahren, welcher von beiden der gefährlichere ist. Aus meiner Hand kann dich kein Allah retten; hier im Birs Nimrud gilt er nichts; da bin nur ich allein der Herr!«

»Lästerer!«

»Ich lästere nicht; ich kenne nur meine Macht, an welcher du zu zweifeln wagst. Höre, was ich dir sage! Mit Beginn des neuen Tages wird auch deine Todesqual beginnen, und nur wenn du mich um Erbarmen bittest, wird sie mit dem Tage zu Ende sein, sonst aber wird sie länger, wohl mehrere Tage dauern!«

»So höre auch, was ich dir sagen werde! Mit Beginn des neuen Tages wird deine eingebildete Macht zu Ende sein, und mit dem Ende dieses Tages wird dich die Faust der ewigen Gerechtigkeit ergreifen. Nun haben wir beide unsere Meinungen ausgesprochen und werden sehen, was geschieht!«

Diese Worte waren mir keineswegs von einer persönlichen Absicht diktiert worden, sondern als ich sie gesagt hatte, wußte ich selbst nicht, wie ich dazu gekommen war, sie auszusprechen. Ich bin überzeugt, daß auch sie die Folge einer Eingebung waren, deren Quell nicht in mir selber lag. Der Säfir ließ einen unendlich verächtlichen Blick an mir niederstreifen und erwiderte:

»Ja, wir werden sehen, was geschieht. Ich weiß es ja schon jetzt, und du wirst es erfahren, sobald ich zurückkehre. Damit du inzwischen einen kleinen Vorgeschmack von den Freuden bekommst, die dich erwarten, werden wir dich mit der wonnevollen Stellung der Glieder beglücken, auf die nur hervorragende Herren Anspruch haben und die wir Sa’adet-i-Bädän zu nennen pflegen. Bindet ihn, aber so fest, daß er sich nicht rühren kann!«

Ich hätte mich wehren können, doch voraussichtlich ohne allen Erfolg; darum verzichtete ich auf Widerstand und ließ mit mir machen, was sie wollten. Ich mußte mich niedersetzen. Sie richteten mir die Kniee bis an die Brust empor und befestigten sie dort mit Hilfe eines um den Hals geführten Strickes, der meinen Kopf bis ganz zu ihnen niederzog; die beiden Enden dieses Strickes wurden mir unten mehreremal um die Fußgelenke geschlungen und dort fest verknüpft. Sodann legten sie mir die Arme um die Kniee und banden sie mir, wie sie meinten, so fest zusammen, daß ein Öffnen der Knoten vollständig ausgeschlossen zu sein schien und mein Körper nun die Haltung einnahm, welche man mit dem Ausdrucke »in den Bock gespannt« bezeichnet.

Ich habe mich mit Absicht der Worte »wie sie meinten« bedient, denn sie hatten, allerdings ohne es zu bemerken, ihre Absicht nicht oder doch wenigstens nicht ganz erreicht. Während sie mir die Vorderarme zusammenbanden, hatte ich die Handgelenke nicht breit, sondern hoch aufeinander gelegt und dabei die Ellbogen so weit wie möglich niedergedrückt; zog ich die letzeren dann empor und drehte dabei die Gelenke, so mußte die Schlinge schlaff werden und es gelang mir vielleicht, aus ihr herauszukommen. In dieser Hoffnung wurde ich durch den für mich sehr günstigen Umstand bestärkt, daß mir die Hände frei herunterhingen; man hatte, da die Handwurzeln zusammengefesselt waren, es nicht für notwendig gehalten, auch noch die Hände selbst unschädlich zu machen; ich war ihnen hier in diesem unterirdischen Raume ja überhaupt so sicher, daß es ihrer Ansicht nach für mich, selbst wenn ich nicht gefesselt gewesen wäre, nicht die geringste Hoffnung, zu entrinnen, gab.

Als man mir in dieser Weise scheinbar alle Möglichkeit, mich zu bewegen, genommen zu haben glaubte, zerrte man mich in eine Ecke. Der Säfir faßte mich an der Schulter, wiegte meinen krummgezogenen Körper einigemal wie einen Schaukelstuhl auf und nieder und sagte dann:

»So, das ist die Sa’adet-i-Bädän, welche dir eine sieben Stunden lange Wonne bereiten wird, der Anfang der Glückseligkeit, welche wir dir zugedacht haben. Nun drohe, soviel du willst, mit deiner ›Faust der ewigen Gerechtigkeit‹, über welche ich nur lachen kann!«

»Ich werde dich an diese Worte erinnern,« antwortete ich; »dann wirst du nicht mehr lachen!«

»Thue das, du Wurm; ich freue mich darauf!«

Bei diesen Worten wendete er sich von mir ab und ging hinaus; die andern folgten ihm. Die Eisenstäbe klirrten nieder; die Riegel wurden vorgeschoben, und es war nun vollständig dunkel um uns her. Kaum waren wir nun allein, so begann der Kammerherr:

»Wer hätte gedacht, daß – – –«

»Schweig!« unterbrach ich ihn. »Sei jetzt ganz ruhig; wir müssen horchen!«

Ich legte mich um, so daß mein Ohr auf die Erde zu liegen kam und lauschte. Der dünne Drahtvorhang war nicht hinreichend, die Schallwellen vollständig von uns abzuhalten; ich hörte ganz deutlich, daß die vier Männer aus Nummer Drei nach Nummer Vier gingen, also zu Halef, seines Anzuges wegen. Nach vielleicht zehn Minuten kamen sie von da zurück und begaben sich nach Nummer Eins, um, wie ich annahm, in den Gang hinaufzusteigen. Ich unterschied ganz bestimmt die Schritte von vier Personen und durfte also überzeugt sein, daß keiner von ihnen zu unserer Bewachung zurückgeblieben war. Wozu auch? Sie hielten das für vollständig überflüssig und brauchten wahrscheinlich draußen soviel Leute, daß niemand zu entbehren war.

Jetzt machte ich den oben erwähnten Versuch mit dem um meine Handgelenke geschlungenen Stricke; ich bekam Zwischenraum, wenn auch nicht soviel, daß es mir möglich gewesen wäre, die eine Hand herauszuziehen; aber ich konnte sie doch wenigstens drehen und bekam dadurch den Knoten in die Finger. Es galt, ihn aufzuknüpfen, worüber ich wohl eine Viertelstunde zubrachte. Während ich mich hiermit beschäftigte, fragte der Kammerherr.

»Horchst du noch, oder darf ich jetzt sprechen?«

»Du darfst, aber ganz leise,« antwortete ich. »Es könnte sich doch jemand heimlich herangeschlichen haben, um uns zu belauschen.«

»Sag, wie bist du hierhergekommen? Ihr schlugt doch den Weg nach Bagdad ein!«

»Das thaten wir nur zum Scheine. Wir sind auf einem Umwege zurückgekehrt, um euch zu retten.«

»Um – uns – zu – retten?!« sprach er meine Worte verwundert nach. »Du bist aber doch selbst gefangen!«

»Das stört mich nicht. Oder stört dich vielleicht meine Gegenwart?«

»Nein, o nein! Wie kommst du auf diesen Gedanken und zu dieser Frage?«

»Das weißt du nicht?«

»Nein.«

»Hast du vergessen, was du im Khan zu uns sagtest? Deine Worte lauteten: ›Laßt euch nicht wieder vor uns sehen! Ein altes, persisches Sprichwort fordert, daß jeder Schiit, der einem Christen begegnet, ihn mit den Füßen von sich stoße, sonst hat er die Folgen in diesem und in jenem Leben zu tragen.‹ Nun, ich bin ein Christ, und du bist ein Schiit. Jetzt stoße mit den Füßen!«

»Effendi, du darfst das, was ich gesagt habe, nicht so nehmen, wie es geklungen hat, zumal alles anders geworden ist, als ich dachte. Hätte ich deine Warnung beachtet, so läge ich nicht hier, und meine Begleiter wären nicht ermordet worden!«

»Ermordet?«

»Ja.«

»Alle?«

»Alle elf. Ich habe dabei gestanden und zusehen müssen, ohne ihnen helfen zu können. Ich bot Geld über Geld für ihr Leben; aber der, den sie den Säfir nennen, lachte mich aus und sagte, er dürfe keinen Zeugen leben lassen und werde mein Geld auch sonst gewiß bekommen.«

»Elf Menschen umgebracht! Das ist geradezu teuflisch von ihm! Erzähle mir, wie ihr in seine Hände gefallen seid!«

»Wir kamen nach Hilleh, und ich suchte natürlich sogleich den Sandschaki auf, bei dem ich den Säfir fand –«

»Habt ihr da von mir gesprochen?«

»Nein. Es war nur die Rede von meiner Reise und von den Gefahren, welche grad in dieser Gegend auf jeden wohlhabenden Pilger lauern.«

»Vortrefflich ausgedacht! Ich bin überzeugt, daß grad der Säfir das Gespräch auf dieses Thema gebracht hat.«

»Deine Vermutung trifft das Richtige. Der Sandschaki versprach mir seinen Schutz; aber der Säfir warnte mich vor ihm.«

»Natürlich heimlich?«

»Ja. Er suchte mich auf, als ich dann allein war, und sagte mir, daß der Sandschaki mit den Räubern im Einvernehmen steht und einen guten Teil der Beute bekomme.«

»Das glaubtest du?«

»Warum nicht? Solche Dinge kommen vor, und zwar nicht bloß hier im Lande der Türken, wo Beamte oft jahrelang vergeblich auf die Zahlung ihres Gehaltes warten und darum suchen müssen, auf dunklen Wegen Geld zu verdienen. Der Säfir teilte mir im Vertrauen mit, daß auch er nach den heiligen Stätten wolle, aber sich wohl gehütet habe, dem Sandschaki mitzuteilen, daß er schon heut abend aufbrechen werde; er habe die Leute seiner Karawane, lauter friedliche und zuverlässige Solaib-Araber, bei den Ruinen stehen und werde die Wanderung beginnen, ohne dem Sandschaki ein Wort davon zu sagen.«

»Er lud dich ein, dich ihm anzuschließen?«

»Nein, sondern ich bat ihn darum, dies thun zu dürfen.«

»Grad das hat er gewollt!«

»Natürlich! Ich ahnte es leider nicht. Er ritt voran, um uns vor der Stadt zu erwarten, und wir folgten ihm. Als wir ihn erreicht hatten, machte er den Führer.«

»Da habe ich ihn also für vorsichtiger gehalten, als er gewesen ist. Ich glaubte, daß er für ein Alibi sorgen werde.«

»Was ist das, ein Alibi?«

»Ein Rer mathra, ein Beweis, daß der Angeklagte sich zur Zeit des Verbrechens an einem andern Orte befunden hat, als an demjenigen, wo das Verbrechen verübt wurde. Ich nahm an, daß er bei dem Sandschaki in Hilleh bleiben und euch von den sogenannten Solaib-Arabern überfallen lassen werde. Da konnte er nachweisen, daß er nicht dabei gewesen sei.«

»Warum brauchst du das Wort ›sogenannt‹?«

»Weil diese Leute keine ehrlichen Solaib-, sondern räuberische Ghasai-Beduinen sind.«

»Allah! Und grad weil er sie als Solaib bezeichnete, hatte ich solches Vertrauen, denn ich weiß, daß die Angehörigen dieses Stammes jede Art von kriegerischer Thätigkeit scheuen.«

»Grad darum, also um Vertrauen zu erwecken, bezeichnete er seine Leute als Solaib. Hättest du mir im Khan Glauben geschenkt, so wärest du nicht in ihre Hände geraten! Doch erzähle jetzt weiter!«

»Wir ritten nach den Ruinen, nach welchem Teile derselben, das wußte ich nicht, denn es war dunkel, und ich kenne diese Gegend nicht. Ich ritt mit ihm voran; meine Leute folgten; zwischen uns und ihnen war ein Zwischenraum ––«

»Oh,« fiel ich ein; »er wollte dich von ihnen absondern, weil du leben bleiben solltest!«

»Ja. Plötzlich ertönten hinter uns mehrere Schreie. Als ich mich umdrehte, sah ich die Meinigen im Kampfe mit fremden Männern.«

»Du eiltest doch sofort hin, um ihnen zu helfen?«

»Ich wollte, aber da schlug mir der Säfir mit dem Kolben seines Gewehres auf den Kopf, daß ich vom Pferde stürzte. Er sprang auch ab und band mir die Hände auf dem Rücken zusammen. Dabei drohte er mir, mich sofort zu erstechen, falls ich schreien oder eine unerlaubte Bewegung machen werde.«

»Du gehorchtest natürlich?«

»Ja. Was hätte ich sonst thun sollen? Ich sage dir, ich bin ein tapfrer Mann, ein wahrer Held im Streite, aber in einer solchen Lage hilft selbst die größte Kühnheit nichts. Das sah ich auch an meinen Leuten. Einige von ihnen waren tot; die andern wurden gebunden wie ich und mit den Tieren nach einem abgelegenen und geschützten Ort geführt, wo man ein kleines Feuer anzündete, um uns beim Scheine desselben die Taschen zu leeren und auch sonst alles zu nehmen, was wir bei uns hatten. Dann wurden sie erstochen, einer nach dem andern elend erstochen! Hast du einmal zugesehen, wie ein Quassab seine Tiere absticht?«

»Ja.«

»So, grad so sah es aus, als man ihnen der Reihe nach die Klinge in die Herzen stieß. Mich schaudert, wenn ich nur daran denke! Ich allein durfte leben bleiben, ich allein, denn ich sollte Dokumente unterschreiben, welche diese Mörder vorzeigen wollen, um Geld, viel Geld zu bekommen.«

»Hast du dies schon gethan?«

»Ja. Meinst du etwa, daß ich es hätte nicht thun sollen? Der Säfir stand mit gezücktem Messer dabei und diktierte mir. Hätte ich mich nur einen Augenblick geweigert, so wäre ich auch erstochen worden.«

»Wo hast du unterschrieben?«

»In der Stube, welche hier nebenan liegt.«

»Gab es da ein Schreibzeug?«

»Schreibzeug und alles, was er brauchte, auch Siegellack. Petschieren mußte ich mit einem Siegelringe, den man mir abgenommen hatte. Er nahm das alles aus einer großen, mit Eisen beschlagenen Sanduka, zu welcher er den Schlüssel an einer Schnur um den Hals und unter der Weste hängen hatte.

Da sah ich auch Geld liegen, viel Geld in Silber und Gold. Auch flimmernde Edelsteine zeigte er mir.«

»Wie? Er zeigte sie dir?«

»Ja. Wundere dich nicht! Es ist wahr, denn ich habe es gesehen, hier mit diesen meinen Augen gesehen! Es war ein ganzer Berg von Reichtum da beisammen.«

»Du verstehst mich falsch. Ich wundere mich keineswegs über diese Schätze; mir können sie nicht imponieren; aber daß er sie dir gezeigt hat, freiwillig gezeigt, das ist kein gutes Zeichen für dich.«

»Wieso?«

»Du hoffst doch, bald wieder frei zu werden?«

»Natürlich! Zwar werde ich wohl noch einmal unterschreiben müssen, wie du ja selbst vorhin gehört hast; dann aber wird er mich gehen lassen.«

»Hat er dir das versprochen?«

»Ja.«

»Und du glaubst diesem Versprechen?«

»Warum. sollte ich nicht?«

»Warum? Warum!!! Man sollte es wirklich nicht für möglich halten, daß du noch fragen kannst. Ich bin überzeugt, daß es mit deiner Klugheit und deinem Scharfsinne genau ebenso steht wie mit deiner großen Tapferkeit, von welcher du vorhin sprachst. Er hat deine Leute ermorden lassen, um keine Zeugen zu haben; falls er dich leben läßt, bist du aber ein Zeuge seines Verbrechens. Denke doch nach!«

»Allah, Allah! Was sagst du da! Ich verstehe, was du meinst.«

»Und wenn ein Räuber jemandem seine Schätze zeigt, so thut er das nur, weil er überzeugt ist, daß der Betreffende nichts verraten kann. Diese Sicherheit giebt aber nur der Tod!«

»Mäbada – das sei ferne! Du lässest mich da in einen Abgrund blicken, welcher so schwarz wie die Tiefe des Verderbens ist!«

»Ich bin aufrichtig mit dir. Du hast mich schon einmal mit Unglauben belohnt und dies sehr teuer bezahlen müssen.

Hörst du jetzt wieder nicht auf mich, so ist es um dich geschehen. Du wirst den Himmel nicht mehr schauen, sondern hier ebenso abgestochen werden, wie deine Leute abgeschlachtet worden sind.«

»Bist du davon überzeugt?«

»Es ist meine feste, unerschütterliche Überzeugung.«

»So begnadige mich Allah mit seiner Barmherzigkeit! Ich Wal dir glauben; ja, ich muß dir glauben, wenn ich auch nicht wollte. Wenn ich mir deine Worte überlege und dazu die Schlechtigkeit dieser Menschen; wenn ich daran denke, mit welcher Kaltblütigkeit sie meine Begleiter erstachen, so kann ich gar nicht anders, ich muß mich verloren geben!«

Nun er einsah, was ihn erwartete, begann er zu jammern und zu klagen; er betete zu Allah; er wimmerte vor Angst und machte mir inzwischen eine Menge unnütze, weil unausführbare Vorschläge, uns zu retten. Inzwischen war es mir gelungen, die Knoten zu öffnen und die Hände frei zu bekommen; den Strick vom Hals, den Knieen und den Füßen zu lösen, war nun nur eine Kleinigkeit; dann stand ich auf und reckte und streckte mit unendlichem Behagen meine Glieder. Jetzt war ich gerettet; denn nun mochte der Säfir kommen mit allen, allen seinen Leuten; ich hatte keine Angst vor ihnen!

Das erste, was ich hierauf that, war, daß ich in die Ecke links ging, welche der Bimbaschi bezeichnet hatte, und da den Boden untersuchte. Es gab da einen nicht hohen, aber breiten Haufen Ziegelmehl, welches so fein und leicht war, daß ich den Arm fast bis an die Achsel hineinstoßen konnte, ohne besonderen Widerstand zu finden. Dann ging ich nach dem Eingange, um den Eisenstabvorhang zu betasten. Da war nicht hinauszukommen. Als diese Untersuchung ein leises Klirren der Stäbe verursachte, warnte der Pischkhidmät Baschi:

»Horch! Es ist jemand an der Thür!«

»Nein; ich war es,« antwortete ich.

»Du – –?« fragte er erstaunt. »Deine Stimme klingt jetzt von oben. Stehst du vielleicht? Wie kommst du an die Thür? Du bist doch gefesselt!«

»Ich war es, bin es aber nicht mehr. Während du nur jammertest, habe ich gearbeitet und mich von den Banden befreit. Nun werde ich auch dich losmachen.«

»O Allah, Allah, Allah! Welch ein Glück bricht über mich herein! ja, komm her, Effendi, und mach mich frei – frei – frei!«

»Nicht so laut! Eigentlich kann ich dich nicht losmachen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich ein Christ bin und meine Berührung dich für dieses und für jenes Leben schändet.«

»Sprich nicht so, Effendi; sprich nicht so! Was geschehen ist, das soll vergeben und vergessen sein. Ich sage dir, daß die Christen sehr brave, gute und edle Menschen sind; ich bin überzeugt davon, vollständig überzeugt!«

»Ja, wenn ihr uns brauchen könnt, dann lobt ihr uns, sonst aber habt ihr nur einen Mund voll Speichel für die ›ungläubigen Hunde‹. Aber grad weil ich ein Christ bin, will ich mich deiner erbarmen und dich nicht hier liegen lassen, bis der Säfir wiederkommt. Wie bist du geschnürt?«

»Die Füße sind mir zusammen- und die Hände an den Leib gebunden.«

»So wird es nicht schwer sein, dich freizumachen.«

Ich kniete bei ihm nieder und nahm ihm ohne große Mühe die zwei Stricke ab, worauf er emporsprang und seiner Freude in so unvorsichtiger Weise Ausdruck gab, daß ich ihm Schweigen befehlen mußte.

Nun galt es, die Ecke genauer zu untersuchen, als ich es vorhin gethan hatte. Der Kammerherr mußte helfen. Wir entfernten das Ziegelmehl, indem wir es mit den Händen herausnahmen und zur Seite auf den Boden warfen. Es war nicht bloß Mehl, sondern es gab auch viel mürbe Bruchstücke von Ziegeln dabei. Auf diese Weise entstand ein Loch, welches immer tiefer wurde. Die Arbeit förderte schnell. Als wir vielleicht einen Meter tief gegraben hatten, stießen wir auf festen Boden; aber die leichte mehlige Masse setzte sich nach rechts und links in horizontaler Richtung fort. Links ging es in das Innere des Gemäuers, rechts nach außen; darum gruben wir in der letzteren Richtung weiter, was wegen des Transportes seine Schwierigkeiten, doch keine großen hatte. Ich grub voran, warf das Mehl auf den hinter mir liegenden Gürtelshawl des Kammerherrn, und er brachte es dann in dem wie einen Sack zusammengefalteten Leibtuch nach oben. Schon nach einer kurzen Weile fand ich nur noch ganz geringen Widerstand; ich merkte, daß ich das leichte Material vorwärts schieben konnte. Dies thuend, kroch ich weiter und weiter; der Perser folgte dicht hinter mir. Ich fühlte, daß ich frische Luft atmete; der Gang wurde frei von Schutt, und kurze Zeit darauf war er zu Ende. Ich sah trotz der Dunkelheit rechts und links hoch emporsteigendes Mauerwerk, vor mir eine Lücke in demselben und oben darüber ein kleines Stück des Himmels, an welchem die hellen Sterne standen. Ich kannte den lichthofähnlichen Raum, welcher vor mir lag-, es war der Platz der Stachelschweine, an welchem wir gestern unsere Pferde versteckt gehabt hatten.

Mit dem Kopfe voran im Loche liegend, schaute ich auf den an der Mauer emporsteigenden Trümmerhaufen. Es fehlten nicht ganz zwei Meter, so hätte er bis zu mir heraufgereicht. Einige Verwitterungen in den Ziegeln hatten den Stachelschweinen als Weg an der Mauer herauf gedient; ich konnte sie nicht benutzen und ließ mich also ganz einfach aus dem Loche hinunter auf den Haufen fallen, was bei der Weichheit des Gemülles nicht gefährlich war. Dann schaute der Perser verwundert aus dem Loche.

»Wo befinden wir uns?« fragte er.

»Wieder im Freien. Komm herab! Wir sind gerettet!«

»Alhamdulillah! Gerettet! Im Freien! Aber du hast gut sagen, daß ich hinabkommen soll! Es ist doch kein Sullem da!«

»Habe ich eine Leiter gebraucht? Du verlangst vom Glücke allzuviel. Soll es dir vielleicht gar einen Tachtrawan schicken, in welchem ich dich heruntertragen lassen darf? Mach es wie ich, und falle.«

»Hinunterfallen? Das mutest du mir zu? Soll ich den Hals und dazu wohl auch noch die Beine brechen?«

»Ich habe auch nichts gebrochen!«

»Das bist du! Euch Christen schützt der Teufel!«

»Ah! Vorhin warst du höflich; aber kaum bist du frei, so giebt es wieder Beleidigungen! Bleib in deinem Loche stecken, und laß dich von dem Säfir herausholen! Ich gehe. Gute Nacht!«

Ich wendete mich um und stieg in den Trümmerhaufen hinab. Da that es hinter mir einen lauten Plumps; der oberste der Kammerherren kam, in eine Geröll- und Staubwolke gehüllt, auf dem Rücken an mir vorübergesaust und rief dabei:

»Halt, halt! Nimm mich mit, nimm mich mit! Ich bleibe nicht hier; ich bleibe ganz gewiß nicht hier!«

»Nein, nimm du mich mit; du bist mir ja voran!« antwortete ich lachend, indem ich ihm nachkletterte.

Als ich ihn einholte, stand er, an allen Gliedern zitternd, da, klopfte sich den Staub aus dem Gewande und jammerte:

»Das war ein fürchterlicher, ein entsetzlicher Sprung, mit dem Kopfe voran! Ich werde so etwas nie wieder wagen! Du konntest mich doch herunterheben! Ich habe an jeder Stelle meines Leibes das Gefühl, als ob ich die Bastonnade bekommen hätte!«

»Sei froh, daß du deine Freiheit nicht teurer, als mit nur diesem edlen Gefühle zu bezahlen hast! Bist du ein guter Reiter?«

»Es sollte niemand wagen, zu bestreiten, daß ich vortrefflich reite!«

»Das ist gut, denn wir reiten sofort nach Hilleh.«

»Dazu gehören Pferde!«

»Die habe ich. Sie sind hier in der Nähe versteckt. In einer Stunde müssen wir dort sein.«

»Man reitet doch drei Stunden! Warum so schnell?«

»Weil wir längst vor Tagesanbruch wieder hier sein müssen.«

»Wieder hier? Ich sage dir, daß mich keine Macht der Erde wieder hierher bringen wird!«

»Darüber wollen wir später sprechen. Jetzt komm!«

»Was willst du mitten in der Nacht in Hilleh?«

»Wir holen Militär und nehmen den Säfir und alle seine Schurken gefangen.«

»Allah sei Dank! Dieser Gedanke ist groß, ist vortrefflich! Wenn Soldaten dabei sind, so reite ich auch wieder mit.«

»So komm!«

Wir stiegen vollends hinab. Als wir die Trümmer hinter uns hatten, blieb ich lauschend stehen. Es war nichts zu sehen und nichts zu hören. Wir wendeten uns nach rechts und hatten nach fünf Minuten die Stelle erreicht, wo die Pferde standen. Ich nahm meine Waffen, gab dem Perser diejenigen des Hadschi, und dann stiegen wir auf, um den alten Birs Nimrud auf baldiges Wiedersehen zu verlassen.

Da ich den Weg kannte, so durften wir es wagen, trotz der Dunkelheit Galopp zu reiten. Wir mußten das, weil wirklich keine Zeit zu verlieren war.

Zunächst lenkte ich auf den Weg hinüber, welcher von Hilleh nach den Hügeln Chidr und Delem führt, und als wir ihn erreicht hatten, rief ich den Pferden ein aufmunterndes »Chabab« zu, worauf sie in vollem, schlankem Uufe über das ebene und ganz hindernislose Terrain flogen. Dabei stellte sich nun freilich heraus, daß der Kammerherr keineswegs der vortreffliche Reiter war, für den er sich ausgegeben hatte. Ich hätte, wenn es Tag gewesen wäre, bei diesem Ritte eine Nähnadel einfädeln können, ohne das Öhr zu verfehlen, so wunderbar »chatt« gingen die Rappen, wie der Beduine sich auszudrücken pflegt; er aber stopfte im Sattel auf und nieder wie ein im Gange befindlicher Spritzenkolben und rief mir ängstlich zu:

»Wakkif, wakkif – halt an, halt an! Das ist mir zu schnell!«

»Mir nicht!« antwortete ich.

»Amma ana dochan – aber mir schwindelt; ich bekomme den Zoba’a, das Ashub-i dil-i därya. Ich falle herunter!«

»So halte dich fest! Wir können nicht langsamer reiten. Gieb mir die Zügel!«

Er brachte es nicht fertig, sie mir herüberzureichen; ich langte hinüber und nahm sie ihm aus der Hand. Nun klammerte er sich an den Sattelknopf an, und unter immerwährendem Ach und Oh ging es weiter. Ich erlaubte den Pferden nur zweimal, langsamer zu gehen, und so kam es, daß wir in noch nicht ganz einer Stunde die ersten Gebäude von Hilleh vor uns liegen sahen. Da ich das sog. Serai des Sandschaki kannte, wurde es mir nicht schwer, es zu finden. Ich hatte geglaubt, wegen der nächtlichen Stunde an dem Thore klopfen zu müssen; aber es stand weit offen, und als wir in den Hof ritten, sah ich, daß der Eingang zur Wohnung des Beamten erleuchtet war. Wir ritten hin und stiegen ab. Es stand ein Doppelposten, den ich am Tage nicht gesehen hatte, vor der Thür.

»Ist der Sandschaki wach?« fragte ich.

»Ja,« antwortete der eine Soldat.

»Wir müssen sofort zu ihm. Haltet unsere Pferde!«

»Wir dürfen niemand einlassen.«

»Warum?«

»Es ist ein Offizier, ein Abgesandter des Padischah, den Allah segnen möge, von Stambul angekommen; der hat mit ihm zu sprechen und darf nicht gestört werden.«

»Wir müssen dennoch zu ihm. Hier habt ihr, um euern guten Willen zu erleuchten!«

Ich drückte ihm einige Silberstücke in die Hand, er hielt sie in den Lichtschein, um zu sehen, wie viel es war, und sagte dann:

»Herr, deine Güte geht über die Befehle, welche wir erhalten haben. Gebt meinem Arkadasch die Pferde, er wird sie gut bewachen; ich aber gehe hinein, um euch den Kol Agasi, welcher die Wache hat, herauszuholen.«

Er ging und kam sehr bald mit dem Offizier zurück. Zu meiner Freude war dies der brave Alte, der so fest an meinen Einfluß auf den Seraskier glaubte. Als er uns sah und erkannte, schlug er vor Erstaunen die Hände zusammen und sagte:

»Ihr seid es, ihr? Effendi, das ist kühn; das ist sogar tollkühn von dir! Man wird euch festnehmen, einsperren und verurteilen. Der Sandschaki war voller Wut über eure Flucht!«

»Ich fürchte ihn nicht. Führe mich zu ihm! Ich habe ihm eine sehr wichtige Mitteilung zu machen, welche keinen Aufschub duldet.«

»Was ist geschehen? Warum kommt ihr wieder?«

»Jetzt habe ich keine Zeit zum Erzählen, denn es ist mir jede Minute wichtig; du wirst aber sehr bald erfahren, was du wissen willst. Also melde uns sofort!«

»Ihr werdet aber wahrscheinlich nicht vom Sandschaki, sondern vom Abgesandten des Sultans empfangen werden!«

»Wer ist das?«

»Es ist ein Dscheneral; wie er heißt, das weiß ich nicht. Er ist am Abend von Bagdad hier angekommen, und seitdem giebt es lauter Geheimnisse hier im Hause. Es sind alle Oberbeamten des Sandschak und auch einige Offiziere versammelt, welche mit großer Heimlichkeit verhandeln. Wenn ich Wüßte, daß du in deinem Berichte mich wirklich lobend erwähnst, würde ich dir etwas mitteilen.«

»Ich erwähne dich; ja, ich werde dich sogar schon in Bagdad empfehlen.«

»So will ich es glauben. Also komm einmal her!«

Er nahm mich bei der Hand, führte mich beiseite und raunte mir ins Ohr.

»Ich glaube, es steht mit dem Sandschaki nicht so, wie es stehen soll. Ich habe hinter der Thür die sehr strenge Stimme des Dschenerales gehört, und dann, als ich hineintrat, war das Gesicht des Sandschaki so voller Verlegenheit, daß ich glaube, es liegt etwas sehr Schlimmes gegen ihn vor. Er hat seit der Anwesenheit des Dschenerales keinen einzigen Befehl erteilt, scheint also nichts mehr bestimmen zu dürfen. Darum denke ich, daß ihr nicht mit ihm, sondern mit dem Boten des Sultans sprechen werdet.«

»Das ist mir sehr lieb. Also melde uns!«

»Das darf ich nicht. Ich darf nur Personen, welche verlangt werden, den Zutritt gestatten und mache mit euch nur deines Berichtes wegen eine Ausnahme, für welche ich wahrscheinlich einen scharfen Verweis bekommen werde. Also anmelden darf ich euch nicht; aber ich kann doch auch nicht immer an der Thür stehen, und wenn ich einmal einen Augenblick nicht dort bin und ihr geht hinein, so kann ich doch nichts dafür.«

»Wo ist diese Thür?«

»Geht dort rechts die Stufen hinauf, dann steht sie euch grad entgegen. Im ersten Gemach befindet sich meine Wache, welche euch zurückweisen wird; wie ihr euch dazu verhaltet, das ist eure Sache; ich darf es euch nicht sagen. Die nächste Stube ist diejenige, in welche ihr zu gehen habt. Jetzt entferne ich mich, denn ich darf nichts, gar nichts von euch wissen.«

Er ging auf den Hof hinaus, und ich stieg die Treppe empor und öffnete die bezeichnete Thür. Es gab da einen Onbaschi mit fünf Soldaten. Er trat auf uns zu, um uns den Weg zu verlegen; ich schob ihn aber mit einem strengen »Ruh min han!« auf die Seite, was ihn so verblüffte, daß wir, ehe er zur Besinnung kam, schon im nächsten Zimmer standen.

Da saßen mehrere Civilbeamte rauchend auf den Wandkissen, ein Stück von ihnen entfernt auch einige Offiziere, und auf der andern Seite, ganz allein, von ihnen entweder abgesondert oder gar gemieden, der Sandschaki, nicht rauchend und in sich zusammengesunken. Er hob bei unserm Eintritt den Kopf. Als er sah, wer die Ankömmlinge waren, sprang er rasch auf, eilte hinter uns an die Thür, breitete dort die Arme weit aus, um uns das Fortgehen unmöglich zu machen, und rief:

»Da sind die entflohenen Halunken; da sind sie wieder! Greift zu; haltet sie fest, damit sie nicht wieder entweichen können.«

Die andern erhoben sich sehr schnell von ihren Sitzen und sahen uns mit allen Zeichen der Überraschung an. Ich drehte mich zu dem Sandschaki um und sagte im ruhigsten Tone:

»Reg dich nicht auf! Es fällt uns gar nicht ein, dieses Zimmer zu verlassen, ehe wir unsern Zweck erreicht haben. Wir sind gekommen, mit dir zu sprechen; hoffentlich hast du Zeit?«

»Zeit? ja, Zeit habe ich für euch, ihr Schurken, ihr Hunde, sehr viel Zeit, aber nur um euch binden zu lassen und in das Gefängnis zu stecken!«

»Dazu wirst du wohl nicht kommen, denn nicht wir, sondern andere Personen sind es, welche in das Gefängnis gehören. Ich warne dich überhaupt, mit Halunken, Schurken und Hunden hier herumzuwerfen! Ich bin gewohnt, daß höhere Leute, als ein hiesiger Sandschaki ist, in Achtung mit mir verkehren. Du hast heut oder vielmehr gestern so unverzeihliche Fehler begangen, daß sie dir schlimme Folgen bringen würden, wenn wir nicht jetzt gekommen wären, dir Gelegenheit zu geben, sie wieder gutzumachen. Wir haben also Dankbarkeit und nicht Beleidigungen von dir zu erwarten!«

»Dankbarkeit?« lachte er laut und höhnisch auf. »Ja, die Dankbarkeit der Bastonnade, die soll euch werden! Ein verbrecherisches Gesindel, wie ihr seid, muß ––«

Da wurde der vor einer weiteren Thür hängende Vorhang zurückgeschlagen; es erschien ein Offizier in voller türkischer Generalsuniform und fragte in streng verweisendem Tone:

»Was für ein Geschrei und Lärm ist das in meiner Nähe! Achtet man den Beauftragten des Großherrn in dieser Weise, daß –«

Er sprach nicht weiter. Sein Blick war auf mich gefallen, und sofort machte der ernste Ausdruck seines Gesichtes einem freundlichen Lächeln Platz. Der Sandschaki bemerkte das nicht und fiel schnell ein:

»Hazretiniz, hier stehen zwei ganz gefährliche Strolche, welche mir heut entflohen sind. Sie sind Pascher, Diebe, Räuber und Mörder und müssen sofort festgenommen werden!«

Der General nickte ihm verächtlich zu und antwortete:

»Ich werde sie, besonders den einen, sofort festnehmen, und zwar bei der Hand.«

Er kam auf mich zu, nahm meine beiden Hände, die er herzlich schüttelte, und begrüßte mich in deutscher Sprache:

»Welch eine große Freude, Sie so unerwartet hier zu sehen! Zwar ganz überrascht bin ich nicht darüber, denn ich habe vorhin gehört, daß Sie sich in dieser Gegend befinden, und nahm mir vor, nach Ihnen zu forschen, um Sie aufzusuchen.«

»Wenn Excellenz nicht überrascht sind, so bin ich es um so mehr,»antwortete ich, »da ich nicht ahnen konnte, daß Sie sich in Irak Arabi und gar hier in Hilleh befinden. Ich sehe, daß Sie in so unerwartet kurzer Zeit den ›Oberst‹ überstiegen haben; darf ich gratulieren, Herr General?«

»Danke! Ich wurde ausersehen, ganz plötzlich in einer sehr heiklen Angelegenheit nach Hilleh zu reisen, um, mit den nötigen Vollmachten ausgerüstet, den hiesigen Sandschaki zu überrumpeln und verhörlich vorzunehmen.«

»Ah! So hat er sich in irgend einen Verdacht gebracht?«

»Es handelt sich nicht bloß um einen Verdacht, sondern es ist mir gelungen, schon Beweise gegen ihn in die Hand zu bekommen. Sie wissen, daß der Schah Nasr Eddin nach dem Besitz von Bagdad trachtet. Er hat vor einigen Jahren die Bedrängnis der Türkei benutzt, es zurückzuverlangen, stieß aber auf unerwarteten Widerstand. Jetzt nun mehren sich die Zeichen, daß er diese Absichten in anderer Weise verfolgt, und dabei ist denn der hiesige Sandschaki im höchsten Grade kompromittiert. Ich habe hier noch nicht alles durchgesehen, weiß aber schon jetzt, daß ihm zunächst die Amtsenthebung und dann noch größere Strenge bevorsteht. Er hat auch Sie und Ihren guten Halef in einer Weise behandelt, welche mehr als bloß eine einfache Rüge verdient.«

»Das wissen Excellenz?«

»Ich weiß alles ganz genau. Der Miralai, der sich sehr für Sie interessiert, hat es mir erzählt.«

Er deutete hinter sich auf den Oberst, der nach ihm eingetreten war, derselbe Miralai, der sich während der Mehkeme so wohlwollend unser angenommen hatte, und fuhr dann fort:

»Dieser Oberst ist ein braver Mann, und seiner Unterstützung habe ich hier schon viel zu verdanken. Ich werde ihn empfehlen.«

Bei diesen Worten fiel mir der alte Kol Agasi ein, und so fragte ich ihn, obgleich ich eigentlich viel Notwendigeres zu sagen hatte:

»Excellenz sprachen von Vollmachten. Würden diese sich vielleicht auch darauf erstrecken, einen altgedienten Kol Agasi mit einer höheren Charge zu beglücken?«

Er sah mir mit einem pfiffigen Lächeln in das Gesicht und antwortete:

»Er hat sich natürlich um Sie verdient gemacht?«

»Sehr!«

»Das muß der Padischah belohnen. Sie wissen, es ist bei uns, und zumal hier in dieser abgelegenen Provinz, so manches möglich, was anderwärts wohl nicht geschehen dürfte. Ich will also Ihr Herz durch die Mitteilung erleichtern, daß es mir nicht schwer fallen wird, ihn zum Alai Emini oder Bimbaschi nicht bloß vorzuschlagen, sondern gleich zu machen. Wollen Sie mir mitteilen, in welcher Weise er sich so verdient um Sie gemacht hat?«

»Ich bitte, dies später thun zu dürfen, da mir in diesem Augenblicke die Zeit dazu mangelt. Es ist jetzt jede Minute bei mir angerechnet, denn es gilt, eine höchst gefährliche Verbrecherbande aufzuheben und dabei einen Fang zu machen, wie er hier wohl noch nicht vorgekommen ist.«

»Hängt das mit ihrer Anwesenheit am Birs Nimrud, mit Ihrer Gefangennahme und nachherigen Flucht zusammen?«

»Sehr eng.«

»So erzählen Sie mir schnell alles, aber kurz und bündig, weil Sie keine Zeit haben! Wie ich Sie kenne, handelt es sich um eine interessante Begebenheit, und es sollte mich freuen, wenn es mir möglich wäre, mich auch einmal an einem Erlebnisse Kara Ben Nemsis zu beteiligen.«

»Oh, was das betrifft, so stecken Excellenz schon mitten in einem Erlebnisse drin,« lachte ich, »und es würde Ihnen wohl schwer fallen, ganz unbeteiligt wieder herauszukommen!«

Nun folgte ich seiner Aufforderung und gab ihm den gewünschten Bericht, den er mit gespannter Aufmerksamkeit entgegennahm. Es läßt sich denken, welchen Eindruck sein zu mir so freundschaftliches Verhalten auf die Anwesenden machte. Sie verstanden zwar, weil wir deutsch sprachen, kein Wort unserer Unterredung, aber sie mußten doch sehen, daß wir einander nicht nur kannten, sondern in noch näherer Beziehung zu einander standen.

Ich lasse nämlich den General nicht etwa als schriftstellerischen Deus ex machina an dieser Stelle erscheinen; das wäre, wenn es sich nur um Phantasiegebilde handelte, ein ganz überflüssiges Verfahren, eine vollständig unnötige Verschwendung von Papier, Tinte und Buchdruckerschwärze, weil der schon vorhandene Sandschaki mir ganz dieselben Dienste leisten könnte, wie der an den Haaren herbeigezogene »Dscheneral«. Dieser letztere, den ich Freund nennen darf, ist vielmehr eine hervorragende militärische Persönlichkeit, sogar Autorität und durch den Gang seines bewegten Lebens im höchsten Grade interessant.

Adolf Farkas, ein geborener Mähre und später ungarischer Offizier, war während der dortigen Erhebung Bems Adjutant und zeichnete sich dabei in jeder Weise aus. Nach diesen Kämpfen gingen beide in türkische Dienste und traten zum Islam über, Bem unter dem Namen Amurat Pascha, während Farkas den Namen Osman wählte, und, da er später den Rang eines Pascha erhielt, jetzt Osman Pascha heißt. Während des Krieges im Jahre 1853 bat Omer Pascha sich ihn als Adjutant aus, und ebenso leistete Farkas in dem Feldzuge von I877-78 Ausgezeichnetes. Für diese Verdienste zum Oberst und bald darauf zum General ernannt, war er zugleich Professor an der militärischen Hochschule in Konstantinopel und genoß auch sonst das Vertrauen des Padischah, wie seine jetzige Sendung nach Bagdad und Hilleh bewies. Ich hatte ihn in Stambul kennen gelernt und an seiner Seite bei anregender Unterhaltung manche Tasse Kaffee getrunken, und manchen Tschibuk ausgeraucht. Jetzt nun standen wir so ganz unerwartet im Zimmer des Sandschaki bei einander, und er hörte mit immer wachsender Aufmerksamkeit der Erzählung unseres Erlebnisses zu. Als ich damit zu Ende war, rieb er sich vergnügt die Hände und gestand:

»Das ist allerdings interessant, höchst interessant, und ich sehe ein, daß Sie keine Zeit zu verlieren haben. Wie gern, wie sehr gern würde ich mit hinausreiten und mich an diesem Coup beteiligen; aber die Pflicht hält mich hier fest. Ich darf dem Sandschaki nicht von der Seite weichen, und die unaufschiebbaren Nachforschungen werden noch die ganze Nacht ausfüllen. Aber ich stelle Ihnen alles zur Verfügung, was Sie wünschen und verlangen. Sprechen Sie nur! Sagen Sie, womit ich Ihnen dienen kann! Haben Sie schon einen Feldzugsplan entworfen?«

»Darf ich diese Cäsar- oder Napoleonsarbeit nicht lieber Ew. Excellenz überlassen? Mir liegt nur daran, meinen Halef unverletzt wieder zu bekommen; das übrige ist ja Sache der hiesigen Verwaltung, welcher ich das Bewußtsein, ihre Pflicht erfüllt zu haben, ganz gern gönne.«

»Sie Diplomat! Im Falle des Nichtgelingens sind Sie dann ganz verantwortungsfrei! Weiß der Sandschaki schon, daß der Pischkhidmät Baschi überfallen und ausgeraubt worden ist und seine Begleiter tot sind?«

»Er hat wohl keine Ahnung davon!«

»So wollen wir ihm auch nichts sagen. Seit ich Ihre Erzählung gehört habe, kann ich nämlich den Gedanken nicht los werden, daß er in Beziehung auf seine Verbindungen mit Persien mit dem Säfir unter einer Decke steckt. Dieser ist der Unterhändler. Meinen Sie nicht?«

»Ja; er oder der Pädär-i-Baharat, vielleicht auch beide zugleich. Daß man sich grad an den Sandschaki gewendet hat, scheint mir zwei Gründe zu haben.«

»Welche?«

»Erstens hat man ihn als bestechlichen Mann gekannt, und zweitens stehen die heiligen Orte, auf welche es doch wohl vor allen Dingen abgesehen ist, unter ihm.«

»Das ist richtig. Sie öffnen mir da die Augen.«

»Auch kann es keinen gewöhnlichen Grund haben, daß sein Verhalten zu dem Säfir ein so seltenes, ein so ausnahmsweises ist. Er ließ ihn, den Fremden, ja nicht nur an der Mehkeme teilnehmen, sondern gestattete ihm auch, in das Verhör zu sprechen. Das läßt auf ganz verdächtige Verbindungen schließen.«

»Ich stimme bei; aber wir werden auch hinter diese Schliche kommen. Jetzt mache ich Sie darauf aufmerksam, daß wir ganz vergessen haben, daß wir nicht allein hier sind. Ich bin den Anwesenden eine Erklärung schuldig.«

Sich von mir ab und dem Sandschaki zuwendend, sagte er zu ihm, natürlich nun nicht mehr deutsch sprechend:-

»Du sprachst vorhin von Strolchen, Paschern, Dieben, Räubern und Mördern. Wie bisher in vielen anderen Punkten, so bin ich auch in dieser Hinsicht nicht mit dir einverstanden, sondern ganz anderer Meinung. Dieser Franke ist mein Freund, und ich freue mich außerordentlich, ihm so unerwartet hier zu begegnen. Er heißt Kara Ben Nemsi Effendi und steht unter dem ganz besonderen Schutze des Padischah. Das hat er dir gesagt und auch bewiesen, ohne daß es dir beliebte, auf seine Worte zu achten. Ich habe jetzt seine Anklage entgegengenommen und werde sie zu den übrigen Beschuldigungen fügen, welche gegen dich vorliegen und zu denen wahrscheinlich noch andere kommen.«

Man sah es dem Sandschaki an, daß er sich seit der freundlichen Begrüßung zwischen dem Generale und mir in der größten Verlegenheit befand. Er wollte jetzt eine entschuldigende Antwort versuchen, wurde aber daran verhindert, denn mein alter Kol Agasi kam herein und meldete, daß drei Männer den Sandschaki zu sprechen begehrten.

»Wer sind sie?« fragte der General.

»Ich weiß es nicht; sie wollten keine Namen sagen. Sie sind persisch gekleidet, und der eine von ihnen sagte, er käme mitten in der Nacht, weil er dem Sandschaki einen sehr wichtigen Brief zu übergeben und auch von einer großen Mordthat zu erzählen habe, welche am Birs Nimrud geschehen sei.«

»Wer soll ermordet worden sein?«

»Der Pischkhidmät Baschi mit allen Leuten, die bei ihm waren.«

»Von wem?«

»Von den beiden Fremden, welche heut entflohen sind, dem Kara Ben Nemsi und dem Haddedihn-Beduinen.«

Der General sah mich und ich den Kol Agasi an. Diese drei persisch gekleideten Männer konnten nur Kumpane des Säfir sein; ich dachte sogleich an den Pädär-i-Baharat und seine zwei Begleiter. Wenn sie es waren, so spielten sie ein höchst gefährliches Spiel, welches sie freilich für ganz unbedenklich hielten, weil sie zweierlei nicht wußten, nämlich erstens, daß ich mit dem Kammerherrn entkommen war, und zweitens, daß seit dem Abend sich die Verhältnisse des Sandschaki außerordentlich verändert hatten. Der schlauberechnende Säfir wollte aus sehr naheliegenden Gründen, welche keiner Erklärung bedürfen, den Überfall und Mord auf mich und Halef, also auf einen Christen und einen Sunniten schieben und dadurch jeden doch vielleicht gegen ihn auftretenden Verdacht gleich im Beginne von sich und seiner Bande abwälzen.

»Wo befinden sich die drei Perser?« fragte ich den Kol Agasi.

»Unten an der Thür,« antwortete er.

»So haben sie unsere Pferde gesehen?«

»Nein, Effendi. Da die Hengste dir gehören, habe ich sie mit Aufmerksamkeit behandelt und in den Achor unseres Serai schaffen lassen, wo sie Futter und Wasser bekommen.«

»Das ist gut! Hast du den Männern gesagt, daß ich hier bin?«

»Kein Wort! Was denkst du von dem Lichte meiner Gedanken, daß du mir eine so große Dummheit zumutest?«

»Aber die Posten werden es jetzt unten ausplaudern?«

»Auch kein Wort! Sie sind, während du hier oben warst, gewechselt worden, und die jetzigen wissen nichts von dir.«

»Hast du davon gesprochen, daß ein Abgesandter des Padischah angekommen ist?«

»Nein. Diese drei Männer sind so ahnungslos wie Hammel, welche nach der Thür drängen, hinter welcher sie geschlachtet werden sollen.«

»Dieser Vergleich ist nicht übel. Warte einen Augenblick!«

Ich wendete mich zu dem General, welcher mir mit der Frage zuvorkam:

»Du hast eine Idee; ich sehe es dir an. Habe ich recht?«

»Ja.«

»Welche?«

Er sprach arabisch und nannte mich also du. Ehe ich antworten konnte, ergriff der Sandschaki das Wort:

»Ich höre, daß die Karawane des Pischkhidmät Baschi überfallen und er mit den Seinigen ermordet worden sein soll. Hier steht er aber ja! Wie ist das zu erklären?«

»Auf so einfache Weise, wie dir heut noch manches andere auch erklärt werden wird,« erwiderte ich ihm.

»Wo aber ist der Haddedihn? Warum hast du ihn nicht mitgebracht?« erkundigte er sich in höhnischem Tone. »Es scheint doch etwas vorgekommen zu sein, was du verschweigen mußt!«

»Wohl dir, wenn du so wenig zu verschweigen hast wie ich! Es wäre nur gut für dich, wenn du jetzt gar nichts sagtest!«

Nun führte ich den General abseits und besprach mit ihm den Plan, den ich gefaßt hatte; er stimmte bei und traf schnell seine Anordnungen zur Ausführung desselben. Er blieb ganz allein in dem Zimmer; alle anderen begaben sich in das Nebengemach, aus welchem er vorhin mit dem Oberst gekommen war. Auch der Korporal mußte mit seinen Soldaten aus dem Vorraum zu uns kommen, denn wir brauchten sie sehr wahrscheinlich zur Arretur der drei Perser, welche mißtrauisch geworden wären, wenn sie eine solche Wache vor der Wohnung des Sandschaki angetroffen hätten. Diesem letzterem wurde streng bedeutet, daß er sich ganz ruhig und vollständig schweigsam zu verhalten habe, wenn er nicht Gefahr laufen wolle, seinem hohen Stande zuwider behandelt zu werden. Jedenfalls wurde es ihm, dem hier bisher Allgewaltigen, schwer, die Fügsamkeit zu zeigen, welche wir von ihm verlangten. Was mich betrifft, so postierte ich mich hinter den Vorhang, um jedes Wort zu hören und die Perser durch eine Lücke beobachten zu können.

Kaum daß diese Vorbereitungen getroffen worden waren, traten sie ein. Sie hatten erwartet, den Sandschaki zu sehen und waren nicht wenig darüber betroffen, daß sie vor einem Generale standen, zu dem sie gar nicht gewollt und von dessen Anwesenheit sie nichts gewußt hatten. Man sah es ihnen an, wie verlegen sie waren. Ich hatte mich nicht geirrt, als ich annahm, daß es der Pädär mit seinen beiden Genossen sein werde.

»Ihr habt gewünscht, hier gehört zu werden. Was ist euer Verlangen, jetzt mitten in der Nacht?« fragte Osman Pascha.

»Wir baten, mit dem Sandschaki sprechen zu dürfen,« antwortete der Pädär.

»Er kann nicht kommen; ich stehe an seiner Stelle hier. Also redet!«

Er sah sie so streng und durchdringend an, daß sie es nicht wagten, sich zu weigern. Der Pädär begann ziemlich kleinlaut:

»Unser Bericht ist eigentlich nur für den Gebieter des hiesigen Sandschak; aber da du behauptest, an seiner Stelle hier zu sein, so werden wir dir die Angelegenheit mitteilen.«

»Drückt euch höflicher und vorsichtiger aus! Ich behaupte gar nichts, sondern was ich sage, das gilt. Merkt euch das! Was ist es für eine Angelegenheit, die ihr mir vorzutragen habt? Ich hoffe, eine genug wichtige, um euer nächtliches Kommen zu entschuldigen!«

»Sie ist wichtig. Es handelt sich um den Überfall einer Karawane und einen zwölffachen Mord.«

»Welche Karawane?«

»Die Karawane des Pischkhidmät Baschi, welcher der Gast des hiesigen Gebieters gewesen ist. Sie ist vor einigen Stunden draußen bei den Ruinen überfallen und geplündert worden, wobei der Pischkhidmät Baschi mit seinen elf Begleitern das Leben verloren hat.«

»Wer sind die Mörder?«

»Der Christ und der sunnitische Haddedihn, welche hier schon wegen Mord, Leichenschändung und Schmuggelei vor der Mehkeme standen, aber entflohen sind.«

»Könnt ihr das beweisen?«

»Ja.«

»Wie?«

»Durch unser Zeugnis. Wir waren dabei und sind die einzigen, welche dem Blutbade entkommen sind.«

»Ihr werdet mir den Hergang dieses Ereignisses erzählen; vorher aber handelt es sich um den Brief, von dem die Rede gewesen ist.«

»Er ist für den Sandschaki,« meinte der Pädär verlegen.

»Ich stehe an seiner Stelle!«

»Er enthält eine Schrift, welche von ihm zu unterzeichnen ist!«

»So wird er unterzeichnen!«

»Wir haben diese Schrift wieder abzuliefern und müssen sie uns also zurückerbitten!«

»Dagegen habe ich nichts.«

»Wir dürfen sie aber nur ihm geben, keinem andern Menschen!«

»So ist es ein Geheimnis, um welches es sich handelt?«

»Das weiß ich nicht. Ich habe strengen Befehl, nach dem ich handeln muß.«

»Von wem?«

»Das darf ich nicht sagen.«

»Woher kommt der Brief?«

»Dies zu sagen, ist uns ebenfalls verboten.«

Es war dem Pädär himmelangst; er wand sich hin und her und atmete sichtlich auf, als der General in gleichgültigem Tone entschied:

»Mag es sein; ihr sollt einstweilen euren Willen haben! jetzt zu dem Überfall der Karawane. Wie ging das zu?«

»Es geschah folgendermaßen: Wir drei befinden uns auf der Pilgerschaft nach den heiligen Stätten. Wir kamen gestern hier an und trafen einen Landsmann, mit dem wir uns befreundeten. Als es Abend geworden war, wollten wir die Kühle desselben zur Fortsetzung der Reise benutzen und baten ihn, uns eine Strecke zu begleiten.«

»Wie hieß dieser Mann?«

»Wir haben nicht nach seinem Namen gefragt. Er nannte sich Def des Sandschaki, und so will ich ihn auch weiter bezeichnen, wenn du es erlaubst.«

Er meinte natürlich den Säfir, und es war sehr vorsichtig von ihm, sich auf diese Weise aus der Notwendigkeit zu ziehen, den wahren oder auch einen falschen Namen anzugeben. Er fuhr fort:

»Der Def willigte ein, bis zu den Ruinen mitzureiten. Unterwegs trafen wir auf die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi, welche kurz vor uns von Hilleh aufgebrochen war, und baten um die Erlaubnis, uns ihr anschließen zu dürfen, was uns auch nicht verweigert wurde. Wir waren froh darüber, denn wir hatten von der großen Unsicherheit des Weges und von einem Franken und einen Haddedihn gehört, welche die Anführer räuberischer Beduinen sind und jeden Pilger, der ihnen in den Weg kommt, ausplündern.«

»Kennst du die Namen dieser Räuber?« fragte der General.

»Ja. Der Franke wird Kara Ben Nemsi genannt, und der Haddedihn heißt Halef.«

»Diese Schurken! Man muß sie zu fangen suchen. Leider aber kennt man ihr Aussehen nicht!«

»Oh, das kennen wir,« fiel der Pädär schnell ein. »Man hat sie uns beschrieben, und heut haben wir sie auch gesehen.«

»Nun, wie?«

Jetzt beschrieb der Mensch Halef und mich so genau, daß ich selbst es nicht besser hätte machen können, und setzte dann seine Erzählung fort:

»Kurz vor den Ruinen kamen zwei Männer von seitwärts her geritten und gesellten sich zu uns. Allah hatte unsere Augen verdunkelt, sonst hätten wir erkennen müssen, daß es die beiden Räuber waren. Dann verabschiedete sich der Gast des Sandschaki von uns und wünschte uns glückliche Reise; sie sollte leider nicht glücklich werden, denn kaum war er fort, so fielen Schüsse, und eine Menge Beduinen drangen auf uns ein. Wir sahen, daß die beiden zuletzt Angekommenen, also der Franke und der Haddedihn, ihre Messer zogen und zwei Pilger niederstachen; nun erkannten wir sie und wendeten schnell unsere Pferde, um ihnen zu entgehen. Dies gelang uns, denn die Kugeln, die uns nachgeschickt wurden, trafen uns nicht. Nach einiger Zeit stießen wir wieder mit dem Def zusammen, welcher umgekehrt war, weil er die Schüsse gehört hatte. Wir erzählten ihm den Überfall, und er beredete uns, mit ihm zurückzureiten und den Schauplatz des Überfalles zu beschleichen, weil vielleicht die Rettung eines Lebens möglich sei. Als wir dort ankamen und vorsichtig lauschten, brannte ein Feuer, und die beiden Anführer waren beschäftigt, die Beute unter sich und die Beduinen zu verteilen. Als sie damit fertig waren, ritten sie fort. Die Leiche des Pischkhidmät Baschi nahmen sie mit, um sie in den Fluß zu werfen, damit niemand sie finden könne. Wir aber wagten uns nach ihrer Entfernung hin an das Feuer, um die dort liegenden elf Körper zu untersuchen; sie waren alle tot, und zwar nicht erschossen, sondern erstochen worden. Uns graute. Der Gast des Sandschaki aber war ein kühner Mann; er beschloß, den beiden Anführern heimlich nachzureiten, um ihr Versteck zu erfahren, und sie dann mit Hilfe der hiesigen Soldaten zu fangen. Uns sandte er nach Hilleh zurück, um dem Sandschaki sofort, noch während der Nacht, die Unthat zu erzählen.«

Er hielt jetzt inne; darum erkundigte sich der General:

»Bist du fertig?«

»Ja.«

»Ihr könnt alles, was du erzählt hast, durch einen Eid bekräftigen?«

»Ja.«

»Es kommen in deinem Berichte einige Punkte vor, die mir unklar sind. Du wirst mir also noch einige Fragen zu beantworten haben. Du sagtest, ihr hättet euch mit dem Def befreundet; wie kommt es, daß ihr da seinen Namen nicht kennt? Bevor man sich befreundet, sucht man doch zu erfahren, wie man heißt!«

»Unter schiitischen Pilgern nicht. Du bist ein Sunnit und kannst das also nicht wissen.«

»Gut; das hast du vortrefflich gemacht! Weiter! Es fielen so viele Schüsse, und doch hat keiner getroffen; alle Menschen waren nicht erschossen, sondern erstochen. Ist das nicht sonderbar?«

»Nein. Es war eben nicht genau gezielt worden!«

»Und alle zwölf Mitglieder der Karawane hielten ruhig still, um sich mit Bequemlichkeit nach und nach erstechen zu lassen?«

»Das war die Angst!«

»Der Def hat die Schüsse gehört, muß also noch nicht weit entfernt gewesen sein. ihr kamt mit ihm zurück. Es kann also inzwischen nur eine sehr kurze Zeit vergangen sein, höchstens einige Minuten?«

»Mehr nicht.«

»Und doch brannte schon ein Feuer? Und doch war man schon mit der Verteilung der Beute beschäftigt? Du mußt selbst sagen, daß deine Erzählung stellenweise höchst verwunderlich klingt!«

»Allah! Ich habe die volle, reine Wahrheit berichtet!« »Ihr waret vorher in Hilleh?« »Ja.« »Wie lange?« »Einige Stunden.« »Wohin wolltet ihr von hier aus?« »Zunächst nach Kerbela.« »Dann?« »Nach Meschhed Ali.«

»Nicht wieder über Hilleh, denn dies wäre ein Umweg gewesen, sondern direkt über Kefel?«

»Ja.« »Und wohin von Meschhed Ali aus?« »Hinunter nach Samawat.« »Weiter!«

»Von dort aus wollten und wollen wir über Qorna, Hawisa und Disful im Thale des Kercha-Flusses nach Persien zurück.«

»Also ohne wieder hierherzukommen?«

»Ja,« antwortete der sonst so schlaue Pädär, welcher nicht ahnte, welche Falle der General ihm mit diesen Fragen gestellt hatte. Der Fang glückte auch vollständig, indem Osman Pascha fortfuhr:

»Wie steht es da mit dem Briefe an den Sandschaki? Ihr hattet ihn abzugeben, seid aber fortgeritten, ohne dies zu thun, obwohl ihr die Absicht hattet, nicht wiederzukommen. Und nun kommt ihr mitten in der Nacht, um ihn zu bringen. Erkläre mir diese Widersprüche!«

Die Perser waren vollständig überzeugt gewesen, unbedingt nur von dem Sandschaki empfangen zu werden, und also auf ein solches Examen nicht vorbereitet. Der Pädär zermarterte sich das Gehirn nach einer nur leidlich passenden Auskunft; er setzte mehrmals an, um zu antworten, fand aber nichts, was er als nur einigermaßen glaubhaft vorbringen konnte.

»Nun, sprich!« drängte ihn der General. »Woher dieses Schweigen? Fällt dir denn gar und gar keine Ausrede ein?«

»Wir – – wir – – hatten den Brief – – ver – – – vergessen!« stieß der Pädär endlich hervor.

»Vergessen? Einen Brief, der so wichtig ist, daß ihr ihn jetzt zu einer so unpassenden Stunde bringt? Dessen Wert ihr so hoch taxiert, daß ihr das Schreiben nicht einmal mir anvertraut, sondern es nur eigenhändig übergeben wollt? Seid ihr denn wirklich so dumm, anzunehmen, daß ich dieser Ausrede Glauben schenken werde? Es ist eine geradezu unglaubliche Frechheit von euch, mir da eine Menge von Lügen in das Gesicht zu sagen, welche jeder Dummkopf durchschauen würde. Denn nicht bloß eure letzte Ausrede, sondern alles, was du mir erzählt hast von dem Überfalle, ist Schwindel, ist ausgesonnener Lug und Trug.«

»Denke das nicht; denke es ja nicht!« fiel der Pädär schnell und ängstlich ein. »Alles, was ich erzählt habe, ist die reine, die lautere Wahrheit, die wir bereit sind, sofort durch einen Eid zu bekräftigen.«

»Ja, ich traue euch allerdings zu, daß ihr euch nicht besinnen würdet, diesen Meineid zu schwören! Ihr bleibt also dabei, daß Kara Ben Nemsi und der Haddedihn die Anführer der Beduinen sind, welche die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi überfallen haben?«

»Ja.«

»ZU welchem Stamme gehörten diese Beduinen?«

»Das können wir natürlich nicht wissen, weil wir nicht mit ihnen gesprochen haben und es auch so dunkel war, daß wir irgend vorhandene Merkmale gar nicht zu sehen vermochten.«

»Und der Pischkhidmät Baschi ist tot?«

»Ja.«

»Wirklich und wahrhaftig tot?«

»Ja.«

»Ihr habt thatsächlich seine Leiche gesehen? Besinne dich wohl, ehe du antwortest!«

Es wurde dem Pädär bei diesen dringlichen Fragen angst; er begann zu ahnen, daß die Luft hier für ihn nicht so gesund und rein sei, wie er angenommen hatte; aber es gab für ihn keinen Ausweg; er konnte seine Lügen nicht zurücknehmen und antwortete also:

»Ja, wir haben sie gesehen; der Mann ist wirklich tot. Er war ja einer der ersten, welche erstochen wurden.«

Der General ließ eine kurze Pause eintreten, um die Bedeutung der nächsten Worte zu erhöhen, nahm den Pädär scharf in die Augen und sprach mit schwerem Nachdrucke:

»Ich habe geglaubt, er sei unverletzt und liege im Innern des Birs Nimrud gefangen!«

Das kam den Persern so unerwartet, daß sie sich nicht beherrschen konnten. Ihr rasches Zusammenzucken und die erschrockenen Blicke, welche sie einander zuwarfen, waren vollgültige Beweise ihrer Schuld. Sie standen in starrer, wortloser Bestürzung vor dem General. Dieser fuhr mit derselben Strenge fort:

»Der Gast des Sandschaki ist den Anführern der Räuber nach, um ihren Schlupfwinkel zu entdecken?«

»Ja, so sagte er,« nickte der Pädär in einer Weise, welche seine Beklemmung verriet.

»Das war höchst überflüssig von ihm, denn ich kenne dieses Versteck bereits, und zwar ganz genau. Der Haddedihn liegt abgesondert im Raume rechts, wenn man von der Treppe aus in die nächste Kammer kommt; geht man aber geradeaus, so sieht man das Drahtgitter, hinter welchem Kara Ben Nemsi und der Pischkhidmät Baschi gelegen haben!«

»Bi Khatir-i-Khuda – um Gottes willen!« schrie da der Pädär auf. »Woher – – woher weißt du – – –« er hielt vorsichtig inne, denn er besann Sich, daß er im Begriffe stehe, ein Geständnis auszusprechen, und verbesserte sich, indem er es in die Worte veränderte: »Wir wissen nicht, was du meinst. Wir haben nicht die geringste Ahnung davon, was dieser dein Ausspruch zu bedeuten hat!«

»Wirklich nicht? So mache ich euch darauf aufmerksam, daß ich nicht gesagt habe, daß diese beiden Männer noch dort liegen, sondern daß sie dort gelegen haben. Sie sind nämlich nicht mehr gefangen. Euer Säfir – –!«

»Säfir, Säfir!« rief da Aftab höchst unvorsichtig aus.

»Oh, du erschrickst darüber, daß ich den von euch so sorgfältig verschwiegenen Namen des sogenannten ›Gastes‹ kenne? Dieser dein Schreck überführt euch aller eurer Schuld! Also euer Säfir hat sich in Kara Ben Nemsi stark verrechnet. Dieser Franke ist klüger und geschickter, als ihr alle miteinander in Summa seid. Er hat das Innere des Birs Nimrud gekannt, längst ehe er von euch hineingeschafft wurde, und heimlich über den Säfir gelacht, als dieser vor ihm stand und von den Qualen sprach, mit denen er ihn martern wollte.«

»Ich – – ich – – – wir – – – du – – du siehst uns fast ohne Sprache vor Erstaunen über das, was du sagst und was wir nicht begreifen können!« stammelte der Pädär.

»Nicht vor Erstaunen, sondern vor Angst! Als Kara Ben Nemsi und Halef beim Tamariskengebüsch am Euphrat in deine Hände fielen, hast du gejubelt, vor Freude darüber, daß du ihnen die Hiebe, welche ihr von ihnen erhalten habt, nun zurückzahlen könntest. Jetzt nun kommst du zu der Einsicht, daß es allerdings Hiebe, gewaltige Hiebe geben wird, aber nicht für sie, sondern für euch!«

Da hielt der Pädär es für angemessen, seine Bestürzung niederzudrücken und den unschuldig Beleidigten herauszukehren. Er richtete sich hoch auf und fragte:

»Herr, wie kommst du dazu, all dieses unverständliche Zeug uns zu ––«

»Schweig?« donnerte der General dazwischen. »Ich werde nicht Herr, sondern Hazret genannt, was zu thun du bis jetzt sorgfältig vermieden hast; es wird euch aber die vorgeschriebene Höflichkeit bald beigebracht werden! Und wenn du von ›unverständlichem Zeuge‹ redest, so soll dir sofort das Verständnis kommen. Schau hin! Du kennst sie wohl!«

Er deutete nach dem Vorhange. Ich hatte den Kammerherrn, diesen Augenblick erwartend, schon längst zu mir gewinkt und trat mit ihm hinaus. Die Wirkung unseres Anblickes war noch stärker, als wir erwartet hatten. So frech und hartgesotten diese Menschen waren, dem Schrecke, den dieser Augenblick ihnen brachte, konnten sie doch nicht widerstehen. Sie knickten förmlich zusammen, und der Pädär retirierte nach der Thür. Da eilte ich hin, stellte mich zwischen sie und ihn, zog den Revolver, hielt ihm die Mündung vor die Brust und drohte:

»Weg von der Thür, sonst schieße ich dich augenblicklich nieder!«

Dies trieb ihn einige Schritte weiter; da er aber dabei mit der Hand nach dem Gürtel fuhr, fügte ich hinzu:

»Und weg dort mit der Hand! jetzt hat der Scherz ein Ende, und es wird Ernst gemacht. Onbaschi, komm herein!«

Der Korporal folgte diesem Rufe, er kam mit seinen Leuten herein und postierte sich mit ihnen vor der Thür. Während ich den Persern den Revolver noch immer entgegenstreckte, nahm ihnen der General die Messer und Pistolen ab. Gewehre hatten sie nicht mit. Sie machten keinen Versuch, dies nicht geschehen zu lassen.

»So!« sagte ich, zu dem Pädär gewendet. »Weißt du noch, was du mir angedroht hast; was bei unserm Wiedersehen geschehen solle? Das Wiedersehen ist da; was wird nun weiter kommen?«

Ich hörte seine Zähne aufeinander knirschen, eine andere Antwort gab er nicht.

»Ihr habt euch wunder wer weiß wie klug gedacht, und doch wie dumm, wie ganz unverzeihlich dumm seid ihr!« sprach ich weiter. »Es ist wirklich kaum glaublich, mich in den Birs Nimrud zu stecken und mir doch vorher zu verraten, wie man es anzufangen hat, in das Innere dieser Ruine zu kommen!«

»Wer hat das verraten!« fuhr er auf.

»Du!«

»Ich?!«

»Ja, du selbst!«

»Lüge, nichts als Lüge!«

»Pah! Hattest du nicht eine Schrift bei dir, welche die Zeichnung des Weges, des Einganges und sogar die auf dem Ziegel befindlichen Zeichen enthielt?«

Da ballte er die Fäuste, sprang auf mich zu, ohne sich aber ganz heranzugetrauen, und schrie:

»Du hast sie in der Hand gehabt? Du hast sie gesehen? Allah vernichte dich!«

»Ja, ich habe sie gehabt und die Zeichen wohl verstanden!«

»So mußt du allwissend sein oder dich mit teuflischer Zauberei befassen!«

»Es ist weder Allwissenheit noch Zauberei nötig; es gehört dazu weiter nichts, als daß man nicht ganz und gar so einfältig ist, wie ihr drei Kerle seid. Ich will aber darauf verzichten, euch eure Dummheit vor Augen zu halten, denn ihr würdet ja doch nicht zur Einsicht gelangen. Wir wollen es lieber so kurz wie möglich mit euch machen. Gieb einmal den Brief heraus, den du für den Sandschaki mitgebracht hast!«

Er zuckte unwillkürlich mit der Hand nach hinten, zog sie aber von der Stelle, welche er berührt hatte, schnell wieder zurück und antwortete:

»Ich habe keinen Brief!«

»Sprich keinen solchen Unsinn! Es ist ja geradezu zum Lachen, daß du jetzt etwas leugnest, was du vorhin wiederholt behauptet hast!«

»Der Brief war nur ein Vorwand; ich habe wirklich keinen!«

»Du hast ihn mit!«

»Und wenn ich einen hätte, so würde ich ihn doch nicht hergeben!«

»Ich werde ihn schon finden!«

»So such‘!« brüllte er mich grimmig an und ließ ein erzwungenes Gelächter folgen.

Ich trat hinter ihn, legte die Hand auf die Stelle, welche er vorhin berührt hatte, und sagte:

»Hier steckt er!«

»Da im Gürtel? Nimm ihn doch heraus!«

»In dem Gürtel wohl nicht, sondern unter ihm, in der Sirjamä, denke ich.«

»Däwwab, du hast den Teufel!«

Er hatte dieses beleidigende Wort kaum ausgesprochen, gab ich ihm eine derartige Ohrfeige, daß er, so lang er war, zu Boden stürzte.

»Haltet ihn fest!« rief ich dem Korporal zu.

Dieser warf sich mit seinen Leuten auf den Pädär, noch ehe er aufstehen konnte. Er wollte sich zwar wehren, konnte aber gegen soviel kräftige Hände nichts machen. Da wurde der Vorhang auseinander gerissen; der Sandschaki kam aufgeregt und eilig herein und herrschte mich zornig an:

»Was hast denn du mit den Briefen zu schaffen, die an mich gerichtet sind? Bist du etwa mein Vormund oder bin ich ein Knabe, der, wenn er haben will, was ihm gehört, erst um Erlaubnis fragen muß? Wenn ein Brief an mich hier ist, so hat ihn kein anderer Mensch zu bekommen als nur ich allein!«

»Auch ich nicht?« fragte der General.

»Nein.«

Da legte ihm Osman Pascha die Hand auf die Schulter und belehrte ihn in gewichtigem Tone:

»Du scheinst noch immer nicht zu wissen, weshalb und wozu ich mich hier befinde. Es sei dir also kurz und deutlich gesagt: Ich bin die Hand des Padischah, welche sich ausstreckt, um das Buch deiner Thaten aufzuschlagen. Da giebt es keine Weigerung und keine Abwehr deinerseits. Ich handle nach der Vorschrift, die mir geworden ist, und werde, falls du dich widersetzest, deinem Ungehorsam zu begegnen wissen!«

Der Sandschaki wich einen Schritt zurück, sah ihm kampfbereit in das Gesicht, senkte aber vor dem Blicke, dem er begegnete, die Augen, besann sich eines Besseren und erwiderte:

»Ich weiß, daß ich gehorchen muß, wenn es sich um amtliche Angelegenheit handelt; dieser Brief aber ist in einer Privatsache an mich gerichtet!«

»Oh! So kennst du bereits seinen Inhalt?«

»Ja.«

»Und weißt also, daß dieser Mann, obgleich er es leugnet, im Besitze eines Schreibens für dich ist?«

»Behaupten kann ich es nicht; aber wenn er einen Brief für mich hat, weiß ich genau, daß der Inhalt ein persönlicher, aber kein amtlicher ist.«

»Warum dann die Angst des Überbringers? Warum die Weigerung, ihn vorzuzeigen?«

»Eben weil der Inhalt nicht mein Amt, sondern eine Privatangelegenheit betrifft, welche sich auf meine Familie bezieht, um die sich kein Mensch und selbst kein Vorgesetzter, auch nicht die ›Hand des Padischah‹, wie du dich nennst, zu kümmern hat!«

»Wohlan! Wenn es so ist, wie du sagst, so werde ich ihn dir lassen. Der Mann mag das Schreiben herausgeben!«

»Ich habe keins!« behauptete der Pädär verstockt, indem er einen ohnmächtigen Versuch machte, trotz der ihn niederhaltenden Hände vom Boden emporzukommen.

»Da er noch immer leugnet, scheint es doch, als ob das Schreiben nichts Unbedenkliches enthalte,« meinte Osman Pascha. »Man suche ihn aus!«

»Wir brauchen gar nicht lange zu suchen,« warf ich ein. »Der Bote hat sich selbst durch seine Hand verraten, mit welcher er nach dieser Stelle griff. Wir werden j a gleich sehen!«

Ich hatte mich bei diesen Worten niedergebückt und die Hand hinten unter den Gürtel des Persers, der sich nicht dagegen wehren konnte, geschoben. Ich fühlte sofort das, was ich suchte. Es befand sich im Innern der Hose hier, wo man sonst keine anzubringen oder zu suchen pflegt, eine Tasche, aus welcher ich das Schreiben zog. Ein schneller Blick zeigte mir die Adresse, mit der man den Brief vorsichtigerweise versehen hatte. Als ich mich wieder aufrichtete, schnellte der Sandschaki herbei, streckte die Hand aus, um mir meinen Fund zu entreißen, und sagte dabei:

»Her damit! Das gehört mir! Du hast ihn gar nicht zu berühren!«

Ich hielt den Brief ebenso schnell hinter mich, schob den aufgeregten Adressaten von mir weg und entgegnete:

»Nimm dir nur Zeit; es handelt sich um die Adresse!«

»Ist sie etwa die deinige?« brüllte er mich wütend an.

»Nein; aber sie enthält nicht bloß deinen Namen, sondern auch deinen Amtstitel. Der Abgesandte des Padischah mag entscheiden, ob darauf auf den amtlichen oder privaten Inhalt zu schließen ist.«

Ich gab das Schreiben dem General. Der Sandschaki fuhr rasch auf ihn los, um es ihm zu entreißen; ich faßte ihn aber hinten am Kragen, drehte ihn mit einem Schwunge um sich selbst herum und schleuderte ihn in die Ecke, wo er niederstürzte. Er raffte sich wieder auf, um seinen Angriff auf den Brief zu wiederholen, aber die anwesenden Offiziere, welche auch aus dem Nebenzimmer hereingekommen waren, stellten sich vor ihn und ließen ihn nicht aus der Ecke heraus. Da er wohl wußte, daß der Brief die Beweise seiner Schuld enthielt, wehrte er sich mit den Fäusten und mit ebenso kräftigen Worten, doch vergeblich. Der General las die Adresse, nickte mir zu und entschied:

»Du hast recht. Die Aufschrift läßt auf amtlichen Inhalt schließen. Der Brief gehört mir!«

Er öffnete ihn und las. Sein Gesicht wurde ernster und immer ernster. Als er zu Ende war, steckte er ihn zu sich, sah einige Augenblicke überlegend vor sich nieder und ging dann zur Thür des Vorzimmers, welche er öffnete.

»Kol Agasi!« rief er hinaus.

Der Alte kam herein.

»Giebt es eiserne Handfesseln hier?«

»Ja, Hazretin. Sie hängen an Ketten unten im Khabu es Sidschn, wo die gefährlichen Gefangenen untergebracht werden.«

»Sind diese Gefängnisse fest?«

»Fest? Allah, Wallah! Die Mauern sind mannesstark von Stein; der Boden ist von Stein, und die Decke ist auch von Stein. Es giebt kein Fenster, kein Loch darin, und die Thüren sind so dick, daß man stundenlang arbeiten müßte, um ein kleines Loch hineinzubringen.«

»Wieviel solcher Gelasse sind da?«

»Wohl zehn oder zwölf habe ich gesehen, als ich unten war.«

»Wer hat die Schlüssel?«

»Der Syndandschi. Soll ich ihn holen?«

»Nein; ich gehe selbst, und du wirst mich zu ihm führen.«

Er wendete sich hierauf zu mir und sagte deutsch:

»Der Sandschaki ist ein Verräter. Das Schreiben ist ein förmlicher Kontrakt, den er unterzeichnen sollte, und giebt sogar die Summen an, die er schon erhalten hat und noch bekommen soll. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen. Ich muß mich seiner Person so versichern, wie es die Größe meiner Verantwortung erfordert, und das Gefängnis also selbst in Augenschein nehmen. Werden Sie dafür sorgen können, daß während meiner kurzen Abwesenheit nichts geschieht, was ich vermeiden muß?«

»Gewiß. Sie brauchen keine Sorge zu haben, Excellenz. Hierbei möchte ich fragen, was Sie betreffs der drei Perser hier beschlossen haben?«

»Sie werden auch an Ketten gelegt. Der eine, den Sie Pädär nennen, hat den Brief aus Teheran gebracht; der Säfir ist der eigentliche Unterhändler und kennt den ganzen Inhalt dieses Schreibens.«

»Was sind das doch für Menschen! Sie betrügen hier und dort, auf beiden Seiten, ihre Auftraggeber, deren Vertraute sie doch sind. Es liegt uns eigentlich die Frage nahe, ob der Kammerherr, der als persischer Beamter doch nahe an der Quelle dieser Anzettelungen wohnt, nicht auch wenigstens etwas von ihnen weiß.«

»Ich habe auch schon daran gedacht. Welcher Meinung sind Sie darüber?«

»Er kommt mir harmlos vor.«

»Mir auch; aber dennoch werde ich dafür sorgen, daß er Hilleh nicht eher verläßt, als bis ich überzeugt, vollständig überzeugt von dieser seiner Unschädlichkeit bin. Also bitte, sorgen Sie dafür, daß, solange ich fort bin, nichts vorkommt, was ich nicht erlauben darf!«

Er entfernte sich mit dem Kol Agasi. Kaum war er hinaus, so machte der Sandschaki abermals einen angestrengten Versuch, aus der Ecke fortzukommen, und sprudelte denen, die ihn daran hinderten, die Drohung zu:

»Macht Platz! Wer mich zurückhält, wird ohne Nachsicht und auf das allerstrengste bestraft. Ich bin es, der hier zu befehlen hat, kein anderer Mensch! Meine Beschwerden werden nach Bagdad und sogar bis nach Stambul gehen. Ich lasse euch absetzen und einsperren! Hört ihr es? Oder fürchtet ihr euch vor dem Christenhunde dort? Dieser Ausbund von Schlechtigkeit und Niedertracht ––«

Da stand ich aber schon vor ihm und unterbrach ihn durch die Worte:

»Du meinst mich?«

»Ja, dich!« zischte er mich an.

»Und wie wagtest du mich zu nennen?«

»Einen Christenhund, einen – –«

Er konnte den Satz nicht aussprechen, denn er bekam von mir einen Kopfhieb, der ihn besinnungslos niederwarf. Ich zog ihm das Machrami aus dem Gürtel und band ihm damit die Hände auf den Rücken.

»So; jetzt belästigt er uns nicht mehr. Für das weitere wird der Syndandschi sorgen!«

»Und vielleicht dann gar der Dschellad oder, zur Schonung der von ihm bekleideten Würde, die seidene Schnur,« fügte der Mir Alai meinen Worten hinzu. »Ich sehe, Effendi, daß deine Faustschläge jetzt noch ebenso kräftig sind wie früher. Du ersparst mit ihnen die Fesseln, welche sonst notwendig wären, die Hände und Füße der Gefangenen unschädlich zu machen. Dort wäre eigentlich auch ein solcher Hieb gut angebracht.«

Er deutete auf den Pädär, welcher, noch immer von den Soldaten niedergehalten, die Abwesenheit des Generals zu erneutem Widerstande benutzen zu müssen glaubte. Ich ließ ihn mit seinem eigenen Gürtel binden, und da der Korporal einmal bei dieser Arbeit war, so vollzog er sie, ohne daß ich ihn dazu aufzufordern brauchte, auch an den beiden andern Persern, welche nicht den Mut besaßen, auch nur den geringsten Einspruch dagegen zu erheben.

Die passivste Rolle hatte während der ganzen Zeit der Pischkhidmät Baschi gespielt. Immer bewegungslos wie eine Statue an die Wand gelehnt, hatte er kein Wort gesagt und nur durch seine Augen verraten, daß er an den sich abspielenden Scenen doch eigentlich auch nicht ganz unbeteiligt sei. Jetzt näherte er sich mir und sagte sein erstes Wort:

»Effendi, diese Menschen sind Verbrecher; ich gebe das zu. Sie müssen bestraft werden; auch das gebe ich zu. Aber hat der General das Recht, sie festzuhalten und einzusperren?«

»Gewiß!« antwortete ich.

»Obgleich sie persische Unterthanen sind?«

»Höre, sei vorsichtig, o Pischkhidmät Baschi! Das Recht des Generals ist gar nicht zu bestreiten, denn kein Konsul oder sonstiger Vertreter einer fremden Regierung kann etwas gegen die Arretur eines Verbrechers seiner Nationalität haben. Niemand kann zum Beispiele verlangen, daß man einen Mörder laufen läßt, weil er einem andern Volke angehört.«

»Ja, da hast du recht; aber warum mahnst du mich, vorsichtig zu sein?«

»Weil du, wenn du dich dieser Menschen annimmst, leicht in den Verdacht kommen kannst, ein heimlicher Verbündeter von ihnen zu sein.«

Mit einem ruhigen Lächeln, welches unmöglich gewesen wäre, wenn er sich nicht ganz rein gefühlt hätte, gab er mir die Versicherung:

»Ein solcher Verdacht kann mich ja gar nicht treffen! Ich wohne unter dem Schirm der Gnade unsers Beherrschers und freue mich meiner Stellung und meines Lebens. Warum sollte ich mir diese Freude dadurch vergällen oder gar rauben, daß ich mich in Dinge mische, welche sich mit der Behaglichkeit, die ich liebe, nicht vereinbaren lassen? Ich habe dir schon gesagt, daß ich ein tapfrer, ja sogar ein verwegener Krieger bin; aber mein schönes Dasein um schnöden Geldes willen durch Landesverrat und wie diese Dinge sonst noch heißen mögen, auf das Spiel zu setzen, das kann mir nicht im Traume einfallen; dazu halte ich mich auch für viel zu gut. Ich hasse Verschwörungen und alle ähnlichen heimlichen Anschläge, weil sie die Traulichkeit des Befindens stören und die Ruhe der Seele, welche so wohlthuend ist, in Aufruhr verwandeln. Das kannst du mir glauben, Effendi!«

Ja, ich glaubte es ihm ganz gern, aber auch noch aus einem andern Grunde, den er freilich nicht mit angeführt hatte: Er war nicht nur zu bequem, sondern auch zu feig, als daß er Veranlassung zu dem Verdachte geben konnte, von welchem ich vorhin mit Osman Pascha gesprochen hatte.

Dieser kam jetzt zurück. Ihm folgte der Kol Agasi, und ich sah dabei durch die geöffnete Thür, daß das ganze Vorzimmer voller Soldaten stand. Die Gefangenen wurden abgeführt; der Sandschaki aber mußte getragen werden, weil er noch nicht wieder zu sich gekommen war. Der General ging selbst wieder mit, um sich zu überzeugen, daß jede Anforderung der gebotenen Vorsicht erfüllt werde.

Als er hierauf wiederkehrte, mußte ich ihn darauf aufmerksam machen, daß ich mich nun beeilen müsse, nach dem Birs Nimrud zurückzukehren.

»Ja,« stimmte er bei; »wir haben länger zugebracht, als du wohl eigentlich wolltest; aber es ist dabei auch zum vernichtenden Schlage gegen den Sandschaki gekommen, was ich nur dir allein verdanke. Wer aber soll bestimmen, was nun zu geschehen hat, du oder ich?«

»Ich bitte, du!«

»Das ist eine Aufgabe, deren Lösung dir wohl leichter würde als mir, weil du die Örtlichkeiten und sonstigen Verhältnisse besser kennst als ich. Ich bitte dich also wenigstens um deinen Rat, um einen guten Vorschlag, nach welchem ich mich richten kann!«

»Gern! Aber wir wollen dabei deutsch sprechen!«

»Wie Sie wollen!« stimmte er sofort in dieser Sprache bei. »Es giebt wohl etwas, was nur wir beide wissen dürfen?«

»Ja.«

»Was?«

»Der große Wert des Schmuggellagers. Ich meine, daß da nur Vertrauenspersonen Zutritt erhalten sollten.«

»Ganz auch meine Meinung. Aber ist es nicht wahrscheinlich, daß es zu einem Kampfe in diesen unterirdischen Räumen kommt?«

»Möglich wohl, doch glaube ich, ihn vermeiden zu können. Wenn das Lager in unsere Hände fällt, gehört es natürlich der Regierung des Padischah. Excellenz sind da wohl auch meiner Meinung?«

»Gewiß. Selbstverständlich ist eine angemessene Prämie für diejenigen Personen, denen wir diesen Gewinn zu verdanken haben werden.«

»Gut, ich halte Sie beim Worte!«

»So? Sie wollen – –für sich – –?« fragte er etwas ungläubig. »Es ist jawohl gewiß, daß nur Sie allein es sind, durch den es ermöglicht ––«

»Bitte,« unterbrach ich ihn, »das bin nicht ich, sondern das ist mein alter Bimbaschi in Bagdad. Hätte er uns nicht erzählt, was ihm im Birs Nimrud geschehen ist, so wäre es jetzt gar nicht möglich, dem Säfir das Handwerk zu legen. Er hat sein ganzes Vermögen hergeben müssen, und so ist er es, für den ich um die mir zugestandene Prämie bitte, Excellenz!«

Osman Pascha reichte mir seine Hand und sagte in gerührtem Tone:

»Dachte es mir! So ähnlich erwartete ich es! Da kommt der bekannte Kara Ben Nemsi zum Vorschein, der stets nicht für sich, sondern für die Braven und Geschädigten sorgt! Ihr Bimbaschi soll soviel haben, wie Sie für ihn erbitten werden. Nun aber: Wir brauchen Militär; von welcher Truppe, und wieviel?«

»Nur Kavalleristen, der Schnelligkeit wegen.«

»Die haben wir ja.«

»Ich weiß nicht, wieviel Mitglieder von der eigentlichen Bande des Säfir zugegen sein werden, und wieviel Ghasai-Beduinen er angeworben hat; aber ich meine, daß wir mit fünfzig Reitern mehr als genug haben werden.«

»Wenn Sie es verlangen, lasse ich die ganze Garnison ausrücken!«

»Danke! Wenn ich die Sache auf mich zu nehmen hätte, würde ich viel weniger als fünfzig brauchen.«

»Aber warum wollen und warum thun Sie das nicht?«

»Der Verantwortlichkeit wegen.«

»Pah! Ich bin hier fremd. Sehen Sie denn nicht ein, daß Sie mir einen außerordentlichen Gefallen erweisen würden, wenn Sie mich von dieser Sache befreiten, indem Sie die Ausführung übernehmen? Ich kenne Sie und weiß, daß ich die Vollmacht in keine bessern Hände legen könnte. Also bitte, thun Sie es, und – – schlagen Sie ein!«

Er hielt mir die Hand hin und fügte, als ich noch zögerte, lächelnd hinzu:

»Ich verspreche sogar, Sie pränumerando durch eine Freude zu belohnen, die ich Ihnen und einem andern mache!«

»Welche Freude?«

»Warten Sie einen Augenblick! Wie heißt der Kol Agasi, für den Sie sich verwendet haben?«

»Amuhd Mahuli.«

»Gut; ich komme in zwei Minuten wieder!«

Er winkte dem Mir Alai, ihm zu folgen, und ging mit ihm in das nächste Zimmer, wo es Schreibzeug gab. Als sie wieder kamen, nickte mir der Oberst, welcher wohl Auskunft hatte geben sollen, mit beistimmendem Lächeln heimlich zu; der General aber hatte einen Papierbogen in der Hand, den er mir mit den Worten gab:

»Amuhd Mahuli ist von heut an Bimbaschi; hier haben Sie die Interimsbestätigung als Garantie für die eigentliche Ernennung, welche in einigen Tagen erfolgen wird. Sie können sie ihm geben, wenn es Ihnen beliebt; von mir und dem Mir Alai wird er jetzt noch nichts erfahren. Vielleicht machen Sie eine Belohnung daraus. Sie sehen, ich komme Ihnen entgegen. Und nun nochmals meine Hand; werden Sie jetzt endlich einschlagen?«

»Ja, von Herzen gern,« antwortete ich, indem ich ihm die Hand reichte und dann das Papier zusammenfaltete und in die Tasche steckte.

»Gut! Bestimmen Sie also, was zu geschehen hat! Aber nehmen Sie nicht weniger als fünfzig Köpfe mit, denn es ist auf alle Fälle besser, Sie haben zehn Mann zuviel als einen zu wenig!«

»So bitte ich um sechzig, denn zehn müssen bei den Pferden bleiben.«

»Schön! Und weiter?«

»Diese sechzig Leute kommandiert aber mein alter Amuhd Mahuli, der natürlich in allen Stücken mir zu gehorchen hat.«

»Einverstanden! Ferner?«

»Ein Paket Lichter und Zündhölzer.«

»Weiter nichts?«

»Ja, weiter nichts. Ich bin fertig und habe nur noch die eine Frage: Würden Excellenz hinauskommen können, wenn ich einen Boten schickte?«

»Wenn Sie nach mir senden, brauchen Sie mich; also werde ich kommen.«

»Dann bitte, das Detachement schnellstens marschfertig, und ein Pferd für den Pischkhidmät Baschi!«

»Der soll wieder mit?«

»Ja, ich brauche ihn.«

»Ich halte ihn aber nicht für sehr mutig!.«

»Ich will nur ihn haben, nicht seinen Mut, den er allerdings auch gar nicht besitzt. Er ist mir zu einer ganz und gar passiven Rolle nötig.«

»O, ich vermute, Sie geben, wie das so Ihre Art und Weise ist, der Angelegenheit eine etwas interessante Wendung?«

»Allerdings.«

»So bin ich begierig auf das, was Sie mir erzählen werden. Ich erteile sofort die nötigen Befehle.«

»Aber bitte, die Ausführung in der möglichsten Stille: Und dann gestehe ich, daß ich Hunger und Durst habe.«

»Diesen Übeln soll sogleich abgeholfen werden,« lachte er vergnügt.

Zehn Minuten später saßen alle Anwesenden bei kaltem Lahhm maschwi, und eine Viertelstunde hierauf meldete der Kol Agasi, daß die Mannschaften zum Aufbruche fertig seien. Es war meines Erachtens auch die höchste Zeit dazu. Der Kammerherr weigerte sich nicht, mit von der Partie zu sein; bei sechzig Mann Begleitung fühlte er sich sicher. Hätte er aber gewußt, wozu ich ihn bestimmt hatte, so wäre er wohl lieber in Hilleh geblieben. Amuhd Mahufi hingegen freute sich wie ein Kind auf den Streich, den wir vorhatten. – – –

Wir brachen auf und fanden die kleine Reiterschar schon draußen vor dem Thore auf uns wartend. Ich setzte mich mit dem Kol Agasi und dem Kammerherrn an ihre Spitze. Kaum waren wir zur Stadt hinaus, so erkundigte sich der erstere nach den Befehlen, welche ich ihm zu erteilen hätte.

»Du, Effendi, bist der Muschir, der Seraskier Pascha unsrer Armee,« sagte er, »und ich bin der Ferik Pascha. Dir haben alle zu gehorchen, mir aber auch meine sechzig Mann, Wir werden gern kämpfen und sind bereit, für dich in jedes brennende Feuer zu springen. Sag mir nur, was ich thun und wie ich mich verhalten soll!«

»Zunächst haben wir so schnell und so unbemerkt wie möglich nach dem Birs Nimrud zu kommen,« antwortete ich ihm.

»Unbemerkt? Da ist es geraten, von diesem Wege abzuweichen.«

»Wohl; aber dann kommen wir auf schlechtes Terrain und bringen die Beine der Pferde in Gefahr.«

»O nein! Du mußt bedenken, daß hier unser Exerzierfeld ist und wir also jeden Schrittbreit kennen. Wenn die Feinde an einen Angriff denken, so erwarten sie ihn von der Stadt her. Nicht?«

»Allerdings.«

»Sie werden also ihre Wachsamkeit nach dieser Richtung lenken, und so müssen wir von einer andern Seite kommen. Wir setzen dadurch eine Zeit von höchstens fünf Minuten zu. Ist es dir recht, daß wir einen kleinen Bogen schlagen?«

»Ja.«

»So komm, und verlaß dich auf mich! Deine Hengste werden auch nicht ein allereinzigesmal ins Stolpern kommen. Wir reiten wie auf einer ebenen Sufra

Er lenkte nach rechts vom Wege ab, und ich muß sagen, daß er in Beziehung auf die Glattheit des Rittes nicht zuviel gesagt hatte. Dabei ließ er das Gespräch nicht ausgehen; er fuhr fort:

»Ich denke an das alte Sprichwort, welches sagt: Das Schicksal wendet die Ssuderah des Menschen täglich dreimal um, früh einmal, mittags noch einmal und des Abends wieder einmal. Die deinige aber scheint es noch öfter umzuwenden, nämlich des Nachts auch zweimal.«

»Wieso?«

»Weil du in dieser Nacht gefangen warst und nun selbst Gefangene machen willst. So warst du auch mein Gefangener und doch nach kurzer Zeit schon wieder frei, und zwar ohne einen Menschen um die Erlaubnis dazu zu fragen!«

»Ein Sprichwort in meinem Vaterlande sagt: Wer viel fragt, der geht viel irre; hier in diesem Falle würde es heißen müssen: Wer viel fragt, der kommt nicht über die Mauer.«

»Ja, dieser Sprung über die Mauer! Du hättest die Augen sehen sollen, welche euch mit den Blicken folgten, als ihr, wie auf Gomelastik sitzend, darüber hinwegflogt! Wir haben keine schlechten Pferde beim Regimente, aber keine guten Reiter. Der freie Bedawi reitet viel, viel besser als wir. Wenn ich nur ein Bataillon hätte; ein Regiment brauchte es gar nicht zu sein; wie sollten meine Leute reiten lernen! Die müßten fliegen wie die Falken! Aber soweit bringe ich es in meinem ganzen Leben nicht. Das Kismet ist mir nie wohlgesinnt gewesen!«

»Fühlst du dich nicht glücklich!«

»Wie kann man glücklich sein, wenn man fünf Monate lang keine Löhnung bekommt! Der Padischah ist der größte und berühmteste, der reichste und weiseste Herrscher aller Reiche; aber – – du wirst mir nicht das Leid anthun, diese meine Worte zu verraten! – –sein Reichtum bleibt bei ihm; er kommt nicht zu uns, und seine Weisheit reicht über den ganzen Erdkreis, aber nicht bis in unsere Taschen.«

»Wovon lebst du da, wenn die Löhnung so lange Zeit ausbleibt?«

»Ich lebe eigentlich gar nicht, sondern ich hungere, denn ich habe mein Harem und meine Kinder lieb und gebe ihnen die Brotkrumen, welche ich von den Teppichen meiner hohen Vorgesetzten auflese. Ich will gern hungern; sie aber sollen es nicht!«

»Deine Vorgesetzten haben also Brot?«

»O, nicht bloß Brot, sondern auch Fleisch und überhaupt alles, was ihr Herz begehrt! Du mußt nämlich wissen, daß der Fluß der Löhnung von oben herunter kommt, aber nur bis zum Bimbaschi geht; da hört er gewöhnlich auf, und nur dann, wenn das Regiment revoltiert, wird eine kleine Schleuse geöffnet, die sich aber sehr bald wieder verstopft. ja, wenn ich es einmal bis zum Bimbaschi brächte, so wäre mir und meinem Hause, dem mein ganzes Herz gehört, für immer geholfen!«

»Ist dieses dein Haus groß?«

»Ich habe vier Söhne und drei Töchter; ich habe meine eigene Mutter und auch die Mutter meines Harems; das sind elf Personen, die von der kargen Löhnung, die ich nicht bekomme, leben sollen. Allah gebe baldige Besserung!.«

»Er wird dir helfen, Amuhd Mahuli. Wenn ich heut mit dir zufrieden bin, werde ich mit dem Dscheneral sprechen und ihn bitten, dafür zu sorgen, daß dir die rückständige Löhnung ausgezahlt wird.«

»Wenn du das wolltest, Effendi! Meine Dankbarkeit und auch die Dankbarkeit meines ganzen Hauses würde dich segnen bis an unser Ende! Wir haben gesehen, wie hoch der Dscheneral dich ehrt und achtet; er hat heut in viel, viel wichtigeren Dingen nur auf dein Wort gehört und würde dir also auch diesen kleinen Wunsch gewiß von Herzen gern erfüllen. Du sollst mit mir zufrieden sein; ich werde alles, alles thun, um mir deine Fürbitte zu verdienen. Vielleicht denkst du dann auch an dein anderes Versprechen.«

»An welches?« fragte ich, mich vergeßlich stellend.

»An deinen Bericht an den Seraskier. Wirst du in demselben auch erwähnen, daß wir jetzt nach dem Birs Nimrud reiten, um die Mörder der Karawane zu ergreifen?«

»Ja.«

»Und daß ich als Oberster von sechzig Mann und dein nächster Untergebener dabei beteiligt bin?«

»Gewiß! Ich werde alles, was du thust, und wie du dich dabei auszeichnest, ganz ausführlich erwähnen.«

»Ich danke dir! Ich weiß, daß du Wort hältst, und werde mir deine Anerkennung und die Gnade des Seraskiers zu erwerben suchen. Jetzt sind wir so weit, daß der Birs Nimrud im Ostsüdost vor uns liegt. In zehn Minuten werden wir dort sein.«

»Schon? Das ist schneller gegangen, als ich dachte!«

»Ich wußte es, daß du mit meiner Führung zufrieden sein würdest. Jetzt hast du nur zu bestimmen, welchen Punkt der Ruine du zuerst berühren willst.«

»Erinnerst du dich der Stelle, wo wir unsere Pferde versteckt hatten und dann früh am Morgen holten?«

»Ja; ich kenne sie ganz genau!«

»Dorthin muß ich zunächst. Doch halten wir vorher auf Rufesweite von dort an, denn ich will mich zu Fuße hinschleichen, um zu erfahren, wo die Leute stecken, welche wir suchen.«

»Ist das nicht gefährlich?«

»Nein.«

»Man kann dich wieder ergreifen!«

»Gewiß nicht wieder. Kein Fennek geht wieder in die Falle, aus der er einmal entkommen ist.«

Wir ritten noch eine kurze Strecke, und dann hielt der Kol Agasi an.

»Hier haben wir die Entfernung, welche du meinst,« sagte er. »Wenn wir laut rufen, werden wir an der Ruine gehört. jetzt willst du uns verlassen?«

»Ja.«

»Auf wie lange?«

»Das kann ich nicht sagen. Ihr bleibt aber hier und entfernt euch auf keinen Fall, bis ich zurückkehre. Dabei habt ihr jedes Geräusch, auch das geringste, zu vermeiden.«

»Aber wenn du nicht wiederkommst?«

»Ich komme!«

»Wirst du uns in der Dunkelheit finden?«

»Ja. Hier vertraue ich dir meine Gewehre an, und laß nicht andere Pferde an unsere Rappen, wenn sie liegen; sie vertragen das nicht!«

Halefs Barkh war am Zügel nebenher geführt worden; ich gab ihm und meinem Ben Rih das Zeichen, sich zu legen, und sie gehorchten. Dann trat ich die Rekognoscierung an.

Mein Plan war auf die Voraussetzung gebaut, daß der Säfir nicht vor Ablauf der von ihm erwähnten sechs bis sieben Stunden in das Innere des Birs zurückkehren werde, wenigstens nicht in den Raum, wo wir gelegen hatten. Hatte er eher nach uns gesehen, so war unsere Flucht entdeckt und er hatte sich uns entzogen und von den Vorräten und Schätzen der Ruine soviel mitgenommen, wie ihm in der Eile möglich gewesen war.

Ich nahm mich natürlich außerordentlich in acht. Das Messer in der Hand, war ich fest entschlossen, mich nicht berühren zu lassen, sondern jeden, der dies versuchen sollte, niederzustoßen.

Ich kam glücklich bis an das Versteck der Pferde. Es war niemand da. Von hier aus schlug ich die bekannte, schon wiederholt gegangene Richtung nach dem Eingange der Schmuggelniederlage ein. Dort brannten mehrere Feuer, deren Schein es mir erleichterte, einer etwaigen Begegnung zu entgehen. Ich schlich mich, zuletzt am Boden kriechend, näher und immer näher, bis ich eine einzeln stehende Mauersäule erreichte, welche, von der einen Seite vom Feuer beleuchtet, nach der andern einen tiefen Schatten warf. In diesem duckte ich mich nieder und lauschte.

Kaum mehr als zwanzig Schritte von der illustren Versammlung entfernt, welche hier ihr nächtliches Wesen trieb, konnte ich die Männer alle sehen und auch das hören, was nicht ganz leise gesprochen wurde. Sie sprachen aber meist laut und ungeniert, und es war überhaupt zu merken, daß sie sich alle recht sicher fühlten.

Sie bildeten zwei Abteilungen, und ich sah sogleich, daß die einen die Räuber und die andern die Schmuggler waren. Die letzteren beschäftigten sich damit, einen vorher gewiß recht groß gewesenen Haufen von Waren in einzelnen Paketen und Ballen hinauf nach dem Eingange der Niederlage zu schaffen. Sie thaten das von Posten zu Posten, d. h. in der Weise, daß sie sich in gewissen Entfernungen voneinander aufgestellt hatten und einer dem andern das Stück zutrug. Auf diese Weise brauchte keiner von ihnen den ganzen Weg zu machen. Es war ja überhaupt anzunehmen, daß nicht sie alle, sondern nur die von dem Säfir Bevorzugten den eigentlichen Eingang kannten. Diese standen jetzt oben, die andern aber unten, und indem sie sich nicht beisammen befanden und ihre Arbeit außerordentlich still verrichteten, konnten sie meiner Beobachtung keine Erfolge bieten. Ich wendete meine Aufmerksamkeit also der andern Abteilung, den Räubern, zu.

Räuber waren sie, denn es standen und lagen die zwölf Pferde und sechs Lastkamele des Kammerherrn da, die letzteren freilich nicht mehr belastet, denn was sie getragen hatten, lag in zwei Haufen vor den Mordgesellen, welche die einzelnen Gegenstände von dem einen nahmen, um sie zu beschauen, zu taxieren, über ihren Wert zu streiten und nach erfolgter, oft sehr schwieriger Einigung auf den andern zuwerfen. So wurde dieser immer größer und jener immer kleiner.

Aus diesem Abschätzen und Zanken ersah ich, daß das saubere Geschäft nicht auf Lohn, sondern auf Anteil abgeschlossen worden war. Ich zählte fünfzehn Personen, lauter Beduinen, natürlich dem oft erwähnten Stamme der Ghasai angehörend, sonnverbrannte, hagere, finster und gierig dreinblickende Gestalten.

Der Säfir saß bei ihnen. Er hatte in der Hand ein Buch und neben sich einen großen Geldbeutel. In das Buch trug er die einzelnen Stücke und die auf sie gefallene Taxe ein, und aus dem Beutel zahlte er einem alten, graubärtigen Kerl, der wohl der Vormann der Schurken war, den auf sie entfallenden Anteil vom Werte aus. Daß es dabei sehr laut, erregt und nicht ohne recht gefährlich klingendes Wettern und Fluchen abging, versteht sich ganz von selbst. Nur der Säfir bewahrte seine Kaltblütigkeit; er schien im Umgange mit der Art von Leuten erfahren zu sein, hörte ihrem Schimpfen ruhig zu, sprach ein abschließendes Machtwort, dem dann nicht mehr widersprochen wurde, griff in den Beutel und legte den Betrag in die ihm entgegengestreckte, schmutzige Hand. Diese Leute waren keine geschulten Rechner; sie konnten nicht addieren; darum ließen sie nicht die einzelnen Posten zusammenziehen und sich dann die Summe geben, sondern es mußte ihr Anteil für jedes einzelne Stück für sich entrichtet werden.

Einmal verlor der Säfir doch seine Ruhe. Es war bei einer orientalischen Stickerei, deren Gold bis zu mir herüberflimmerte. Die Ghasai taxierten sie zu hoch, und es entstand ein Streit, welcher sich so in die Länge zog, daß er, mit seiner Geduld zu Ende, aufsprang und zornig ausrief:

»Ihr seid von Sinnen und bellt um nichts, wie die Schakale beim Scheine des Mondes! Seht dort meine Leute an! Das sind neunzehn Männer; aber sie alle zusammen haben während der ganzen Nacht nicht soviel Lärm hören lassen, wie ein einzelner von euch in zwei Minuten macht. Das habe ich nun satt! Glaubt ihr, ich sitze nur für euch hier und habe nichts anderes vor, als euer Brüllen anzuhören? In einer halben Stunde sind die dort mit ihrer Arbeit zu Ende; dann müssen auch wir hier fertig sein, denn dann habe ich höchst notwendig noch für mich selbst zu thun. Bringt ihr noch länger zu, so packe ich hier alles zusammen, schaffe es fort, und ihr bekommt keinen, aber auch nicht einen Para mehr!«

Das wirkte; der Handel ging von jetzt an schneller von statten. Aber seine Worte sagten auch mir, daß ich mich beeilen müsse, denn was das war, war er in einer halben Stunde so notwendig für sich selbst zu thun hatte, das wußte ich. Er wollte zu mir und dem Kammerherrn, und da mußte er, wie mein Plan war, uns scheinbar grad so antreffen, wie er uns verlassen hatte.

Ich huschte also zunächst bis aus der Hörweite fort und lief dann, so schnell ich konnte, zu meiner hoffentlich tapferen Kavallerie. Der um mich besorgte Kol Agasi war erfreut, als er mich wiedersah.

»Jetzt beginnt eure Aufgabe,« sagte ich, so daß alle es hörten. »Merkt euch gut, was ihr jetzt von mir hört! Neun Mann bleiben hier an dieser Stelle bei den Pferden; sie haben dafür zu sorgen, daß kein Lärm entsteht. Ein zehnter geht mit mir und dem Pischkhidmät Baschi. Was er zu thun hat, wird er noch erfahren. Wer diese zehn sein werden, hat der Kol Agasi zu bestimmen. Und jetzt kommt die Hauptsache. Hört!«

Sie drängten sich näher zu mir heran, und ich fuhr fort:

»Ich führe die übrigen Fünfzig jetzt zu einer Stelle der Ruinen, wo einige Feuer brennen. Dort sitzen die Mörder und verteilen die Beute; es sind fünfzehn Mann. Da sind auch die Schmuggler, welche ihre Waren in die Trümmer tragen; sie zählen neunzehn, mit dem Anführer zwanzig Personen. Wir haben also zusammen fünfunddreißig Personen zu fangen. Wenn uns keine einzige, hört, ich sage, keine einzige, entkommt, erhält jeder Soldat von euch hundert und jeder Unteroffizier zweihundert Piaster!«

Das gab leise Ausrufe der Freude, des Staunens, der Zustimmung und Ermunterung. Ich sprach weiter.

»Wir fangen sie in folgender Weise: Ihr bildet eine Linie, welche von den Ruinen aus in einem Halbkreise um die Feuer herumführt und dann wieder an die Ruinen stößt. Dadurch werden diese Menschen vollständig eingeschlossen, sodaß keiner hinaus auf die freie Ebene entfliehen kann. Wer von ihnen sich eurer Linie naht, wird laut angerufen und zurückgewiesen; gehorcht er nicht und will den Durchbruch erzwingen, so wird er ohne Nachsicht und Zaudern niedergeschossen. Sie sollen nämlich zunächst zurückgewiesen werden, weil es meine Absicht ist, sie, sobald es hell wird, zusammen zu haben. Was dann geschieht, werdet ihr von mir erfahren, denn bis dahin bin ich wieder bei euch. Sagt mir, aber nicht zu laut, ob ihr alle mich verstanden habt!«

Ich bekam ein sechzigmaliges Ja zu hören. Die Leute waren von den versprochenen Piastern ganz begeistert, und ich konnte überzeugt sein, daß sie alles mögliche thun würden, sich dieses Geld zu verdienen. Um diesen Enthusiasmus auch dem Kol Agasi mitzuteilen, zog ich ihn auf die Seite und fragte ihn leise:

»Meinst du, daß sie nun ihre Pflicht thun werden?«

»Oh, Effendi,« antwortete er, »ich versichere dir, daß sie lieber sterben, als einen dieser Halunken entkommen lassen werden. Du hast dir mit einem Schlage ihre ganze und vollständige Anhänglichkeit, Liebe und Treue erworben!«

»So will ich versuchen, auch die deinige zu erlangen. Du hast vorhin eine höhere Charge gewünscht, und ich sagte dir, daß Allah dir helfen werde. Dieses mein Wort soll in Erfüllung gehen; Allah sendet dir seine Hilfe durch mich, denn ich teile dir folgendes mit: Wenn von den fünfunddreißig Personen, die wir haben wollen, keine entkommt, so bist du Bimbaschi, noch ehe wir nach Hilleh zurückkehren.«

Er stand vor freudigem Schreck ganz unbeweglich da und brachte kein Wort hervor. Dann nahm er sich zusammen und sagte, aber auch nur stammelnd:

»Bim – – ba – –schi – – noch – – ehe – – wir – –« und nun sprudelte er höchst schnell hervor. »Bimbaschi soll ich sein, noch ehe wir nach der Stadt zurückkehren?! Effendi, ich weiß, daß du die Wahrheit sagst und keinen unbegründeten Scherz mit mir treibst, und so will ––«

»Sei still, Amuhd Mahuli,« unterbrach ich ihn. »Noch bist du nicht Bimbaschi; du kannst und sollst es aber werden, wenn du die von mir gestellte Bedingung erfüllst. Rege dich also jetzt nicht auf, und sei darauf bedacht, meinen Erwartungen zu entsprechen.«

»Effendi, wir fangen sie; wir fangen sie alle, alle, alle! Ich bin überzeugt, daß uns kein einziger entschlüpft. Komm schnell, damit wir den Kreis um sie rasch schließen!«

»Erst hast du die neun auszuwählen, welche hier bleiben, und den einen, der mit mir geht.«

»Das ist in einer kleinen Minute geschehen, ich eile, es zu thun!«

Er nannte die betreffenden zehn Namen, und dann setzten sich die fünfzig in Marsch. Wir gaben uns natürlich Mühe, kein Geräusch zu verursachen, und als wir in der Nähe des Feuers angekommen waren, wurde die Linie nach der Anweisung des Kol Agasi so vortrefflich und behutsam gebildet, daß keiner von den Einzuschließenden etwas davon bemerkte, und ich sicher war, daß es keine Lücke gab, durch welche jemand entschlüpfen konnte. Hierdurch beruhigt, ging ich mit dem Kammerherrn und unserm einen Reiter nach der Stelle, welche Halef in seiner drolligen Weise »Markt der Stachelschweine« genannt hatte. Wie erinnerlich, war das der verborgene Mauereinschnitt, in dem wir die Pferde versteckt hatten, und wo ich mit dem Kammerherrn aus unserer Haft wieder an das Licht des Tages oder vielmehr das Dunkel der Nacht gekommen war.

Ich wußte, daß ich ein gewagtes Spiel unternahm; aber es war mir so frei, so leicht, so unbesorglich zu Mute, als ob ich es schon gewonnen hätte. Indem wir die Schutthalde hinaufstiegen, fragte mich der Perser:

»Warum suchst du diesen Ort wieder auf, Effendi? Wir haben doch, denke ich, hier gar nichts mehr zu suchen!«

»Ich suche hier sogar sehr viel.«

»Was?«

»Den Säfir.«

»Den sah ich doch vorhin bei seinen Leuten!«

»Vorhin, ja. Nun aber werden wir ihn in unserm Gefängnisse finden!«

»Willst du etwa wieder hinein?«

»Ja.«

»Allah! Bist du bei Sinnen?«

»Ich denke es. Und ich kehre nicht allein dorthin zurück, denn du wirst mich begleiten.«

Er blieb vor Schreck sofort im Ziegelmehle stecken, schlug die Hände zusammen und stöhnte:

»Denn – – du – – wirst – – mich – – begleiten! Effendi, das fällt mir ganz und gar nicht ein! Wenn du übergeschnappt bist, so ist das für mich kein Grund, es auch zu sein!«

»So höre, was ich hier noch weiter suche! Nämlich dein Eigentum.«

»Mein Eigentum? Wie meinst du das?«

»Von deinen Pferden und Kamelen will ich gar nicht sprechen, doch hast du gesehen, daß sie noch da sind, und wenn du thust, was ich wünsche, wirst du sie wieder bekommen; aber die letzteren waren schwer beladen, und zwar, wie ich denke, mit Gegenständen, welche nicht wertlos sind.«

»Bloß nicht wertlos? Du kannst mir glauben, ihr Wert ist so groß, daß er ein Vermögen, ein ganzes Vermögen beträgt. Es sind Geschenke des Schah-in-Schah, und was unser Beherrscher giebt, das kostet viel, sehr viel!«

»Was wird er da sagen, wenn du ihm berichtest, daß diese kostbaren Geschenke geraubt worden sind?«

»An das, was er sagen wird, mag ich gar nicht denken. Ich werde seine Gnade, seinen Schutz, sein Vertrauen verlieren und in den Staub gestoßen werden, aus welchem ich mich nie wieder erheben kann. Dazu kommen die Unterschriften, die ich dem Säfir geben mußte. Er wird mich durch sie zum Bettler machen!«

»Wäre es da nicht ein Glück für dich, ein großes Glück, wenn du das alles wieder bekämst, die Geschenke des Schah und auch deine Unterschriften?«

»Ja, das wäre ein Glück, für welches ich Allah nicht genug danken könnte!«

»Aber du willst sie ja gar nicht wieder; du verzichtest ganz auf sie!«

»Ich? Verzichten? Wer hat das gesagt?«

»Du selbst!«

»Ich selbst? Davon weiß ich kein Wort, kein einziges Wort!«

»Hast du nicht soeben ganz bestimmt gesagt, daß du nicht mit mir ins Gefängnis zurückkehren willst?«

»Das habe ich allerdings; aber was hat diese so wohlbegründete Weigerung mit den Geschenken meines hohen Regenten und mit den unterschriebenen Anweisungen zu thun?«

»Sehr viel. Wir kehren in das Gefängnis zurück, um das alles wieder zu holen. Wenn du dich entschließest, mitzukommen, garantiere ich dir die Möglichkeit, dir zu deinem Eigentume zu verhelfen.«

»Ist das wahr, Effendi?« fragte er schnell, sich mit den tief in den Schutt eingesunkenen Füßen energisch herausarbeitend.

»Ja.«

»Aber er wird uns festhalten!«

»Das kann er nicht; wir werden im Gegenteile ihn festnehmen. Dies ist ja der Hauptgrund, welcher mich veranlaßt, diesen ungewöhnlichen Schritt der Rückkehr zu thun. Hier weiß ich, was ich thue; wenn ich mich aber auf die Soldaten verlassen muß, ist es sehr leicht möglich, daß uns der Säfir entflieht. Wenn du es wünschest, gebe ich dir mein Wort, daß du mir ohne alle Sorge folgen kannst. Wenn du mir vertraust, zwinge ich ihn zur Herausgabe dessen, was er dir abgenommen und abgezwungen hat; du erhältst also die Geschenke des Schah-in-Schah wieder und wirst folglich nicht sein Vertrauen verlieren, sondern dich seiner Dankbarkeit für die richtige Ablieferung derselben erfreuen.«

»Dieses dein Versprechen beseitigt meine Bedenken bis auf das eine, daß er sich weigern wird, das zu thun, was du von ihm verlangst. Es wird wahrscheinlich einen Kampf geben.«

»Nicht einen Kampf, sondern nur einen einzigen Hieb von mir, und daß er daran genug haben wird, hast du ja gesehen, als ich den Sandschaki niederschlug!«

»Ja, du hast eine ganz außerordentliche und sehr gefährliche Faust. Also, ich will dir Vertrauen schenken und dich begleiten. Was thut und wagt man nicht, wenn es darauf ankommt, sich das Wohlgefallen des Beherrschers zu erhalten!«

»Gut! Wenn wir auf die Schultern des Soldaten steigen, erreichen wir mit Bequemlichkeit das Loch. Ich gehe voran, und du folgst. Warte nur noch einen Augenblick!«

Ich sagte dem Chejahl, daß er hier still zu warten habe, bis wir wieder kämen, und lieh mir von ihm das alte Gebetstuch, welches er im Hüftgurte stecken hatte. Ich brauchte es zur Verdeckung des Loches in der Gefängnisecke. Zündhölzer und einige Talgkerzen hatte ich schon in Hilleh zu mir gesteckt; auch hatte ich dem Pädär dort mein Messer wieder genommen; dazu kamen die Revolver und der Henrystutzen. Den Bärentöter hatte ich bei den Pferden gelassen. Ich war also hinreichend bewaffnet und brauchte mich vor dem Säfir nicht zu fürchten. Ich gebe zu, daß zu meinem Unternehmen ein gut Teil Wagemut gehörte; wer mir aber vorwerfen wollte, daß es nicht bloß ein gewagtes, sondern ein vermessenes gewesen sei, den müßte ich darauf aufmerksam machen, daß ich überzeugt war, es im Innern der Ruine nur mit einer ganz geringen Anzahl von Gegnern zu thun zu haben. Ich glaubte annehmen zu dürfen, daß nur einige der Schmuggler die Lage und Einrichtung der dortigen Räume kannten, denn es wäre eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit des Säfir gewesen, alle seine Pascher in das Geheimnis einzuweihen. Ich hatte also, ihn ausgenommen, ein Zusammentreffen mit höchstens nur den paar Personen zu befürchten, die mich hereingeschafft hatten, und mit diesen glaubte ich leicht fertig werden zu können.

Jetzt war es nun die allerhöchste Zeit, die uns so liebe, traute Stätte aufzusuchen. Der Soldat lehnte sich an die Wand; seine zusammengefalteten Hände bildeten die erste und seine Schultern die zweite Stufe aufwärts; so kam ich sehr leicht in das Loch, und der Kammerherr folgte mir. Daß ihm dabei das Herz nicht leicht war, hörte ich an dem schwer bedenklichen Seufzen und Krächzen, mit dem er sich hinter mir herschob. Wir hatten bequeme Passage, da der Gang jetzt frei von Ziegelmehl war; der leichte kurze Stutzen behinderte mich auch nicht.

Am Ende des wagrechten Ganges angekommen, richtete ich mich in dem senkrechten auf und lauschte; mein Kopf befand sich schon im Raume Nummer Fünf. Es regte sich nichts, und so stieg ich aus dem Loche; gleich kam dann auch der Perser heraus. Eine mit den tastenden Händen ausgeführte Untersuchung belehrte mich, daß wir unser Zwangsasyl genau so wiederfanden, wie wir es verlassen hatten. Unsere Fesseln lagen noch da, und auf der andern Seite fühlte ich den Müllhaufen, den wir aus dem Loche geworfen hatten. Wir waren allein, und so hätte ich gern ein Licht angezündet, aber der Schein desselben wäre zwischen den Stäben der Vorhangsthür hindurchgedrungen und hätte uns, falls in den anderen Räumen jemand war, sofort verraten. Wir mußten unsere Vorbereitungen also im Finstern treffen.

Zunächst warfen wir das Loch so weit, wie das Material reichte, wieder zu; ich steckte den Stutzen hinein, und breitete das Gebetstuch des Soldaten darüber, auf welches der Rest des Ziegelmehls gestreut wurde. Auf diese Weise wurden das Loch und das Gewehr den Augen des Säfir entzogen. Messer und Revolver hatte ich natürlich nicht sichtbar im Gürtel, sondern verborgen in den Taschen stecken.

Nun mußte ich den Perser wieder binden und brauche wohl nicht zu sagen, daß er dies nicht zugeben wollte. Als ruhige Vorstellungen nichts halfen, gab ich ihm einen etwas weniger freundlichen Rippenstoß, der ihn augenblicklich von der Notwendigkeit der von mir beabsichtigten Maßregel überzeugte. Er wurde genau so gefesselt, wie er es vorher gewesen war. Dann setzte ich mich nieder und legte mir auch meine Stricke wieder an, natürlich nicht so fest wie früher, denn das mochte und konnte ich auch nicht, aber doch so, daß es bei nicht genauer Untersuchung den Anschein hatte, als ob an ihnen nichts verändert worden sei. Nun fühlte ich mich beruhigt. Mein Wunsch, noch vor dem Säfir hier einzutreffen, war erfüllt: jetzt konnte er kommen!

Die Stimmung des Kammerherrn war, obgleich er sich einen »kühnen Krieger« genannt hatte, keinesfalls eine so zuversichtliche wie die meinige. Ich hörte wiederholt ein leises, bedrücktes »Ah« oder »Oh«, dem ein seufzendes »Allah, Allah!« hinzugefügt wurde. Er hatte Angst, und als wir nach einiger Zeit Schritte hörten und der Schein eines Lichtes zwischen den Drahtstäben hindurchdrang, flüsterte er mir, vor Furcht stotternd, zu:

»Effe – fendi, sie ko – kommen! Ia, Samaja, ia Hajaja – o mein Himmel, o mein Leben! jetzt ist es aus mit uns, vollständig aus. O, hätte ich mich nicht verführen lassen! Wäre ich doch nicht wieder hereingekrochen!«

»Schweig doch!« raunte ich ihm zu. »Ich höre, sie gehen zunächst zu Halef, und wir müssen lauschen!«

Die Schritte hatten sich nach Nummer Vier gerichtet; ich hörte den Säfir und auch Halef sprechen, konnte aber die Worte nicht verstehen, doch als der erstere sich wieder entfernte, und mein Hadschi ihm mit erhobener Stimme nachrief, verstand ich die Worte:

»Laß dich nicht auslachen! Ich kenne meinen Effendi. Er wird kommen, ganz gewiß kommen und mich herausholen. Dann rechnen wir aber mit euch ab!«

»So will ich dir sagen, daß er schon gekommen ist,« rief der Säfir zurück. »Er liegt schon lange Zeit hier unten, viel fester gebunden als du!«

»Das ist eine Lüge!«

»Es ist wahr!«

»Und wenn es wahr wäre, so hat er nur mit dir gespielt, sich einen Scherz gemacht; das ist so seine Weise, die er liebt. Er wird frei sein und auch mich befreien, ehe du es denkst!«

»Nur seine Seele wird frei sein, denn wir werden sie und auch die deinige mit Stöcken aus euern verfluchten Körpern treiben!«

»Die Stöcke sind für dich, nicht für uns. Ich schwöre dir bei Allah und dem Propheten zu, daß du schon in kurzer Zeit die Peitsche fühlen wirst, die ihr mir unter höhnenden Worten abgenommen habt! Dann wird es deine Seele sein, die aus deiner aussätzigen Haut direkt hinunter in die Hölle fährt!«

Der Säfir schlug ein verächtliches Gelächter auf, und dann näherten sich die Schritte unserer Thür. Ich hörte deutlich, daß es nur zwei Personen waren. Die Riegel wurden zurückgeschoben und die Drähte aufgezogen; dann trat der Säfir mit dem kleinen Kerl ein, welcher mich durch seine Verkleidung als Hadschi Halef getäuscht hatte, und jetzt hielt er ein brennendes Lämpchen in der Hand.

Der Anführer warf einen scharf forschenden Blick durch den Raum, trat zu dem Kammerherrn, weil dieser ihm näher lag als ich, bückte sich und untersuchte die Fesseln.

»Noch in Ordnung!« sagte er, indem er sich wieder aufrichtete. »Mit dir spreche ich später. Erst kommt der Christ daran, mit dem ich eigentlich noch gar nicht habe reden können.«

Er stellte sich vor mich hin und winkte den Kleinen mit der Lampe herbei, um mich besser sehen zu können. Auch meine Fesseln zu untersuchen, hielt er nicht für notwendig, weil diejenigen des Kammerherrn »in Ordnung« gewesen waren und meine zusammengekrümmte Gestalt den Anschein erweckte, als ob meine Lage noch dieselbe erzwungene und schmerzliche sei wie vorher.

»Du hast wahrscheinlich gehört, was der giftige Zwerg, dein Begleiter, soeben brüllte!« fragte er.

»Ja,« antwortete ich.

»Diese häßliche, widerwärtige Kröte ist wahnsinnig, ist verrückt!«

»Nein!«

»Nicht? Du stimmst ihr bei?«

»Ja?«

»So bist auch du verrückt, aus Angst vor mir vollständig übergeschnappt!«

»Das fällt mir gar nicht ein. Mein Verstand ist jedenfalls klarer und gesünder als der deinige.«

Da ließ er dasselbe Gelächter wie vorhin hören und rief aus:

»Frei will er sein; frei will er seinen Hadschi machen; Prügel mit der Peitsche soll ich bekommen! Das bestätigt dieser Kerl und redet dabei von seinem Verstand!«

»Pah! Was mein Hadschi sagt, das pflegt er stets zu halten. Wenn er dir Prügel versprochen hat, so wirst du sie bekommen, du magst dich dagegen wehren, wie du willst!«

»Hund, wenn du nicht verrückt bist, so kannst du nur die Absicht haben, mich zu beleidigen! Du scheinst gar nicht zu ahnen, was dir bevorsteht!«

»Willst du auch mich zum Lachen bringen? Wenn einer von uns beiden nicht weiß, was ihn erwartet, so bist du es. Ich habe dir vorausgesagt, was geschehen wird. Warte den Morgen ab!«

»Ja, ich erinnere mich,« nickte er mir höhnisch zu. »Das Strafgericht über mich wird mit dem Tage beginnen und mit dem Abende zu Ende sein; so oder ähnlich hast du ja gesagt. Das aber wäre mir zu kurz, viel zu kurz! Für dich habe ich da besser gesorgt. Du bekommst von mir nicht bloß einen kurzen Tag; du sollst die Freuden, mit denen ich dich beglücken werde, länger, viel länger genießen! Was du da drüben am Tigris verbrochen hast ––«

»Ah, an dem Pädär-i-Baharat!« fiel ich ein.

Da wich er in größter Überraschung einen Schritt zurück und fragte hastig.

»Pädär-i-Baharat? Was weißt du von ihm? Woher kennst du diesen Namen? Wer hat ihn dir gesagt? Schon dieser eine Umstand, daß du, ein Fremder und Christ, diesen Namen gehört hast, besiegelt deinen Tod!«

»Ich wiederhole, daß du dich immerfort mit mir verwechselst. Nicht mein, sondern dein Tod ist besiegelt. Du bist durchschaut worden; man weiß, daß du der ›Säfir‹ bist, von dem ––«

»Säfir!« unterbrach er mich. »Mensch, das ist für dich ein neuer Grund zu sterben! Wenn ich dein Ende nicht schon beschlossen hätte, würde ich jetzt bestimmen, daß du diesen Ort nur als Leiche verlassen darfst!«

»Bilde dir nichts ein! Du hast gar keine Macht über mich. Ich werde den Birs Nimrud gesund und frei verlassen und dich als meinen Gefangenen nach Hilleh bringen, um dich zum Pädär und seinen beiden Gefährten sperren zu lassen, die dort an Ketten gelegt worden sind.«

»Ich – – dein – – Gefangener – – nach Hilleh – – an – – Ketten – –!« rief er, mich wie einen Geist anstarrend, aus. »Es ist wirklich so, wie ich gesagt habe; du bist vollständig übergeschnappt!«

»So sagt dir jetzt ein Übergeschnappter, daß du den Pädär in eine Falle geschickt hast, in welcher er gefangen worden ist. Kein Mensch hat ihm dort das geglaubt, was zu sagen du ihm anbefohlen hast.«

»Was – – was hat man ihm nicht geglaubt?«

»Daß ich und der Haddedihn die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi überfallen haben, und daß du uns nachgeschlichen bist, um unser Versteck zu erfahren, auch das nicht, daß ich die Leiche des Pischkhidmät Baschi mitgenommen habe, um sie ins Wasser zu werfen.«

Er wollte hierauf etwas sagen, brachte aber vor Bestürzung kein Wort hervor. Da kam mir der Gedanke, diese seine Verwirrung zur Entdeckung des auf die »Rose von Schiras« bezüglichen Geheimnisses auszunützen, und ich fuhr fort:

»Du siehst, daß eure Heimlichkeiten öffentlich geworden sind. Sogar hinter eure berühmte ›Gul-i-Schiraz‹ ist man gekommen.«

Da fuhr er wie ein Raubtier auf mich los und zu mir nieder, faßte mich an beiden Schultern, schüttelte mich und fauchte mich wildkatzig an:

»Die Gul-i-Schiraz? Die Biwä-i-Hakim, die Schems-i-Dschamal, unsere Sitarä-i-Dschira, die so tief im Verborgenen wohnt, daß selbst ich sie nur dreimal gesehen habe?

Unsere schöne, unsere herrliche Königin, vor der wir alle unsere Häupter und unsere Kniee beugen? Sie, deren Blick die Herzen bezaubert und deren Stimme zu den schwersten, den verwegensten Thaten begeistert, sie willst du kennen, du elender, armseliger Wurm? Ich erwürge, ich erdrossele dich!«

Er griff mir nach der Gurgel. Schon wollte ich meine Hände schnell aus der Schlinge ziehen, um ihn abzuwehren, da fiel mir ein anderes Mittel ein, welches wahrscheinlich dieselbe Wirkung hatte und ihn vielleicht zu weiteren Unvorsichtigkeiten veranlaßte, denn er befand sich in einer Aufregung, die ihn hinderte, zu überlegen, was er sagte.

»Rühr mich nicht an!« herrschte ich ihn an. »Ich bin auch ein Sill!«

Er fuhr, als hätte er einen kräftigen Stoß erhalten, von mir zurück, riß die Augen weit auf und fragte:

»Du – – du – – ein Sill?!«

»Sogar ein Särtip-i-Sillan

»Ein Särtip? Mensch, entweder hast du den Teufel, der dir unsere Geheimnisse verraten hat, oder du bist wirklich ein Sill! Dann giebst du dich aber nur für einen Christen aus und bist eigentlich ein rechtgläubiger Schiit.«

»Wenn meine Hände nicht gebunden wären, so könnte ich meinen Ring aus der Tasche nehmen und dir damit beweisen, wer und was ich bin!«

»Er – & er hat – – hat auch einen Ring.« rief er in immer wachsender Erregung aus. »Wenn das wahr ist, so kann A dich prüfen. Ich brauche dich nur zu fragen nach dem Namen unseres höchsten Gebieters, nach Dscha – – –«

Er hielt nach dieser einen Silbe inne, denn er sah ein, daß er im Begriffe stehe, den größten Verrat, der einem Sill möglich war, zu begehen. Die fehlende Silbe des Namens war leicht zu erraten, und da ich an jenem Abende am Tigris dem Pädär abgelauscht hatte, wie dieser ›höchste Gebieter‹ genannt wurde, so ergänzte ich den unterbrochenen Satz:

»Du meinst Dschafar, den Aemir-i-Sillan

»Ja, ja, den meine ich! Du kennst ihn! Du weißt alles, alles, alles! Entweder bist du wirklich ein Särtip-i-Sillan und dein Rang ist höher als der meinige; dann muß ich dich sofort frei lassen. Oder du bist durch Verrat ein Wissender geworden und also ein Spion, den ich augenblicklich unschädlich zu machen habe.«

Er machte, indem er mit beiden an die Stirn gelegten Händen vor mir stand, jetzt den Eindruck vollständiger Ratlosigkeit auf mich. Da wandte er sich mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung zu dem Kleinen um:

»Leuchte her; leuchte ihn an! Ich muß sehen, was für ein Gesicht er macht. Ich muß ihm bis hinunter in die Tiefe seines Herzens schauen!«

Als das Männchen dieser Aufforderung nachgekommen war, war es ein förmliches Bohren zu nennen, mit dem sich der Blick des Säfir in meine Augen senkte. Seine Narbe war angeschwollen und tief dunkelrot, und aus seinem Gesichte, seinen geballten, angriffsbereiten Fäusten und seiner sprungfertigen Haltung sprach eine Entschlossenheit, eine Spannung, welche, wenn sie zum Ausbruche kam, geradezu vernichtend zu werden drohte. Dennoch sah ich dem breitschulterigen, starkkräftigen Menschen mit ruhigem Lächeln in das Gesicht, zog aber die Schlinge des Strickes heimlich auseinander, um die Hände zur Gegenwehr bereit zu haben.

»Dein Antlitz ist mir unleserlich,« sagte er, obgleich meine Ruhe und Sorglosigkeit doch eigentlich sehr leicht zu erkennen war. »Ich sehe nichts, und ich entdecke nichts! Ich muß zu einem andern, einem bessern und untrüglichen Mittel greifen: Ich beschwöre dich bei Allah, oder, wenn du ein Christ bist, bei deinem Gotte, mir die Wahrheit zu sagen! Wirst du das?«

»Ja.«

»Hast du den Mut dazu, wirklich den Mut, falls du kein Sill bist, dies einzugestehen?«

»Ja. Glaube nicht, daß ich mich vor dir fürchte!«

»So sag, bist du ein gläubiger Schiit oder wirklich ein Christ?«

»Es kann mir nicht einfallen, deinetwegen oder aus irgend einem anderen Grunde, wäre die Gefahr für mich auch noch so groß, meinen Glauben zu verleugnen. Ich bin ein Christ.«

»Allah! Die Gesetze unseres Bundes machen die Mitgliedschaft eines Christen unmöglich. Du bist also kein Sill?«

»Nein.«

»Du bist also ohne unsere Erlaubnis in unsere Geheimnisse eingedrungen?«

»Ja.«

»So sei verflucht, tausendmal verflucht, und stirb!«

Er stürzte, in seinem Grimme nicht daran denkend, sich einer Waffe zu bedienen, mit auseinander gekrallten Händen auf mich nieder. Ich machte eine schnelle Seitwärtsbewegung, welche zur Folge hatte, daß er daneben griff, fuhr mit den Händen aus der Schlinge, faßte ihn am Halse, zog ihn vollends an mich, wälzte mich auf ihn und versetzte ihm rasch nacheinander zwei Hiebe auf das Schläfenbein. Er warf die dadurch machtlos gewordenen Arme in die Luft, streckte die konvulsivisch zuckenden Beine lang aus und bewegte sich nicht mehr.

Dies war schneller geschehen, als ich es erzählen kann. Es genügten zwei, drei kräftige Rucke an den Stricken, mich vollends von ihnen frei zu machen, dann sprang ich auf.

Der Kleine stand, mit der Lampe in der Hand, wie leblos da und starrte mich an. Da aber warf er die Lampe weg, welche verlöschte, so daß es finster wurde, und schrie:

»Hund, du entkommst uns dennoch nicht!«

Ich wollte vorsichtig ausweichen, aber schon war er da; ich fühlte seine Hand, die mich packte, und dann einen Stich, welcher in mein Herz gegangen wäre, wenn ich mich nicht schon in der beabsichtigten Wendung befunden hätte; nun traf er nur den Armmuskel und hatte, wie sich später zeigte, nur eine ungefährliche, zolltiefe Wunde zur Folge. Ich wollte ihn fassen, aber der kleine, behende Kerl entwich mir schnell und griff zur Pistole, was ich aber wegen der eingetretenen Finsternis nicht sah. Ich sprang nach dem Eingange, um ihm den Rückzug abzuschneiden; da krachte sein Schuß, welcher nach der Stelle gezielt war, an der ich soeben gestanden hatte. Der Pulverblitz zeigte mir seine Gestalt; ich sprang auf ihn zu und schlug ihm, weit ausholend, die Faust auf den Kopf, daß er niederstürzte. Mich sofort zu ihm bückend, überzeugte ich mich, daß nun auch er mir nichts mehr anhaben konnte.

Jetzt war es still, und auch ich bewegte mich nicht, um zu erfahren, ob der Schuß gehört worden sei. Es regte sich nichts. Da erklang die leise Stimme des Kammerherrn:

»Effendi!«

»Ja,« antwortete ich.

»Bist du tot?«

»Unsinn! Wenn ich antworte, kann ich doch nicht tot sein!«

»Also auch nicht erwürgt oder erschossen?«

»Nein; höchstens ein klein wenig mit dem Messer geritzt.«

»Wo sind diese beiden schrecklichen Menschen?«

»Sie liegen hier, leblos von meinen Hieben. Doch sprich jetzt nicht! Noch wissen wir nicht gewiß, ob der Schuß ungehört geblieben ist.«

Wir warteten noch einige Zeit; es kam niemand, und so hielt ich es für erlaubt, ein Licht anzubrennen. Die Lampe konnte nicht wieder angezündet werden, weil sie zerbrochen und ihr Inhalt verschüttet war.

»Baräkullah – Gott sei gepriesen!« seufzte der Perser. »Ich sehe, daß du Sieger geblieben bist. Mein Herz war starr vor Angst, als der Säfir wie ein hungriger Tiger vor dir stand und sich dann auf dich stürzte, um dich mit seinen Krallen zu erdrosseln! Nie in meinem ganzen Leben habe ich so gezittert und gebebt wie da, denn wenn er dich getötet hätte, so wäre auch ich verloren gewesen. Ich bin zwar ein sehr erfahrener und mutiger Krieger; aber wenn man gebunden ist, kann alle Tapferkeit nichts nützen. Wann machst du mich endlich wieder von den Fesseln frei?«

»Sofort. Wir werden sie zur Abwechslung nun diesen beiden anlegen.«

Ich band ihn los. Er sprang auf und frohlockte:

»Allah sei gepriesen, daß diese große, entsetzliche Gefahr vorüber ist! Ich bin derselben zwar mit großer Kühnheit entgegengegangen, doch ––«

»Schrei nicht so!« unterbrach ich ihn. »Von deiner großen Kühnheit weiß ich nichts, und wenn du wirklich meinst, daß die Gefahr vorüber sei, so irrst du dich. Wir haben nur erst diese zwei hier fest und es noch mit dreiunddreißig andern zu thun.«

»Allah bewahre uns! Noch dreiunddreißig!. Was wird das für ein Ende nehmen!«

Die Angst fuhr ihm abermals in die Glieder, was ihn veranlaßte, sich niederzusetzen; ich aber legte dem Säfir und seinem Gesellen die Stricke so fest an, wie es unsere Sicherheit erforderte, und war damit eben fertig, als ich die laut rufende Stimme Halefs hörte:

»Sihdi, Sihdi! Es wurde geschossen. Bist du da?«

»Ja, Halef!« antwortete ich ebenso laut.

»Ich stecke hier. Kommst du bald?«

»Gleich!«

»Wenn die Halunken doch meine Peitsche mitgebracht hätten! Hast du sie vielleicht gesehen?«

Ich konnte nicht anders, ich mußte trotz des Ernstes der Situation lachen. Kaum erfuhr der gute Hadschi, daß er gerettet sei, so war die heißgeliebte Peitsche der erste Gegenstand, an den er dachte! Ich bedeutete dem Perser, still zu bleiben, nahm das Licht und eine hinüber zu dem mich Erwartenden. Als er mich eintreten sah, sagte er.

»Der Säfir wollte mir weiß machen, daß du sein Gefangener seist; ich aber glaubte es ihm natürlich nicht und habe ihm eine innige Begegnung mit der Eindringlichkeit meiner Kurbadsch versprochen.«

»Das habe ich gehört. Er hat nicht gelogen; ich war wirklich gefangen; nun aber bin ich frei und habe ihn fester als er mich vorher. Ich werde dir das nachher erzählen; jetzt führe ich dich zu ihm.«

»So gieb mir erst den Gebrauch meiner Glieder wieder, denn so, wie ich daliege, würde es mir unmöglich sein, mich deiner freundlichen Leitung anzuvertrauen!«

Man hatte ihn in einen Teppich gerollt und diesen dann mit Stricken umwunden. Nur sein Kopf sah aus dem Bündel hervor. Ich holte ihn heraus. Kaum stand er auf den Beinen, so erhob er den Arm, hielt die Finger zum Schwur in die Höhe und sprach:

»So wahr ich hier endlich aus der Haut dieses Teppichs gefahren bin, so wahr werde ich mein Wort halten und dem Säfir meine Peitsche kosten lassen! Man hat sie mir genommen; aber ich suche sie; ich werde sie finden, und wenn man sie am Ende der Welt oder noch weit darüber hinaus versteckt hätte! Du liebst die Sprache meiner Kurbadsch nicht, Sihdi; diesesmal aber kannst du dagegen sagen und dagegen machen, was du willst, ich halte mein Wort!«

»Da will ich dich beruhigen, lieber Halef. Heut bin ich vollständig mit dir einverstanden. Als ich hörte, daß er dir mit Prügeln drohte und du ihm deine Peitsche versprachst, stand es bei mir fest, daß er ihr nicht entgehen solle.«

»So sei diese deine Einsicht und die Tiefe deines beglückenden Verständnisses gesegnet, soweit die Menschen auf der Erde wohnen! jetzt aber komm; führ mich zu ihm! Ich darf keinen Augenblick länger zögern, ihm die ersehnte Glückseligkeit meines Grußes zu bringen! Du kannst es gar nicht ahnen, Effendi, in welch heißer Erwartung mir sein Herz entgegenschlägt!«

Er nahm mich bei der Hand und zog mich fort. Ich erkannte, daß ich ihn diesesmal nicht hätte abhalten können, seinem Grimme – um mich seiner Ausdrucksweise zu bedienen – durch »die Segnungen der Peitsche« Luft zu machen. Dieser Säfir hatte aber eine solche Züchtigung mehr als verdient, und so stimmte der glühende Wunsch des kleinen Hadschi im gegenwärtigen Falle ausnahmsweise einmal mit meiner Ansicht überein.

Er zog mich hinaus in den Mittelraum und wollte von da aus mit mir weiter; ich blieb aber stehen und sagte:

»Ehe wir zum Säfir gehen, muß ich erfahren, wie man sich seit dem Augenblicke, an welchem ich in das Wasser sprang, zu dir verhalten hat. Erzähle es mir also!«

»Hat das nicht noch Zeit? Ich verschmachte, wenn du das Wiedersehen mit ihm noch länger hinausschiebst.«

»So thut es mir leid, daß ich gezwungen bin, dich verschmachten zu lassen. Ich muß sein Verhalten zu dir kennen, um das meinige gegen ihn danach einrichten zu können.«

»So muß ich die Fülle meines Verlangens nach ihm beherrschen, um dich zu unterrichten; aber ich sage dir, daß er für jede Minute, die ich länger warten muß, fünf Hiebe mehr bekommt!«

»So mach es kurz!«

»Kurz? O Sihdi, wie wenig Verständnis hast du doch für die Notwendigkeit derartiger freundschaftlicher Beweise! Ich werde es im Gegenteile so lang wie möglich machen, denn je größer die Zahl der Schläge ist, die er bekommt, desto höher wächst seine Erkenntnis meiner selbstlosen Zuneigung und desto gründlicher werde ich die Gefühle der Zärtlichkeit los, welche meine Seele mit der seinigen verbinden. Also, was willst du wissen, und was soll ich dir sagen? Es ist besser, ich frage dich, um die Kürze meiner Erlebnisse in die Länge deiner Neugierde ziehen zu können.«

»Hattest du, als ich aus dem Fährkorbe sprang, nicht den Gedanken, mir zu folgen?«

»Ja; er kam mir allerdings, und ich hätte ihn auch ganz ungehindert ausführen können, denn unsere zwei Busenfreunde konnten sich zunächst nicht um mich kümmern, weil sie genug damit zu thun hatten, die Fähre vor dem Umkippen zu bewahren. Aber die Einsicht des richtigen Verhaltens kam mir schon im nächsten Augenblicke. Wenn ich, an Händen und Füßen gebunden, dir nachsprang, so warst du gezwungen, dich meiner Unbehilflichkeit anzunehmen, wodurch wir in Gefahr kamen, wieder aufgefischt zu werden; ja, ich hätte mich und dich sogar in Lebensgefahr gebracht, da sie sehr leicht auf den höchst unzweckmäßigen Gedanken kommen konnten, auf uns zu schießen. Es war für dich notwendig, so rasch wie möglich zu verschwinden; du mußtest also untertauchen und unter dem Wasser sofort und so weit wie möglich weiterschwimmen. Das hättest du aber nicht thun können, wenn du gezwungen gewesen wärest, mir deine Hilfe und Unterstützung zuzuwenden. Darum blieb ich ruhig liegen, und ich glaube, daß ich da recht gehandelt habe.«

»Allerdings. Du hättest unsere Rettung sehr in Frage gestellt.«

»Das ist es, was ich dachte. Übrigens kennst du ja das Vertrauen, mit welchem ich das Dasein deines Lebens verschönere. Sobald du den Sprung gethan hattest, war ich überzeugt, daß du entkommen und zu den Pferden eilen würdest, um nach den Ruinen zu reiten und mich herauszuholen. Ich hatte also das süße Bewußtsein, im Innern über unsere Widersacher lachen zu können, während ich äußerlich ganz hilflos in ihre Hand gegeben zu sein schien. Dieser Gedanke verlieh mir diejenige Freudigkeit der seelischen Einrichtungen, ohne welche das Erdenleben mit einem Knochen zu vergleichen ist, von welchem das Schicksal schon das Fleisch heruntergegessen hat.«

»Dieser Vergleich ist wunderschön, lieber Halef!«

»O, meine Vergleiche sind stets vortrefflich und fehlerlos, was, verzeihe mir, mit den deinigen nicht immer der Fall zu sein pflegt; aber du darfst dich mit dem Umstande trösten, daß nicht jeder Mensch die Vorzüge, welche ich besitze, vertragen kann. Es gehört viel Demut und Selbstüberwindung dazu, die Größe seines Geistes so zu verhüllen, daß kein Unschuldiger durch sie niedergeschmettert wird.«

»So laß nur du dich auch durch die Größe des deinigen nicht niederschmettern, denn du bist vollständig unschuldig daran!«

»Wie meinst du das, Sihdi?«

»Denk später, wenn du Zeit hast, darüber nach. jetzt liegst du mit deiner Erzählung noch gefesselt und also hilflos im Binsenkorbe und hast also alle Veranlassung, dich in der Demut und Selbstüberwindung zu üben, von welcher du soeben sprachst. Was geschah weiter?«

»Etwas, worüber ich von Herzen lachen mußte. Nämlich als die Ruderer das Gleichgewicht ihres Fahrzeuges wieder hergestellt hatten, riefen sie dir nach. Sie befahlen dir zunächst, augenblicklich zurückzukehren, in welchem Falle sie dir deinen ganz aussichtslosen Fluchtversuch verzeihen wollten. Als sie dann sahen, daß dein Verstand nicht soweit reichte, die erhabene Vortrefflichkeit dieses ihres Vorschlages einzusehen, griffen sie zur Bitte. Sie flehten zu dir, doch zurückzukehren und sie nicht unglücklich zu machen, da es ihnen sehr schlecht ergehen würde, wenn sie bloß mich allein abliefern könnten. Ich erbarmte mich ihres Jammers und tröstete sie, indem ich ihnen sagte, daß meine Person ohne die deinige einen viel größeren Wert besitze, als wenn du dich bei mir befändest.«

»Ich danke dir!«

»Bitte! Sie waren nicht einsichtsvoll genug, mir dies zu glauben, und klagten noch eine ganze Weile fort, bis sie zu der Erkenntnis kamen, daß es dir im Wasser wahrscheinlich viel besser als bei ihnen gefalle; da ruderten sie weiter, und zwar mit großer Eile, denn sie glaubten, je eher sie zum Säfir kämen und ihm deine Flucht meldeten, desto leichter werde es ihm, dich wieder zu fangen. Wir kamen aus dem Flusse in den Kanal und auf demselben dann auch an das Ziel. Einer von ihnen ging fort, der andere blieb bei mir, um mich zu bewachen, obgleich ich alt und verständig genug war, selbst dafür zu sorgen, daß ich nicht aus dem Korbe weggestohlen wurde. Dann holte man mich, wobei man die Vorsichtsmaßregel traf, mir die Augen zu verbinden. Ich wurde getragen, lange Zeit und weit, sehr weit. Als man mich endlich niedergelegt und mir die Binde wieder weggenommen hatte, lag ich da, wo du mich gefunden hast, und der Säfir stand vor mir.«

»Er allein?«

»Nein. Ein kleine Kerl war dabei. Und nun geschah etwas, was ich nicht begreifen kann, und so wird also wohl auch dein Scharfsinn nicht ausreichend sein, mir eine Erklärung zu geben.«

»Was war es?«

»Der Kleine zeigte eine ganz überraschende Sehnsucht nach meinen Kleidern. Womit willst du dieses Verlangen begründen, Sihdi!«

»Ich kenne den Grund und sage dir ihn später. Erzähl nun weiter!«

»Man nahm mir die Fesseln ab und forderte von mir, daß ich mich ausziehe; ich weigerte mich natürlich; da wurde ich mit Prügeln bedroht. Da ich jetzt die Hände frei hatte, hätte ich mich wehren können, aber der Säfir stand mit der auf mich gerichteten Pistole vor mir und drohte, mich zu erschießen, wenn ich nicht gehorche. Da war nichts zu machen. Ich mußte mich fügen, doch nicht ohne daß ich eine Bedingung stellte.«

»Welche?«

»Ich erklärte ihnen, daß ich der Mann einer geliebten Frau und der Vater eines Sohnes sei, und also die Pflicht habe, auf die Erhaltung meiner Gesundheit stets bedacht zu sein; hier aber, in diesem Gewölbe, könne ich in unbekleidetem Zustande von einer Buruda befallen werden, auf welche ein ungeheurer Raschh und Sa’li zu befürchten sei; ich könne also den Wunsch des kleinen Menschen nur dann erfüllen, wenn mir erlaubt werde, nach Ablegung meines Anzuges die Schönheit meiner Glieder mit den seinigen zu umhüllen. Dies gab der Säfir zu, wahrscheinlich nicht aus ängstlicher Rücksicht auf mein Wohlbefinden, sondern um die Sache abzukürzen. Während des Umziehens wollte er allerlei von mir wissen und erfahren; ich sagte ihm aber, daß er sich an dich wenden solle; du werdest ganz gewiß kommen und ihm die gewünschte Auskunft mit Vergnügen geben. Damit mußte er sich begnügen. Als ich wieder gefesselt worden war, entfernten sie sich, und ich befand mich nun eine ganze Ewigkeit mit mir allein, was zwar unstreitig die geeignetste Gesellschaft für mich war, mir aber sehr wenig Unterhaltung brachte. Ich machte unausgesetzte Versuche, mich von den Banden zu befreien, hatte aber nicht den geringsten Erfolg.

Dann hörte ich, daß man einen andern Gefangenen brachte, der unausgesetzt jammerte und um Mitleid bat. Er wurde nicht zu mir, sondern an einen andern Ort geschafft. Wer es war, das weiß ich nicht.«

»Es ist der Pischkhidmät Baschi.« »Der? So ist der Überfall seiner Karawane gelungen?« »Ja. Seine Begleiter sind alle erstochen worden.«

»Allah! Aber er ist selbst schuld; warum hat er unsere Warnung verachtet! Dieser Mann ist ein großer Feigling; er wimmerte wie ein Kind, in dessen Mund der Disch agryssy wohnt. Als ihm sein Platz angewiesen worden war, kam man zu mir, um nachzusehen, ob ich noch fest gebunden sei, und dann verging wieder eine lange, lange Zeit, bis der Säfir und der Kleine wieder kamen und der Wiederumtausch der Anzüge erfolgte. Das Bewußtsein, wieder in meinen eigenen Kleidern zu stecken, erfreute und beruhigte mich so sehr, daß ich selig entschlummerte und so lange schlief, bis die beiden vorhin wieder kamen. Ich war sehr aufgebracht darüber, daß sie mich aus dem Schlafe weckten, und hielt es nicht für notwendig, sie über diesen meinen Zorn im unklaren zu lassen. Der Säfir wurde grob, und so kam es, daß wir in keinem traulichen Einvernehmen voneinander schieden und ich ihm meine Kurbadsch in Erwähnung brachte. Nach einiger Zeit fiel ein Schuß. Wer schießt, der ist bewaffnet, der ist ein Feind, ein bewaffneter Feind hier im Innern des Birs Nimrud aber, der konntest nur du sein, und so rief ich deinen Namen, damit du wissest, wo ich zu suchen und zu finden sei. So, jetzt weißt du, was du wissen wolltest, und nun wollen wir dem Säfir das Vergnügen, uns so schön beisammen zu sehen, nicht länger vorenthalten. Wenn man einem Menschen eine Freude machen kann, soll man es thun, und ich sehe schon vorher im Geiste das vor Wonne strahlende Angesicht, mit welchem er uns entgegenblicken wird. Übrigens bemerke ich soeben, indem ich in meine Taschen greife, daß der kleine Mensch sie leer gemacht hat. Ich werde meine Peitsche ersuchen, ihm in aller Freundlichkeit mitzuteilen, daß der Urheber meines Gewandes diese Taschen nicht für andere Menschen, sondern nur für mich angefertigt hat. Komm!«

Als wir nun in den Raum Nummer Fünf traten, hockte der Kammerherr wie ein verscheuchter Vogel in der Ecke und empfing uns mit den Worten:

»Subhanullah – Gott sei gelobt, daß du endlich wieder kommst, Effendi! Ich habe eine wahre Todesangst ausstehen müssen!«

»Weshalb?« fragte ich.

»Dieser schreckliche Säfir hat mich mit fürchterlichen Drohungen überschüttet.«

»Was hat dich veranlaßt, mit ihm zu sprechen! Er konnte dich doch nicht sehen!«

»Aber er hörte mich!«

»Wärst du doch still gewesen!«

»Du hast recht. Aber als ihm das Bewußtsein zurückkehrte, fragte er, ob jemand hier sei, und ich antwortete ihm. Seit dieser Zeit peinigt er mich mit der Drohung, daß es mir unendlich grausam ergehen werde, wenn ich ihn nicht während deiner Abwesenheit losbinde.«

»Und das hat dir Angst gemacht? Sei überzeugt, daß dieser Mensch vollständig ungefährlich ist!«

Halef hatte zunächst nur für seinen am Boden liegenden Doppelgänger Aufmerksamkeit. Er stellte sich breitspurig vor ihn hin und redete ihn an:

»Erlaube, daß ich dich begrüße, geliebter Freund meiner Seele! Ich bin dir unendlich zugethan, obgleich ich eigentlich gar nicht mit dir sprechen sollte, weil ich durch deine Undankbarkeit in so große Betrübnis versetzt worden bin. Du weißt wohl, was ich meine?«

Der Angeredete antwortete nicht und bewegte sich auch nicht.

»Du schweigst?« fuhr Halef fort. »Sihdi, sei so gut, und leuchte ihm einmal in die Lieblichkeit seines Angesichtes! Ich habe das große Verlangen, mich an der Herzlichkeit seines Lächelns zu erquicken.«

Als ich dieser Aufforderung folgte und den Schein des Lichtes auf das Gesicht des Kleinen fallen ließ, ohne selbst genau hinzusehen, rief Halef aus-.

»Was ist das! Wodurch kam er zum Fall, Sihdi?«

»Durch einen Hieb von mir.«

»So hast du ihn erschlagen! Das ist das Gesicht nicht eines Bewußtlosen, sondern eines Toten!«

Da betrachtete ich den Mann genauer. Sein Unterkiefer war weit heruntergefallen; der Mund stand offen, die Augen lagen gläsern, leblos, starr und unbeweglich in ihren Höhlen. Ich rüttelte ihn und untersuchte ihn, als dies keinen Erfolg hatte, sorgfältig.

»Lebt er doch noch?« fragte Halef.

»Nein; er ist tot,« mußte ich sagen, indem ich mich wieder aufrichtete.

»So ist es so, wie ich sagte: Du hast ihn erschlagen. Dein Hieb war für einen stärkeren Mann berechnet; du hast zu weit ausgeholt. Aber schau nicht so ernst darein! Nicht du bist es gewesen, sondern Allah war es, der deine Hand führte. Du bist kein Mörder› kein Totschläger, sondern der Rächer seiner Thaten. Wer war es, der vorhin schoß?«

»Er.«

»Auf wen?«

»Auf mich.«

»Hat er dich getroffen?«

»Nein.«

»So sei ruhig; du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen! Er wollte dich umbringen, indem er eine Kugel nach dir sandte, und hat den verdienten Lohn dafür erhalten.«

»Vorher stach er schon nach mir!«

»Auch ohne zu treffen?«

»Ich fühlte den Stich; er wird aber nicht von Bedeutung sein.«

Indem ich den Lichtschein auf die betreffende Stelle fallen ließ, sah ich, daß der Ärmel blutig war. Halef bemerkte es auch und rief schnell und besorgt:

»Das ist ja Blut! Schnell herunter mit der Jacke! Ich muß nachschauen, ob die Wunde gefährlich ist oder nicht; eher kann ich nicht ruhig sein!«

Ich that ihm den Willen. Die Verletzung war kaum der Rede wert; ein kleines Stück Kittahn, welches wir aus dem Nebenraume holten, genügte, die Wunde zu verbinden. Als dies geschehen war, untersuchte Halef die Taschen des Erschlagenen.

»Da, schau, Sihdi! Hier ist alles, was er mir gestohlen hat!« sagte er befriedigt. »Ich hoffe, daß ich meine Peitsche ebenso wieder bekomme! Sie ist es, nach der ich vor allen Dingen suchen werde. Ich werde mich beim Säfir nach ihr erkundigen.«

Dieser betrachtete und beobachtete uns mit einem ganz unbeschreiblichen Ausdrucke des Gesichtes und beantwortete die Fragen des Hadschi mit Schweigen. Da zog ihm Halef das Messer aus dem Gürtel, setzte es ihm auf die Brust und drohte:

»Wo meine Peitsche ist, will ich wissen! Sagst du mir es auch jetzt nicht, so ersteche ich dich! Also, wo habt ihr sie?«

Er bekam keine Antwort und stieß zu, doch nicht mit der Kraft, welche zu einem tödlichen Stiche gehört hätte, sondern er ließ ihm nur die Spitze des Messers fühlen. Da brach nun freilich die Schweigsamkeit des Bedrohten, welcher ja nicht wußte, wie weit der Hadschi gehen werde oder vielmehr gehen dürfe. Er entzog sich mit einer ängstlichen Bewegung dem Messer und antwortete endlich:

»Sie ist da! Der Pädär hat sie mitgebracht!«

»Wo finde ich sie?«

»Oben im Gange liegt sie, dein Messer auch!«

»Schau, wie schön du antworten kannst, wenn ich dir die Lippen öffne! Hast du schon seine Taschen untersucht, Sihdi?«

»Nein.«

»Soll ich sie untersuchen, was sie enthalten?«

»Das thun wir später. Nur eines einzigen Gegenstandes will ich mich einstweilen versichern. Nimm ihm den Schlüssel, den er unter der Kleidung an einer Schnur am Halse trägt!«

»Mensch, was geht dich mein Schlüssel an!« fuhr da der Säfir auf.

»Sei ruhig, mein Lamm!« lachte Halef. »Sieh hier das Messer! Ich steche sofort zu, wenn du nicht ganz ruhig liegen bleibst!«

»So nehmt ihn hin in Teufels Namen! Ich weiß ja, daß ich ihn sehr bald wieder bekommen werde. Ihr glaubt, es nur mit mir oder mit nur einigen Personen zu thun zu haben; aber es sind so viel Leute da, daß ihr diesen Ort nicht verlassen könnt, ohne wieder festgenommen zu werden!«

Indem ich von Halef den Schlüssel bekam und ihn einsteckte, antwortete ich:

»Du bist nicht allein; das weiß ich wohl. Es sind noch dreiunddreißig Männer da.«

»Die Hölle verschlinge dich! Wer hat dir das verraten?«

»Ich habe sie gesehen und gezählt.«

»Gesehen – – und – – gezählt?« wiederholte er meine Worte. »Du willst mich glauben machen, daß dein Blick durch Mauern und Schutthaufen dringe?«

»Nicht mein Blick, sondern ich selbst. Bist du denn wirklich so dumm, auch jetzt noch anzunehmen, daß ich während der ganzen Zeit gefesselt hier gelegen habe? Wärst du so klug gewesen, nur ein einziges Mal zu kommen, um nach mir zu sehen, so hättest du mich nicht gefunden. Du hattest diesen Raum kaum verlassen, so bin ich mit dem Pischkhidmät Baschi fortgegangen.«

»Lüge!«

»Pah! Wir ritten nach Hilleh, um den Pädär und seine Begleiter zu fangen, und holten Soldaten, mit denen wir euch umstellt haben. Ich sah dich bei den Ghasai-Beduinen sitzen, um den Raub zu taxieren, und hörte alles, was du mit ihnen sprachst. Dann kehrten wir hierher zurück und legten uns selbst die Fesseln wieder an, um dich zu täuschen. Du hast ja schon vorhin gehört, wieviel ich weiß, und schon dies allein hätte dich auf den Gedanken bringen müssen, daß wir fortgewesen sind und ich hinter deine heutigen Absichten gekommen bin.«

»Du täuschest mich nicht. Das ist doch Lüge, Lüge, nichts als Lüge!«

»Es kann mir gleichgültig sein, ob du mir glaubst oder nicht!«

»Es wäre euch gar nicht eingefallen, euch freiwillig wieder zu binden!«

»Das geschah ja nur zum Scheine. Wie schnell war ich aus den Fesseln heraus, als ich den Augenblick dazu gekommen sah!«

»Aber fortgewesen seid ihr nicht! Der Vorhang war von draußen verriegelt!«

»Es ist ein Beweis deines unendlichen Leichtsinnes, daß du die Wege selbst nicht kennst, die zu deinem Verstecke führen. Da, schau!«

Ich entfernte das Gebettuch des Soldaten und steckte es zu mir, um es ihm dann wiederzugeben, deutete auf das nun sichtbare Loch und sagte:

»Wie lange Zeit kennst du diesen Kerker, ohne zu ahnen, daß grad von ihm aus ein Weg in die Freiheit führt! Ich aber erkannte gleich beim ersten Blicke auf den Ziegelmehlhaufen, der hier lag, daß hier eine Gelegenheit zum Entkommen sei!«

Er starrte in die Ecke, ohne ein Wort hervorzubringen; ich zog meinen Henrystutzen heraus, so daß er ihn sah, und fuhr fort:

»Dieses Gewehr hatte ich doch nicht bei mir, als ich von euch hierhergeschleppt wurde. Wo kommt es her? Ich muß es mir doch wohl geholt haben! Wenn du jetzt noch zweifelst, so verdienst du für diese deine Dummheit noch mehr Prügel, als wir dir schon zugedacht haben!«

»Ia Bidadullah – oh Ungerechtigkeit Gottes!« stieß er hervor, weiter nichts. Seine Betroffenheit war so groß, daß er für diesen Augenblick weiter nichts sagen konnte. Ich hielt es für keinen Fehler, ihn noch weiter aufzuklären:

»Denke auch daran, mit welcher Bestimmtheit ich dir vorausgesagt habe, was geschehen wird! Das konnte ich nur, weil ich vorher wußte, daß ich dieses Gefängnis viel eher, als du ahntest, verlassen würde. Du behauptetest sogar, daß ich seine Schwelle überhaupt niemals wieder überschreiten würde!«

Da brüllte er endlich auf.

»Hund! Schwein! Teufel, der du bist! jetzt wird mir alles klar! Kein Mensch hat dir verraten, was du weißt, sondern du hast alles erlauscht! Aber es soll dir keinen Nutzen bringen, denn ich mache mich los, augenblicklich los und zermalme dich!«

Er zog die Ellenbogen hoch und die Kniee an den Leib, krümmte sich zusammen und streckte sich dann mit Anwendung seiner ganzen, ungewöhnlichen Körperkraft wieder aus. Man hörte den prasselnden Stoß, den das gab, aber die Absicht wurde nicht erreicht; die Fesseln hielten fest und verursachten ihm bei dem starken Rucke solche Schmerzen, daß er einen Weheschrei nicht unterdrücken konnte.

»Bemühe dich nicht; es ist ja doch umsonst!« sagte ich. Ich bin im Anlegen von Banden erfahrener als du. Wen ich zusammenschnüre, der kommt nicht ohne meine Erlaubnis wieder los! Und nun sage ich dir meinen Dank für die Bereitwilligkeit, mit welcher du mich, den Unwissenden, über die größten eurer Heimlichkeiten aufgeklärt hast!«

»Ich weiß nichts davon!« schrie er mich an.

»Über die Sillan!« erklärte ich.

»Nichts, nichts habe ich gesagt!«

»Über den Ämir-i-Sillan!«

»Den giebt es nicht!«

»Über die Gul-i-Schiraz!«

»Das ist eine Fabel; die ist gar niemals vorhanden gewesen!«

»Also auch nicht die Bivä-i-Hakim?«

»Nein.«

»Oder die Schems-i-Dschamal?«

»Nein, nein und tausendmal nein! Das sind ausgesonnene Namen, welche gar keine Bedeutung haben!«

»So ist wohl auch das Wort Sill nichts anders als nur eine Fabel?«

»Ja.«

»Aber die Gegenstände einer Fabel kann man doch nicht sehen!«

»Du siehst auch nichts!«

»Doch! Ich sehe etwas, und weil ich es sehe, kann es unmöglich etwas zu einer Fabel Gehörendes sein.«

»Was?«

»Den Ring an deiner rechten Hand.«

Ich sah, daß er erschrak; er nahm sich aber zusammen und antwortete mit freilich nicht ganz gelungenem Lachen:

»Das ist ein Ring, nichts als ein Ring, ein Ring wie jeder andere Ring!«

»Wir, nämlich ich und du, wissen das beide besser. Es ist der Ring der Sillan mit den Abzeichen des Ranges, den du unter ihnen einnimmst!«

»Hund – –!«

»Halt!« unterbrach ich ihn. »Hüte dich vor diesem Worte! Wenn ich es noch einmal höre, so zeige ich dir, wie man einen Hund zu behandeln hat. Merke dir das! Da ich weiß, daß du den Ring in diesem Leben nicht mehr brauchst, so wirst du ihn mir zum Andenken an unser hiesiges Zusammentreffen überlassen.«

»Ich denke nicht daran!«

»Das ist auch gar nicht nötig, hier gilt das was ich denke; deine Gedanken gehen uns nichts an. Gieb ihn her.«

Ich trat zu ihm, um ihm den Ring abzunehmen. Er zog die gefesselten Hände an sich und kreischte mich in höchster Aufregung an:

»Wage es nicht! Berühre ihn nicht! Ich wehre mich mit aller Kraft!«

»Pah! Selbst wenn du nicht gebunden wärst, würde ich über deine Kräfte lachen!«

»Es steckt ein böser Zauber in dem Ringe, ein Zauber, der dich verderben wird!«

»Grad diesen Zauber will ich kennen lernen!«

»Sieh hier meine Faust! Ich öffne sie nicht; also kannst du ihn nicht bekommen, außer du schneidest mir die Hand ab!«

»Das ist nicht notwendig; es genügt ein einziger Druck. Paß auf, wie man das macht! Ich mache dir diese Hand mit ebenso großer Leichtigkeit auf, wie ich dir schon die andere blutig gezeichnet habe.«

Ich faßte mit meiner Linken sein Handgelenk, legte den Daumen der Rechten auf seinen innern und den gebogenen Zeigefinger auf den äußern Mittelhandknochen und drückte die Knöchel so zusammen, daß er einen Schrei ausstieß und die Hand öffnen mußte. Ein schneller Griff nach dem Ringe, ein schraubendes Drehen desselben von dem Finger herab, und ich hatte ihn in der Hand.

»Sieh, da ist er!« lachte ich. »Ich werde ihn als Andenken an dich tragen und bin dir herzlich dankbar für die Bereitwilligkeit, mit welcher du ihn mir überlassen hast! Ich werde, um dir meine Dankbarkeit zu beweisen, dir jetzt zeigen, daß dieses Loch hier wirklich der Anfang eines Ganges in das Freie ist.«

Er ließ nun ein tiefes, fast tierisches Stöhnen hören; es schien ihn eine solche Wut gepackt zu haben, daß ihm ein menschliches, artikuliertes Sprechen unmöglich war. Der Kammerherr mußte mir helfen, den Gang vom Schutte zu befreien; dann stieg ich hinab, kroch bis an das Ende desselben und forderte den dort noch stehenden Kavalleristen auf, mir die Waffen Halefs heraufzureichen; hierauf kehrte ich in das Gefängnis zurück.

Halef war außerordentlich erfreut, als er sah, was ich ihm brachte.

»Sihdi, erst jetzt fühle ich mich wieder als Mann,« sagte er. »So lange man nichts als nur die beiden Hände hat, ist man jedem, der einen Schuß Pulver im Laufe hat, in die Gewalt gegeben. Nun aber habe ich, was ich brauche, und bin bereit, es mit allen Säfirs der Welt aufzunehmen. Schau den dort an! Er wird nun nicht mehr schimpfen.«

Ich sah, daß dem Säfir ein Lappen auf den Mund gebunden worden war, und fragte, warum man das gethan habe.

»Als du hier in dem Loche verschwunden warst, sprach er wieder von Hunden; er glaubte wahrscheinlich, daß ich mir mehr gefallen lasse als du. Da habe ich ihm zwei Fetzen vom Gewand gerissen und den einen in den Mund gestopft, den andern aber daraufgebunden. Sagte er vorher, was er dachte, so hat er jetzt Gelegenheit, zu denken, was er sagen möchte. Was soll nun geschehen? Ich bin wieder bewaffnet und also zu allem bereit, was du von mir verlangst.«

»Wir müssen jetzt hinaus, um, da wir den Anführer haben, nun auch seine Leute festzunehmen.«

»Ja, thun wir das! Wie werden sie entzückt sein, an seiner Stelle zwei so tapfre Männer, wie wir sind, erscheinen zu sehen! Kriechen wir durch dieses Loch?«

»Nein. Wir gehen oben durch den Gang, um ihnen in den Rücken zu kommen. Vorher aber müssen wir uns des Säfir noch besser als bisher versichern.«

»In welcher Weise?«

»Wir binden ihn so an, daß er sich erwürgt, sobald er einen Versuch macht, sich zu befreien. Bringt ihn heraus, mir nach!«

Halef und der Kammerherr schleiften ihn in den Mittelraum. Ich ließ das Gitterwerk nieder und schob die Riegel vor. Hierauf suchten wir nach einer passenden Leine, und als wir sie gefunden hatten, lehnten wir den Säfir an die Drahtstäbe und banden ihn in der Weise daran fest, daß ihm die Leine an der Kehle saß und er also bei einer größern Anstrengung, loszukommen, sich erdrosseln mußte.

Als wir damit fertig waren und ich wieder zu dem Lichte griff, um den beiden andern voranzugehen, hielt mich der Pischkhidmät Baschi durch die Worte zurück-

»Ich hörte, daß ihr die Leute des Säfir festnehmen wollt, Effendi. Soll das jetzt geschehen?«

»Ja,« erwiderte ich.

»Und ich soll mitgehen?«

»Natürlich! Oder willst du allein hier bleiben?«

»Nein, oh nein! Ich möchte nicht tot hier sein, viel weniger lebendig. – Aber sag, wird es zum Kampfe kommen?«

»Wahrscheinlich.«

»Und ich soll mitkämpfen?«

Der hohe Herr hatte Angst; um diese zu erhöhen, antwortete ich:

»Ich begreife, daß du ganz begierig bist, dich endlich einmal rächen zu können. Du hast dich einen außerordentlich tapfern Krieger genannt, und wir freuen uns sehr, daß uns durch diese deine Tapferkeit der Sieg so sehr erleichtert wird!«

»Ja,« nickte auch Halef sehr ernst; »ein solcher Held wie du ist uns sehr notwendig, denn die Kugeln werden massenhaft herüber- und hinüber fliegen!«

»Fliegen – –? Nach allen Seiten – –?« fragte der Feigling erschrocken.

»Ja.«

»So – – so – – so – – ja, so giebt das einen sehr – – sehr schönen Kampf, und es thut mir außerordentlich leid, daß ich mich nicht daran beteiligen kann.«

»Warum nicht?«

»Ihr seht doch, daß ich vollständig unbewaffnet bin; ich bin also gezwungen, hier zu bleiben, bis ich die Flinte und die Pistolen, welche man mir abgenommen hat, wieder bekommen habe.«

»O, was das betrifft, so werden sich schon Waffen für dich finden, und wenn nicht, so leiht dir mein Effendi eine seiner Drehpistolen.«

»Das geht nicht, denn ich weiß nicht, wie man mit solchen Pistolen schießt.«

»Er zeigt es dir!«

»Nein! Ich habe das Gelübde gethan, mich nur meiner eigenen Waffen zu bedienen. Ihr seht also ein, daß ich euch nicht eher helfen kann, als bis ich diese zurückbekommen habe!«

»Das thut uns leid, unendlich leid, denn es ist schade, wirklich jammerschade um dieses wunderschöne, tapfere Gelübde. Was sagst du dazu, Effendi?«

»Daß ich, wenn ich nächstens in Persien bin, von dieser seiner Tapferkeit und von dem Gelübde, welches ihn hindert, tapfer zu sein, erzählen werde. Kommt!«

So gern ich mich in den Räumen umgeschaut hätte, ich mußte doch für jetzt darauf verzichten. Ich leuchtete, und wir gingen aus Nummer Drei nach Nummer Eins, wo wir die Stufen sahen, welche zu dem Gange emporführten. Weil zu vermuten war, daß sich da oben die Vertrauten des Säfir befinden würden, mußte ich das Licht auslöschen. Wir tasteten uns die Treppe hinauf, ich voran, dann Halef und der Perser hinterdrein. Als wir oben ankamen, war es vollständig dunkel in dem Gange, aber weit vor uns gab es einen hellen Schimmer. Das war der Eingang, welcher offen stand. Ich wollte weitergehen, fühlte aber, daß mir Gegenstände im Wege lagen; es waren, wie ich mich tastend überzeugte, lauter Säcke, Kästen und Pakete, also die hereingeschafften Schmuggelwaren.

»Ich möchte wissen,« flüsterte mir der Hadschi zu, »warum man durch diese Sachen den Gang so unwegsam gemacht hat!«

»Kannst du dir das nicht denken?«

»Nein. Warum hat man sie nicht gleich die Treppe hinuntergeschafft?«

»Weil nicht alle Mitglieder der Schmuggelbande die da unten liegenden Räume und den Weg, der zu ihnen führt, kennen dürfen. Die meisten von ihnen wissen wahrscheinlich gar nicht einmal von dem Gange etwas; sie dürfen die Ruine nur bis zu einem gewissen Punkt besteigen, bis zu welchem sie die Pakete tragen. Wenige andere kennen den Gang, weiter nichts, und holen die Sachen herein, und endlich sind es jedenfalls nur einige Personen, die von den untern Kammern wissen; diese schaffen die Waren hinunter und werden wohl auch nach Bedürfnis in andere Geheimnisse eingeweiht. So denke ich es mir, und so wird es wohl auch sein.«

»Wie verhalten wir uns? Steigen wir über diese Menge Sachen, so erregt das Lärm.«

»Ich fühle soeben, daß man hier links an der Mauer hin einen schmalen Pfad gelassen hat; den benutzen wir, nämlich du und ich; der Pischkhidmät Baschi aber bleibt hier zurück, und wartet, bis wir ihn holen.«

»Wann werdet ihr wieder kommen?« fragte der Genannte.

»Das kann ich jetzt nicht wissen.«

»Es wird doch nicht sehr lange dauern!«

»Wird dir etwa bange?«

»O nein, Effendi! Du kennst doch meine Tapferkeit zur Genüge!«

»Ja. Also warte hier recht tapfer. Wenn wir kommen, sind wir da; eher nicht!«

»Bära’i Khuda – um Gottes willen, wenn nun inzwischen hier etwas geschieht!«

»Wir bewundern deinen Mut und wissen also, daß du dich tapfer verteidigen wirst.«

Nun drängten wir uns zwischen der Mauer und den Gepäcksachen leise und langsam dem Eingange zu. Je näher wir demselben kamen, desto heller wurde der schon erwähnte Schein; wir sahen, daß es draußen inzwischen Tag geworden war. Die Zeit war schneller vergangen, als wir unten hatten bemerken können.

Da war es mir, als ob ich sprechen hörte. Ich blieb stehen und lauschte. Ja, es waren halblaute Stimmen, welche vom Eingange her zu uns klangen. Wir huschten weiter und konnten, als wir einen hohen Pakethaufen passiert hatten, die Betreffenden sehen. Es waren drei Personen, welche nebeneinander auf dem Boden saßen und, aus dem Gange hinausschauend, sehr eifrig gestikulierten. Sie schienen durch irgend etwas in Erregung versetzt worden zu sein. Je näher wir ihnen kamen, desto vernehmlicher wurde das, was sie miteinander sprachen. Schließlich befanden sich nur noch zwei aufeinander liegende Säcke zwischen uns und ihnen, und da hörte ich ganz deutlich einen von ihnen sagen:

»Nein, wir dürfen jetzt nicht zu ihm hinunter. Ihr wißt, es steht auf Ungehorsam der Tod!«

»Aber so ein unerwartetes Vorkommnis macht eine Ausnahme! Vielleicht bestraft er uns dann grad darum, daß wir es ihm nicht gemeldet haben!«

»Ich gebe dir recht,« stimmte ihm der dritte bei: »Was gehen uns überhaupt diese Ghasaihunde an? Es scheint ja nur auf sie abgesehen gewesen zu sein!«

»Ich befürchte, auch auf uns,« entgegnete der zweite.

»Warum denkst du das?«

»Weil die Asaker sich nicht entfernen. Sie halten ja den ganzen Platz so umschlossen, daß kein einziger von uns sich hindurchschleichen kann. Ich befürchte sehr, daß ihre Absicht nicht bloß auf die Ghasai, sondern auch auf uns gerichtet ist. Ich schlage also trotz seines strengen Verbotes doch vor, den Säfir zu benachrichtigen.«

Ging der Vorschlag dieses Mannes durch, so wurden wir bemerkt, wenn und wo es keinen Platz für uns, uns zu bewegen, gab; wir mußten ihnen zuvorkommen. Ich flüsterte dem Hadschi also zu:

»Pack du den links mit beiden Händen an der Gurgel, und laß ihn nicht schreien; es muß alles ganz still verlaufen. Ich nehme die beiden andern.«

»Töten wir sie?« erkundigte er sich.

»Wenn es zu vermeiden ist, nein. Knebel und Stricke von den Paketen sind hier ja mehr als genug zu haben.«

Wir schoben uns hinter den Säcken hervor, und als Halef von hinten nach dem von ihm bezeichneten Schmuggler griff, schlug ich zu gleicher Zeit den neben diesem sitzenden mit der Faust nieder und legte dann dem dritten die Hände um den Hals; er bewegte krampfhaft die Arme und Beine, bekam auch einen Hieb an die Schläfe und lag dann still. Halef hielt den seinen, der nicht bewußtlos war, an der Kehle fest; ich band den Mann mit den Strickenden, deren mehrere in der Nähe lagen, und hielt ihm, als er dann von dem Hadschi losgelassen wurde, das Messer mit der Drohung auf die Brust:

»Gieb keinen Laut von dir, sonst ersteche ich dich! Halef, mach aus seinem Turbantuche drei Knebel, die wir ihnen in den Mund binden, damit sie nicht laut werden können!«

»Mit größter Wonne, Effendi!« antwortete der Hadschi, »Wenn der Kerl das Maul nicht gutwillig öffnet, so werden ihm ––«

Er hielt inne; sein Blick war auf die andere Wand gefallen, die wir noch nicht beachtet hatten; da leuchteten seine Augen, und er fuhr fort:

»Hamdulillah! Dort sehe ich meine Kurbadsch und auch das Messer! Ich habe die Peitsche wieder, und nun ist die Eroberung sämtlicher Ruinen Babylons und der ganzen Erde für uns nur eine Kleinigkeit!«

Er nahm zunächst die liebe Peitsche an sich; dann erst schnitt er das Turbantuch des Paschers in Stücke und würgte ihm eines davon in den Mund. Auch die beiden anderen wurden gebunden und geknebelt, und dann, als dies geschehen war, konnten wir unsere Aufmerksamkeit nach außen richten.

Was wir sahen, war im höchsten Grade interessant. Uns sehr vorsichtig, um nicht selbst gesehen zu werden, dem Ende des Ganges nähernd, bemerkten wir, vielleicht dreißig Schritte von uns entfernt und neben dem Trümmerwege, welcher nach unten führte, fünfzehn Kerle, die sich hinter den dort liegenden Mauerbrocken versteckt hatten. Sie wollten nicht von den Soldaten gesehen werden, welche noch dieselbe Stellung inne hatten, die ihnen von mir und dem Kol Agasi angewiesen worden war. Dieser letztere saß im Teilpunkte der Halbkreislinie und beobachtete die Höhe, auf welcher wir uns befanden. Vor ihm lagen zwei Reihen Männer; lang ausgestreckt und von einigen Soldaten besonders bewacht. Ihre Haltung ließ annehmen, daß sie gefesselt seien; ich zählte fünfzehn Personen und mußte in ihnen also die Ghasai-Beduinen vermuten, die ich sonst nirgends sah. Die Entfernung war zu groß, als daß ich ihre Kleidung oder gar ihre Gesichtszüge unterscheiden konnte, aber wahrscheinlich waren sie es. Wie mochte Amuhd Mahuli es fertig gebracht haben, sie in seine Gewalt zu bekommen? Halef sah, wohin meine Augen gerichtet waren; er hatte natürlich dieselbe Beobachtung gemacht und sagte zu mir:

»Es sind eine Menge Asaker da unten. Wie kommen die hierher? Du hast mir überhaupt noch gar nicht mitgeteilt, was seit deinem Sprunge in das Wasser geschehen ist. Hoffentlich begreifst du, daß ich es gern wissen möchte!«

»Du sollst es erfahren, denn ich sehe, daß ich jetzt Zeit dazu habe, es dir zu erzählen.«

»Wirst du nicht von den Kerlen da gestört werden?« fragte er, indem er auf die Schmuggler draußen zeigte.

»Ich glaube nicht, denn es steht zu vermuten, daß sie nicht hierher kommen dürfen.«

»Warum sollte es ihnen verboten sein?«

»Aus Vorsicht, daß sie den Gang nicht kennen lernen. Wenn sie ihn betreten dürften, lägen sie jetzt nicht da unten, sondern hätten sich in das Innere zurückgezogen, wo sie doch viel besser verborgen wären, als da draußen.«

»Das ist richtig. Sie sehen sich umzingelt, dürfen aber ohne den Befehl des Säfirs nichts unternehmen. Nun warten sie auf seine Rückkehr aus der Ruine. Was werden sie für Augen machen, wenn wir an seiner Stelle erscheinen! Ich freue mich ordentlich darauf! Doch, du wolltest mir ja dein Erlebnis mitteilen!«

Wir setzten uns nieder, und ich erzählte ihm ausführlich, was geschehen war. Selbstverständlich ließen wir die vor uns liegende Scene nicht aus den Augen, es geschah nichts, was mich in meinem Berichte störte, und auch Halef unterbrach mich mit keinem Worte; aber als ich geendet hatte, ließ er erst ein leises Lachen und dann die Worte hören.

»Sihdi, hast du eine Nase?«

»Mit deiner gütigen Erlaubnis, – ja!« antwortete ich.

»So bitte, zupfe dich daran, so oft es dir wieder einmal einfallen sollte, mir wegen meiner sogenannten Unvorsichtigkeit Vorwürfe zu machen! Ist es für möglich zu nehmen, daß du mich mit dem Kerl verwechselst, der nichts als meine Kleider mit mir gemeinsam hatte! Du hast dich blamiert, unendlich blamiert! Wenn meine Achtung und Liebe zu dir nicht die Größe meines ganzen Herzens hätte, so würde die Fülle meiner Ehrerbietung sich in ein Nichts verwandeln. Wie soll ich meiner Hanneh, der lieblichsten von allen irdischen Lieblichkeiten, und Kara Ben Halef, meinem Sohne und Nachfolger, der meinen und deinen Namen trägt, den von dir begangenen Fehler glaubhaft machen? Beide werden die Köpfe schütteln, bis sie Gefahr laufen, locker zu werden und herabzufallen! Und denke auch an Dschanneh, welche die einzige Perle deines Harems ist! Was wird sie sagen, wenn sie erfährt, was du in der heutigen Nacht begangen hast! Und das ist noch nicht alles; es fällt mir etwas ein, was noch viel schlimmer ist!«

»Was?«

»Ich weiß, daß du Bücher schreibst, in denen alles steht, was du von mir und dir zu erzählen hast. Nun denke dir die vielen, vielen Menschen, welche durch das Lesen deiner Bücher hinter das Geheimnis kommen, daß es in deinem Verstande einige Stellen giebt, welche zugeklebt und ausgebessert werden müssen! Muß das nicht schrecklich für dich sein? Ich will mich aber als dein wahrer Freund erweisen und dir erlauben, diese in die Bücher gehörige Stelle wegzulassen, verlange aber dafür allen Ernstes, daß du es von jetzt an aufgiebst, bei mir immer nach ähnlichen Stellen der Reparatur zu suchen! Und nun sei nicht allzu betrübt und niedergeschlagen, sondern tröste dich und ermanne dich! Es giebt ja keinen Menschen, der nicht einmal einen Fehler macht, und so darfst du nicht gleich an dir selbst verzweifeln. Ich will dir ganz gern behilflich sein, dich aus der Tiefe der selbstverschuldeten Betrübnis zu erheben, und erteile dir das tröstliche Zeugnis, daß du dich im übrigen gar nicht übel benommen hast. Was wahr ist, gebe ich zu! Der Pädär und Konsorten liegen in Fesseln; den Säfir haben wir auch; die Ghasai liegen da unten, und so handelt es sich nur noch darum, diese fünfzehn Schmuggler auch zu fassen. Auf welche Weise meinst du wohl, daß dies am besten zu geschehen hat?«

»Das fragst du mich, Halef?«

»Ja. Wen soll ich sonst fragen?«

»Meinetwegen jeden anderen Menschen, doch mich ja nicht!«

»Warum?«

»Wer es so nötig hat wie ich, zugeklebt und ausgebessert zu werden, dem darf man nicht erlauben, in so wichtigen Angelegenheiten dreinzureden. Ich halte es vielmehr für ratsam, daß du nun an meine Stelle trittst, um die Sache vollends zu Ende zu führen.«

Da fuhr er, sich kratzend, nach dem Hinterkopfe und antwortete:

»Ja, so bist du nun! Du verträgst keinen Tadel, und doch ist der Tadel der leibliche Onkel und Urgroßvater des Bessermachens. Wenn ich mich jetzt an die Spitze dieses Unternehmens stelle, so ernte ich den ganzen Ruhm und alle Ehre, und dir verbleibt für deine Bücher nichts, als nur zu sagen, daß du dabei gewesen seist. Das aber will ich nicht. Ich als dein Beschützer wünsche, daß man deinen Wert erkenne und dich als meinen Begleiter achten lerne; das kann ich aber nur dadurch erreichen, daß ich dir nicht meine Befehle erteile, sondern dich so handeln lasse, wie es dir beliebt. Also magst du getrost bestimmen, was geschehen soll; es wird alles vortrefflich gehen, denn ich stehe treu an deiner Seite, und du weißt, daß du dich auf mich verlassen kannst!«

»Ich danke dir, mein lieber, mein außerordentlich rücksichtsvoller und aufopfernder Freund! Mein Ohr ist entzückt von deinen Worten und mein Herz voller Wonne über deine Güte und hingebende Nachsichtigkeit! Da du es erlaubst, werde ich meinen beschränkten Geist anstrengen, die Art und Weise ausfindig zu machen, wie wir diese Schmuggler ––«

»Nein, Sihdi, beschränkt bist du nicht!« unterbrach er mich im Tone der Überzeugung. »Das habe ich nicht sagen wollen und auch nicht gesagt! Dein Verstand ist mir in der Länge überlegen, und nur in der Breite kommst du nicht an mich. Von Beschränktheit kann also keine Rede sein. Raffe dich nur auf zum notwendigen Selbstvertrauen, dann wirst du ganz gewiß das Richtige finden! Ich, dein treuer Halef, bin ja jetzt bei dir!«

»Gut! Deine Gegenwart stärkt und ermuntert mich. Mit Hilfe deiner Einsicht und deines guten, stets vortrefflichen Rates werde ich auf den richtigen Gedanken kommen, die Schmuggler auf eine für uns möglichst ungefährliche Weise festzunehmen.«

»Was wirst du aber thun, wenn sie sich wehren?«

»Wehren? Mit was für Waffen sollten sie das thun?«

»Sie haben jedenfalls Messer, und bei einigen sehe ich Pistolen!«

»Mit den Messern können sie nur im Nahekampf etwas machen; wir aber werden uns hüten, sie heranzulassen. Und aus der Ferne können uns die Kugeln ihrer alten Furuhd auch nichts thun. Flinten haben sie nicht bei sich; jedenfalls haben sie diese irgendwo abgelegt. Ich will einmal nachsehen, ob vielleicht hier draußen in der Nähe.«

Ich legte mich auf den Boden nieder und schob mich hinaus. Ich hatte mich nicht getäuscht. Die Gewehre waren links vom Eingange an das Gemäuer gelehnt; rechts aber lag ein Haufen von teils einzelnen, teils zusammengebackenen Ziegelsteinen, welch letztere durch Erdpechmörtel miteinander verbunden waren. Mehrere dieser Steine zeigten auf der Außenseite Keilinschriften, und es war nicht schwer zu erraten, daß diese Ziegel den Verschluß des Loches bildeten, aus welchem ich gekrochen war.

Ich lag mit dem Vorderleibe außerhalb desselben, ohne bemerkt worden zu sein; eben wollte ich wieder zurück, da drehte sich einer der Schmuggler um und schaute herauf; er sah mich und erkannte sofort, daß ich ein seiner Gesellschaft Fremder sei. Einen Schrei ausstoßend, machte er seine Kameraden auf mich aufmerksam, indem er auf mich deutete. Ich sprang schnell entschlossen auf, holte meinen Stutzen aus dem Gange und richtete die Mündung des Gewehres auf die Leute. Halef folgte sogleich meinem Beispiele.

»Der Effendi,« hörte ich rufen, »der Effendi! Er ist frei! Allah behüte uns!«

Sie waren aufgestanden und konnten also von unten gesehen werden.- Sie dachten nur an Halef und mich, nicht aber mehr an die Soldaten, denen sie sich nicht hatten zeigen wollen. Ich rief ihnen zu:

»Bleibt, wo ihr seid, sonst schießen wir! Wer die Stelle verläßt, an welcher er steht, bekommt augenblicklich eine Kugel!«

»Du aber vorher die meinige!« antwortete einer, indem er seine Pistole hervorriß und auf mich abdrückte; drei andere ließen sich verleiten, dasselbe zu thun, aber keiner dieser Schüsse traf.

»Ihr habt gewagt, auf uns zu schießen,« entgegnete ich; »Jetzt kommt die Strafe: Ich werde euch niederwerfen, indem ich euch in die Kniee schieße. Paßt auf!«

Ich gab die Schüsse schnell hintereinander ab und die vier Pascher stürzten mit zerschmetterten Knieen nieder. Sie brüllten überlaut; um so stiller waren die andern. Sie hatten nie in so rascher Folge vier Schüsse aus einem Laufe gesehen und gehört; das ging über ihre Begriffe. Halef benutzte ihre Bestürzung, indem er sie in seiner bekannten Weise belehrte:

»Warum reißt ihr die Augen und die Mäuler auf? Das Gewehr des Effendi ist eine Zauberflinte, welche, wenn er will, zehntausend Jahre lang immerfort losgeht, ohne daß er zu laden braucht. Und daß keine Kugel daneben geht, habt ihr jetzt gesehen. Alle, die hier im Innern der Ruine waren, befinden sich in unserer Gewalt. Ihr könnt nichts thun, als euch auch ergeben, denn gegen das Zaubergewehr könnt ihr nichts, gar nichts machen. Effendi, zeige ihnen doch, wie schnell deine Kugeln sich folgen und wie sicher du mit ihnen triffst!«

»Ja, sie sollen es sehen,« antwortete ich. »Es stehen noch elf von ihnen aufrecht; ich werde in jedes von den zweiundzwanzig Beinen eine Kugel schicken und sicher keines fehlen. Also jetzt!«

Ich legte an, und in demselben Augenblicke hockten sie alle nieder, hielten die Gewänder oder die Hände vor die Beine und schrieen, was sie konnten; die vier Betroffenen aber ließen ihre Stimmen mit mehrfacher Stärke erschallen.

Natürlich waren ihre Augen alle auf uns gerichtet, und so sahen sie nicht, was unten vor der Ruine geschehen war und noch geschah. Der Kol Agasi nämlich hatte die Schüsse gehört und mich gesehen. Entweder war ich von ihm trotz der Entfernung erkannt worden, oder er hatte sich gesagt, daß Schüsse Kampf bedeuten; wo man kämpft, da giebt es aber Feinde, und diese Feinde oder dieser Feind der Schmuggler konnte nur ich sein. Er mußte mir zu Hilfe kommen und hatte seinen Leuten also den Befehl gegeben, die Ruine zu ersteigen. Sie kamen so schnell, wie es ihnen möglich war, herauf; wir sahen es; die hinter den Steinböcken ängstlich zusammengekauerten und ihre Augen nur auf uns richtenden Schmuggler aber bemerkten es nicht. Der Kol Agasi war so klug, seine Asaker nicht in einer Reihe hintereinander avancieren, sondern in breiter Linie heraufklettern zu lassen, wodurch er die Umzingelung beibehielt, so daß es auch jetzt keine Lücke zum Entschlüpfen gab.

Die vier Blessierten vollführten einen außerordentlichen Lärm; sie jammerten, klagten und schimpften in einem Atem; wir achteten natürlich nicht auf ihre beleidigenden Interjektionen. Die Kerle waren alle feig; zwar mit der nötigen Gewandtheit zum nächtlichen Schmuggeln und Schleichen begabt, entging ihnen die Neigung zur mutigen That, und das war wohl auch der Grund, weshalb der Säfir nicht sie, sondern die Beduinen zum Überfalle der Karwan-i-Pischkhidmät Baschi genommen hatte. Um ihre Aufmerksamkeit festzuhalten und ihr keine Zeit zu lassen, sich nach rückwärts zu richten, hielt der Hadschi ihnen eine Strafrede, in welcher er ihnen bewies, daß sie der Abschaum der Menschheit, wir aber die tadellosesten Heiligen und Helden seien. Er erreichte seinen Zweck vollständig, denn er hatte noch lange nicht geendet, so stand der Kol Agasi mit seinen Leuten schon vor den Trümmerresten, hinter denen die Schmuggler hockten. Darum unterbrach er sich und wendete sich an mich:

»Die Asaker sind da; ich muß also leider meine Strafpredigt mitten auseinanderschneiden. Jetzt kommst du wieder an die Reihe; sprich weiter!«

»Das fällt mir gar nicht ein; es wird ein Zeichen meiner Hand genügen.«

Der bei seinen Leuten und heimlich hinter den Schmugglern stehende Kol Agasi hielt seine Augen fragend auf mich gerichtet; ich gab ihm einen Wink; er rief ein Kommandowort, und seine Soldaten drangen auf die Schmuggler ein, welche über den plötzlichen Angriff so erschrocken waren, daß sie fast alle gar nicht auf den Gedanken kamen, sich gegen ihre Festnahme zu wehren. Unsere Beihilfe war nicht notwendig; wir konnten als Zuschauer stehen bleiben, wo wir standen; dem quecksilbernen Hadschi freilich war es unmöglich, sich ganz der Beteiligung zu enthalten. Er sagte:

»Ich habe da drin im Gange ein Habl aus Palmfaser liegen sehen, an welches wir die Kerle so binden können, wie man Datteln auf Schnuren reiht. Ich werde es holen.«

Er ging hinein und brachte dann nicht nur das Seil, sondern auch eine ganze Menge von Schnuren, Leinen und Strickteilen heraus, welche er den Soldaten hintrug. Es war höchst interessant, zu sehen, in welcher Weise er nun die Fesselung der sich sträubenden Gefangenen dirigierte und überwachte. Als man damit fertig war, wurden sie, in langer Reihe an dem Seile hängend, abgeführt; die Verwundeten mußten natürlich getragen werden. Dabei vorkommende Störungen, Unterbrechungen und ähnliche Scenen darf ich wohl übergehen. Es versteht sich ganz von selbst, daß die drei Männer, welche wir am Eingange überrumpelt hatten, den Abgeführten mit angeschlossen waren. Als dieser Transport sich in Bewegung gesetzt hatte, trat der Kol Agasi zu mir und erkundigte sich:

»Effendi, wie war es dir möglich, hier herauszukommen? Du hast dich, als du von uns gingst, doch nach der andern Seite der Ruine entfernt. Ich war sehr erstaunt, als ich dich dann hier oben sah.«

»Hast du mich sogleich erkannt?« fragte ich.

»Ja. Wir hatten den Aufgang nach hier oben so eng besetzt, daß du unmöglich durch unsere Reihen gekommen sein kannst!«

»Vielleicht erzähle ich dir, wie es mir möglich gewesen ist, über den Birs hinweg- und hierherzufliegen.«

»Fliegen? Nein, geflogen bist du freilich nicht. Hier sehe ich einen Eingang; vielleicht giebt es auf der andern Seite auch einen, den du gekannt hast; du bist dort hinein und durch das Innere hierhergegangen.«

»Davon später! jetzt sage mir, wie es dir gelungen ist, die Ghasai-Beduinen zu ergreifen!«

»Das geschah auf die einfachste Weise. Wir beobachteten sie, bis der Perser, welcher der Freund des Sandschaki ist, mit ihnen fertig war und sich entfernte. Ich glaubte, du habest ihm die Hand zerschmettert, aber die Verletzung scheint doch nicht so groß gewesen zu sein, denn er hatte sie zwar verbunden, konnte aber die Finger doch ganz gut bewegen und gebrauchen.«

»Ja, den Beweis hiervon hat er auch mir geliefert.«

»Als er fort war, rüsteten sich auch die Ghasai zum Aufbruche. Die Pferde und Kamele der Karwan-i-Pischkhidmät Baschi waren ihnen bei der Verteilung der Beute zugefallen. Wenn ich sie diese Tiere besteigen ließ, war der Verlust wenigstens einiger von ihnen zu befürchten; darum durfte ich es gar nicht so weit kommen lassen. Ich zog also meine Leute schnell zusammen, und wir drangen so unerwartet auf sie ein, daß sie grad so erschrocken wie hier die Schmuggler waren. Einige, welche sich wehrten, wurden mit dem Kolben niedergeschlagen. Wir wurden so rasch und leicht mit ihnen fertig, daß ich mich nachher fast darüber gewundert habe. Freilich ging es dabei nicht ohne großen Lärm und lautes Geschrei ab, wodurch die Schmuggler gewarnt wurden; ich mußte also die Linie der Einfassung schleunigst wieder herstellen lassen, um ihnen die Flucht unmöglich zu machen. Sie kamen auch sehr bald dahinter, daß sie umzingelt waren, und zogen sich nach der Höhe zurück, von wo aus sie keinen Angriff wagten. Was dann geschah, das weißt du ja. Du kanntest die Zahl dieser Leute und stelltest mir die Bedingung, keinen von ihnen entkommen zu lassen. Es fehlen aber der Perser und noch eine Person, doch glaube ich nicht, daß wir daran schuld sind. Ich bin vielmehr überzeugt, daß es ihnen unmöglich gewesen ist, sich durch uns hindurchzuschleichen.«

»Sorge dich nicht um deine Belohnung! Diese Personen haben wir selbst festgenommen.«

Da hellte sich das bisher etwas besorgt gewesene Gesicht des Offiziers ganz auf, es legte sich ein vertraulich pfiffiges Lächeln auf dasselbe, und er sagte:

»So darf ich dich wohl fragen: Ist jemand entkommen, Effendi?«

»Wir haben sie alle!«

»Deine Bedingung ist also erfüllt?«

»Ja.«

»Da du selbst soeben das Wort Belohnung erwähnt hast, wirst du mir wohl nicht zürnen, wenn auch ich daran denke. Oder nimmst du mir das vielleicht übel?«

»Übel? Nein! Du hast ja ohne Zweifel das Recht, mich an mein Versprechen zu erinnern. Etwas anderes freilich ist es, ob du glaubst, daß ich es werde erfüllen können.«

»Allah gebe es!« rief er, tief Atem holend, aus.

»Hm! So ganz überzeugt scheinst du doch nicht tu sein?«

»Verzeih, Effendi! Du bist ein berühmter Mann; du stehst im Schatten des Padischah, den Allah segnen möge, und darfst Berichte schreiben lassen, welche der Seraskier wirklich liest; auch habe ich gesehen, wie freundlich der Pascha aus Stambul mit dir gesprochen hat. Ich bin also überzeugt, daß deine Worte und Vorschläge an den hohen Stellen der Regierung wohl beachtet und berücksichtigt werden, aber – aber – – aber – –«

»Was, aber – –?« »Darf ich es sagen?« »Ja.« »Du wirst mir nicht zürnen?« »Nein.«

»Daß ich jetzt und sofort Bimbaschi sein soll, das – das – – das ––«

»Sprich doch weiter!« »Das bringst du wohl nicht fertig!« »Warum nicht?«

»Erstens bist du ein Christ, während die hohen Offiziere, welche über mich zu bestimmen haben, Muhammedaner sind.«

»Schön! Zweitens?«

»Zweitens kann dein Einfluß jetzt gar nicht wirken, weil dein Bericht an den Seraskier noch nicht in seinen Händen ist.«

»Wenn das alle deine Bedenken sind, so steht es um den Bimbaschi gar nicht schlecht. Ich gebe niemals ein Versprechen, von welchem ich nicht vollständig überzeugt bin, das ich es halten kann. Den Seraskier brauche ich heute nicht. Und grad weil ich ein Christ bin, kannst du dich auf mein Wort mehr und mit größerer Sicherheit verlassen, als wenn ich ein Moslem wäre. Ich habe dir gesagt: Wenn du von den fünfunddreißig Personen keine entkommen lässest, bist du sofort Bimbaschi. Was ich gesagt habe, das gilt!«

»Allah! So bedenke, Effendi, daß keine entkommen ist!« »Das bedenke ich!« »Ich müßte also jetzt Bimbaschi sein!«

»Das bist du auch!«

»Aber ich sehe und merke nichts davon!«

»So schau hierher; dann wirst du es wohl sehen und merken!«

Ich zog das von Osman Pascha erhaltene Dokument heraus und gab es ihm. Er nahm es und las es. Ich hatte einen lauten, begeisterten Ausbruch der Freude erwartet, sah mich aber getäuscht. Als er mit dem Lesen fertig war, bewegte er sich nicht und blickte still und stumm vor sich nieder; dann ging über seinen Körper ein krampfhaftes Zucken, als ob er laut aufschluchzen müsse und dies noch unterdrücken wolle; aber aus seinen Augen rollten große Thränentropfen über die gebräunten, hagern Wangen. Hierauf sank er auf die Kniee nieder, faltete die Hände, hob sie empor und betete:

»Lob und Preis sei Gott, dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrscht am Tage des Gerichts. Dir wollen wir dienen, und zu dir wollen wir flehen, auf daß du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade sich freuen, und nicht den Weg derer, über welche du zürnest, und nicht den der Irrenden!«

Das war die erste Sure des Kurans, die »heilige Fatiha«, die »Eröffnende«, der Anfang, auch wohl Umm el Kitab genannt. Sie ist, wie bei uns Christen das heilige Vaterunser, das Hauptgebet der Muhammedaner und wird andern Gebeten gern als Einleitung vorangesandt. Dann fuhr er fort:

»Ich danke dir Gott, daß du mich begnadet hast mit deinem Segen! Es war dunkel in meiner Seele und finster in meinem Herzen. Das Meer der Trübsal umwogte mich, und die Fluten der Sorge gingen mir bis an die Lippen. Ich flehte zu dir, und du schienst mich nicht zu hören; ich rief dich an, und du wolltest nicht kommen, so glaubte ich. Aber du hattest meine Not gesehen und meine Worte wohl vernommen und wartetest nur eine Weile, bis die richtige Zeit gekommen sei, den Ratschluß deiner Güte auszuführen. Nun ist der Augenblick des Glückes angebrochen; deine Liebe hat sich meines Jammers erbarmt und mich mit Gnade überschüttet. Nun liege ich vor dir und blicke auf zu deiner Herrlichkeit, um dir den Dank zu stammeln, der auf zu deinem Himmel steigt. Du hast Großes an mir gethan. Dein Name sei gelobt und deine Huld gepriesen von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen!«

Nun stand er wieder auf, ergriff meine beiden Hände und sagte:

»Effendi, du bist ein Mensch, aber doch der Bote Allahs, den er hierher sandte, mir die Erhörung meines täglichen Gebets zu bringen. Verzeihe mir den Zweifel, den ich gegen diese schnelle Erfüllung deines Versprechens hegte! Du hast mich aus schwerer Not befreit; nun bin ich aller meiner Sorgen los und bitte dich, mit meinem Hause täglich für dich beten zu dürfen. Es wird vor Allah keine Sünde sein, wenn ein Moslem für einen Christen zu ihm bittet!«

»Eine Sünde! Dein Gebet wird ganz im Gegenteil vor Allahs Ohr einen doppelten Wohlklang haben. In der zweiundzwanzigsten Sure steht geschrieben: ›Siehest du denn nicht, daß alle Gott verehren, die im Himmel und auf Erden sind?‹ Denk ja nicht, daß euer Glaube der allein richtige sei! Und wenn er es wäre, grad dann müßtest du zu Allah für diejenigen flehen, die ihn nicht besitzen. Ich bete täglich für alle Menschen, welche keine Christen sind, also auch für dich. Und als du zu mir von deiner Not und Sorge sprachst, da nahm ich mir vor, dir zu helfen, und dachte dabei nicht daran, daß du in meinen Augen ein Ungläubiger bist. Also bete getrost für mich! Niemand bedarf es so sehr wie ich, daß für ihn gebetet wird.«

»Ja, Effendi, ich werde es thun. Und nun sag, was jetzt geschehen soll!«

»Ich habe mit Halef noch hier oben zu thun. Du aber begiebst dich hinunter zu deinen Leuten, um deine ganze Aufmerksamkeit auf die Gefangenen zu richten, denn du bist dafür verantwortlich, daß keiner von ihnen fehlt, wenn der Dscheneral kommt.«

»Du meinst Osman Pascha?«

»Ja.«,

»Er wird hierher kommen?«

»Ich wünsche es. Schicke sofort einen Boten auf einem schnellen Pferde zu ihm nach Hilleh! Er mag ihn holen und sein Führer zu uns sein.«

»Ich werde meinen besten Reiter senden. Und noch eine Frage, Effendi! Wirst du sie mir vielleicht übelnehmen?«

»Du wirst nichts fragen, was mir nicht gefällt. Also sprich!«

»Ich meine das Versprechen, welches du meinen Asaker gegeben hast –—«

»O, die zugesagten Piaster?«

»Ja. Sei mir nicht böse darüber, daß ich dich daran erinnere! Ich gönne ihnen eine solche bisher noch nie erlebte Freude von ganzem Herzen. Ich bin froh, da sollen auch sie fröhlich sein!«

»Diese Fürsorge und Teilnahme kann dich nur ehren. Ich sage auch hier.- Was ich verspreche, das halte ich. Sie bekommen das Geld.«

»Darf ich ihnen das sagen?«

»Ja.«

»Ich danke dir!«

Er ging, wendete sich aber nach einigen Schritten wieder um und sagte:

»Effendi, wenn in den Herzen aller Christen deine Lebe und deine Güte wohnte, so würde dein Glaube dem unsern sehr gefährlich sein. Allah segne und bewahre dich!«

Nun stieg er hinab.

Wir sahen dem alten, braven und jetzt so frohen Manne nach, bis er unten angekommen war. Ich fühlte mich tief bewegt von seinem Gebete und den darauf folgenden Worten. Halef ging es ebenso. Er sagte:

»Das ist wieder einer, den du glücklich gemacht hast, Sihdi! Ich weiß noch viel besser als er, wie gefährlich deine Nächstenliebe jedem Anhänger des Propheten werden kann, der mit dir in Berührung kommt. Anstatt dich, wie es mein fester Wille war, zum Islam zu bekehren, habe ich mich von dir zu Isa Ben Marryam führen lassen und sehe ein, daß ich dadurch geworden bin, was ich früher glaubte zu sein, aber doch nicht war, von ganzem Herzen glücklich nämlich! Du hast mir vorhin gesagt, daß jeder Soldat hundert und jeder Unteroffizier zweihundert Piaster bekommen soll; das sind über sechstausend Piaster. Wo willst du die hernehmen? Aus deinem eigenen Beutel? Da muß er viel tiefer und inhaltsreicher sein, als ich bisher dachte!«

»Wir haben Geld, lieber Halef, viel, viel mehr Geld, als wir brauchen!«

»Wo?«

»ich werde es dir zeigen.«

»Allah! Ich ahne es! Es steckt welches hier in den Ruinen?«

»Allerdings.«

»Wieviel?«

»Das weiß ich nicht; aber es scheint, daß es nicht wenig ist.«

»Maschallah! Wer wird es bekommen?«

»Meiner Ansicht nach bin ich verpflichtet, es dem Pascha auszuliefern.«

»Dem Pascha? Mir scheint, es giebt nur einen einzigen Pascha, der es zu bekommen hat, und der bist du!«

»Warum?«

»Weil du es entdeckt, gefunden hast.«

»Deine Ansicht vom Finden ist nicht die meinige.«

»So hast du wenigstens einen Finderlohn zu beanspruchen, und den mußt du so hoch wie möglich stellen!«

»Dazu bin ich allerdings entschlossen.«

»Wieviel wirst du verlangen?«

»ich fordere, daß unser Bimbaschi in Bagdad das wieder bekomme, was ihm der Säfir abgenommen hat.«

»Das ist gut; das freut mich sehr! Weiter!«

»Ferner sind davon die Belohnungen zu bezahlen, welche ich den Soldaten versprochen habe.«

»Auch das hat meine Billigung. Weiter!«

»Weiter nichts.«

»Wie? Weiter nichts? Für dich und auch für mich nichts?«

»Nichts!«

»Höre, Effendi, das ist so eine Stelle deines Verstandes, welche zugeklebt und ausgebessert werden muß! Bedenke doch, was wir alles unternommen und gewagt haben, und wie es uns dabei ergangen ist, um hinter die Geheimnisse des Birs Nimrud zu kommen! Und dafür sollen wir nichts, gar nichts erhalten? Kein Hamal und kein Schaggal biljomije arbeitet umsonst, und wir, die wir die tapfersten Helden des ganzen türkischen Reiches und auch aller andern Reiche sind, sollen unsere Freiheit und unser Leben wiederholt gewagt haben, ohne einen einzigen Para von dem Gelde zu bekommen, dessen Entdeckung man nur uns allein zu verdanken hat? O, Sihdi, du bist zu nobel, viel zu nobel!«

»Eben weil ich kein Hamal und kein Schaggal biljomije bin, verbietet es mir meine Ehre, für mich persönlich Lohn zu fordern. Ich bin überzeugt, daß auch dein Ehrgefühl dich hindert, dich wie einen Tagelöhner behandeln zu lassen!«

»Tagelöhner? Höre, Effendi, ich bin der oberste Scheik der berühmten Haddedihn vom großen Stamme der Schammar, und wehe dem, der es wagen sollte, mir die Ehrfurcht, welche ich fordere, zu versagen! Ich mag von diesem Gelde nichts, gar nichts! Keinen einzigen Para will ich haben! Ich finde es ganz vortrefflich von dir und stimme dir vollständig bei, daß wir viel zu hoch stehen, als daß uns dieses bißchen Geld verlocken könnte, auch nur einen einzigen Blick darauf zu werfen! Wir brauchen es nicht. Diese Angelegenheit ist also erledigt; die andere ist für mich viel wichtiger.«

»Welche?«

»Das Versprechen, welches du mir gegeben hast. Du willst dem frühern Kol Agasi und jetzigen Bimbaschi und seinen Soldaten dein Wort halten, und so hoffe ich, daß auch ich erlange, was du mir verheißen hast.«

»Was?« »Meine Kurbadsch für den Säfir!« »Dieser Wunsch wird dir in Erfüllung gehen.« »Wann?«

»Sobald wir ihn herausgeholt haben. Jetzt gehen wir zu ihm, um nachzusehen, wie er sich befindet. Dann nehmen wir die Räume in Augenschein, und wenn wir das gethan haben, schaffen wir ihn heraus. Du wirst leuchten.«

»Ich? Kann das nicht lieber ein Askari thun?«

»Nein. Es soll, bis der Pascha kommt, niemand das Innere des Birs Nimrud sehen, als nur du, ich und der Kammerherr, der ja nun einmal eingeweiht ist.«

»So mag der das Licht tragen!«

»Auch er nicht, denn wir nehmen ihn nicht wieder mit hinab. Er wird ganz froh sein, den finstern Gang verlassen zu dürfen.«

»Soll ich ihn holen?« »Ja.«

Als er ihn brachte, konnte der Pischkhidmät Baschi nicht verbergen, wie leicht er sich fühlte, dem Schikäm-i-Charabe, wie er es nannte, entronnen zu sein. Er holte tief, sehr tief Atem und rief, indem sein Gesicht vor Wonne strahlte, frohlockend aus: »Allah sei gepriesen, daß er es mir gestattet, das Licht des Tages wiederzusehen! Ich lag in den Banden der Finsternis und des Todes; aber er hat mich errettet durch meine große Zuversicht, mit der ich auf ihn hoffte. Der Säfir wollte mich töten, aber er wagte sich nicht an mich, denn ich bin der Liebling des Beherrschers, und er fürchtete sich vor meiner Tapferkeit. Ich bin ––«

»Wie – – wie war das? Was hast du gesagt?« unterbrach ihn Halef schnell.

»Hast du es nicht gehört?«

»Ich hörte dich freilich sprechen, aber ich traue meinen Ohren nicht. Hast du dich wirklich den Liebling des Beherrschers genannt?«

»Ja.«

»Und das hat den Säfir in Angst versetzt?«

»Ja.«

»Und er hat sich vor deiner Tapferkeit, höre es richtig: vor deiner Tapferkeit gefürchtet?«

»Ja.«

»So hast du es also seiner Angst vor dem Beherrscher und deiner Tapferkeit zu verdanken, daß du gerettet worden bist?«

»Ja, das habe ich.«

»Das sagst du mir so ruhig ins Gesicht?«

»Ich sage es nicht bloß dir, sondern jedermann, dem ich begegne, wird es von mir erfahren.«

»So! Dann will ich dir jetzt einen guten Rat erteilen: Sage es ja keinem Menschen in meiner Gegenwart!«

»Warum nicht?«

Der kleine Hadschi nahm seine Peitsche aus dem Gürtel und antwortete mit erhobener Stimme:

»Weil ich dir sofort hier diese Kurbadsch geben würde, welche du bereits kennen gelernt hast! Die Furcht vor dem Beherrscher! Ich sage dir, wenn dieser dein Beherrscher lauter solche Unterthanen hat, wie du bist, so ist er der traurigste Mensch, den es auf Erden geben kann! Und deine Tapferkeit? Kerl, du bist ein solcher Feigling, daß ich der Wahrheit gemäß behaupten kann: Es ist mir in meinem ganzen Leben noch kein so großer und verachtenswerter vorgekommen! Hier, mein Effendi ist’s, der dich gerettet hat, er allein! Ein Bettler dankt mir für die kleinste Gabe, und selbst ein Hund leckt die Hand, die ihm den härtesten Knochen giebt; du aber, der du dich für so erhaben über tausend Menschen dünkst, stehst tiefer als der Bettler und tiefer als der Hund, denn du hast kein einziges Wort der Erwähnung für den Retter aus der größten Todesnot. Also ich warne dich: Wagst du es, deinen Beherrscher und deine Tapferkeit in meiner Gegenwart zu erwähnen, so gerbe ich dir das Fell, daß es in Stücke platzt! Du bist mir ein verächtlicher Wurm; deine Gegenwart widert mich an. Mach dich augenblicklich fort von uns, sonst fange ich schon jetzt an, zuzuhauen!«

Er holte mit der Peitsche zum Schlage aus; da flog der Perser in einem vor Angst so weiten Sprunge von ihm fort, daß er über den Rand der heraufführenden Böschung hinausgeriet und, anstatt festen Fuß zu fassen, mit dem Rücken auf das lockere Geröll niederkrachte, welches, ihn in eine Lawine hüllend, mit ihm in die Tiefe schoß.

»Da fährt er hin, doch ohne Pferd und Wagen!« lachte Halef. »Nimm mir es nicht übel, Sihdi, aber solche undankbare Halunken könnte ich umbringen! Paß auf, Sihdi, er wird dir zumuten, ihm zur Wiedererlangung seines Eigentums behilflich zu sein; aber ich sage dir, wenn du nur noch eine Lippe oder einen Finger für ihn bewegst, so schreibe ich deiner Dschanneh, welche die Zierde deines Harems ist, einen monatelangen Brief, in welchem ich ihr erkläre und beweise, daß sie im höchsten Grade unglücklich ist, wenn sie sich nicht so schnell wie möglich an einen andern Türken verheiratet. Paß nur auf, das thue ich, das thue ich ganz bestimmt.«

»Wenn du zu solchen Mitteln greifst, lieber Halef, so sehe ich mich freilich gezwungen, deinen Wunsch als einen Befehl zu nehmen, dem ich zu gehorchen habe.«

»Das erwarte ich allerdings von dir! Es giebt keinen größern Lump auf Erden, als einen Menschen, welcher undankbar ist. So! jetzt ist der Zorn heraus, und nun will ich wieder dein alter, stiller Halef sein!«

»Still? Hm!«

»Hm? Warum hmst du denn? Hältst du es etwa nicht für wahr, daß ich ein sehr stiller Charakter bin?«

»O, ich halte es für sehr wahr, nur freilich in grad entgegengesetzter Weise, als du es gemeint hast.«

»Wieso?«

»Dein Charakter ist so überwältigend, daß andere ganz still sein müssen.«

»Andere? ja, richtig! Es ist auch wirklich oft sehr notwendig, daß man einen solchen Charakter hat! Du bist zu gut, viel zu gut, und wenn da nicht ich mich zuweilen in deine großen Lücken stellte, so würde das Belad esch Schark wohl wenig Freude an uns erleben. Ich bin auch in dieser Beziehung dein unermüdlicher Führer und Beschützer. Nun aber komm, sonst stirbt der Säfir vor Sehnsucht nach unserer Gegenwart!«

Wir begaben uns also wieder in den Gang, und zwar nach der Nische, in welcher die Lämpchen standen. Als wir da Licht gemacht hatten, gingen wir nach der Ecke, wo die Stufen hinabführten. Den im Gange liegenden Waren schenkten wir zunächst keine Beachtung, sie interessierten uns nicht. Zwar war anzunehmen, daß sich unter ihnen auch die der Karwan-i-Pischkhidmät Baschi abgenommenen wertvollen Sachen befanden, aber da wir uns vorgenommen hatten, uns mit diesem Menschen nicht mehr zu befassen, so ging uns auch sein Eigentum nichts an.

Im Raume Nummer Eins unten angekommen, verschoben wir die Untersuchung desselben noch für kurze Zeit, um zunächst nach dem Säfir zu sehen, der sich in Nummer Drei befand. Er stand oder vielmehr er hing noch genau in derselben peinlichen Lage, in welcher wir ihn verlassen hatten, an den eisernen Vorhangsstäben. Er war gezwungen, sich nicht zu bewegen und den Kopf unausgesetzt hoch zu halten, denn sobald er ihn senkte, wurde ihm durch den eng um den Hals liegenden Strick der Atem genommen. Er befand sich also in steter Angst vor dem Erstickungstode, und so war es leicht erklärlich, daß er uns bei unserm Eintritte im höchsten Zorn entgegenrief:

»Endlich laßt ihr euch wieder einmal sehen! Ist das die Art der Christen und Sunniten, Menschen zu behandeln! Bindet mich los, und gebt mich frei, wenn euer Leben für euch nicht weniger als einen Pulverschuß Wert besitzt! Ich gehe zum Sandschaki, und wehe euch, wenn er erfährt, was ihr hier zu unternehmen wagtet! Nur meine Fürsprache kann euch vor dem Ärgsten retten!«

Halef stellte sich breitspurig vor ihn hin und fragte:

»Ah! Unser Fürsprecher willst du sein?«

»Ja; aber nur, wenn ihr eurer Feindseligkeit gegen mich sofort ein Ende macht!«

»O, wir sind ganz begierig darauf, dir Freundlichkeiten zu erweisen! Leider aber würden sie uns nichts nützen, weil deine Fürbitte ebenso machtlos wie dein Sandschaki ist. Er steckt im Kerker, und Ketten schmücken seine Hände!«

»Das ist Lüge!«

»Keine Beleidigung, sonst beweise ich dir mit der Peitsche, daß ich die Wahrheit spreche! Grad du darfst dich nicht darüber wundern, daß ich vom Gefängnisse spreche, denn nur du allein trägst die Schuld, daß er eingesperrt worden ist!«

»Ich – –?!«

»Ja, du! Es war die größte aller Dummheiten, die es giebt und geben kann, daß du den Pädär-i-Baharat mit einer Schrift zu ihm schicktest, welche entdeckt und ihm abgenommen worden ist. Man weiß nun nicht nur, was du hier im Birs zu suchen hast, sondern man kennt auch alle eure andern Heimlichkeiten. – Doch, was habe ich mich mit dir abzugeben! Es giebt hier mehr zu sehen, als dich, einen Menschen, der nicht wert ist, daß man ihn nur mit einem einzigen Blick begnadet!«

Ich hatte nämlich nicht auf ihren Wortwechsel geachtet und war mit dem Lichte nach Nummer Zwei gegangen. Jetzt kam mir Halef dorthin nach. Wir sahen uns in diesem Raume und dann auch in dem andern um. Unser alter Bagdader Gastfreund hatte wirklich nicht zu viel von den hier hoch aufgestapelten Waren erzählt. Es gab da eine so tadellose Ordnung, daß man hätte meinen können, sich in einem wohlgeleiteten kaufmännischen Magazin zu befinden. Jeder Pack und jeder Gegenstand hatte eine Etikette, welche sich auf seinen Inhalt bezog. Wir brauchten also nur diese Aufschriften zu lesen, um zu erfahren, was alles hier vorhanden war.

Es gab da Tabak aus Räscht, besten Opium, Haschisch, Tamariskenhonig, Hennah, Krapp aus Täbriz, Safran und Saflor, getrocknete Hallagäh- und Angur-i-Ali-Deresi-Trauben, gedörrte Melletzu- und Gulab-i-Schahi-Birnen, Kischmisch- und Savsa-Rosinen, Gulab und das herrliche teure Atr-i-gul. Das Gegenteil davon, nämlich Asa foetida, war auch vorhanden. Es waren da verzeichnet wohlriechende Seifen aus der Stadt Kum, Demawendi-Schwefel, Arsenik aus Kaswin, ferner kostbare Lammfelle von Bokhara und Kum, große, schwere Ballen Maroquins, in Persien Tscherme hamadahni genannt, und Saghri-Chagrins, welche aus der Rückenhaut des wilden Esels gefertigt werden. Außerordentlich reich war das Lager an den verschiedensten Kleiderstoffen, als Sammet, Seide, Wolle, Baumwolle u. s. w., ebenso an köstlichen Shawls und Teppichen. Der Säfir mußte sich hier vollständig sicher gefühlt haben, denn sonst hätte es ihm nicht einfallen können, solche Werte an dieser Stelle aufzustapeln. Mit welchen Gefühlen mochte er nun Zeuge davon sein, daß wir seine Schätze so ungestört und mit Gemächlichkeit betrachteten! Er verhielt sich ruhig und sagte lange, lange Zeit kein Wort; aber als wir an die schon einmal erwähnte Truhe kamen und ich, um sie zu öffnen, den ihm abgenommenen Schlüssel hervorzog, da schrie er mit hier in diesem Raume schmetternder Stimme auf:

»Halt! Wagt euch nicht an diesen Kasten!«

Ich steckte natürlich den Schlüssel trotzdem an und drehte ihn im Schlosse um. Als er das Geräusch hörte, brüllte er:

»Ich warne euch bei Allahs Namen: Berührt dort nichts! Es liegt ein Sihhr darin verborgen, der jedem, der ihn berührt, Verderben bringt!«

»Das freut mich außerordentlich!“ lachte Halef. »Dieser dein Zauber gehört wahrscheinlich in das Gebiet der schwarzen Simijah, und da ich mich nun sehr gut auf die weiße Simijah verstehe, so habe ich hier die beste Gelegenheit, zu erfahren, welche mächtiger ist, die schwarze oder die weiße.«

»Die schwarze, die schwarze ist mächtiger! Hüte dich! Rühr nichts an!«

»Wenn das wirklich wahr ist, was du sagst, so brauchen wir uns dennoch nicht zu fürchten, denn mein Effendi ist Meister in der blauen, roten, grünen, und gelben Simijah, und du wirst gleich sehen, daß deine einfache, schwarze gegen diese vierfache und bunte Wissenschaft unmöglich aufkommen kann! Also öffne, Sihdi, öffne getrost!«

Ich hob den Deckel auf.

»Mach zu, mach wieder zu!« warnte der Säfir mit überschnappender Stimme. »Der Zauber bringt dich sonst um dein ewiges Leben, um deine ganze Seligkeit!«

»Mach dich nicht lächerlich!« antwortete ich jetzt. »Glaubst du denn wirklich, daß ein Europäer, ein Christ, so dumm sein kann, eine solche Albernheit zu glauben, über welche dich bei uns jedes Kind verspotten würde? Die Truhe ist geöffnet; nun, wo ist dein Zauber?«

»So sei verflucht im Leben und verdammt in Ewigkeit!«

Da sprang Halef hin zu ihm; der Schein der Lampe reichte nicht so weit. Ich hörte einen klatschenden Hieb und einen Schmerzensschrei; dann war es still. Der Hadschi kehrte zurück und sagte nichts. Selbst wenn er etwas hätte sagen wollen, wären ihm bei dem Anblicke, der sich ihm hier bot, die Worte wohl auf der Zunge liegen geblieben. Wie ein kleiner Knabe, dem eine große, ungeahnte Überraschung wird, spreizte er die Finger aus und starrte auf das flimmernde Gold und Silber und auf die funkelnden Edelsteine, welche vor uns lagen. In holzgeschnitzten Schalen sahen wir, offen, nicht in Rollen gepackt, in- und ausländische Gold- und Silberstücke in Haufen, während eingelassene Fächer eine Menge geschliffene oder ungeschliffene Halb- und Ganzedelsteine enthielten. Auch gab es Ringe, Ketten, Hals- und Armbänder, Haar- und andern Schmuck in Menge. Was dieser Kasten enthielt, das war ein Vermögen, wirklich ein Vermögen! Und als ich einige Fächer herausnahm, erblickte ich kostbare Pistolen und Dolche, welche den untern Teil der Truhe füllten. Dabei lagen zwei Bücher. Ich schlug sie auf. Wer hätte das denken sollen! Es waren die Geschäftsbücher, welche eine ganze Reihe von Jahren zurückreichten und ein genaues Verzeichnis aller Aus- und Eingänge enthielten. Das war ja staunenswert!

»Maschallah!« ließ sich Halef endlich hören. »Mein Verstand steht still! Sihdi, gieb mir einen Stoß in die Rippen, daß er wieder in Bewegung kommt!«

»Steckt er bei dir zwischen den Rippen?« fragte ich.

„Wo er steckt, das kann ich in diesem Augenblick nicht wissen; ich fühle nur, daß er nicht da ist, wohin er gehört. Welch ein Geld! Welch eine Pracht der Steine! Ich bin kein Dschohardschi und weiß also nicht, wie sie heißen. Kennst du vielleicht die Namen?«

»Was nützt es, wenn ich sie dir aufzähle? Die Steine werden dadurch doch nicht unser!«

»Ja, eigentlich betrübt es meine gefühlvolle Seele sehr, daß ich sie nur betrachten, aber nicht in meine Tasche stecken darf! Sieh dieses herrliche Suwahri! Was sind das für Steine?«

»Ein Almahs, ein Sumrud und ein Jakut, woran sich die dreifachen Firuzareihen schließen.«

»O, Sihdi, wie würde meine Hanneh jubeln, die schönste unter den Schönheiten aller erschaffener Frauen, wenn ich ihr diesen Schmuck mitbrächte, um ihn an ihren geliebten Arm zu legen! Stehen wir wirklich gar so hoch, daß wir gar nichts wegnehmen dürfen?«

»Ja.«

»Und ist unsere Ehre wirklich von so großer Erhabenheit, daß wir sie durch einige solche Steine beleidigen würden?«

»Ganz gewiß.«

»So denke an Dschanneh, die lieblichbraune Herrin deines Frauenzeltes! Liebt sie es nicht auch, sich zu schmücken?«

»Ihr und mein bester Schmuck ist Ehrlichkeit, und alles, was hier liegt, ist fremdes Eigentum. Bedenke das!«

»Ich bedenke es! Zugleich bedenke ich aber auch, daß es eine wahre Schande ist, diesen Reichtum entdeckt zu haben, ohne ihn behalten zu dürfen. Hoffentlich ist es wenigstens erlaubt, einmal so recht mit allen zehn Fingern hineinzugreifen?«

»Dagegen habe ich nichts. Wenn es dir Vergnügen macht, so thue es!«

»Sogleich, sogleich! Sieh, wie das funkelt, wie es strahlt!«

Mein kleiner Hadschi war ein grundehrliches Kerlchen; aber dieses Metall und diese Steine thaten es ihm doch an. Darum sagte ich ihm, indem er darinnen wühlte und sie aus einer Hand in die andere gleiten ließ:

»Ein freundlicher Strahl aus dem Auge deiner Hanneh ist schöner und tausendmal mehr wert, als diese ganze leblose und künstliche Flimmerei!«

Da zog er die Hände schnell zurück, sah mir mit warmem Blick in das Gesicht und antwortete:

»Das ist sehr wahr, Sihdi! In den Augen, von denen du sprichst, wohnt ein Licht der Liebe, gegen welches dieses Gefunkel hier die reine Finsternis, der unsichtbare Neumond ist. Ich bin reicher, viel reicher, als der arme Teufel, dem dieses Geld und diese Steine da gehören werden. Ich tausche nicht mit ihm! Ein fröhliches Lachen aus dem Munde meiner Hanneh, der herrlichsten aller Frauen, klingt schöner als das Klirren dieser Münzen. In ihren Augen und ihrem Lächeln wohnt die Seele, in diesen toten Schätzen aber ist keine—- Allah, was sehe ich!«

Er hatte, wie zur Erklärung, wieder in die Schmucksachen gegriffen und das erste beste Stück herausgenommen. Sein Ausruf lenkte auch meinen Blick auf diesen Gegenstand.

»Ein Bild, Sihdi, ein Bild!« fuhr er fort. »Das muß einem Christen gehört haben, denn einem Moslem ist es ja verboten, sich malen zu lassen. Und doch ist die Kleidung dieses Mannes und dieses Weibes keine fränkische, sondern persisch. Schau es an!«

Er gab mir das kleine, mit Edelsteinen eingefaßte Doppelporträt. Als mein Auge darauf fiel, hätte ich beinahe einen Ruf der Überraschung ausgestoßen. Ich kannte den Perser, dessen Konterfei ich vor mir sah. Es handelte sich nicht um eine zufällige Ähnlichkeit, sondern er war es, war es unbedingt und ohne Zweifel selbst, nämlich Dschafar, mit dem ich damals drüben im Westen der Vereinigten Staaten zusammengetroffen war. Neben ihm sah ich ein wunderschönes, orientalisches Frauenangesicht mit geheimnisvollen Dunkelaugen, aber kalten, unerbittlichen Lippen und rätselhaften Sphinxzügen, ein Gesicht, welches mich sofort, doch nicht etwa den Menschen, sondern den Psychologen in mir, gefangen nahm. Das Original zu diesem weiblichen Porträt war sicher keine im Harem psychisch vernachlässigte, sondern ganz gewiß eine geistig bedeutende Persönlichkeit. Und als ich schärfer hinschaute, bemerkte ich unter den Bildern zwei feine, in das Gold des Rahmens gegrabene Unterschriften. Diejenige, welche unter dem männlichen Porträt stand, lautete »Dschafar Mirza« und die unter dem weiblichen »Schahzadeh Khanum Gul«.

Man muß wissen, daß das Wort Mirza, wenn es vor dem Namen steht, ein allgemeiner Titel ist, welcher jedem gebildeten Manne, besonders aber Gelehrten, Dichtern etc. gegeben wird, z. B. Mirza Schaffy, der bekannte Freund Bodenstedts; steht er aber hinter dem Namen, so bedeutet er den Rang eines Prinzen. Mit dem Schah nahe- und blutsverwandte Prinzen werden Schahzadeh tituliert. Steht das eine Dame bezeichnende Wort Khanum hinter dieser Bezeichnung, so ist eine Prinzessin gemeint. Hieraus folgt, daß mein früherer Reisegenosse Dschafar ein Prinz und das Original des andern Bildes eine mit dem Schah von Persien verwandte Prinzessin war. Durch die Vereinigung der beiden Bilder war ich natürlich veranlaßt, auch die Personen in nahe Beziehung zu einander zu bringen; aber welches das Verhältnis war, in dem sie sich berührten, das konnte ich freilich nicht wissen. Aus dem Umstande, daß sie sich dem Verbote des Islam entgegen hatten abbilden lassen, war zu schließen, daß sie über der gewöhnlichen muselmännischen Denkweise erhaben standen, was bei dem weitgereisten Dschafar Mirza kein Wunder war; in Beziehung auf die Schahzadeh Khanum aber ergab sich daraus die wahrscheinlich berechtigte Folgerung, daß sie eine jener selbständigen Damen sei, vor denen der Orientale ein Grauen hat. Hat es schon bei uns einen eigenen Beigeschmack, wenn wir von einer »emanzipierten Frau« sprechen, so tritt dieser goût hétérogène im Oriente noch viel mehr hervor. Wer es fertig bringt, alle Traditionen und Rücksichten außer acht zu setzen und die Fesseln des so streng abgeschlossenen dortigen Frauenlebens zu sprengen, der ist gewiß mit einem explosiven Temperamente ausgerüstet oder hat – ich bitte, mich eines Lieblingsausdruckes meines kleinen Halef bedienen zu dürfen – verschiedene Schejatin im Leibe sitzen. Daher der Widerwille des Orientalen, den Frieden seines Harems durch eine solche »Teufelin« in das Gegenteil umwandeln zu lassen.

Daß die Prinzessin Gul hieß, war eigentlich gar nichts Auffälliges, und doch dachte ich sonderbarerweise dabei sogleich an die Gul-i-Schiraz. Vielleicht war das eine Folge des Eindruckes, den das Bild auf mich machte. Die sphinxartigen Züge des Gesichtes paßten ja ungemein zu der Rätselhaftigkeit, weiche die geheimnisvolle »Rose von Schiras« für mich hatte.

Alle diese Gedanken gingen mir sehr schnell durch den Kopf, und doch blieb es für Halef nicht unbemerkt, daß die Porträts kein gewöhnliches Interesse für mich hatten.

»Du siehst die Bilder so eigentümlich an, Sihdi,« sagte er. »Kennst du etwa diesen Mann oder das Weib oder wohl gar beide?«

»Sprich leise!« warnte ich mit unterdrückter Stimme, indem ich das Bild in meine Tasche schob. »Der Säfir darf nichts davon hören.«

»Allah! Du steckst es ein!« flüsterte er. »Willst du es behalten?«

»Ja.«

»Aber du hast doch noch soeben gesagt, diese Sachen seien fremdes Eigentum!«

»Ich hatte das Bild noch nicht gesehen.«

»Es scheint dich plötzlich aus der großen Erhabenheit deiner Ehre herabgezogen zu haben. Wie nun, wenn ich mich durch die Schönheit des Armbandes auch herabziehen ließe?«

»Das ist etwas ganz anderes. Es hat mit diesem Bilde eine ganz eigenartige Bewandtnis, die ich dir jetzt nicht erklären kann. Ich darf es nicht hier liegen lassen; ich muß es mitnehmen. Vielleicht treffe ich den rechtmäßigen Eigentümer, dem es wahrscheinlich gestohlen wurde. Auch scheint es mit einem Geheimnisse zusammenzuhängen, dessen Lösung auf unserm Wege liegt. Es ist kein Diebstahl, den ich begehe, nicht einmal eine Unehrlichkeit, sondern ich habe das Recht, und die Klugheit gebietet mir, es zu nehmen. Komm, wir wollen gehen!«

»Wohin?«

»Hinunter zu den Soldaten.«

»Lassen wir den Säfir hier?«

»Nein; wir nehmen ihn mit.«

»Und wie steht es mit den Hieben, die seinen Rücken und meine Seele erfreuen werden?«

»Hat das so große Eile?«

»Ja, sehr große, Sihdi! Ich behalte das, was andere zu bekommen haben, nicht gern auch nur eine Minute länger, als unbedingt nötig ist, also auch die Hiebe, welche schon längst in seinen Besitz hätten übergegangen sein sollen. Ich will und muß sie los werden, denn es stört mich in meinem Wohlbefinden, wenn ich sie noch länger mit mir herumtragen soll!«

So wollen wir uns jetzt sputen, damit du ja so schnell wie möglich von dieser schweren Last befreit wirst!«

Ich schloß die Truhe wieder zu und steckte den Schlüssel wieder ein. Als wir dann zum Säfir traten und der Lichtschein auf ihn fiel, bemerkte ich auf der rechten Seite seines Gesichtes eine beginnende Geschwulst. Das war die Folge des Hiebes, mit welchem sein grasser Fluch vorhin von Halef beantwortet worden war. Wir banden ihn von den Stäben los und gaben seine Füße frei, schnürten ihm aber die Ellbogen so fest auf dem Rücken zusammen, daß er, trotzdem er nun laufen konnte, ganz in unsere Hände gegeben war. Dann stiegen wir hinauf. Er ging mit, ohne sich zu weigern und aber auch ohne ein Wort zu sprechen. Es war, als ob der in ihm kochende Grimm ihn ersticken wolle. Als wir oben in das Freie traten, wirkte sein Gesicht ganz anders als unten bei dem unzureichenden Lichte des kleinen Lämpchens. Zu der schon vorhandenen gewesenen und ihn entstellenden Narbe auf der linken Seite seines Gesichtes war jetzt die schnell wachsende und sich dunkel färbende Geschwulst der andern Seite gekommen; dazu der lange, zerzauste Bart, der drohende Blick der blutunterlaufenen Augen und die weit herabhängende Unterlippe. Es überlief mich ein Grauen, ein körperlicher und geistiger Ekel, als ich dieses mehr als abstoßende Gesicht so vor mir sah!

Er wollte abwärts schreiten; ich befahl ihm aber, sich niederzusetzen, was er still, aber mit einem Blicke that, der mich vernichtet hätte, wenn es auf den Besitzer des Auges angekommen wäre.

»Wir wollen den Eingang verschließen,« sagte ich zu Halef.

»Womit?«

»Mit den Ziegeln, welche hier liegen.«

Als der Säfir diese Worte hörte, ließ er ein höhnisches Räuspern hören. Ich fuhr als Antwort auf diese Verspottung fort:

»Das ist nämlich ganz leicht, wenn man die Sache kennt. Du kannst dich doch, lieber Halef, auf die Schrift besinnen, welche ich dem Pädär-i-Baharat aus der Tasche genommen und, nachdem ich sie gelesen hatte, wieder hineingesteckt habe?«

»Ja, Sihdi.«

»Sie enthielt eine Zeichnung, welche sich auf diesen Eingang bezog. Es ist kaum glaublich, wie unendlich dumm alle diese Menschen gewesen sind! Durch diese Zeichnung wurde mir das Geheimnis verraten. Es war der Weg von da unten bis hier herauf ganz genau angegeben und auch die Schrift abgebildet, an welcher der letzte Stein, der eigentliche Verschlußziegel, zu erkennen ist. Es war babylonische Keilschrift, die ich lesen kann; darum war es sehr leicht, mir die Zeichen einzuprägen, so daß ich sie nicht wieder vergessen habe. Diese Menschen aber verstehen nichts von dieser Sprache und von dieser Schrift und müssen sich also mit Abbildungen des Steins behelfen. Die betreffenden Zeichen bedeuten die Worte ›– – – romen ‚a. Illai in tat kabad bad ‚a Illai‹.5 Ich werde jetzt nachsehen, welcher Stein diese Worte enthält.«

Die Ziegel waren so vorsorglich nach der Reihe gelegt, daß es nur eines Blickes bedurfte, den zu finden, welchen er meinte. Ich deutete auf ihn und fuhr fort:

»Hier sehe ich ihn. Er enthält ganz genau die Zeichen, welche mir durch die unverzeihliche und unbegreifliche Unvorsichtigkeit des Pädär-i-Baharat verraten worden sind, und ist also der letzte, welcher eingefügt werden muß. Daraus folgt, daß ich mit den Ziegeln, die auf der ihm entgegengesetzten Seite liegen, beginnen muß.«

»Allah zerreiße diesen leichtsinnigen Halunken!« knirschte der Säfir. »Dich aber verfluche er bis – –«

Er verschlang die übrigen Worte, denn Halef zog die Peitsche und holte zum Hiebe aus.

»Das ist dein Glück, daß du den Zibi den du sprechen wolltest, wieder auf den Unrat, der dein Inneres füllt, zurückgeschlungen hast,« sagte er. »Ich hätte dich durch diese Peitsche gezwungen, es zu thun. Soll ich dir helfen, Effendi, die Steine zusammenzufügen?«

»Nein,« antwortete ich. »Diese Arbeit muß ich alleine thun. Es wird da leichter und auch schneller gehen als mit deiner Hilfe.«

Indem ich die überall sehr scharfen, aber vielfältigen und höchst unregelmäßig verlaufenden Kanten des Einganges betrachtete, welche keine gerade, sondern eine nach allen Richtungen zickzackende Linie bildeten, und von unten herauf diejenigen Steine, welche in die Zickzacke paßten, aufeinander setzte, wurde es mir nicht schwer, das Loch in so kurzer Zeit zuzusetzen, als ob ich diese Arbeit schon oft ausgeführt hätte. Als ich zuletzt den Schlußstein eingefügt hatte, wäre es einem Uneingeweihten wohl nicht möglich gewesen, bei Betrachtung dieser Mauerstelle zu erraten, daß hinter ihr ein Gang verborgen war. Die einzelnen Stücke paßten so genau an- und aufeinander, als ob sie seit dem Bau des babylonischen Turmes nie von einer Hand berührt worden seien. Die Leute, welche den Gang entdeckt und diesen Verschluß desselben hergestellt hatten, waren sehr vorsichtige und sorgsam arbeitende Personen gewesen.

So sehr mich das Gelingen dieser meiner Arbeit befriedigte, so groß war der Grimm des Säfir über diesen Erfolg. Ich sah trotz des dichten Schnurrbartes, daß seine Lippen vor Wut bebten. Er hätte diesen Gefühlen wohl gern durch entsprechende Worte Luft gemacht; aber der Hadschi hatte die Peitsche noch immer in der Hand, und die Furcht vor dieser Omm es Sefa, wie Halef sie gern nannte, zwang ihn, still zu sein.

Es war nun Zeit, die Höhe zu verlassen, und so stiegen wir hinab. Halef ging voran, ich hinterher; der Säfir mußte, von mir scharf beobachtet, in der Mitte schreiten. Als wir bei den Soldaten ankamen, stand der neue Bimbaschi von dem Platze auf, wo er gesessen hatte, und meldete mir:

»Effendi, der Bote nach Hilleh ist längst fort, und ich habe ihm befohlen, sich möglichst zu beeilen. Darf ich vielleicht nun die Pferde hierher zurückkommen lassen?«

»Ja. Ich werde inzwischen den Askari holen, der in der Nacht mit uns gegangen ist.«

»Soll ich nicht lieber nach ihm schicken?«

»Nein; man würde ihn nicht finden.«

Ich ging selbst, weil ich es nicht für geraten hielt, daß noch mehr Personen als dieser eine Askari den Ort erfuhren, wo ich mit dem Kammerherrn in den Turm gestiegen war. Als ich zu ihm kam, lag er in dem weichen Schutt und schlief. Ich weckte ihn und befahl ihm, mir zu folgen. Er rieb sich die Augen und kletterte, bald stolpernd und bald auf allen Vieren oder auf dem Rücken rutschend, hinter mir her. Ich führte ihn aus Berechnung nicht gleich auf die Ebene hinaus, sondern in der Weise zwischen Mauerresten hindurch und über Trümmerhaufen hinweg, daß er, zumal infolge seiner Schlaftrunkenheit, über die Richtung irre wurde, und, als wir die Ruinen endlich hinter uns hatten, stehen blieb, und, indem er mit Kopfschütteln zurückblickte, sagte:

»Dieser Rückweg war bös, Effendi; der Hinweg in der Nacht war besser. Da war es aber dunkel; ich sah und hörte lange Zeit nichts mehr und schlief darum ein. Wo sind wir denn eigentlich gewesen?«

»Das mußt du doch wissen!« antwortete ich, sehr befriedigt von dem Gelingen meiner List.

»Ich weiß es nicht. Wir sind jetzt durch ein solches Wirrwarr geklettert, daß ich die Stelle, wo ich geschlafen habe, ganz gewiß nicht wiederfände, wenn ich sie suchen sollte.«

»Es wird dir niemand auftragen, sie zu suchen. Also beruhige dich und komm!«

Als wir die Asaker von weitem sahen, bemerkte ich, noch ehe wir sie erreicht hatten, daß dort etwas Ungewöhnliches vorgekommen war. Ich verdoppelte also meine Schritte. Ich wurde gesehen; der von ihnen gebildete Kreis öffnete sich; Halef kam mir entgegen und rief mir zu-.

»Sihdi, denke dir, der Kerl wollte den Kol Agasi, welcher jetzt Bimbaschi ist, erwürgen!«

»Welcher Kerl? Der Säfir?«

»Ja.«

»Wie konnte er auf den Gedanken kommen? Er ist doch gebunden und hat eine schwer verwundete Hand!«

»Mit dieser Verwundung steht es nicht so schlimm wie wir dachten. Er kann die Finger, oder wenigstens einige davon, noch ganz gut bewegen.«

»Aber die Hände waren ihm doch auf den Rücken gebunden; da war ein solcher Angriff meines Erachtens vollständig unmöglich!«

»Ja, Effendi, er hatte sie ja doch nicht mehr auf dem Rücken!«

»Wo denn?«

»Sie waren frei.«

»So hast du wieder einmal eine deiner Eigenmächtigkeiten begangen. Halef, Halef, du wirst in deinem ganzen Leben nicht anders werden, als wie du warst und leider jetzt noch bist!«

»O, Sihdi, wünsche ja nicht, daß ich anders werde! Dir gehört ja mein ganzes Herz, und wenn das nicht so bleiben dürfte, so müßte ich dir die Liebe und Freundschaft entziehen, durch welche mein Leben und auch das deinige verschönert werden. Ich bitte, zu glauben, daß ich ganz so bin, wie ich sein soll. Wenn du annimmst, daß ich einen Fehler begangen habe, so irrst du dich.«

»Du scheinst ihm aber doch die Hände freigegeben zu haben!«

»Nur für einen Augenblick.«

»Warum?«

»Ich wollte dich rächen.«

»Das war falsch. Du weißt, wie und was ich über die Rache denke; ein Christ rächt sich nie.«

»So will ich nicht Rache, sondern Strafe sagen.«

»Wenn ein Mensch meinetwegen zu bestrafen ist, so habe ich darüber zu bestimmen, nicht aber du. Was wolltest du denn bestrafen?«

»Daß er dich da oben im Gefängnisse so krumm gefesselt hat. Das mußte dir Schmerzen verursachen, die ich jetzt ihm selbst auch einmal fühlen lassen wollte. Du wirst zugeben, daß er das verdient hat!«

»Dieses sein Verdienst will ich gern anerkennen, nur durftest du ihm diese Anerkennung nicht ohne meine Erlaubnis erteilen.«

»Du bliebst mir zu lange fort, und es drängte mich, ihn von meiner Dankbarkeit so bald wie möglich zu überzeugen. Darum ließ ich ihm die Hände von dem Rücken lösen, um ihn grad so zu binden, wie er dich gefesselt hatte. Das war doch ein Gedanke, den du billigen mußt, gegen den du gar nichts haben kannst!«

»Das ist deine Ansicht, aber nicht die meinige. Ihr bandet ihm also die Hände los, und er machte natürlich dann sogleich Gebrauch von ihnen?«

»Allerdings. Dieser Halunke hatte nicht genug Gegenwart der Geistesgaben, um einsehen zu können, daß ihm dies verboten war. Der frühere Kol Agasi und jetzige Bimbaschi hatte, während er ihm die Hände frei machte, einige Worte gesagt, welche ihn in die Übelkeit des Mißbehagens versetzten; er krallte seine Finger um seinen Hals, riß ihn nieder und drückte ihm die Adern so zusammen, daß das Gesicht die Farbe einer Burneta el Kastar annahm, mit welcher die Europäer bei großen Feierlichkeiten ihre Häupter nach oben zu verlängern pflegen. Es wurde uns himmelangst um den Angegriffenen, dessen Atem die Bequemlichkeiten seines irdischen Daseins verlassen wollte, denn der Säfir hing so fest an ihm wie ein Wüstenfloh, der sich in die nackte Zehe eines Wanderers verbissen hat. Mehrere Männer hatten trotz seiner verletzten Hand sehr zu thun, ihn loszulassen. Er wurde natürlich sofort in der Weise gebunden, wie ich es beabsichtigt hatte; aber die Ausdrücke, welche wir dabei von ihm zu hören bekamen, kann ich dir nicht berichten, denn sie enthielten solche Lästerungen Allahs und so große Beleidigungen unserer Personen, daß auch ich lästern und beleidigen wurde, wenn ich sie wiederholte. Er schimpft noch jetzt aus voller Kehle. Hörst du ihn? Komm also mit hin! Ich hoffe, daß du mir gestattest, ihm meinen Standpunkt nun endlich einmal klar zu machen, aber nicht etwa auch auf seinen Stand-, sondern auf denjenigen gefühlvollen Punkt, auf welchem er zu sitzen pflegt. Es ist die höchste Zeit für ihn, zu erfahren, daß diejenigen Empfindungen die lieblichsten sind, deren Dasein man auf der von mir erwähnten Stelle bewiesen bekommt!«

Er fuchtelte, um mir den tief humanen Sinn seiner Worte zu erklären, energisch durch die Luft und schritt mir dann nach der Stelle voran, wo der Säfir lag oder vielmehr saß.

Dieser war krumm geschlossen, und zwar so, daß man hätte meinen sollen, es sei ihm kaum möglich, Atem zu holen, brüllte aber trotzdem wie ein unvernünftiges Wesen in einem fort und ließ Flüche und Drohungen hören, welche geradezu empörend und, wenigstens was die letzteren betraf, bei seiner hilflosen Lage im höchsten Grade lächerlich waren. Als er mich erblickte, erhob er seine Stimme bis zum Überschnappen und warf mir Verwünschungen entgegen, welche förmlich das Gefühl des Zurückprallens erregten. Seine Lippen geiferten; die rot unterlaufenen Augen gaben seinem an sich schon widrigen Gesichte einen nicht bloß tierischen, sondern viehischen Ausdruck; ich hatte keinen Menschen, sondern eine unsagbar niedrige, gemeine Kreatur vor mir, die demgemäß behandelt werden mußte.

»Halef, haue ihn, bis er schweigt!« rief ich empört. »Haue ihn, wohin du triffst!«

»Hamdulillah!« antwortete der Hadschi. »Endlich, Sihdi, endlich kommst du zu Verstand! Dein Befehl erfüllt mich mit überirdischer Wonne. Es soll dir nie mit solchem Entzücken gehorcht worden sein, wie ich dir jetzt gehorchen werde! Ich werde ihm den Faden seiner Rede so zerhauen, daß er die davonfliegenden Fetzen selbst mit der schärfsten Naddara nicht wieder finden kann!«

Kaum hatte er das gesagt, so klatschten seine Hiebe so dicht und kräftig nieder, daß der Getroffene anstatt Zornes- nur noch Jammerlaute hatte, doch hörte Halef nicht eher auf, als bis auch diese schwiegen. Dann fragte er mich, die Peitsche liebevoll streichelnd:

»Soll ich mit dieser überzeugenden Erklärung fortfahren, oder ist’s genug?«

»Laß es genug sein!«

»Aber nur für jetzt, für einstweilen, das bitte ich dich!«

»Und ich bitte nicht darum, sondern ich verlange es!« fiel Amuhd Mahuli ein. »Schau her, Effendi, wie er mich zugerichtet hat! Es war seine ernstliche, seine feste Absicht, mich zu erwürgen. Ich lag unter ihm wie ein Lamm. in den Krallen eines wütenden Panthers, und wenn das noch nicht Grund genug zur größten Strenge wäre, so müßten seine gottes- und menschenlästerlichen Reden die Peitsche in Bewegung setzen, bis er tot am Boden liegt!«

Er zeigte bei diesen Worten auf sein zerzaustes Haar, seine zerrissene Uniform und seinen zerkratzten Hals, welcher jetzt noch blutete.

»Wäre es mir doch gelungen, dich zu ersticken, du nichtswürdiger Helfershelfer eines verdammten Christenhundes!« zischte der Säfir.

Da holte Halef schnell wieder aus, versetzte ihm einige Hiebe und fuhr ihn an:

»Willst du schweigen, Bösewicht! Wir dulden kein einziges solches Wort!«

Obgleich vor Schmerz sich windend, brüllte der Säfir ihn an:

»Du hast mir nichts zu befehlen! Du bist ein stinkender Köter, den ich verachte, und gehörst mit deinem dreimal verfluchten Effendi dahin, wo die Aase faulen. Ihr wurdet als Schweine geboren, seid als Schweine zu verachten und werdet als Schweine verenden!«

Halef schwang die Peitsche sofort wieder. Ich hielt seinen Arm fest und sagte:

»Warte noch! Vielleicht bewährt sich auch hier ein gutes Wort besser als ein zorniges; ich werde es versuchen.«

»Versuche es; ich habe nichts dagegen; versuche es doch!« rief der Säfir mit höhnisch schallendem Lachen.

»Ja, ich werde den Versuch trotz deines Gelächters machen, doch nicht deinet- sondern meinetwegen. Ich weiß, daß jedes Wort umsonst sein wird; aber ich will mir sagen können, daß ich nichts zur Rettung deiner Seele versäumt habe.«

»Rettung meiner Seele? Was geht dich meine Seele an! Mag sie fahren, wohin sie will, mir ist es gleich, und du hast nichts dreinzureden. Willst du mir etwa von dem ewigen Leben, von dem Paradiese und der Hölle vorschwatzen? Mit solchen Verrücktheiten brauchst du mir nicht zu kommen. Was Muhammed und euer Christus darüber sagen, ist lächerlich, denn nach dem Tode ist alles aus.«

»Du bist ein Verblendeter, dem ich – –«

»Alles aus!« wiederholte er, mich unterbrechend.

»– –ein Verblendeter,« fuhr ich fort, »dem ich mein – –«

»Alles, alles aus!« rief er wieder.

»– – dem ich mein Mitleid nicht versa – –«

»Alles aus, alles, alles, alles!« brüllte er mit der ganzen Stärke seiner Stimme. »Und das ist ein Glück für euch, ihr verächtlichsten unter allen Hunden, die es giebt! Um euretwillen möchte ich, daß es nicht aus wäre. Ihr solltet verdammt sein, wie noch niemand verdammt gewesen ist. Euch müßte es im jenseits ––«

Die nun folgenden Verwünschungen sind nicht wiederzugeben. Indem ich sie, ohne ihn zu unterbrechen, über mich ergehen ließ, sah ich ein, daß es nicht nur unnütz, sondern auch geradezu lächerlich gewesen wäre, ihm noch eine Spur von Mitleid zu zeigen. Als er seinen Grimm herausgesprudelt hatte, spie er mich und Halef, die wir nahe bei ihm standen, an, und schloß mit den Worten:

»So wie jetzt solltet ihr verspieen und verachtet werden, von allen Menschen und in alle Ewigkeit! jetzt kennst du meine Meinung ganz und kannst deinen frommen Jammer bringen; ich werde kein Wort mehr dazu sagen.«

»Es wird dir nichts, aber auch gar nichts vorgejammert werden, sondern wenn hier jemand jammert, so wirst du es sein. Du hast von den Martern gesprochen, denen ich nicht entgehen könne; wo hast du sie? wo bleiben sie? Ich aber sagte dir, daß mit dem Anbruche des Tages das Strafgericht über dich beginnen werde; mein Wort, über welches du lachtest, ist pünktlich eingetroffen. Ich prophezeite dir noch mehr, will es aber jetzt nicht wiederholen. Warten wir den Abend ab! Für jetzt sollst du nach deiner eigenen Ansicht behandelt werden: Mit dem Tode ist alles aus. Wenn es im jenseits keine Strafe für dich giebt, so dürfen wir im Diesseits keinen Augenblick versäumen, dir zukommen zu lassen, was du verdienst. Vorher aber frage ich dich, wo die Leichen der ermordeten Mitglieder der Karwan-i-Pischkhidmät Baschi sind?«

Er antwortete nicht, auch dann nicht, als ich meine Frage zweimal wiederholte. Ich richtete sie an die gefangenen Ghasai-Beduinen, und zwar mit demselben Mißerfolge. Darum wendete ich mich speziell an denjenigen von ihnen, den ich für ihren Anführer halten mußte, weil er bei der Taxation der Beutestücke das Wort geführt und das Geld eingesteckt hatte. Seine einzige Antwort bestand in einer höhnischen Gesichtsverzerrung.

»Ich werde dir den Mund mit der Peitsche öffnen lassen!« drohte ich.

»Wage das!« rief er. »Wir sind freie Beduinen und dürfen nicht geschlagen werden! Wir sind ehrliche Leute und wissen nicht, weshalb man uns gefangen genommen und gebunden hat!«

»Ehrliche Leute! Und habt euch doch für Solaib-Araber ausgegeben! Und habt dort bei den Feuern gesessen und bei jedem einzelnen Stück um euern Mörderlohn gefeilscht!«

»Das ist Lüge!«

»Ich selbst habe es gesehen und gehört; das ist genug! Also sag, wo sind die Leichen?«

»Ich weiß von keiner Leiche! Wenn es Leichen giebt, so suche sie dir doch selbst!«

Seiner spöttischen Miene war die Überzeugung, daß ich sie nicht finden würde, deutlich anzusehen. Darum erwiderte ich:

»Ich werde dir beweisen, daß es mir sehr leicht ist, sie zu entdecken, aber dich dann doch noch zwingen, uns zu sagen, wohin sie geschafft worden sind. Die Peitsche macht gesprächig.«

»Das wirst du bleiben lassen! Mein ganzer Stamm würde über dich kommen und dir hundert Hiebe für jeden einzelnen geben!«

»Laß ihn hauen, immer laß ihn hauen!« rief mir da der Bimbaschi zu. »Vorher aber gestatte, daß der Säfir bekommt, was ihm gebührt!«

»Ich habe nichts dagegen, erwarte aber, daß ihr euch an eine Bedingung haltet, welche ich unbedingt stellen muß.«

»Teile sie uns mit!«

»Schlagt ihn, soviel ihr wollt, aber nur nicht tot! Wir müssen ihn dem Pascha ausliefern, und ich bin überzeugt, daß er die Bestätigung deiner Ernennung zurücknehmen und dich vielleicht zum gewöhnlichen Soldaten machen würde, wenn er ihn nicht lebend, sondern tot zu sehen bekäme!«

Diese Warnung hatte den Zweck, eine sehr leicht mögliche Ausartung der Strenge in Grausamkeit zu verhüten. Der Offizier beeilte sich, mir die Versicherung zu geben:

»Sei da ohne Sorge, Effendi! Diesen Schurken tot zu schlagen, wäre eine ganz unverdiente Wohlthat für ihn. So kurz darf seine Strafe nicht sein. Aber du weißt, daß er in der Mehkeme die Bastonnade für dich verlangte; dafür soll er sie nun selbst bekommen, aber wie! Das erlaubst du doch?«

»Ja.«

»Bloß die Bastonnade?« fragte Halef. »Ich habe geglaubt, daß meine Kurbadsch mit ihm sprechen soll! Sihdi, dadurch, daß du ihm nur die Bastonnade verordnest, wirst du mich um den Hochgenuß bringen, ihm zu zeigen, wie innig meine Seele mit den Gefühlen seiner empfindungsvollen Haut verbunden ist!«

Ich nahm ihn bei der Hand, zog ihn zur Seite und stellte ihm die Frage:

»Sag, lieber Halef, welches ist der stolzeste und berühmteste Stamm der Beduinen, soweit die Blumen der Steppe blühen?«

»Der große Stamm der Schammar,« antwortete er. »Das weißt du ebensogut wie ich; warum fragst du also?«

»Und welche ist die hervorragendste seiner Abteilungen?«

»Das sind natürlich meine Haddedihn!«

»Von denen du der oberste bist?«

»Natürlich.«

»Also bist du der berühmteste und am höchsten gestellte Mann des ganzen Stammes der Schammar?«

»Das will ich meinen! Das steht sogar über jedem Zweifel erhaben!«

»Du hast also diesen großen Stamm mit deiner Person und die Ehre von soviel tausend Kriegern mit deiner Ehre zu vertreten?«

»Selbstverständlich!«

»Was du thust, ehrt oder schändet also jeden einzelnen Schammar und jeden Haddedihn?«

»Gewiß!«

»Was würdest du thun, wenn jemand alle Schammar und Haddedihn für Schinder, für Henker erklärte?«

»Ich würde ihm augenblicklich mein Messer zwischen die Rippen stoßen!«

»So stoß zu!«

»Was – –? Wie – –? Wen – –?« fragte er.

»Dich selbst!«

»Mich – – – selbst – – –?«

»Natürlich dich selbst, denn du, der Vertreter der Ehre deines ganzen Stammes, hast mir soeben selbst erklärt, daß du die Absicht habest, der Henker und Schinder des Säfir zu sein.«

Er sah mich erstaunt an. Er hatte meine Fragen mit stolzem Selbstbewußtsein beantwortet; jetzt klang seine Stimme ganz anders, als er sagte:

»Sihdi, du bist ein sehr gefährlicher und gegen deinen treuen Halef ein ganz schlechter Mensch!«

»Wieso?«

»Du hast mich wieder einmal von hinten herum übertölpelt und gefangen! Warum kommst du mir nicht lieber und ganz ehrlich und aufrichtig von vorn herum?«

»Weil die ›Breite deines Verstandes‹, von welcher du so gerne sprichst, vorn größer ist als hinten.«

»So! Du gestehst also ein, daß du dich nicht an die vordere Hälfte meiner Klugheit wagst, sondern dich vor ihr fürchtest. Das sollte mich eigentlich freuen; aber diese Freude wird mir durch das Bewußtsein vergällt, daß du nicht ehrlich mit mir verfährst. Ich aber frage dich aufrichtig in dein Gesicht: Hast du mir versprochen, daß ich dem Säfir die Peitsche geben darf?«

»Ja, das that ich.«

»Und nun willst du mir dieses dein Versprechen nicht halten?«

»Ich habe es ja gehalten!«

»Wie – –? Wirklich – –? Hättest schon – –?«

»Ja. Hat er Hiebe von dir bekommen oder nicht?«

»Hm. Freilich hat er sie!«

»Nun, wozu also deine grundlosen Vorwürfe?«

Da schüttelte er bedauernd den Kopf und antwortete:

»Oh, Sihdi, Sihdi, wenn du wüßtest, wie groß der Schmerz der Enttäuschung ist, welchen du mir bereitest! Ich glaubte, ich dürfe meine Kurbadsch einmal so recht aus vollstem Herzensgrunde schwingen, und nun soll sie sich mit den wenigen, armseligen Hieben begnügen, von denen sie nicht im entferntesten satt werden konnte, sondern nur noch viel größeren Hunger bekommen hat! Wenn du deinen großen Versprechungen so kleine Erfüllungen folgen lässest, muß ich dich für einen zwar großen, aber leeren Geldbeutel halten, mit dem nichts anzufangen ist. Es geschieht jetzt nicht zum erstenmal, daß du die freundlichen Bewegungen meiner Peitsche durch den Hinweis auf meinen Ruhm und meine Ehre hemmst. Ist die Ehre denn nur dazu da, den Besitz einer Kurbadsch fruchtlos zu machen? Meine Peitsche gehört zu mir, wie meine Hand zu mir gehört; sie ist ein Teil von mir selbst. Sie hat auch ihre Ehre, welche zugleich die meinige ist. Wie kann ichmich also dadurch entehren, daß ich ihr ihre Ehre gebe?«

»Dein Schluß ist falsch, weil er von einer falschen Voraussetzung ausgeht.«

»Da irrst du dich, denn meine Ansicht ist, daß der Säfir Hiebe bekommen soll, aber keine Voraussetzungen.«

»Hier wird die Breite deines Verstandes so schmal, daß man gar nichts mehr von ihm bemerkt. Wir wollen uns nicht streiten, sondern die Sache kurz machen: Wenn du es für dein Recht hältst, den Säfir prügeln zu dürfen, so will ich es dir nicht nehmen. Also prügle ihn! Aber dann wundere dich nicht, wenn ich dich nicht mehr als meinen Chabib, sondern als einen Dschellad betrachte, der meinem Herzen nichts sein kann und nur für meine Augen etwas ist, nämlich das gefühllose Werkzeug des Gesetzes. Ich gehe!«

Ich wendete mich von ihm ab.

»Wohin, Sihdi?« fragte er schnell, indem er mir nachkam und mich am Arme faßte.

»Ich will die Leichen der Ermordeten suchen. Das ist eine Aufgabe der Pietät und keine Henkerarbeit.«

»Nimm mich mit! Wir müssen dem Säfir und dem Ghasai beweisen, daß wir ihre Angaben nicht brauchen, sondern ganz von selbst so klug sind, zu erfahren, was wir wissen wollen. Schau her! Ich stecke meinen Kurbadsch in den Gürtel und verzichte also darauf, dem Perser das Zeugnis seiner Verworfenheit auf den Rücken zu mal en. Der frühere Kol Agasi und jetzige Bimbaschi wird schon dafür sorgen, daß nicht weniger gegeben wird als gegeben werden darf.«

»So ist’s recht!« lobte ich ihn. »Jetzt bist du ganz der, der du sein sollst!«

»Wer?«

»Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossarah, der oberste Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar.«

Da richtete er seine kleine Gestalt so hoch wie möglich auf, blitzte mich mit leuchtenden Augen an und sagte:

»Jawohl, der bin ich ganz bestimmt! Ich bin der oberste Regent meiner herrlichen, meiner lieben Haddedihn, welche mir so gehorchen, wie kaum die Türken ihrem Padischah oder die Perser ihrem Schah-in-Schah gehorchen. Ich tausche mit keinem Menschen auf der ganzen Welt und habe die Peitsche nur zum Regieren, aber nicht um die Arbeit eines Henkers zu verrichten. Je berühmter der Mann, desto weniger hat er es nötig, die Kurbadsch selbst zu führen! Ich gehe mit dir, der du ebenso berühmt bist wie ich selbst!«

Ich sagte dem Bimbaschi, daß wir uns jetzt entfernen, aber bald wiederkommen würden; er könne inzwischen in der »Sprache der Prügel« mit dem Säfir reden. Dann bestiegen wir unsere Pferde und ritten fort.

Zwar hatte der Gedanke, mich bei dem Pischkhidmät Baschi zu erkundigen, nahe gelegen, aber ich wollte mit diesem undankbaren Menschen nichts mehr zu thun haben und verzichtete also darauf, mit ihm zu sprechen oder gar ihn mitzunehmen. Übrigens hätte er mir wohl schwerlich eine bestimmte Auskunft geben können, denn er kannte die Gegend nicht; es war Nacht, also dunkel gewesen, als er hier angekommen und überfallen worden war, und wohin man die Leichen geschafft hatte, das war eine Frage, die er noch viel weniger als jede andere beantworten konnte. Ich hielt es für das beste, mich auf mich selbst zu verlassen. Halef konnte mir auch nur wenig nützen, weil er kein Fährtensucher war. Ich hatte ihn nur mitgenommen, um ihn von der Prügelstelle zu entfernen.

Indem wir in nördlicher Richtung, woher wir gekommen waren, längs der Ruinen hinritten, betrachtete ich unausgesetzt den Boden, um die mir passenden Spuren zu entdecken. Ich fand bald die unserigen und bald andere, aber nicht die, welche ich suchte. Wir ritten dann ostwärts, über die Fährte der Pascher hinaus, welche vom Kanale herkam, und stießen dann wieder auf die Eindrücke der Karwan-i-Pischkhidmät Baschi. Nun war es mir klar, daß der Überfall nicht hier im Norden, sondern südlich von unserm jetzigen Lagerplatze stattgefunden hatte. Die Karawane war von dem Säfir über die Stelle, wo die unterirdischen Räume lagen, hinausgeführt worden; es wäre auch sehr unvorsichtig von ihm gewesen, sich grad dort über sie herzumachen, denn er hatte sich doch wohl sagen müssen, daß jedenfalls Spuren zurückbleiben würden. Wir kehrten also um und ritten zurück.

Als wir uns dem Lagerplatze näherten, rief uns der Anführer der Beduinen höhnisch zu:

»Nun, wo liegen die Ermordeten, nach denen ihr suchtet? Eure große Klugheit hat sie euch doch jedenfalls gezeigt!«

Er hatte also unsere Absicht erraten, und glaubte, wir würden nach diesem vergeblichen Ritte nun von den Pferden steigen und hier bleiben. Ich antwortete nicht; aber dem kleinen Halef war es unmöglich, zu schweigen. Er warf ihm, indem wir vorüberritten, die Drohung hin:

»Wir kommen nur, um dir zu sagen, daß du für jeden Toten, den wir finden, nach unserer Rückkehr fünf Streiche auf die Sohlen erhalten wirst!«

Es war so, wie ich gedacht hatte; die Spuren der Karawane führten von hier weiter und fielen mit denen der auf ihnen zurückgekehrten Räuber zusammen. Nach ungefähr fünf Minuten hörten sie auf, und wir befanden uns an der stark mit Blut getränkten Stelle des Überfalles. Es gab zwar kräftige Fuß- und Hufeindrücke, aber zerstampft und aufgerissen, wie es bei einem Kampfe unvermeidlich ist, war der Boden nicht. Die Perser hatten sich ohne eigentliche Gegenwehr abschlachten lassen, feige Menschen, die ebensowenig Mut besaßen wie ihr Herr, der sich doch so gern einen sehr tapfern Krieger nannte!

Diese Stelle lag ungefähr zweihundert Meter von den hier steil ansteigenden Ruinen entfernt, und es führten Fußstapfen hinüber, welche so tief eingedrückt waren, daß ich zu Halef sagte:

»Die Leichen hat man dort hinter die Mauern geschafft.«

»Woraus vermutest du das?« fragte er.

»Wenn du ohne eine Last hinübergehst, werden deine Fußeindrücke viel leichter sein als diese hier. Die Stapfen sind tiefer, weil man die Toten hinübergetragen hat.«

»Werden wir sie finden?«

»Gewiß. Leichname sind keine Geister, welche spurlos erscheinen und verschwinden. Komm!«

Drüben angelangt, sahen wir, daß die Spuren an einem zwar nicht großen, aber hoch an der Mauer aufgebauten Ziegelhaufen endeten, welcher nicht aus einzelnen, sondern noch durch den Asphaltkitt verbundenen Steinen bestand. Wir hatten ihn vorhin in der Entfernung nicht von der Mauer unterscheiden können. Wir stiegen ab und entdeckten, sobald wir nur einige der Konglomerate entfernt hatten, eine breite, doch nur halb manneshohe Öffnung, welche schief abwärts in das Innere zu führen schien. ich kroch hinein und spürte einen starken Moderduft und zugleich jenen eigentümlichen und nicht zu verwechselnden Geruch, welcher auf das Vorhandensein von Leichen deutet, selbst wenn der Tod erst vor wenigen Stunden eingetreten ist.

Indem ich mich, vorsichtig nach allen Seiten mit den Händen tastend, weiter schob, gewahrte ich, daß die Decke über mir in wagerechter Richtung verlief, während der Boden abwärts ging und der Gang, in welchem ich mich befand, also nach und nach tiefer wurde. Es war Sand, auf dem ich mich bewegte; die Wände und die Decke waren glatt; ich fühlte keine Ritzen zwischen den einzelnen Steinen. Wenn das auf eine Asphaltschicht deutete, so war das, was ich Gang genannt habe, wohl ein Kanal gewesen, welcher den Zweck hatte, das Innere des Birs vom ehemaligen Bette des Euphrat her mit Wasser zu versorgen. Durch den vom Westwinde herbeigewehten Sand war nach und nach draußen der Boden erhöht und die Mündung des Kanales bis fast ganz oben herauf verschüttet worden. So erklärte sich auch das Vorhandensein des Sandes im Innern, der immer weniger wurde, je weiter ich hineingelangte, so daß ich bald nicht mehr zu kriechen brauchte, sondern aufrecht gehen konnte.

Ich mochte vielleicht vierzig Meter zurückgelegt haben, als der Sand aufhörte und ich auf glattem Erdpechboden stand. Hier stieß ich mit dem Fuße an einen Gegenstand. Ich bückte mich nieder, um ihn zu untersuchen, und fühlte einen vollständig ausgezogenen, also unbekleideten Menschenkörper. Da fiel mir ein, daß ich ja noch ein Licht und auch Kibritat in der Tasche hatte. Ich brannte es an und sah nun die elf Perser, denen man nicht ein einziges Kleidungsstück gelassen hatte, neben- und aufeinander vor mir liegen. Ich war an dergleichen Scenen gewöhnt, muß aber doch gestehen, daß es mich schauerte. Die Geschichte dieses Ortes trug wohl auch dazu bei. Da stand ich in einem verschütteten Kanale des babylonischen Turmes vor nackten, blutigen Leichen, die mit ihren starren, gebrochenen Augen und klaffenden Wunden einen grauenhaften Anblick boten, zumal bei der mangelhaften Beleuchtung. Das Flackern des Lichtes täuschte mir gespensterhafte Bewegungen hervor, und der mir unbekannte Teil des Kanals jenseits der Ermordeten schien von tausend schattenhaften, durcheinander huschenden oder tanzenden Wesen belebt zu sein. Dazu der schwere, drückende Modergeruch, welcher, je weiter ich vorgedrungen war, desto mehr Leichenduftartiges angenommen hatte. Dieser Gestank konnte nicht von den Persern stammen, die ja noch vor kurzem gelebt hatten. Ich mußte wissen, welche Ursachen er hatte, stieg also über die Toten hinweg, weil kein Platz war, an ihnen vorüberzukommen, und ging weiter.

Da sah ich denn, daß ich mich in einer wahren Massengruft befand. Es lagen Schädel, Knochen und andere Leichenreste in Menge da; ich stieß bei jedem Schritte an sie, bis ich eine Stelle erreichte, wo die Decke eingestürzt war und ich nicht weiter konnte; ich kehrte also um. Die Ghasai hatten ihre Ermordeten hierher geschafft; sie kannten also diese grausige Totenkammer und waren demnach schon oft hier gewesen, um die Spuren und Beweise ihrer Thaten diesem geheimen Orte anzuvertrauen. Kein Wunder, daß ich beschloß, Halefs Drohung solle in Erfüllung gehen!

Als er mich nach einiger Zeit dem finsteren Loche entsteigen sah, schaute er mich erschrocken an und fragte:

»Wie siehst du aus, Sihdi? Wäre dein Gesicht nicht so von der Sonne verbrannt, so würde ich sagen, du seiest blaß wie eine Leiche. Hast du die Ermordeten gefunden?«

»Ja.«

»So hast du dich vor ihnen gefürchtet?«

»Ich, fürchten? Nicht vor Lebenden, viel weniger vor Toten! Der entsetzliche Geruch, den es da unten gab, ist schuld, daß ich so angegriffen aussehe.«

»Was hast du entdeckt? – Erzähle es!«

»Jetzt nicht. Ich muß sofort zu den Beduinen, um dir eine Freude, eine große Freude zu machen.«

»Welche?«

»Frag nicht, sondern komm!«

Wir stiegen wieder auf und ritten nach dem Lagerplatze. Der alte Ghasai schien von der Fruchtlosigkeit unserer Nachforschung vollständig überzeugt zu sein, denn noch war ich nicht aus dem Sattel gesprungen, so fragte er mich hämisch:

»Hat Allah euch den richtigen Weg geführt? Du machst ein so frohes, ein so glückliches Gesicht, daß ich weiß, ich werde die Streiche jetzt bekommen. Wie freue ich mich darauf!«

Ich antwortete ihm nicht, sondern wendete mich an Halef:

»Wie viele Hiebe hast du ihm versprochen?«

»Fünf für jeden Toten; das sind also fünfundfünfzig,« antwortete der Hadschi.

»Er soll sie bekommen, sofort bekommen. Und nach ihm erhält jeder seiner Leute dreißig; aber derb; die Sohlen müssen platzen!«

Da schrie der Alte mich an:

»Untersteht euch nicht etwa, uns auch nur zu berühren!

Wo sind die Toten, die wir ermordet haben sollen? – Zeig sie uns!«

»Dort in den Ruinen haben wir sie gefunden, bei den Resten derer, die ihr schon vor ihnen umgebracht habt!« erwiderte ich ihm.

»Dein verfluchtes Maul ist eine Geburtsstätte der Lüge, und dein wahnwitziges Gehirn brütet Unwahrheiten aus, welche ––«

Er sprach nicht weiter, sondern unterbrach seine Worte mit einem überlauten Schrei, denn ich hatte, nun endlich doch einmal in Hitze geraten, dem kleinen Hadschi die Peitsche aus dem Gürtel gerissen und zog dem unverschämten Menschen einen solchen Hieb über das Gesicht, daß es sofort aufsprang und das Blut ihm an beiden Seiten herunterlief.

»Hamdullillah, mein Effendi wird gescheit!« jubelte Halef. »Es giebt nur eine einzige Sprache, in welcher man mit solchen Frechlingen verkehren kann; das ist die Sprache der Peitsche, welche deutlicher, überzeugender und auch eindringlicher ist, als jeder sonstige Dialekt. Sihdi, du hast, seit ich dich kenne, jetzt das schönste Wort gesprochen; es enthält die wahre Weisheit, welche über alle andern Kenntnisse und Klugheiten der Erde geht! Soll ich die beglückende Fortsetzung deines wohlthuenden Anfangs übernehmen?«

»Ja. Hier hast du das Zeichen der Macht, welche ich dir anvertraue,« antwortete ich, indem ich ihm seine Peitsche wieder gab. »Ich bin nicht für rohe Strafthaten, aber diese Hunde haben mehr als verdient, daß ihnen die Felle gegerbt werden. Der Alte bekommt seine fünfundfünfzig und jeder andere dreißig, und wenn einer von ihnen wagen sollte, sich darauf zu berufen, daß er als freier Beduine nicht geschlagen werden darf, so fangt ihr noch einmal von vorn an! Hörst du, Halef?«

»Ob ich das höre, Sihdi! Ich höre es so deutlich, als hättest du mir mit einer zehn Meilen langen Nafir und einer noch zwanzigmal längeren Zurna in die Ohren geblasen! Du wirst sehen, wie genau ich deinen Wunsch erfülle!«

»Ich werde nicht dabei sein, sondern inzwischen dem Pascha entgegenreiten.«

»Das ist schade, jammerschade! Aber ich weiß, du kannst solche Strafen wohl diktieren, doch dabei sein magst du nicht. Du kannst dich aber ganz ruhig entfernen, denn die Ausführung befindet sich in den besten Händen!«

Ich war von der Wahrheit dieser Worte ebenso vollständig überzeugt, wie davon, daß der Bimbaschi während unserer Abwesenheit den Säfir auf das vortrefflichste bedient hatte, denn dieser lag mit vor Schmerz zuckenden Gliedern wie ein zusammengerollter Igel an der Erde und ließ ein fast ununterbrochenes Wimmern hören. Er fühlte nun, was er nicht hatte zugeben wollen: den Anfang des ihm von mir vorausgesagten Strafgerichtes. Amuhd Mahuli mochte glauben, der Gezüchtigte thue mir leid, denn er fragte mich:

»Dein Gesicht ist so ernst und streng, Effendi. Meinst du vielleicht, daß wir mit der Bastonnade zu freigebig gegen ihn gewesen sind?«

»Nein, Bimbaschi, das denke ich nicht; aber wenn ich jemanden sehe, der zwar ein Mensch heißt, doch keiner ist, so thut mir das bitter wehe. Schau ihn nur an! Dieser Kerl ist auch erschaffen, um ein Ebenbild Gottes zu sein; was aber ist aus diesem Bildnisse des Allmächtigen und Allliebenden geworden? Das niedrigste und häßlichste Tier wirkt nicht so abstoßend wie so ein widriges Subjekt, welches doch ebenso wie wir die Berufung in sich trug, an Gottes Himmel teilzunehmen.«

»Er wird ihn nie erreichen, nie, nie! Du hast ja Worte aus seinem Munde gehört, bei denen dein Ohr gewiß ebenso schmerzte, wie das meinige; aber als ihr fort waret und wir ihn in die Lage der Bastonnade brachten, bekamen wir Reden zu hören, welche selbst in der Hölle nicht gottloser erfunden werden können. Dieser Mann ist verloren für alle Ewigkeit. Wenn ich recht gehört habe, stehst du jetzt im Begriffe, dem Pascha entgegenzureiten?«

»Ja. Ich mag hier, wo abermals geprügelt wird, nicht Zuschauer sein.«

»Du wirst ihm berichten, was heut nacht hier geschehen ist?«

»Ja.«

»So bitte ich dich, meiner dabei in freundlicher Weise zu gedenken!«

»Das werde ich gern thun.«

»Darf ich aus diesen deinen Worten schließen, daß du mit mir zufrieden bist?«

»Du hast dich als ein braver, umsichtiger und zuverlässiger Soldat bewährt, und es freut mich sehr, ihm das sagen zu können.«

»Allah sei Dank, und dir aber auch! Darf ich dir einen Gedanken mitteilen, den ich habe?«

»Immer zu!«

»Ich habe mich stets bemüht, meine Pflicht zu thun und ein guter Mensch zu sein; das ist mir oft schwer, sehr schwer geworden, wenn ich sah, daß mir dieses Bestreben nur Nachteil brachte, während andere, denen Allahs Wohlgefallen nicht am Herzen lag, vor mir berücksichtigt wurden und schnell vorwärts kamen. Ich habe mit meinem Herzen und mit meiner Armut unaufhörlich kämpfen müssen und mich schließlich drein ergeben, daß es meine Bestimmung sei, in der trüben Gesellschaft unerfüllter Wünsche durch das Leben zu gehen. Du bist ein Christ und fühlst dich also nicht beleidigt, wenn ich dir sage, daß mir das Kismet, welches unser Islam lehrt, geradezu entsetzlich ist. Es schlingt seine unzerreißbaren Bande um den Menschen, um seinen Leib und um seine Seele; es hält ihn auf der Stelle fest, wohin es ihn geworfen hat. Er kann bitten, wünschen und nach Besserem wimmern; er kann sorgen, schaffen und arbeiten mit allen seinen Kräften, es hilft und nützt ihm nichts; er liegt an der Erde und kann nicht auf, weil ihn die eiserne, um seinen Nacken gekrallte Faust des Kismet niederhält. Da sterben nach und nach alle Wünsche und alle Hoffnungen ab; das Vertrauen auf sich selbst und auf eine bessere Zukunft geht verloren, und man sinkt zum willenlosen Sklaven des Schicksals herab, der wie die Figuren eines Kara göz ojunu an unzerreißbaren Schnüren hin- und hergezogen wird. Man ist, mit einem Worte, – – – tot! Kannst du dich darein denken, Effendi?«

»Nur zu gut.«

»Ein solcher Schatten, eine solche Figur bin ich bis heute gewesen. Ich fühlte die Faust, welche mich niederhielt, und konnte nichts gegen sie machen. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen und meine Sehnsucht, meine Wünsche im tiefsten Innern angekettet. Ich wußte, daß es für mich kein Vertrauen, keine Hoffnung, keine Zuversicht, keinen Zweck, kein Ziel mehr gebe. Da kamst du, und es wurde so plötzlich und so unerwartet alles anders. Es ist eine Sonne in mir aufgegangen, und tausend Blüten und Blumen sind erwacht. Ich fühle, daß ich nicht tot bin, sondern lebe. Du hast mich befreit von der Sklaverei; du hast – –o Effendi, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll; am liebsten möchte ich sagen, du hast mein Kismet besiegt und auf immer für mich unschädlich gemacht. Ist es eine Sünde, wenn ich so denke und so sage?«

»Nein. Es giebt kein Kismet. Allah ist kein Tyrann, welcher seine Unterthanen knechtet, sondern ein liebevoller Vater, der keine Sklaven, sondern Kinder hat, die frei und fröhlich seine Wege wallen sollen.«

»Ist das die Lehre deines Glaubens, deines Christentums?«

»Ja.«

»So seid ihr Christen glücklicher als wirf Ich muß dir ein Geständnis machen, bitte dich aber, mir zu glauben, daß ich dir nicht schmeicheln will! Denke dich in ein fernes Land des Südens, wo es nur schwarze Menschen giebt! Du bist viele, viele Jahre dort, und in dieser Zeit selbst auch schwarz geworden. Du lebst wie ein Schwarzer; du issest und trinkst wie ein Schwarzer; du denkst und fühlst wie ein Schwarzer; aber tief in deinem Innern lebt das Bewußtsein, daß du nicht zu diesen Schwarzen gehörst, und die Sehnsucht, aus dieser Schwärze, diesem Dunkel erlöst zu werden. Da kommt plötzlich ein Weißer. Alle Welt staunt ihn an, kann ihn nicht begreifen, wundert sich über seine Farbe, seine Gestalt, seinen Gang, seine Stimme, seine Worte. Dir aber ist er sofort begreiflich. Du liebst ihn gleich beim ersten Blick, den du auf ihn wirfst; dein Herz schlägt ihm entgegen, und du bemerkst mit Wonne, daß er dich aus all den andern herauskennt und sich mehr zu dir, als zu ihnen hält. Du fühlst, daß du zu ihm gehörst, daß es dein Glück sein wird, so denken und so empfinden zu lernen, wie er denkt und empfindet. Du atmest nach tiefer, schwerer Bedrückung auf. Es geht ein Hauch des Lebens, ein ungeahnter Frühling durch deine Seele, und riesengroß, gewaltig und unwiderstehlich wächst in dir die Überzeugung auf, daß alles, was als verborgene Sehnsucht in deinem Innern wohnte, nur durch ihn in Erfüllung gehen wird. Effendi, begreifst du, was ich sage?«

»Ja.«

»So war es mir, als ich dich sah und mit dir sprach. Dieser Weiße bist du. Ich habe nachgedacht und mich gefragt, woher der Eindruck kommt, den du auf mich gemacht hast. Ich kenne weder deinen Glauben, noch dein Volk, noch dein Vaterland. Vielleicht bist du nicht so wie andere Christen, von denen ich gehört habe, bist anderer Natur als andere Menschen überhaupt, aber ich sage mir doch, daß dein Auge, deine Stimme und Rede, dein freies und furchtloses Thun und Auftreten nur von der Religion beseelt und geleitet werden, welche dir nicht bloß im Herzen wohnt, sondern auch wie das Licht eines Fanus aus dir heraus und nach außen strahlt. Habe ich da unrecht oder recht?«

»Du hast darin recht, daß der Islam seine Anhänger knechtet und verdüstert, während das Christentum die Religion der Freiheit und der Liebe ist. Jeder gläubige Christ handelt so, wie ich hier und gegen dich gehandelt habe. So, wie du mich beschreibst, sind alle wahren Christen; ich habe vor keinem etwas voraus. Und indem du dich und dein Inneres geschildert hast, hast du mit packender Treue den denkenden Moslem überhaupt gezeichnet. Hier Licht, dort Dunkel; hier Liebe, dort Bedrückung; hier Recht, dort Unrecht; hier Freiheit und dort Knechtschaft! Wenn dir wirklich ein Frühling aufgegangen ist, so wünsche ich von ganzem Herzen, daß er in dir weiter wirken möge!«

»O, Sihdi, hättest du doch Zeit, mich deinen Glauben kennen zu lehren!«

»Die habe ich leider nicht; aber sobald ich nach Bagdad komme, werde ich dir einen Teil unserer Heiligen Schrift, das Kitab el Ahd edsch Schedid, schicken. Sein Inhalt wird deinen Füßen eine Leuchte und dir ein Licht auf deinen Wegen sein.«

»Ich danke dir! Wie lange wirst du hier in Hilleh bleiben?«

»Vielleicht reiten wir schon heut, vielleicht erst morgen fort.«

»Wenn ihr bis morgen bleibt, so bitte ich dich herzlich, heut abend mein Gast zu sein. Ich bin zwar arm und kann dir gar nichts bieten, desto mehr aber kann ich von dir erhalten. Ich möchte mit dir über deinen Glauben, über die Religion der Liebe und des Lichtes sprechen. Willst du mir diese große, große Gunst erweisen?«

»Ja, gern, Ich werde, selbst wenn wir schon heut fort könnten, nun doch bis morgen bleiben, um dir diesen Wunsch, über den ich mich herzlich freue, zu erfüllen.«

»Du machst mich glücklich, Effendi. Das ist eine Wohlthat, welche Allah dir vergelten möge! Erlaube, daß ich dir die Hand dafür küsse!«

Er ergriff sie und zog sie so schnell an seine Lippen, daß ich es nicht verhindern konnte; dann wendete er sich seinen Leuten wieder zu, denen Halef soeben seine Anweisungen in Beziehung auf die beschlossene Bastonnade erteilte. Ich mochte nichts damit zu thun haben und ritt also fort.

Wie freute ich mich über Amuhd Mahuli! Der Heiland sagte nach dem großen Fischzuge zu Petrus: »Von nun an wirst du Menschen fangen!« Welch ein hohes und schweres Amt wurde diesem jünger da verliehen, und wie leicht ist es doch unter Umständen für jeden wahren Christen, auch seinerseits als jünger des himmlischen Meisters dieses herrlichen Amtes zu walten! Das Netz der Liebe auszubreiten ist ja Bedürfnis, nicht bloß Pflicht. Man braucht nur der Stimme des Herzens zu folgen; den Segen spendet Gott.

Diese Gedanken waren es, welche mich auf dem jetzigen Weg begleiteten. Als ich vielleicht eine Stunde geritten war, kam mir ein Reitertrupp entgegen. Es war der Pascha in Begleitung einiger Offiziere und des Boten, den wir ihm geschickt hatten. Als er mich erreichte, gab er mir die Hand, nickte mir lächelnd zu und sagte in deutscher Sprache:

»Sie haben Erfolg gehabt, wie ich höre. Ich bin natürlich sofort in den Sattel gestiegen, um Ihren Wunsch zu erfüllen.«

»Mehr Erfolg, als Excellenz wohl ahnen,« antwortete ich. »Nur darum durfte ich mir erlauben, um Ihre Gegenwart zu bitten.«

»Ich komme gern. Die Verhältnisse in Hilleh sind soweit vorgeschritten, daß ich mich für einige Stunden entfernen durfte. Ist alles glatt abgelaufen?«

»Wenn nicht glatt, so doch zu meiner vollsten Zufriedenheit. Wir haben die ganze Gesellschaft gefangen genommen.«

»Den Perser, den sie Säfir nennen, auch?«

»Ja.«

»Aber bei ihm vor allen Dingen kommt es darauf an, daß wir nicht bloß seine Person, sondern auch Beweise haben!«

»Mehr als genug!.«

»Vollgültige, unwiderlegliche?«

»So überzeugende, daß er schon die Bastonnade bekommen hat.«

»Sie haben ihn schlagen lassen? Wären nicht Sie es, so würde ich fragen, ob Sie das Recht dazu besitzen.«

»Da will ich gleich gestehen, daß man, als ich fort ritt, eben im Begriffe stand, die gefangenen fünfzehn Räuber auch zu bastonnieren.«

»Gleich fünfzehn Personen? Und ohne richterliche Befugnis oder Genehmigung? Lieber Freund, werden Sie das verantworten können?«

»Verantworten? Pah! Wir befinden uns nicht in Stambul oder gar in Wien, Berlin oder einer anderen westeuropäischen Residenz, sondern unter Räubern und Mördern, inmitten einer Bevölkerung, welche trotz Scheriat und Mülteka el buhur doch nur nach ihrer Gewohnheit handelt: Auge um Auge, Blut um Blut. Richterliche Befugnis oder Genehmigung? Wie es mit den hiesigen Richtern steht, das wissen Sie ebensogut wie ich. Ihre Anwesenheit gilt ja diesen schauderhaften Verhältnissen! Und ob ich es verantworten kann?« Ich schlug mit der Hand an meine Waffen und fuhr fort: »Hier steckt die Verantwortung. Wer sie haben will, der kann und soll sie bekommen! Wenn ich hier in einer ganzen Atmosphäre von Schandthaten und Verbrechen atme und mir einmal gute, reine Luft verschaffe, um nicht elend ersticken zu müssen, so sollen die Vertreter des Gesetzes, welche an der Verpestung dieser Atmosphäre die Schuld tragen, nur kommen und mich zur Verantwortung fordern. Ich werde sie so bedienen, daß sie mehr als genug haben!«

»Na, na, na, na!« machte er lachend. »Sie geraten ja ganz und gar ins Fäusteballen! Da wird mir angst und bange! Aber beruhigen Sie sich! Ich kenne Sie, und es ist mir nicht eingefallen, Sie nur im geringsten beleidigen oder kränken zu wollen. Was Sie gethan und angeordnet haben, das ist auf alle Fälle wohlgethan und hat ausgeführt zu werden. Ich wohne in der Residenz des Kalifen; darum werden Sie meine Erwähnung des Richters und der Verantwortlichkeit verzeihlich finden. Sind Sie nun versöhnt?«

»Es bedarf dieser Frage gar nicht. Nur habe ich in einem moralischen Schmutze waten müssen, der geradezu entsetzlich ist, und wenn ich ihn nicht als köstliches Material, sondern eben nur als Schmutz behandle, so ist das einfach mein Menschenrecht. Übrigens, da ich von ›köstlichem Material‹ spreche, will ich nicht versäumen, zu erwähnen, daß ich nicht bloß Schmutz gefunden, sondern eine Schatzkammer entdeckt habe, deren Wert vielleicht nach Hunderttausenden zu taxieren ist.«

»Eine Schatzkammer? Wie meinen Sie das?«

»Ich meine dieses Wort wörtlich, nämlich eine aus mehreren Räumen bestehende Schatzkammer, in welcher alle möglichen Arten von Schmuggelwaren aufgestapelt sind. Auch Geld, Geschmeide und Edelsteine giebt es da.«

»Was Sie sagen! Das wird die Niederlage, das Magazin der Pascher sein?«

»Nichts anderes.«

»Und Geld ist da? Wahrscheinlich das Betriebskapital?«

»Vermutlich.«

»Und das soll einen solchen Wert, einen so außerordentlichen hohen Wert besitzen?«

»Es soll nicht, sondern es hat ihn wirklich.«

»Dann haben Sie ja einen Fang gemacht und einen Fund gethan, der ohnegleichen ist! Wie haben Sie das angefangen? Wie ist es geschehen? Bitte, erzählen Sie doch einmal!«

Ich erstattete ihm einen ausführlichen Bericht, ohne aber dabei der geheimen Verbindung der Sillan und meiner zu ihr in Beziehung stehenden Erfahrungen, Schlüsse und Vorsätze Erwähnung zu thun. Ich hielt eine derartige Mitteilung nicht nur für unnötig, sondern sogar für unklug, weil ich nur dann Erfolge haben konnte, wenn es verschwiegen blieb, daß mir die Angelegenheiten der »Schatten« schon nicht mehr ein vollständiges Geheimnis waren. Dennoch wuchs seine Aufmerksamkeit von Minute zu Minute; er unterbrach mich sehr oft mit Ausdrücken des Staunens, der Verwunderung, bei der Entdeckung der elf Leichen dachte er sich so lebhaft in meine Situation, daß er selbst blaß wurde, und als ich schließlich erzählte, daß ich voller Empörung über dieses Abschlachten menschlicher Wesen sofort zurückgeeilt sei und den Befehl gegeben habe, die Mörder zu bastonnieren, rief er aus:

»Das war recht, Effendi, das war sehr, sehr recht; ich hätte dasselbe, ganz dasselbe gethan! Prügel mußten diese Hunde bekommen, ganz gewaltige Prügel, und zwar sofort! jetzt bitte ich Ihnen den ›Richten und die ›Verantwortung‹ in aller Form und herzlich ab, denn Sie haben da ganz und gar in meinem Sinne gehandelt, und wenn wir jetzt hinkommen und ich sehe, daß der Leib irgend eines dieser Schurken noch Platz für einen Hieb hat, so bekommt er ihn. Dieser Säfir ist ein wahrer Teufel; er hat auch den von ihm verführten Sandschaki auf dem Gewissen, und ich sage Ihnen, daß ich nicht etwa Rücksicht auf irgendwelche staatliche Abkommen nehmen und ihn als persischen Ausländer aus meinen Händen geben werde. Ich mache sehr kurzen Prozeß mit ihm. Er wird gehängt, gehängt, gehängt, und wenn er der Bruder des Schah-in-Schah oder meinetwegen dieser selber wäre! Solche Kreaturen sind aus der menschlichen Gesellschaft getreten und dürfen also nicht als Menschen, sondern müssen wie Bestien behandelt werden. Ich sehe ihn mit diesen meinen guten Augen, die sich niemals irren, schon am Stricke baumeln. Jetzt wollen wir uns beeilen, an Ort und Stelle zu kommen!«

Er gab seinem Pferde die Sporen, obgleich wir dadurch nur einige Minuten sparten, weil wir den Birs Nimrud schon vor uns ragen sahen.

Ich wollte ihn zunächst nach der Stelle führen, wo ich mit dem Kammerherrn eingestiegen war; er ging aber nicht darauf ein, sondern sagte:

»Zunächst und vor allen Dingen will ich den Säfir, die Ghasai und die Schmuggler sehen. Mich verlangt, mit ihnen ein Wort zu sprechen!«

Es lag auf seinem Gesichte der Ausdruck einer solchen Entschlossenheit, daß ich jetzt keinen Piaster für das Leben derer, die er genannt hatte, geboten hätte. Er kam mir vor wie ein verkörpertes und unerbittliches Fiat justitia.

Als der »frühere Kol Agasi und jetzige Bimbaschi« uns kommen sah, ließ er schnell Aufstellung nehmen. Der Pascha achtete kaum darauf; er winkte ab, sprang vom Pferde und trat zu dem Säfir, welcher nicht mehr krumm geschlossen war, sondern lang ausgestreckt an der Erde lag.

»Hund, hast du die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi überfallen?« fragte er ihn.

Das Gesicht des Gefragten hatte ein so vertiertes Aussehen, daß ich mich nach dem ersten Blicke von ihm abwendete; ich hörte ihn wie einen wütenden Stier brüllen.

»Du selbst bist ein Hund; sei verflucht!«

Da befahl der Pascha dem Bimbaschi:

»Diese Antwort wird ihm bezahlt. Seine Füße haben, wie ich sehe, den Stock schon gekostet. Gebt ihm noch dreißig Hiebe, doch nicht als Bastonnade!«

Dann wendete er sich an den alten Ghasai:

»Hast du die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi überfallen?«

»Nein!« lautete die Antwort.

»Noch zwanzig Hiebe!«

So fragte er einen Ghasai nach dem andern; so wurde ihm jedesmal mit einem »Nein« geantwortet, und so diktierte er jedesmal auch sein »noch zwanzig Hiebe!«

Hierauf richtete er an sämtliche Pascher die laute Frage:

»Habt ihr geschmuggelt?«

»Ja,« antworteten sie alle wie aus einem Munde. Sie zogen das offene Geständnis den Hieben vor, die sie fürchteten. Übrigens hatten sie ja keine so harte Strafe wie die Ghasai zu erwarten.

»Ist der Säfir euer Anführer?« fragte er weiter.

»Ja.«

»Habt ihr bestimmte Gesetze, denen ihr gehorchen müßt?«

»Ja.« »Dürft ihr mir diese Gesetze mitteilen?« »Nein.« »Was für eine Strafe würde auf diese Mitteilung folgen?« »Der Tod.«

»So hört, was ich euch sage! Euer Anführer ist gefangen und wird mit dem Tode bestraft; er ist also unschädlich für euch. Teilt ihr mir die Gesetze mit, so lege ich Fürbitte beim Richter für euch ein; verschweigt ihr sie mir aber, so bekommt jetzt jeder von euch fünfzig Hiebe und später die schärfste Strafe, die es giebt. Also antwortet! Wollt ihr mir die Gesetze sagen?«

»Ja«, riefen sie alle.

»Das ist euer Glück! Ich halte Wort. Und wenn ihr wirklich aufrichtig seid, habe ich auch noch eine gute Mitteilung für euch.«

Nun sagte er mir, daß er jetzt Zeit habe, sich von mir führen zu lassen. Es durfte uns niemand, als nur Halef allein begleiten. Als wir nach der Höhe stiegen, wir beide voran und der Pascha hintendrein, fragte mich der Hadschi, so, daß letzterer es nicht hörte:

»Hast du ihm alles gesagt, Sihdi?«

»Alles, was er wissen muß, sonst nichts. Sprich also nicht von den Sillan, von unsern Ringen und anderen Heimlichkeiten!«

»Werde mich hüten! Ich bin neugierig, ob er den Eingang entdecken wird.«

»Ich bin überzeugt davon, daß er die Stelle nicht herausfinden wird. Es gehören andere Augen dazu als die seinigen.«

Es zeigte sich bald, daß ich recht hatte. Als wir oben angekommen waren und ich jetzt dem General sagte, daß er ganz in der Nähe der jetzt allerdings verschlossenen Öffnung stehe, suchte er längere Zeit, doch ohne die Stelle zu finden. Er wurde schließlich ungeduldig und sagte:

»Der Mensch, welcher die Ziegel hier zusammengepaßt hat, ist im höchsten Grade sorgfältig verfahren. Ich entdecke nichts; du mußt mir den Ort zeigen.«

Er nannte mich jetzt du, weil er Halefs wegen arabisch sprach. Zur Entfernung des ersten Ziegels brauchte ich, um in die Ritzen fahren zu können, die Messerklinge; die andern konnte ich dann mit der Hand nehmen. Ich legte sie so nebeneinander, daß sie beim Zustellen des Loches nicht verwechselt werden konnten. Osman Pascha sah mit einem Interesse zu, welches sich verdoppelte, als ich fertig war und er, in den Gang blickend, die in demselben liegenden Gegenstände bemerkte.

Wir hatten natürlich Lichter mit heraufgenommen. Da diese dem Generale nicht genügten, trugen wir dann sämtliche in der Nische befindlichen Lampen hinunter in die Räume, wo wir sie anbrannten. Was machte der Offizier für Augen, als er diese Gemächer betrat und alles, was da lag, mit einem zunächst nur oberflächlichen Blicke überflogt Er kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Und dann erst, als wir die Sachen einzeln vornahmen!

»Du hast recht gehabt!« gestand er. »Hier liegt ein ganzes Vermögen aufgestapelt. Wer hätte das gedacht!«

»Einer hat es gewußt,« bemerkte ich.

»Wer?«

»Mein alter Bimbaschi in Bagdad, von dem ich dir erzählt habe.«

»Ja, richtig! Diesen Mann müssen wir sehr streng bestrafen.«

»Bestrafen? Warum?«

»Weil er über diese Niederlage keine Anzeige erstattet hat.«

»Er konnte nicht, weil er mit einem Eide gelobt hatte, zu schweigen. Er verdient vielmehr anstatt der Strafe eine möglichst hohe Belohnung, denn nur ihm haben wir die Entdeckung dieses Ortes zu verdanken. Das geringste, aber auch allergeringste, was wir für ihn thun können, und auch thun müssen, ist die Rückerstattung der Summe, die ihm der Säfir abgepreßt hat.«

»Wie hoch ist sie?«

»Das weiß ich nicht; er hat es mir nicht gesagt, und ich hielt es für taktlos, ihn zu fragen.«

»Also wirklich eine Belohnung anstatt der Strafe?«

»Ja. Ich werde, freilich ohne ihn um die Erlaubnis dazu bitten zu können, dir von seiner hochinteressanten, und aber unglücklichen Vergangenheit erzählen; dann wirst du mein Interesse und meine Fürbitte für ihn begreifen. Er war auch Christ und ist Offizier des Padischah geworden, weil ––«

»Gut, gut für jetzt,« unterbrach er mich, weil er die von mir beabsichtigte Parallele heraushörte. »Du wirst mir nachher von ihm ausführlich berichten; für jetzt genügt es mir vollständig, daß du dich für ihn verwendest. Du schiebst ihm das Verdienst der Entdeckung dieses Ortes zu, bist aber selbst der Mann, dem wir sie zu verdanken haben. Ich werde also deine Freundschaft und deine Bemühung für ihn so berücksichtigen, wie du es wünschest und ja auch verdienst. Zur Zurückerstattung seines Verlustes brauchen wir aber Geld. Sagtest du nicht, daß auch welches vorhanden sei?«

»Ja, dort in der Truhe. Bitte, komm!«

Ich hatte den Schlüssel und öffnete sie. Das war der Augenblick, an welchem sein Staunen den Höhepunkt erreichte. Es dauerte eine ganze Weile, ehe er den Inhalt des alten Kastens mit Ruhe betrachten und untersuchen konnte. Er zählte zunächst das Geld. Es war eine sehr, sehr hohe Summe. Dann machte er sich über die Schmucksachen und Steine.

»Ich kann mich wirklich nicht genug wundern!« rief er aus. »Dieser Säfir muß vollständig überzeugt gewesen sein, daß eine Entdeckung dieses Ortes ganz unmöglich sei. Ich habe wirklich keine Ahnung davon gehabt, daß der Schmuggel in diesem Umfange betrieben wird und ein so erstaunlich einträgliches Geschäft ist. Ich möchte wissen, ob der Kerl hier sein ganzes Vermögen angelegt hat, oder ob es wohl noch mehr solche Niederlagen giebt!«

»Vielleicht ist von den gefangenen Paschern etwas darüber zu erfahren. Ich glaube nicht, daß der Säfir der einzige Unternehmer, der Chef dieses Geschäftes ist. Der Bete, den er gestern oder vielmehr heut nacht zum Sandschaki sandte, ist sehr wahrscheinlich auch beteiligt. Vielleicht ist eine ganze Gesellschaft von Geld- und nicht niedrig stehenden Leuten die Unternehmerin. Ich habe so meine Gedanken.«

»Die du mir mitteilen wirst; ich bitte dich darum. Wie gut, daß kein anderer als ihr diesen Ort gefunden hat! Er hätte nichts davon gesagt. Es ist eine fast unwiderstehliche Versuchung, diese Sachen zu sehen, ohne sie sich anzueignen!«

»Für uns nicht,« fiel Halef ein. »Ich erlaubte mir nur die ganz kurze Bemerkung, wie Hanneh, das Glück meines Lebens und die herrlichste Rose unter allen Blüten des Blumenreiches, sich über das Armband, welches dort neben deiner rechten Hand liegt, freuen würde; da aber hättest du meinen Effendi hören sollen!«

»Welches Armband? Dieses hier?« fragte der Pascha, indem er danach griff.

»Ja.«

»Hanneh heißt die Gebieterin deines Harems?«

»Ja. Sie ist die Wonne meiner Augen, die Seele meines Körpers, die Sonne meiner Tage ––«

Er fuhr noch eine ganze Weile fort, dem Pascha in den poetischesten Ausdrücken klar zu machen, daß Hanneh die vorzüglichste aller Frauen und absolut unvergleichlich sei. Da hielt Osman Pascha ihm das Armband hin und sagte:

»Hier; es ist dein Eigentum, lieber Hadschi. Nimm es ihr mit, damit der Glanz ihrer Augen sich daran ergötze. Bring keinen Einwand vor! Ich versichere dir, daß ich es dir geben darf! Alles, was sich hier befindet, gehört dem Padischah, dessen Vertreter ich bin; ich kann verfügen, wie es mir beliebt. Ihr kennt ja die Verhältnisse. Der Weg nach Stambul ist weit, und was ich hier an einen, der es verdient, verschenke, braucht nicht unterwegs in die Hände ganz unbeteiligter Personen zu verschwinden.«

Er hatte recht. Halef genierte sich auch gar nicht; er steckte vielmehr das Armband sehr schnell in die Tasche und machte dann diese allzu rasche Bereitwilligkeit durch die glühendsten Dankesäußerungen wieder gut. Der Pascha forderte mich auf, mir auch ein Andenken auszuwählen; ich that es aber nicht. Daß ich das Doppelbild genommen hatte, verschwieg ich, da ich sonst meine Gründe hätte angeben müssen. Ich hielt es nicht für das jetzige Eigentum des Padischah, sondern für einstweilen herrenloses Gut. Es lag wie eine Ahnung in mir, daß es im Verlaufe meiner Reise mir Nutzen bringen werde. Es stellte einen Bekannten von mir dar, den ich in Persien zu treffen hoffte, und so fiel es mir gar nicht ein, die stille Aneignung des Porträts für einen Diebstahl zu halten.

Nun machte ich den Pascha auch auf die Buchführung aufmerksam. Er sprach seine Verwunderung über das Vorhandensein derselben aus und blätterte aufmerksam darin. Sie reichte, wie bereits erwähnt, eine Reihe von Jahren zurück. Da hielt er plötzlich inne, sah schärfer auf die Seite, die er grad aufgeschlagen hatte, und fragte mich nach dem Namen des Bagdader Bimbaschi; als ich ihn genannt hatte, sagte er.-

»Es ist wirklich, als ob ich daran gemahnt werden sollte, ihm seinen Verlust zurückzuerstatten. Da steht das Datum, sein Name und auch die Summe. Diese Buchführung ist eigentlich eine ungeheure Frechheit des Säfir! Fünftausend persische Tuman ist der hier verzeichnete Betrag. Was thue ich?«

»Willst du mich anhören, Hazretim?«

»Ja, wenn es nicht zu lange dauert.«

»Ich werde mich kurz fassen, halte es aber für geboten, dir jetzt mitzuteilen, was ich dir von ihm zu sagen habe.«

Ich gab ihm einen Auszug dessen, was der alte Bimbaschi uns an jenem Abende auf seinem Dache erzählt hatte, und bemühte mich dabei, den Pascha so günstig wie möglich für ihn zu stimmen. Es gelang mir auch ganz gut, diesen meinen Zweck zu erreichen, denn als ich mit meiner Darstellung fertig war, nickte Osman Pascha mir freundlich zu und sprach:

»Das ist wieder einmal ganz Kara Ben Nemsi! Du hast mich tief gerührt. Dein alter, braver Freund soll nicht nur zurückerhalten, was ihm abgepreßt worden ist, sondern ich werde auch in anderer Beziehung an ihn denken und mit dem Pascha von Bagdad über ihn verhandeln. Die Summe ist vorhanden; ich würde sie dir sofort geben; aber das Gold ist schwer; du kannst dich doch wohl nicht damit schleppen?«

Da antwortete Halef rasch:

»Schleppen? Warum nicht? Wir haben ja Pferde. Und wenn du uns den ganzen Kasten giebst, wir nehmen ihn mit; versuche es nur! Da liegt Leinwand genug herum, in welche wir es wickeln können. Ich mache sofort das Paket!«

Um mich kurz zu fassen, in wenigen Minuten waren die fünftausend Tuman abgezählt und eingepackt, und der General, dem der Eifer Halefs Spaß machte, forderte mich auf, es ihm nur getrost mitzuteilen, wenn es sich herausstellen Sollte, daß die Summe eine andere als die im Buche eingetragene sei. Dann fuhr er fort:

»Ich werde natürlich hier alles ausräumen und schon heut damit beginnen lassen. Dann machen wir den Platz mit Hilfe einer Pulversprengung unzugänglich, damit es für solche nächtliche Vögel nicht möglich ist, sich wieder einzunisten. Die Schmugglerbande werde ich auch sprengen, nicht mit Pulver, das heißt durch Strenge, sondern durch Güte, die zugleich eine Klugheit ist, wie du nachher hören wirst. Auch das Loch, durch welches ihr gekrochen seid, muß verschüttet werden. Jetzt aber wollen wir wieder an das Tageslicht gehen! Ich muß da reine Arbeit machen. Du hast mir die Norm dazu gegeben: Blut um Blut!«

Ob er mit diesen Worten meine Ansicht ausgesprochen hatte, das ging mich jetzt nichts an. Ich hatte ihm nun alles übergeben und trat mit großer Befriedigung von der Führung der ganzen Angelegenheit zurück. Was nun zu geschehen hatte, das war nicht meine, sondern seine Sache. Meine und Halefs Arbeit war vollbracht.

Als wir wieder unten am Lager ankamen, meldete der Bimbaschi, daß die befohlenen Hiebe verabreicht worden seien. Es hätte dieser Meldung gar nicht bedurft, denn das Auge hatte uns schon gesagt, daß es geschehen war.

Nun wurden zunächst die Leichen der elf Perser aus dem verschütteten Kanal geschafft und herbeigebracht. Ihr Anblick war hier am Lichte des Tages ein fast noch gräßlicherer als unten im dunkeln Kanale. Im strengen, unbeweglichen Gesicht des Pascha stand ein unerschütterlicher Entschluß geschrieben. Er trat zum Säfir und fragte ihn wie schon einmal:

»Hast du die Karwan-i-Pischkhidmät Baschi überfallen?«

»Nein!« fauchte wie ein grimmiges Raubtier der Gefragte.

»Gut! Da du nicht gestehst, so wirst du heut noch aufgehängt!«

»Ich bin Perser! Vergiß das nicht!«

»Ein Mörder bist du, also wirst du gehängt!«

Hierauf richtete er dieselbe Frage auch wieder an die Ghasai. Sie waren durch die Hiebe nicht mürbe geworden und antworteten verneinend.

»So werdet auch ihr gehängt!« bestimmte er. »Ich werde die Mehkeme über euch zusammenrufen.«

»Das wag‘ ja nicht!« erwiderte der alte Geselle. »Wir sind freie Beduinen und müssen nach unsern eigenen Gesetzen behandelt werden!«

»Das ist mir recht. Euch geschehe, wie ihr wollt! Wie lautet euer Gesetz in Beziehung auf den Mord?«

»Blut um Blut, Leben um Leben. Aber wir sind keine Mörder!«

»Was ihr seid, das weiß ich ganz genau; ihr mögt gestehen oder nicht! Blut um Blut! Ihr werdet also erschossen, nicht gehängt!«

»Darüber lachen wir! Unser Stamm würde uns rächen; den fürchtest du!«

»Vor Schurken ist mir nie bange. Und wenn ihr lachen wollt, so lacht bald! In kurzer Zeit ist es dazu zu spät! Bimbaschi, ist ein Muballir unter deinen Leuten?«

»Ja,« antwortete der Gefragte.

»So kann es rasch gehen, und ich brauch nicht erst nach der Stadt zu schicken. Er mag vortreten! Ich gebe diesen blutigen Ghasai-Hunden, obgleich sie es nicht wert sind, eine Viertelstunde Zeit, sich auf den Tod des Erschießens vorzubereiten. Nun mögen sie lachen oder beten; die Wahl steht ihnen frei!«

Nach diesen Worten nahm sein Gesicht einen freundlichern Ausdruck an. Er winkte mir, mit ihm zu kommen, ging zu den abseits liegenden Schmugglern und sprach sie mit gedämpfter Stimme an:

»Ihr habt euch schwer, sehr schwer vergangen und müßtet eigentlich für lange Zeit im Gefängnisse stecken; aber ihr seid wenigstens keine Mörder und habt ein offenes Geständnis abgelegt. Darum will ich milde mit euch verfahren und euch folgendes mitteilen: Es muß gegen den Schmuggel so vorgegangen werden, wie der Padischah es befohlen hat; dazu ist erforderlich, daß jeder Kumrukdschi die Schliche der Schmuggler so genau kennt, wie ihr sie kennt. Ich habe darum die Absicht, jedem von euch die Strafe zu erlassen und ihn zum Kumrukdschi zu machen, wenn ihr darauf eingeht, mir alles, was ihr wißt, mitzuteilen. Doch mache ich euch darauf aufmerksam, daß die Strafe, welche ihn jetzt treffen würde, für jeden von euch, der als Beamter bei einer Unredlichkeit betroffen wird, sofort und in doppelter Höhe anzutreten ist. Sie wird also nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben; dem Ehrlichen ist sie geschenkt, der Unehrliche aber hat sie doppelt zu erleiden. Wer einverstanden ist, der sag ja!«

Ein so frohes ja, wie jetzt einstimmig erschallte, hatte ich wohl selten gehört. Der Pascha nickte, nahm mich am Arm mit fort und fragte:

»Werden Sie über diese Art und Weise, die Kerls zu bestrafen, jetzt lachen?«

»Nein. Ich bin überzeugt, daß Sie zwar gegen die Vorschriften des Gesetzes, aber doch sehr klug gehandelt haben.«

»Das genügt. Es wird meinem Gewissen nicht schwer werden, sich mit dem Gesetze abzufinden. Sie haben ja selbst gesagt, daß wir hier nicht in Stambul oder Paris sind. Andre Gegend, andre Menschen, andre Behandlung derselben! Darum, grad darum werden die Ghasai ohne alle vorherige, gerichtliche Verhandlung nach der von mir angegebenen kurzen Frist erschossen. Wollen Sie Zeuge dieser Exekution sein?«

»Ich bitte, mich zu beurlauben. Wir kamen hierher, um einige Orte, welche wir früher kennen lernten, zu besuchen, und haben bis jetzt keine Zeit dazu gehabt. Heut abend möchten wir wieder in Hilleh sein, und so wird es jetzt Zeit für uns, diesen Ritt zu unternehmen.«

Halef hätte der Erschießung der Mörder wohl gern beigewohnt, fügte sich mir aber doch. Wir ritten nach der Straße von Kerbela und dann auf derselben langsam weiter, um uns in die Erinnerung an den damaligen, für uns so schicksalsschweren Tag zu versenken. An derselben Stelle, wo wir damals Kehrt gemacht hatten, kehrten wir auch jetzt wieder um und verfolgten überhaupt ganz genau denselben Weg, den wir an jenem Tage geritten waren, ich mit der Pest im Leibe. So kamen wir auch an den Ort, an welchem wir die Leichen der uns so teuren Ermordeten gefunden hatten, und blieben längere Zeit da halten.

Hierauf nahmen wir wieder die Richtung nach dem Turm, doch nicht direkt, sondern wir umritten ihn an seiner südlichen Seite und kamen grad zur Zeit der größten Tageshitze an das kleine Wasser, dessen Rand längere Zeit unser Krankenlager gewesen war, da die Pest nach mir auch Halef gepackt hatte. Weil es hier ein, wenn auch spärliches Grün gab, stiegen wir ab, um die Pferde fressen zu lassen, und unterhielten uns über die traurigen Tage, welche wir hier verlebt hatten. Dann ritten wir nach der Ruinenstelle, an welcher den Toten von uns die letzte irdische Ruhestätte bereitet worden war6. Daß mein kleiner, lebhafter Halef während dieses Rittes und an diesen Erinnerungsstellen seine Gefühle in den vielfältigsten Farben und Redewendungen ausmalte und sich für unsere jetzige Reise in den kühnsten Hoffnungen erging, brauche ich wohl kaum zu sagen. Als wir dann zur heutigen Lagerstätte zurückkehrten, erfuhren wir, daß der Pascha sich mit den Offizieren im Innern des Birs befinde, um ein Verzeichnis der dortigen Gegenstände, welche fortgeschafft werden sollten, aufzunehmen. Er hatte nach der Stadt um Lastkamele und auch Soldaten geschickt, letztere zur Ablösung Amuhd Mahulis und seiner Mannschaften; sie sollten alles zum Begräbnisse der Perser und ihrer Mörder, welche während unserer Abwesenheit erschossen worden waren, Erforderliche mitbringen. Der Säfir lag still und zusammengekrümmt auf seinem Platze; ich kümmerte mich nicht um ihn. Der Pischkhidmät Baschi fragte mich, wie es mit seinem Eigentume stehe, welches er zurückverlange; ich wies ihn kurz angebunden an den General. Was die Schmuggler betrifft, so waren sie von ihren Fesseln befreit worden und arbeiteten mit Eifer daran, die Waren, welche sie während ihrer nächtlichen Züge mit herbeigebracht hatten, aus der unterirdischen Niederlage herauszuschaffen.

Der Bimbaschi teilte mir mit, daß die Ablösung bald eintreffen und er dann nach Hilleh zurückkehren werde; ich versprach, mich ihm anzuschließen und dann bis morgen früh sein Gast zu sein. Wir hatten das Geldpaket mit den fünftausend Tuman oben im Raume Nummer Drei gelassen, weil es dort sicher lag, und gingen nun hinauf, es zu holen. Es ging dort sehr lebhaft zu. Als der Pascha erfuhr, daß ich bald nach der Stadt wolle, lud er mich ein, mit im ›Regierungspalais‹ zu wohnen, was ich ihm aber infolge meines dem Bimbaschi gegebenen Wortes abschlagen mußte. Um meine Befürchtung zu zerstreuen, erklärte er mir, daß ihn dies nicht beleidige; bei seiner Überhäufung mit Arbeit hätte er sich mir doch nicht während des Abends widmen können. Bei dieser Gelegenheit holte ich nach, was ich bisher vergessen hatte. Ich gestand ihm, daß ich, um die Aufmerksamkeit der Soldaten zu verschärfen, damit uns niemand entkommen möge, jedem hundert, den Unteroffizieren aber zweihundert Piaster versprochen hätte. Er lobte das und zählte mir von dem vorhandenen Silbergelde den Betrag sofort zusammen. Durch diese Bereitwilligkeit kühn gemacht, trug ich ihm nun auch vor, wie lange Zeit der arme Bimbaschi keinen Sold erhalten habe. Er antwortete mir mit der scherzhaft klingen sollenden, aber ernst gemeinten Bemerkung:

»Sie scheinen den Segen des babylonischen Turmes auf alle Welt ausgießen zu wollen. Halten Sie ein damit, denn die Quelle, die Sie hier geöffnet haben, könnte sonst versiegen! Geben Sie ihm dieses hier, als Anerkennung, nicht als rückständige Gage, für deren Auszahlung ich morgen sorgen werde!«

Er gab mir eine große Handvoll Goldstücke aus der Truhe. Ich bedankte mich herzlich und verabschiedete mich für heute von ihm. Halef trug das schwere Paket mit dem Gelde unsers alten Bagdader Gastfreundes mit großem Stolze vom Birs Nimrud herab.

Wie freute sich Amuhd Mahuli über die goldenen Tumans, die ich ihm brachte! Und als ich dann mit der Austeilung der versprochenen Prämien begann, war auch der Jubel seiner Leute groß!

Kurze Zeit später kam die Ablösung, worauf wir mit unseren Kavalleristen »die alte Babel« verließen, die es auch dieses Mal mit uns so schlimm gemeint hatte. Der Kammerherr blieb da, um sich wegen seiner Forderung an den Pascha zu halten. Mir war das lieb, denn ich mochte von diesem Menschen nichts mehr wissen.

Unser nächtlicher Ritt nach dem Birs, der Zweck und auch der Erfolg desselben, hatte sich in der Stadt herumgesprochen; wir wurden also, als wir ankamen, von einer zahlreichen Menschenmenge förmlich angestaunt, doch nicht etwa mit Hurra empfangen. Daß ein verfluchter Christ, der erst vor der Mehkeme angeklagt und ihr entflohen war, solche Erfolge errungen hatte, das hatte keinesfalls den Beifall dieser Schiiten, zumal jedenfalls viele von ihnen zu den heimlichen Verbündeten der Pascher gehörten. Ich sah die meisten Augen nicht freundlich, sondern finster auf mir ruhen.

Der Bimbaschi bewohnte ein altes, kleines Häuschen, in dessen Hofe wir die Pferde unterbrachten. Das Gastzimmer, welches er uns bieten konnte, war eigentlich nur ein Winkel, und doch fühlten wir uns außerordentlich wohl bei ihm, weil wir nicht in diesem Winkel, sondern in seinem Herzen wohnten. Er war wegen der gehässigen Bevölkerung so vorsichtig, für den Abend und die ganze Nacht einen Posten auszustellen, und wir hatten Glück, nicht nur sein Haus, sondern auch seinen ›Harem‹ kennen zu lernen, Frau und Kinder, einfache aber gute Menschen, denen die jetzige Verbesserung ihrer Verhältnisse gern zu gönnen war.

Wir verlebten zusammen einen Abend, den ich mit vollstem Rechte einen Bibelabend nennen möchte, und ich bin überzeugt, daß die auf ein so empfängliches und fruchtbares Land gestreuten Samen aufgegangen sind. Als wir uns früh von dem dürftigen Lager erhoben, war der Hausherr schon beim Pascha gewesen, um von diesem zu erfahren, daß er nach Bagdad zu reiten habe, um dem dortigen Pascha einen sich auf die gestrigen Vorkommnisse beziehenden schriftlichen Bericht zu überbringen, dem er den mündlichen hinzufügen könne. Hierbei hatte es der General natürlich auch auf eine freundliche Überraschung für mich abgesehen, denn es freute mich ungemein, den Bimbaschi als Begleiter zu haben.

Vor dem Aufbruche verfügte ich mich selbstverständlich nach dem »Regierungspalast«, um mich von Osman Pascha zu verabschieden und ihm meinen Dank zu sagen. Er hoffte, mich auf dem Rückwege nach Persien in Stambul bei sich zu sehen, und teilte mir alles mit, was er gestern noch von den auf Bedingung begnadigten Paschern erfahren hatte. Es war für ihn viel, für mich aber nichts, was mir in Beziehung auf die Sillan und auf die »Rose von Schiras« hätte aufklärend oder sonstwie dienlich sein können.

Unsern Ritt nach Bagdad kann ich übergehen; er brachte uns nichts Interessantes. Aber als wir uns von Amuhd Mahuli, der zunächst zum Pascha mußte, getrennt hatten und dann an unserer gastlichen Pforte hielten und die schlürfenden Pantoffelschritte des alten Bimbaschi jenseits derselben hörten, sagte Halef.

»Jetzt gehen die Überraschungen los! Laß du mich sprechen, mich, mich, mich, du aber schweig, Sihdi! Ich bitte dich herzlich, ganz herzlich darum!«

Die spitze Nase und das alte, fahle, aber liebe Gesicht erschienen.

»Wir sind es, wir!« meldete der Hadschi.

Ein mir unverständlicher, polnischer Ausdruck der Freude kam zwischen den dünnen, blutleeren Lippen hervor; dann wurde das Thor geöffnet. Halef ritt sofort und direkt bis an die Hausthür, stieg dort ab, band das Geldpaket vom Sattel los und rief:

»Kommt in das Zimmer! Eher wird kein Wort gesprochen!«

Er ging in das Wohnzimmer des Bimbaschi; dieser folgte ihm, ohne etwas zu sagen. Kaum waren wir eingetreten, so pustete es hinter uns wie aus der Lunge eines Menschen, der zwei Stunden lang Galopp gelaufen ist; dieses Pusten war auch ganz selbstverständlich, denn der dicke Kepek kam. Da fragte Halef den Bimbaschi:

»Kannst du dich noch auf alles besinnen, was wir gesprochen haben?«

»Ja,« nickte dieser.

»Ich habe dir gesagt, daß ich niemals ohne Peitsche in den Birs Nimrud steigen würde. Auch habe ich gesagt, ich wünschte, wir würden einmal von dem Säfir in den Birs gesperrt; da würdest du bald sehen, wie schnell wir uns freimachen und dafür diesen Halunken fangen würden. Kannst du dich darauf besinnen?«

»Ja.«

»Wie hoch war die Summe, welche der Säfir dir damals abgepreßt hat?«

»Grad zweimalhunderttausend Piaster,« antwortete der Alte, der sich noch immer nicht in das vor Freude strahlende Gesicht des Hadschi finden konnte.

»Sind das fünftausend persische Tumans?«

»Ja, wahrscheinlich!«

»Nun, so höre, wir waren die Gefangenen des Säfir –-Ich habe meine Peitsche mit in den Turm genommen –-Wir haben uns frei gemacht – –! Der Säfir wurde von uns gefangen, gebunden und geprügelt – –! Und hier sind deine zweimalhunderttausend Piaster – –! Der Säfir hat sie wieder hergeben müssen und wird aufgehängt – –! So, das ist es, was ich dir zunächst sagen will. Wir sind wieder da und bringen dir deinen Schwur, zu schweigen und Bagdad niemals zu verlassen, auch zurück; er gilt nicht mehr, denn die Bande ist aufgelöst und kann dir nichts mehr schaden!«

Da that es hinter mir einen großen, quatschig klingenden Plumps. Ich drehte mich um, und sah den dicken Diener, mit Händen und Füßen wie eine umgestürzte Schildkröte zappelnd, am Boden liegen. Er war vor freudigem Schreck umgefallen. Ich hob ihn auf, wozu ich alle meine Kräfte nötig hatte. Kaum war er wieder auf, so schwappte er zu Halef hin, riß ihm das Paket aus der Hand und watschelte, ohne ein einziges Wort zu sagen, in größter Eile damit zur Thür hinaus. Der fette Praktikus wollte zunächst und vor allen Dingen den Nervus rerum gerendarum in Sicherheit bringen, worin er auch von niemandem, nicht einmal von seinem Herrn, gehindert wurde.

Dieser stand wie eine Bildsäule vor uns. Die Augen weit offen, sah er bald mich, bald Halef an.

»Ihr – – ihr seid also in – – – in – –?« fragte er endlich, doch ohne den Satz vollständig hervorzubringen.

»Ja,« bestätigte ich. »Es ist alles so, wie Halef sagte. Du hast dein Geld wieder, und der Säfir ist für immer unschädlich gemacht.«

Da sank er auf die Kniee nieder, faltete die Hände und betete so laut und inbrünstig, daß uns die Thränen in die Augen traten. Er dankte Gott für die unerwartete Errettung von der immerwährenden Pein, die ihm der abgezwungene Schwur bereitet hatte. Als er diesem ersten und mächtigsten Triebe seines Herzens nachgekommen war, stand er wieder auf und fragte, nein, er wollte fragen, kam aber nicht dazu, denn die Thür wurde aufgemacht, Kepek steckte den Kopf herein und sagte: »Das Geld war sehr schwer; ich habe es versteckt, sehr gut versteckt.«

»Wohin?« fragte sein Herr.

»In die Küche. Da habe ich es unter das Bahar versteckt, wo kein Spitzbube es sucht und findet. Gieb mir fünfzig Piaster, Herr!«

»Fünfzig Piaster? Welche Summe! Die habe ich heut nicht! Wozu brauchst du sie?«

»Ich muß Kaffee holen und Tabak, auch Fleisch, Mehl und viele andere Sachen.«

»Allah w’Allah! Schon wieder? Du bist doch erst gestern einkaufen gewesen! Da gingst du nach dem Mittagessen fort und kamst erst abends wieder, als es dunkel geworden war!«

»O Effendi, o Emir, willst du mich schon wieder mit so ganz unbegründeten Vorwürfen kränken? Es giebt wohl keinen einzigen Sajis hier in der Stadt, der so schnell rennt, wie ich zu hetzen pflege. Da geht der Atem verloren; die Beine zittern vor innerer Aufregung, und das angegriffene Herz verlangt nach einem Sitze der Erholung und der Ruhe.«

»Und des Plauderns; das ist die Hauptsache!«

»Betrübe doch dieses müde Herz nicht schon wieder. Ich pflege so stumm im Kaffeehause zu sitzen wie ein Verstorbener im Grabe. Gestern habe ich für dich und für mich eingekauft; du weißt, für uns genügen die gewöhnlichen Sorten; wenn man aber teure Gäste bei sich hat, so werden auch die Einkäufe teurer! Dir das zu erklären, sollte doch wenigstens in ihrer Gegenwart nicht nötig sein! Wir haben ihre glückliche Wiederkehr zu feiern; darum muß ich fünfzig Piaster ausgeben, weniger nicht.«

»Die habe ich aber heut nicht!«

»O Unglück meines Lebens; o Reichtum meiner Sorgen! Was wird der Kahwedschi sagen, wenn ich mit leeren Händen zu ihm komme! Meine Ehre ist hin, und das Vertrauen aller meiner Nebenmenschen geht mir verloren!«

»Warum?«

»Weil ich ihm zwanzig Piaster schuldig bin, die ich von ihm geliehen habe, weil ich einen neuen, irdenen Topf brauchte, zu dessen Ankauf mein Vermögen nicht mehr reichte.«

»Kostet denn ein irdener Topf zwanzig Piaster?«

»Nein. Ich habe fünfzig Para dafür gegeben; aber er zerbrach mir unterwegs; da mußte ich einen zweiten kaufen, den mir ein vorbeigaloppierender Esel aus der Hand riß und zerschmetterte. Ich kaufte einen dritten und ging in das Kaffeehaus, um diese Aufregung zu vergessen. Beim Niedersetzen kam ich auf den Topf, und bei dem Gewichte meines Körpers wirst du einsehen, daß er da in Scherben ging, welche außerordentlich schmerzlich für mich waren, sodaß ich einstweilen nicht wieder aufstehen konnte, sondern sitzen bleiben mußte, um über die Rücksichtslosigkeit der Trümmer dieses unglücklichen Topfes eifrig nachzudenken. Da that mir mein Freund, der Kahwedschi, den Gefallen, selbst zu gehen, um einen vierten einzuhandeln; dieser war größer und kostete siebzig Para. Die versammelten Freunde und Bekannten erbarmten sich meines Unglückes und machten mir den mildthätigen Vorschlag, auf die unerschütterliche Haltbarkeit dieses vierten Topfes einen Kaffee und eine Limonade zu trinken, worauf ich dankbar eingegangen bin. Aus einem Kaffee und einer Limonade wurden bei dem großen und aufrichtigen Mitgefühle dieser guten Leute mehrere, und so wirst du als einsichtsvoller Mann es für ganz selbstverständlich halten, daß ich dem Kahwedschi zwanzig Piaster schuldig geworden bin, welche ich ihm baldigst geben muß, wenn meine und auch deine Ehre nicht für alle Zeit abhanden kommen soll.«

Ich hätte über diese interessante Topfgeschichte gerne laut aufgelacht, unterdrückte aber meine Heiterkeit, als ich die betrübte Miene sah, mit welcher der Bimbaschi seufzte:

»Zwanzig Piaster für drei zerbrochene und einen ganzen Topf! Was kann es denn einem Topfe nützen, wenn man auf seine Unzerbrechlichkeit auf meine Rechnung Kaffee und Limonade trinkt! Onbaschi, ich bin gar nicht mehr mit dir zufrieden! Und nun soll ich dir fünfzig Piaster geben, die ich gar nicht besitze! Was ist da zu thun?«

»Du hast sie ja!«

»Wo denn?«

»In der Küche, unter dem Gewürz! Da liegt jetzt mehr, viel mehr; da stecken jetzt volle zweimalhunderttausend Piaster! Ich hoffe, daß du das nicht schon vergessen hast!«

»Dieses Geld wird nicht angegriffen!«

»So erweise mir die Güte, nachzusuchen, ob du nicht irgendwo einige Piaster liegen hast, welche sich aus der Öffentlichkeit deines Gedächtnisses zurückgezogen haben!«

Der wichtige und würdevolle Ernst, mit welchem diese Angelegenheit verhandelt wurde, war zum Platzen. Auch Halef gab sich alle Mühe, nicht zu lachen; er blinzelte mich fragend an, und als ich zustimmend nickte, sagte er zum Bimbaschi:

»Ich habe während des ganzen Tages im Sattel gesessen, und so ist es für mich eine wahre Wohlthat, eine Strecke gehen zu können. Wenn du es erlaubst, so begebe ich mich sogleich in die Stadt, um einzukaufen, was der Onbaschi braucht.«

Da fiel der Dicke, ohne abzuwarten, was sein Herr sagen werde, schnell und eifrig ein:

»Ja, das erlauben wir; wir erlauben es sogar sehr gern! Du wirst gehen und bezahlen, und ich gehe mit!«

»Nein, du bleibst,« entgegnete Hadschi. »Nähme ich dich mit, so würden wir vielleicht erst morgen wieder kommen; ich würde an dir festgebunden sein, wie ein kleines, schnelles Vöglein an einer langsamen Riesenschnecke.«

»Aber mein Kahwedschi muß bezahlt werden, und du kennst ihn nicht und weißt nicht, wo er wohnt!«

»Der kann warten!« bestimmte der Bimbaschi. »Dich treiben nicht die zwanzig Piaster, welche du ihm schuldest, zu ihm.«

»Was sonst, Effendi?« fragte der Dicke mit der unschuldigsten Miene.

»Du willst erzählen; du willst von den zweimalhunderttausend Piastern sprechen; du willst, um die Größe deiner Klugheit und Vorsicht zu beweisen, sogar sagen, wo sie stecken. Ich kenne dich!«

»Welch eine fürchterliche Beschuldigung! Wenn du es wünschest, werde ich weniger, viel weniger sagen. Ist es dir recht, daß ich bloß von hundertfünfzigtausend spreche oder gar von hunderttausend? Ich will ja gern bescheiden sein!«

»Du wirst gar nicht von diesem Gelde sprechen; Hadschi Halef Omar geht allein!«

»Das sagst du so bestimmt! Ist’s ein Kommando, dem ich gehorchen muß?«

»Ja.«

Da watschelte der Onbaschi nach der Wand, legte beide Hände an, ließ sich in der schon beschriebenen Weise mühevoll in die sitzende Stellung niedergleiten und seufzte dann:

»So setze ich mich und stehe gar nicht wieder auf. Wenn er die Sachen holt, ohne mich mitzunehmen, mag er sie auch braten und kochen ohne mich! Ich muß mich fügen, weil ich dazu gezwungen werde. Da sitze ich! Nun bin ich aber sehr gespannt darauf, zu erfahren, was ihr während eurer Abwesenheit erlebt habt, und bitte dich, Hadschi Kara Ben Nemsi Effendi, es uns jetzt zu erzählen!«

Da fiel Halef schnell und energisch ein:

»Nein, nein! Effendi, versprich mir, zu schweigen und kein Wort zu sagen, bis ich wiederkomme! Du weißt, daß nur ich die Gabe der Rede und den Beruf der entzückenden Erzählung habe. Du würdest mich um einen der schönsten aller irdischen Genüsse bringen, wenn du mir das Recht entzögest, der einzige oder doch wenigstens der erste zu sein, der von den Ereignissen am Birs Nimrud sprechen darf. Ich bitte dich also dringend, zu warten, bis ich wiederkomme! Willst du, lieber Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich.

»Du wirst kein Wort, aber ja kein einziges, sagen?«

»Ich will dir die Freude nicht verderben; aber wenn du jetzt in der Stadt herumlaufen und dich dann lange in der Küche beschäftigen mußt, wird die Geduld des Bimbaschi zu sehr auf die Probe gestellt.«

»Ich werde eilen; ja, ich werde förmlich springen. Zu braten oder zu kochen, fällt mir gar nicht ein, sondern ich werde nur solche Speisen kaufen, die wir gleich so, wie ich sie bringe, essen können. Du wirst also warten und schweigen?«

»Eine halbe Stunde, länger nicht!«

»Das ist mir genug; ich komme noch eher, noch viel eher wieder. Leb also einstweilen wohl, und halte deinen Mund!«

Mit dem letzten Worte war er schon zur Thür hinaus, und als er nachher wieder hereintrat, war erst die Hälfte der zweiten Viertelstunde vorüber; er schwitzte, so sehr hatte er sich beeilt.

»Es liegt alles in der Küche,« meldete er. »Was soll erst geschehen, das Erzählen oder das Essen?«

»Das Erzählen,« antwortete der Bimbaschi.

»Das Essen,« rief der Dicke.

»Oder beides zugleich?« fragte ich.

»Nicht zugleich!« bat Halef. »Mein Mund ist doch kein Thor, durch welches man zu gleicher Zeit hinein- und herausgehen kann! Wandert ein Stück Fleisch hinein, so kann nicht in demselben Augenblicke der Schönheitsglanz meiner Sprache auf den Lippen erscheinen. Ich bitte dich, nicht zuzugeben, daß die hinreißende Kraft der Ausdrucksweise durch das Verlangen des Magens und die Arbeit der Zähne nicht bloß in den Schatten gestellt, sondern ganz und gar verdunkelt werde!«

»So erzähle jetzt, und später essen wir. Kepek wird inzwischen wohl nicht vor Hunger sterben!«

Der Dicke antwortete nur mit einem ebenso tiefen und langen wie entsagungsvollen Seufzer, wobei er die gefalteten Hände auf diejenige Stelle legte, wo bei ihm unter der schützenden Fettschicht der edle Vorgang der Verdauung stattzufinden pflegte. Halef aber setzte sich in Positur und begann seinen Vortrag mit einer Miene, aus welcher zu schließen war, daß wir ein Meisterstück orientalischer Beredsamkeit zu hören bekommen würden.

Und wir bekamen es! Damit mag alles gesagt sein. Ich habe seine Art und Weise, sich auszudrücken, schon oft erwähnt und brauche also nur zu konstatieren, daß er die beabsichtigte Wirkung vollständig erreichte. Oft aufspringend, um seine Worte mit energischen Gestikulationen zu begleiten, riß er den Bimbaschi förmlich hin, und selbst Kepek war so ganz bei der Sache, daß er von der Wand, an welcher er lehnte, vor lauter Aufmerksamkeit immer tiefer rutschte und, als Halef mit einem bombastischen Satze schloß, mit dem Kopfe auf dem Boden lag.

»Welch ein gefährliches, wunderbares Ereignis!« rief der Bimbaschi aus. »Es war ganz unmöglich, zu ahnen, daß ihr so etwas erleben würdet!«

»Ich bin weg; ich bin nicht mehr da!« klagte der Dicke. »Die Aufmerksamkeit hat mich umgebracht; es thun mir vor Entzücken alle meine Glieder wehe! Hilfe, Hilfe! Hadschi Halef, heb mich auf!«

Halef gab sich alle Mühe, dieser Aufforderung nachzukommen. Als er den vor Anstrengung krebsrot gewordenen Diener endlich auf hatte, schlug dieser die feisten Hände zusammen und gestand, indem er vor Bewunderung die kleinen, kaum sichtbaren Augen verdrehte:

»Ihr seid wirklich wahre Helden! Euch ist nichts zu viel und schwer! Also dieser brüllende Löwe, der Säfir, ist gefangen, wirklich gefangen?«

»Ja,« antwortete Halef stolz. »Es ist alles genau so, wie ich erzählt habe. Dieser brüllende Löwe, wie du ihn nennst, ist jetzt ein zertretener Wurm, der euch nichts mehr schaden kann.«

»Vielleicht doch!« entgegnete der Bimbaschi. »Er ist ein so gefährlicher Mensch, daß man sich nur dann, wenn er gestorben ist, nicht mehr vor ihm zu ängstigen braucht. Daß ihr trotz meiner Warnung mit ihm angebunden habt, war kühn, war sogar verwegen von euch. Ich bewundere, Effendi, deinen Mut, deine Umsicht, deine Kaltblütigkeit, deine Klugheit und List; ich bin dir stete Dankbarkeit dafür schuldig, daß du dabei in dieser Weise an mich gedacht hast; ihr habt vollbracht, was kein anderer fertig brächte; aber ich kann nur dann erst ruhig sein, wenn ich weiß, ganz gewiß weiß, daß er nicht mehr lebt!«

Als ich ihm hierauf antworten wollte, ertönte draußen an der Pforte ein starkes Klopfen.

»Es kommt jemand, Emir,« sagte Kepek zu seinem Herrn.

»Geh du, um nachzusehen! Ich bin so ermüdet vom Zuhören, daß ich mich wieder setzen muß!«

Er rutschte sich wieder an der Wand auf den Boden nieder, und der gehorsame Bimbaschi schlürfte zur Thür hinaus. Es dauerte eine längere Zeit, bis er zurückkehrte; er kam nicht allein, sondern brachte – –Amuhd Mahuli mit, dem ich unsere Wohnung allerdings genau beschrieben hatte.

»Verzeih, Effendi, daß ich dich schon heut belästige!« begrüßte er mich. »Ich wollte dich erst morgen besuchen; aber der Pascha vertraute mir diese zwei Briefe an, welche ich noch heut abzugeben habe.«

Er zog zwei Schreiben aus der Tasche, von denen er das eine dem Bimbaschi und das andere mir überreichte. An mich war adressiert: »Emir Kara Ben Nemsi Effendi aus Dschermanistan«; unser Gastfreund wurde auf seinem Briefe nicht Bimbaschi, sondern Mir Alai tituliert.

»Das ist entweder ein Versehen, oder der Brief ist nicht an mich“, sagte er.

»Es ist kein Versehen, und der Brief gehört dir,« antwortete Amuhd Mahuli lächelnd. »Ich hatte einen langen, ausführlichen Bericht Osman Paschas zu überbringen, der unser sehr warm gedacht zu haben scheint, denn als der hiesige Pascha das Schreiben gelesen hatte, war er von doppelter Freundlichkeit als vorher, reichte mir die Hand und bestätigte meine Ernennung zum Bimbaschi. Er ließ Kaffee und Pfeifen bringen, und ich mußte mich zu ihm setzen und erzählen. Dann schrieb er diese Briefe und schickte mich hierher. Ich las die Adresse und erlaubte mir, darauf aufmerksam zu machen, daß Mir Alai anstatt Bimbaschi geschrieben worden sei; da sagte er mir, daß Osman Pascha es so wolle; morgen abend werde er das übrige sagen.«

Wir öffneten die Briefe; sie enthielten die außerordentlich höfliche Einladung zum Ascha beim Pascha für morgen, weiter nichts, aber doch genug!

»Zum Ascha eingeladen! Beim Pascha! Und dieser höhere Rang!« rief der alte Pole erregt. »Was hat das zu bedeuten?«

»Daß Osman Pascha mir Wort gehalten hat,« antwortete ich. »Du bist, was wir bei uns rehabilitiert nennen, und noch mehr, denn mir schwant, daß du morgen deine Ernennung zum Oberst erfährst.«

Da ließ er den Brief aus den Händen fallen und sprach:

»Wäre das wirklich möglich!? Dann fehlt nur noch die Hinrichtung des Säfir, um mir wenigstens in dieser Beziehung meine Ruhe, meinen Frieden zurückzugeben!«

»Die Hinrichtung des Säfir?« fragte Amuhd Mahuli. »Der ist ja tot!«

»Tot?« ließ da ich mich hören. »Davon weiß ich ja nichts!«

Da richtete Amuhd Mahuli einen sehr bezeichnenden, verständnisinnigen Blick auf mich und antwortete mir:

»Er ist so gestorben, wie du ihm vorhergesagt hast.«

»Wann und wo?«

»Wann – – noch am Abend desselben Tages. Wo – – im Gefängnisse; er hat sich selbst aufgehängt.«

»Sich – – – selbst?«

»Ja, sich selbst. Osman Pascha war in seinem Gefängnisse, ihn zu vernehmen, und schloß ihn dann wieder ein. Als eine halbe Stunde später der Wärter kam, um ihm Wasser zu bringen, hatte er sich aufgehängt.«

»Wann und von wem hast du das erfahren?«

»Als du früh noch bei mir schliefest und Osman Pascha mich zu sich kommen ließ, um mich mit euch nach Bagdad reiten zu lassen, da erzählte er es mir.«

»Warum hast du gegen mich geschwiegen?«

»Weil Osman Pascha mir das Versprechen abnahm, dir den Tod des Säfir erst hier in Bagdad mitzuteilen. Vielleicht kannst du dir seine Gründe denken.«

Natürlich konnte ich sie mir denken! Osman hatte dem Säfir gesagt, daß er heut noch aufgehängt werde, und sein Wort war in Erfüllung gegangen. Um mich über das Wie aufzuklären, brauchte ich nicht erst wieder nach Hilleh zu reiten und mich bei dem strengen Richter zu erkundigen; er hätte mir es doch nicht gesagt; ich konnte mir diese Frage schon selbst beantworten.

Außerordentlich groß war der Eindruck, den die Nachricht von dem Tode des Säfir auf meinen Bimbaschi machte. Er sah sich aller seiner Angst und Sorge enthoben und sprang vor Freude wie ein junger Mensch im Zimmer umher. Auch Kepek machte seiner Wonne durch verschiedene Gutturaltöne Luft, versäumte aber nicht, dabei auch die Frage an Halef zu richten, ob das Essen wirklich schon in der Küche stehe. Das ließ den Hausherrn an seine Pflicht als Gastgeber denken; er bat den Hadschi, das Essen zu bringen und lud Amuhd Mahuli ein, nicht nur jetzt mit uns zu speisen, sondern überhaupt während seines Bagdader Aufenthaltes der Gast dieses Hauses zu sein; Platz sei genug für uns alle da! Der frühere »Kol Agasi und jetzige Bimbaschi« nahm diese Einladung mit Vergnügen an; er hatte sie wahrscheinlich schon im stillen gewünscht, um länger mit mir beisammen sein und noch so einen »Bibelabend«, wie der in Hilleh gewesen war, mit mir verleben zu können.

Das einfache, kalte Mahl wurde mit einer Heiterkeit eingenommen, wie diese Räume sie wohl noch selten gehört und gesehen hatten. Halef war bei vortrefflicher Stimmung, da wir seine feurigen Interjektionen über unsere unvergleichlichen Heldenthaten still über uns ergehen ließen, und der dicke Kepek bildete einen zwar ganz still nur mit den Zähnen arbeitenden, aber trotzdem nicht weniger unterhaltenden Gegenstand unserer Aufmerksamkeit.

Nach dem Essen beschäftigten wir uns mit unsern Pferden, denen auch ein »Fest- und Siegesmahl« vorgesetzt wurde, wie Halef sich auszudrücken beliebte, und als es dunkel geworden war, stiegen wir, wie am letzten Abend vor unserm Ritte nach den Ruinen, auf das platte Dach hinauf, um bei den dampfenden Tschibuks uns wieder und immer wieder zu sagen, was für ein großer Unterschied doch zwischen jenem und dem heutigen Abend sei.

Ich lenkte darauf ein, daß wir diese glücklichen Erfolge nicht uns selbst, sondern der Fügung und dem Beistande Gottes zu verdanken hätten, und so kam das Gespräch auf den Gegenstand, der nicht bloß mir und Halef, sondern für heut auch den beiden Offizieren der liebste und willkommenste war. Wir saßen und sprachen beim Flüstern der Palmwedel bis tief in die Nacht hinein, und als wir endlich aufstanden und uns in gehobenster Stimmung die Hände reichten, hielt der Pole die meinige fest und sagte:

»Effendi, ich gewinne dich mit jedem Augenblicke lieber und gestehe aufrichtig, daß das, was du heut abend wieder gesprochen hast, mir höher steht als alle Worte und Visionen Muhammeds. Schon hast du mich gefangen; ich bin dein Eigentum und das Eigentum dessen, der dich so sprechen läßt; aber zeige mir eine Spur, nur eine einzige Spur meiner lieben, die ich verloren habe, so werde ich euer Eigentum nicht nur sein, sondern werde es auch bleiben!«

»Stellst du nicht schon wieder Bedingungen?« antwortete ich. »Gott läßt sich weder gebieten noch mit sich handeln und schachern. Bete zu ihm; bitte ihn, denn, wie ich dir schon gesagt habe, das Gebet ist die Himmelsleiter, auf welcher das Vertrauen der Menschen aufwärts und die erhörende Liebe des Allmächtigen herniedersteigt!«

»Wohl, ich werde beten! Gute Nacht, Effendi!«

»Gute Nacht!«

Die Einladung zum Pascha bezog sich nicht bloß auf mich, sondern auch auf Halef; auch Amuhd Mahuli hatte zu erscheinen. Als wir ankamen, sahen wir, daß es sich um einen Istikbal, eine feierlichen Empfang handelte, bei dem die hohen Militär- und Ziviloffizianten des Pascha anwesend waren. Es ging während der ersten Viertelstunde sehr feierlich her; als dann aber die Tschibuks in ihre Rechte kamen, wurde es gemütlicher. Bei Tafel, welchen Ausdruck man freilich nicht wörtlich nehmen darf, forderte der Pascha mich auf, einiges von meinen und Halefs Erlebnissen zu erzählen, worauf ich mir die Bemerkung gestattete, daß Halef ein viel besserer Erzähler sei als ich. Der Kleine war darüber ganz entzückt und entledigte sich der ihm noch nie gewordenen Aufgabe, einen Pascha von mehreren Roßschweifen zu unterhalten, in so vortrefflicher Weise, daß der Gebieter am Schlusse lächelnd gestand, er sei noch nie einer Erzählung wegen so spät schlafen gegangen, wie heute.

Er verabschiedete jeden von uns einzeln. Als er unserm Polen, der in seiner alten Uniform mit dem Bimbaschiabzeichen erschienen war, die Hand gab, sagte er:

»Ich habe dir mitzuteilen, daß der Padischah, Allah segne und schütze ihn, dir infolge deiner Verdienste den Rang eines Mir Alai verliehen hat; die schriftliche Zufertigung wirst du in den nächsten Tagen erhalten. Bedanke dich nicht bei mir, sondern bei deinem Freunde Kara Ben Nemsi Effendi, dem, wie es scheint, selbst der Beherrscher der Gläubigen alle Wünsche zu erfüllen hat!«

Bei diesen Worten schüttelte er mit heiterem lachen auch mir die Hand, und wir durften uns entfernen, wobei wir durch ein Spalier sich tief verbeugender Beamten schritten, um dann auf weißen Eseln heimzureiten.

Eine ungeahnte Folge des Avancements des Polen war, daß Halef jetzt nicht nur von einem »früheren Kol Agasi und jetzigen Bimbaschi«, sondern nun auch von einem »früheren Bimbaschi und jetzigen Mir Alai« sprach, und daß Kepek sich noch viel dicker gab, als er eigentlich war; der Diener und Vertraute eines Mir Alai zu sein, das machte ihn ungeheuer stolz.

Amuhd Mahuli blieb noch zwei Tage in Bagdad; als er dann nach Hilleh zurückkehrte, hatte ich die feste Überzeugung, daß Muhammed und der Kuran bei ihm nichts mehr galten. Ich schenkte ihm ein neues Testament in arabischer Sprache, und er versprach mir, es des Abends, wenn er keinen Dienst habe, sehr fleißig durch- und auch den Seinen vorzulesen. – – –

  1. »– – – darbringen dem höchsten Gott, nur allein um seine Herrlichkeit zu zeigen.«
  2. Siehe Karl May »Von Bagdad nach Stambul« Seite 290

Wenn schon bei mündlichen Erzählungen Wiederholungen dehnend oder gar störend wirken, so muß man von dem Verfasser einer schriftlichen Erzählung erst recht verlangen, daß er das, was er schon einmal ausgesprochen hat, nicht wieder sage. Wenn aber ein Autor Zwecke verfolgt, wie die meinigen sind, Zwecke, welche sich auf den Glauben an Gott, auf den Sinn für alles Gute, Schöne und Edle beziehen, so giebt es für ihn Gedanken und Betrachtungen, die er – es sei mir ein landläufiger Ausdruck erlaubt – nicht oft genug wiederholen kann. Eine dieser meiner zuweilen wiederkehrenden Betrachtungen ist die, daß die Ereignisse nicht nur des Völkerlebens, sondern auch im Leben des Einzelmenschen unter einander in einem Zusammenhange stehen, welcher sich dem ungeübten Auge zwar oft entzieht, aber trotzdem vorhanden ist und grad dann, wenn man es am wenigsten erwartet hat, zur Offenbarung kommt. Wie die nach irdischen Begriffen fast endlos weit von einander entfernten Sterne des Firmamentes durch ewige Gesetze zusammengehalten werden, so sind auch die Handlungen des Menschen und die Ereignisse seines Lebens, mögen sie noch so entfernten Zeitpunkten angehören, doch so eng mit einander verbunden, daß nicht gar selten in einem Vorgange des Greisenalters die Folge einer That der doch schon längst vergangenen Jugendzeit zu erkennen ist. Es giebt im innern und äußern Leben des Menschen nichts, was man als vollständig und für immer abgeschlossen bezeichnen darf, vielmehr ist alles, was geschieht, die Frucht eines vergangenen Tages, welche den Kern zur Weiterentwicklung ihrer Art in sich trägt. Ihrer Art! Ich sage das mit Vorbedacht, denn eine gute That kann nur Gutes und eine böse nur Böses gebären. Das ist ein ewiges und unerschütterliches Gesetz, an dem man zwar deuteln mag, ohne es aber ändern zu können. Wie häufig kommt es vor, daß ein ganz guter, herzensbraver Mensch ganz plötzlich die Konsequenzen einer That über sich hereinbrechen sieht, die, damals bereut und seitdem längst vergessen, Jahrzehnte weit hinter ihm zu liegen schien, ihn aber doch bis heut begleitete! Und ebenso ist es zu erleben, daß die Ausführung einer freundlichen Eingebung, an die kein Mensch mehr zu denken schien, völlig unerwartet nach langen Jahren Lohn und Segen bringt!

Ich, der ich diese Erfahrung so häufig nicht nur an mir selbst, sondern auch an andern gemacht habe, bin der festen Überzeugung, daß die Jahrtausende alte Sage von dem Engel, welcher jeden Gedanken, jedes Wort und jede That des Menschen in das »Buch des Lebens« einträgt, eine ebenso schöne wie treffliche Versinnbildlichung des göttlichen Ratschlusses ist, daß jeder Mensch die Folgen seiner seelischen und körperlichen Handlungen zu tragen habe, und zwar nicht ausschließlich hier, sondern mehr noch in jenem Leben, wo nichts mehr verheimlicht werden kann, sondern alles bekannt und offenbar wird. Es ist das für den einen ein fürchterlicher und für den andern ein tröstlicher Gedanke, der jenen zur Ein- und Umkehr mahnt, diesem aber Mut, Geduld und Zuversicht verleiht.

Man hört so häufig sagen, daß das Schicksal den Gerechten leiden, den Ungerechten aber fröhlich leben lasse. Könnten die, welche dies behaupten, doch diesen Ungerechten sehen, wenn er sich unbeobachtet glaubt! Und könnten sie sich an der stillen, frohen Hoffnung dieses Gerechten erbauen! Das Schicksal?! Wie ungern höre, spreche und schreibe ich dieses Wort! Wenn wir unter dem Schicksale das Ergebnis von Ursachen verstehen, die nicht von der Macht des Menschen abhängen, so besitzt er doch so viel geistige Freiheit und Selbstbestimmung, daß er gar wohl befähigt ist, in dieses ihm von der Natur und den Verhältnissen vorgeschriebene Schicksal umgestaltend und bessernd einzugreifen und sich also als Herr desselben zu zeigen. Und wenn dazu die Überzeugung kommt, daß das irdische Leben nur die Vorstufe eines höhern Daseins ist, für welches diese Ursachen und ihre Wirkungen zu überwinden, zu besiegen sind, so ist es nicht eine Last, sondern eine Freude, den Kampf mit ihnen aufzunehmen, und mit unfehlbarer Sicherheit stellt sich die Erkenntnis ein, daß wir nicht Sklaven, sondern Meister des sogenannten Schicksals sind. Nur dürfen wir uns nicht von ihm wie auf einem ruder- und steuerlosen Floße treiben lassen, sondern müssen die Augen offen halten, um unsere Thaten in uns entstehen zu sehen und ihnen nach außen hin Kraft, Gestalt und Richtung geben zu können. Dann werden wir die Genugthuung haben, nicht nur den äußern Verlauf unsers Lebens in der Hand zu halten, sondern auch die enge Beziehung seiner Einzelheiten untereinander zu erkennen und sogar bestimmend in das Dasein anderer, willensschwächerer Menschen einzugreifen. Sein Schicksal selbst zu lenken und mit demselben auf dasjenige anderer einzuwirken, ist so schwer, wenn man den Blick dabei nicht nach dem jenseits richtet, und doch so leicht, wenn man sich nur nach dem einen, einzigen Gesetze richtet, welches die Welt, die Erde, den Menschen und das für uns unsichtbare Stäubchen regiert – die Liebe!

Warum ich in dieser Weise philosophiere, moralisiere und spintisiere, anstatt einfach weiter zu erzählen? Gut, ich erzähle!

Ich hatte unsere Reise nach Schiras gleich oder doch nur kurze Zeit nach unserer Rückkehr vom Birs Nimrud fortsetzen wollen, da aber trafen wir in Bagdad einen Händler, welcher eine in der Dschesireh außerordentlich berühmte Schönheitssalbe verkaufte, deren Verfertigerin oben in der Gegend von Kirmanschah zu suchen war. Es war in einem Kaffeehause, wo der Mann sein Mittel ausrief und es auch uns anbot. Ich glaubte, daß Halef ihn einfach fortweisen werde; er ließ sich aber in ein Gespräch mit ihm ein, indem er ihn fragte:

»Darf ich dich vielleicht bitten, mir zu sagen, von wem du dieses Wundermittel der Schönheit beziehst?«

»Ich kenne keinen Grund, es dir zu verschweigen,« antwortete der Tutschar, »denn ich bin stolz darauf, der einzige zu sein, dem die Verfertigerin den Verkauf für diese Gegend gestattet hat. Ich habe von ihr die Erlaubnis, sie jährlich zweimal zu besuchen, um mir die Marham ed Dschamahl von ihr zu holen. Da warten schon alle Harimat auf mich, um in den Besitz der Wundersalbe zu kommen.«

»Bewirkt sie wirklich die Wunder, von denen man überall erzählt?«

»Oh, mehr, viel mehr, als man erzählen kann! Sobald man mit ihr das Gesicht nur berührt, verschwinden alle Runzeln, Falten und sonstigen Übel, welche den Glanz der Wangen zu entstellen vermögen.«

»Du übertreibst!«

»Nein, bei Allah, nein! Könntest du den Stamm besuchen, dem die Verfertigerin der Salbe angehört, so würdest du nur Frauen und Mädchen finden, deren Angesichter wie das Weiß des Schnees und wie der holde Glanz des Morgenrotes leuchten.«

»Weißt du, woraus das Mittel bereitet wird?«

»Nein. Wie kannst du denken, daß sie so unvorsichtig sein könne, mir dies mitzuteilen! Sie hat das köstliche Geheimnis durch ihre Urgroßmutter von deren Ur-Urgroßmutter geerbt; diese hatte wieder eine Urahne, deren Ur-Urahne, die eine außerordentlich fromme Frau war, es als Belohnung für ihre große Tugenden vom Erzengel Dschebräïl bekam, der es aus dem höchsten Himmel des Paradieses brachte, wo es zur ewigen Jugend der dort wohnenden Seligen bereitet wird.«

»Wie heißt diese Frau?«

»Ihren eigentlichen Namen kenne ich nicht, da sie von jedermann nur Umm ed Dschamahl genannt wird.«

»Wo wohnt sie?«

»Nirgends, denn ihr Stamm ist nicht seßhaft, sondern zieht bald hierhin und bald weiter. Es ist die Unterabteilung Idiz des Bachtijarenvolkes und meist jenseits Kirmanschah zu suchen.«

»Aber wenn du die Salbe brauchst, mußt du doch wissen, wo die Frau zu finden ist!«

»Das erfahre ich stets beim Attar von Kirmanschah, welcher das Mittel auch verkauft und von ihrem Aufenthalte stets unterrichtet ist. Dann suche ich sie auf und laß mir von ihr geben, was ich brauche. Ich sage dir, sie ist eine alte Frau, aber es ist noch nicht das kleinste Fältchen in ihrem Angesicht zu sehen. Wieviel Büchsen willst du von mir kaufen?«

»Wieviel kostet eine?«

»Einen Rijal medschidi

»So kaufe ich keine.«

»Warum?«

»Weil das mir zu teuer ist.«

»Zu teuer! Du scheinst entweder von Sinnen oder ein großer Geizhals zu sein. Wem für die Schönheit seines Harems eine so geringe Summe zu viel ist, dem muß ich meine Achtung entziehen. Erst legst du mir eine ganze Menge von Fragen vor, und nachdem ich sie dir alle mit der bereitwilligsten Höflichkeit beantwortet habe, bist du so undankbar, mir die Größe meiner Teurung an den Kopf zu werfen, so daß mir die Röte der Scham auf das Angesicht treten würde, wenn diese Teurung wirklich teuer wäre! Allah verderbe dich!«

Nach diesen Worten entfernte sich der Handelsmann. Zu meinem Erstaunen nahm der sonst so schnellhitzige Hadschi das Kraftwort ruhig hin. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und sagte zu mir:

»Ich würde diese Marham ed Dschamahl nicht gekauft haben, selbst wenn sie nur einen Para gekostet hätte, denn Hanneh, die unvergleichlichste unter allen Lieblichkeiten der Erde, würde nicht damit einverstanden sein.«

»Warum?« fragte ich.

»Weil – – – hm!«

Er hielt verlegen inne und fuhr erst nach einer Pause fort, indem er mich fragte:

»Wenn ich es dir aufrichtig sage, wirst du dann falsch von Hanneh denken, welche die unvergleichlichste Person unter allen persönlichen Unvergleichlichkeiten ist?«

»Nein, gewiß nicht!«

»So bitte ich dich, mir die Wahrheit einzugestehen: Hat Dschanneh, die niemals verschwindende Abendröte deines Harems, Runzeln im Gesicht?«

»Nein.«

»Oder wenigstens Falten?«

»Nein.«

»Kein einziges? Kein einziges ganz, ganz kleines Fältchen, so daß man es kaum sieht?«

»Nein.«

»Besinne dich, Sihdi! Ich bin überzeugt, wenn du genau nachdenkst, wird dir gewiß eine Falte einfallen, wenn auch nur diese eine, diese allereinzige.«

Ich wußte, was ihn zu dieser Dringlichkeit bewegte. Die orientalischen Frauen altern schnell, und Hanneh war eine Orientalin; sie hatte Falten. Das that seiner Liebe freilich nicht den geringsten Eintrag; sie war für ihn heut noch ganz so wie vor Jahren die schönste aller Schönen. Darum antwortete ich jetzt in schonender Weise:

»Meine Dschanneh hat wirklich keine Falten. Aber bedenke die Reihe der Jahre, in denen deine Hanneh in treuer Liebe für dich, für Kara Ben Halef und für den ganzen Stamm der Haddedihn zu sorgen hatte! Sorgen aber bringen Falten. Ehre sie!«

Da fiel er schnell und in zufriedenem Tone ein:

»Effendi, du bist ein guter Mensch, ein ganz genau so guter Mensch wie ich! Es läßt sich nicht verheimlichen, und da du so gute Augen hast, wirst du bemerkt haben, daß, obgleich meine Hanneh die schönste unter allen Frauen des Erdreiches ist, ihre Wangen doch angefangen haben, sich allmählich zu zerknittern. Seitdem liebe ich sie aber grad mit doppelter Stärke! Sie hat alles, alles gethan, dieser Zerknitterung Einhalt zu thun, doch vergeblich. Glaube mir, die Runzeln sind das Ungeziefer der Schönheit: Hat sich erst einmal eine eingestellt, so vermehrt sie sich ins Ungeheure. Es ist wie bei den Näml: Erst sieht man eine, dann zwei, dann drei, hierauf fünfzig, achtzig, hundert, und schließlich wibbeln und kribbeln sie zu Tausenden durcheinander. So auch die Furchen und Rinnen im Gesicht; es werden ihrer so viele, daß man sich bei der Betrachtung beinahe verirrt und fast nicht wieder zurecht finden kann. Es sollte jede Frau so klug sein, die erste Falte gar nicht aufkommen zu lassen; aber, wie du weißt, besitzen die Weiber nicht diejenige Vorsichtigkeit, welche nur eine hervorragende Eigenschaft von uns Männern ist; Allah bewahre uns diese Vorzüglichkeit! Da deine Dschanneh, die holde Spenderin deiner Glückseligkeit, noch keine Runzel besitzt, so hast du gar keine Ahnung, wie tief die Falten des Gesichtes in das Herz und in die Seele des Weibes schneiden, zumal wenn keine Salbe Änderung und kein Pflaster Hilfe bringt! Hanneh, die herrlichste Rose unter allen Rosenarten des Morgen- und des Abendlandes, teilte mir nach langen, vergeblichen Bemühungen mit, daß sie nur von der Salbe der berühmten Umm ed Dschamahl die beseligende Wiedergeburt ihres Wangenglanzes erhoffen könne. Diese Bachtijarenfrau ist nämlich wirklich und außerordentlich berühmt infolge ihres Wundermittels, vor welchem die Runzeln davonlaufen wie die Ameisen, wenn man Tabakwasser in ihre Nester gießt. Aber es ist so sehr weit von uns aus bis hinauf zur Gegend, wo man sie zu suchen hat. Darum war die unvergleichliche Gefährtin meines Erdenlebens ganz entzückt, als sie vernahm, daß du wünschtest, ich solle mit dir nach Persien reiten. Sie erteilte mir die Erlaubnis, dich zu begleiten, sehr gern, stellte mir aber die Bedingung, ihr von der echten Marham ed Dschamahl soviel mitzubringen, wie nötig ist, die unheilvolle Zerknitterung ihres Angesichtes wieder auszuglätten.

»Mir hat sie leider nichts von dieser ihrer Absicht gesagt!«

»Dir? O, Effendi, wie bist du in der Beurteilung eines Harems doch so jung und unerfahren! Wenn Hanneh, die einzige Sonne am Himmel meines Frauenzeltes, wüßte, daß du auch nur eine einzige ihrer Falten gesehen hättest, sie legte sich sofort hin, um vor Scham und Gram zu sterben. Und da meinst du, daß sie mit dir davon hätte reden sollen! Ich will mich dein erbarmen und dir ein Geheimnis, ein sehr großes Haremsgeheimnis mitteilen. Merke dir folgendes genau: je mehr Runzeln eine Frau im Gesichte hat, desto glatter will sie dir erscheinen. Du mußt also, wenn du glücklich bleiben willst, jede Falte, welche deine Dschanneh einst besitzen wird, vor ihr so geheim wie möglich halten. Du darfst sie nicht sehen; du darfst sie nicht einmal ahnen, wenn du verhüten willst, daß die Ruhe und Behaglichkeit deines Zeltes und deines Lebens auch runzelig und zerknittert wird. Ich kenne das, Sihdi; nimm also gute Lehre von mir an! Auch ich will keine Falte mehr sehen; die Salbe soll mir dazu verhelfen; ich kaufe sie für Hanneh und für mich.«

»Auch für dich?«

»Ja. Schau mich doch an. Du wirst sehen, daß sich auf meiner Stirn auch schon einige kleine Rillen eingenistet haben, die ich gern verjagen möchte. Es freut mich darum sehr, vorhin von dem Händler erfahren zu haben, wo man sich nach der Umm ed Dschamahl erkundigen kann. Wir werden schleunigst hinauf nach Kirmanschah reiten.«

»Wir? Wer ist da gemeint?«

»Du und ich natürlich. Ich denke doch nicht, daß du mich allein fortlassen willst, um hier zu warten, bis ich wiederkomme!«

»Das fällt mir gar nicht ein! Unser Weg geht nach Schiras, nicht aber nach Kirmanschah, wohin du gar nicht zu reiten brauchst, weil du die Salbe so leicht hier bekommen kannst. Warum hast du vorhin keine gekauft?«

»Warum? O, Sihdi, wie ist die Länge deines Verstandes doch so wenig auf Wunder- und Runzelsalben eingerichtet! Hier kaufen? Das ist es ja eben, was Hanneh, der weibliche Inbegriff meiner männlichen Glückseligkeit, mir auf das strengste verboten hat! Glaube mir, Effendi, es wäre mir kein Preis zu hoch gewesen, wenn ich von der Echtheit der Marham ed Dschamahl hätte überzeugt sein können; aber die Händler vermehren die Einreibung, indem sie sie verfälschen. Sie machen, um recht viel Geld zu verdienen, aus einer Büchse hundert; sie rühren Dinge hinein, welche nicht nur unnütz, sondern sogar schädlich sind, und dann kann es einer Frau, die sich damit bestreicht, sehr leicht geschehen, daß aus sieben Falten, die sie hat, schnell siebenundsiebzig werden. O Allah, Wallah, Tallah! Soll ich etwa denken, daß du meiner Hanneh so eine elffache Vermehrung ihres sorgenvollen Angesichtes gönnst? Nein! Sie will die Salbe echt haben, und sie soll sie echt und unverfälscht bekommen, direkt aus der Hand der Umm ed Dschamahl selbst, und darum müssen wir sofort hinauf nach Kirmanschah!«

Der liebe, kleine Kerl sagte das in einem so bestimmten und energischen Tone, als ob es sich um Leben und Tod handle und alle meine etwaigen Einwände unbedingt erfolglos sein würden. Ich begann einzusehen, daß ich ihm wahrscheinlich ein Opfer bringen müsse, versuchte aber natürlich doch, ihn umzustimmen:

»Halef, fast habe ich Lust, deine Worte für Scherz zu halten; aber ich höre, daß du im Ernste sprichst. Weißt du, wie weit es von hier aus bis hinauf nach Kirmanschah ist? Es wird gewiß eine Woche vergehen, ehe wir wieder nach Bagdad kommen. Sollen wir diese lange Zeit wegen einer Salbe opfern, die, wie ich vollständig überzeugt bin, keine Wirkung hat?«

»Sihdi, es handelt sich nicht um die Salbe, sondern um die Verjüngung, Verschönerung und Entrunzelung eines Angesichtes, welches mir das liebste auf der ganzen Erde ist. Und keine Wirkung? O Effendi, ihr Franken seid stets bereit, alle Klugheit und Wissenschaft nur für euch in Anspruch zu nehmen; aber Allah hat uns in seiner Güte hier Gaben verliehen, die euch trotz aller eurer Gelehrsamkeit versagt worden sind. Du hast ja gehört, daß der Erzengel Dschebräïl diese Salbe aus dem höchsten, also aus dem siebenten Himmel geholt hat, und da ihr keinen siebenten Himmel habt, so könnt ihr diese Marham ed Dschamahl nicht besitzen; das ist doch klar! Und daß sie wirklich hilft, daß sie von außerordentlich großer und ganz erstaunlicher Wirkung ist, das kannst du an Hunderttausenden und an Millionen von Runzeln sehen, die alle durch sie verschwunden sind. Du weißt, welchen Glauben ich dir schenke und welches Vertrauen ich in jedes deiner Worte setze, aber in dieser Salbe darfst du mir nicht herumrühren, die darfst du mir nicht zu Wasser machen, die kenne und verstehe ich besser als du. Oder bist du etwa bei der Ur-Urahne jener Ur-Urgroßmutter gewesen, von welcher der Händler vorhin sprach?«

»Nein,« antwortete ich ganz der Wahrheit gemäß.

»Hast du sie probiert und versucht? Hast du ein Harem damit bestrichen, ohne daß die Runzeln desselben verschwunden sind?«

»Nein.«

»Also! Ich bitte dich, erkundige dich in den Harimat der Dschesireh und bei allen Frauen und Töchtern des Grenzgebietes; frag auch in Teheran, in Ispahan, in Kerind und Hamadan, so wirst du erfahren, daß vor der Salbe der Umm ed Dschamahl jede Verunzierung des Gesichtes verschwindet. Jedermann weiß das; ich selbst habe es mehr als hundertmal gehört, und ich bitte dich, mich nicht zu erzürnen!«

Er war außerordentlich in Eifer geraten. Ich sah ein, daß jede Belehrung vergeblich sein werde, und versuchte, ihn auf andere Weise von seinem Vorhaben abzubringen, indem ich sagte:

»Unsere Reise führt uns wahrscheinlich von Schiras nach Ispahan und Teheran; da kommen wir über Kirmanschah zurück. Ich denke, daß es dann auch noch Zeit ist, uns nach der Verfertigerin der Salbe zu erkundigen.«

»Weißt du wirklich gewiß, daß wir diese Tour machen werden?«

»Ich denke es.«

»Denken! Wenn du es bloß denkst, so steht mir meine Salbe höher als deine Gedanken. Oder kannst du vielleicht mit diesen deinen Gedanken Runzeln vertreiben?«

»Da muß ich eingestehen, daß ich das noch nicht versucht habe.«

»Ein solcher Versuch würde auch nichts nützen, weil zwar die Salben, aber nicht die Gedanken aus Fett bereitet werden. Und selbst wenn es sicher wäre, daß wir nach Kirmanschah kämen, welche Zeit würde bis dahin von heute an vergehen?«

»Einige Monate allerdings.«

»Einige Monate! Allah Kerihm! Was kann während dieser langen Zeit aus dem geliebten Angesichte meiner Hanneh geworden sein! Du hast ja gehört, daß die Falten das Ungeziefer der Schönheit sind. Willst du diesem Ungeziefer Zeit lassen, sich so auszubreiten, daß wir später zehnmal soviel Salbe brauchen, als jetzt nötig ist? Und wenn ich meiner Hanneh die Salbe mitbringe, muß ich warten, bis die Wirkung sich nach und nach entwickelt; ich will aber die Wonne meiner Augen gleich bei meiner Heimkehr unzerknittert sehen; darum muß ich ihr schon vorher die Salbe senden; darum reite ich schon jetzt nach Kirmanschah, und darum suche ich schon jetzt die berühmte Bachtijarenfrau, um mir die süße Wonne des Angesichts meiner Hanneh von ihr geben zu lassen. Ich mache diese Reise gleich jetzt und unbedingt. Wenn du mich nicht begleiten willst, so muß ich allein reiten; aber es würde meiner Seele bitter wehe thun, die Erfahrung machen zu müssen, daß dir ein solcher Herzenswunsch deines Halef, der allezeit für dich in den Tod gehen würde, gleichgültig ist!«

Hierauf wendete er sich von mir ab und schwieg.

Dieser unglückselige Salbenhändler! Warum mußte er grad während unserer Anwesenheit in dieses Kaffeehaus kommen und meinen Hadschi an die »Zerknitterung« seines Harems erinnern! Es war wirklich ein Unsinn, eines kosmetischen Mittels wegen einen so weiten, zeitraubenden und nicht ganz ungefährlichen Ritt zu unternehmen! Aber der Orientale hat keinen Sinn für die Kostbarkeit der Zeit, und so besaß Halef auch kein rechtes Verständnis für die Versäumnis, welche er von mir verlangte. Freilich konnte auch ich von einer Versäumnis im strengen Sinne eigentlich nicht sprechen. Ich hatte diesen Ritt unternommen, um Eindrücke und Erfahrungen als Stoff für reiseschriftstellerische Werke zu sammeln, und da konnte ein Abstecher von einigen Tagen recht wohl unternommen werden, ohne daß meine Absichten darunter zu leiden brauchten; ja, es war gar nicht unmöglich für uns, auf diesem Seitenpfade Interessanteres zu finden als auf dem Hauptwege. Und wenn ich diese Route eine nicht ganz ungefährliche nannte, so konnte ich nicht gegenteilig behaupten, daß der Weg den Tigris hinab und über den Golf nach Schiras hinüber nicht gefährlich sei. Sodann hatte ich mit den Eigenschaften meines Halef zu rechnen. Er liebte seine Hanneh über alles und ließ ganz gewiß keine Gelegenheit, ihr einen Wunsch zu erfüllen, unbenutzt vorübergehen; hier handelte es sich aber nicht um einen gewöhnlichen, sondern um einen sehr großen Wunsch von ihr. Wieviel kosmetische Mittel sind wohl auf dem Toilettentisch einer abendländischen Dame zu finden! Und eine Morgenländerin hat in dieser Beziehung einen noch ganz andern, größeren Bedarf! Der unvertilgbare und keineswegs unberechtigte Trieb des weiblichen Wesens, in Beziehung auf die äußere Erscheinung möglichst eindrucksfähig zu sein, ist im Oriente viel, viel stärker als im Abendlande. Wie konnte ich es der guten Hanneh verdenken, daß sie den Wunsch hatte, ihrem Halef möglichst schön zu erscheinen! Und hier handelte es sich um ein Hauptschönheitsmittel. Mochte ich von demselben denken, was und wie ich wollte; mochte ich immer annehmen, daß die Wirkungen der Salbe gleich Null seien, ich hatte doch kein Recht, ihn zu hindern, zu thun, was ihr und also auch ihm Freude machte. Er hatte für mich so oft sein Leben gewagt und meinetwegen jetzt wieder Weib und Kind und seinen Stamm verlassen; er war zu jedem Freundesopfer für mich bereit; konnte ich ihm da nicht einige Tage schenken? Daß der Grund ein für mich sonderbarer war, für den ich unkosmetischer Westmann kein so rechtes Verständnis hatte, durfte doch nicht maßgebend sein. Zudem fiel mir ein, daß mehrere Unterabteilungen der Bachtijaren Ali-Ilahis sind und also zu einer Sekte gehören, von welcher ich zwar gehört und gelesen, aber keine Angehörigen persönlich kennen gelernt hatte. Vielleicht bot sich mir da oben in der Gegend von Kirmanschah die Gelegenheit, diese Lücke auszufüllen. Das waren wohl genug Gründe, auf den Wunsch Halefs einzugehen, zumal es mir höchst gespaßig vorkam, einen wochenlangen und anstrengenden Ritt vorzunehmen, um von einer alten, persischen Medikasterin eine »Einreibung« zu holen, doch machte ich noch einen Versuch, den Hadschi von seinem Vorhaben abzubringen.

»Kennst du die Unterabteilung der Bachtijaren, zu welcher die Umm ed Dschamahl gehört, lieber Halef?« fragte ich ihn.

»Nein,« antwortete er kurz.

»Sie scheint nicht aus Leuten zu bestehen, denen man viel Vertrauen schenken darf.«

»Wieso?«

»Du hast vorhin von dem Händler den Namen gehört, welcher Idiz lautet. Weißt du vielleicht, welche Bedeutung dieses Wort besitzt?«

»Auch nicht.«

»Idiz ist ein kurdisches Wort und heißt Spitzbube. Du willst also Spitzbuben aufsuchen!«

»Warum das nicht? Grad weil sie Spitzbuben sind oder heißen, will ich nun erst recht zu ihnen! Vielleicht erleben wir etwas bei ihnen; dazu machen wir ja unsere Reise. Nun freue ich mich doppelt auf den Ritt hinauf zu ihnen. Du würdest es später ganz gewiß sehr bedauern, ihn nicht mitgemacht zu haben! Sag doch nur, mein lieber Effendi, kannst du es denn gar nicht begreifen, daß Hanneh, die Morgen-, Mittags- und Abendwonne meines Lebenstages, gern so schön wie möglich sein will, wenn ich sie erblicke?«

»Oh, das, das ist mir sehr verständlich; aber Fett auf die Wangen streichen, das will mir nicht in den Kopf.«

»Es soll ja auch nicht in den Kopf, sondern eben nur auf die Wangen! Deine Dschanneh giebt sich doch wohl auch alle Mühe, dir zu gefallen?«

»Nein, denn sie weiß, daß sie mir ohne alle Mühe gefällt.«

»Weil ihr Angesicht noch glatt und ohne Knillen ist! Aber trotzdem wird sie sich ganz gewiß verschiedener Mittel zur wonnigen Erhöhung ihrer Schönheit bedienen?«

»Ich weiß von nichts.«

»Sie thut doch wohl Bumada in das Haar?«

»Nein. Ich mag den Geruch der Bumada nicht haben.«

»Und Dakik ins Gesicht?«

»Auch nicht. Die gesunde Wangenröte ist schön, und was schön ist, soll man doch nicht mit einer Schicht von Mehl bedecken.«

»Da hast du freilich recht, denn das Mehl ist zum Backen des Brotes aber nicht zur Verpackung des Gesichts bestimmt. Aber deine Dschanneh bestreicht ihre Lippen doch mit Hennah?«

»Nein. Ihr Mund, mit dem sie zu mir spricht, bedarf der Farbenlüge nicht.«

»Aber schwarze Farbe thut sie an die Augen, um die Eindringlichkeit ihres Blickes zu erhöhen?«

»Auch das nicht. Ihr schönes, klares Auge meidet jedes Dunkel.«

»Welchen Koku pflegt sie anzuwenden, um deiner Nase lieblich zu erscheinen?«

»Keinen.«

»Auch nicht ein wenig Misk? Den man von heut bis nach zwei Wochen riecht!«

»Den nun gar nicht! Mit Misk könnte man mich zur Flucht auf Nimmerwiederkehr verleiten. Ich kann ihn nicht erriechen. Künstliche Düfte unterstützen die Unwahrheit. Es ist in meinen Augen eine Sünde, den leisen, keuschen Duft einer gesunden Frau durch solche Mittel zu verdrängen.«

»Oh, Sihdi, was bist du doch für ein Salym! Wenn an deiner Dschanneh nichts, gar nichts künstlich sein darf, wie soll sie da die schöne Zeit verbringen, welche andere Frauen mit solcher Seligkeit auf die sorgfältige Verschönerung ihres Körpers verwenden?«

»Sie unterrichtet mich.«

»Allah akbar – Gott ist groß! Dich? Dich!!!«

»Ja.«

»Sihdi, das ist unmöglich! Ich kenne dich doch! Dein Geist ist reich und scharf und vielerfahren. Was könntest du von Dschanneh, deiner Seele, lernen!«

»Das ist ja eben der große, der unbegreifliche Fehler der Menschheit, daß sie den Geist nicht zur Seele in die Schule schicken will! Sie kennt das Verhältnis beider nicht und glaubt ganz falscher Weise, daß die Lehrerin vom Schüler zu lernen habe.«

»Das verstehe ich nicht!«

»Laß dich das nicht betrüben. Es geht Unzähligen so wie dir; diese aber meinen, es besser zu verstehen! Sie lassen die Seele verkümmern und putzen, bemalen und parfümieren den Geist, damit er herrschender Eunuche werde!«

»So gelten dir also selbst die herrlichen Haremsdüfte nichts?«

»Welche Frage! Im Ben Schir steht zu lesen. Allah war erst Schöpfer und dann Poet. Als er die Erde geschaffen hatte, schenkte er ihr zur Verherrlichung seiner Schöpfung ein göttliches Gedicht, nämlich das Weib. Was sagst du nun dazu, lieber Halef, daß dieses Gedicht sich mit Bumada und Mehl bestreicht und sich mit dein Geruch aus dem Beutel des Moschustieres umhüllt, daß es sich die Lippen, die Wangen, die Augen und die Hände färbt, und sich überhaupt alle mögliche Mühe giebt, durch künstliche Mittel den göttlichen Wohlklang zu zerstören, der ihm von dem himmlischen Dichter und höchsten Kenner des wahrhaft Schönen verliehen wurde?«

»Was ich dazu sage, Sihdi? Ich verzichte auf dies Alles, doch auf die Schönheitssalbe nicht.«

»Ich habe Hanneh einmal ein Gedicht genannt. Ihre Falten sind die Dankbarkeit und Ehrfurcht erweckenden Zeilen desselben.«

»Du hältst also die Marham ed Dschamahl, die ich holen will, für überflüssig?«

»Ja.«

»So scheinen die Falten des Abendlandes nicht so betrübend zu sein wie die des Morgenlandes. Nach unserm Geschmacke ist ein faltenloses Gesicht viel schöner als eines, welches Runzeln hat, und wenn ich meiner Hanneh die Glätte der Wangen verschaffen kann, so will ich sehr gern auf die vielen Ehrfurcht erweckenden Zeilen verzichten. Ich reite also trotz der holden Natürlichkeit deiner Dschanneh hinauf nach Kirmanschah. Nun entscheide, ob ich diesen Ritt allein unternehmen werde oder nicht! Ich hoffe, daß deine Liebe zu mir nicht geringer ist, als die meinige zu dir!«

»Diese Hoffnung soll nicht betrogen werden, lieber Halef. Ich reite mit.«

Er hatte sich im Schmollen halb von mir abgewendet; jetzt drehte er sich schnell wieder herum und sagte, indem seine Augen leuchteten:

»Wirklich? Ist es wahr?«

»Ja.«

»Du scherzest nicht?«

»Nein.«

»Hamdulillah! Ich habe gesiegt, gesiegt über Kara Ben Nemsi Effendi, den noch kein Mensch überwunden hat! Sihdi, ich danke dir; ich danke dir von ganzem Herzen! Wir werden nicht nur die Salbe der Schönheit holen, sondern dabei Heldenthaten verrichten, deren Ruhm sich auf unsere Kinder, Kindeskinder und Urenkelstöchter vererbt!«

»Die Salbe auch mit?«

»Schweig, Sihdi! Ich meine natürlich unsere Heldenthaten nur! Komm, laß uns heimkehren zu unserm Bimbaschi, der jetzt zum Mir Alai erhoben worden ist. Wir müssen ihm sagen, daß wir morgen nach Kirmanschah aufbrechen werden. Er wird sich schon im voraus auf die Thaten der Tapferkeit freuen, die wir vollbringen werden, und auf die Werke der Kühnheit und des Sieges, die er nach unserer Rückkehr zu hören bekommt. Wie bin ich froh und glücklich, deinen Widerstand überwunden zu haben! Denn« – – fügte er mit listigem Augenblinzeln hinzu – – »ich muß dir nur sagen, daß ich ohne dich den Ritt gewiß nicht unternommen hätte.«

»Pfiffikus!«

»Ja, pfiffig bin ich; das weiß ich nur zu wohl. Das ist mir angeboren und wurde« – fuhr er in vertraulichem Tone fort –»seit ich einen Harem habe, noch weiter ausgeübt.«

Jetzt war der kleine Hadschi ja wieder der Alte. Daß er unsern Ritt nach Kirmanschah gleich mit »Werken der Kühnheit und des Sieges« in Verbindung brachte, verstand sich bei ihm ganz von selbst.

Wir verließen das Kaffeehaus und gingen nach unserer Wohnung. Dort angekommen, teilten wir unsern Entschluß dem »früheren Bimbaschi und jetzigen Mir Alai« mit. Er frug nach dem Zwecke dieses Abstechers hinauf in die persisch-kurdischen Berge. Halef teilte ihm denselben in aller Aufrichtigkeit mit, und ich hörte dann zu meiner Verwunderung, daß ihm der Alte beistimmte. Auch dieser kannte den Ruf, in welchem die Umm ed Dschamahl stand, und versicherte mir, daß er vollständig begründet sei; er habe unzähligemal gehört, daß das Mittel wahre Wunder wirke, und Kepek, der Diener, welcher das hörte, fügte, indem er seine Worte mit schweren, gewichtigen Gesten begleitete, in bestätigendem Tone hinzu:

»Ja, die Umm ed Dschamahl führt diesen ihren Namen mit vollstem Rechte. Ihre Salbe verschönt das häßlichste Gesicht, und ich habe in den Kaffeestuben, die ich besuche, schon oft erzählen hören, daß sogar auch Männer die Wohlthätigkeit der Salbe an sich erfahren haben. Ich aber kaufe sie nicht!«

Ja, für ihn war sie freilich vollständig überflüssig, denn das ihm wohlgeneigte Fatum hatte ihm die Haut mit Fett – es sei gesagt – so fürsorglich ausgestopft, daß die Existenz einer Falte oder gar Runzel in dieser Rundung zu den absoluten Unmöglichkeiten gehörte.

Der Ritt, zu welchem ich mich so ungern entschlossen hatte, wurde ein höchst interessanter. Was wir dabei erlebten, ist bereits an anderer Stelle erzählt worden, so daß es genügt, hier kurz zu sagen, daß wir die Umm ed Dschamahl viel schneller fanden, als wir gedacht hatten, und zwar als Nezaneh der Unterabteilung ihres Stammes. Eine günstige Fügung wollte es, daß wir Gelegenheit fanden, ihr einen Dienst zu erweisen, den sie uns sehr hoch anrechnete; wir wurden Gäste des Stammes, dessen Gebieterin mich mit ihrer ganz besonderen Zuneigung erfreute. Noch ehe wir von diesen Leuten schieden, bekam Halef von der Nezaneh nicht nur einen mehr als genügenden Vorrat von Salbe geschenkt, sondern auch einen Boten gestellt, welcher dieses Geschenk zu Hanneh zu bringen hatte. Mir aber wurde noch eine viel größere Gunst zu teil, indem die Umm ed Dschamahl mir, natürlich unter vier Augen, das Rezept des Geheimmittels mitteilte, von dem sie behauptete, daß ein Vorfahre von ihr, der ein berühmter Hekim war, es einst von Scheheresade, dem Liebling Harun al Raschids, aus Dankbarkeit dafür erhalten hatte, daß es seiner Kunst gelungen war, sie, die berühmte Erzählerin von »Tausend und einer Nacht«, von einer tödlichen Krankheit zu erretten.

Als wir dann von ihr und ihren Leuten Abschied nahmen und ihr sagten, daß wir nicht über Kirmanschah, Kerind und Khanekin nach Bagdad zurückkehren würden, weil dies ein zu bedeutender Umweg für uns sei, riet sie uns, nach dem Tschaifu, einem Zuflusse des Djala, zu reiten, warnte uns aber von einem Zusammentreffen mit den räuberischen Hamawands und Dawuhdijehs, zwei ebenso »unternehmenden« wie »ruchlosen« Kurdenstämmen, die grad jetzt in Feindschaft miteinander lebten, weshalb die betreffende Gegend doppelt unsicher sei. Diese Warnung war gut gemeint, konnte uns aber nicht abhalten, die angegebene Richtung einzuschlagen, weil wir dies auch ohne den Rat der Umm ed Dschamahl gethan hätten, Wir hatten in Beziehung darauf, daß man die Kurden Räuber nennt, unsere eigenen, persönlichen Ansichten, welche sich aus unsern Erfahrungen und dem aus diesen entspringenden objektiven und unparteiischen Urteile ergaben.

Diese viel verleumdeten und auch von abendländischen Zeitungen oft angegriffenen Stämme üben an Reisenden, welche ihnen freundlich gesinnt sind, eine Gastlichkeit, welche die größte Anerkennung verdient; selbst der Todfeind steht so lange und so weit unter dem kräftigen Schutze des Zeltes oder des Lagers des gegnerischen Stammes, in dessen Hut er sich vertrauensvoll begeben hat, wie die Zusage und Macht desselben reicht. Freilich, wer mit zweifelhaften Absichten kommt oder, wie manche, besonders europäische Reisende es thun, sie wie minderwertige, tief unter ihm stehende Menschen behandelt, die seine Suprematie bescheiden anerkennen und seine Nichtbeachtung ihrer Sitten und Gewohnheiten ruhig hinnehmen sollen, der darf von ihnen nicht erwarten, daß sie ihm Ursache bieten, sich lobend über sie auszusprechen. Wenn sie für die Erlaubnis, durch ihre Gebiete zu reisen, von solchen Leuten eine entsprechende Gegenleistung fordern, ist das zum Tadel ganz gewiß kein Grund. Und wenn sie, falls man ihnen diese Leistung verweigert, sich mit Gewalt in den Besitz der Forderungen setzen und dann auch wohl mehr als das vorher Verlangte nehmen, so wird ein Kenner der dortigen Verhältnisse sie trotzdem noch nicht als Räuber bezeichnen. Der Begriff des Wortes Raub und die Ansichten darüber sind bei diesen Leuten eben andere als bei uns. Wenn unsere darauf bezüglichen Anschauungen für den größten Theil des Orientes keine Geltung haben, dürfen wir nicht grad und speziell von den Kurden verlangen, daß sie sich ihnen zu ihrem materiellen Schaden fügen. Als ich mich einst mit einem dortigen hohen Beamten über diesen Punkt unterhielt, antwortete er mir, indem ich ein beinahe zweideutiges Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen sah:

»Raub? Räuber? Allah bewahre dich vor Ungerechtigkeit! Ich kenne einen Mann, der in eurem Lande gewesen ist; außerdem hat er viel über euch gelesen und mir davon erzählt; ich weiß also, wie es steht: Bei uns giebt es den geraden, offenen, ehrlichen Raub, bei euch den höflichen, den heimlichen, den versteckten. Ihr nennt das Bankerott, Ruin, Krach, Trust, Gründung und Spekulation, womit ihr nicht etwa nur Fremde, sondern eure eigenen Stammesangehörigen schädigt. Ihr setzt den Leuten eure Messer in versteckter Weise auf die Brust; die, welche ihr hier Räuber nennt, thun das, indem sie es aufrichtig sagen, und nur gegen Fremde, gegen Feinde, niemals gegen einen, der zu ihrem Volke gehört. Welche Räuber sind da mehr zu tadeln, die unserigen oder die eurigen?«

Konnte oder mußte ich ihm unrecht geben? Man hat grad in der Jetztzeit die Kurden so oft und mit solcher Erbitterung als Räubervolk verschrieen und ihnen die ganze Schuld an den vielbesprochenen armenischen Wirren zugeschrieben. Ich habe es schon gesagt und sage es hier wieder, natürlich im allgemeinen gesprochen und den Durchschnitt gemeint, daß mir ein Kurde zehnmal lieber ist als ein Armenier, obgleich der letztere ein Christ ist. Wenn und wo auch im Oriente irgend eine Niederträchtigkeit geschieht, da hat gewiß ein Levantiner, ein Grieche oder, was noch viel leichter denkbar ist, ein habichtsnäsiger Armenier die Hand im Spiele. Und was die erwähnten Wirren betrifft, so weiß man ja, wie und wozu sie entstanden sind oder, richtiger gesagt – »entstanden wurden!« Ich habe nicht nötig, meine Ansichten zu wiederholen, sondern füge einen kurzen Zeitungsartikel bei, welcher, während ich dieses schreibe, mir zu Händen liegt. Er stammt aus der Feder eines geistlichen Herrn, welcher während der »Kaiserreise« in Konstantinopel war und folgendes schreibt:

»Am letzten Abend, den wir in Konstantinopel verbrachten, waren wir im deutschen Handwerkerkasino. Es war ein unvergeßlich schöner Abend. Gott grüße euch, ihr deutschen und österreichischen Brüder am Bosporus! Welcher Handwerkerverein hat einen solchen Musikdirigenten, wie ihr? Und wo ist so viel Anhänglichkeit ans Vaterland, als bei diesen Männern, die theilweise 30 oder 40 Jahre unter Türken, Griechen, Juden und Armeniern ihr deutsches Gewerbe hochhielten? Die ältesten von ihnen haben die Zeit noch erlebt, wo kein starkes geeintes Deutschland hinter ihnen stand. Aus verlorenen Söhnen der deutschen Erde sind Pioniere der deutschen Zukunftsmacht geworden. Unter dem Schutze der deutschen Botschaft leben sie ein gesichertes Leben, und eben, während wir bei ihnen sitzen, üben sie die deutschen Lieder für die Ankunft Wilhelms II. Gemeinsam sangen die Jerusalemfahrer und der Konstantinopeler Handwerkerverein ein lautes »Deutschland, Deutschland über alles« … Es war im Handwerkerverein, wo wir über die Armenier redeten. Uns gegenüber saß ein deutscher Töpfermeister, der 19 Jahre in Konstantinopel lebt und auch Anatolien kennt. Er sagte etwa folgendes: »Ich bin ein Christ und halte die Nächstenliebe für das erste Gebot, und ich sage, die Türken haben recht gethan, als sie die Armenier totschlugen. Anders kann sich der Türke vor dem Armenier nicht schützen, von dem seine Noblesse, Trägheit und Oberflächlichkeit auf das unverantwortlichste ausgenutzt wird. Der Armenier ist der schlechteste Kerl von der Welt. Er verkauft seine Frau, seine noch unreife Tochter, er bestiehlt seinen Bruder. Ganz Konstantinopel wird von den Armeniern moralisch verpestet. Nicht die Türken haben angegriffen, sondern die Armenier. Wir sind am Tage des Angriffs auf die Ottomanische Bank auf der Straße gewesen und wissen, wie es zuging. Den unierten Armeniern hat man nichts gethan, sondern nur den orthodoxen, denn diese sind die unverbesserlichen. Daß die Armenier in Kleinasien besser seien, ist eine englische Lüge. Ich bin auf den Dörfern gewesen und kenne die Dinge. Auch dort ist es der Armenier, der allein Wucher treibt. Daß die deutschen Christen Armenierkinder erziehen, hilft gar nichts. Diese werden später ebenso schlecht, wie die übrigen. Ein geordnetes Mittel, um sich gegen die Armenier zu schützen, giebt es nicht. Der Türke handelt in Notwehr!« –

Es verdient Beachtung, daß diese Darstellung unseres Landsmannes die Zustimmung seiner Freunde hatte. Wir haben keine Stimme gehört, die sich anders äußerte. Teilweise war die Wut über die Armenier eine brennende. Der Armenier ist der Revolutionär, den die Engländer benutzen, um den Sultan zu stürzen. Das war der Refrain von rechts und links. Wir geben diesen Auszug unseres Gespräches ohne weitere Bemerkungen, da unsre grundsätzliche Haltung in dieser Sache den Freunden in Deutschland hinreichend bekannt ist. Allseitig wird anerkannt, daß die Türkenherrschaft trotz unleugbarer persönlicher Vorzüge, die der Türke neben seiner Bummelei hat, nicht für alle Zeiten haltbar ist. Der Fremdkörper im Leibe Europas wird einmal ausgestoßen werden. Wann das geschieht, hängt von vielen Dingen ab, keineswegs bloß von Mittelmeerfragen.«

Wenn ich hier eine Art von Ehrenrettung für den Kurden versuche, so geschieht dies in rein menschlicher Absicht, weil ich meine, daß man jedermann nach den Verhältnissen beurteilen soll, die ihn erzogen haben und ihn noch jetzt beherrschen. Es sind das in Beziehung auf den Bewohner Kurdistans so ungefähr unsere mittelalterlichen Verhältnisse, die Zeiten des Faustrechtes, wo gar mancher auf hoher Burg thronende Herr aus einfachen Existenzrücksichten nach unsern heutigen Begriffen zum Räuber werden mußte. Ob ihn deshalb seine Nachkommen wohl vom Stammbaume gestrichen haben? Grad so ein ritterlicher Balduin von Eulenhorst oder Kuno von Felsenstein ist auch der Kurde, der sein Thun für vollständig gesetzmäßig hält und den Vorwurf, daß er kein Ehrenmann, sondern ein gemeiner Dieb und Wegelagerer sei, mit unerbitterlicher, blutiger Rache beantworten würde. Ich bin von Kurden als Feind behandelt, nie aber von ihnen nach armenischem Muster hinterrücks bestohlen oder übervorteilt und betrogen worden. Ganz dieser meiner Ansicht war auch Hadschi Halef Omar, der trotz seiner lustigen Eigenheiten von jeder niedrigen Gesinnung abgestoßen wurde, und zwar bei mancher Gelegenheit sehr wacker auf die Kurden räsonniert, doch nie von ihnen als von gemeinen, ehrlosen Menschen gesprochen hatte. Darum sagte er auch jetzt, als wir vor den Dawuhdijehs und Hamawands gewarnt worden waren, zu mir:

»Das klingt, als ob wir uns vor ihnen fürchten sollen, Sihdi. Vor Leuten, die uns offen mit den Waffen in der Hand entgegenkommen, brauchen wir beide keine Angst zu haben, und hinterlistige Feigheit giebt’s bei ihnen nicht. Ich würde mich sogar auf einen kleinen Zusammenstoß mit ihnen freuen. Du weißt, daß ich einem fröhlichen Kampf nie aus dem Wege gehe.«

»Und solltest es aber doch!« antwortete ich.

»Warum?«

»Muß ich dich wirklich an den letzten Wunsch deiner Hanneh erinnern, Halef?«

»Den letzten? Effendi, ich sage dir, daß dies nicht der letzte ist, denn sie wird nach meiner Heimkehr noch sehr viele, viele haben! Und was diesen, den du meinst, betrifft, so ist er nicht gegen mein berühmtes Heldentum gerichtet, sondern nur gegen Unbedachtsamkeiten, vor denen wir uns hüten sollen.«

»Wir?«

»Ja, wir! Wer sonst.«

»Unter diesen Wir habe ich doch wohl dich und mich zu verstehen?«

»Natürlich!«

»So muß ich dir sagen, daß Hanneh von einer Unbedachtsamkeit meinerseits nicht gesprochen hat!«

»Gesprochen? Nein, das thut sie nicht. Dazu ist die Wonne meines Daseins viel zu höflich. Aber gemeint hat sie dich doch, und du bist klug genug, dies einzusehen, ohne daß ich es dir zu sagen brauche.«

»So will ich dir in aller Demut gestehen, daß ich diese Klugheit leider nicht besitze.«

»Wirklich nicht? So muß ich wieder einmal sehr tief beklagen, daß ich nur die Länge deines Verstandes anerkennen kann; aber in die Breite, in die so notwendige Breite, welche doch die Hauptsache ist, geht er leider nicht. Ich glaube, du meinst gar vielleicht, daß sich der Wunsch meiner Hanneh, welche die lieblichste unter allen Lieblichkeiten der Erde ist, nur ganz allein auf mich bezogen hat!«

»Das habe ich allerdings angenommen.«

»So glaubst du also, daß Hanneh nur bei mir eine That der Unbedachtsamkeit für möglich gehalten habe?«

»Ja.«

»Sihdi, nimm es mir nicht übel, daß ich nun endlich einmal ganz aufrichtig und ohne dir etwas zu verbergen, mit dir spreche. Ich bin so lange still gewesen, kann es nun aber nicht länger zurückhalten, daß du mich mit dir und dich mit mir verwechselst.«

»Wieso thue ich das?«

»Um dir dies klar und deutlich zu machen, muß ich dir einige Fragen vorlegen. Wirst du sie mir so beantworten, wie es die Wahrheit erfordert?«

»Ja.«

»Gut! Also: Wenn du jemanden etwas zu sagen hast, und er ist bei dir, wirst du es ihm da direkt sagen oder dich eines dritten als Boten bedienen, der es ihm ausrichten soll?«

Ich erriet, was er wollte, antwortete aber doch:

»Wenn er bei mir ist, sage ich es ihm direkt.«

»Schön! War ich abwesend, als du dich bei uns im Lager der Haddedihn befandest?«

»Nein.«

»Ich war da, war bei meiner Hanneh?«

»Ja.«

»Konnte sie mit mir sprechen?«

»Ja.«

»Kann also das, was sie dir gesagt hat, an mich gerichtet sein?«

»Du mußt dich anders ausdrücken, lieber Halef. Gerichtet war es an mich, gesagt aber für dich.«

»Damit widersprichst du dir selbst, denn du hast soeben geäußert, daß man das, was man jemandem direkt sagen kann, nicht durch einen dritten sagt. Ich war ja da! Wollte Hanneh mich vor Unvorsichtigkeiten warnen, so hätte sie das zu mir selbst gethan. Sie hat es aber zu dir gesagt; folglich gilt es dir, nicht mir!«

»Sie hat aber doch extra deinen Namen genannt und nicht von meiner sondern von deiner allzu großen Schnellfertigkeit gesprochen.«

»Das ist zwar wahr, aber siehst du denn nicht ein, warum sie grad so und nicht anders gesprochen hat?«

»Um dich zu schonen, dich nicht zu betrüben. Sie war zu zart, um es dir selbst zu sagen.«

»Zu zart! Effendi, das ist das richtige, das einzig richtige Wort; aber deine Auslegung ist nicht richtig, sondern falsch, denn nicht gegen mich, sondern gegen dich ist Hanneh zart gewesen, diese unvergleichlichste Frau aller Weiber der Erdenrunde. Begreifst du das?«

»Ich begreife nur, was du sagst, und auch den Grund dazu.«

»Du hast nicht meinen Grund, sondern den Grund meiner Hanneh zu begreifen, denn nicht ich bin es, sondern sie ist es gewesen, die mit dir gesprochen und dich gewarnt hat!«

»Das ist richtig. Mich hat sie gewarnt, aber nicht vor mir sondern vor dir.«

»Sihdi, das ist ja eben die große, die fast unverzeihliche Verwechslung der Personen, die du dir zu schulden kommen lässest! Mich hat sie genannt, aber dich gemeint. Das ist die hohe, die unvergleichliche Zartheit, mit welcher sie dich in mich und mich in dich verändert und dadurch die Personen umgedreht und der Unbedachtsamkeit, welche sie meinte, eine rücksichtsvolle Vertauschung der bestehenden Verhältnisse gegeben hat. Sie ist wegen deines großen Wagemutes in banger Sorge gewesen; sie hat dich bitten wollen, vorsichtiger zu sein, als du gewöhnlich bist; weil sie aber geglaubt hat, dich mit dieser Bitte zu betrüben, hat sie dich hinübergeschoben und mich dafür herübergeholt. Darum sprach sie mit dir allein und nicht in meiner Gegenwart, weil diese Betrübnis, die keinen treffen sollte, sonst auf mich gefallen wäre.«

»Glaubst du wirklich, was du sagst, Halef?«

»Ich glaube daran, wie ich an meine Hanneh glaube, deren Zartgefühl über die Feingefühle überhaupt aller irdischen Gefühlsarten steigt.«

»Auch ich erkenne ihr Zartgefühl an. Sie hat es dadurch bewiesen, daß sie die Bitte, welche dich geärgert hätte, nicht an dich, sondern an mich richtete.«

»Was höre ich! O Mangelhaftigkeit des Verstandes! O Fehlerhaftigkeit der Einsicht! O Unbegreiflichkeit des Nichtbegriffenwerdens! Effendi, wie schmerzlich ist mir das! Du bist sonst ein so außerordentlich kluger Mann, aber ich habe dir schon einmal sagen müssen, daß es in deinem Kopfe eine Stelle giebt, welche ausgebessert werden muß. Wie kannst du die Zartheit meiner Hanneh auf mich und nicht auf dich beziehen!«

»Weil sie nicht meine, sondern deine Frau ist. Sie hat also zart nur gegen dich, nicht aber gegen einen andern Mann zu sein. Verstanden?«

»Allah! Dagegen kann ich freilich kein Wort sagen, denn es ist wahr, daß ihr feiner Ton, ihr Anstand, ihre gute Lebensart und ihre lieblichen Umgangsformen nur mir gehören. Wollte sie gegen andere ebenso lieblich sein wie gegen mich, so würde ich mir das sehr verbitten! Der rechtmäßige Besitzer aller ihrer Vorzüge und erquickenden Eigenschaften bin nur ich allein!«

»Gut, so sind wir also einig. Ihre Zartheit galt nicht mir, sondern dir, also war nicht von meiner, sondern von deiner Unbedachtsamkeit die Rede.«

»Ich schweige; aber ehe ich mich in dieses Schweigen ganz und vollständig einhülle, muß ich dir sagen, daß es mir vorkommt, als ob die betreffende Stelle deines Verstandes ganz plötzlich ausgebessert worden sei, lieber Effendi. Du hast mich mit der Zartheit meiner Hanneh so vollständig besiegt und überwältigt, daß ich jetzt selbst an meine Unbedachtsamkeit glauben würde, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß Hanneh sich da im größten Irrtum, den es geben kann, befindet. Wir haben ihr ja oft von unsern Heldenthaten erzählt, bei denen du zuweilen wohl allzu kühn gehandelt hast. Das ist schon lange her, und so darf es uns nicht wundernehmen, daß sie mich an deine Stelle gesetzt und die Personen dadurch vertauscht und umgewendet hat, daß sie meinen anstatt deinen Namen nennt. Sie ist es also, welche sich diese unverzeihliche Verwechslung hat zu schulden kommen lassen, und ich nehme hier den Vorwurf zurück, den ich vorhin dir gemacht habe.«

»Lieber Halef, ich denke, daß du es bist, welchem diese Verwechslung vorgeworfen werden muß, nicht sie und auch nicht ich. Hoffentlich giebst du das zu?«

»Nein, niemals! Wenn du noch immer nicht einsiehst, daß ich recht habe, so sehe ich mich gezwungen, dir ganz ausführlich zu erklären, daß ––«

»Wolltest du dich nicht vorhin ganz und vollständig in Schweigen hüllen?« unterbrach ich ihn.

»Ja, das sagte ich,« antwortete er.

»So bitte, hülle dich hinein! In dieser Angelegenheit ist das Schweigen für dich ein Mantel, welcher dich am besten kleidet. Ich fordere dich also hiermit ernstlich auf, ihn umzuhängen!«

»Gut, Sihdi! Er hängt schon; ich stecke schon drin. Nun siehe aber auch zu, wie du mich wieder herausbekommst!«

Er schlug, um seinen Worten eine äußere Bekräftigung zu geben, die vorher offenstehenden Vorderteile seines Burnus eng und fest um sich herum, senkte mißmutig den Kopf und blieb von jetzt an für lange Zeit im Burnus und im Schweigen tief verwickelt. Aber als wir dann an ein schmales, kleines Wasser kamen, wo ich halten blieb, um aus der Gestaltung des vor uns liegenden Terrains auf den mutmaßlichen Lauf dieses Baches zu schließen, vermochte er doch nicht, länger zu schweigen. Er fragte:

»Denkst du, daß dieses Wasser schon zu dem Tschaisu gehört, von welchem die Frau gesprochen hat?«

»Ich denke, du willst schweigen!« antwortete ich.

»Das war vorhin, wo es sich um eine Verwechslung der Personen handelte. Jetzt aber, wo sich eine Verwechslung der Gegenden ereignen könnte, muß ich reden. Übrigens frage ich dich: Wozu hat man die Augen?«

»Zum Sehen.«

»Und die Ohren?«

»Zum Hören.«

»Wirst du die Augen und die Ohren schließen, wenn und wo es etwas zu sehen und zu hören giebt?«

»Nein.«

»So hat man den Mund zum Sprechen, und ich sehe nicht ein, weshalb ich schweigen Soll, wenn die Notwendigkeit zum Reden so vorhanden ist wie hier. Ich will dir nämlich gestehen, daß ich den Namen Tschaisu nicht kenne; ich habe ihn noch nie gehört.«

»Ich auch nicht.«

»Und da wollen wir ihn suchen und auch finden?«

»Warum nicht? Der Name ist für uns Nebensache. Tschaisu ist ein türkisch-kurdisches Wort. Tschai bedeutet Fluß; Su heißt sowohl Wasser im allgemeinen als auch Fluß. Der Name ist also eigentlich ein sehr unbestimmter. Wahrscheinlich haben wir es hier mit der oft vorkommenden Gewohnheit zu thun, einem Gegenstande eine beliebige Bezeichnung zu geben. Für die Umm ed Dschamahl war der betreffende Fluß eben nur ›der Fluß‹; wie er eigentlich heißt, das ging sie nichts an. Jedenfalls handelt es sich um einen rechtsseitigen Zufluß der Djalah, und da wir uns auf dieser Seite befinden, werden wir gewiß auf ihn treffen. Ich hielt nur an, um zu überlegen, ob wir diesem Bache folgen sollen oder nicht. Er führt links tief hinab in das Thal, welches einen weiten Bogen schlägt, während die Höhe in gerader Richtung weiterstreicht. Bleiben wir oben, so stoßen wir sehr wahrscheinlich wieder auf ihn, und zwar heute abend, wenn wir lagern und also Wasser brauchen. Ihm zu folgen, würde ein Umweg sein.«

»Den wir nicht machen werden. Wir bleiben also oben.«

Wir hatten die Bachtijaren nämlich früh am Morgen verlassen, und jetzt war der Mittag schon vorüber. Wir befanden uns auf der Höhe des kurdischen Gebirges. Die Berge lagen wie mitten im Seesturme erstarrte, grün bekleidete Meereswogen um uns her. Vor uns strich in ziemlich gerader Richtung eine lange Höhenlinie hin, welche zwar nicht mit Hochwald aber mit ziemlich reichlichem Buschwerk bestanden war; ihr folgten wir, weil sie nach Südwest verlief, der Richtung, welche unser Ritt zu nehmen hatte.

Was den Bach betrifft, so zeigte es sich, daß ich seinen Lauf ganz richtig erraten hatte. Der Thalbogen, auf dessen Grunde er floß, hatte erst sehr weit nach links ausgeholt, kam aber dann, je weiter wir ritten, desto näher zu uns zurück, und als wir gegen Abend das Ende unseres Höhenzuges erreicht hatten, sahen wir ihn unten quer vorüberfließen, um sich mit einem Wasser zu vereinigen, welches rechts aus einem Seitenthale kam. Beide bildeten in dieser ihrer Vereinigung sehr wahrscheinlich eine Gabel des Nebenflusses, welchen wir zu finden hofften.

Wir ritten in das Thal hinab und suchten nach einem als Lagerplatz geeigneten Orte. Wir fanden einen solchen ganz in der Nähe des Zusammenflusses. Dort stiegen wir ab, ließen die Pferde trinken und wuschen sie dann, was wir überhaupt, falls es Wasser gab, nach einem solchen Ritte stets zu thun pflegten. Während man ein Pferd niemals mit warmem Wasser waschen soll, ist kaltes zu seiner Gesundheit so unbedingt erforderlich, daß man keine Gelegenheit, es ihm zu bieten, versäumen darf. Der Naturtrieb macht darauf aufmerksam. Ich habe im Westen der Vereinigten Staaten sehr oft wilde Mustangs sogar während ungewöhnlich kalter Tage in das Wasser gehen sehen.

Während unsere Hengste dann weideten, machten wir es uns unter einer Gruppe von Nadelbäumen bequem, deren dichte Wipfel versprachen, den Tau der Nacht von uns abzuhalten. Wir hatten den Platz so gewählt, daß wir die ganze Krümmung des Hauptthales übersehen und auch einen Blick in die Mündung des Seitenthales werfen konnten. Ein Feuer anzuzünden, hielten wir nicht für nötig; unser Abendessen bestand aus kaltem Fleische, welches uns die Umm ed Dschamahl mitgegeben hatte; Stechmücken, welche man durch Rauch von sich abzuhalten pflegt, gab es nicht; die Temperatur war mild, so daß wir keine künstliche Wärme brauchten, und so hätte ein Feuer nur die eine mögliche Wirkung gehabt, daß wir durch sein Licht und seinen Geruch verraten werden konnten. Es fiel uns zwar nicht ein, Angst vor irgend einer Begegnung zu haben, aber wenn man sich in einer solchen Gegend befindet, fühlt man sich in der Gesellschaft mit sich selbst am sichersten.

Aber dieser Wunsch, allein zu sein, sollte uns nicht erfüllt werden. Wir hatten vielleicht noch eine halbe Stunde bis zum Beginne der Dunkelheit, da sahen wir aus dem Seitenthale einen Reitertrupp kommen, welcher aus sechs wohlbewaffneten Personen bestand, die sich durch ihre Kleidung als Kurden kennzeichneten. Sie alle trugen rote Schulwars, eng anliegende Röcke, welche von ledernen Gürteln zusammengehalten wurden, und darüber weite Antaris von dunkler Farbe. An ihren Hüften hingen krumme Säbel; Pistolen und Messer steckten in den Gürteln, und als Langwaffen hatten sie lange, dünne Kurdenflinten, welche kaum bis zur Hälfte des Laufes geschäftet waren. Fünf von ihnen trugen Mützen von jener sonderbaren Form, die ihnen das Aussehen gegerbter Riesenspinnen giebt, deren halbkugelförmiger Leib den Kopf bedeckt, während die vielen Beine hinten und an den beiden Seiten herunterhängen. Der sechste hatte einen Turban von beinahe vier Fuß Durchmesser. Man bekommt so riesige Amajim besonders häufig in Kurdistan zu sehen. Hierbei sei bemerkt, daß das Wort Turban eigentlich Dülbend heißt und nur das Stück Musselin bezeichnet, welches man zur Bildung des Amami entweder um den Fez oder direkt um den Kopf wickelt. Beritten waren sie, wie wir auf den ersten Blick sahen, außerordentlich gut mit lauter Stuten derjenigen kurdischen Zucht, welche sich durch langen, ausdauernden Atem und, was in den Bergen die Hauptsache ist, durch sichern, nie strauchelnden Tritt auszeichnet.

Wie wir diese Reiter gleich gesehen hatten, so waren auch wir ihnen sofort aufgefallen, denn der Blick zwischen ihnen und uns hin und her war frei und durch kein Hindernis verdeckt. Unsere vor der Baumgruppe grasenden Pferde waren ihnen zuerst in die Augen gekommen, und dann hatten ihre Blicke auch uns gefunden. Sie hielten an, betrachteten uns kurze Zeit, berieten sich dann eine kleine Weile und kamen endlich, die Flinten schußfertig in den Händen, auf uns zugeritten, der Turbanträger voran. Sein Gesicht war bartlos, während die andern alle dichte Vollbärte trugen. Ihre Haltung zu ihm zeugte von Respekt und Unterwürfigkeit, so daß wir in ihm den Anführer vermuten mußten.

Ich habe gesagt, daß sie außerordentlich gut beritten waren, doch hätten wir keines unserer Pferde gegen fünfzig oder gar hundert der ihrigen umgetauscht; unsere Rappen waren ja überhaupt unverkäuflich, weil unschätzbar. Das sahen auch die Kurden. Sie warfen im Näherkommen bewundernde Blicke auf sie und machten einander leise Bemerkungen, die sich, wie wir wohl bemerkten, auf die Hengste bezogen. Als sie uns bis auf vielleicht zwanzig Schritte nahe gekommen waren, blieben sie halten und betrachteten uns mit argwöhnischen Augen.

»Sallam!« grüßte der Anführer.

Sein Gruß war nicht kurdisch, weil er uns ansehen mochte, daß wir keine Kurden seien. So kurz wie er grüßt man nur Ungläubige oder Leute, denen man nicht traut.

»Sallam!« antwortete ich ebenso mißachtend, obgleich ich mir mit einem kurzen Aaleikum den Respekt auch nicht vergeben hätte; es wäre aber doch höflicher als diese Wiederholung des Sallam gewesen.

Die Stimme des Grüßenden war ein hoher, gutturaler Tenor oder tiefer Alt, der mit dem unbärtigen Gesicht im Einklange stand. Die Züge desselben waren außerordentlich regelmäßig, für einen Mann zu weich, fast weiblich schön. Das Alter ließ sich nicht bestimmen; ich fragte mich vergeblich, warum. Ich hätte behaupten mögen, daß dieses Gesicht noch niemals rasiert worden sei. Da aber kam mir der Gedanke: Hätte dieser Reiter nicht so sicher und nach wohlgeübter Mannesart im Sattel gesessen und wäre er nicht als Mann gekleidet gewesen, so hätte ich ihn für eine Frau gehalten, obgleich der Blick so männlich ernst, so selbstbewußt und ruhig forschend war, wie ihn nur ein Mann, der seine Würde kennt und seinen Willen durchzusetzen weiß, zu haben pflegt. Diese Erwägungen erforderten aber keine lange Zeit; sie gingen mir blitzschnell durch den Sinn. Als meine kurze Erwiderung verklungen war, zog der Kurde die Stirn in zornige Falten und fuhr fort:

»Maschallah! Ihr scheint sehr vornehme Leute zu sein, da du so sparsam mit den Worten des Grußes bist?«

Er bediente sich auch jetzt der arabischen Sprache. Ich antwortete:

»Nach deiner eigenen Sparsamkeit zu schließen, bist du nicht weniger vornehm als wir beide.«

»Sag, wer ihr seid!«

Das klang gebieterisch, wie aus einem Munde, welcher gewohnt ist, Befehle zu erteilen.

»Weißt du nicht, daß derjenige, welcher schon hier war, das Recht der Frage besitzt? Der später Angekommene hat zu antworten!«

Er drehte sich um, seinen Begleitern eine leise Bemerkung zuzuflüstern; dann wendete er sich mir wieder zu und sagte, indem ein leises Lächeln um seine vollen Lippen spielte:

»Es kommt nicht darauf an, wer vorher und wer später kommt, sondern darauf, wer und was man ist. Der Niedrige hat dem Höherstehenden Auskunft zu erteilen. Darum werdet ihr wohl sagen müssen, wer ihr seid. Ich fordere das!«

Er hatte das in einem so selbstbewußten Tone gesagt, daß mein Hadschi Halef, dessen Eigenschaften in dieser Beziehung man ja kennt, gar nicht darauf wartete, was ich dazu sagen würde, sondern sehr schnell und mit bekanntem Eifer das Wort ergriff:

»Was höre ich da? Sagen müssen? Müssen, müssen? Du forderst es? Höre wohl, von fordern, fordern hast du gesprochen! Wer von jemandem etwas fordert, so gebieterisch fordert, wie du es dir erlaubst, muß höher als dieser andere stehen. Nun sage uns doch einmal, wie viel Kamelsbuckel du über uns erhaben bist!«

»Ich stehe so hoch über dir, daß ich Ehrerbietung und Gehorsam von dir verlangen kann!«

»So? Also gleich zweierlei? Ehrerbietung und auch noch Gehorsam dazu! Also haben wir wahrscheinlich das unendliche Glück, den Padischah, unsern von Allah begnadeten Sultan und Kalifen aller Gläubigen vor uns zu sehen?«

»Nein, der bin ich nicht.«

»Oder den erlauchten Schah-in-Schah, den berühmten Herrscher des persischen Reiches?«

»Nein.«

»Vielleicht den Kaiser von Iswitschera, den König von Girid oder gar den unvergleichlichen, weltbekannten Regenten von Elpes daghlary und dem großen Reiche Hyrwatlyk

»Auch nicht.«

»Nicht? Sonderbar! Du thust, als ob du der größte Beherrscher der Erde seist, und bist doch nichts von alledem, was ich genannt habe! Ich sage dir aber: Selbst wenn du einer dieser hohen Männer oder wenn du sie sogar alle wärst, würdest du uns dadurch nicht die Ehrerbietung und den Gehorsam abzwingen, von denen du gesprochen hast. Mit unserer Ehrerbietung beglücken wir nur uns selbst, aber keinen anderen Menschen, und nach Gehorsam suchst du bei uns überhaupt vergeblich. Wir thun stets nur, was wir wollen, und wer da glaubt, daß wir uns nach seinem Willen richten, dem beweisen wir sehr rasch, daß bei uns auf keinen Fall etwas zu wollen ist!«

»So steht ihr also höher als der Padischah und auch höher als der Schah?« lächelte der Kurde. »So bitte ich euch also in aller Demut und Unterwürfigkeit, uns gütigst mitzuteilen, welche überaus hohe Herren wir jetzt vor uns haben!«

»Wir werden das nicht eher thun, als bis wir wissen, wer ihr seid.«

»Das sagen wir nicht!«

»So schweigen auch wir!«

»Wir werden euch zwingen!«

»Versucht es doch!«

»Wir sind sechs Männer, ihr nur zwei!«

»Und wenn ihr sechshundert oder sechstausend wäret, würden wir doch thun, was wir wollen!«

Da ließ der Kurde ein mehr lustiges als zorniges Lachen hören, in welches seine Begleiter einstimmten. Er stieg vom Pferde, trat näher zu uns heran, die wir noch gar nicht aufgestanden waren, sondern noch immer am Boden saßen, und sagte:

»Wir hatten hier diesen Platz zum Bleiben während der Nacht bestimmt. Ihr werdet uns Platz machen!«

»Nein, das werden wir nicht!« antwortete Halef.

»Wir zwingen euch!«

»Womit?«

»Mit unsern Waffen.«

»Das laßt ja in Allahs Namen bleiben! Es giebt auf der ganzen Welt keine einzige Waffe, vor welcher wir uns fürchten. Und wenn ihr jeder zehn oder noch mehr Kanonen bei euch hättet, die alle geladen wären, so würden wir doch darüber lachen!«

»Du bist verrückt! Ich würde schon längst zornig über dich geworden sein, wenn ich nicht sähe, daß du zu der bemitleidenswerten Sorte von Menschen gehörst, welche man als Musucha bezeichnet. Darum kannst du mich nicht erzürnen, sondern nur mein Erbarmen erwecken. Verlaßt gutwillig diesen Platz, wenn ihr nicht wollt, daß wir euch dazu zwingen! Du siehst, daß ich jetzt Ernst mache. Wenn ihr nicht sofort gehorchet, schieße ich euch nieder!«

Er nahm eine Pistole aus dem Gürtel und ließ den Hahn derselben knacken.

Es ist schon gesagt worden, daß nichts den Hadschi so empören konnte, als wenn ihm die Kleinheit seiner Gestalt vorgeworfen wurde. So auch hier. Er sprang schneller, als selbst ich es ihm zugemutet hatte, auf, schlug dem Kurden die Pistole aus der Hand, faßte ihn an beiden Armen, schleuderte ihn neben mich nieder, kniete ihm auf den Leib, drückte ihm die linke Hand auf die Kehle, zog mit der rechten sein Messer, hob es zum Stoße empor und rief:

»Kerl, du sollst den ›Mesach‹ kennen lernen! Rühre dich nicht! Und wenn einer von euch es wagt, seine Waffe auch nur zu berühren, stoße ich dir das Messer augenblicklich in das Herz! Ich soll zu den Mesucha gehören! Ich sage euch, das kleinste Glied meines kleinsten Fingers reicht vollständig dazu aus, euch zu beweisen, daß ihr mir gegenüber nur wie Säuglinge seid, die sich nicht wehren können! Wagt ja keinen Widerstand, sonst steche ich ihn augenblicklich tot!«

Es war interessant, zu sehen, wie unbeweglich die fünf Kurden auf ihren Pferden saßen. Einen so blitzschnellen, gewaltthätigen Streich hatten sie dem kleinen Kerl nun freilich nicht zugetraut. Seine stoßfertige Klinge, der energische Ton seiner Stimme und die blitzenden Augen, deren Blick er drohend auf sie richtete, machten einen solchen Eindruck auf sie, daß sie nicht nur ihre Hände still hielten, sondern auch kein einziges Wort zu sagen wagten. Auch der Anführer lag vor Schreck ganz unbeweglich unter den Knieen und der Hand des Hadschi, weicher, nun zu ihm gewendet, fortfuhr:

»Nun zwinge uns doch einmal, diesen Ort zu verlassen, zwinge uns doch, euch Platz zu machen! Ich bin sehr neugierig, zu erfahren, wie du das anfangen willst! Versuche es ja nicht, dich frei zu machen! Meine Klinge würde dir sofort bis an das Heft ins Leben gehen! Denke ja nicht, daß ich scherze! Wenn du meinst, daß es auf die Höhe und die Breite der Gestalt ankommt, so irrst du dich gewaltig. Vor mir haben schon die größten Riesen des Erdkreises tief im Staub gelegen, und du bist ja nicht einmal ein so großer Kerl, daß du dich über einen andern lustig machen dürftest. Ich verlange, daß du uns sofort sagst, wer ihr seid. Zögere ja nicht, sonst ist mein Messer schneller als deine Zunge!«

»Laß mich erst los, sonst kann ich nicht reden!« stöhnte der Kurde unter dem festen Handgriffe Halefs hervor.

»Gut, ich will dir Luft lassen; aber versuche ja nicht, dich frei zu machen! Also antworte! Wer seid ihr?«

»Wir sind Kurden,« konnte der Gefragte nun deutlicher sagen, weil seine Kehle nicht mehr von dem Hadschi zusammengepreßt wurde.

»Das sehen wir. Wir wollen aber natürlich wissen, zu welchem Stamme ihr gehört.«

»Zum Stamme Dumbeli.«

»Wo befindet der sich jetzt?«

»Hier in ‚ der Nähe. Den genauen Ort kennen wir nicht. Wir sind von ihm weit fortgewesen und kehren jetzt wieder heim. Um nicht nach ihm suchen zu müssen, haben wir bestimmt, von dieser Stelle abgeholt zu werden. Darum müssen wir hier bleiben und forderten euch auf, den Ort zu verlassen. Gebt mich frei, und nehmt euch in acht, denn wenn unsere Krieger kommen und erfahren, daß ihr uns feindlich behandelt habt, werden sie blutige Rache nehmen.«

»Wir fürchten uns vor ihnen und ihrer Rache ebensowenig, wie wir uns vor euch gefürchtet haben! Du hast dein Maul so weit aufgerissen und es gewagt, uns Befehle zu erteilen, als ob du nicht zu den gewöhnlichen Kriegern deines Stammes gehörtest. Wie steht es damit?«

»Ich bin der Häuptling.«

»Wie heißest du?«

»Mein Name ist Adir Beg.«

»So will ich dir, Adir Beg, jetzt eine Mitteilung machen. Wenn du diese befolgest, gebe ich dich wieder frei, doch nur aus gutem Willen und nicht etwa, weil wir uns vor euch fürchten. Also höre, was ich dir sage!«

»Warte damit noch!« forderte ich ihn jetzt auf, denn ich durfte ihm nicht erlauben, Bestimmungen zu treffen, ohne mich vorher gefragt zu haben. Dies war schon um des Prinzipes wegen und dann auch deshalb, weil es nicht so unbedingt, wie er dachte, sicher war, daß seine Anordnungen dann auch meinen Beifall fanden.

»Hast du einen Einwand?« fragte er mich.

»Ja.«

»Welchen?«

»Dieser Mann hat dir die Wahrheit nicht gesagt; er ist kein Dumbeli-Kurde.«

»Du meinst, daß er mich belogen habe?«

»Ja. Auch der Name Adir Beg ist ein falscher.«

»Es ist mein richtiger Name,« fiel da der Kurde ein. »Und auch meinen Stamm habe ich der Wahrheit gemäß genannt. Warum sollte ich euch andere Namen sagen!«

»Weil – – – doch davon vielleicht später. Uns kannst du nicht betrügen!«

»Du sprichst vom betrügen? Wie dürft ihr mich des Betruges zeihen, ihr, die ihr, wie wir sehen, keine Kurden seid und also unsere Verhältnisse nicht kennt!«

»Ich kenne sie wahrscheinlich besser als ihr selbst,« entgegnete ich; »ich will dir das beweisen, obgleich ich gar nicht nötig habe, darüber zu sprechen. Du hast zwar jetzt nicht kurdisch, sondern arabisch gesprochen, aber ich höre doch an deiner Aussprache, daß dein Stamm den Kurmandschidialekt des Kurdischen redet, nicht die Sazamundart; die Dumbeli aber sind Sazakurden, und der falsche Name Adir, den du dir beigelegt hast, ist ein Sazawort.«

»Wie klug du bist!« antwortete er, halb verlegen und halb höhnisch. »Du scheinst gar nicht zu wissen, daß aus verschiedenen Mundarten sehr oft Worte herüber und auch hinüber gehen!«

»Das weiß ich sehr wohl. Aber ebenso genau weiß ich, daß sich die Dumbeli nicht hier in dieser Gegend, sondern sehr, sehr weit von hier befinden. Du hast uns belogen, und wer nicht aufrichtig mit uns ist, der darf auf keine Nachsicht von uns rechnen.«

Der Kurde zögerte, mir gleich wieder Antwort zugeben. Er sah mir lange forschend in das Gesicht; dann endlich sagte er:

»Ich möchte behaupten, daß du ein guter Mensch seiest! Böse Leute haben andere Augen und auch andere Gesichtszüge als du. Darum will ich dir, obgleich es meiner Seele widerstrebt, offen eingestehen, daß ich nicht die Wahrheit gesagt habe. Aber ich darf nicht sagen, wer wir sind. Wir haben Allah ein Nadr vor den Thron gelegt, welches uns zum Schweigen zwingt. Glaubst du das?«

»Ja; ich sehe dir an, daß du jetzt die Wahrheit sagst; ich glaube es.«

»Wenn du uns zu einer Antwort zwängst, würden wir dich wieder belügen müssen. Nur aus diesem Grunde haben wir nicht gesagt, wer wir sind. Andere Ursachen, unsern Namen und unsern Stamm zu verschweigen, giebt es nicht. Wir können im Gegenteile so stolz darauf, wer und was wir sind, sein, daß wir eher Ursache hätten, zuviel anstatt zu wenig davon zu sprechen. Nachdem du das gehört hast, wirst du dich wohl nicht länger weigern, uns Auskunft über euch zu geben! Welchem Stamme gehörst du an?«

»Keinem.«

»Du bist doch ein Beduine! Wenn ein solcher zu keinem Stamme gehört, so ist er wegen ehrlosen Verhaltens von dem seinigen ausgestoßen und von keinem andern dafür aufgenommen worden. Aber wie ein Ehrloser, wie ein Ausgestoßener kommst du mir nicht vor!«

»Ich bin kein Beduine.«

»Also Perser?«

»Nein.«

»Türke?«

»Auch nicht. Ich bin ein Christ und stamme aus dem Abendlande.«

»Es soll dort mehrere Länder geben, welche verschiedene Namen haben. Wie heißt das deinige?«

»Dschermanistan.«

»Dschermanistan? Das ist ein berühmtes Land, von welchem jetzt oft gesprochen wird. Der Sultan desselben heißt Wirhem?«

»Wilhelm, willst du sagen!«

»Sein Großwesir ist ein Riese von Gestalt, welcher Bismara heißt?«

»Bismarck ist die richtige Aussprache.«

»Und sein Muschir wird Molekeh genannt?«

»Moltke muß es heißen!«

»Wir können diese Namen nicht so aussprechen, wie du sie sagst; aber wir haben von diesen drei berühmten Männern viel, sehr viel gehört. Man erzählt bei uns von ihnen große Thaten, die unvergleichlich sind. Es muß in Dschermanistan sehr viele tapfere Männer geben!«

»Warum denkst du das?«

»Weil ihr den großen Stamm der Feransawi besiegt habt, dem noch niemals ein Feind hat widerstehen können. Auch Hadschi Kara Ben Nemsi soll ein Krieger aus eurem Lande sein.«

Kaum war dieser Name ausgesprochen worden, so fiel Halef schnell ein-.

»Hadschi Kara Ben Nemsi? Kennst du den?«

»Ja.«

»Woher?«

»Wer sollte ihn nicht kennen, nicht von ihm und seinem treuen Gefährten Hadschi Halef Omar gehört haben! Diese beiden Männer haben manchem Stamm gegen andere, feindliche Stämme beigestanden und ihm zum Siege verholfen, weil sie unübertrefflich tapfer sind und sich ganz und gar nach den Kampfes- und Kriegsregeln des Landes Dschermanistan verhalten, welche weit besser und vorteilhafter als die unserigen sind. Wer diese klugen Regeln und Gebräuche anwendet, der kann von keinem Feinde überwunden werden. Darum sind Kara Ben Nemsi und sein Halef niemals überwunden worden, und ihre Namen leben nicht nur im Munde der Freunde, sondern sie werden auch von den Feinden mit Achtung und Ehrerbietung genannt.«

Halef hatte noch immer fest auf dem Kurden gekniet; aber sobald der »treue Hadschi Halef Omar‹, genannt wurde, nahm er zuerst das linke Bein und bei den Worten »unübertrefflich tapfer« dann auch das rechte weg, so daß er den am Boden Liegenden frei gab und dieser sich aufsetzen und ohne den bisherigen Druck weitersprechen konnte. Das Messer behielt er freilich noch immer in den Händen. Doch als der Kurde zuletzt gar von »Achtung und Ehrerbietung« sprach, entfernte der Kleine auch diese drohende Waffe und sagte in freundlichem Tone:

»Das hättest du gleich erst sagen sollen, nämlich daß du diese beiden weltberühmten Helden kennst! Da hätten wir ganz anders mit euch geredet, als wir bisher zu euch gesprochen haben. Du bist frei, ganz frei!«

»So kennst du sie wohl auch?« erkundigte sich der Kurde, indem er rasch aufsprang und sich nach seiner Pistole bückte, um sie wieder aufzuheben.

Ohne dieses letztere zu beachten, antwortete der Hadschi: »Natürlich kenne ich beide, und zwar gut, sehr gut!«

»Ihr habt von ihnen gehört?«

»Nicht bloß das!«

»Sie gar gesehen?«

»Nicht bloß das!«

»Mit ihnen gesprochen?«

»Nicht bloß das!«

»Vielleicht bei ihnen gelagert, mit ihnen gegessen, getrunken und wohl auch geschlafen?«

»Nicht bloß das!«

»So seid ihr etwa gar mit ihnen gereist, mit ihnen geritten, habt euch längere Zeit bei ihnen befunden?«

»Nicht bloß das!«

»Was denn noch? Es kann ja gar nichts weiter geben, als das, was ich dich gefragt habe!«

»Oh, noch viel mehr!«

»Was?«

»Daß wir uns stets bei ihnen befinden.«

»Du meinst doch wohl zuweilen, nicht stets?«

»Nein, stets.«

»So müßtet ihr auch heut, auch jetzt bei ihnen sein!«

»Das sind wir ja auch!«

»Wie? Wirklich, wahrhaftig? Wo sind sie denn? Sage es schnell, sehr schnell! Sie sind wohl für einige Zeit fortgeritten und werden wiederkommen? Ihr erwartet sie?«

»Nein.«

»Was denn?«

»Sie sind hier!«

»So müßten wir sie sehen!«

»Ihr seht sie ja!«

»Wir sehen nur euch. Haben sie sich versteckt? Sind sie zurückgewichen, als sie uns kommen sahen?«

»Nein, sie sind hier!«

Diese kurzen Fragen und Antworten folgten sehr schnell aufeinander. Der Kurde zeigte einen ganz besonderen Eifer, und sein Ton wurde bei jeder Frage dringlicher. Jetzt ließ er seinen Blick erstaunt zwischen Halef und mir hin und her gehen; er wußte nicht, was er sagen sollte. Da aber rief einer seiner Begleiter aus:

»Die Pferde, die Pferde, die wir schon bewundert haben! Wer hat solche Pferde?«

Dadurch veranlaßt, drehte sich der Anführer nach den Rapphengsten um, wendete sich aber uns sehr rasch wieder zu und rief aus-.

»Halef soll sehr klein sein, und Kara – –«

»Klein nur von Gestalt, aber ungeheuer groß an Mut und Tapferkeit!« fiel ihm der Hadschi rasch in die Rede.

»Und Kara Ben Nemsi Effendi,« fuhr der Kurde nach dieser Unterbrechung fort, »soll die Zähne von selbsterlegten Bären, Löwen, Tigern und Panthern am Halse tragen. Du bist klein, und dein Begleiter hat zwei solche Halsbänder, wie ich sehe! Solltet –—«

Er hielt vor Überraschung inne.

»Solltet – – was?« fragte Halef.

»Solltet ihr diese beiden sein?«

»Warum nicht!«

»Du Hadschi Halef Omar?«

»Ja.«

»Der oberste Scheik der Haddedihn – – –? Vom großen Stamme der Schammar?«

»Natürlich!«

»Und er ist Kara Ben Nemsi?«

»Gewiß!«

»Ist das wahr? Keine Lüge?«

»Was ich sage, kannst du glauben!«

»So sei der Augenblick gesegnet, der uns zu euch hierher führte! Wir sehen die beiden Männer, welche einmal zu treffen, mein größtes Sehnen gewesen ist! Wir begegnen ihnen zu einer Zeit und an einem Orte, wo uns ihr Rat unendlich wert und willkommen sein muß! Steigt von den Pferden, ihr Leute, und begrüßt diese beiden Klugen und Unüberwindlichen mit der Hand, wie man gute, liebe Freunde begrüßt, deren Anblick das Herz frohlocken läßt!«

Wir standen auf. Sie stiegen von ihren Pferden, legten die Waffen ab und schüttelten uns die Hände mit einer Herzlichkeit, als ob wir liebe, alte, lange nicht mehr gesehene Kameraden und Freunde von ihnen seien, deren unerwarteter Anblick doppelt froh überrascht. Dann machten sie es ihren Tieren bequem und setzen sich bei uns nieder, nachdem sie sehr höflich um die Erlaubnis dazu gebeten hatten. Das Bild war plötzlich ein ganz anderes geworden.

Der Anführer saß mir gegenüber; er war mir eine hochinteressante Person, und ich hätte ihn gar zu gern beobachtet, um mit mir über ihn ins reine zu kommen, leider aber war es schon zu dunkel dazu, denn der Abend brach jetzt herein, und die Kurden erklärten, unserm Beispiele folgen und kein Feuer anbrennen zu wollen.

Natürlich war es uns zunächst darum zu thun, nun der Wahrheit gemäß zu erfahren, von welchem Stamme die Kur den seien. Halef drückte diesen Wunsch in seiner bekannten Weise aus:

»Ihr wolltet uns zwingen, euch zu sagen, wer wir sind. Ihr habt es erfahren, obgleich wir uns nicht zwingen ließen, das zu thun, was ihr so gebieterisch von uns verlangtet. Nun euch dieser Wunsch in Erfüllung gegangen ist, seid auch ihr uns Rechenschaft über eure Personen schuldig, und ich hoffe, daß ihr das bisherige Geheimnis nun nicht länger um euch herumschlagen werdet, wie einen Mantel, durch welchen man erst blicken kann, wenn er alt und zerrissen ist!«

Hierauf antwortete mein Gegenüber:

»Wir haben euch schon mitgeteilt, daß wir ein Gelübde gethan haben und dadurch zur Verschwiegenheit gezwungen worden sind. Wir können euch der Wahrheit gemäß nur sagen, daß wir zum Stamme der Hamawandi-Kurden gehören.«

»Bist du der Scheik derselben?«

»Nein, er selber nicht, aber ein naher Verwandter von ihm.«

»Und dein Name?«

»Auch dieser ist Geheimnis. Nenne mich – –« – er dachte einige Augenblicke nach und fuhr dann fort: »nenne mich Adsy; ich werde darauf hören.«

Vielleicht dachte der Kurde an das türkische Wort adsys, welches soviel wie »ohne Namen« bedeutet. Halef nickte ihm zustimmend zu und fuhr dann fort:

»Ein Gelübde darf man nicht verletzen; darum genügt es uns, wenn du uns einen Namen nennst, der deinem Ohre wohlgefällt. Wir sind oben bei der Bachtijari gewesen und wollen nun wieder nach Bagdad hinab. Da ich euch dies sage, dürfen wir vielleicht erfahren, nach welchem Orte ihr reitet?«

»Das ist es, weshalb wir euch um Rat fragen werden. Eigentlich ist dieser ganze Ritt auch ein Geheimnis, aber ein so gefährliches, daß ich mich gar nicht erst besinne, ob ich es euch mitteilen kann. Es hat mich ja grad darum so außerordentlich gefreut, euch, grad euch getroffen zu haben, zwei Männer von solcher Klugheit, solcher Erfahrung und solcher Tapferkeit, daß es für uns nur von größtem Nutzen sein kann, wenn ihr uns sagt, wie ihr an unserer Stelle handeln würdet. Vor allen Dingen aber möchte ich vorher wissen, was und wie ihr über die Dawuhdijeh-Kurden sagt und denkt.«

»Was wir denken? Hm! Und was wir sagen? Auch hm!« antwortete Halef ausnahmsweise einmal so vorsichtig. Dann fuhr er, zu mir gewendet, fort: »Es ist mir lieber, wenn du an meiner Stelle redest, Effendi. Du weißt ja, daß ich überhaupt gern so wenig wie möglich spreche, zumal wenn es mir nicht bewußt ist, was und wie ich alles sagen soll!«

Damit hatte er die Schwierigkeit auf mich abgewälzt. Was ich als Diplomat hätte reden müssen, das wußte ich ja auch nicht, weil mir nicht bekannt war, ob die Hamawands mit den Dawuhdijehs grad jetzt in Frieden oder in Feindschaft lebten, und darum hielt ich es für am besten, meine Meinung ganz der Wahrheit gemäß mitzuteilen:

»Die Dawuhdijehs halten den Raub für keine Schande; sie sind tapfer und gewaltthätig. Ihr Scheik Ismael Beg ist auch tapfer; größer als diese seine Tapferkeit aber ist seine Schlauheit, wie er schon sehr oft bewiesen hat.«

»Das ist wahr, unbestritten wahr, Effendi! Hast du ihn schon einmal gesehen?«

»Nein.«

»Er dich?«

»Wohl auch nicht. Aber gehört habe ich genug von ihm, um mir ein Bild von ihm machen zu können.«

»Es ist ganz genau das Bild, welches auch ich mir von ihm mache, denn auch ich habe ihn noch nicht gesehen. Wir wollen zu ihm.«

»So! Lebt euer Stamm in Freundschaft mit dem seinen?«

»Freunde sind wir nicht, aber jetzt auch nicht Feinde. Der letzte Fall von Blutrache zwischen uns ist ausgeglichen, also hat kein Stamm dem andern etwas vorzuwerfen; aber bei Leuten, zwischen denen soviel Blut geflossen ist, wie zwischen uns und ihnen, ist in jedem Augenblicke die Möglichkeit vorhanden, daß wieder welches vergossen wird.«

»Da ist also euer Ritt zu ihnen nicht ganz ungefährlich?«

»Oh, er ist viel gefährlicher, als du denkst! Wir sind sogar fest überzeugt, daß wir unser Leben wagen, indem wir die Nähe der Dawuhdijehs oder gar sie selbst aufsuchen. Aber wir müssen, denn ich habe erfahren, daß sie meinen Bruder bei sich festhalten.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aus welchem Grunde befindet er sich bei ihnen, bei denen er doch, wie er wohl wissen mußte, so wenig sicher ist?«

»Er mußte hin, um das Leben seines Sohnes zu retten, der sich mit einer vergifteten Waffe verwundet hatte.«

»Das ist mir unklar. Ich bitte dich, es verständlicher zu erzählen!«

»Diesen Wunsch werde ich dir gern erfüllen. Ich habe einen älteren Bruder, welcher Schevin heißt. Allah gab ihm einen Sohn, einen lieben, schönen, kräftigen kleinen Knaben, welcher der Stolz und die Freude seines Vaters und seiner Mutter ist. Khudyr ist sein Name. Dieser Knabe bekam unvorsichtigerweise ein vergiftetes Kriegsmesser aus Hindistan in die Hand. Vielleicht weißt du, wie gefährlich dieses Gift ist, welches man Antschar nennt?«

»Ja, ich weiß es. Es wird auch Upas oder Tschettikgift genannt, welches starke Krämpfe und darauf den Tod bewirkt, wenn es durch die Wunde in das Blut aufgenommen wird.«

»Ich höre, daß du es kennst. Jedermann hat erfahren, daß dieses Gift das gefährlichste aller Gifte der Erde ist. Es wächst auf einem Baume, welcher im ›Todesthale‹ steht und seinen verderblichen Geruch mehrere Tagereisen weit nach allen Richtungen verbreitet, so daß kein Baum, kein Strauch, keine Blume, ja kein einziger Grashalm entstehen und wachsen kann. Jedes Tier, welches in die Nähe kommt, wird durch diesen Gifthauch sofort getötet, und auch jeder Mensch muß sofort sterben, wenn er sich dorthin verirrt oder so vermessen ist, sich heranzuwagen.«

»So schlimm ist es doch nicht ganz!«

»Nicht? Wenn du das behauptest, kennst du dieses Gift doch nicht genau. Ich sage dir, es ist die reine, volle Wahrheit, daß jeder Mensch, jedes Tier und jede Pflanze in der Gegend, wo dieser Baum des Gifttodes steht, sofort und unbedingt zu Grunde geht. Darum ist das ›Thal des Todes‹ mit den Gerippen von Menschen und Tieren so dicht besäet, daß die Knochen den Boden allüberall vollständig bedecken!«

»Ich werde dir sogleich beweisen, daß du dich irrst.«

»Das kannst du nicht!«

»Ich kann es; es ist sogar sehr leicht. Du behauptest also, daß jeder Mensch, welcher sich in dieses Todesthal wagt, unbedingt zu Grunde gehen muß?«

4a, unbedingt und sofort!«

»Weißt du, daß es Tausende von Klingen und Pfeilspitzen giebt, welche mit dem Gifte, von dem du sprichst, getränkt und versehen worden sind?«

»Ja.«

»Es muß also doch wohl Leute gegeben haben, die es aus dem Thale des Todes holten?«

»Natürlich!«

»Die haben es gebracht, sind also nicht gestorben! Wie stimmt das mit deiner Behauptung überein?«

»Hierauf weiß ich freilich nicht zu antworten, Effendi. Was ich gesagt habe, ist mir ganz genauso erzählt worden, und jedermann glaubt es.«

»Ich will dir zu deiner Entschuldigung sagen, daß dieses Märchen von dem Todesthale auch bei uns im Abendlande erzählt und von vielen Leuten, die nicht darüber nachdenken, geglaubt wird. Es giebt kein Todesthal und auch nicht diesen einzelnen oder einzigen Upasbaum, welcher dieses Verderben ganz allein verbreiten soll, sondern es wachsen auf Java und noch andern dortigen Inseln viele solcher Bäume, Sträucher und Schlinggewächse, von deren Milchsaft das Upas- oder Antschargift bereitet wird. Diese Bäume und sonstigen Gewächse gedeihen an solchen Stellen am besten, wo unterirdische, giftige Gase aus der Erde treten. Diese Gase sind schwerer als die Luft; sie steigen nicht in die Höhe, sondern bleiben unten in der Nähe des Bodens, besonders in Thälern, wo der Wind keinen Zutritt hat und sie also nicht mit sich fortführen kann. Wer sie einatmet, der muß sterben. Darum, aber auch nur darum findet man in solchen Thälern dort sehr oft Gerippe von Menschen und Tieren liegen, welche an diesen Gasen zu Grunde gegangen sind, aber nicht an den Giftpflanzen, welche allerdings gern an solchen Stellen wachsen, deren Saft aber nur dann schädlich wird, wenn er durch den Hieb oder Stich einer Waffe mit dem Blute in Berührung kommt. Das ist die wahre Sache an dem Märchen, welches man nicht bloß erzählen hört, sondern sogar in Büchern lesen kann. Damit soll freilich keineswegs gesagt werden, daß dieses Gift nicht oder weniger schädlich sei, als man von ihm berichtet. Ich selbst habe gesehen, daß die Verwundung mit einer solchen Waffe binnen kurzer Zeit den Tod herbeiführte.«

»Deine Erklärung mag die Wahrheit enthalten, und richtig ist es unbedingt, daß dieses Gift verderblich wirkt. Der Knabe Khudyr hatte sich mit dem Kriegsmesser, von dem ich sprach und welches er ohne Wissen seines Vaters und seiner Mutter in die Hand genommen hatte, nur ein wenig geritzt, und doch traten sehr bald fürchterliche Krämpfe ein, die ihn umbringen wollten. Sie wiederholten sich häufig, und stets, wenn sie kamen, war er dem Tode nahe. Sein Anblick dabei war kaum zu ertragen. Welche Angst und Sorge da auf den Herzen der Seinen lastete, kann ich nicht beschreiben!«

»Habt ihr kein Gegenmittel angewendet?«

»Man sagt doch, daß es kein Mittel gebe! Dennoch holten wir aus der Nähe und auch aus der Ferne alle Hukama und arzneikundige Leute zusammen, doch niemand konnte helfen. Eine Frau gab es aber wohl, welche das richtige Gegenmittel wußte, doch war es mit großer Gefahr verknüpft, zu ihr zu kommen.«

»War der Weg zu ihr zu beschwerlich?«

»Nein; aber sie befand und befindet sich jetzt noch bei den Dawuhdijeh-Kurden, mit denen wir, als die Verwundung geschah, noch in Blutfehde standen; also durfte sich niemand von uns zu ihnen wagen. Wir gaben uns des Knaben wegen sogleich alle Mühe, diese Fehde beizulegen. Die Gegner machten es uns zwar sehr schwer, aber wir kamen doch endlich zum Ziele und konnten dann daran denken, die Frau aufzusuchen, um das Mittel von ihr zu holen.«

»Seid ihr denn überzeugt, daß sie das richtige Mittel wirklich kennt und besitzt?«

»Ja, denn sie kann jede Krankheit heilen, also auch so eine vergiftete Wunde.«

»Hm! Möglich ist es, aber wundern sollte es mich doch! Besser wäre es gewesen, du hättest mich eher getroffen!«

»Dich?« fragte er aufhorchend.

»Ja.«

»Weißt du denn dieses Mittel auch?«

»Ob mein Mittel dasselbe ist, welches diese Frau kennt, das kann ich nicht sagen; aber daß mein Mittel hilft, das darf ich getrost behaupten.«

»Maschallah! Ist es ein Geheimnis, oder darfst du es mir mitteilen?«

»Ich mache kein Geheimnis daraus. Es besteht aus dem Safte von Dabahh und Sukutan, äußerlich angewendet, wozu man sehr heißes Wasser trinkt, in welchem wilder Kurat gekocht worden ist.«

»Und das hilft, Effendi, das hilft?«

»Ja, sicher!«

»Hätten wir das gewußt! Aber vielleicht ist es auch jetzt noch Zeit! Es ist ja möglich, daß die Alte ein Mittel hat, welches nicht hilft. In diesem Falle bin ich überzeugt, daß Allah dich zu uns gesendet hat, das Leben unsers – – unsers – – unsers Khudyr zu retten!«

Der Kurde hatte jedenfalls eine andere Bezeichnung für den Knaben auf den Lippen gehabt, sie aber zurückbehalten und durch den Namen ersetzt. Auch fiel mir auf, daß er von ihm mit einer Liebe, einer so innigen Besorgnis sprach, wie sie ein männlicher Verwandter, ein Oheim, wenigstens im halbwilden Kurdistan und Fremden gegenüber nicht zu zeigen pflegt.

»Mein Mittel ist nicht so ohne weiteres anzuwenden, wie du zu denken scheinst,« bemerkte ich. »Man muß den Patienten kennen und die Wunde untersuchen, die vielleicht jetzt schon nicht mehr offen ist. Sodann sind die beiden Pflanzensäfte nur in einer besonderen Mischung zu geben, weil Dabahh weniger Schärfe als Sukutan besitzt, und auch vom Kurat ist nur eine gewisse Menge, nicht zu viel und nicht zu wenig, zu nehmen.«

»So müßtest du wohl dabei sein, wenn man diese Pflanzen in Anwendung bringt?«

»Es ist wünschenswert, wenn auch nicht unbedingt nötig.«

»So bitte ich dich, Effendi, deine Güte über uns leuchten zu lassen, indem du bei uns bleibst!«

»Das ist ein sehr kühner Wunsch!« antwortete ich in aller Aufrichtigkeit.

»Ja, das weiß ich wohl. Du bist ein so berühmter Mann, daß ein großer Mut dazu gehört, dir – – –«

»Das meine ich nicht,« unterbrach ich ihn. »Das Wort Kühnheit hatte sich nicht auf meine Person zu beziehen, sondern darauf, daß du mich aufforderst, bei dir zu bleiben, obwohl weder du weißt, ob ich Zeit und Lust dazu besitze, noch ich von dir erfahren habe, welche Wege du jetzt reitest und was auf diesen Wegen alles vor dir liegt. Nimm also deinen Wunsch einstweilen wieder zurück, und erzähle uns von dem Knaben weiter!«

»Gut, das werde ich thun; aber ich sage dir, daß ich meine Bitte doch wieder aussprechen werde! Als die Blutrache endlich beseitigt worden war, machte sich der – – – machte sich Schevin mit dem Knaben auf, um ihn zu der alten Frau zu bringen.«

Er hatte wieder gestockt, wahrscheinlich abermals einen andern Namen nennen wollen. Mich interessierte dies sehr, doch sagte ich kein Wort dazu, sondern ließ ihn ungestört in seiner Rede fortfahren.

»Er nahm einige tüchtige Krieger mit, um unterwegs und auch dann bei den Dawudijehs nicht ohne allen Schutz zu sein. Wir wußten, wie lange die Hinreise und auch die Rückkehr dauern würde und wann er also ungefähr wiederkommen müsse. Diese Zeit verging und dann noch fast eine Woche, ohne daß er kam. Da wurden wir natürlich bange und schickten einige Kundschafter aus, um zu erfahren, warum er so lange bliebe. Als sie heimkehrten, meldeten sie uns, daß er nicht kommen könne, weil er mit dem Knaben und seinen Begleitern festgehalten werde.«

»Warum hält man ihn zurück?«

»Das wissen wir nicht.«

»Haben die Kundschafter gar nichts über diesen Punkt erfahren können?«

»Gar nichts!«

»Sonderbar, höchst sonderbar!«

»Was?«

»Ihr alle, die ihr doch beteiligt seid, wißt nichts davon, und ich, der Fremde, ahne den Grund!«

»Du? Ahnst ihn? ja, man erzählt freilich von deinem Scharfsinne, daß ihm nichts entgehen könne, aber daß du hier das Richtige triffst, das ist doch gar nicht zu denken! Das würde fast ein Wunder sein.«

»Ein Wunder? Gar nicht! Man hat gar nichts weiter nötig zu thun, als richtig nachzudenken. Wer folgerichtig zu denken und einen Punkt aus dem andern zu entwickeln versteht, vor dessen Auge liegt schnell manches klar, was andere nur verspätet oder wohl auch gar nicht zu erfahren vermögen.«

»Dürfen wir erfahren, Effendi, was du vermutest?«

»Ja, obgleich du damit von mir verlangst, daß ich gegen dich aufrichtiger sein soll, als du in deinen Mitteilungen gegen mich gewesen bist.«

»Du aufrichtiger? Wieso?«

»Das wirst du gleich hören. Beantworte mir nur meine jetzige Frage der Wahrheit gemäß! Heißt der, den du deinen Bruder nennst, also der Vater des Knaben, wirklich Schevin?«

»Warum giebst du mir diese Frage?« erwiderte er ausweichend.

»Weil sie hier von größter Wichtigkeit ist. Das Kurmandschiwort Schevin heißt Schäfer, Hirte. Wenn ich erraten soll, ob ein kurdischer Krieger, der gar der Sohn des Häuptlings oder wenigstens ein Verwandter desselben sein soll, wirklich so heiße oder sich diesen friedlichen Namen nur beigelegt habe, um seinen eigentlichen, richtigen und sehr kriegerischen zu verbergen, so entscheide ich mich nicht für den ersteren, sondern unbedingt für den letzteren Fall. Dein sogenannter Bruder heißt nicht Schevin, sondern hat einen andern Namen.«

Wenn es hell gewesen wäre, hätte ich auf dem Gesicht des Kurden jedenfalls den Ausdruck der Überraschung bemerkt; da es nun aber hier unter den Bäumen ganz dunkel war, sah ich nichts, doch ließ eine längere Pause, welche jetzt eintrat, vermuten, daß meine Worte den beabsichtigten Eindruck hervorgebracht hatten. Dann klang seine Stimme im Tone eines plötzlichen, schnellen Entschlusses:

»Gut, nimm einmal an, du habest recht! Was folgt in Beziehung auf die Dawuhdijehs daraus?«

»Ich nehme zunächst an, daß euer Stamm mit dem ihrigen häufig zusammengetroffen ist?«

»Das ist richtig.«

»Wenigstens die hervorragendsten von euren Kriegern sind ihnen bekannt?«

»Ja.«

»Schevin ist ein solcher Krieger?«

»Ja.«

»Sie wissen, wie er eigentlich heißt?«

»Ja.«

»So denke also: Sie kennen ihn, sie wissen seinen wirklichen Namen; jetzt kommt er plötzlich anders zu ihnen, als sie ihn bisher gesehen haben, und giebt sich einen andern, einen falschen Namen! Was werden sie da denken? Was werden sie da wohl thun?«

Da antwortete der Kurde rasch und im Tone der Besorgnis:

»Effendi, mit deinen Worten geht die Befürchtung in Erfüllung, die ich seit einigen Tagen hegte! Ich will dir gestehen, daß er allerdings anders heißt, daß er sich einen falschen Namen gegeben hat.«

»Aber warum denn das?«

»Um leichter durchzukommen, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«

»Er mußte sich aber doch sagen, daß er grad das Gegenteil erreichen werde!«

»Grad das hat er sich nicht gesagt. Er glaubte, wenn er unerkannt bliebe, werde man sich weniger um ihn kümmern, als wenn man wisse, wer er sei.«

»Aber man mußte ihn doch erkennen, weil er eine bekannte Persönlichkeit ist, und dann war es doch gar nicht anders zu erwarten, als daß man der Verheimlichung seines wirklichen Namens schlechte Absichten unterschob. Das siehst du wohl ein!«

»Ja, ich sehe es ein. Und leider ist mir dieser Gedanke erst nachträglich gekommen, als es schon zu spät war, eine Änderung zu treffen, denn Schevin war schon fort. Glücklicherweise ist es nicht ganz so schlimm, wie du denkst. Da er wirklich keine bösen Absichten hat, kann man ihn wohl mißtrauisch, aber doch nicht feindlich behandeln.«

»Ob er solche schlimme Absichten wirklich hat, das ist Nebensache. Bei Leuten, wie die Dawuhdijehs sind, genügt es vollständig, daß er sie zu haben scheint. Nach diesem Schein wird er behandelt, nicht nach der Wirklichkeit.«

»Das klingt schon schlimmer, als ich meinte; aber es giebt auch hierbei noch einen erleichternden Gedanken: Die alte Frau ist nicht direkt bei den Dawuhdijehs zu finden, sondern sie ist ihnen nur zur Bewachung anvertraut worden. Sie wird von den Türken festgehalten und einige Dawuhdijehs sind stets bei ihr, um aufzupassen, daß sie den Ort, an dem sie sich befindet, nicht verlassen kann. Wer sie aufsucht, hat also nicht nötig, den eigentlichen Sitz des Dawuhdijeh-Stammes aufzusuchen.«

»Diese alte Frau erweckt mein höchstes Interesse, doch werde ich dich erst später nach ihr fragen. Jetzt muß ich mich zunächst mit dem Widerspruche beschäftigen, welchen ich in deinen Worten und deinem Verhalten entdecke.«

»Welchen Widerspruch meinst du, Effendi.«

»Du suchst alle möglichen Trostes- und Beruhigungsgründe hervor und hast mir doch schon gesagt, daß Schevin in die Hände der Dawuhdijehs gefallen sei und von ihnen nicht wieder fortgelassen werde. Ja, du scheinst dich sogar schon zu seiner Befreiung unterwegs zu befinden. Wie stimmt das zusammen? Sage es mir!«

»Du wirst das gleich begreifen, wenn ich dir mitteile, daß man Schevin zwar zurückhält, ihm aber nichts zu thun wagt, weil man ihm die Absichten, welche man vermutet, nicht nachweisen kann. Sobald aber ein einziger unserer Hamawand sich das geringste gegen irgend einen Dawuhdijeh zu schulden kommen ließe, was zu jeder Stunde sehr leicht geschehen kann, so würde man die Rache sofort gegen Schevin richten, und das ist es, was mich um ihn, der mein älterer Bruder ist, in so große Sorge versetzt. Daß dann auch der Knabe sich in der größten Gefahr befände, daran darf ich überhaupt gar nicht denken!«

Auch jetzt war bei diesen letzten Worten der Ton seiner Stimme ein so tief klagender, wie ich es von einem kurdischen Oheim gar nicht erwarten konnte.

»Haben eure Kundschafter denn mit Schevin sprechen können?« erkundigte ich mich.

»Was denkst du? Das ist ja gar nicht möglich!«

»Warum nicht?«

»Ein Kundschafter darf sich doch nur ganz heimlich nähern und sich nur höchst vorsichtig erkundigen. Wie kann er da bis ganz zu der Person vordringen, nach welcher er zu forschen hat, die man aber verborgen hält?«

»Was das betrifft, so bin ich schon sehr oft Kundschafter gewesen und weiß, was man erreichen kann. Haben diese Leute ihn denn nicht wenigstens gesehen?«

»Nein.«

»Aber sich nach ihm erkundigt?«

»Ja.«

»Haben sie erfahren, wo man ihn versteckt hält?«

»Nicht genau, denn was sie mir darüber sagen konnten, klingt bald so und bald anders. Über allen Zweifel sicher ist es nur, daß man ihn nicht wieder fortgelassen hat und auch nicht fortlassen will.«

»So ist er erkannt worden?«

»Wahrscheinlich. Wir sind also dreihundert Mann stark aufgebrochen, um ihn zu holen.«

»Was sagst du?« fragte ich ihn erstaunt. »Dreihundert Mann? Das ist ja nach den Verhältnissen dieses Landes und dieser Gegend ein ganzes Heer!«

»Das ist es! Es gilt seine Befreiung, zu welcher keine Zahl zu groß sein kann!«

»So ist er unbedingt ein sehr hervorragender Mann eures Stammes, und da du sein Bruder bist, so gehörst auch du nicht zu den gewöhnlichen Kriegern?«

»Nein. Auch die fünf Männer, welche hier bei uns sitzen, sind auserlesene Leute. Wir sind unserm Heere vorangeritten als Führer und ›scharfe Augen‹, denen die andern in sicherer Entfernung zu folgen haben.«

Es trat eine Pause ein, während welcher ich nichts sagte, weil mir diese Angelegenheit zu denken gab. Darum fragte Adsy nach einer Weile:

»Du schweigst. Du bist ein abendländischer Krieger und denkst also nicht so wie wir über das, was hier geschieht. Hat vielleicht etwas von dem, was ich gesagt oder gethan habe, deine Zustimmung nicht?«

»Ich bin mit den dreihundert Hamawands nicht einverstanden. Verzeih, daß ich dies sage!«

»Aus welchem Grunde bist du dagegen?«

»Kaum habt ihr die Blutrache zum Schweigen gebracht, so unternehmt ihr einen Zug, durch welchen der Haß und die Rache sehr leicht zu noch viel höher lodernden Flammen entfacht werden können als vorher. Das ist es, was ich auszusetzen habe.«

»Es ist das jetzt noch kein Kriegszug, kann aber einer werden. Wenn die Dawuhdijehs unsere Forderung erfüllen, Schevin und seine Begleiter herauszugeben, ziehen wir friedlich wieder heim.«

»Wißt ihr, warum sie ihn zurückgehalten haben? Kann er nicht etwas unternommen haben, womit er ihnen Grund zu diesem ihrem Verhalten gegeben hat?«

»Das werden wir erfahren. Wir sind zum Frieden, aber auch zum Kampf bereit. In beiden Fällen würden wir es als eine von Allah gesandte Hilfe betrachten, wenn Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar sich bei uns befänden.«

»In beiden Fällen?«

»Ja.«

»Wieso?«

»Wenn ihr euer Wort in die Wagschale des Friedens legt, wird es mehr gehört, als wenn wir alle sprächen. Und wenn es trotzdem zum Kampfe käme, so würden deine Zaubergewehre, von denen wir schon so oft und so viel gehört haben, allein hinreichen, uns zum Siege zu verhelfen. Ich bitte dich also sehr, Effendi, an diesem unserm Zuge teilzunehmen!«

Aha! Sehr klug! Da ich aber doch nicht so grad heraus sagen konnte, was ich über diese naive Zumutung dachte, antwortete ich in ablehnender Weise:

»Die Erfüllung deines Wunsches würde uns ein Vergnügen bereiten, welches für uns gewiß stets eine schöne Erinnerung wäre; aber leider haben wir keine Zeit dazu.«

»Keine Zeit – – –?!« warf mir Adsy im Tone des größten Erstaunens entgegen, denn der Orientale hat ja immer Zeit; er besitzt nicht das mindeste Verständnis für den Wert, den jede einzelne Lebensstunde für den Menschen haben soll und auch wirklich hat.

»Ja, keine Zeit!« wiederholte ich. »Wir sind schon bei den Bachtijaren länger geblieben, als wir wollten – – –«

»Was ihr für diese thatet, könnt ihr auch für uns thun!« fiel er ein.

»Wir werden von Freunden in Bagdad erwartet – –«

»Sie mögen warten!«

»Auch haben wir vor, von Bagdad nach Basra nicht zu reiten, sondern mit dem Schiff zu fahren ––«

»Es mag warten!«

»Das wartet nicht, sondern fährt pünktlich ab.«

»So fährt später ein anderes! Kein Mensch stirbt eher, als Allah will, und ihr kommt keinen Augenblick früher oder später nach Basra, als es euch im Buche des Lebens vorgeschrieben ist!«

»Du denkst nicht daran, daß ich kein Moslem, sondern ein Christ bin. Ich habe also in Beziehung auf das Kismet eine ganz andere Meinung als du.«

»Ich halte unsern Glauben für besser als den deinigen, obgleich ich diesen nicht kenne; aber kluge Leute scheint ihr doch zu sein, denn die alte Frau, welche die Wunde unsers Knaben heilen soll, ist auch eine Gläubige des Propheten aus Nasirah

»Eine Christin? Etwa aus dieser Gegend?«

»Das weiß ich nicht, aber man sagt, sie sei hier fremd. Sie soll so alt sein, daß man ihre Jahre gar nicht zählen kann. Ihr Antlitz ist das Angesicht des Todes, und die Zöpfe ihres langen, weißen Haares scheinen aus der Zeit zu stammen, in welcher Muhammed, der Prophet Allahs, noch auf Erden wandelte.«

Kaum hatte er diese Worte gesagt, so rief Halef mit vor Überraschung lauter Stimme:

»Sihdi, Sihdi, hast du es gehört? Hamdulillah, wir sehen sie wieder, sie, die wir längst im Lande des Todes wähnten! Diese alte Frau ist nämlich ––«

»Still!« unterbrach ich ihn, ehe er den Namen aussprechen konnte.

»Still? Warum soll ich still sein, warum soll ich schweigen, wenn die Freude mir im Herzen wohnt? Du verstehst mich nicht; du weißt nicht, wen ich meine. Wenn es gilt, etwas zu erraten, so reicht die Länge deines Verstandes gewöhnlich weiter als die Breite des meinigen; dieses Mal aber scheint meine Breite viel, viel eher zugegriffen zu haben als deine Länge. Ich weiß, welche alte Frau gemeint ist; ich weiß es ganz genau, du aber hast es nicht erraten, und – – –«

»Ich bitte dich,« fiel ich ihm in die Rede, »die ganze berühmte Breite deines Verstandes festzuhalten, damit er dir ja nicht verloren gehe! Habe ich dich jemals mitten in dem, was du sagen wolltest, unterbrochen, ohne einen Grund dazu zu haben?«

»Nein,« antwortete er, sichtbar frappiert.

»Und jetzt glaubst du, in einem Wettrennen zwischen deiner Breite und meiner Länge mich überholt zu haben? Lieber Halef, erlaube, daß ich dich an deine Hanneh erinnere! Oder nicht?«

Jetzt verstand er mich. Er sah ein, daß es den Hamawands gegenüber wahrscheinlich geraten war, uns im Betreff der vermutlichen Bekanntschaft schweigsam zu verhalten und antwortete also:

»Ja, Sihdi, erinnere mich immerhin an sie, welche nicht nur die duftigste der Rosen, sondern auch die klügste Besitzerin der bedachtsamsten Frauenlippen ist. Sie ist jedenfalls tausendmal schöner und jünger als diese alte Christin, deren Antlitz als das Angesicht des Todes beschrieben wird!«

Der Kurde, welcher nicht wußte, was mit unserm kurzen Redewechsel gemeint gewesen war, ergriff diese Gelegenheit, beschreibend fortzufahren:

»Ja, sie soll das Aussehen einer aus dem Grabe zurückgeholten Leiche haben. Vielleicht hat sie sich auch wirklich schon im Grabe befunden und ihre Seele ist während dieser Zeit bei den Geistern der Abgeschiedenen gewesen und dann wieder in den Körper zurückgekehrt, denn sie weiß von jenem Leben zu sprechen, als ob sie es kennen gelernt hätte, und kann Dinge sehen und hören, welche andern Sterblichen streng verschlossen sind.«

»Das klingt ja außerordentlich!« warf ich im ungläubigen Tone ein, um ihn dadurch zu weiteren Mitteilungen, die ich wünschte, aufzustacheln.

»Es klingt nicht nur so, sondern es ist auch wirklich so, Effendi!« beteuerte er.

»Daß sie überirdische Dinge hört und sieht?«

»Ja. Oder hältst du Mogizat für unmöglich?«

»Gott thut täglich Wunder!«

»Allah, nicht allein, sondern sie werden auch von Menschen verrichtet. Muhammed, der Prophet aller Propheten, war doch auch Mensch und hat viele, viele Wunder gethan. Und von euerm Isa Ben Marryam erzählt man sich dasselbe; er soll auch viele Wunder gethan haben, obgleich sie nicht an die großen, herrlichen und erhabenen unsers Muhammed reichen.«

»Du irrst. Zwar wollen wir uns nicht über religiöse Dinge und Personen streiten, aber Christus hat gesagt: ›Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden!‹ Und daß er diese Macht wirklich besaß, hat er durch seine Wunder bewiesen –«

»So glaubst du, daß er höher stehe als Muhammed?«

»Ja,«

»So müßte auch El Kuds, die heilige Stadt der Christen, höher stehen als Mekka, die wir verehren!«

»Wollen wir uns wegen des Ranges zweier Städte bekämpfen?«

»Nein; aber El Kuds hat nur den einen Vorzug, daß dort das Gericht des jüngsten Tages abgehalten wird; sonst aber steht Mekka unendlich höher, weil sich dort, wie du weißt, die heilige Kaaba befindet.«

Ich lasse mich nicht gern in unnütze religiöse Gespräche ein, denn es fehlt zu den da aufgestellten Behauptungen meist die Zeit, die dazu gehörigen Beweise zu bringen; selten aber versäume ich eine Gelegenheit, wie die jetzige war, ein Streiflicht auf den eigentümlichen Umstand zu werfen, daß es in der Lehre und in den Traditionen des Islam Stellen giebt, durch welche das Christentum höher gestellt wird als der Muhammedanismus. Es gewährt mir dann immer ein heimliches Vergnügen, bemerken zu können, wie stutzig es den Moslem macht, so etwas anhören zu müssen, ohne daß er zu widersprechen vermag. So sagte ich auch jetzt:

»Was den Ort betrifft, an welchem das jüngste Gericht abgehalten wird, so giebt es bei den Muhammedanern zwei verschiedene Annahmen, die sich widersprechen. Nach der einen wird Christus an diesem Tage vom Himmel auf die Moschee der Ommajaden zu Damaskus niedersteigen, um von da aus einem jeden Lebenden und Toten sein Urteil zu sprechen. Also Christus wird das thun, nicht Muhammed; das sagt eure eigene Religion. Wer steht da höher?«

»Effendi, hierauf kann ich nicht sogleich antworten, das muß ich mir erst überlegen.«

»Gut, denke darüber nach! Und nach der andern Anschauung wird das jüngste Gericht in Jerusalem stattfinden. Wenn einst die Posaunen dieses Tages ertönen, werden die Seelen aller Menschen dort im Thale Josophat versammelt werden, Muhammed mitten unter ihnen; ein Säulenschaft, welcher aus der Mauer ragt, zeigt schon heut die Stelle an, wo er stehen wird. Hoch über ihm und den versammelten Geistern aber wird Christus auf dem Ölberge thronen, so daß er alle überblickt und ihm keiner entgehen kann, wenn er die Schafe von den Böcken scheidet. Da wird es der Brücke es Ssireht, von welcher eure Lehre an anderer Stelle spricht, nicht bedürfen, sondern es wird ein dünnes Seil über das Thal gespannt, über welches sämtliche Seelen schreiten müssen. Dabei werden die Gläubigen, die Frommen, an beiden Händen von ihren Schutzengeln gehalten und geleitet werden, so daß sie glücklich hinüberkommen; die Ungläubigen aber, die Gottlosen, werden keine lichten Führer haben und also hinab in die Finsternis und schauerliche Tiefe stürzen. Also auch hier thront Christus über Muhammed. Das sagt ihr selbst!«

»Du scheinst nicht nur eure, sondern auch unsere Lehre ganz genau zu kennen, Effendi; ich aber muß auch hierauf schweigen. Doch wirst du mir gewiß das zugeben, daß unsere Kaaba zu Mekka das größte Heiligtum der Erde ist?!«

»Nein, auch das gebe ich nicht zu.«

»Weil du ein Christ bist. Wenn du ein Moslem wärest, würdest du mir recht geben!«

»Um dir das Gegenteil zu beweisen, will ich jetzt einmal nicht als Christ, sondern als Moslem sprechen. Du kennst doch wohl die Gesetze der Höflichkeit, nach denen Menschen miteinander verkehren?«

»Ja.«

»Wenn von zwei Männern der eine höher steht als der andere und ein Besuch zwischen ihnen nötig ist, welcher hat da zu kommen?«

»Der, welcher niedriger steht.«

»Also derjenige, welcher besucht wird, ist der höhere? Antworte der Wahrheit gemäß!«

»Ja, er ist der vornehmere, der höhere.«

»So will ich dir noch folgendes sagen: Das Heiligtum der Muhammedaner in Jerusalem heißt Haram esch Scherif, und eure Lehrer sagen, daß am jüngsten Tage die Kaaba von Mekka nach Jerusalem kommen werde, um den Haram esch Scherif zu besuchen und mit ihm dem jüngsten Gerichte beizuwohnen. Hörst du wohl?«

»Ist das wahr, Effendi?«

»Ja. Erkundige dich, so wirst du erfahren, daß es so ist, wie ich sage!«

»Die heilige Kaaba besucht den Haram esch Scherif! Das wußte ich noch nicht.«

»Wer ist da der höhere, die Kaaba oder der Haram esch Scherif?«

»Der letztere!«

»Welcher Ort ist der höhere, Mekka, die Stadt des Islam, oder Jerusalem, die Stadt der Christen?«

»Jerusalem!«

»Wirst du nun auch jetzt noch behaupten, daß die Wunder Christi nicht an die Wunder Muhammeds reichen?«

»Effendi, ich kann mich nicht mit dir messen, denn ich habe die Worte nicht, welche dir zur Verfügung stehen!«

»Dir fehlen nicht die Worte, sondern die Beweise. Ihr gebt die Wunder Christi ohne alle Widerrede zu; wir aber kennen nicht ein einziges Wunder, welches Muhammed gethan hat. Muhammeds Wunder werden nur von der Überlieferung erzählt! Christi Wunder aber werden von Muhammed bestätigt und sind im heiligen Buche verzeichnet, aus welchem Muhammed geschöpft hat. So sag mir nun einmal, wessen Wunder werden wohl glaubhaft sein?«

»Schweig, Effendi, ich bitte dich! Hast du vielleicht die Absicht, mir meinen Glauben zu rauben? Ich wollte doch nicht von den Wundern Muhammeds und von den Wundern Isa Ben Marryams sprechen, sondern von denen, welche man sich von der alten Frau erzählt!«

»Erzählt! Aber wahr sind sie nicht!«

»Sie sind wahr! Ich habe unheilbare Kranke gesehen, von denen sie durch das Gebet und das darauf folgende Auflegen ihrer Hände die Krankheit genommen hat. Sie kennt die Gedanken eines jeden Menschen; der zornigste Mann wird vor ihr zum stillen Lamm, und sogar die Tiere sind ihr unterthan!«

»Wie heißt diese Frau?«

»Ihren Namen kenne ich nicht; ich habe ihn noch nie gehört. Man nennt sie nur es Sahira

»Kennst du ihre Heimat?«

»Nein. Doch meint man, sie müsse aus der Gegend von Hakkiari oder auch Rowandiz sein, weil sie zuweilen Namen von Orten nennt, die es dort giebt. Etwas Sicheres wird wohl nur der Pascha von Suleimania wissen.«

»Der? Du nennst ihn Pascha? Wenn er das erführe, würde er sich sehr darüber freuen, daß er zu einem solchen Rang erhoben worden ist. Warum meinst du, daß er die Heimat der Frau kennt?«

»Weil er es ist, der sie gezwungen hat, in dem Kulluk zu wohnen, den sie nicht verlassen darf.«

»Er hat sie nicht bei sich in Suleimania?«

»Nein. So nahe will er sie nicht haben, denn er fürchtet sich vor ihr. Er hat sie in die Berge schaffen lassen, wo hoch oben das dicke Gemäuer des Kulluk steht, welcher vor langer, langer Zeit zur Bewachung der Grenze gebaut worden ist. Dort steckt sie unter der Aufsicht der Dawuhdijehs, welche aufpassen müssen, daß sie sich nicht entfernt.«

»Also eine Gefangene?«

»Ja.«

»Und doch sagst du, daß sie Kranke heile und noch sonstige Wunder thue?«

»Das habe ich gesagt, und es ist wahr.«

»So scheint es doch, als ob man sie nicht allzu streng bewache?«

»Man läßt keinen Menschen zu ihr in den Turm. Wenn jemand mit ihr sprechen will, darf sie bis an die Thür kommen, wofür man den Dawuhdijehs ein Geschenk zu geben hat.«

»So ist zu schließen, daß sie eigentlich niemanden zu ihr lassen sollen, dies aber des Bakschisch wegen nicht so scharf nehmen, wie der Pascha es befohlen hat. Sonderbar ist es, daß er sie nicht durch Soldaten, sondern durch die Dawudijehs bewachen läßt!«

»Den Grund kenne ich nicht.«

»Wie lange steckt sie wohl schon in dem Kulluk?«

»Das weiß ich nicht; es ist aber schon lange her, seit ich zum erstenmal von ihr hörte.«

»Welche Sprache spricht sie?«

»Man kann arabisch, türkisch, kurdisch und auch persisch mit ihr reden.«

»Kennst du die Gegend, in welcher der Turm liegt?«

»Ja.«

»Aber so genau, daß du mir als Führer dorthin dienen könntest?«

»Ja. Wir sind schon einigemal dort gewesen, früher, als der Kulluk leer stand und es Sahira noch nicht hinter seinen starken Mauern steckte.«

»Das ist mir lieb, denn ich kenne ihn noch nicht.«

»Willst du hin?« fragte er schnell.

»Ja.«

»Ich denke, du hast keine Zeit!«

»Ich habe allerdings so wenig Zeit, daß ich mich durch gewöhnliche Gründe nicht abhalten lassen würde, direkt und ohne alles Säumen nach Bagdad zu reiten; aber um eine Frau zu sehen, welche Wunder thut, kann man schon ein solches Opfer bringen.«

»So werdet ihr also bei uns bleiben?«

»Ja.«

»Hamdulillah! Wenn dies der Fall ist, können wir sicher sein, daß wir Schevin mit dem Knaben und auch ihre Begleiter zurückbringen werden! Effendi, ich danke dir! Du konntest mir keine größere Freude bereiten! Nun mögen die Dawuhdijehs vorhaben, was sie wollen, wir brauchen keine Sorge zu haben. Selbst wenn es zwischen ihnen und uns zum Kampfe käme, würde dieser für uns ein siegreiches Ende nehmen!«

»Was das betrifft, so will ich nicht zögern, dir ein notwendiges Wort zu sagen. Du hast, wie du uns vorhin mitteiltest, viel von uns gehört; da wirst du wahrscheinlich auch erfahren haben, daß wir zwar furchtlose Männer sind, aber den Frieden lieben und darum so viel wie möglich jeden Streit, jede Feindseligkeit zu umgehen suchen. Genau so werden wir uns auch jetzt verhalten.«

»Aber wenn die Dawuhdijehs nun weniger friedlich gesinnt sind und uns zum Kampfe zwingen!«

»So bleibt uns vorher noch immer die List, durch welche man ohne Opfer an Blut und Leben oft mehr erreicht als durch sofortiges Dreinschlagen mit den Waffen. Wir haben diese Erfahrung sehr oft gemacht.«

»Wir sind ja auch gar nicht darauf versessen, das mit Gewalt zu erzwingen, was wir ohne sie erreichen können. Ich habe die dreihundert Krieger aber mitgenommen, um für alle Fälle gerüstet zu sein.«

»So bin ich mit dir einverstanden, und wir können uns also über die notwendigen Maßregeln, welche zu treffen sind, besprechen.«

»Welche Maßregeln meinst du da?«

»Ich meine, daß wir doch wissen müssen, wohin wir uns zu wenden haben, um die Gesuchten zu finden.«

»Ja, wo sie stecken, das wissen wir nicht. Ich habe dir schon gesagt, daß die Aussagen und Vermutungen unserer Kundschafter in Beziehung auf diesen Punkt nicht miteinander übereinstimmen.«

»Hm! Da ist es ja grad so gut, als hättet ihr gar keine Späher ausgeschickt! ich meine, daß solche Leute gar nicht eher zurückkehren dürfen, als bis sie wissen, woran sie sind; so habe wenigstens ich es stets gehalten. Soviel ich weiß, giebt es nomadische Dawudijehs und auch solche, welche zwischen Bazian und Kafri seßhaft sind. Um welche handelt es sich?«

»Um alle, denn die Seßhaften schließen sich stets den andern an, wenn es ein gewinnbringendes Unternehmen gilt; der Unterschied zwischen beiden ist nicht groß.«

»Wo sind die nomadisierenden jetzt zu suchen?«

»Links oberhalb Suleimania.«

»Und wo liegt der Kulluk, in welchem die wunderbare Sahira festgehalten wird?«

»Grad östlich und ungefähr einen Tagesritt von hier.«

»Wie weit sind deine dreihundert Mann hinter dir?«

»Sie kommen morgen früh eine Stunde nach dem Beginn des Tages hier an.«

»Wann wolltet ihr diese Stelle hier verlassen?«

»Sofort wenn es Tag geworden ist.«

»Also noch ehe eure Krieger hier eintreffen?«

»Ja.«

»Würden diese denn wissen, wohin sie sich hinter euch her zu wenden haben?«

»Ja, denn wir haben Zeichen mit ihnen verabredet.«

»Wohin von hier aus würdet ihr sechs morgen geritten sein, wenn ihr uns nicht getroffen hättet?«

»Das wollten wir heut abend hier beraten.«

»So beratet es jetzt! Ich bin neugierig, was ihr da beschließen werdet.«

»Willst du uns nicht helfen?«

»Ich will wissen, was ihr thun würdet, wenn wir nicht dabei wären. Vielleicht sage ich euch dann das, was ich denke. Wir wollen euch in eurer Beratung nicht stören und uns also für kurze Zeit entfernen. Komm, Halef!«

Wir standen auf und spazierten langsam am Wasser hin. Als wir uns bis außerhalb Hörweite der Hamawands entfernt hatten, sagte der kleine Hadschi:

»Gut, daß du diesen Vorwand vorschobst, um für einige Zeit von ihnen wegzukommen! Da können wir sprechen, ohne daß sie hören, was wir sagen. Du warst zornig, als ich den Namen nennen wollte?«

»Zornig nicht.«

»Aber ich sollte schweigen?«

»Ja. Wunderst du dich darüber?«

»Ich glaubte, es sei gleichgültig, ob sie wissen oder nicht, daß wir diese alte Frau so gut kennen.«

»Bei einem Zusammentreffen mit solchen Leuten kann das, was man thut oder spricht, nie gleichgültig sein. Du siehst hier wieder einmal, daß du nicht bedachtsam genug bist. Warum schwieg denn ich? Warum habe ich den Namen nicht sofort genannt?«

»Ich glaubte, du errietest gar nicht, wer diese Frau eigentlich ist!«

»So wenig kennst du mich? Ich pflege solche Sachen doch gewöhnlich eher zu erraten als du. Das könntest du doch nun bald wissen! Übrigens ist es nicht so über allem Zweifel erhaben, wie du denkst, daß sie es ist. Es ist möglich, daß wir uns irren.«

»Wie? Es wären noch Zweifel möglich?«

»Ja.«

»Daß es Marah Durimeh ist?«

»Ja.«

»Sihdi, wenn sie es nicht ist, darfst du mich für einen so dummen Knaben halten, wie es keinen dümmeren geben kann. Ich täusche mich nicht!«

»Ich glaube auch, daß wir uns nicht irren; aber es giebt noch mehr alte Frauen hier in Kurdistan.«

»Hundertjährige?«

»Wahrscheinlich.«

»Die Christinnen sind?«

»Ja.«

»Und aus der Gegend von Hakkiari stammen?«

»Ja.«

»Es ist möglich, ja; aber es liegt die unerschütterliche Gewißheit in mir, daß dieser Kurde kein anderes Weib gemeint hat, als unsere Marah Durimeh.«

»Grad so liegt es auch in mir, doch schwören können wir nicht darauf. Und wenn sie es ist, so haben wir doch nicht nötig, so vorschnell zu sagen, daß wir sie kennen. Wir wissen ja gar nicht, wie sich diese Angelegenheit entwickeln wird. Sie scheint gefangen zu sein. Man hält sie für eine Zauberin. Aber wie denkt man sonst von ihr? Freundlich oder feindlich? Besonders da sie Christin ist! Wir müssen sie herausholen. Dürfen wir das den Hamawands sagen? Oder würden sie das den Dawuhdijehs verraten, um dafür ihre Leute loszubekommen? Du hörst, daß es hier verschiedenes zu überlegen giebt, und daß wir nicht so, wie du wolltest, vor lauter Freude mit beiden Beinen zugleich hineinspringen dürfen! Nur vorsichtig sein, Halef! Denke an Hanneh!«

»Sihdi, an die denke ich zu aller Zeit; sie kommt mir keinen Augenblick aus dem Sinne, denn sie ist der holdeste Inbegriff aller Seligkeit und Wonne, die es im Morgenlande und auch im Abendlande giebt!«

»Behalte sie getrost nur für das Morgenland, denn das Abendland hat sogar die Holdseligkeit meiner Dschanneh noch nicht begreifen können!«

»Gut, du sollst deinen Willen haben! Nun sag aber auch, wie wir es anfangen werden, um in den Turm zu Marah Durimeh zu kommen!«

»Das kann ich doch jetzt noch nicht wissen!«

»Nicht? Ich habe geglaubt, daß dir die berühmte Länge deines Verstandes zu jeder Zeit zur Verfügung stehe!«

»Wenn ich Gedanken brauche, werden sie sich einstellen; jetzt sind sie noch nicht nötig.«

»Ich dächte, doch!«

»Nein! Erst müssen wir die betreffenden Umstände kennen lernen.«

»Wenn du mit den Umständen soviel Umstände machst, werden sie sich dir bald als Übelstände zeigen!«

»Hältst du diesen Witz vielleicht für einen guten? Wir können jetzt noch nichts bestimmen, weil wir noch fast gar nichts wissen. Vor allen Dingen müssen wir den Kulluk kennen lernen. Bevor wir ihn gesehen haben, ist es nicht möglich, einen Plan zu entwerfen. Überlaß dies mir, und sorge dich nicht! Komm!«

Der Anführer der Hamawands hatte uns gerufen. Als wir hinkamen, teilte er uns mit:

»Wir sind mit unserer Beratung fertig, Effendi, und werden euch mitteilen, was wir beschlossen haben.«

»Nun?«

»Wir werden morgen früh doch nicht gleich fortreiten, sondern hier bleiben, bis unsere Krieger kommen.«

»Warum?«

»Weil sie euch sehen sollen. Ich will, daß sie sich mit ihren eigenen Augen überzeugen, was für seltene und berühmte Männer wir hier getroffen haben und zu unsern Freunden zählen dürfen. Ich muß dabei sein, wenn sie sich darüber freuen, und will nicht haben, daß ich diesen Anblick versäume.«

»Ich bin damit einverstanden, daß wir warten, bis sie kommen; doch nicht aus persönlichen, sondern aus Klugheitsgründen. Eine so große Menge von Kriegern so nahe hinter euch kann alles verderben.«

»Wieso?«

»Erkennst du denn nicht ganz von selbst, was ich meine?«

»Nein. Ich glaubte bisher, damit, daß ich diese dreihundert Leute mitnahm, sehr vorsichtig und vernünftig gehandelt zu haben, und nun höre ich, daß du aus Gründen der Klugheit dagegen sprichst!«

»Ich thue das mit vollem Rechte. Sag mir doch, warum ihr nicht sofort mit diesen dreihundert Mann aufgebrochen seid, sondern erst Kundschafter schicktet!«

»Weil wir doch unbedingt erst wissen mußten, wie es mit unsern Freunden steht, die nicht zurückkehren.«

»Nun, wißt ihr das denn jetzt?«

»Nein. Wir haben weiter nichts erfahren können, als daß sie von den Dawuhdijehs zurückgehalten werden.«

»Also, obgleich eure Kundschafter das nicht erreichten, was sie erreichen sollten, habt ihr das gethan, was ihr nicht eher thun wolltet und auch wirklich nicht eher thun durftet, als bis die Aufgabe der Späher gelöst worden war! Du giebst zu, daß es falsch gewesen wäre, mit dreihundert Mann auszurücken, ohne die Verhältnisse vorher erst zu erkunden, und jetzt seid ihr ausgerückt, obwohl sie nicht erkundet worden sind. Ist damit der Fehler eingestanden oder nicht?«

»Effendi, du verstehst die Fragen so zu setzen, daß man grad so antworten muß, wie du es wünschest!«

»Gut; diese Worte enthalten das von mir gewünschte Eingeständnis! Das, was die Kundschafter versäumt haben, muß unbedingt nachgeholt werden. Ihr seid sechs Personen, vollständig genug, dies zu thun. Ich meine sogar, daß es zwecks solcher Späherschaften stets besser ist, so wenig wie möglich Personen dazu zu nehmen, die aber allerdings auch möglichst erfahren, vorsichtig und listig sein müssen. Sechs Personen würden mir schon zu viel sein. Anstatt dies einzusehen, schleppt ihr gar noch dreihundert Männer hinter euch her. Ich sage dir, ihr gleicht da Kundschaftern auf einem Flusse, welche zwar so klug gewesen sind, den kleinsten und schnellsten Kahn für sich auszuwählen, aber ein großes, schweres, unbewegliches Floß angehängt haben, welches sie nun mühsam hinter sich herschleppen. Ihr müßt so ungebunden, so leicht, so unabhängig wie möglich sein, um euch, sobald es nötig ist, nach jeder Richtung wenden zu können und hängt doch an diesen dreihundert Mann wie flüchtig sein sollende Pferde fest, welche vor einen schwerbeladenen Ochsenwagen gespannt worden sind!«

»So meinst du, daß wir diese Krieger zurücklassen und uns zunächst auch nur als Späher betrachten sollen?«

»Ja, das meine ich.«

»Aber wohin sollen wir uns da wenden? Wir wissen ja nicht, wo Schevin versteckt gehalten wird!«

»Durch diese Unwissenheit wird der Fehler nur vergrößert, der in der Mitnahme so vieler Krieger liegt. Erfahrt ihr das, was ihr nicht wißt und doch wissen müßt, etwa durch die Begleitung dieser Leute?«

»Nein.«

»Es scheint, ihr habt nicht richtig nachgedacht. Ich an eurer Stelle wüßte, wohin ich mich zu wenden hätte.«

»Ich bitte dich, es uns zu sagen!«

»Sehr einfach, nach dem Kulluk, in welchem die alte Sahira steckt.«

»Dorthin? Warum?«

»Aus keinem andern Grunde, als grad eben weil diese Frau sich dort befindet. Ich habe keine Ahung, warum der sogenannte ›Pascha‹ von Suleimania sie dort festhalten läßt; aber daß er sie nach diesem Wartturme hat schaffen lassen, ist mir ein Beweis dafür, daß dieser Ort der in der ganzen Umgegend geeignetste dazu ist. Das wissen natürlich auch die Dawuhdijehs, denen ja die Bewachung dieser Gefangenen anvertraut worden ist, und so liegt der Gedanke, daß sie auch Schevin dorthin gebracht haben, doch sehr nahe, denn erstens giebt es keinen besser passenden Ort dazu, und zweitens ist die nötige Bewachung schon vorhanden.«

»Effendi, dieser Gedanke ist gut, sehr gut. Ich wundere mich jetzt darüber, daß wir nicht auf ihn gekommen sind, da er doch eigentlich der allernächste war.«

»So siehst du also ein, daß ich recht hatte, als ich sagte, ihr hättet nicht richtig nachgedacht. Ihr seid in eurer Wut über die Dawuhdijehs sofort mit dreihundert Kriegern losgeplatzt, ohne nur zu wissen, weshalb sie Schevin festgehalten haben, und ohne euch zu sagen, daß man Gewalt erst dann anwendet, wenn man eingesehen hat, daß weder Güte noch List zum Ziele führen. Ich an eurer Stelle würde die dreihundert Mann hier zurücklassen und zunächst nach dem Kulluk reiten, um nachzusehen, wie es dort steht. Das ist doch wenigstens ein fester Anhaltepunkt, und selbst wenn sich Schevin mit seinen Begleitern nicht dort befinden sollte, sind dort jedenfalls Winke zu erhalten, die nach dem Orte deuten, an welchem er zu suchen ist.«

»Das leuchtet mir auch ein. Effendi, ich sehe, daß wir euch zu unserm Vorteile hier getroffen haben. Sag noch einmal, ob du bei uns bleiben und uns begleiten willst; ich bitte dich darum!«

»Was ich gesagt habe, gilt. Ich bleibe.«

»Ich danke dir. Wenn ihr bei uns seid, wird alles gut gehen; ich bin überzeugt davon. Darum werde ich nichts thun, ohne daß ich euch vorher frage.«

»Daran thust du wohl. Ich will dir aufrichtig gestehen, daß ich euch für noch viel unvorsichtiger halte, als ich euch bis jetzt gesagt habe.«

»Da bin ich überzeugt, daß diese deine Annahme grundlos ist. Wir sind keine unerfahrenen Hirten, sondern geübte Krieger, und wenn ich den Fehler begangen habe, es für richtig zu halten, gleich mit einem so großen Trupp aufzubrechen, so ist das eben eine Ansicht gewesen, deren Unbrauchbarkeit von dir zwar behauptet, aber doch noch nicht bewiesen worden ist. Es kann sich noch immer herausstellen, daß dieser mein Gedanke richtig war!«

Der mißmutige Ton, in welchem er diese Worte vorbrachte, bewies mir, daß er mir die meinigen übelgenommen hatte. Wäre ich nicht Kara Ben Nemsi gewesen, so hätte ich wahrscheinlich eine scharfe Zurechtweisung erfahren. Diese sechs Männer waren hervorragende Krieger ihres Stammes und besaßen also jedenfalls ein sehr ausgeprägtes Ehrgefühl, welches ich nicht geradezu beleidigen durfte; aber als mir der Anführer sagte, daß er uns immer vorher fragen werde, hatten zwei von ihnen sich in einer Weise geräuspert, welche ihr Mißfallen andeuten Sollte, und so kam es mir nun darauf an, ihnen zu zeigen, daß sie gar wohl Grund hatten, sich um unsere Ansichten zu bekümmern. Darum fuhr ich jetzt, um seine Einrede ganz unbeirrt, fort:

»Ich kann das, was ich jetzt erwähnen will, nicht behaupten, sondern ich vermute es nur; trotzdem aber ist es nötig, dich darüber zu fragen. Du sagtest, daß eure Kundschafter Erkundigungen eingezogen haben?«

»Ja; natürlich thaten sie das.«

»Bei wem?«

»Bei Dawuhdijehkurden, denn bei andern hätten sie doch nichts erfahren können.«

»Wenn man sich nach jemandem erkundigt, ist man gezwungen, seinen Namen zu nennen, ihn zu beschreiben, irgend eine bestimmte Angabe über ihn zu machen?«

»Ja.«

»Das haben eure Kundschafter also auch gethan?«

»Selbstverständlich!«

»Es wäre mir sehr lieb, wenn du mir sagen könntest, wann, wo, bei wem und in welcher Weise sie ihre Erkundigungen eingezogen haben.«

»Sie haben sich zerstreut und einen Ort bestimmt, an welchem sie sich wieder treffen wollten; dann hat jeder von ihnen einen Dawuhdijeh, den er traf, ausgefragt.«

»Und was haben diese Dawuhdijehs gethan?«

»Wie meinst du das?«

»Meinst du, daß sie nur Auskunft gegeben haben?«

»Was sonst?«

»Zunächst ist es sehr fraglich, ob sie die Wahrheit gesagt haben; ich wenigstens würde mich von keinem Fremden ausfragen lassen. Sodann haben diese Dawuhdijehs nicht etwa nur geantwortet, sondern jedenfalls sich dabei ihre heimlichen Gedanken erlaubt. Sie haben ferner zu andern Dawuhdijehs unbedingt von diesen Erkundigungen fremder Männer gesprochen, und auf diese Weise ist es bekannt geworden, daß – –sag, wieviel Kundschafter sind es gewesen?«

»Acht.«

»O wehe! So viele?! Also auf diese Weise ist es bekannt geworden, daß acht Fremde sich an verschiedenen Stellen und bei verschiedenen Dawuhdijehs nach ganz denselben Personen erkundigt haben. Das hat natürlich Aufsehen erregen, Verdacht erwecken müssen, und darum bin ich vollständig überzeugt, daß die Dawuhdijehs erraten haben, wer diese Fremden waren. Sie müßten sehr dumme Menschen sein, wenn sie das weitere nicht vermutet hätten, und so kannst du fast mit Sicherheit darauf rechnen, daß sie auf den Empfang deiner dreihundert Krieger vorbereitet sind!«

»Effendi, ist das wirklich deine Meinung?« fragte er schnell und im Tone der Besorgnis.

»Ja, das ist sie!«

»Da wären wir ja schon unterwegs nicht sicher!«

»Das mußtest du dir schon längst sagen, scheinst aber gar nicht daran gedacht zu haben. Ich an deiner Stelle würde meine Gedanken sogar noch viel weiter schweifen lassen.«

»Wohin?«

»Nach euren Lagerplätzen.«

»I’Allah! Warum dorthin?«

»Höre mich an! Ich setze den Fall, ich sei der Scheik der Dawuhdijehs. Wir standen mit den Hamawandikurden in Blutrache, welche kürzlich ausgeglichen wurde. Da kamen mehrere Hamawands mit einem Knaben, den sie mit ––«

»Da muß ich dich unterbrechen,« fiel er ein. »Adsy und seine Begleiter haben verleugnet, daß sie zum Stamme der Hamawandikurden gehören!«

»Grad das ist ja das Schlimme! Durch diese Lüge haben sie mein Mißtrauen erweckt, und ich halte sie darum zurück. Sehr wahrscheinlich ist es dann zu Scenen gekommen, welche mich beleidigten, meine Rache herausforderten. Da kamen nach und nach acht einzelne Männer meines Stammes, von denen ich erfuhr, daß acht Fremde sich an verschiedenen Stellen nach diesen lügnerischen Hamawands erkundigt haben. Ich denke natürlich sofort, daß sie auch Hamawands gewesen sind. Ferner sag ich mir, daß diese Kundschafter daheim melden werden, daß ich die Ihrigen feindlich behandelt habe und festhalte. Ich weiß auch, daß die Hamawands nun beschließen werden, diesen Leuten zu Hilfe zu kommen. Was werde ich nun wohl thun?«

Der Kurde war zunächst still; als ich dann meine Frage wiederholte, antwortete er:

»Du willst mir Sorge machen, Effendi!«

»Ich will dir deine Angelegenheit in dem Lichte zeigen, in welchem du sie sehen mußt; weiter will ich nichts.«

»Du meinst also, die Dawuhdijehs sind überzeugt, daß wir kommen?«

»Ja.«

»Und daß sie sich vorbereitet haben?«

»Ja. Ich stamme zwar aus dem Abendlande, aber ich kenne die hiesige Gegend und die hiesigen Völker wenigstens ebenso gut, wie du sie kennst. Glaube mir, daß ein Fremder oft mehr und schärfer als ein Einheimischer sieht! Indem ich mich in die Lage der Dawuhdijehs versetze, was du auch hättest thun sollen, aber unterlassen hast, weiß ich, was und wie sie denken und thun werden. Wenn sie sich nicht auf euren Angriff vorbereitet hätten, wären sie wert, daß jeder von ihnen die Bastonnade bekäme! Ich halte sie aber für klug genug.«

»Und ich glaubte, sie vollständig überrumpeln zu können!«

»Da hast du sie unterschätzt. Ja, ich will es nicht als ganz und gar unmöglich hinstellen, daß sie unvorbereitet sind, aber dieser einen Möglichkeit stehen neunundneunzig Gewißheiten gegenüber. Ich möchte wetten, daß du morgen mit allen deinen Kriegern ins Verderben reiten würdest, wenn du hier nicht Veranlassung gefunden hättest, jetzt alle mögliche Vorsicht in Anwendung zu bringen.«

»So denkst du, daß wir umkehren sollen?«

»Nein.«

»Aber es ist doch deine Ansicht, daß sie uns erwarten, daß wir also auf sie treffen, wenn wir weiterreiten!«

»Ich habe doch gesagt, daß deine Krieger hier zurückbleiben sollen.«

»Und wir sechs? Was thun wir?«

»Ihr reitet mit uns nach dem Kulluk.«

»Das ist doch noch viel gefährlicher! Sechs Mann oder dreihundert Mann, das giebt einen Unterschied!«

»Allerdings; aber dieser Unterschied fällt zu unsern Gunsten aus. Sechs Personen, oder mit uns beiden acht, können leichter und unbemerkt hindurchkommen als dreihundert. Das mußt du dir auch sagen.«

»Du meinst also einen heimlichen Ritt?«

»Ja, einen überaus vorsichtigen Kundschafterritt. Der Haupttrupp bleibt hier zurück, um uns Hilfe zu bringen, wenn wir welche brauchen. Das ist das allein Richtige.«

»Ja, das ist das Richtige!« stimmte Halef bei. »Wenn ihr thut, was mein Effendi sagt, kann euch nichts geschehen. Wir wissen ganz genau, wie man so etwas anzufangen hat. Wir haben solche Ritte schon oft gethan, und da wir gesehen haben, daß eure Pferde gut sind, braucht ihr keine Sorge zu haben. Wir beide sind fest entschlossen, nach dem Turm zu reiten. Wenn ihr Angst bekommen habt, könnt ihr ja umkehren; wir werden uns keine Mühe geben, euch festzuhalten.«

Da rief der Kurde rasch:

»Was denkst du von uns! Wir fürchten uns nicht!«

»Es schien aber fast so!« meinte der Hadschi gleichmütig.

»Ich bitte dich, dies nicht noch einmal zu sagen! Es giebt keinen Hamawandi, der sich fürchtet, und Schevin und den Knaben können wir unmöglich im Stiche lassen.«

»Also reitet ihr mit?«

»Ja.«

»So muß ich euch eine Mitteilung machen.«

»Welche?«

»Habt ihr gute Ohren?«

»Ja,« antwortete Adsy, ohne daß er wußte, worauf Halef mit seiner Frage zielte.

»Wir auch. Unsere Ohren sind nicht nur gut, sondern sogar sehr feinfühlend, ganz außerordentlich empfindlich. Es giebt gewisse Geräusche, welche wir nicht vertragen können, zum Beispiel ein gewisses Räuspern. Ich hoffe sehr, daß du weißt, was ich meine!«

»Ich weiß es nicht.«

»Nicht? Muß ich es dir wirklich sagen?«

»Wenn es wichtig ist, ja.«

»Es ist sehr wichtig, überaus wichtig. Vorhin, als du sagtest, daß du nichts thun werdest, ohne uns zu fragen, da gab es so ein Hüsteln und Räuspern da bei den beiden, die hier neben mir sitzen. Solche Geräusche pflegen uns tief in die Ohren bis in die Hände hinunter zu klingen, und dann pflegen wir mit den Händen gewöhnlich etwas zu thun, was dem Betreffenden das Räuspern abgewöhnt. Also, wenn wir mit euch reiten sollen, so räuspert nicht zu oft; ihr könntet euch sonst verschiedene Verdrießlichkeiten zuziehen! Nun hast du mich wohl verstanden? Oder soll ich es vielleicht noch einmal sagen?«

»Nein; es genügt dies eine Mal,« antwortete Adsy verlegen. »Du schiebst diesem Geräusche eine Bedeutung unter, die es gar nicht hatte.«

»Möglich! Aber am liebsten ist es mir, wenn ich gar nicht zu schieben brauche. Ich habe alle Geräusche der Welt studiert und kenne die Bedeutung jedes einzelnen. Seid also in Zukunft vorsichtiger, denn wenn dann ich anfange, Geräusche zu machen, so sind es solche, über deren Bedeutung gar kein Irrtum möglich ist!« –

Die Stimmung wurde durch dieses kleine, von dem sehr ehrliebenden Hadschi herbeigeführte Intermezzo eine andere, und es kostete mich einige Mühe, sie wieder auf den vorherigen Stand zu bringen. Dann, als die gute Laune sich wieder bei ihm eingestellt hatte, war er so gnädig, die Unterhaltung in seine Hand zu nehmen; das heißt natürlich nichts anderes, als daß er die Schleußen seines Mundes öffnete und von unsern großen Thaten zu erzählen begann. Es gab in Beziehung auf unsern Ritt nach dem Kulluk nichts Wichtiges mehr zu sagen, und die Kurden waren ganz begierig darauf, das, was sie über uns gehört hatten, aus meinem oder seinem Munde bestätigt zu finden. Der meinige verhielt sich natürlich still; als desto beredter erwies sich der seinige, zumal ich ihn ruhig gewähren ließ und keine Veranlassung nahm, ihn zu unterbrechen.

Das, was er erzählte, hatte ich nicht nur selbst mit ihm erlebt, sondern es auch viele Male von ihm erzählen hören; es konnte mich also nicht in der Weise interessieren, daß ich ihm eine so gespannte Aufmerksamkeit wie die Kurden schenkte. Ich sah also, wie ich es stets that, noch einmal nach unsern Pferden und wickelte mich dann in meinen Haïk, um mich zur Ruhe zu legen. Einschlafen konnte ich freilich noch nicht, denn die von seiten der Zuhörer mit Ausrufen der Bewunderung gespickte Rede des Hadschi klang mir wie das ununterbrochene Geräusch einer in der Nähe niederfallende Kaskade in die Ohren, und dazu hielt mich auch der Gedanke an unser morgiges Vorhaben wach.

Besonders beschäftigte mich es Sahira, die alte Zauberin, von welcher gesprochen worden war. Wer meinen Band »Durchs wilde Kurdistan« gelesen hat, der weiß, daß ich in der kleinen Festung Amadijah Gelegenheit hatte, einem kurdischen Mädchen Hilfe gegen die Vergiftung durch Tollkirschen zu bringen. Bei dieser Patientin traf ich eine über hundert Jahre alte Ahne von ihr, Namens Marah Durimeh, welche früher Meleka gewesen war und mir infolge dieser glücklichen Kur eine Dankbarkeit widmete, deren ungeahnte Wichtigkeit für mich ich dann später zu meinem größten Vorteile erkennen sollte7. Mein damaliges Zusammentreffen mit dem Ruh ‚i Kulian, dem segenspendenden »Geist der Höhle«, war nicht nur ein für unsere damalige Reise wichtiges Erlebnis, sondern hat auch für mein inneres Leben Folgen gehabt, die mir bis auf den heutigen Tag unschätzbar geblieben sind. Ich bitte, dieses Kapitel nachzuschlagen und noch einmal zu lesen, damit das, was ich jetzt zu berichten habe, den notwendigen Zusammenhang gewinne! Zugleich will ich bei dieser Gelegenheit bemerken, daß ich über mein viertes und letztes Zusammentreffen mit Marah Durimeh ein besonderes Buch schreiben werde, weil diese Begegnung von einem so tiefen und nachhaltigen Einflusse auf die Richtung und den Inhalt meines Seelenlebens gewesen ist, daß ich herzlich wünsche, meinen lieben Lesern von diesen aus dem irdischen Leben in die Ewigkeit hinüberreifenden Früchten anbieten zu dürfen.

Also an diese alte, mir so teuer gewordene Abkömmlingin von Königen mußte ich jetzt denken. Nie vorher im Leben und auch nicht nachher habe ich eine Person gefunden, welche mir so ehrwürdig, beinahe möchte ich sagen, so heilig erschienen wäre wie diese mit ihrem Geiste schon mehr im jenseits als im Diesseits weilende Greisin. Nur ihre wohlthätige Menschenliebe, ihre segenspendende Barmherzigkeit gehörte noch der Erde an, sonst aber zählte sie zu denen, welche hinübergegangen sind nach den »Wohnungen in meines Vaters Hause«, von denen Christus spricht. Ich hatte damals für dieses Leben von ihr Abschied genommen, doch lebte sie so ethisch rein, so geistig klar und hoch, wie ich sie kennen gelernt hatte, in meinem Herzen fort. Und nun schien es, als ob ich sie gegen alles Erwarten jetzt wiedersehen sollte! Aber war sie es denn wirklich, war es keine andere? Adsy hatte von einer uralten Frau gesprochen, deren Jahre man gar nicht zählen könne. Das stimmte. Auch seine übrigen Bemerkungen konnten sich eher auf sie als auf eine andere, uns noch unbekannte greise Frau beziehen, obgleich das Wort es Sahira, die Zauberin, nicht auf Marah Durimeh paßte. Doch war diese Bezeichnung wohl nur die Folge des niedrigen Standpunktes, von welchem aus sie von den Kurden betrachtet und beurteilt wurde. Ihnen kam das ganze Wesen und Thun der Alten fremd und unbegreiflich vor, und was dem Naturmenschen unbegreiflich erscheint, das pflegt er am liebsten mit dem Begriffe der Zauberei zu erledigen. Es war ja, wie ich schon zu Halef gesagt hatte, möglich, daß wir diese Zauberin noch nie gesehen hatten, aber es lag nicht nur eine Ahnung, sondern wie eine Überzeugung in mir, daß uns diese Begegnung mit unserm »Geist der Höhle« zusammenführen werde. Bei diesem Gedanken stiegen die damaligen Erlebnisse wieder in mir auf, jene Kämpfe bei den Teufelsanbetern und bei den muhammedanischen und christlichen Anwohnern des Zabflusses, besonders mein Aufstieg nach der geheimnisvollen Höhle des Ruh ‚i Kulian und mein mehrmaliges Gespräch mit diesem Geiste. Es fielen mir die Worte des Melek ein: »Sie wird dich morgen nach der Zeit des Mittages in meinem Hause besuchen, denn sie hat dich lieb, als ob du ihr Sohn oder ihr Enkel seist.« Und dann, als sie am andern Tage mit mir in ungestörter, weihevoller Einsamkeit oben am Berge saß, erklang es aus ihrem Munde:

»Herr, blicke auf, dahin zwischen Süd und Ost! Diese Sonne bringt Frühling und Herbst, bringt Sommer und Winter; ihre Jahre sind mehr als hundertmal über mein Haupt gegangen. Siehe dieses Haupt an! Es hat nicht mehr das Grau des Alters, sondern das Weiß des Todes. Ich sagte dir bereits in Amadijah, daß ich nicht mehr lebe, und ich habe die Wahrheit gesprochen; ich bin ein – – Geist, der Ruh ‚i Kulian.«

Sie hielt inne. Ihre Stimme klang dumpf und hohl, wie wirklich aus dem Grabe heraus; aber sie vibrierte doch wie unter der Regung eines lebendigen Herzens, und die Augen, welche auf das Gestirn des Tages gerichtet waren, zeigten einen feuchten Glanz tiefer, seelischer Rührung.

»Ich habe viel gehört und viel gesehen,« fuhr sie fort. »Ich sah den Hohen fallen und den Niedern emporsteigen; ich sah den Bösen triumphieren und den Guten zu Schanden werden; ich hörte den Glücklichen weinen und den Unglücklichen jubeln. Die Gebeine des Mutigen zitterten vor Angst, und der Zaghafte fühlte den Mut des Löwen in seinen Adern. Ich weinte und lachte mit; ich stieg und sank mit – – dann kam die Zeit, in der ich denken lernte. Da fand ich, daß ein großer Gott das All regiert und daß ein liebender Vater alle bei der Hand hält, den Reichen und den Armen, den jubelnden und den Weinenden. Aber viele sind abgefallen von ihm; sie lachen über ihn. Und noch andere nennen sich zwar seine Kinder, aber sie sind dennoch die Kinder dessen, der in der Dschehennah, in der Hölle, wohnt. Darum geht ein großes, ein gewaltiges Leid hin über die Erde und über die Menschen, die sich nicht von Gott strafen lassen wollen. Und doch kann keine zweite Sündflut kommen, denn Gott würde keinen Noah finden, welcher der Vater eines besseren, eines wohlgefälligeren Geschlechtes werden könnte.«

Sie machte eine neue Pause. Ihre Worte, der Ton ihrer Stimme, dieses tote und doch so sprechende Auge, ihre langsamen, müden und doch so bezeichnenden Gesten machten einen tiefen Eindruck auf mich. Ich begann, die geistige Herrschaft zu begreifen, welche diese Frau auf die intellektuell armen Bewohner der Gegend, in welcher sie lebte, ausübte. Sie fuhr fort:

»Meine Seele zitterte, und mein Herz wollte brechen; das arme Volk erbarmte mich. Ich war reich, sehr reich an irdischen Gütern, und in meinem Herzen lebte der Gott, den sie verworfen hatten. Mein Leben starb, aber dieser Gott starb nicht; er berief mich, seine Dienerin zu sein. Und nun wandere ich von Ort zu Ort, mit dem Stab des Glaubens in der Hand, um zu reden und zu predigen von dem Allmächtigen und Allgütigen, dem Allweisen und Allbarmherzigen, nicht mit Worten, die man verlachen würde, sondern mit Thaten, die segnend auf jene fallen, welche der Gnade des Vaters bedürftig sind. Die alte Marah Durimeh und der Ruh ‚i Kulian sind dir ein Rätsel gewesen; sind sie es dir auch jetzt noch, mein Sohn? Oder beginnst du, mich zu begreifen?«

Ja, ich begann damals, sie zu verstehen, und je länger ich an sie dachte, desto mehr wurde mir ihr Wesen und ihr Wollen klar. Sie war eine in menschlicher Gestalt wirkende Hand Gottes, welche sich in überquellender, erbarmender Liebe ausstreckt, die Irrenden zurechtzuweisen und die Abgefallenen zurückzuführen zum Heile, welches allen Menschen und nicht etwa nur wenigen Auserwählten beschieden ist. Indem sie nicht mehr der Erde angehörte, gehörte sie in ihrer reichen Liebe der ganzen Menschheit an!

So lag ich da, ganz in mich versunken, und sah ihre Gestalt so deutlich vor meinem geistigen Auge stehen, als ob sie in Wirklichkeit anwesend wäre. Die Stimme des erzählenden Hadschi klang nur wie ein fernes Murmeln an mein äußeres Ohr; das innere war ihr verschlossen. Ich hörte Marah Durimeh noch damals zum Abschiede sagen: »Mein Sohn, wenn du dieses Thal verlassen hast, so wird mein Auge dich nie wiedersehen, aber der Ruh ‚i Kulian wird für dich beten und dich segnen, bis diese seine Augen, welche du jetzt offen siehst, sich für hier geschlossen haben!« Indem ich in meinem Innern diese Worte hörte, breitete sie die Hände segnend über mich aus; ein wonniges Gefühl des Glückes, des Friedens zog in mir ein; ich schloß die Augen zum Schlafe und wurde unendlichen, lichten Fernen entgegengetragen, die nur der Traum, nicht aber das wachende Auge kennt.

»Sihdi, wach auf; erhebe dich! Es ist längst hell, und die Hamawandikrieger werden bald kommen!«

Als ich auf diesen Ruf des kleinen Hadschi erwachte, sah ich, daß ich der einzige war, der noch gelegen hatte. Der Morgen war fast schon eine Stunde alt, und so sprang ich auf, mich meiner Langschläfrigkeit beinahe schämend.

Halef saß mit den Kurden beim Frühmahle; sie aßen dünne Brotfladen, welche in der Weise zubereitet werden, daß man die breitgearbeiteten Teigstücke an die Wände des primitiven Backofens klebt, von denen sie von selbst herunterfallen, sobald sie ausgebacken sind. Ich wurde, als ich mich im Bache gewaschen hatte, eingeladen, an diesem lukullischen Frühstücke teilzunehmen.

Wir hatten es eben beendet, als wir die erwarteten Krieger in der Krümmung des Seitenthales erscheinen sahen. Sie stutzten bei unserm Anblicke, denn sie hatten nicht erwartet, die sechs Stammesgenossen noch hier zu finden, zumal in Gesellschaft zweier fremder Männer, aus deren Kleidung schon zu schließen war, daß sie keine Kurden seien.

Ich übergehe die Scene der Begrüßung, welche nun folgte. Unsere Namen waren diesen Leuten allen bekannt; das sahen und das hörten wir. Sie brachten uns eine Achtung entgegen, von welcher Halef sich sehr wohlthuend berührt fühlte; er nahm einen passenden Augenblick wahr, mir unbemerkt von ihnen zuzuflüstern:

»Effendi, merkst du auch, was für einen Respekt diese Hamawands vor uns haben? Richte dich gerade auf, und thu so stolz wie möglich! Wir müssen ihnen zeigen, was für eine Ehre es für sie ist, mit so hochberühmten Kriegern zusammenzutreffen, wie wir beide sind!«

Diese Kurden waren durchgängig sehr gut beritten und auch, wenigstens nach dortigen Verhältnissen, zufriedenstellend bewaffnet. Wir hörten, daß sie dem erwarteten Zusammentreffen mit den Dawuhdijehs mit Zuversicht und ohne alle Furcht entgegensahen, denn sie waren überzeugt, daß sie diese Gegner vollständig überraschen würden. Darum fühlten sie sich enttäuscht, als ihnen Adsy mitteilte, was ich gestern abend über diesen Punkt gesagt hatte. Es wurde mit den – wenn ich mich so ausdrücken darf – Chargierten von ihnen eine kurze Besprechung abgehalten, an welcher wir uns auch beteiligten, und das Ergebnis war, daß meine Ansicht als die richtige erklärt und zur Befolgung angenommen wurde. Die Dreihundert blieben hier. Sie hatten vorsichtshalber Posten aufzustellen und jede in ihre Nähe kommende Person bis zu unserer Rückkehr oder bis zum Eintreffen einer Nachricht von uns festzuhalten. Sie selbst aber hatten natürlich sehr strenge Weisung, sich nicht sehen zu lassen. Man wußte, daß die Dawuhdijehs die jetzigen Lagerplätze der Hamawands genau kannten und daß es nach der Gliederung des Gebirges einen bedeutenden Umweg erfordert hätte, eine andere Richtung als die durch das Nebenflußthal, in welchem wir uns befanden, einzuschlagen. Es stand also mit Gewißheit zu erwarten, daß die Dawuhdijehs ihre auf den Angriff oder nur auf die Verteidigung gerichtete Aufmerksamkeit nach dieser Gegend lenken würden, was mich aber nicht abhielt, den Hamawands zu sagen, daß sie trotzdem auch nach rückwärts zu schauen hätten, da die Möglichkeit einer heimlichen Umgehung auch in Betracht zu ziehen sei.

Nach diesen und noch einigen andern nicht besonders zu erwähnenden Vorbereitungen traten wir unsern heutigen Ritt an. Unter diesem Wir sind natürlich die sechs schon gestern von uns getroffenen Kurden, Halef und ich gemeint. Der Hadschi lächelte still vor sich hin; als ich ihn nach der Ursache fragte, sagte er:

»Sihdi, wenn es wirklich ein Kismet giebt, was ich aber, seit ich dich kennen gelernt habe, nicht mehr glaube, so hat nicht nur das deinige, sondern ebenso auch das meinige wenigstens zehntausend Spannfedern im Leibe. Das kommt nie zur Ruhe und läßt auch uns nicht zur Ruhe kommen! Und dieser Leib mit den Spannfedern ist aus Gomelastik gemacht. Das steht nicht fest; das hat keinen Halt; das bleibt nie so, wie es ist. Das hüpft und springt nur immer hin und her; das rollt und kugelt sich bald hierhin und bald dorthin, und wir werden mitgekugelt und mitgerollt. Gesten waren wir überzeugt, direkt nach Bagdad zu reiten; heut suchen wir einen Kulluk, der wo ganz anders liegt. Wohin wird diese Gomelastik uns morgen schicken? Aber ich sage dir, ich hab das gern, sehr gern; es gefällt mir außerordentlich!«

Er hatte nicht ganz so unrecht, wenn auch seine Porträtierung des Kismet etwas idealer hätte sein können!

Es verstand sich ganz von selbst, daß wir nicht beabsichtigten, dem Bache immerfort zu folgen, denn das hätte uns den Dawuhdijehs grad in die Arme geführt. Adsy kannte, wie er versicherte, die Gegend, in welcher der Kulluk lag. Nach seiner Meinung hatten wir bis ungefähr zum Mittag in der jetzigen Richtung zu bleiben und uns dann aber rechts in die Berge zu wenden, über welche die nach dem Turme gehende Luftlinie führte. Was wir da unterwegs für Terrain haben würden, das wußte er freilich nicht; vorauszusehen war, daß es kein bequemes sei.

Unsere Begleiter waren wohl auch gewöhnt, auf solchen Kundschafterwegen, wie unser heutiger war, vorsichtig zu sein, aber die außerordentliche, sozusagen spitzfindige Art der Bedachtsamkeit, welche ich mir bei den Indianern angeeignet hatte, welche jeden Grashalm, jeden Lufthauch in Berechnung zieht, die kannten sie nicht. Selbst Halef, der mich in dieser Beziehung doch unzähligemal beobachtet hatte, war nicht geschickt, eine Späheraufgabe zu übernehmen, deren Lösung jedem erwachsenen Indianer leicht geworden wäre. Der Hadschi hatte das zu unserem Nachteile schon wiederholt bewiesen.

Ich konnte mich also nur auf mich selbst verlassen, und indem ich voranritt, hatte ich die Augen überall und ließ mir nicht das geringste, was zu beachten war, entgehen. Dabei fand ich immer auch Zeit, Adsy, welcher neben mir ritt, meine Aufmerksamkeit zu schenken. Gestern, als ich ihn zuerst sah, war es schon nicht mehr ganz hell gewesen, und seine Begleiter hatten meine Augen von ihm abgelenkt, so daß eine genaue Betrachtung nicht möglich gewesen war; dennoch hatte ich schon da einen eigenartigen Eindruck von ihm bekommen. Jetzt nun, wo ich ihn an meiner Seite hatte und es heller Tag war, gewann dieser Eindruck an Deutlichkeit. Der Sitz, die Haltung und alle Bewegungen des Kurden deuteten darauf hin, daß er ein gewandter, wohlgeübter Reiter sei. Er machte den Eindruck körperlicher Kraft und geistiger Energie; er war ein Mann. Und doch, wenn ich sein Gesicht zwar heimlich aber scharf betrachtete, wurde es mir schwer, ihm das Prädikat Mann zu lassen. Diese schmale, niedrige Stirn, aus welcher der Turban zurückgeschoben war, diese sanfte Rundung der Wangen und des Kinns, die Bartlosigkeit und Fülle der Lippen und vor allen Dingen der, wenn er sich unbeobachtet wähnte, seelisch weiche Blick des großen Auges, das alles war ganz und gar nicht männlich, sondern ausgesprochen weiblich, trotz aller Thatkraft, welche sich auch auf diesem Gesicht aussprach. Auch die Stimme lag zwar tief und hatte einen sehr bestimmten, befehlenden Ton, klang aber doch nicht so wie eines Mannes Stimme. Dazu kam ein leichter Schatten an den Rändern der Augenlider und die stumpfe, wie gebeizte Färbung der langen Wimperhaare. Das deutete auf die Gewohnheit der morgenländischen Frauen, ihre Wimpern mit Khol dunkel zu färben, um dem Auge mehr Glanz und scheinbare Größe zu verleihen. Jetzt war dieser Farbstoff weggewaschen, wodurch die Wimpern das unbestimmte, stumpfe Aussehen bekamen.

Hierdurch veranlaßt, schenkte ich nun auch dem Körper dieses Kurden mehr Aufmerksamkeit als bisher. Die Hand war eine Frauenhand, und nun sah ich auch im Innern derselben die Spur der Hennahfarbe, welche nicht zu entfernen gewesen war. Nun war ein weiterer Blick auf die Gestalt gar nicht nötig, um überzeugt zu sein, daß es kein Mann, sondern eine Frau war, welche da an meiner Seite ritt.

Und sobald mir dieses klar geworden war, wußte ich auch sofort, wer sie war. Der damals bedeutendste Anführer der Hamawands, berühmter noch als selbst der bekannte Häuptling Hussein Aga, war der Scheik Jamir, welcher zwar von ganz gewöhnlichen Eltern stammte, sich aber durch seine glänzende Tapferkeit und sonstigen kriegerischen Eigenschaften zu solcher Anerkennung und Macht emporgearbeitet hatte, daß eigentlich er der oberste Befehlshaber und die Seele jedes Unternehmens seines Stammes war. In diesem Streben nach oben stand er nicht allein; er hatte in seiner ungewöhnlich begabten Frau eine rastlose Gehilfin und treue, mutige Kameradin, welche ihn in allen seinen Unternehmungen unterstützte und begeisterte und selbst im Kampfe nicht von seiner Seite wich. Nichts ehrt der Kurde mehr als Tapferkeit, und wenn bei ihm schon die Frau im gewöhnlichen Sinne mehr Achtung und größere Freiheit genießt, als bei den andern Orientalen, so ist es wohl begreiflich, daß diese Frau Jamirs in einem für den Orient mehr als ungewöhnlichen Ansehen stand. Kein Hamawandi hätte es gewagt, einem ihrer Befehle den geforderten Gehorsam zu verweigern. Man wußte, daß sie solchen Widerstand noch strenger als ein Mann bestrafen würde.

Es stand bei mir außer allem Zweifel, daß ich diese seltene Frau jetzt an meiner Seite hatte, und nun ich das wußte, erhielt der jetzige Ritt in meinen Augen einen ganz andern Inhalt und einen ganz andern Charakter. Also darum hatte sie sich den Namen Adsy = namenlos, beigelegt! Es verstand sich ganz von selbst, daß Schevin, dessen Bruder sie sich geheißen hatte, kein anderer als Jamir selbst, ihr Mann, war. Und Khudyr, der vergiftete Knabe, war ihr beiderseitiger Sohn. Nun verstand ich auch die Pseudonymität dieses Schevin, der durch diesen Namen, welcher soviel wie Hirte bedeutet, sich als einen einfachen, ungefährlichen und friedfertigen Schäfer hinstellen wollte. Allerdings war dazu unbedingt erforderlich, daß es unter den Dawuhdijehs keinen gab, der ihn persönlich kannte und seinen eigentlichen Namen verraten konnte. Wie es damit stand, wußte ich nicht; nach allem aber, was ich bis jetzt gehört hatte, war viel eher zu vermuten, daß er erkannt und wegen der Verleugnung seines Namens als höchst verdächtig zurückgehalten worden war. Das hatte seine Frau erfahren und war sofort ausgerückt, ihn wieder herauszuholen. Zwar kühn aber auch zugleich echt weiblich dünkte mir das Beginnen, mit ihren Reitern in das Gebiet der Dawuhdijehs einzudringen, ohne vorher genau erfahren zu haben, wo Jamir zu finden sei. Ich interessierte mich ungeheuer für diese Frau und war nun entschlossen, mein möglichstes dazu beizutragen, sie wieder in den Besitz ihres Mannes und Kindes zu bringen. Dabei sollte sie nicht ahnen, daß ich sie erkannt hatte. Auch Halef wollte ich nichts davon sagen, denn dieser kleine, schnellfertige Mann hätte sich sehr leicht in einem Augenblicke des Affektes hinreißen lassen, mit diesem Geheimnisse, welches er nicht kennen sollte, herauszuplatzen. Also, jetzt war mir alles klar, und ich hatte jetzt zu diesem Unternehmen zehnmal mehr Lust als vorher. Es ist ein großer Unterschied, wenn man vor einem Wagnisse steht, ob man weiß oder nicht, für wen man es unternimmt. Diese Mutter sollte ihr Kind wieder haben!

Wir waren wohl schon zwei Stunden unterwegs, als wir den vielen und engen Windungen eines Thales folgten, wo ich meine ganze Aufmerksamkeit zusammennehmen mußte, weil hinter jeder dieser Krümmungen eine unerfreuliche Überraschung für uns stecken konnte. Ich konnte diese meine Vorsicht nicht verheimlichen. Adsy lächelte über sie und erklärte es für sehr überflüssig und zeitraubend, bei jeder Wendung anzuhalten und nachzusehen, ob hinter derselben ein Dawuhdijeh versteckt sei. Ich nahm dies ruhig und ohne mein Verhalten zu verteidigen, hin, bis die Windungen aufhörten und das Thal eine bedeutende Strecke in fast schnurgerader Richtung verlief. Es schien am Ende dieser Geraden mit einem Seitenthale zusammenzutreffen, aus weichem wieder ein Wasser geflossen kam, um sich mit dem unserigen zu vereinigen. Da dort unten nichts Verdächtiges zu bemerken war, ritten wir getrost weiter und hatten die Strecke schon beinahe zurückgelegt, als ich etwas sah, was mich bewog, mein Pferd sofort zwischen die an der Seite stehenden Büsche zu lenken.

»Hier herein! Schnell herein, schnell!« forderte ich die andern auf.

Halef, welcher meine Art und Weise kannte, folgte augenblicklich; die Kurden aber zögerten, und Adsy erkundigte sich, indem er draußen halten blieb:

»Warum sollen wir da hinein? Sage es!«

»Da unten kommt jemand, oder es ist schon jemand dort,« antwortete ich. »Versteckt euch rasch hierher, ehe ihr gesehen werdet!«

Nun kamen sie, doch mit nicht allzu großer Eile. Ich vergewisserte mich, daß sie von draußen nicht gesehen werden konnten, und sagte ihnen dann:

»Wenn ich euch so plötzlich auffordere, euch zu verstecken, so müßt ihr es, ohne zu fragen und ohne einen Augenblick zu zögern, thun. Merkt euch das!«

»Hast du denn jemand gesehen?« fragte Adsy.

»Ja.«

»Wen?«

»Zwei Aßafir

»Zwei Aßafir? Und wegen dieser kleinen Vögel sollen wir uns hier verstecken?«

»Ja.«

»Ich habe sie auch gesehen. Es war ein Finkenpaar, welches uns entgegengeflogen kam, aber als es uns sah, vor uns in die Bäume flüchtete.«

»Diese Finken meine ich.«

»Aber was giebt es da für einen Grund zu deiner großen Besorgnis?«

»Einen sehr triftigen. Die Vögel haben mir gesagt, daß da unten wahrscheinlich Menschen sind.«

»Maschallah! Ich habe nur ein zweimaliges, ängstliches Pinkpink gehört. Verstehst du, was die Vögel sagen?«

Das war im Tone der Ironie gefragt; ich antwortete:

»In diesem Falle verstehe ich es. Du brauchst nicht zu lächeln; dein Spott ist überflüssig!«

»Ja, du lächelst!« warf da Halef zwar leise aber zornig ein. »Ich sage dir, wenn mein Effendi behauptet, daß er die Sprache der Vögel verstehe, so sagt er die Wahrheit. Ihm sind alle Sprachen der Menschen, der Tiere und der Pflanzen offenbar, und wer darüber lächelt, der mag sich wohl vorsehen, daß er nicht dann später dafür laut ausgelacht wird!«

Ich war abgestiegen und an den Rand des Gebüsches getreten, um hinauszusehen. Ich bemerkte noch niemand und. konnte also den Kurden erklären:

.»Die Vögel kamen rechts aus dem Seitenthale; ich habe das gesehen, denn meine Augen sind schärfer als die eurigen, auch passe ich besser auf als ihr. Sie wollten geradeaus fliegen, an unserem Thale vorüber, machten aber eine plötzliche, scharfe Schwenkung nach links, zu uns herein. Sag doch einmal, Adsy, sind sie bis zu uns gekommen?«

»Nein,« antwortete er, den ich jetzt noch als Mann bezeichnen will, weil er als solcher vor uns gelten wollte.

»Warum nicht?«

»Weil sie uns sahen und darum zwischen die Bäume flüchteten.«

»Also, weil sie uns gesehen haben, sind sie auf die Seite geflüchtet?«

»Ja,«

»Nun, was folgt aus diesem Grunde daraus, daß sie da unten plötzlich auf die Seite nach uns flüchteten?«

»Daß sie – – ah, meinst du etwa, daß sie dort auch jemanden gesehen haben?«

»Ja, das meine ich. Wenn ein Vogel seinen geraden Flug so plötzlich unterbricht, daß aus seiner Bahn ein scharfer Winkel wird, so kannst du fast mit Sicherheit daraus schließen, daß er das aus Angst, aus Schreck gethan hat. Die Finken sind auf Menschen getroffen, du magst es glauben, oder nicht!«

»Effendi, wenn das wahr wäre, so hätte man uns von dir nicht zu viel erzählt!«

»Es ist wahr. Übrigens giebt es da gar keinen Grund zur Bewunderung, denn es gehört nichts als ein wenig Nachdenken dazu, von dem Verhalten der Vögel auf die Anwesenheit von Menschen zu schließen. Jetzt paßt auf! Steigt ab, und haltet euern Pferden die Mäuler zu! Ich sehe sie; sie kommen hier vorüber!«

Es erschienen jetzt unten an der Mündung zwölf kurdischer Reiter, welche zu zweien oder dreien nebeneinander ritten und am Wasser herauf, also auf uns zu, kamen. Sie sprachen so laut miteinander, daß wir ihre Stimmen schon von weitem hörten.

Nun befolgten unsere Reiter allerdings schnell meine Anweisung. Wir waren draußen auf Steingeröll geritten und hatten also keine bedeutenden Spuren gemacht. Ein Indianer hätte sie freilich sogleich bemerkt; von diesen Kurden brauchte ich das aber nicht zu befürchten. Sie kamen ganz langsam und gemächlich herbei, als ob sie sehr viel Zeit hätten, und ritten ebenso langsam vorüber, ohne uns zu bemerken. Ich horchte aufmerksam auf das, was sie sprachen, hörte aber nichts, was von Bedeutung zu sein schien. Als das Pferd des Voranreitenden einige rasche Schritte machte, rief einer der ihm folgenden halb im Scherze:

»Ahdele mehke!«

Das heißt auf deutsch: »Übereile dich nicht!« Hieraus war, wie überhaupt aus ihrer Langsamkeit zu schließen, daß sie ihren Ritt für keinen hielten, bei dem Schnelligkeit vonnöten war. Dann hörte ich etwas vom Avik eduduahn, vom »zweiten Bach« oder vom »zweiten Wasser« sagen und auch von einem Moda gumgumuk, was eine Stelle bedeutet, wo es Eidechsen giebt. Das waren für mich ganz unwichtige Worte, welche ich aus dem lauten Wortschwalle ihrer in mehreren Gruppen geführten Unterhaltung herausgehört hatte und für vollständig wertlos hielt. Aber als sie vorüber waren und ich Adsy fragte, ob es Dawuhdijeh-Kurden gewesen seien, antwortete er:

»Ja, es waren welche, und, Effendi, sie reiten nach der Stelle, wo wir geschlafen haben und wo sich meine Krieger jetzt befinden.«

»Woher weißt du das?«

»Sie sprachen davon; sie nannten den Namen dieser Stelle: Moda gumgumuk. Höchst wahrscheinlich wollen sie sich dort verstecken, um aufzupassen, wenn wir kommen, und dann ihren Scheik davon benachrichtigen!«

»Ah! Siehst du, daß ich ganz richtig vermutet habe? Sie sind überzeugt, daß ihr kommt. Hoffentlich passen deine Leute auf und fangen sie weg!«

»Das werden sie gewiß thun. Ich bin überzeugt davon. Wüßte man nur, wo nun die eigentliche Schar der Dawuhdijehs steht, die ganz gewiß nun auf uns wartet, um über uns herzufallen!«

»Wir würden den betreffenden Ort bald finden, doch kann es nicht unsere Absicht sein, ihn zu suchen, da wir vor allen Dingen nach dem Kulluk wollen.«

»Könntest du den Ort vielleicht erraten?«

»Ja.«

»Ohne daß du schon in dieser Gegend gewesen bist?«

»Ja.«

»Effendi, ich staune!«

»Da brauchst du gar nicht zu staunen!« bemerkte Halef in sehr hohem Tone. »Bei der ungeheuren Länge des Verstandes, den mein Sihdi besitzt, und bei der unendlichen Breite des meinigen müssen uns alle Dinge offenbar werden, welche für andere Leute ein ewiges und unentdeckbares Geheimnis bleiben!«

»Wenn du es auch weißt, so sag es!« forderte ich ihn auf, um ihn für seine Großsprecherei zu strafen.

Da machte er mit den Händen eine wegwerfende Bewegung und antwortete:

»Wer ist gefragt worden, du oder ich? Und wer hat behauptet, daß er es erraten könne, du oder ich? Sprich also du; ich werde es bestätigen!«

Er verdeckte mit dieser Aufforderung seine Verlegenheit. Ich, als der alte, immer gute Kerl, wollte ihn denn doch nicht so offen blamieren und erklärte darum den darauf wartenden Kurden:

»Es unterliegt keinem Zweifel, besonders weil diese zwölf Späher hier vorübergekommen sind, daß die Dawuhdijehs am untern Laufe dieses Flüßchens postiert sind, und zwar muß es an einer Stelle sein, wo mehrere Hundert Reiter nicht nur Platz, sich zu verstecken, sondern auch Raum zum nachherigen Angriffe haben. Vielleicht ist euch ein solcher Ort, eine Verbreiterung oder Ausbuchtung des Thales bekannt?«

»Es giebt deren nur zwei; ich kenne sie,« sagte Adsy. »Aber welche mag es sein?«

»Das wirst du gleich erfahren.«

»Von dir?«

»Ja.«

»Der du hier unbekannt bist?«

»Trotzdem!«

»Effendi, bist du denn allwissend?«

»Nein; ich denke bloß nach, was du ebenso gut wie ich thun könntest. Giebst du zu, daß die zwölf Späher, welche wir jetzt gesehen haben, heut von der Stelle fortgeritten sind, an welcher die eigentliche Schar der Dawuhdijehs auf eure Ankunft wartet?«

»Ja, denn anders ist es nicht.«

»Hast du den El Chilel-Strauß gesehen, den der Voranreitende vorn an seinem Turban stecken hatte?«

»Ja. Kennst du die Bedeutung dieses Straußes?«

»Ich kenne sie. Es ist ein Aberglaube.«

»Nein, es ist kein Aberglaube, sondern es trifft wirklich zu; ich habe es oft selbst erfahren. Wer etwas unternehmen will, der muß einen Strauß von El Chilel bei sich tragen; dann gelingt sein Vorhaben, denn die Geister, welche El Chilel lieben, helfen ihm!«

»So? Dann sag doch einmal, warum er heut so einen Strauß angesteckt hat!«

»Daß sein Spähen gegen uns gelingen möge.«

»Glaubst du, daß es gelingt?«

»Nein; er wird mit seinen Leuten unbedingt von meinen Kriegern gefangen genommen.«

»Wird El Chilel also helfen?«

»Nein. Effendi, mit dir darf man sich nicht streiten!«

»Schön, daß du das einsiehst; merke es dir!«

»Warum sprichst du überhaupt von diesem Strauße?«

»Das wirst du gleich erfahren. Es kommt darauf an, ob ich diesen Aberglauben richtig kenne. Wann muß die Pflanze El Chilel gepflückt werden?«

»Beim Beginn dessen, was man thun will, nicht eher.«

»So habe ich es richtig gewußt. Wann wird dieser Dawuhdijeh also den Strauß gepflückt haben?«

»Ganz kurz vor seinem Aufbruche.«

»So ist das Alter des Straußes also grad so wie die Dauer des Rittes?«

»Ja.«

»So will ich dir sagen, daß diese Pflanzen El Chilel vor ungefähr drei Stunden gepflückt worden sind, nicht viel eher, aber auch wohl nicht später.«

»Woher weißt du das?«

»Ich sehe es. Ich besitze darin Übung, denn ich habe unzähligemal aus der Beschaffenheit eines geknickten Ästchens, eines zertretenen Grases oder einer welkenden Pflanze die Zeit bestimmen müssen, vor welcher diese Pflanze geknickt, gepflückt oder niedergetreten worden ist. Ich weiß gewiß, daß ich mich auch jetzt nicht irre. Diese Dawuhdijehs haben ihren Ritt vor drei Stunden begonnen, und man kann also die Stelle, an welcher eure Gegner lagern, in genau dieser Zeit erreichen, wenn man so langsam, wie sie geritten sind, hier an diesem Wasser immer abwärts reitet.«

»Das stimmt, Effendi, das stimmt zum Verwundern! Dort liegt der erste der beiden Plätze von denen ich sprach. Das Thal macht links einen Bogen, während die rechte Wand desselben geradeaus streicht. Dieser El Chilel hat dir die Wahrheit gesagt. Ich sehe ein, daß es gut ist, dich immer zu fragen, ehe man etwas unternimmt!«

Da rief Halef, schnell fragend:

»Will sich vielleicht wieder jemand räuspern?«

Um den Eindruck dieser Ironie des Kleinen nicht aufkommen zu lassen, fiel ich rasch ein:

»Ihr lachtet vorhin über meine Vorsicht, die ihr für überflüssig hieltet. Jetzt aber gebt ihr wohl zu, daß sie notwendig war?«

»Ja, Effendi,« antwortete Adsy. »Ohne dich wären wir diesen zwölf Dawuhdijehs in die Hände geritten, und es wäre ein Kampf unvermeidlich gewesen.«

»Das war mein Beachten des Vogelfluges. Und was mir der Strauß verraten hat, hast du auch gehört. So muß man, wenn man sich auf Kundschaft oder überhaupt unterwegs befindet, auf alles achten. Die geringste Kleinigkeit kann den Tod bringen oder vom Tode erretten. Jetzt möchte ich vor allen Dingen wissen, ob du überzeugt bist, daß deine Krieger ihre Pflicht thun und sich die Dawuhdijehs nicht entkommen lassen.«

»Sie werden sie ergreifen.«

»Wenn sie aber so unvorsichtig sind, sich vorher von ihnen sehen zu lassen, bekommen sie sie nicht!«

»Sie werden keinen Fehler machen; ich kenne sie. Sie wissen, daß sie jetzt Kara Ben Nemsi Effendi und seinem Hadschi Halef zu beweisen haben, daß sie tüchtige Krieger sind, und werden sich also tadellos verhalten.«

»Gut, so können wir weiter reiten.«

»Aber nicht so weit an diesem Wasser hinab, wie wir erst beabsichtigten!«

»Nein. Wir wollten erst um die Mittagszeit nach rechts abschwenken; aber da die Dawuhdijehs nur drei Stunden von uns entfernt sind, müssen wir das eher thun.«

»Wann und wo?«

»Sobald die Berge es uns erlauben.«

»Vielleicht nehmen wir schon dieses Seitenthal, welches da vor uns liegt?«

»Nein, das wäre zu früh. Auch vermute ich, daß es nicht nach unserer Richtung führt. Reiten wir so lange, bis wir ein passendes haben!«

Wir zogen unsere Pferde aus dem Gebüsch heraus, stiegen auf und setzten unsern unterbrochenen Ritt fort. Da stellte sich denn sogleich heraus, daß das erwähnte Nebenthal nach Nordost anstatt nach Nordwest verlief; wir durften ihm nicht folgen.

Wir konnten natürlich der notwendigen Vorsicht wegen nicht so rasch vorwärts kommen, wie wir es wohl wünschten. Es verging weit über einer Stunde, ohne daß sich uns ein Weg nach rechts öffnen wollte; da gab es wieder eine Begegnung, und zwar eine, welche wir beide, Halef und ich, nicht für möglich gehalten hätten. Es gab eine Stelle, wo der Bach sehr tief durch Felsen schnitt; wir mußten unter Bäumen auf das hohe Ufer hinauf; es waren da meist Eichen. Eben wollten wir jenseits wieder hinunter auf die wieder breitere Sohle des Thales, als wir zwei weibliche Gestalten sahen, welche da unten saßen und Körbe vor sich stehen hatten. Sie schienen auszuruhen. Die Gesichter zu erkennen, dazu waren wir ihnen noch nicht nahe genug, zumal sie die um den Kopf gewundenen Tücher vorgezogen hatten. Natürlich hielten wir an, um über unser Verhalten zu beraten.

»Es sind Frauen, die gehen uns nichts an,« meinte Adsy in wegwerfendem Tone.

»Warum nicht?« antwortete ich. »Hier kann uns jedes Kind gefährlich werden, wenn es uns verrät.«

»Es sind Galläpfelsammlerinnen, welche sich gar nicht um uns bekümmern werden; ganz arme Frauen!«

»Daß sie arm sind, sieht man ihrer Kleidung an. Für Sammlerinnen von Galläpfeln halte ich sie aber nicht.«

Es muß bei dieser Gelegenheit gesagt werden, daß Kurdistan das Hauptproduktionsland für Galläpfel ist.

»Ich bin überzeugt, daß sie Galläpfel in ihren Körben haben!« beharrte Adsy bei seiner Behauptung.

»Ich auch; aber grad das macht sie mir verdächtig!«

»Warum?«

»Welcher vernünftige Mensch sammelt jetzt Galläpfel, wo sie von der Schärfe des Winterschnees vollständig ausgelaugt sind? Wer das thut, der thut es nur zum Scheine und hat einen ganz anderen Zweck dabei. Ich kenne nördliche Kurdenstämme, bei denen die Frauen als Kundschafterinnen gebraucht werden.«

»So denkst du etwa – –?«

»Ich denke nichts, als daß sie mir höchst verdächtig sind, grad der Galläpfel wegen, und daß wir sie also sehr scharf ins Verhör nehmen müssen.«

»Sie werden fliehen, sobald sie uns kommen sehen!«

»So lassen wir uns nicht eher sehen, als bis wir sie sicher haben. Ich werde mit Halef absteigen. Wir schleichen uns an sie hinan, und erst dann, wenn wir sie festhaben, kommt ihr nach. Vorwärts, Halef! Du bleibst auf dieser Seite des Thales; ich gehe auf die andere.«

»Hamdulillah!« meinte der kleine Hadschi. »Das giebt doch endlich einmal etwas anderes als das ewige fest im Sattel sitzen. Wir gehen auf die Frauenjagd. Sidhi, ich fange sie alle beide! Du brauchst gar nichts dabei zu thun!«

»Nur keine Unvorsichtigkeit, Halef!«

»Was denkst du von mir! Bin ich schon so vorsichtig bei Hanneh, dem lieblichsten Gallapfel auf – – Allah, verzeihe mir! – – wollte sagen, der lieblichsten Blume unter allen Rosen und Blüten des Frühlings, wie werde ich mich da erst bei diesen fremden Weibern in acht nehmen! Du brauchst nicht eine Spur von Sorge um mich zu haben, Effendi!«

Er huschte fort, unter den Bäumen hin. Ich hatte erst wieder zurückzugehen und über das Wasser zu springen. Er konnte also eher dort sein als ich. Anstatt nun zu warten, bis ich käme, sprang er unter den Bäumen hervor und auf die Frauen zu, mit dem hoch erhobenen Messer in der Hand. Ich sah das und beeilte mich möglichst, um die Flucht nach der andern Seite zu verhüten, bemerkte aber bald, daß dies nicht nötig war, denn die Frauen waren aufgesprungen, bewegten sich aber vor Schreck, wie ich dachte, keinen einzigen Schritt vorwärts.

Zu meiner Verwunderung stand Halef ebenso starr wie sie. Die Hand mit dem Messer drohend erhoben, machte er nicht die geringste Bewegung. Dann aber, als er mich kommen sah, rief er mir mit schallender Stimme entgegen:

»Sihdi, komm, komm, komm! Geschwind, rasch schnell!«

Aber gleich darauf winkte er mit beiden Armen ab und schrie mich aus Leibeskräften an:

»Halt, halt, halt! Bleib stehen! Nicht weiter, ja nicht weiter, keinen Schritt mehr, keinen einzigen!«

Da blieb ich also stehen, denn wenn er dies von mir verlangte, mußte er überzeugt sein, daß die beiden Frauen uns gewiß nicht davonlaufen würden. Aber neugierig war ich, weshalb ich erst so schnell kommen und dann aber so plötzlich stehen bleiben sollte. Es handelte sich jedenfalls um eine Überraschung, aber um welche?

»Sihdi«, fuhr er nun fort, »du kannst gut raten, weil dein Verstand so in die Länge gezogen ist. Ich fordere dich auf, jetzt einmal nachzudenken!«

»Worüber?« fragte ich.

Anstatt mir gleich zu antworten, schrie er die Frauen an, welche Miene machten, sich nach mir umzusehen:

»Halt! Nicht umdrehen, nicht umdrehen! Er darf eure Gesichter nicht sehen. Schaut ihn nicht an, wenn ihr mir nicht die Wonne dieses Augenblicks ganz und gar verderben wollt! Ich bitte euch, rührt euch ja nicht!«

Und sich mir nun wieder zuwendend, gab er mir lachend die Auskunft:

»Worüber du nachdenken sollst? Natürlich darüber, wer diese beiden Frauen sind!«

»Dieses Nachdenken würde zu gar nichts führen, da ich ja gar keinen Anhalt habe.«

»Keinen Anhalt? O Sihdi, wie du doch nur so reden kannst! Keinen Anhalt! Hier stehe ich, dein berühmter Begleiter und Beschützer. Bin ich kein Anhalt für dich?«

»Bist du es denn, über den ich nachdenken soll?«

»Nein, denn du würdest trotz aller Anstrengung deiner Geisteskräfte doch nicht dazu kommen, die Höhe meines Wertes und die Tiefe meiner Weisheit zu ermessen. Aber über diese beiden Frauen sollst du nachdenken, wie ich dir ja schon ganz deutlich gesagt habe!«

»Ich soll also raten, wer sie sind?«

»Jaja, jaja! Sag es doch nur, schnell, schnell!«

Er hatte gut reden, denn er hatte ihre Gesichter vor sich; ich aber sah von ihnen nur den hintern Teil der ärmlichen Gewänder, welche so weit und faltig waren, daß sie nicht einmal die Umrisse der Gestalten erkennen ließen. Darum konnte ich nichts anderes sagen als:

»Ich kann es nicht erraten, wenn du mir keinen Fingerzeig, keinen Anknüpfungspunkt giebst.«

»Fingerzeig? Allah akbar! Da stehe ich doch und zeige mit allen zehn Fingern auf sie! Ist das etwa noch nicht genug? Und Anknüpfungspunkt? Es stehen dir doch alle möglichen hiesigen Punkte zur Verfügung, daß du sie entweder zusammen-, oder aneinanderknüpfen kannst! Und da behauptest du, daß sie dir fehlen!«

Er wollte noch mehr sagen, wurde aber von der einen Frau unterbrochen. Ich hörte sie sagen:

»Du bist Hadschi Halef Omar, den wir liebgewonnen haben. Ich habe dich sogleich wiedererkannt. Wer aber ist der Sihdi, mit welchem du sprichst und den wir nicht anschauen sollen?«

»Rate du auch einmal!«

»Welche Wonne, welche Seligkeit, wenn es der wäre, an den ich denke!«

»Nun, an wen denkst du?«

»Ist es etwa der gute Effendi aus Dschermanistan, als dessen Begleiter du damals bei uns warst?«

»Ja, der ist’s. Du hast es erraten.«

»Und da verlangst du von mir, daß ich ihn nicht ansehen soll? Bist du von Sinnen? Bist du denn ganz und gar verrückt? Meine Seele hat sich nach ihm gesehnt ohne Unterlaß, wie das Mehl sich nach dem Wasser sehnt, um mit ihm in Teig verwandelt zu werden, und nun mir dieser heiße Wunsch in Erfüllung geht, soll ich meine Augen nicht aufschlagen zu dem, den meine Seele liebt! Ich drehe mich um!«

Ihre Stimme klang außerordentlich energisch. Ebenso war auch der Ruck, mit welchem sie sich dann zu mir herumschwenkte. Ich erblickte sie; ich sah ihr Gesicht, und in demselben Momente stiegen alle jene Erinnerungen an Marah Durimeh in mir auf. O du liebe, du holde, du süße –—!

Doch ehe ich den Namen nenne, muß ich ein Wort über sie sagen, die jetzt vor mir stand:

Es war an dem Tage, an welchem ich, wie bereits erwähnt, dann des Nachts hinauf zur Höhle stieg, um den geheimnisvollen »Geist der Höhle« kennenzulernen. Ich war gefangen und wurde nach einer steinernen Hütte geschafft, welche nahe dem Dorfe Schohrd in einer wilden Schlucht gelegen war. Im Innern derselben band man mich an einen Pfahl. Eine alte Frau hatte mich zu bewachen. Sie hieß Madana; ich habe sie in meinem damaligen Berichte folgendermaßen beschrieben:8

Madana heißt auf deutsch »Petersilie«. Wie die Alte zu diesem würzigen Namen gekommen war, weiß ich nicht; aber als sie jetzt ganz nahe vor mir stand, duftete sie nicht nur nach Petersilie, sondern es entströmte ihr eine Atmosphäre, welche aus den Gerüchen von Knoblauch, faulen Fischen, toten Ratten, Seifenwasser und verbranntem Hering zusammengesetzt zu sein schien. Gekleidet war diese schöne Bewohnerin des Zabthales in einen kurzen Rock, den man bei uns wohl kaum als Scheuerlappen hätte benutzen mögen; der Rand desselben reichte bis nur wenig über die Knie herab und ließ ein Paar gespenstige Gehwerkzeuge sehen, deren Anblick zu der Vermutung führte, daß sie bereits seit langen Jahren nicht mehr gewaschen worden seien In meiner Nähe erblickte ich neben einem gefüllten Wassernapfe einen großen Scherben, der früher wohl einmal zu einem Kruge gehört hatte, jetzt aber als Schüssel benützt wurde und eine Masse enthielt, welche halb aus Tischlerleim und halb aus Regenwürmern oder Blutegeln zu bestehen schien. Später, als ich mit der Alten allein war, wurde ich von ihr gefragt:

»Willst du essen?«

»Nein,« antwortete ich voller Grauen.

»Trinken?«

»Nein.«

Da kam die duftende Petersilie herbeigekrochen, ließ sich in der Nähe meiner armen Nase häuslich nieder und nahm dann den von mir verschmähten Scherben auf ihren Schoß. Ich sah, daß sie mit allen fünf Fingern der rechten Hand in das geheimnisvolle Amalgam langte und dann den zahnlosen Mund wie eine schwarzlederne Reisetasche auseinanderklappte – – ich schloß die Augen. Eine Zeitlang hörte ich ein mächtiges Geknatsch; sodann vernahm ich jenes sanfte, zärtliche Streichen, welches entsteht, wenn die Zunge als Wischtuch gebraucht wird, und endlich erklang ein langes, zufriedenes Grunzen, welches ganz hörbar aus einer wonnetrunkenen Menschenseele kam. O Petersilie, du Würze des Lebens, warum duftest du nicht draußen im Freien! ……..

Man denke ja nicht, daß die Seele dieser alten Kurdin ihrem Äußeren geglichen habe! Madana war ganz im Gegenteile ein herzensbraves gutes Menschenkind. Sie erleichterte mir meine Lage nach Kräften, und als ich dann wieder frei war, hatte sie mich so liebgewonnen, daß sie beim Scheiden mit den Worten von mir Abschied nahm:

»Leb wohl, Herr! Der Ruh ‚i Kulian hat gezeigt, daß du sein Liebling bist, und auch ich versichere dir, daß ich deine Freundin bin!«

Seit jener Zeit war eine Reihe von Jahren vergangen. Ich war nicht wieder in jene Gegend gekommen und hatte ein Wiedersehen zwar gewünscht, es aber nicht für möglich gehalten. Und nun stand sie da vor mir in all ihrer Pracht und Herrlichkeit, die liebe, die holde, die süße Petersilie, zwar älter aussehend als damals, sonst aber genau noch so wie zu jener Zeit, in welcher ich sie vor mir sah, den leeren Krugscherben in der Hand, den sie ausgeleckt hatte! Das Gewand, welches sie jetzt trug, war zwar ausreichender als ihr damaliges, aber sehr viel reinlicher und besser nicht.

Kaum war ihr Auge auf mich gefallen, so kam sie mit langen Riesenschritten auf mich zu, ergriff meine beiden Hände, zog sie an ihr Herz und rief in jubelndem Tone:

»Du bist es wirklich, Herr; ich sehe es! Welch eine Wonne! Welch eine Seligkeit! Seit du Abschied von uns nahmst, ist kein Tag vergangen, an welchem wir nicht an dich dachten. Wir haben von dir gesprochen allezeit, haben alles, was du thatest, und jedes deiner Worte uns tausendmal wiederholt. Wir haben gehört, daß du wieder in der Dschesireh gewesen bist und auch wieder in unserm Kurdistan, doch aber nicht in der Gegend, wo wir wohnen, die wir dich lieben und verehren. Wir hatten für dieses Leben darauf verzichtet, dich jemals wiederzusehen, und nun hat Gott es doch gefügt, daß unsern Augen die Wonne deines Anblickes wird! O Effendi, es ist mir unmöglich, dir zu sagen, wie groß das Glück ist, welches uns dein Kommen bringt! Ingdscha, warum stehst du noch dort? Wie oft hast du still an ihn gedacht und laut von ihm gesprochen! Und nun er da ist, stehst du von fern und scheinst ihn nicht zu kennen!«

Ingdscha! Ja, sie war es, die schöne Tochter Nedschir Bey’s, des Räis von Schohrd, der damals mein Freund wurde, nachdem er vorher mein Feind gewesen war. Man sah es ihr nicht an, daß Jahre vergangen waren, seit wir uns nicht gesehen hatten. Sie stand neben Halef ganz in derselben schüchternen Haltung, wie ich sie bei unserm ersten Zusammentreffen gesehen hatte, auch mit derselben Röte der Befangenheit auf ihren weichen, bräunlichen Wangen. Auch sie trug ein ganz ärmliches Gewand, wohl mit eine Ursache ihrer augenblicklichen Verlegenheit, aber trotzdem hätte ihr auch einer, der sie nicht kannte, angesehen, daß sie nicht gewohnt sei, sich in dieser Weise zu kleiden. Sie, die schöne, wohlhabende Chaldäerin, mußte einen ganz besonderen Grund haben, eine solche Tracht anzulegen. Sie blieb, ohne auf die Worte der Alten zu achten, stehen, als ob sie keinen Fuß bewegen könne. Ich ging zu ihr hin, nahm ihre Hände in die meinigen und sagte:

»Sei mir gegrüßt, du liebe Freundin aus vergangener, schöner Zeit! Auch ich habe eurer gedacht und bin so froh, daß ich euch wiedersehe. Warum sprichst du nicht? Freust du dich denn nicht auch?«

Da vertiefte sich die Röte ihrer Wangen; sie senkte, vergeblich nach Worten suchend, die Augen und begann dann, still vor sich hin zu weinen. Ich war tief gerührt; der Hadschi auch. Nur konnte er seine Rührung nicht so wie ich beherrschen; er mußte ihr in seiner Weise Luft machen und sprach also:

»Warum habt ihr euch doch umgedreht! Dieser Effendi mit dem ganz vergeblich langen Verstande hätte nicht eher erfahren, wer ihr seid, als bis er es erraten hätte, und wenn er gezwungen gewesen wäre, mit euch zehntausend Jahre lang hier in Gedanken stehen zu bleiben! Nun aber ist das ganze, schöne Geheimnis verraten, und ihr habt mich um das Glück gebracht, etwas zu wissen, was er trotz all seiner unnützen Einsicht nicht begreifen konnte! Nun lacht Madana, während Ingdscha weint! Folglich muß nun auch einer von uns beiden weinen, und der andere lacht. Aber warum soll ein Quell der Thränen fließen, während wir doch nichts als Freude fühlen? Ich sehe nicht ein, warum –— Sihdi, drehe dich um!«

»Warum?« fragte ich, obgleich ich wohl sah, daß er sich vergeblich bemühte, die Thränen, welche in sein Auge traten, zurückzuhalten.

»Ich sage: Drehe dich um!« schrie er mich an. »Du brauchst nicht zu wissen, daß Hadschi Halef Omar, der oberste Scheik der Haddedihn, eine Freundin nicht weinen sehen kann, ohne sofort mitzuthun! Also hinum mit dir, sonst reite ich fort, und du bekommst mich nie wieder vor die Augen!«

Ich drehte mich also um und sah nun, daß die Hamawands von der Thalwand herunterkamen. Sie hatten nicht länger warten wollen, weil sie neugierig waren, die Gründe unsers ihnen unbegreiflichen Verhaltens kennen zu lernen.

»Siehst du, daß ich recht gehabt habe?« sagte Adsy, indem er auf die Körbe deutete. »Ich sagte wohl, daß Galläpfel drin sein würden!«

»Und ich hatte auch recht,« antwortete ich. »Diese Frauen sind keine Galläpfelsammlerinnen.«

»Ihr scheint sie zu kennen?«

»Ja; sie sind Freundinnen von uns, die zwischen den Bergen des obern Zab ihre Heimat haben.«

»Warum kommen sie von da oben herunter?«

Da nahm, ehe ich antworten konnte, Madana das Wort-

»Das ist es ja, was ich euch vor allen Dingen sagen muß! Wie freue, freue, freue ich mich, daß wir euch getroffen haben! Nicht nur, weil wir euch lieben, sondern auch weil es ist, als hätte euch Gott geschickt, uns zu helfen! Ihr wundert euch gewiß darüber, daß wir uns so weit von unsern Wohnungen entfernt haben, und daß ihr uns als Sammlerinnen Seht, was wir doch gar nicht sind!«

»Es muß ein sehr wichtiger Grund sein, der euch, besonders Ingdscha, dazu bewogen hat!« sagte ich.

»Ja, ein sehr wichtiger Grund,« nickte sie. »Wie werdet ihr erschrecken, wenn ich ihn euch sage!«

»Wir erschrecken nicht, denn wir kennen ihn schon.«

»Schon? Wo kommt ihr her?«

»Aus Persien herab.«

»So ist es unmöglich, daß ihr ihn kennt!«

»Und ich sage dir dennoch, er ist uns nicht nur bekannt, sondern wir wollen sogar zu der, um deretwillen ihr als Kundschafterinnen hier seid.«

»Als Kundschafterinnen?« fragte sie erstaunt. »Du errätst also, weshalb wir uns als Sammlerinnen der Galläpfel hier in dieser Gegend befinden! ja, du sagst sogar, daß ihr zu jemand wollt! Wen meinst du damit?«

»Marah Durimeh.«

»Mein Gott! Es ist wahr, daß du es weißt!«

»Ich weiß sogar, wo sie sich befindet!«

»Das wissen wir nun auch. O, Effendi, was ist es für ein Glück, daß wir grad mit dir darüber reden können. Und wie wird der Räis sich freuen, wenn er erfährt, daß du dich hier befindest!«

»Welcher Räis?«

»Doch der von Schohrd, der Vater meiner Ingdscha!«

»Er ist auch in dieser Gegend?«

»Ja. Ich muß dir sagen, weshalb; doch erlaube, daß ich mich setze! Die Freude des Wiedersehens ist mir in die Beine geschlagen; ich kann nicht mehr stehen.«

»Ich fühle, daß deine Freude sehr groß gewesen ist,« nickte Halef, »denn sie ist nicht bloß in deine, sondern auch mit in meine Beine gefahren. Erlaube, daß ich mich an deine Seite setze!«

Als sie nun nebeneinander saßen, fuhr sie fort:

»Ihr wißt, daß Marah Durimeh keine bleibende Stätte hat. Sie ist bald hier und bald dort und erscheint immer da, wo man ihrer Hilfe bedarf. Man sagt, daß sie ein Liebling des Ruh ‚i Kulian und seine besondere Botin sei.«

Madana wußte nämlich nicht, daß Mara Durimeh selbst der »Geist der Höhle« war. Sie sprach weiter:

»Da man nie weiß, wann sie kommt, wann sie geht und wo sie sich zu einer gewissen Zeit befindet, so ist es uns schwer, ja fast unmöglich, für ihr Wohl und ihre Sicherheit bedacht zu sein. Sie kann sogar einmal an einem einsamen Orte hilflos sterben, ohne daß es dann ein Mensch erfährt. Überall, wo man sie kennt, da liebt und verehrt man sie auch; sie kann da ohne Sorge, wie im Auge Gottes, wandeln. Aber wo man sie noch nicht kennt, kann ihr sehr leicht ein Unglück widerfahren. Darum baten wir sie, es uns stets vorher mitzuteilen, wenn sie die Absicht habe, einen Weg zu gehen, über dessen Sicherheit sie nicht beruhigt sei. Sie hat das in den letzten Jahren stets gethan, doch ohne daß es einmal nötig wurde, um sie beängstigt zu sein. Im späten Herbst des vergangenen Jahres war sie zum letztenmal bei uns in Schohrd. Als sie uns verließ, sagte sie, daß wir uns nicht um sie zu sorgen brauchten, da sie nur zu Bekannten gehe und schon nach einigen Tagen wiederkomme. Aber die Tage vergingen, ohne daß sie zurückkehrte; es vergingen Wochen und sogar Monate, ohne daß wir sie wiedersahen. Da wurde es uns angst um sie. Du weißt, Effendi, was diese Frau uns allen ist, und wirst dich also nicht wundern, wenn ich dir sage, daß alle Ortschaften sich erhoben, um nach ihr zu suchen. Wir haben das ganze Land bis zu den Dschudibergen hinauf durchsucht und während des ganzen Winters überall nach ihr geforscht, ohne aber eine Spur von ihr zu finden. Sie war vollständig verschwunden und wir beweinten sie als eine unterwegs an unbekannter Stelle hilflos Verstorbene. Da kam ein Handelsmann aus Khormadu hinauf zu uns, welcher von einer alten Frau erzählte, die in der Gegend von Suleimania in einem Kulluk wohne und große Wunder thue. Er hatte sie nicht gesehen, aber viel von ihr gehört, und was er uns über sie sagte, ließ uns vermuten, daß diese Frau unsere Marah Durimeh sei. Wir schickten natürlich sofort Boten nach Suleimania, von denen wir nach ihrer Rückkehr erfuhren, daß die Frau gefangen gehalten und von Dawuhdijehkurden streng bewacht werde, aber höchst wahrscheinlich unsere Freundin sei. Wer zu ihr wolle, müsse den Scheik der Dawuhdijehs um Erlaubnis bitten, der dafür ein Geschenk je nach dem Vermögen des Betreffenden verlange. Unsere Boten hatten nicht zu ihm gehen können, sondern sich sehr vor ihm und seinen Leuten hüten müssen, weil zwischen uns und diesem Kurdenstamme Feindschaft liegt.«

Als sie jetzt eine Pause machte, erkundigte ich mich:

»Habt ihr erfahren, weshalb diese Frau in jenem Kulluk festgehalten wird?«

»Nein. Es scheint das ein Geheimnis zu sein, welches nur wenige Personen kennen.«

»Ich vermute, daß ihr sofort entschlossen waret, Hilfe zu leisten.«

»Ja, das waren wir alle. Die Gebieter unserer Gegenden traten zu einer Beratung zusammen. Ein Kriegszug war ausgeschlossen, weil es sich um den in Suleimania regierenden Beamten des Padischah handelte. Es wurde beschlossen, zur List zu greifen. Man sprach von dir, wie du Amad el Ghandur aus dem Gefängnis in Amadijah geholt hast, und fragte, wie du es wohl anfangen würdest, für Marah Durimeh einen Ausgang aus dem Kulluk zu finden. Es wurde bestimmt, daß eine kleine Schar erfahrener Krieger ausgesandt werden solle, die Befreiung zu versuchen. Klein mußte sie sein, um sich leicht verbergen zu können. Als Kundschafter sollten nicht Männer, sondern einige Frauen dienen, weil diese selten Verdacht erwecken und meist ganz unbeachtet bleiben. Als ein Anführer gewählt werden sollte, bot sich der Räis von Schohrd freiwillig an. Es sollte das eine Buße für frühere Zeiten sein, wo er, wie du ja weißt, auf falschem Wege wandelte und damals auch dein Feind gewesen ist. Er wurde angenommen. Als das Ingdscha, seine Tochter, hörte, welche stets der Liebling Marah Durimehs gewesen ist, forderte sie von ihrem Vater, daß er sie als Kundschafterin mitnehme; sie könne keiner andern den Vorzug lassen, zur Befreiung ihrer geliebten, ehrwürdigen Beschützerin mitwirken zu dürfen. Als er nach einigem Zögern seine Erlaubnis dazu gab, konnte ich es nicht über das Herz bringen, Ingdscha ohne mich in solche Gefahren gehen zu lassen. Ich bat sie also, sie begleiten zu dürfen, und sie erfüllte meinen Wunsch.«

»Hatte denn dein Mann nichts dagegen einzuwenden?«

»Nein; er ist ja selber mit dabei. Du hast ihn damals nicht in der Weise kennen gelernt, daß du dich über ihn freuen konntest; jetzt aber wirst du mit ihm zufrieden sein. Seit jenem Abende, an welchem du unsere Gebieter hinauf zum Ruh ‚i Kulian führtest, herrscht Eintracht unter denjenigen, welche sich wegen der Verschiedenheit der Abstammung und des Glaubens vorher bekämpften. Es ist seitdem kein Streit wieder vorgekommen.«

»Wieviel Personen seid ihr hier?«

»Zehn Männer, den Räis selbst mitgezählt, und zwei Frauen, nämlich Ingdscha und ich. Es wurde das für genug befunden, da wir ganz nach deinem Beispiele handeln und nicht Gewalt, sondern womöglich nur List anwenden wollten.«

»Habt ihr Erfolg gehabt?«

»Bis jetzt noch nicht. Den Kulluk haben wir gefunden. Wir wissen auch, daß es wirklich Marah Durimeh ist, die dort wohnt; aber weil wir uns nicht zeigen dürfen, haben wir uns bis jetzt vergeblich bemüht, hineinzukommen oder ihr wenigstens ein Zeichen von uns zu geben.«

»Ich weiß aber, daß andere zu ihr dürfen!«

»Ja, wir haben das auch beobachtet. Es kommen Personen, welche mit ihr zu sprechen begehren; diese dürfen aber nicht hinein, sondern nur bis an das Thor, wo sie mit ihr sprechen dürfen und dann wieder gehen müssen, ohne den Turm betreten zu haben. Als wir bei einer solchen Gelegenheit uns in der Nähe versteckt hatten, sahen wir sie und wissen nun also, daß sie es wirklich ist.«

»Also darf kein Mensch hinein zu ihr?«

»Niemand. Wir haben nur einen einzigen Fall beobachtet, daß Leute hineindurften, und die sind nicht wieder herausgekommen. Man scheint sie festgehalten zu haben.«

»wißt ihr, wer das war?«

»Wir kannten sie nicht, doch sahen wir, daß es Kurden waren. Sie hatten einen kleinen Knaben bei sich.«

Da fiel Adsy schnell ein:

»Sie sind es; sie sind es! Das war Schevin mit Khudyr und unsern Leuten! Weißt du vielleicht, warum sie nicht wieder herausgedurft haben?«

»Nein. Wie können wir das wissen, da wir uns verbergen müssen und also uns nicht erkundigen dürfen. Wahrscheinlich würden die Dawuhdijehs es auch niemandem sagen.«

Nun sprach Adsy eine Menge von Fragen aus, welche zwar von der Größe seiner Besorgnis, nicht aber von der hier so nötigen Umsicht zeugten, so daß ich ihn bat:

»Erlaube, daß ich mit Madana spreche! Du fragst mit deinem Herzen, aber nicht mit dem Verstande. Wie viel Dawuhdijehs sind es wohl, die den Turm bewachen?«

»Erst waren es wohl zwanzig,« antwortete die Alte. »Jetzt aber, seit diese Fremden auch drin stecken, sind es wohl doppelt so viel.«

»Befinden sich diese Wächter im Innern des Turmes?«

»Ja; doch stehen zwei stets vor dem Thore.«

»Bei Tag und auch bei Nacht?«

»Am Tage sind es diese zwei, doch sobald es dunkel geworden ist, wird vor dem Eingange ein Feuer angebrannt, an welchem sechs oder oft auch acht Männer sitzen.«

»Haben diese Leute einen bestimmten Anführer?«

»Ja. Das ist kein Kurde, sondern ein türkischer Mülasim, welcher fünf Soldaten bei sich hat.«

»Ah! Marah Durimeh ist also wirklich die Gefangene des sogenannten Paschas von Suleimania, und den Dawuhdijehs ist die Mitbewachung anvertraut; sie haben diesem Mülasim Gehorsam zu leisten. Wo liegt der Kulluk?«

»Man kann ihn von hier aus in einer Stunde erreichen.«

Eine Stunde nur? Ich wendete mich zu Adsy:

»Da hörst du, wie wenig du dich auf eure Kundschafter verlassen kannst. Und acht Personen sind das gewesen! Wenn wir jetzt nicht Ingdscha und Madana getroffen hätten, wären wir vollständig in die Irre geritten und hätten froh sein müssen, wenn wir nicht erwischt worden wären! Ist der Weg nach dem Kulluk auch zu Pferde zu machen?«

»Ja,« antwortete Madana. »Ihr wollt hin?«

»Natürlich! Es fällt uns nicht ein, diese Gegend eher zu verlassen, als bis wir Marah Durimeh herausgeholt haben!«

»Und unsere Leute mit, Effendi!« bat Adsy. »Du hast gehört, daß sie auch im Turme stecken. Wie aber wirst du es anfangen, ihnen die Freiheit zu verschaffen?«

»Das kann ich doch jetzt noch nicht wissen. ich muß den Kulluk und seine Umgebung kennen lernen, auch die Sicherheitsmaßregeln, welche der Mülasim getroffen hat. Auch ist es nötig, vorher mit dem Räis von Schohrd zu sprechen, um seine Ansichten zu hören. Erst dann, wenn ich alles, was überhaupt zu erfahren ist, erfahren habe, kann ich mir ein Bild über die ganze Lage machen und einen bestimmten Plan fassen, eher aber nicht. Du fragst mich also zu früh.«

»So sag mir wenigstens, ob du die Ausführung für möglich hältst!«

»Sie muß möglich sein, weil ich sie wirklich machen werde. Ich habe ja gesagt, daß ich nicht eher von hier fortgehen werde!«

»Ich danke dir! Du hast mir mit diesen Worten das Herz leicht gemacht. Freilich schwer wird die Ausführung sein!«

»Was das betrifft, so schau hier meinen Hadschi Halef Omar an! Sein Gesicht strahlt ja förmlich von Zuversicht!«

»Strahlt es wirklich?« fragte Halef lachend. »Ich sage euch, seit ich weiß, daß es sich wieder einmal um eine That handelt, zu welcher Mut und List gehört, ist ein ungeheures Wohlbefinden in mein Herz gezogen. Vor diesem Mülasim und seinen fünf Asaker und vor den vierzig Dawuhdijehs fürchten wir uns nicht. Der größte Turm der Welt war doch der Turm zu Babel, den man jetzt Birs Nimrud nennt. Wir sind vor kurzer Zeit in die finstern Eingeweide dieses Turmes gekrochen, um mit den Drachen des Mordes und der Schmuggelei zu kämpfen. Wir haben über diese Ungeheuer gesiegt und sind als ruhmgekrönte Helden wieder an das Licht des Tages gestiegen. Haben wir uns vor diesem Turm zu Babel nicht gefürchtet, wie sollten wir uns davor eurem kleinen Kulluk ängstigen? Er ist ein so lächerlich kleiner Kerl, daß wir nur mit einer einzigen Hand hineinzugreifen brauchen, um alle herauszuholen, welche man drin vor uns verbergen will.«

Es war eine Lust, den kleinen Kerl in dieser Weise sprechen zu hören, besonders da seine Zuhörer Orientalen waren und sich als solche nicht an seiner Ausdrucksweise stießen. Auch mir schien die Ausführung unsers Vorhabens nicht mit großen Schwierigkeiten verknüpft zu sein, zumal es sich um einen türkischen Offizier handelte, dem ich mit meinen Legitimationen leicht imponieren konnte. Was die gefangenen Hamawandikurden betrifft, so galt es, zu erfahren, ob es zwischen ihnen und den Dawuhdijehs vielleicht einen Zusammenstoß gegeben hatte, welcher einen blutigen Konflikt zur Folge haben mußte, was unser Vorhaben unbedingt erschweren mußte. Ich fragte darum Madana:

»Waren die Leute bewaffnet, welche mit dem Knaben in den Turm gebracht wurden?«

»Nein,« antwortete sie.

»Kamen sie zu Pferde?«

»Nein; aber die Dawuhdijehs, welche sie begleiteten.«

»Sie wurden also als Gefangene behandelt?«

»Ja. Jeder von ihnen hing an einem der Pferde.«

»War jemand von ihnen verwundet?«

»Davon haben wir nichts gesehen.«

»Wie verhielten sie sich? Leisteten sie Widerstand?«

»Nein. Sie ließen sich ohne Sträuben hineinschaffen. Einer von ihnen, welcher den Knaben trug, schien kein gewöhnlicher Krieger zu sein; das hörten wir aus den Worten, die er sprach.«

»Was sagte er?«

»Als er vom Pferde losgebunden worden war und durch das Thor gehen sollte, rief er drohend aus: ›Wir kamen in Frieden und haben euch darum unsere Waffen abgegeben. Haltet uns ja nicht zu lange fest, sonst könnte Jamir kommen und uns mit bluttriefenden Waffen von euch fordern.‹ Diese Worte habe ich selbst ganz deutlich verstanden.«

»Das beruhigt Mich, denn wir können daraus ersehen, daß nichts geschehen ist, wodurch die Thar herausgefordert würde. Wo befindet sich der Räis mit seinen Leuten?«

»In der Nähe des Kulluk. Wir haben dort für uns und unsere Pferde ein prächtiges Versteck gefunden, welches man nur schwer entdecken kann.«

»Und wie kommt es, daß ihr beide euch jetzt so weit von dort entfernt habt?«

»Wir wollten die Kundschafter beobachten, welche vor einiger Zeit hier vorübergeritten sind.«

»Kundschafter? Woher wißt ihr denn, daß diese Leute Späher waren?«

»Wir haben die Dawuhdijehs gestern belauscht. Sie stehen unter der Anführung ihres Scheikes Ismael Beg da unten am Wasser, in einer weiten Krümmung des Thales, wo sie den Angriff der Hamawandikurden erwarten.«

»Das habt ihr erlauscht?«

»Ja, Ingdscha und ich. Sie hatten entdeckt, daß Hamawandi-Späher hier gewesen waren, und nun auch Spione zu den Hamawands geschickt. Diese erfuhren, daß die Hamawands dreihundert Mann stark kommen würden. Als sie diese Nachricht brachten, rief Ismael Beg seine Dawuhdijehs zusammen, um die Feinde da unten zu empfangen, und beschloß, heut wieder Boten auszusenden, die ihm das Nahen der dreihundert Hamawands sofort melden sollen. Wir beobachteten heut früh diese Boten, weil wir gern erfahren wollten, nach welcher Richtung sie sich wenden würden.«

»Warum wollt ihr das wissen?«

»Um zu erfahren, wo die Hamawands zu suchen sind. Wir wollten sie warnen, denn weil es uns bisher noch nicht geglückt ist, Marah Durimeh zu befreien, glaubten wir, daß diese Kurden uns aus Dankbarkeit dazu behilflich sein würden. Nun wir aber dich gefunden haben, brauchen wir diese Hilfe nicht.«

»Und doch wird euch auch dieser Wunsch erfüllt, denn die Krieger, welche ihr hier bei mir seht, gehören zum Stamme der Hamawands. ich traf sie gestern Abend. Sie erzählten mir von ihren gefangenen Genossen. Sie erzählten auch von der alten Frau, welche im Kulluk bewacht werde. Ich vermutete sogleich, daß diese Frau unsere Marah Durimeh sei, und so schlossen wir uns diesen Hamawands an, um nach dem Kulluk zu reiten. So kommt es, daß wir euch hier unterwegs getroffen haben.«

»Das hat Gott geschickt, Effendi, und nun du bei uns bist, sind wir überzeugt, daß Marah Durimeh den Turm sehr bald verlassen wird. Wie sehr, wie unaussprechlich werden sich unsere Krieger freuen, wenn sie dich und Hadschi Halef Omar sehen! Sie werden fast gar nicht glauben können, daß ihr es wirklich seid! Sollen wir euch jetzt zu ihnen führen?«

»Ja; ich bitte euch darum. Hoffentlich ist die Gegend, durch welche wir kommen werden, sicher?«

»Es steht nicht zu erwarten, daß wir einem Dawuhdijeh begegnen werden.«

»Dennoch wollen wir vorsichtig sein. Kennt Ingdscha den Weg ebenso wie du?«

»Ja.«

»So mag sie bei uns bleiben, um uns zu führen; du aber gehst allein voran, um uns zu warnen, falls du jemanden sehen solltest.«

»Das wird das beste sein, Effendi. So werden wir es machen.«

Sie schüttete die Körbe aus, setzte sie ineinander, nahm sie auf den Rücken und machte sich zunächst flußabwärts auf den Weg. Einer der Hamawands stieg ab und bot Ingdscha sein Pferd an. Sie ging auf dieses höfliche Anerbieten ein, und dann folgten wir der lieben Petersilie.

Der Weg bot nur für zwei Pferde nebeneinander Platz. Ich richtete es so ein, daß Ingdscha sich an meiner Seite befand. Sie hatte sich bis jetzt vollständig schweigsam verhalten; jetzt zog ich sie in ein Gespräch, welches aber leider nicht so lebhaften Fortgang nahm, wie ich es wünschte. Sie verhielt sich sehr einsilbig; es schien ihr lieber zu sein, wenn sie ganz still bleiben könne, und so hatte ich nichts dagegen, daß, als sie einmal wegen einer schmalen Terrainstelle zurückblieb und nicht gleich wieder vorrückte, Halef sich an ihre Stelle setzte. Der liebe Kleine platzte fast vor Begierde, mir die Freude seines Herzens über diese unerwartete Begegnung auszuschütten. Er that es in einer solchen Weise, daß er fast ganz allein die Kosten der Unterhaltung trug, eine Genugthuung für ihn, die ich ihm gönnte.

Inzwischen hatte Ingdscha uns aufgefordert, abzusteigen, weil sie uns über einen Berg zu leiten habe, jenseits dessen wir dann wieder guten Weg finden würden. Wir mußten also die Pferde führen. Es ging stellenweise so steil hinan, daß wir und die Tiere sehr oft ins Rutschen kamen, doch als wir die Höhe erreicht hatten, wurde es besser, denn sie senkte sich jenseits nur allmählich nieder, und dann gab es eine wasserlose, breite Mulde, in welcher wir Platz hatten und galoppieren konnten, weil es da nur Gras und weder Baum noch Buschwerk gab. So kam es, daß wir Madana, die zu Fuß ging, jetzt wieder erreichten und nun, um sie den nötigen Vorsprung erreichen zu lassen, wieder langsam reiten mußten.

Sie hatte sich noch gar nicht weit von uns entfernt, so blieb sie stehen und winkte uns sehr lebhaft, zurückzubleiben, doch war es da schon zu spät, denn einesteils befanden wir uns ihr und auch dem Grunde ihrer Warnung schon zu nahe, und andernteils gab es hier keinen Gegenstand, hinter den wir uns hätten verstecken können. Wir sahen auch gleich die Ursache, wegen der sie uns gewinkt hatte: Es war ein einzelner Reiter, weicher, wie suchend, von seitwärts her geritten kam und froh zu sein schien, jemandem zu begegnen. Er lenkte sein Pferd auf sie zu. Da er uns nun einmal gesehen hatte und sie ihm vielleicht eine Antwort geben konnte, welche nicht zu unsern Absichten paßte, setzten wir unsere Pferde wieder in Galopp und kamen infolgedessen zu gleicher Zeit mit ihm bei ihr an. Es war ein Offizier mit den Hauptmannsabzeichen. Er wendete sich nun nicht an sie, die Frau, sondern an uns Männer, mit der militärisch kurzen Frage:

»Gehört ihr zum Stamme der Dawuhdijehs?«

»Ja,« antwortete der stets schnell fertige Halef, was mir aber in diesem Falle lieb war, da ich auf diese Weise die Unwahrheit nicht selbst zu sagen brauchte.

»Ihr kennt doch euern Scheik Ismael Beg?«

»Natürlich!« nickte der Hadschi dreist.

»Ich suchte ihn an seinem Lagerplatz, der ist aber leer; wo steckt der Mann?«

»Er steht mit unsern Kriegern da hinten am Flusse, um auf die Hamawands zu warten, die uns überfallen wollen.«

»Wieder einmal? Diese Hunde geben niemals Ruhe! Ich wollte mich von ihm nach dem Kulluk führen lassen, in welchem die alte Bagidscha steckt. Ich komme wegen ihr aus Kerkuk. Der dortige Pascha sendet mich, den Mülasim abzulösen, der nichts aus ihr herausgebracht hat.«

Dieser Mann war sehr unvorsichtig offenherzig! Bis jetzt hatte Halef sich ganz richtig verhalten; nun aber mußte ich die Sache in die Hand nehmen, wenn kein Fehler gemacht werden sollte. Darum fragte ich den Offizier:

»Warst du denn beim Kaimakam in Suleimania, dem der Mülasim verantwortlich ist?«

Der Hauptmann betrachtete mich mit einem forschenden Blicke, ob ich wohl der Mann sei, ihm eine solche Frage vorlegen zu dürfen. Das Resultat schien befriedigend ausgefallen zu sein, denn er antwortete:

»Natürlich war ich dort. Ich habe ihm des Paschas Vollmacht vorgelegt und darauf seine Unterschrift bekommen, die ich dem Mülasim vorzuzeigen habe.«

»Ist das notwendig? Kennt dich der Mülasim denn nicht?«

»Nein.«

»Aber von unsern Kriegern werden dich doch wohl einige kennen.«

»Das glaube ich nicht, denn ich bin noch nie bei euch gewesen.«

»So sollst du den Mülasim ablösen?«

»Ja.«

»Er soll also fort?«

»Ja.«

»Wann?«

»Heut gleich, oder morgen, wie es ihm beliebt; er hat nichts mehr zu sagen. Er hat kein Geschick, das Geheimnis aus diesem Weibe herauszubringen. Der Kaimakam hat mir euern Lagerplatz beschrieben; ich fand ihn leer. Dann suchte ich den Turm, bin aber, wie es scheint, ganz irr geritten. Ihr wißt doch wohl, wo er liegt?«

»Ja.«

»So führt mich hin!«

Das klang so befehlshaberisch, daß ich antwortete:

»Du scheinst zu meinen, daß wir Zeit dazu haben?«

»Zeit oder nicht! Ihr führt mich hin und zwar den geradesten Weg! Ich bin ein Offizier des Pascha. Verstanden?«

»Tahht el Amr! Wir gehorchen. Deine Gnade mag die Güte haben, hier an meiner Seite zu reiten!«

Ich winkte Madana. Sie schritt mit ihren langen Beinen weit aus, und wir folgten ihr. Der Hauptmann schien ein sehr stolzer, auf sich eingebildeter Mensch zu sein; er sprach kein Wort mit mir. Das war mir aber lieb, wie ich hier wohl gar nicht erst zu versichern braucht. Er hätte mich durch Fragen in die größte Verlegenheit bringen können. Zu wünschen war nur, daß uns niemand begegnete, denn es war ein Plan in mir entstanden, der durch das Zusammentreffen mit einem Dawuhdijeh unausführbar werden müßte, und das wäre jammerschade gewesen!

Nachdem wir längere Zeit schweigend neben einander hergeritten waren, schien der Hauptmann es doch für geraten zu halten, ein Wort zu sagen. Er fragte mich:

»Bist du ein gewöhnlicher Kurde?«

»Nein,« antwortete ich.

»Das habe ich dir angesehen, obgleich sich aber doch keiner von euch ganz verleugnen kann. Räuber bleibt Räuber!«

Das war wieder höchst unvorsichtig von ihm. Er fühlte sich in seiner Uniform wahrscheinlich unantastbar. Wie aber hätte ihm ein Kurde an meiner Stelle wohl geantwortet? Auch ich zog aus diesen seinen beleidigenden Worten die Veranlassung, ihm nun so zu kommen, wie ich nach meinem Plane mußte und wie er wohl schwerlich erwartete.

Wir hatten nämlich die WiesenmuIde hinter uns; der Wald begann wieder. Ich sah Madana seitwärts in denselben einbiegen; sie blieb vorher stehen und gab mir durch einen eigenartigen Wink zu erkennen, daß wir uns jetzt dem Verstecke ihrer Leute näherten. Ehe wir dieses erreichten, mußte ich mit dem Hauptmann fertig sein; das gebot mir die Vorsicht. Die Scene, welche uns erwartete, mußte ihn zur Erkenntnis bringen, daß wir keine Dawuhdijehs waren, und so war es geraten, ihn schon jetzt unschädlich zu machen. Darum antwortete ich:

»Räuber? Mit diesem Worte meinst du uns?«

»Ja,« lachte er, ohne verlegen zu sein.

»Weißt du, wie ein kurdischer Krieger darauf antwortet?«

»Er schweigt, denn es ist wahr!«

»Ja, er sagt allerdings nichts; aber er thut etwas.«

»Was?«

»Das!«

Bei diesem Worte holte ich aus und gab ihm einen Fausthieb ins Genick, daß er mit dem Oberkörper vorn niederknickte und mit den Füßen aus den Bügeln fuhr. Dann faßte ich ihn hinten, riß ihn aus dem Sattel und warf ihn neben sein Pferd, wo er vor Schreck und in halber Betäubung liegen blieb.

»Recht so, Effendi!« jubelte Halef, indem er aus dem Sattel sprang. »Da lernt er die Faust eines Räubers, eines Dawuhdijehkurden kennen! Was soll jetzt mit ihm geschehen?«

»Nimm ihm die Waffen; gieb ihm einen Knebel in den Mund, daß er nicht schreien kann, und binde ihm dann die Hände zusammen und an meinem Steigbügel fest! Beim geringsten Widerstand, den er zu leisten wagt, schieße ich ihn nieder!«

Ich zog den Revolver und richtete ihn auf den Offizier, der von Halef angefaßt und vom Boden in die Höhe gezogen wurde, ohne sich zu wehren. Als er meine Waffe sah, stammelte er!

»Ein Kurde – – – und ein Revolver – – – Maschallah

»Wer so frech ist, von einem freien Krieger Gefälligkeiten im Tone eines Vorgesetzten zu fordern und ihn anstatt des Dankes dafür noch einen Räuber zu nennen, der kann sehr leicht noch andere, viel größere Wunder erfahren!« antwortete ich. »Hatte der Pascha keinen klügeren, vorsichtigeren Mann hierher zu senden? Wir sind keine Räuber, und es wird dir nichts geschehen, doch nur unter der Bedingung, daß du alles thust, was ich verlange. Jetzt vorwärts!«

Der wahrhaft mutige Mann ist bescheiden, der Poltron aber im Grunde feig; das zeigte sich auch hier. Dieser Mann hatte sich ohne eine Miene der Gegenwehr knebeln und an meinen Bügel binden lassen und lief nun ganz schön nebenher. Sein Pferd ritt der Kurde, welcher das seinige an Ingdscha abgetreten hatte.

Wir bogen, indem wir Madana folgten, in ein von dicht stehenden Nadelbäumen überschattetes Felsengewirr ein, welches ganz unzugänglich zu sein schien, aber uns doch bald guten Raum zum hindurchkommen bot. Hier war wohl noch nie ein Mensch geritten! Dann ging es so steil hinab, daß wir die Pferde wieder führen mußten, wobei sie zuweilen auf die Hinterbeine zu schlitten kamen, worauf wir einen Grund erreichten, wo früher ein kleiner See, ein Weiher, gelegen hatte, der aber ausgetrocknet war, wahrscheinlich weil sein Zufluß einen andern Weg gefunden hatte. Da blieb Ingdscha halten, deutete mit der Hand vorwärts und sagte:

»Dort hinter dem Gesträuch sind unsere Leute. Hörst du sie? Madana hat ihnen gesagt, wen wir getroffen haben.«

Ich hörte laute, frohe Stimmen; Zweige knackten, und der erste, der erschien, war der lange, riesenhafte Räis selbst, der Vater Ingdschas, der mich damals so feindlich behandelt hatte und dann von dem Ruh ‚i Kulian zu einer andern Gesinnung bekehrt worden war. Sein Gesicht strahlte, als er mir beide Hände mit den Worten entgegenstreckte:

»Effendi, es ist wahr? Du kommst, du! Sollen wir das wirklich glauben? Können wir es glauben? Und dein Hadschi Halef ist auch dabei? Kommt, kommt schnell, damit euch alle sehen! Sie zweifeln sonst daran, daß ihr es seid!«

»Natürlich sind wir es, und natürlich bin ich auch dabei!« meinte Halef. »Wo hat man denn diesen Effendi je einmal gesehen, ohne daß ich dabei gewesen wäre, ohne den er nicht leben und nichts Gescheites machen kann! ja, kommt, damit auch die andern die Wonne unsers Anblicks genießen!«

Es würde hier zu weit führen, die Scene des Wiedersehens zu beschreiben und die hin und her schwirrenden Fragen und Antworten ausführlich zu bringen. Ich mußte mir große Mühe geben, diese braven Leute vor unvorsichtigen Äußerungen zu bewahren, weil der Hauptmann doch nicht erfahren durfte, wer sie und wer Halef und ich waren. Als sie sich endlich beruhigt hatten und wir beisammen saßen, erzählte uns der Räis von dem Verschwinden Marah Durimehs und dem vergeblichen Bemühen, sie aus dem Turme zu befreien. Es war nicht mehr, als was wir schon von Madana gehört hatten. Der Offizier war an einen Baum gebunden worden, so weit von uns, daß er nicht verstehen konnte, was der Räis sagte. Als dieser seinen Bericht beendet hatte, fuhr er, zu mir gewendet, fort:

»Und nun hat Madana uns gesagt, daß du uns helfen willst. Ist das wahr, Effendi?«

»Ja,« antwortete ich.

»Wir hatten dich zum Vorbilde genommen; wir wollten ganz nach deiner Weise listig handeln; aber was nützt die Klugheit, wenn – – wenn – –wenn ––«

»Wenn man sie nicht besitzt,« fiel Halef lachend ein.

Anstatt dies übel zu nehmen, stimmte der Räis bei:

»Ja, beinahe, das wollte ich auch sagen! Wir stecken schon so lange Zeit hier, ohne daß uns ein Plan kommen will.«

»Und kaum ist mein Sihdi hier erschienen, so ist bei ihm der Plan schon fertig! Ich sehe es ihm an. Immer, wenn er das eine Auge kleiner macht, hat er einen listigen Talab im Kopfe sitzen. Habe ich recht, Effendi?«

Ich nickte.

»Seht ihr es? Er zog das eine Auge zusammen, folglich weiß er, was er machen will. Und der Gedanke, den er hat, ist jedenfalls ein fröhlicher. Ich kenne sein Gesicht!«

»Hat Halef es wirklich erraten?« fragte der Räis.

»Ja,« antwortete ich; »aber daß ich meine Gedanken durch meine Augenmuskeln verrate, das habe ich selbst noch nicht gewußt. Ich werde in Zukunft besser auf mich achten.«

»So erlaube, daß ich mich verwundere, Effendi! Wir haben ohne Aufhören nachgedacht, um einen ausführbaren Plan ausfindig zu machen, doch vergeblich. Und du hast einen Entschluß, nachdem du erst einige Minuten bei uns bist!«

»Ich hatte ihn schon, als ich kam. Das ist nicht etwa ein Zeichen von größerer Klugheit, sondern der Zufall war mir günstig. Halef, erinnerst du dich der Fragen, welche ich dort dem Hauptmanne vorgelegt habe?«

»Ja, Sihdi.«

»So weißt du, daß er nicht nur bei den Dawuhdijehs vollständig unbekannt ist, sondern daß ihn auch der Mülasim im Kulluk noch nicht kennt. Er hat Legitimationen bei sich, denen der Mülasim gehorchen muß. Ist es da nicht selbstverständlich, daß ich an seiner Stelle nach dem Turme gehe?«

»Du – – – an seiner Stelle – – – als Hauptmann – – –? Effendi, das ist freilich ein Gedanke von solcher Größe und von solcher unendlichen Erhabenheit, als ob er nicht in deinem, sondern in meinem Kopfe entstanden wäre!«

»Ich danke dir für diese großartige Anerkennung, mein lieber Halef! Ein größeres Lob konntest du ja gar nicht aussprechen. Ich bin unendlich stolz darauf!«

»Das glaube ich, denn ich weiß, daß es für dich das erhabenste der Gefühle ist, mein Wohlgefallen zu besitzen. Aber meinst du nicht, daß es besser wäre, wenn ich an deiner Stelle ein türkischer Hauptmann würde?«

»Nein.«

»Warum nicht? Hältst du mich für zu dumm dazu?«

»Dumm? Du weißt, daß ich in dir stets den Inbegriff aller Klugheit sehe; aber siehe die Gestalt des Hauptmannes an! Würde dir sein Anzug passen?«

»Ja Allah! Da hast du freilich recht! Wer an seiner Stelle nach dem Kulluk will, der muß in das Innere dieses Anzuges wandern, und die Länge und Breite, welche er besitzt, würde mir höchst unbehaglich sein!«

»So siehst du also, daß ich diese Rolle selbst übernehmen muß. Dazu gehört, daß ich den Kulluk vorher erst einmal sehe. Wie weit liegt er von hier?«

»Nur eine Viertelstunde,« antwortete der Räis. »Ich bin bereit, ihn dir zu zeigen. Dieses Versteck hier konnte gar nicht günstiger so in der Nähe liegen. Madana hat es entdeckt. Die Dawuhdijehs scheinen keine Ahnung von dem Vorhandensein dieses Platzes zu haben.«

»Ja, führe mich! Die andern bleiben da; wir gehen allein.«

Halef wollte partout mit; ich wies ihn aber zurück, weil ich ihn dabei nicht brauchte. Je weniger er wußte, desto weniger konnte er auf den Gedanken eines selbständigen oder gar eigenmächtigen Verhaltens kommen. Ich mußte dafür besorgt sein, daß er mir hier nichts verderben konnte.

Wir hatten vielleicht zweihundert Schritte weit in dem ausgetrockneten Wasserbecken zu gehen, bis wir an den früheren Ausfluß desselben kamen. Dieser bildete eine enge, sich mehrfach biegende, vom Wasser in den Felsen gefressene Spalte, welche mit Farnen und holzigem Gestrüpp so verwachsen war, daß man draußen leicht vorübergehen konnte, ohne zu ahnen, was für ein Platz hinter diesem scheinbar undurchdringlichen Dickicht lag. Als wir uns hindurchgewunden hatten, ging es eine kurze Schlucht hinab ins Thal, auf dessen anderer Wand ich dann den Kulluk liegen sah. Es war ein großer, aus starken, mit schmalen Schießlöchern versehenen Mauern aufgeführter Kubus, an den ein hoher, runder Turm mit teilweise eingestürzter Zinne stieß. Das war freilich nicht gleich auf den ersten Blick so deutlich zu sehen, weil dies durch den sich dicht emporziehenden Wald verhindert wurde. Wir schlichen uns weiter bis fast an die Stelle, wo der hinaufführende Weg begann. Von einem Weg in unserem Sinne war freilich keine Rede; man sah nur, daß in neuerer Zeit hier gegangen und geritten worden war.

Das alte Mauerwerk lag so still und scheinbar unbelebt da oben, daß ich es für unbewohnt gehalten hätte, wenn mir nicht das Gegenteil berichtet worden wäre. Es war kein Mensch, kein Tier, kein lebendes Wesen ringsum zu sehen, und weiter hinauf durften wir nicht, wenn wir uns nicht der Gefahr aussetzen wollten, entdeckt zu werden. Wir kehrten also so vorsichtig, wie wir gekommen waren, nach unserem Verstecke zurück, wo sich Halef natürlich gleich sehr angelegentlich erkundigte, was ich gesehen und beschlossen hätte. Ich hielt es nicht für geraten, ihm jetzt schon etwas mitzuteilen. Es genügte vollständig, wenn er einstweilen wußte, daß ich als türkischer Hauptmann nach dem Kulluk wollte. Das übrige erfuhr er am besten erst dann, wenn es vorüber war. Wollte er doch auch so schon sich der Sache in einer Weise annehmen, die ich zurückweisen mußte. Er schlug mir nämlich vor:

»Sihdi, da der Schneider des Hauptmannes den Anzug nicht für die sanften Verhältnisse meiner rücksichtsvollen Persönlichkeit gefertigt, sondern ihm eine so unbescheidene Ausdehnung gegeben hat, daß ich es mir streng verbitten muß, mit ihm in Berührung zu kommen, so magst also du selbst in die fremden Hosenbeine und dir nicht gehörigen Ärmel fahren; aber ich werde wenigstens die Vorbereitung dazu jetzt treffen.«

»Welche Vorbereitung?«

»Ich werde zu ihm hingehen und ihm sagen, daß er das Innere seiner Uniform augenblicklich zu verlassen habe. Dann bringe ich sie dir her, damit du sie anziehen kannst.«

»Warum soll denn nicht ich hin zu ihm gehen?«

»Weil dir die große Gabe der Rede versagt ist, welche dazu gehört, ihm die ungeheure Notwendigkeit dieser Anordnung begreiflich zu machen.«

»Lieber Halef, sei doch so gut, und warte mit deinen großen Thaten, bis ich dich auffordere, sie zu thun! Du kennst ja die Art und Weise gar nicht, in welcher das, was du thun willst, zu geschehen hat!«

»Ist denn diese Art und Weise hierzu eine ganz besondere?«

»Ja. Und wenn sie das auch nicht wäre, so versteht es sich doch ganz von selbst, daß ich in dieser Angelegenheit, die meine eigene ist, keinen Vormund brauche!«

»Vormund! O Effendi, wie verkennst du doch die opferwillige Liebe, mit welcher ich bestrebt bin, dir alle Unannehmlichkeiten des Lebens tragen zu helfen!«

»Sei still! Den Herrn und Gebieter willst du spielen; weiter hat es keinen Zweck. Ich erkenne ja deine vorzüglichen Eigenschaften bereitwilligst an und werde dir das jetzt beweisen, indem ich dir ein hochwichtiges Amt anvertraue.«

»Ein hochwichtiges?« fragte er, indem seine bereits düster gewordene Miene sich sofort wieder aufhellte. »Ja, vertraue es mir an; du kannst überzeugt sein, daß es ganz unmöglich ist, es in bessere Hände zu legen!«

»Das weiß ich ja, und darum übergebe ich es dir und keinem andern. Ich traue dir nämlich zu, ein vorzüglicher Baumeister zu sein, lieber Halef.«

»Ein – – Baumeister?« fragte er, indem sich in seinem Gesichte eine Überraschung aussprach, die mir heimlich Spaß machte.

»Ja, ein Baumeister,« nickte ich wichtig.

»Soll etwa hier etwas gebaut werden?«

»Ja.«

»Was?«

»Ein Gefängnis.«

»Wirklich? Ein Gefängnis? Für wen?«

»Für den Hauptmann, für den Mülasim und seine Soldaten und für die Dawuhdijehs, die sich im Kulluk befinden.«

»Das wären ja zusammen gegen fünfzig Personen!«

»Allerdings. Du siehst, welch eine Menge von Steinen es hier giebt, große und kleine. Es wird genügen, wenn sie recht fest und passend aufeinandergelegt werden; auf Mörtel müssen wir verzichten. Das Gefängnis muß fünfzig Personen fassen und bis morgen vormittag, womöglich aber schon heut abend fertig sein. Die Männer hier werden dir alle helfen. Den Plan zu diesem Gebäude mußt du selbst entwerfen; ich habe leider keine Zeit dazu.«

Da fiel er schnell ein:

»Und wenn du Zeit hättest, Sihdi, so würde ich es nicht dulden, daß du mir ins Handwerk pfuschest. Ich sage dir, daß du meine Begabung für die Kunst des Gefängnisbauens ganz richtig erkannt hast. Ich werde ein Gebäude errichten, über dessen Vortrefflichkeit du staunen wirst. Soll es auch geheizt werden?«

»Ja.«

»Das erhöht zwar die Schwierigkeit bedeutend, doch sollst du mit mir zufrieden sein. Ich werde einen Feuerherd errichten und eine Esse darüber bauen. Aus was aber soll das Dach dieses großen Gefängnispalastes bestehen?«

»Das zu bestimmen, überlasse ich dir, denn du bist der Baumeister, dem ich keine Vorschriften zu machen habe.«

»Da hast du recht, sehr recht, Sihdi. Ich werde mir von keinem Menschen in diese hochwichtige Angelegenheit sprechen lassen, sondern nur die Vorzüge meines eigenen Geistes in Bewegung setzen. Hast du sonst noch einen Wunsch?«

»Nur den einen, daß alles so leise wie möglich vor sich gehen möge. Die Bewohner des Kulluk, welcher ganz in der Nähe liegt, dürfen nicht das geringste Geräusch hören!«

»Das ist ja selbstverständlich. Wir werden so leise machen, daß wir selbst nichts davon hören. Verlaß dich nur ganz auf mich! Du wirst wohl inzwischen abwesend sein?«

»Ja, denn ich reite nach dem Turme, denke aber, daß du mich nicht brauchen wirst. Du ersiehst hieraus, lieber Halef, was für ein großes Vertrauen ich in dich setze!«

»Das kannst du auch; jawohl das kannst du auch! Du ahnst gar nicht, was für bedeutende und erhabene Ideen diese Aufgabe schon jetzt in meinem Kopfe geboren hat! Ich muß mich mit ihnen beschäftigen, muß sie in Ordnung bringen. Erlaube also, daß ich die Einsamkeit aufsuche, denn nur in der Abgeschiedenheit von der gewöhnlichen Weltbevölkerung können die erhabenen Werke der Kunst und Meisterschaft entstehen!«

Er ging fort und wandelte dann rastlos unter fernen Bäumen hin und her, vollständig ahnungslos, daß ich ihn nur, um ihn unschädlich zu machen, in einen Architekten verwandelt hätten. Es sollte sich gar nicht um den Turm bekümmern können. Nun ich mich seiner erledigt hatte, konnte ich zu dem Hauptmanne gehen,

»Ich verlange, losgemacht zu werden!« zürnte mich dieser an. »Ihr werdet es bereuen, euch an mir vergriffen zu haben!«

»Sei bescheiden!« warnte ich ihn. »Mit Drohungen hast du bei uns keinen Erfolg! Denkst du denn, wir durchschauen dich nicht? Du bist gar nicht der, für den du dich ausgiebst. Ein Offizier, welcher von dem Pascha zu den Dawuhdijehs gesandt wird, ist nicht so dumm, sie ins Gesicht hinein Räuber zu nennen.«

»Ich kein Offizier? Was fällt dir ein? Greif in die Tasche meiner linken Brust, so wirst du den schriftlichen Befehl des Kaimakam mit meinem Namen und meiner Charge finden!«

Ich that natürlich, was er wollte, denn das hatte ich eben auch gewollt. Der Befehl war offen; ich konnte ihn lesen, ohne ihn aufbrechen zu müssen. Er hätte für mein Vorhaben gar nicht besser abgefaßt sein können. Weiter wollte ich mit dem Manne nun persönlich nichts mehr zu thun haben; ich sagte dem Räis, was ich wollte. Der Offizier wurde seitwärts geschafft, wo er sich entkleiden mußte; dann hatte er sich mit seinem Mantel zu begnügen. Er machte einen Heidenlärm, um den ich mich aber nicht kümmerte. Seinem Namen nach war er ein Arnaute; ich brauchte also in Rücksicht auf sein offizierliches Ehrgefühl nicht allzu zart mit ihm zu verfahren. Die Arnauten, besonders die nach dem Irak versetzten, sind stets rohe, gewaltthätige Menschen, und daß er zu dieser Kategorie gehörte, hatte er ja bewiesen!

Als ich dann in seinem Anzuge steckte, erklärte mir der Räis, daß kein Mensch, dem ich unbekannt sei, an eine Verkleidung denken werde. Halef rief mir von weitem zu:

»Sihdi, es wird dich jedermann für den halten, für den er dich halten soll. Mehr kann ich dir nicht sagen, denn ich habe keine Zeit dazu. Habe also die Güte, und entschuldige mich! Das Gefängnis geht mir mit seinen Mauern, dem Dach und auch der hohen Feueresse im Kopfe herum!«

Da ich die Waffen des Arnauten tragen mußte, übergab ich die meinigen dem Räis zur sorgfältigen Aufbewahrung; nur einen Revolver steckte ich in die Tasche. Nach Verhaltungsmaßregeln befragt, erklärte ich, daß ich keine besonderen für nötig halte. Es durfte bis zu meiner Rückkehr niemand das Versteck verlassen, und jedes laute, hinausdringende Geräusch war zu vermeiden; weiter hatte ich für jetzt keinen Wunsch. Als ich dann das Pferd des Arnauten am Zügel nahm, um mich mit ihm zu entfernen, traten Ingdscha und Madana mit der wohlgemeinten Bitte zu mir, mich ja in keine zu große Gefahr zu begeben; zu ihrer Beruhigung versprach ich ihnen das, obgleich es natürlich nicht in meiner Macht lag, den Besuch des Turmes für mich weniger gefährlich zu machen, als er überhaupt war.

Ich mußte die steilen Hänge hinan, welche wir heruntergekommen waren; dann führte ich den Gaul nach rechts in die kurze Schlucht hinab, durch welche ich mit dem Räis nach dem Thale des Kulluk geschlichen war. Ich will aufrichtig gestehen, daß es mir nicht ganz unbedenklich zu Mute war, als ich den Turm nun vor mir ragen sah. Hinauf würde ich ja ganz gut kommen; wie aber wieder herab? Vielleicht gar nicht! Mein Vorhaben war ja viel, viel gefährlicher, als ich mir hatte merken lassen! Doch stand wenigstens das bei mir fest, daß ich lieber alles wagen als mich als Gefangenen da oben festhalten lassen würde.

Allzugroß schien die Wachsamkeit der Dawuhdijehs nicht zu sein, denn ich kam fast ganz hinauf, ohne einen von ihnen zu sehen. Zuletzt ging es unter einigen Rieseneichen hin, und als ich diese hinter mir hatte, lag das Thor in kurzer Entfernung vor mir. Zur Seite desselben lagen fünf Kurden, welche bei meinem Anblicke aufsprangen. Sie betrachteten mich kurz; dann kamen mir vier einige Schritte entgegen; der fünfte verschwand im Innern, jedenfalls um mein Erscheinen drin zu melden. In diesem Augenblicke war alle etwa in mir vorhanden gewesene Bangigkeit verschwunden. Die Furcht vor der Gefahr pflegt ja meist größer als die Gefahr selbst zu sein.

»Ihr seid Kurden des Stammes Dawuhdijeh?« fragte ich in kurzer Weise, indem ich vom Pferde sprang und einem von ihnen den Zügel hinwarf.

»Ja, Aga,« antwortete er.

»Ihr habt einen besonderen Anführer?«

»Ja, Rebat ist es.«

»Das stimmt. Wo befindet er sich?«

»Drin in der Wachtstube.«

»Und der Mülasim?«

»Er hält den Kef bei sich. Dürfen wir ihn stören?«

»Ich werde das selbst thun. Führt mich zu ihm!«

Da kam ein baumlanger, dürrer, mit allen möglichen Waffen behangener Kerl herausgeeilt, stellte sich dicht vor mich hin und sagte in respektvollem Tone:

»Gegrüßt seist du, o Jüzbaschi! Ich bin Rebat, dem die Krieger hier zu gehorchen haben.«

»Das weiß ich schon. Dir ist doch bekannt, wo sich Ismael Beg, euer Scheik, jetzt befindet?«

»Ja. Er wartet auf – – auf ––«

Er zögerte, weiterzusprechen. Wahrscheinlich war er sich im unklaren, ob er mir die betreffenden Mitteilungen machen dürfe oder nicht. Darum ergänzte ich seine Rede:

»Er wartet auf die dreihundert Hamawands, meinst du. Da hat er sich freilich verrechnet; eure Kundschafter hätten besser aufpassen sollen. Ich habe euch eine wichtige Nachricht zu bringen; sie ist sehr eilig; aber ich kann sie nicht eher aussprechen, als bis ich mich überzeugt habe, daß hier alles in Ordnung ist. Führe mich zum Mülasim!«

»Sofort, o Jüzbaschi. Erlaube, daß ich vorangehe!«

Wir kamen durch das Thor in das Innere des kubischen Mauerwerkes. Es bildete einen viereckigen Hof, welcher ringsum in etwas über Manneshöhe mit sehr defekten Dächern versehen war. Rechts und links standen die Pferde. Zu beiden Seiten des Thores und auch gegenüber zu Seiten des Turmeinganges hockten die Kurden in allen möglichen Stellungen. Sie standen auf, als sie mich kommen sahen. Diese Achtung, weiche sie meiner Uniform erwiesen, war ganz geeignet, beruhigend auf mich zu wirken; ich durfte hoffen, daß man mir gehorchen werde.

Rebat stieg einige Stufen zur in den Turm führenden Thüre hinauf; ich folgte ihm. Rechts gab es zunächst eine Treppe mit sehr zerfallenen Stufen, weiter hinten einen Eingang, welcher mit einer alten Decke verhangen war. Die vordere Hälfte der linken Seite wurde von dem Lehmboden gebildet, auf welchem einige lange Baststricke lagen; wozu sie dienten, das erfuhr ich nachher. Dann gähnte ein großes, tiefes, viereckiges Loch, über welchem ein widerlicher Duft von Moder und Fäulnis schwebte. Der Kurde deutete nach dem Vorhange, wobei er sagte:

»Dort ist der Mülasim. Soll ich mit zu ihm gehen?«

»Nein. Warte draußen im Hofe, bis wir hinauskommen. Ich bin gesandt, ihn abzulösen; er wird euch das dann sagen. Die Paschas von Kerkuk und von Suleimania sind zornig darüber, daß ihr den Mund der alten Hexe nicht zu öffnen versteht. Das muß nun anders werden! Habt ihr denn kein Geschick, mit einem alten Weibe umzugehen?«

Der lange Mensch knickte unter diesen Worten verlegen zusammen und brachte stotternd die Entschuldigung hervor:

»Bedenke, o Jüzbaschi, daß sie eben eine Zauberin ist! Sie kann sich für jede Beleidigung fürchterlich rächen.«

»Unsinn!«

»Ja, das kann sie! Wir wissen es. Glaube es mir! Wir sehen es ja an den Leuten, welche kommen, um ihr ihre Anliegen auszusprechen. Es geht da alles in Erfüllung, was die Alte sagt. Zwar darf der Pascha davon nichts ––«

Er hielt erschrocken inne und senkte den Kopf noch tiefer als vorher; da war es für mich nicht schwer, zu erraten, weshalb er mitten in der Rede innegehalten hatte. Ich benützte das sofort, indem ich im strengsten Tone sagte:

»Was höre ich da! Es kommen Leute, welche zu der Frau gelassen werden?«

»Ja, Herr. Wir baten den Mülasim, und er hat es uns erlaubt. Wir hoffen, daß auch du uns diese Erlaubnis nicht verweigerst, denn du wirst dafür ebenso wie er einen Teil der Geschenke erhalten, welche wir bekommen.«

Da ertönte eine scheltende Stimme von hinter der Windung der Treppe herab:

»Wer spricht so laut da unten? Wißt ihr nicht, daß jetzt für mich die Zeit der Ruhe ist?«

»Das ist der Mülasim,« erklärte mir der Kurde leise. »Er befindet sich also nicht dort in seiner Stube, sondern oben auf der Treppe, wo er bessere Luft hat, wie er sagt.«

»Warte draußen auf mich! Ich gehe zu ihm hinauf.«

Er entfernte sich, und ich stieg langsam die Stufen empor. Der Mülasim schien nur gehört zu haben, daß überhaupt gesprochen wurde. Verstanden hatte er wahrscheinlich nichts, weil sonst sein Verhalten ein anderes gewesen wäre. Nichts hätte mir für meinen Plan besser passen können, als das, was ich von dem langen Kurden erfahren hatte. Die Wunderthätigkeit Marah Durimehs bestand nur in der Phantasie der Kurden, welche die betreffenden Märchen erzählten, um Geschenke einzuheimsen. Mein Selbstvertrauen war ganz bedeutend gewachsen.

Ich hatte nur erst wenige Stufen erstiegen, so hörte ich oben zornig sagen:

»Wer wagt es da, heraufzukommen? Ihr wißt doch, daß ich jetzt meine Ruhe haben will!«

Ich ging natürlich trotzdem weiter. Als ich dann die Krümmung der Wendeltreppe passiert hatte, sah ich den Mülasim mit den Händen unter dem Kopfe lang ausgestreckt auf dem tief schmutzigen Boden liegen. Er hob den Kopf empor, um zornig loszudonnern; das sah ich ihm an; als er aber mich anstatt eines Dawuhdijeh erblickte, sprang er erschrocken auf und blieb lang stehen, ohne ein Wort zu sagen. Solche Augen, so ein Gesicht und solch einen Schnurrbart konnte nur ein Arnaute haben. Er war nicht mehr jung, hatte also jedenfalls von der Muskete auf gedient und wurde nun zu ähnlichen Zwecken, wie der gegenwärtige einer war, verwendet, die mit dem Frontdienste und der Ambition nichts zu thun haben.

»Du mußt schon erlauben, daß ich dich in deiner Ruhe störe,« sagte ich. »Die Störung wird keine kurze sein, sondern eine längere, als du denkst!«

Nun stand ich vor ihm und betrachtete ihn genau. Wie ich ihn abschätzte, stand zu erwarten, daß ich kein schweres Spiel mit ihm haben würde.

»Verzeihung!« stieß er hervor. »Ich – – ich dachte, daß –-daß es ein Kurde sei!«

»Da hast du dich geirrt. Hier, sieh, wer ich bin!«

Ich zog das Papier aus der Tasche und gab es ihm. Er hatte sehr lange zu studieren, ehe er mit dem Lesen fertig wurde. Dann ließ er die Hand mit den Zeilen fallen und sagte:

»Ich soll fort von hier? Du kommst an meine Stelle? Das ist mir recht und lieb! Ich will lieber unter Geistern als in der Nähe einer solchen Frau sein, vor der man sich wie vor den Gerippen des Todes fürchten muß!«

»Dein Mut scheint beispiellos zu sein!« bemerkte ich.

»Das sagst du jetzt, in einigen Tagen aber nicht mehr! Ich habe meine Pflicht gethan und sie ausforschen wollen; aber sie hat das Aussehen einer Leiche und ist stumm wie ein Grab. Auch du wirst nichts von ihr erfahren!«

Wie gern hätte ich gewußt, worauf sich dieses Ausforschen bezog; aber eine Bemerkung oder Frage meinerseits hätte mich sehr leicht in die Gefahr gebracht, meine vollständige Unkenntnis zu verraten, darum schwieg ich lieber und zog es vor, den Inquirenten zu spielen:

»Du hast fremde Leute mit ihr sprechen lassen?«

Er schwieg.

»Und Geschenke dafür angenommen?«

Er sagte auch jetzt noch nichts.

»Sprich! Du hörst, daß ich dich frage!«

»Ja, ich habe es gethan,« gestand er. »Du wirst es auch thun, wenn auch nicht gleich in den ersten Tagen. Die fürchterliche Langeweile wird dich packen, so wie sie mir die Seele dehnte, und dann wirst du auch froh sein, wenn einmal eine Unterbrechung kommt. Ich bin unendlich glücklich, aus dieser Einsamkeit und von diesem Umgang mit der wandelnden Leiche erlöst zu sein! Wirst du mich anzeigen?«

»Nein, ich lasse keinen Kameraden bestrafen.«

»Ich danke dir! Wann darf ich fort?«

»Wann du willst.«

»Nun, dann sobald wie möglich!«

»Vorher aber mußt du mir den Posten übergeben, so, wie du ihn übernommen hast.«

»Das werde ich sofort und sehr gern thun. Übernommen habe ich nur die Frau. Die Hamawandikurden, welche der Scheik schickte, gehen uns eigentlich nichts an; ich werde aber auch sie dir zeigen.«

»Wie verhalten sie sich?«

»Stolz und still. Es fällt ihnen nicht ein, die Forderung des Scheikes zu erfüllen und, nur weil sie ohne sein Wissen sein Gebiet betreten haben und in seine Hände geraten sind, ihm ihre Freiheit mit zweihundert Gewehren zu bezahlen. Sie würden sich dadurch teilweise entwaffnen und also den Dawuhdijehs gegenüber schwächen. Sie sind überzeugt, daß ihre Leute kommen, um sie herauszuholen. Ich bedauere sie des Loches wegen, in dem sie mitten im Kote und Unrate so lange stecken müssen.«

»Du weißt natürlich auch, wer sie sind?«

»So gut wie du. Der Scheik konnte mir es doch nicht verheimlichen. Daß Jamir unter einem falschen Namen hierhergekommen ist, war eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit von ihm. Ein so berühmter Anführer muß stets und überall gewärtig sein, erkannt zu werden. Das mußte er sich sagen!«

»Du tadelst ihn und hast ihn doch selbst auch auf dem Gewissen!«

»Ich?«

»Ja.«

»Inwiefern?«

»Hättet ihr nicht das Gerücht ausgestreut, daß die Alte Wunder thue, so wären nicht so viele Leute und wäre auch er nicht gekommen!«

»Das haben die Dawuhdijehs auf ihre eigene Rechnung gethan; ich habe es ihnen nicht geheißen.«

»Aber geduldet hast du es?«

»Weil der Anteil an den Geschenken, den ich bekam, die einzige Einnahme war, die ich hier hatte. Du weißt ja selbst, wie es mit unserm Solde steht. Wir bekommen ihn so selten. Und da man denn doch leben muß, ist man gezwungen, sich auf irgend eine andere Weise eine Einnahme zu sichern.«

»Die Frau hat aber, wie ich vermute, doch nicht gewußt, daß sie für eine Krankenheilerin und Wunderthäterin gehalten wird?«

»Nein. Davon erfuhr sie nichts.«

»Wie hat sie da mit den Leuten verkehren können, ohne es zu erfahren?«

»Wir ließen sie in dem Glauben, daß diese Leute wünschten, sie solle für sie beten. Sie durfte zu ihnen an das Thor, doch nicht mit ihnen sprechen. Da legte sie ihnen die Hände auf und betete. Das war alles, was geschah. Ist es dir recht, daß ich sie dir jetzt zeige?«

»Ja. Kennst du ihren wirklichen Namen?«

»Nein. Es ist mir verboten, nach ihm zu fragen. Du?«

»Ja, ich kenne ihn.«

»So bist du tiefer eingeweiht als ich; du bist aber auch nicht vom Kaimakam, sondern vom Pascha selbst gesandt. Darf ich ihn von dir erfahren?«

»Nein. Da du ihn nicht weißt, darf ich ihn dir nicht sagen.«

»So komm. Sie ist hier oben.«

Jetzt hatte ich den Wunsch, daß Marah Durimeh mich nicht erkennen oder, falls es doch geschehen sollte, dies durch nichts verraten möge. Er führte mich noch eine Treppe höher. Da gab es eine aus Bohlen zusammengesetzte, starke Thür, die durch zwei Querbalken festgehalten wurde. Er entfernte diese letzteren und öffnete. Es gab einen ziemlich großen, sehr schmutzigen Raum, welcher durch zwei schmale Schießscharten Luft und Licht bekam. Da saß sie auf einer alten, zerfetzten Decke an der Wand. Sie hatte die Hände gefaltet und schien gebetet zu haben.

Ja, es war Marah Durimeh! Sie war wie damals eingehüllt in einen weiten dunkeln Mantel, aus welchem mir ihr hageres Gesicht wie dasjenige eines Totenkopfes entgegengrinste. Auch heut hingen ihr die dicken, schneeweißen Haarzöpfe bis fast auf die Erde herab, als sie sich bei unserm Anblicke langsam aufgerichtet hatte.

Als sie das Geräusch unsers Kommens hörte, hatte sie wohl nur den Mülasim erwartet. Nun sah sie außer ihm noch einen zweiten eintreten, weshalb sie die Augen forschend auf mich richtete. Keine Wimper, keine Falte ihres Angesichtes zuckte. Ihr Blick schien wie aus einer weiten, weiten Ferne, für welche es kein Erkennen giebt, zu mir herzukommen, und ihre Lippen bewegten sich zu keinem einzigen Worte; es schien ganz so, als ob sie gar nicht atme. Der Eindruck, den sie machte, war nicht der einer Leiche, wie der Mülasim gesagt hatte, sondern ein überirdischer, ein – –es giebt kein Wort, welches der richtige Ausdruck dafür wäre. Ich fühlte eine tiefe, fast heilige Verehrung anstatt Grauen.

»Dieser Jüzbaschi ist gekommen, mich abzulösen und dich an meiner Stelle zu bewachen,« sagte der Mülasim. »Ich hoffe, daß du ihm sowenig Sorge bereitest, wie du mir bereitet hast!«

Seine Stimme wankte leise; er fürchtete sich vor ihr.

»Sein Eingang ist gesegnet!« antwortete sie langsam und in tiefem, überzeugtem Tone, woraus ich wohl schließen durfte, daß sie mich doch erkannt hatte.

»Hast du einen Wunsch?« fragte ich.

Sie senkte leise den Kopf zur Seite und horchte zu mir her. Wie wenn ein lieber, lange entbehrter Ton an ein lauschendes Ohr dringt, so glitt ein leises, glückliches Lächeln über ihr Gesicht. Dann antwortete sie:

»Mein einziger Wunsch ist Gott. Wer in ihm und in seiner Liebe lebt, braucht keine anderen Wünsche.«

»Du hast die Wahrheit gesprochen! Er kennt den rechten Augenblick für alles, was zu unserm Heile dient.«

Nach diesen Worten drehte ich mich um und ging hinaus. Der Mülasim folgte mir und verschloß die Thür wieder. Dann führte er mich hinunter an das Loch. Dort sagte er:

»Da unten stecken die Hamawands. Du siehst und hörst nichts von ihnen, denn es ist tief und dunkel, und sie sind so stolz, kein lautes Wort hören zu lassen. Nur manchmal hört man die klagende Stimme des Knaben für einen Augenblick.«

»Sie sind mit Hilfe dieser Stricke hinabgelassen worden?« erkundigte ich mich.

»Ja.«

»Wie steht es mit dem Essen und Trinken?«

»Wir lassen ihnen täglich einmal Wasser in einem Kürbiskruge und auch Brot hinab, welches einer der Kurden aus Mehl und Wasser beim offenen Feuer bäckt. Kann ich dir noch eine Auskunft erteilen?«

»Nein; es ist gut. Ich weiß nun alles, was ich zu wissen brauche.«

»So bist du also bereit, diesen Posten zu übernehmen?«

»Ja.«

»Und ich kann gehen?«

»Sofort, wenn du willst.«

»So bitte ich dich, mir zu quittieren!«

»Ich werde dir die Quittung auf das Schreiben des Kaimakam setzen.«

»Ja, thue das! Ich bitte dich, mit herein zu kommen!«

Er schob die vorhin erwähnte, als Portiere gebrauchte Decke zur Seite, und wir traten in den dahinterliegenden kleinen Raum, welcher nichts, aber auch weiter gar nichts als ein altes Kissen enthielt, welches des Tages als Sitz und bei Nacht als Bett zu dienen hatte. Zum Zudecken war der Mantel zu nehmen. Ein Wachtlokal für einen Offizier in Kurdistan!

»Du siehst, in einem Palaste wirst du nicht wohnen,« lachte der Mülasim bitter. »Ich bin froh, gehen zu dürfen, und werde, sobald du geschrieben hast, keinen Augenblick warten!«

»Hast du Tinte?«

»Nein. So etwas Kostbares giebt’s hier nicht!«

Ich hatte mein Notizbuch eingesteckt, nicht etwa weil ich in dem Glauben gewesen wäre, es zu brauchen, sondern weil ich es nicht in der offenen Jackentasche lassen wollte. Da gab es einen Bleistift, mit dem ich die paar Zeilen schrieb, die ich in einer für den Mülasim freundlichen Weise verfaßte. Er las sie, steckte das Papier ein, reichte mir die Hand und sagte:

»Das sind kameradschaftliche Worte; ich danke dir! Nun hält mich aber nichts mehr hier zurück!«

Wir gingen hinaus in den Hof, wo er Befehl gab, sein Pferd zu satteln. Während dies geschah, winkte er Rebat herbei und erklärte ihm mit lauter Stimme, so daß alle es hörten:

»Dieser tapfere und berühmte Jüzbaschi ist von dem Pascha gesandt worden, an meine Stelle zu treten. Er besitzt das Vertrauen und die Zuneigung eures Scheikes und wird euch ein freundlicher Gebieter sein. Ich aber nehme gern Abschied von diesem Orte. Allah behüte euch!«

Diese Empfehlung war die Folge meiner freundlichen Zeilen. Nach einigen Minuten gab er mir die Hand und ritt fort. Ich ging, die Pferde betrachtend, im Hofe hin und her und sah gar wohl die beobachtend auf mich gerichteten Blicke der Kurden. Sie wollten aus meinem Aussehen und Benehmen erraten, was für ein Verhalten sie von mir zu erwarten hätten.

Rebat hielt sich an meiner Seite, um meine gelegentlichen Fragen zu beantworten. Er schien etwas auf dem Herzen zu haben, getraute sich aber nicht heraus damit, bis er durch meine absichtliche Freundlichkeit veranlaßt wurde, es zu sagen:

»Sprachst du nicht von einer sehr wichtigen Nachricht für uns, die sehr eilig sei, o Jüzbaschi?«

»Ja,« antwortete ich. »Euer Scheik hat sie mir aufgetragen; aber ich habe mich anders besonnen, weil ihr hier nötig seid und ich euch unmöglich fortlassen kann.«

»Wir sollten fort von hier?«

»Ja; ich kann euch aber nicht fortlassen.«

»Warum sollten wir fort?« fragte er dringlich.

»Weil er erfahren hat, daß eure Kundschafter sich geirrt haben. Es kommen nämlich nicht bloß dreihundert Hamawandikurden, sondern das Weib Jamirs, die ihr wohl kennt, ist an der Spitze eines viel größeren Haufens aufgebrochen. Der Scheik erwartet sie heute nachmittag.«

»I’Allah! Da hat er doch zu wenig Leute bei sich!«

»Das dachte er allerdings auch,« nickte ich.

»Hat er keine Boten ausgeschickt?«

»Das hat er freilich gethan; aber ob die Hilfe zur rechten Zeit bei ihm eintrifft, das ist sehr fraglich.«

»Er scheint auch von uns gesprochen zu haben?«

Rebat war ganz Feuer und Flamme; auch die andern Dawuhdjiehs drängten sich aufgeregt herbei.

»Natürlich hat er auch von euch gesprochen,« antwortete ich in lässigem Tone. »Er wollte euch schnell einen Boten senden; da ich aber zu euch ritt und er bei der Übermacht der Feinde nicht gern einen einzigen Mann entbehrt, nahm er die Gelegenheit wahr, mich mit dieser Botschaft zu beauftragen.«

»Was befahl er? Was wollte er? Was sollen wir thun? Sprich schnell, sprich schnell!«

»Ihr sollt sofort und eiligst zu ihm kommen, denn eine so starke Truppe, wie ihr seid, könne er nicht unthätig hier im Kulluk lassen, während die andern mit einem doppelt starken Feind zu ringen hätten.«

Da schrie er mich zornig an.

»Das – – das solltest du uns sagen und sagst es uns erst jetzt, wo wir schon seit einer Stunde fort sein könnten!«

»Fort? Was fällt euch ein? Ihr werdet hier gebraucht. Ich kann keinen einzigen von euch fortlassen! Der Pascha ––«

»Schweig vom Pascha! Was geht uns der Pascha an, wenn unsere Krieger von einem übermächtigen Feind überfallen werden! Wir müssen fort! – –das Weib Jamirs? Diese Teufelin? Wir können keinen Augenblick länger bleiben. Auf, ihr Leute, sattelt schnell! Es ruft der Kampf!«

Ich wehrte mich scheinbar aus Leibeskräften dagegen, bekam aber dafür nichts als Grobheiten zu hören, und als ich es schließlich wagte, den Säbel zu ziehen und einen streng klingenden Befehl loszudonnern, donnerte mich Rebat wieder an:

»Schweig! Denkst du, daß wir uns vor deiner Klinge fürchten? Wir sind freie, unabhängige Dawuhdijehs, denen kein Jüzbaschi etwas zu befehlen hat! Die Gefangenen stecken hier fest und sicher; die können nicht heraus, und bis wir wiederkommen, hast du ja deine fünf Soldaten; das ist mehr als genug. Mit ihnen könntest du den Kulluk monatelang verteidigen. Also schweig, denn es ist jedes Wort vergeblich!‹,

Das war es ja, was ich wollte! Ich stellte mich zwar auch weiter ganz ungebärdig, aber kein Mensch achtete mehr auf mich, ich konnte thun und sagen, was ich wollte. In kurzem ritten sie den Berg hinab und ich blieb nur mit meinen fünf lieben, treuen Soldaten zurück.

Welch ein Erfolg! Der Mülasim mitsamt der Quittung fort und die Dawuhdijehs auch alle fort! Nun blieben nur noch die Asaker, denen anzusehen war, daß sie sich am liebsten auch gern unsichtbar gemacht hätten. Sie standen am Thore und schauten sehnsüchtig hinter den Kurden drein. Es war keiner unter ihnen, dem ich für mich und mein Vorhaben hinderliche oder gar gefährliche Geistesgaben hätte zutrauen dürfen. Sie sahen ganz so thatenunfähig aus wie ihre mageren Gäule, welche mit dem meinen nun noch allein im Hofe standen; sie unschädlich zu machen, war nicht schwer.

Zunächst ging ich wieder in den Turm und stieg zu Marah Durimeh hinauf. Ich entfernte die Riegelpfosten, öffnete die Thür und trat zu ihr ein. Da stand sie hoch aufgerichtet in dem Raum, streckte mir die Hände entgegen und sagte.

»Ich wußte, daß du sehr bald wiederkommen würdest. Sei gegrüßt und sei gesegnet, Effendi! Gott sendet dich zur rechten Zeit, denn ich weiß, daß ich bald in weite Ferne geschafft werden sollte, wo ich nur Haß und Ungerechtigkeit, nicht Liebe und Gerechtigkeit gefunden hätte. Ich habe einst Abschied für das ganze Leben von dir genommen, und siehe da, mein Auge darf dich wiederschauen! Welch eine Wonne, welche Seligkeit! Du bist mein Sohn, mein Kind, nicht nach dem Körper, sondern nach dem Streben meiner und deiner Seele, nach dem geistigen Wandel, der uns zu gleichem Ziele nach oben führt. Darum begegnen sich auch unsere irdischen Pfade wieder, und darum bist du gesandt, mich zu denen zurückzuführen, in deren Liebe ich noch hier auf Erden lebe. Ich frage nicht, woher und wie du gekommen bist; ich frage auch nicht, wie und wohin du mich führen wirst; du bist da, und ich folge dir. Hier, nimm mich bei der Hand!«

Ich drückte ihre Hände an meine Lippen und führte sie, ohne ein Wort zu sagen, hinaus und dann hinunter in den Hof, wo ich den Asaker befahl, ihre Mäntel, die aber längst keine Mäntel mehr waren, zu einem Kissen zusammenzulegen, auf welches sie sich setzte. Dann mußten mir die fünf armen Teufel hinauf folgen, wo Marah Durimeh gesteckt hatte. Sie hatten nur die Seitengewehre bei sich. Als sie eingetreten waren und mich nun erwartungsvoll anschauten, nahm ich den Revolver heraus, richtete den Lauf desselben auf sie und sagte, indem ich mich bis hinaus vor die Thür zurückzog, zu ihnen:

»Ich mache jetzt die Thür hier zu und gehe mit den Gefangenen fort. Ihr verhaltet euch bis heut abend vollständig ruhig, dann könnt ihr beginnen, die einzelnen Bohlen der Thür herauszutrennen, was mit Hilfe eurer starken Klingen leicht möglich ist. Ist euch das gelungen, so könnt ihr thun, was euch beliebt; ich habe nichts dagegen!«

Keiner von ihnen rührte sich. Mein Verhalten war ihnen vollständig unbegreiflich. Ich schob die Thür zu, ohne daran gehindert zu werden, legte die Pfosten quer vor und ging dann die zwei Treppen wieder hinab. Da lagen die Stricke. Sie waren zum Heraufturnen mit Knoten und an den Enden mit festen Schlingen versehen.

»Jamir!« rief ich hinab. »Anworte! Hörst du mich?«

Es blieb unten still. Da fuhr ich fort:

»Dein Weib ist mit uns gekommen. Ich weiß von ihr, daß du von mir gehört hast. Ich bin Kara Ben Nemsi Effendi, und gekommen, euch zu befreien. Ich habe den Mülasim und die Dawuhdijehs durch eine List von hier fortgeschickt und lasse euch jetzt das Seil hinab. Bindet zunächst den Knaben daran fest, daß ich ihn heraufziehe.«

»Nein,« rief da eine Stimme. »Ehe ich dir ihn anvertraue, muß ich dich erst sehen. Ich komme selbst. Halte fest.«

Ich ließ das Seil hinab und schlang das obere Ende um einen vorstehenden Stein des Thürgewändes. Nach wenigen Augenblicken stand ein Kurde vor mir, dem jeder sofort den nicht gewöhnlichen, sondern bedeutenden Mann ansehen mußte. Er bohrte seine Augen forschend in mein Gesicht.

»Du hast dich Schevin genannt, bist aber Jamir selbst?« fragte ich ihn, seinen Blick aushaltend.

»Ja,« antwortete er. »Und du willst Kara Ben Nemsi sein? Beweise es!«

»Wie kann ich das beweisen? Schau dich um! Du wirst finden, daß alle eure Wächter fort sind.«

»Ich weiß, daß Kara Ben Nemsi am Halse die Narbe eines tiefen Messerstiches hat. Zeig her!«

Ich drehte mich so, daß er sie sah.

»Du bist es wirklich! Hamdulillah! Und du sagst, mein Weib sei auch hier?«

»Ja.«

»Ich wußte, daß sie kommen würde! Wo ist sie?«

»Einstweilen in einem Versteck hier in der Nähe.«

»Wie und wo hat sie dich getroffen, und wie ist es gekommen, daß du allein hier bist und – – –-«

»Ich bitte dich, jetzt nicht zu fragen,« unterbrach ich ihn. »Ich werde das, was du erfahren willst, auch andern erzählen müssen und möchte das nur einmal und nicht öfter thun. Wir wollen uns lieber beeilen, von hier fortzukommen. Hier, nimm das Seil; wollen den andern helfen!«

Einige von ihm hinabgesprochene Worte genügten, seine Leute davon zu unterrichten, daß er sich von der Wahrheit meiner Worte überzeugt habe. Sie schickten erst Khudyr herauf und kamen dann selbst auch nach. Ihr Aussehen war kein gutes; sie hatten mehr noch vom Unrat und der pestigen Luft gelitten als vom Hunger und Durst.

Jetzt wurden eine Menge Fragen ausgesprochen, die ich alle beantworten sollte; ich bat, sich bis nachher zu gedulden und jetzt vor allen Dingen den Kulluk mit mir zu verlassen.

Sie wußten nichts von der Anwesenheit Marah Durimehs und waren, als sie in den Hof kamen, von dem Anblicke der weit über hundertjährigen Greisin überrascht.

»Wer ist diese Frau?« fragte mich Jamir.

»Auch eine Gefangene,« antwortete ich, »Ihre Heimat ist in der Gegend am obern Zab.«

»Etwa Lizan, Raola, Schohrd und die andern dort in jener Richtung liegenden Orte?«

»Ja.«

Da trat er vor sie hin, kniete nieder und bat:

»Du bist keine andere als Marah Durimeh, der Liebling des Himmels und der Engel aller Menschen. Segne mich!«

Da schien sie wie aus einer tiefen, innern Versunkenheit zu erwachen; ein wunderbares, unirdisches Lächeln ging über ihr Gesicht; sie legte ihm die Hände auf das Haupt und sagte:

»Wer Gottes Segen wünscht, der ist durch diesen Wunsch ja schon genug gesegnet. Der Herr sei bei dir jetzt und immerdar; die Flügel seiner Boten mögen dich umwehen, und niemals nähere sich dein Pfad dem Abgrund derer, die ihm widerstreben. Das wünscht dir Marah Durimeh, mein Sohn!«

Das Niederknien des stolzen Mannes war so ungesucht und selbstverständlich erfolgt, und die Worte der Greisin klangen so feierlich und ergreifend, daß diese Scene einen tiefen Eindruck auf mich machte. Es war, als ob dieser Segen nicht von hier, sondern schon aus einer andern Welt herniederkäme.

In der Nähe der Thür lehnten die Gewehre der Soldaten. Die Kurden nahmen sie an sich. Sich aber auch an den alten, abgetriebenen Gäulen zu vergreifen, dazu hatten sie keine Lust; sie blieben also im unbestrittenen Besitze des Padischah. Wir hoben Marah Durimeh auf mein Pferd, welches von zwei Hamawands sorgfältig geführt wurde, und stiegen dann den Berg hinab. Ich hatte, als ich kam, gehofft, daß mein Werk gelingen werde; aber daß dies so schnell und so leicht zu ermöglichen sei, das hatte ich freilich nicht gedacht.

Ich hatte das natürlich nicht mir, sondern nur der Begegnung mit dem arnautischen Hauptmanne zuzuschreiben. Als was war dieses Zusammentreffen wohl zu bezeichnen? Als Zufall vielleicht? Ich mag dieses Wort nicht haben!

Unten angekommen, bogen wir in den Wald und dann in die kurze Schlucht hinein. Ich wollte Marah Durimeh das beschwerliche Bergsteigen ersparen und hielt also an der Stelle an, wo sich der dicht verwachsene einstige Abfluß des Sees befand. Da hoben wir sie vom Pferde. Ich wollte mir den Anblick einer großen, frohen Überraschung gönnen und bat deshalb meine Begleiter, hier an diesem Orte zu warten, bis man sie holen werde. Dann drängte ich mich zwischen den Felsen und durch die Farnen nach unserm Versteck hinein.

Als ich den Platz vor mir liegen sah, konnte ich nicht anders, ich mußte laut und herzlich lachen. Gab das ein reges Leben und Bewegen hier! Alle Anwesenden, allein den Hauptmann ausgenommen, welcher an einen Baum gebunden war, schleppten im Schweiße ihres Angesichtes Steine herbei, um sie nach dem Plane des Hadschi zusammen- und aufeinander zu fügen. Es war ein so gewaltiges Viereck vorgezeichnet, als ob ein ganzer Kurdenstamm da zusammen- und hineingesteckt werden solle. Die Bezeichnung »im Schweiße ihres Angesichtes« ist ganz wörtlich zu nehmen. Am erheiterndsten wirkte die tiefe Stille und Schweigsamkeit, mit welcher man sich plagte. Selbst Halef sprach kein lautes Wort; er kommandierte nur mit Gesten, die allerdings eine mehr als sprechende Lebhaftigkeit besaßen. Er sprang von einer Stelle zur andern und nahm sich der Sache mit einer Begeisterung an, als ob das Heil seiner Seele von ihr abhängig sei. Da hörte er mein Lachen und drehte sich um. Als er mich erblickte, ließ er einen großen, schweren Stein, den er eben nach dem Orte seiner Bestimmung schleppen wollte, fallen und rief mir zu.

»Du bist wieder da, Sihdi? Du lachst, und so laut? Hast du nicht selbst befohlen, daß wir uns ganz still und völlig unhörbar verhalten sollen!«

»Ihr könnt laut sprechen, ja, ihr könnt sogar rufen,« antwortete ich. »Ich habe mich überzeugt, daß die Dawuhdijehs euch nicht hören.«

»Da sei Allah Lob und Dank gesagt! Bei so schwerer Arbeit kein lautes Wort sagen zu dürfen, das ist von einem Menschen, der nicht stumm ist, doch zu viel verlangt. Sieh mein Werk an. Erstaunst du nicht? Ist nicht jeder einzelne Stein ein Zeuge meiner Geistesgaben? Wird dieses Gefängnis nicht ein Denkmal meines Verstandes in seiner ganzen Breite? Kann die Länge des deinigen jemals einen solchen Bau erfinden? Ich bitte dich, beantworte meine Frage!«

»Ja, ich lerne dich jetzt in deiner ganzen Größe kennen, mein lieber Halef. Du hättest unbedingt Baumeister werden sollen!«

»Ich danke dir! Als Scheik der Haddedihn fühl ich mich wohler. Das Zusammenschleppen der schweren Steine stört das Gleichgewicht des Herzens und belästigt die Überzeugung des gesundheitlichen Wohlbefindens. Es genügt, daß du meine verschiedenen Talente alle anerkennst. Wie aber steht es mit dir? Du wolltest nach dem Kulluk. Bist du oben gewesen?«

»Ja.«

»Und schon wieder herunter. Sie scheinen sich geweigert zu haben, dich als Hauptmann zu empfangen. Das hast du aber nur dir selbst zuzuschreiben. Du willst alles selbst und allein machen. Hättest du mich mitgenommen, so hätten meine Worte und meine Peitsche dir Respekt verschafft. So aber wirst du uns die Möglichkeit des Gelingens verdorben haben.«

»Nicht ganz!«

»So? Nicht ganz? Also ist sie noch vorhanden?«

»Ja,«

»Darf ich auch dabei sein?«

»Natürlich!«

»Schön! Was habe ich zu thun?«

»Zunächst hast du mit allen vorhandenen Männern nach der Stelle zu gehen, wo ich jetzt hereingekommen bin, und mit Hilfe der Messer das Gestrüpp zu beseitigen, daß der Eingang frei wird. Aber nicht lange warten, sondern sofort! Es hat Eile!«

»Gut, das soll sogleich geschehen. Kommt, ihr tapfern Krieger von Kurdistan; laßt jetzt die Steine liegen; es muß ein Weg geschaffen werden, auf welchem wir unsere gefangenen Dawudijehs herein in das Gefängnis schaffen können!«

Er trieb die Hamawands eifrig vor sich her; sie gehorchten ihm; nur Adsy blieb stehen, um mich besorgt zu fragen:

»Effendi, hast du etwas über meinen Bruder Schevin und seinen Knaben Khudyr erfahren können?«

»Einen Mann Namens Schevin kennt man nicht,« antwortete ich.

»So befinden sich die Personen, welche wir suchen, also nicht in diesem Turme. Wir müssen also weiterforschen.«

»Wie kann man Erfolg haben beim Forschen nach Personen, über welche man die Wahrheit nicht erfährt?«

»Die Wahrheit nicht? Wie meinst du diese Worte?«

»Heißt dein Bruder wirklich Schevin?«

»Nein.«

»Er ist wirklich dein Bruder?«

»Ja.«

»Und dein Name ist Adsy?«

»Ja.«

»So bedaure ich sehr, dir nicht beistehen zu können. Gefangene waren im Kulluk, ja; aber das sind nicht die Personen, welche du suchst. Es war ein berühmter Kurdenheld mit seinem kleinen Sohne und mehreren Kriegern.«

»Allah! Kennst du seinen Namen?« fragte sie schnell und in großer Spannung.

»Jamir ist’s.«

»Jamir – – Jamir! Er war im Kulluk? Also jetzt nicht mehr? Wo ist er nun? Sag mir es schnell; sag’s rasch!«

»Such selbst nach ihm! Wenn du so wenig Vertrauen zu Kara Ben Nemsi hast, daß du zwar seinen Beistand verlangst, aber deinen wahren Stand und Namen vor ihm verbirgst, so darfst du dich nicht wundern, wenn er seine Hand von dir abzieht. Hältst du mein Auge für so wenig scharf, daß ich ein Weib nicht von einem Manne zu unterscheiden weiß? Ich bitte dich, von jetzt an zu machen was dir gefällt; ich aber habe nichts mehr mit Schevin zu thun!«

Ich ließ sie in ihrer Verlegenheit stehen und ging zu Ingdscha, welche mit Madana bei den eifrig arbeitenden Männern stand und ihnen zusah.

»Ich habe eine Bitte,« sagte ich zu ihr. »Darf ich hoffen, daß du sie mir erfüllst?«

»Effendi, so gern, wenn ich kann!« antwortete sie.

»Du kannst. Dränge dich an diesen Männern vorbei und zwischen den Felsen hinaus; da wirst du eine frohe Überraschung finden, die ich dir bereitet habe.«

Nun ging ich nach der hinter Steinen und Sträuchern liegenden Stelle, wo ich meinen Anzug gelassen hatte, und kleidete mich wieder um. Noch war ich nicht ganz damit fertig, so hörte ich ein lautes Rufen und Frohlocken; der Augenblick des Wiedersehens war gekommen. Ich nahm mir Zeit, denn dem Herzen ist das erste, höchste Recht zu gönnen. Aber schon nach kurzer Zeit kam Halef in der Weise durch die Büsche gesaust, daß er mich beinahe umrannte, und schrie mich, hochrot vor Aufregung, an:

»Schlechter Kerl, der du bist, Effendi! So einen Betrug und Verrat hätte ich dir doch niemals zugetraut.!«

»Welchen Betrug?«

»Ohne mir ein Wort davon zu sagen, hast du mir den ganzen Ruhm grad vor der Nase weggeschnappt!«

»Hattest du ihn denn schon vor der Nase?«

»Ja! Oder lag der Kulluk nicht ebenso grad vor meiner Nase wie vor der deinigen? Mußtest du diese Leute befreien, ohne mich dazu zu nehmen?«

»Paßte dir denn die Uniform?«

»Nein. Aber das ist doch kein Grund, so eine That in meiner persönlichen Abwesenheit auszuführen. Du hättest mich unbedingt holen müssen!«

»Und die Gelegenheit unbenützt vorübergehen lassen! Dann konnten die armen Menschen bis an ihr Ende in dem Turme stecken bleiben; Halef, was bist du doch für ein – – schlechter Kerl!«

»Ich?«

»Ja. Du hast mich so genannt, bist es aber selbst! Wer eines verwerflichen Eigenlobes wegen seine Nebenmenschen, die sogleich gerettet werden können, im Elende stecken lassen will, bis es ihm später einmal passen wird, ihnen zu helfen, der ist ein ganz gemeiner, selbstsüchtiger Mensch, der ist – –- ein schlechter Kerl! So, nun weißt du, wer diese Bezeichnung verdient, du oder ich!«

Ich ließ ihn stehen und entfernte mich, wohl wissend, daß er schon nach kurzer Zeit sich freundlich zu mir wiederfinden werde.

Als ich aus meinem improvisierten Garderobezimmer heraustrat, kam Ingdscha strahlenden Auges auf mich zugeeilt, drückte mir die Hand und sagte:

»Das war eine große, eine unendliche Freude, Effendi! Durch deine Güte wurde ich die erste, welche Marah Durimeh und die andern Geretteten zu sehen bekam. Ich danke dir!«

Madana, die holde Petersilie, war auch gleich da. Ihr Entzücken hatte eine solche Größe, daß sie es nicht zu bewältigen vermochte. Sie bat, mich umarmen zu dürfen, und da die Petersilie keine fleischfressende, sondern eine sehr nützliche und würzige Pflanze ist, erlaubte ich es ihr.

Dann drang Adsy, die ich nun nicht mehr mit dem männlichen »er« bezeichnen darf, stürmisch auf mich ein und machte mir das freiwillige Geständnis-.

»Effendi, ich habe unrecht, sehr unrecht gegen dich gehandelt! Ich sehe ein, daß mein Verhalten dich beleidigen mußte. Du meintest es gut mit mir und wagtest alles, um meinen Mann und mein Kind zu retten, und ich gab dir Mißtrauen und Unwahrheit dafür. Ich danke dir von ganzem Herzen, indem ich dich um Verzeihung bitte!«

Ich sagte ihr natürlich, daß ich mich gar nicht beleidigt gefühlt hätte, und daß der Verweis, den ich zuletzt gegen sie aussprach, in einem ganz andern Sinne zu nehmen sei. Es drängten alle auf mich ein; ich ging, so zu sagen, aus einer Hand in die andere, doch würde eine Schilderung dieser bunt bewegten Scene zu weit führen. Die Hauptsache war, daß man wissen wollte, wie ich es angefangen hatte, in so kurzer Zeit einen so großen, vollständigen Erfolg zu erzielen. Ich erzählte es in kurzen Worten. Die Einzelheiten der Situation hatten in einer für uns so günstigen Weise ineinander eingegriffen, daß nur ein energisches Ausstrecken der Hand nötig gewesen war, die Früchte dieser Thatsachen wegzunehmen. Das wollten sie aber nicht zugeben. Jamir gestand seine Fehler ein, die ich wieder gut gemacht hätte, und versicherte mich seiner unwandelbaren Freundschaft und Dankbarkeit. Am lautesten war natürlich Halef, dem es nicht eingefallen war, dort, wo ich ihn verlassen hatte, stehen zu bleiben. Er war mir nachgekommen, hatte meinen Bericht auch angehört und benutzte nun die erste sich bietende Pause, mit weithin schallender Stimme zu rufen:

»Hört, ihr tapferen, unüberwindlichen Männer und ihr holden, unvergleichlichen Frauen, was ich euch zu sagen habe! Der Löwe der Feindschaft war ausgegangen mit hungrigem Gebrüll und hatte viele, große Beute heim- und in sein Lager zusammengetragen. Es war ein großes Weinen auf den Bergen und ein lautes Klagen in allen Thälern Kurdistans, ohne sie entdecken zu können. Man zog aus, sie zu finden, doch einige gingen nicht den richtigen Weg, und die andern lagen in der Nähe der Höhle des Löwen, ohne den Eingang derselben erzwingen zu können. Da kamen zwei Männer, die sich vor keinem Löwen, vor keinem Panther, überhaupt vor keinem Tiere und auch vor keinem Menschen fürchten, nämlich der unvergleichliche Kara Ben Nemsi Effendi mit dem unüberwindlichen Hadschi Halef Omar, welcher der oberste Scheik der Haddedihn ist vorn großen Stamme der Schammar. Diese beiden Helden hörten von den Sünden, welche dieser Löwe der Feindschaft begangen hatte, und machten sich auf, ihn dafür zu bestrafen und ihm seine Beute zu entreißen. Kara Ben Nemsi ging, von den Ermahnungen und guten Lehren seines Hadschi Halef begleitet, nach der Höhle des Löwen, trieb ihn mit List zur Flucht und holte die Opfer heraus, welche in ihrem Innern steckten. Hadschi Halef Omar, dessen Eingebungen dieser große Erfolg zu verdanken ist, aber baute ein großes, steinernes Syndan, welches zwar noch nicht ganz vollendet ist und einstweilen noch leer stehen wird, aber dennoch ein herrliches Denkmal großer Thaten bildet. Preis sei den beiden Männern, die das vollbrachten! Ihr Ruhm wird über alle Lande und durch alle Lüfte gehen, und noch die Enkelsöhne eurer Urnachkommenkinder werden, wenn sie hier an diese Stelle kommen, mit ehrfurchtsvollem Staunen die Mauern bewundern, weiche von meiner unendlichen Erfindungsgabe und von dem Arbeitsfleiße eurer Hände zeugen! Ich habe gesprochen, und nun sind die Dawuhdijehkurden abgethan!«

Nachdem er in dieser summarischen und unbedingt tödlichen Weise den ganzen Stamm der feindlichen Kurden für immer »abgethan« hatte, drehte er sich um und schritt in der stolzen Haltung eines spanischen Granden von dannen.

Nun galt es, den Notwendigkeiten des Augenblickes Genüge zu thun. Es war nicht geraten, noch lange hierzubleiben, zumal Jamir mit seinen Leuten suchen mußte, möglichst bald die »Stelle der Eidechsen« zu erreichen, wo seine dreihundert Hamawands warteten. Der Räis von Schohrd wurde auch durch nichts mehr hier gehalten und bat mich, ihn und Marah Durimeh nach seiner Heimat zu begleiten. So gern ich das gethan hätte, mußte ich doch für jetzt darauf verzichten, versprach aber mit meinem Worte, daß wir am Schlusse unserer persischen Reise, die uns ja voraussichtlich wieder nach Kurdistan brachte, ihn ganz bestimmt aufsuchen würden. Jetzt wollten wir einen Teil des Rückweges mit den Hamawands machen, und dann am Abend einen sichern Ort zum Lagern aufsuchen, um die Trennung bis auf morgen früh hinauszuschieben.

Der Hauptmann wurde losgebunden und durfte seine Uniform wieder anlegen. Er sagte dabei kein Wort, wohl teils aus Grimm und teils aus Scham. Als ich ihm dann auch seine Waffen wiedergegeben hatte, sagte ich ihm:

»Jetzt hast du mich, den ›Räuber‹, kennen gelernt; aber erzähle es ja niemandem, denn du würdest ausgelacht. Ich denke, daß du nach dem Kulluk reiten wirst. Steig da im Turm zwei Treppen hinauf und öffne die Thür, um die dort eingeschlossenen Asaker herauszulassen, damit sie nun auch den wirklichen Besitzer deines Anzuges kennen lernen! Das ist die einzige Heldenthat, von der du dann berichten kannst. Solltest du es wagen, heut hierher zurückzukehren, so würdest du eine Kugel in den Kopf bekommen. Jetzt bin ich mit dir fertig. Allah gebe deinem Kopfe das, was ihm bisher vollständig gefehlt zu haben scheint – – – den nötigen Verstand!«

Er ließ auch jetzt und trotz dieser Beleidigung keine einzige Silbe hören. Als er fortritt, beobachtete ich ihn und sah da, daß er sein Pferd wirklich nach dem Kulluk lenkte. Dann brachen auch wir auf. Der Räis hatte für Marah Durimeh ein sanftgehendes Maultier mitgebracht. Die Hamawands konnten nicht alle reiten, da nicht genug Pferde dazu da waren. Sie wollten sich später die Tiere der zwölf Kundschafter der Dawuhdijehs aneignen, die an uns vorübergekommen und wahrscheinlich von den Hamawands festgenommen worden waren. Als ich fragte, was nun wohl zwischen diesen beiden Stämmen geschehen werde, meinte Jamir, da kein Blut geflossen sei, werde der Schluß eine beiderseitige friedliche Heimkehr sein. Freilich bedauerte er lebhaft, daß er diesen Ritt in Beziehung auf die Verwundung seines Knaben vergeblich unternommen habe; da fiel der Mutter desselben das Mittel ein, von welchem ich gesprochen hatte. Ich teilte ihnen ausführlich mit, in welcher Weise die Sukatan-, Dabahh- und Kuratpflanzen zu behandeln und anzuwenden seien, und das Rezept hat den gewünschten Erfolg gehabt, denn wer in jene Gegend kommt und sich erkundigt, der wird erfahren, was für ein geistig und körperlich kräftiger Bursche der Knabe Khudyr geworden ist.

Von Jamir, seinem Vater, muß ich leider bemerken, daß der Segen Marah Durimehs an ihm vergeblich gewesen ist.

Seine Schicksale sind allbekannt, und so will ich nur kurz sagen, daß er nach ruhmvoller Laufbahn – das Wort Ruhm im kurdischen Sinne gemeint – im Zelte des persischen Prinzen Sill-i-Sultan hinterrücks ermordet und dann von seinem Weibe, das sich an die Spitze der Hamawandikurden stellte, blutig gerächt worden ist. Doch das gehört nicht hierher.

Wir ritten einen Teil desselben Weges, den wir gekommen waren, wieder zurück und nahmen dann von Jamir und seinen Leuten Abschied, worauf wir uns nördlich wendeten und kurz vor Abend auf einer hochgelegenen Waldblöße Lager machten.

Dieser Abend und fast auch die ganze Nacht war dem Gespräche mit Marah Durimeh gewidmet. Sie ließ mich noch tiefer in ihr Herz und in ihr Leben schauen als früher. Sie nahm mich mit empor auf die Zinne ihres Glaubens und ihrer Zuversicht; sie richtete mein Auge noch höher hinauf zum Ziele ihres seelischen Strebens; es waren wichtige, ja es waren heilige Stunden, die ich nie im Leben vergessen werde. Nur über das Eine schwieg sie, was ich doch so gern erfahren hätte. Warum hatte man sie festgenommen und nach dem Kulluk geschafft? Warum hatte sie jetzt noch weiter gebracht werden sollen, »in eine Ferne, wo der Tod und nicht das Leben ist«? Ich wollte nicht zudringlich sein und fragte also nicht direkt; aber so oft ich diesen meinen Wunsch auch nur von weitem andeutete, brach sie in einer Weise ab, welche mir deutlich sagte, daß sie über diesen Punkt nicht sprechen wolle. Endlich aber, als es so spät geworden war, daß die Sterne zu erbleichen begannen, deutete sie nach ihnen aufwärts und sagte:

»So wie die da oben schwindet auch unser Leben hin, doch nur, um für das jenseits aufzugehen. Ich sterbe bald, doch jetzt noch nicht, denn ehe ich von hinnen scheide, muß der Zweck meines Daseins erreicht worden sein. Du wirst ihn kennen lernen, wenn du wieder zu mir kommst. Heute nehme ich nicht wie damals Abschied von dir für das ganze Leben, denn du mußt und du wirst zu mir zurückkehren, weil du mein Sohn, mein Schüler bist, der mich verstehen und dann sterben sehen soll. Ich weiß gar wohl, was du zu wissen begehrst; aber es hat sich gut gefügt, daß du nichts darüber hörtest, denn es frommt dir nicht, es schon jetzt zu erfahren. Dann aber, wenn du wieder bei mir bist, wird dir klarwerden, was dir heute noch verborgen bleibt. Aber eins will ich doch thun! Ich weiß, du reisest nicht in der Weise, wie andere Menschen reisen; darum geschieht dir vieles, was andern nicht geschieht. Du gehst nach Persien und bedarfst des Schutzes; ich sehe das von weitem. Ich habe dir schon damals ein Amulett mitgegeben, und ich denke, daß du es geöffnet hast ––«

»Ja, ich habe es geöffnet und – – –«

»Bitte, sprich nicht darüber, kein Wart!« unterbrach sie mich. »Wenn es dir genützt hat, freut es mich, doch war es nur irdisches Gut, nichts Höheres. Ich werde dir auch heut einen Talisman geben, welcher dir Schutz gewährt in Gefahren, die du als solche, welche ich meine, erkennen wirst, obgleich ich sie dir heut nicht bezeichnen kann. Du hast ein Notizbuch. Öffne eine leere Seite und gieb mir den Stift zum Schreiben!«

Sie schrieb in der Dunkelheit, gab mir dann Buch und Stift zurück und sagte:

»Wenn du dich in einer Not befindest, von welcher du glaubst, daß sie sich auf diese Schrift beziehe, so sprich diese Worte aus oder zeige sie! Sie enthalten ein Geheimnis, welches ich dir jetzt verschweige, weil du es erst später erfahren darfst. Es ist das Geheimnis meines stillen, segensreichen Wirkens, das Geheimnis meines Lebens. – – – Und nun sage ich dir ›Gute Nacht!‹ Es kommt die Ermüdung, der ich gehorchen muß, so lange ich noch hier walle; das jenseits aber kennt weder Müdigkeit noch Schlaf! –«

In Beziehung auf unsern Abschied fasse ich mich kurz. Die Sonne stand schon hoch, als wir uns die Hände reichten; dann zogen sie fort, dem Norden zu. Wir hatten die entgegengesetzte Richtung, eine für uns gefährliche und beschwerliche, weil wir die entlegensten Gegenden wählen mußten, um j a nicht etwa mit Dawuhdijehs zusammenzutreffen. Doch erreichten wir glücklich unser Ziel. – – –

  1. Siehe Karl May, »Durchs wilde Kurdistan«, Kapitel VII
  2. Siehe Karl May, »Durchs wilde Kurdistan«, Seite 482