Fünftes Capitel.


Fünftes Capitel.

Die Stahlstadt.

Ort und Zeit haben gewechselt. Seit fünf Jahren befindet sich der Nachlaß der Begum schon in den Händen der beiden Erben und den Schauplatz bilden jetzt die Vereinigten Staaten, im Süden Oregons, zehn Meilen vom Ufer des Pacifischen Oceans. Hier breiten sich ungeheure Gebiete aus, welche zwischen den beiden Nachbarstaaten noch nicht genau abgegrenzt sind und die eine Art amerikanischer Schweiz bilden.

In der That, eine Schweiz, wenn man nur die Außenseite der Dinge in’s Auge faßt, die steilen Gipfel, welche zum Himmel emporsteigen, die tiefen Thäler, welche die langen Gebirgszüge trennen, den großartigen wilden Anblick, den alle diese Landschaften aus der Vogelschau gewähren würden.

Diese falsche Schweiz betreibt aber nicht wie die europäische die friedlichen Beschäftigungen des Hirten, Fremdenführers oder Gastwirths. Das Ganze ist nichts als eine auf eisen- und kohlenhaltigem Boden aufgethürmte Alpendecoration, eine Kruste von Felsen, Erdreich und hundertjährigen Fichten.

Wenn der in diese Einöden verirrte Wanderer die Stimmen der Natur belauscht, so hört er nicht wie im Oberlande das harmonische Murmeln des Lebens neben dem tiefen Schweigen der Bergwelt. Von fern her vernimmt er die schweren Schläge des Stampfhammers und unter seinen Füßen erstickte Detonationen von Pulver. Es hat den Anschein, als bedecke dieser Boden die Maschinerie eines Theaters und als könne er jeden Augenblick in geheimnißvolle Tiefen versinken.

Längs der Seiten der Berge laufen hier mit Asche und Kohlenstückchen macadamisirte Straßen hin. Unter gelblichem Buschwerk schillern kleine Schlackenhaufen in allen Farben des Prismas wie Basiliskenaugen hervor. Da und dort gähnt der von Regengüssen zerrissene, von Brombeersträuchen halbverdeckte Mund eines verlassenen Schachtes, wie der Krater eines erloschenen Vulkans. Die Luft ist mit Rauch geschwängert und lastet wie ein schwerer Mantel auf der Erde. Keine Vögel flattern lustig dahin, kein Insect schwärmt im Sonnenschein und seit Menschengedenken hat man einen Schmetterling hier nicht gesehen.

Falsche Schweiz! An ihren nördlichen Grenzen, da wo die Ausläufer der Berge sich in der Ebene verlieren, liegt zwischen zwei mageren Hügelketten das Gebiet, welches bis 1871 die »Rothe Wüste« hieß von der Farbe des eisenoxydreichen Bodens und welche jetzt »Stahlfeld« genannt wird.

Denke man sich eine fünf bis sechs Quadratmeilen große Fläche mit sandigem, dann und wann mit Gerölle untermischtem Boden, und so dürr und trostlos, wie etwa das vertrocknete Bett eines Meeres der Vorzeit. Um dieses Land zu erwecken, ihm Leben und Bewegung zu verleihen, hat die Natur so gut wie nichts gethan; dafür aber hat die Menschenhand mit einer Energie ohne Gleichen eingegriffen.

Auf der nackten steinichten Ebene sind binnen fünf Jahren achtzehn Arbeiterdörfer mit kleinen, gleichmäßig grauen, aus Chicago fix und fertig hierher geschafften Häusern emporgewachsen, die eine Schaar kräftiger Arbeiter bergen.

Im Mittelpunkt dieser Ansiedlungen, am Fuße der Coal-Butts, jener unerschöpflichen Steinkohlen-Gebirge, erhebt sich eine ungeheure, düstere, fremdartige Masse, eine Anhäufung regelmäßiger Gebäude mit symmetrisch angeordneten Fenstern, bedeckt mit rothen Dächern und überragt von einem Wald cylindrischer Schornsteine, welche aus tausend Schlünden rußige Wolken aushauchen. Der Himmel erscheint nur wie hinter einem schwarzen Vorhang, den manchmal röthliche Blitze durchzucken. Der Wind trägt von hier ein rollendes Geräusch weiter, das etwa entferntem Donner oder dem Rauschen der hohlen See vergleichbar ist. Alles dieses zusammen ist »Stahlstadt«, die deutsche Stadt, das persönliche Besitzthum des Herrn Schultze, des Ex-Professors der Chemie von Jena, der durch die Millionen der Begum zum größten Eisen-Industriellen und speciell zum berühmtesten Kanonengießer der ganzen Erde geworden ist.

Er fertigt solche von jeder Form und jedem Kaliber, mit glatter oder gezogener Seele, mit beweglicher oder fester Culasse, für Rußland und die Türkei, für Rumänien und Japan, vor Allem aber für Deutschland. Dank der Macht eines enormen Kapitals, erwuchs hier ein Riesen-Etablissement, eine wirkliche Stadt und gleichzeitig Musterwerkstatt wie durch Zauberschlag aus der Erde. 30.000 Arbeiter, meist geborne Deutsche, siedelten sich rings um dieselbe an und bildeten dadurch deren Vorstädte. Binnen wenigen Monaten schon eroberten sich die Erzeugnisse dieser Anstalt durch ihre allseitigen Vorzüge die ausgedehnteste Anerkennung.

Professor Schultze gräbt das Eisenerz und die Steinkohle aus seinen eigenen Bergwerken. Auf Ort und Stelle wandelt er das erstere in Gußstahl um. Auf Ort und Stelle macht er daraus Kanonen.

Was keiner seiner Concurrenten auszuführen vermöchte, das war ihm ein Leichtes. In Frankreich gewinnt man Stahlbarren von 40.000 Kilogramm; in England hat man eine schmiedeeiserne Kanone von hundert Tonnen Gewicht hergestellt; Krupp in Essen liefert Gußstahlblöcke von 500.000 Kilogramm. Herr Schultze kennt keine Grenzen; verlangt von ihm eine Kanone von ganz beliebigem Gewicht und der außergewöhnlichsten Wirkung, er wird sie herstellen, glänzend wie ein Geldstück aus der Münze und in der bedungenen Frist.

Aber – er läßt sich auch dafür bezahlen! Es scheint, als hätten die 250 Millionen von 1871 nur seinen Appetit gereizt.

In der Kanonen-Industrie, wie überhaupt in allen anderen Dingen steht man groß da, wenn man das kann, was die Anderen nicht vermögen. Hier verdient auch hervorgehoben zu werden, nicht nur, daß Herrn Schultze’s Kanonen früher nie dagewesene Dimensionen erreichten, sondern daß sie, wenn durch den Gebrauch bei ihnen von einer Abnützung überhaupt die Rede sein konnte, doch jedenfalls niemals zersprangen. Das Material von Stahlstadt scheint ganz besondere Eigenschaften zu besitzen. Man erzählt sich über diesen Punkt von mancherlei unbekannten Zuschlägen, von chemischen Geheimnissen. Sicher ist jedoch nur, daß hierüber Niemand etwas Verläßliches kennt.

Man weiß nur, daß in Stahlstadt das Fabrikations-Verfahren mit eifersüchtiger Strenge geheim gehalten wird.

In diesem von Wüsten umgebenen, von der Welt durch einen Wall von Bergen abgeschlossenen und fünfhundert Meilen von den nächsten kleinen Ansiedlungen entfernten Winkel Nordamerikas würde man freilich vergeblich eine Spur jener Freiheit suchen, welche die Macht der Vereinigten Staaten begründet hat.

Wer etwa bis unter die Mauern von Stahlstadt kommt, der versuche ja nicht, eines der massiven Thore zu passiren, die von Strecke zu Strecke die Linie von Gräben und Festungswerken unterbrechen. Der Wachposten würde Jeden ohne Widerrede zurückweisen. Nach Stahlstadt gelangt man nur mit Hilfe einer geheimen Formel, eines Feldgeschreies oder zum mindesten einer gestempelten, unterzeichneten und in aller Ordnung ausgestellten Erlaubnißkarte.

Diese Erlaubniß besaß offenbar ein junger Arbeiter, der an einem November-Morgen in der Stahlstadt ankam, denn nach Zurücklassung eines alten, abgenützten ledernen Mantelsacks begab er sich nach dem nächsten Thore von dem Dorfe aus.

Es war ein großer, starkknochiger Mensch, nachlässig gekleidet, im Schnitte der amerikanischen Pioniere. Mit einem lockeren Matrosenkittel, einem wollenen Hemd ohne Kragen und mit Streifen besetzten Beinkleidern, die er in die großen Stiefeln gesteckt hatte. Ueber das Gesicht drückte er einen groben Filzhut tief herein, als wollte er den auf der Haut angesammelten Kohlenstaub verbergen, und schritt elastischen Schrittes dahin, während er ein Liedchen in den braunen Bart pfiff.

An der Pforte angekommen, überreichte der junge Mann dem Wachthabenden ein gedrucktes Blatt und ward sofort eingelassen.

»Ihre Ordre ist ausgestellt an Werkmeister Seligmann, Section K, Straße neun, Atelier siebenhundertdreiundvierzig, sagte der Unterofficier. Sie haben nur dem Wege längs der Umfassung, hier rechter Hand bis zur Marke K zu folgen und sich dort dem Pförtner vorzustellen… Sie kennen die Fabriksordnung?… Sie sind entlassen, wenn Sie eine andere Section als die Ihrige betreten!« fügte er in dem Augenblicke hinzu, als der neue Ankömmling sich schon entfernte.

Der junge Arbeiter folgte der ihm bezeichneten Richtung und schlug den Weg längs der Umwallung ein. Zu seiner Rechten zog sich ein Graben hin und auf dem Erdaufwurf vor demselben wandelten Wachen auf und ab. Zur Linken, zwischen dem breiten Rundwege und einer Menge von Gebäuden, zeigte sich zunächst das Doppelgeleis einer Gürteleisenbahn; dahinter erhob sich noch eine zweite Mauer, ähnlich der äußeren, woraus die Gestalt von Stahlstadt leicht zu erkennen war.

Das Etablissement bildete nämlich einen Kreis, der strahlenförmig in einzelne, wiederum befestigte Sectoren zerfiel, welche von einander gänzlich unabhängig waren, außer daß sie Mauer und Graben gemeinschaftlich umschlossen.

Der junge Arbeiter fand bald am Rande des Weges die Marke K vor einem großartig angelegten Thore, an dessen Wölbung derselbe Buchstabe wiederum in Stein gehauen zu sehen war, und stellte sich hier dem Pförtner vor.

Dieses Mal hatte er es nicht mit einem Soldaten zu thun, sondern sah einen Invaliden mit hölzernem Bein und ordengeschmückter Brust vor sich.

Der Invalide prüfte seinen Schein und versah denselben wiederum mit einem Stempel,

»Alles in Ordnung, sagte er darauf, die neunte Straße linker Hand.«

Der junge Mann passirte die zweite befestigte Linie und befand sich nun in dem Sector K; die an dem Thore auslaufende Straße bildete dessen Achse. Nach beiden Seiten erstreckten sich rechtwinkliche lange Reihen von Baulichkeiten.

Das Getöse der Maschinen wurde nach und nach betäubend. Diese grauen, von hundert Fenstern durchbrochenen Gebäude glichen eher lebenden Ungeheuern als todten Massen. Der neue Ankömmling schien mit einem derartigen Anblick indeß schon vertraut zu sein, denn die Umgebung erregte offenbar seine Aufmerksamkeit nicht sonderlich.

In fünf Minuten befand er sich in der neunten Straße, Atelier siebenhundertdreiundvierzig und gelangte hier zunächst in einem kleinen Comptoir voller Cartons und Verzeichnisse zu dem Werkmeister Seligmann.

Letzterer nahm den mit allen Bescheinigungen versehenen Zettel des jungen Mannes entgegen und sah diesen nachher wie prüfend an.

»Als Puddler engagirt? sagte er. Sie scheinen mir noch ziemlich jung zu sein?

– Das Alter thut wohl nichts zur Sache, erwiderte jener. Ich zähle fast sechsundzwanzig Jahre und habe schon sieben Monate lang gepuddelt. Wenn Sie es wünschen, kann ich Ihnen meine Atteste vorlegen, auf welche hin ich in New-York von dem Chef des Personals angenommen wurde.«

Der junge Mann sprach zwar deutsch ziemlich geläufig, doch mit einem leichten Accent, der das Mißtrauen des Werkführers erweckte.

»Sind Sie etwa ein Elsäßer? fragte er.

– Nein, ich bin Schweizer … aus Schaffhausen. Bitte, hier meine Legitimations-Papiere.«

Er holte dabei ein ledernes Notizbuch aus der Tasche und zeigte dem Werkmeister einen Paß, ein Wanderbuch und andere Certificate.

»Schon gut, Sie sind einmal angenommen und ich habe Ihnen nur Ihren Platz anzuweisen!« erwiderte Seligmann, beruhigt durch jene amtlichen Zeugnisse.

Er schrieb den Namen Johann Schwartz in ein Register, machte auf den Annahmeschein eine zugehörige Bemerkung, lieferte dem jungen Manne eine blaue Karte mit seinem Namen und der Nummer 57.938 aus und fügte hinzu:

»Sie haben sich jeden Morgen um sieben Uhr am Thore K einzustellen, zeigen diese Karte vor, ohne welche Sie auch die äußere Umfassung nicht passiren dürfen, nehmen sich dann von dem Gestell in der Thorstube eine Marke mit Ihrer Matrikelnummer und zeigen mir diese beim Eintreten vor. Um sieben Uhr Abends, wenn Sie wieder weggehen, werfen Sie dieselbe an der Thüre des Ateliers in die Büchse, deren Einwurf nur zu dieser Zeit offen ist.

– Ich weiß schon davon… kann man hier im Etablissement wohnen? fragte Schwartz.

– Nein, ein Unterkommen müssen Sie sich in der Umgebung suchen; dagegen können Sie aus der Arbeiterküche des Ateliers um billigen Preis ein Mittagsmahl erhalten. Ihr Lohn beträgt anfänglich einen Dollar per Tag. Er steigt jedes Vierteljahr um zwanzig Procent… für Vergehen giebt es nur eine Strafe, die Entlassung. Sie wird von mir in erster Instanz ausgesprochen, im Falle des Einspruchs durch den Ingenieur bestätigt oder verworfen. Fangen Sie schon heute an?

– Warum nicht?

– Das wäre nur ein halber Arbeitstag!« bemerkte Seligmann, während er Schwartz durch einen Gang hinführte.

Beide überschritten einen weiten Hof und kamen in eine geräumige Halle, welche ihrer Ausdehnung und der Anordnung ihres Sparrenwerkes nach der Personenhalle eines großen Bahnhofes ähnelte. Als Schwartz dieselbe überblickte, konnte er sich eines Gefühls von Erstaunen doch nicht ganz erwehren.

An jeder Seite dieses langen Raumes erhoben sich zwei Reihen gewaltiger runder Säulen ,die dem Durchmesser und der Höhe nach denen von St. Peter in Rom entsprachen, von der Erde bis zu der verglasten Dachwölbung, über welche sie hinausragten. Das waren die Kamine ebensovieler Puddelöfen, welche an deren Basis aufgemauert standen. Jede Reihe zählte fünfzig solcher Oefen.

An dem einen Ende kamen fortwährend Locomotiven an, welche mit Gußeisenzainen beladene Wagen zur Speisung jener Oefen heranschleppten. Am anderen Ende nahmen leere Wagenzüge das in Stahl verwandelte Gußeisen zur Weiterbeförderung wieder auf.

Durch die Operation des Puddelns wird diese Umwandlung bewirkt. Viele Rotten halbnackter Cyklopen mit langen eisernen Haken verrichteten diese Arbeit.

Die Roheisenzaine wurden in einem mit Schlackenmantel umgebenen Ofen stark erhitzt. Um Schmiedeeisen zu erhalten, würde man diese Gußstücke sogleich umzurühren (d. i. zu puddeln) beginnen, sowie die Masse teigig geworden ist. Um aber Stahl, d. h. jenes Eisencarbonat, das jenem zwar verwandt, aber doch bestimmt verschieden von ihm ist, zu erzielen, wartet man die völlige Schmelzung des Gußeisens ab und treibt die Hitze in den Oefen dann noch höher hinauf. Der Puddler rührt und schaufelt die metallische Masse dann nach allen Seiten um, dreht und wendet sie inmitten der Flamme; wenn sie dann durch Vermischung mit gewissen Zuschlägen einen gewissen Grad von Widerstandsfähigkeit erlangt hat, trennt er sie in vier Klumpen oder »Luppen«, die er einzeln an die Hammergehilfen abgiebt.

Die weitere Bearbeitung erfolgt nun in der Mittellinie des Saales. Vor jedem Ofen befindet sich daselbst nämlich ein entsprechender Stampfhammer, der durch den Dampf eines stehenden, in oben erwähnten Kaminen angebrachten Kessels bewegt und von einem Zängemeister geleitet wird. Vom Kopf bis zu den Füßen mit Stiefeln und Kamaschen von Eisenblech ausgerüstet, geschützt durch ein Schurzfell aus dickem Leder und von einer metallenen Maske verhüllt, erfaßte dieser Kürassier der Industrie die glühende Luppe mit seiner langen Zange und brachte sie unter den Hammer. Bei den wiederholten Schlägen dieser enormen Masse spie jene unter einem Regen glänzender Funken und brennender Eisentheilchen die in ihr enthaltenden Verunreinigungen, wie ein gedrückter Schwamm das Wasser, nach allen Seiten aus.

Darauf gab sie der Zängemeister den Gehilfen zurück, die sie zur Wiedererhitzung nach dem Ofen schleppten, von dem aus sie dann noch einmal mit dem gewaltigen Hammer bearbeitet wurde.

In der ungeheuren Schmiede herrschte eine ewige Bewegung, liefen die endlosen Riemen über ihre Scheiben, dröhnten die dumpfen Schläge, krachte das Feuerwerk der bearbeitenden Eisenmassen und blendete die Weißgluth der zahlreichen Oefen. Inmitten dieses Gedonners und Gebrauses erschien der Mensch nur wie ein Kind gegenüber den leblosen Massen, die er hier beherrschte.

Es sind gar stämmige Burschen, diese Puddlers! So mit allen Kräften das Eisen zu kneten, bei der sengenden ausdörrenden Hitze immer Metallmengen von je einigen Centnern zu behandeln, das Auge stundenlang der brennenden Gluth zuzuwenden, das ist eine gar harte Arbeit, die ihren Mann in eehn Jahren aufreibt.

Schwartz legte, um dem Werkmeister zu zeigen, daß er derselben wohl gewachsen wäre, den Kittel und das Wollenhemd ab, wobei sein athletischer Bau und seine kräftigen Muskeln sichtbar wurden, ergriff eine Rührstange, mit der eben ein Anderer gepuddelt hatte, und setzte diese Arbeit fort.

Da der Werkmeister sah, daß er die Sache kannte, so überließ dieser ihn sich selbst und kehrte nach seinem Bureau zurück.

Der junge Mann strengte sich bis zur Mittagszeit tüchtig an. Ob er aber seine Kräfte dabei zu heftig in Anspruch genommen und es an diesem Morgen versäumt hatte, ein für solche Arbeit unbedingt nöthiges nahrhaftes Frühstück zu sich zu nehmen, jedenfalls bemerkte man, daß er ermüdet und schwach wurde, was dem Rottenführer denn auch bald genug auffiel.

»Sie sind nicht zum Puddler geschaffen, mein Junge, sagte er, und würden besser thun, sich bei Zeiten eine andere Stellung auszubitten, da man Ihnen später einen Wechsel nicht mehr zugestehen würde.«

Schwartz protestirte. Es sei das nur eine vorübergehende Schwäche… er könne puddeln so gut wie ein Anderer!…

Der Rottenführer erstattete trotzdem seinen Bericht und der junge Mann wurde sofort zum Oberingenieur des Werkes berufen.

Dieser musterte seine Papiere auf’s Neue, zuckte die Achseln und fragte mit dem Tone eines Untersuchungsrichters:

»Sind Sie in Brooklyn Puddler gewesen?«

Schwartz senkte verwirrt die Augen nieder.

»Ich sehe wohl, daß ich Ihnen die Wahrheit sagen muß, antwortete er. Ich war nur beim Hochofen angestellt und wollte das Puddeln versuchen, weil das einen höheren Lohn abwirft.

– Da ist doch der Eine wie der Andere! erwiderte achselzuckend der Ingenieur, Sie wollen mit fünfundzwanzig Jahren leisten, was ein Dreißigjähriger nur ausnahmsweise auszuführen im Stande ist!… Sind Sie wenigstens ein guter Gießer?

– Ich war zwei Jahre lang in der ersten Classe.

– Dann thäten Sie besser, in dieser Stellung zu bleiben! Hier werden Sie erst in der dritten Classe wieder anfangen können und dürfen noch von Glück sagen, daß ich Ihnen den Uebertritt in einen anderen Sector erleichtere.«

Der Ingenieur schrieb einige Worte auf einen Passirschein, sendete eine Depesche ab und sagte:

»Geben Sie Ihre Marke zurück, verlassen Sie diese Abtheilung und verfügen Sie sich geraden Weges nach dem Bureau des Oberingenieurs im Sector O. Jener ist von der Sachlage unterrichtet.«

Dieselben Förmlichkeiten, welche Schwartz an dem Thore des Sectors K aufgehalten hatten, empfingen ihn auch am Sector O, Ganz wie am Morgen wurde er hier ausgefragt, aufgenommen und an den Abtheilungs-Werkmeister gewiesen, der ihn in den Gießersaal einführte. Hier vollzog sich die Arbeit schweigsamer, womöglich aber noch methodischer.

»Hier sehen Sie nur die kleinere Abtheilung für den Guß der Zweiundvierzig-Pfünder, sagte der Werkmeister. In den Gießhäusern für Herstellung der großen Kaliber sind nur die Arbeiter erster Classe beschäftigt.«

Diese »kleine« Abtheilung hatte immerhin eine Länge von hundertfünfzig Meter bei fünfundsechzig Meter Breite. Sie diente nach Schwartz‘ Schätzung zur Erhitzung von mindestens sechshundert Schmelztiegeln, welche, je nach ihrer Größe, zu vier, acht oder zwölf in den Oefen an der Seite Platz fanden.

Die zur Aufnahme des geschmolzenen Stahles bestimmten Gießformen standen in der vertieften Längenachse der Galerie in einer Reihe hintereinander. An jeder Seite dieses Mittelgrabens erhob sich, auf einem Schienenstrange verschiebbar, ein mächtiger Krahn, dessen Construction jede mögliche Bewegung gestattete, so daß die gewaltigsten Gewichte an beliebiger Stelle durch denselben gehoben und versetzt werden konnten. Ebenso wie in den Puddelhäusern berührte auch hier je eine Eisenbahn das eine Ende der Galerie, wo dieser die Gußstahlblöcke zugeführt wurden, während eine andere vom entgegengesetzten Ende die aus den Formen hervorgegangenen Kanonen hinwegschaffte.

Neben jeder Gußform stand ein Aufseher mit einer Eisenstange, der die Temperatur des flüssigen Stahles in den Schmelztiegeln zu überwachen hatte.

Das ganze Verfahren, wie es Schwartz schon auch von anderen Orten her kannte, war hier zu höchster Vollkommenheit entwickelt.

Sollte zu einem Gusse verschritten werden, so benachrichtigte ein Glockensignal alle Betheiligten. Mit gleichmäßigen, strengbemessenen Schritten begaben sich die Arbeiter je zwei und zwei von gleicher Größe, eine Eisenstange wagrecht auf den Schultern tragend, nach dem Ofen.

Ein Rottenführer mit einer Schrillpfeife und die Secundenuhr in der Hand, stand in der Nähe der Gießform, welche möglichst in gleicher Entfernung von allen zu ihrer Füllung nöthigen Oefen angebracht war. Von jeder Seite derselben liefen Rinnen aus feuerbeständigem Lehm und mit Eisenblech überdeckt, in sanfter Neigung bis zu einer, direct über der Gußform befindlichen, trichterförmigen Vertiefung. Der Rottenführer pfiff. Sofort ward ein Schmelztiegel mittelst einer Zange aus dem Feuer gehoben und an die Eisenstange des dem Ofen zunächst stehenden Trägerpaares gehangen. Wieder ertönte die Pfeife in verschiedener Weise und die beiden Männer entleerten den Inhalt ihres Tiegels in die entsprechende Rinne. Dann warfen sie das noch hellglühende Gefäß in eine große Kufe.

Ohne Unterbrechung und in genau eingehaltenen Zeiträumen, um die völlige Gleichmäßigkeit des Gußstückes zu sichern, verfuhren alle Nachfolgenden in ganz derselben Weise.

Die hierbei beobachtete Präcision war eine so außerordentliche, daß der letzte Schmelztiegel genau auf das Zehntel der vorher berechneten Secunde ausgeleert und in die Kufe geworfen war. Der ganze Vorgang glich weit mehr der Wirkung eines blinden Mechanismus, als der zusammenfallenden Willensäußerung von hundert lebenden Wesen. Eine unverletzliche Disciplin, die Macht der Gewohnheit und der Einfluß, den eine tactmäßige Musik auf Jedermann ausübt, brachten dieses Wunder zu Stande.

Schwartz schien mit diesem Verfahren vertraut zu sein. Er wurde einem anderen Arbeiter von gleicher Größe zugestellt, probeweise bei einem minder bedeutenden Gußstücke beschäftigt und sofort als erfahrener, gewandter Gießer erkannt. Sein Rottenführer versicherte ihm schon am ersten Abend, daß er schnell vorwärts kommen werde.

Sobald er nach Schluß der Arbeit den Sector 0 und die äußere Umfassung der Fabrik verlassen, begab er sich nach dem Gasthause, seinen Mantelsack zu holen. Auf einem der Außenwege gelangte er dann bald nach einer schon am Morgen bemerkten Gruppe von Häusern, wo er bei einer braven Frau, welche »Kostgänger aufnahm«, geeignetes Unterkommen fand.

Nach dem Abendessen sah man den jungen Arbeiter nicht, wie es die Uebrigen zu thun pflegten, nach einer Brauerei wandern. Er schloß sich vielmehr in sein Zimmerchen ein und brachte aus der Tasche ein offenbar aus der Puddelhütte heimlich mitgenommenes Stückchen Stahl und ebenso eine kleine Menge feuerfesten Thones aus dem Sector O, welche er beim Scheine einer rußenden Lampe aufmerksam betrachtete.

Dann entnahm er dem Mantelsack ein großes, schwach eingebundenes Heft, durchblätterte dessen mit Bemerkungen, Formeln und Rechnungen bedeckte Blätter und schrieb das Nachfolgende in gutem Französisch, aus Vorsicht aber in einer ihm allein bekannten Geheimschrift nieder:

»10. November. – Stahlstadt. – Die Puddel-Methode hier ist ganz die gewöhnliche, nur bedient man sich, wohl zu bemerken, der von Chernoff empfohlenen und verhältnismäßig ziemlich niedrigen Temperaturen, sowohl bei der ersten Erhitzung als bei dem zweiten Feuer. Das Gießen betreibt man nach dem Vorgange Krupp’s in Essen, hält dabei aber auf eine wahrhaft wunderbare Gleichmäßigkeit der Ausführung. Diese Sicherheit in jedem Manöver muß man als die größte Starke der Deutschen anerkennen. Sie rührt offenbar von dem der ganzen germanischen Race angebornen musikalischen Gehör her. Die Engländer werden nie im Stande sein, eine solche Vollkommenheit zu erreichen, dazu fehlt ihnen das Ohr, wenn nicht gar der Geist der Disciplin. Die Franzosen, welche sich ja gern die ersten Tänzer der Welt nennen, müßten sich leicht in dieser Weise ausbilden können. Bisher habe ich also nichts Geheimnißvolles gesehen, dem man die ungeheuren Erfolge dieser Fabrikationsweise zuschreiben könnte. Die von mir beim Wandern durch das Gebirge gesammelten Erzmuster entsprechen unseren guten Eisensorten vollständig. Die Steinkohlen sind gewiß sehr schön und eignen sich für metallurgische Zwecke ganz vorzüglich, stehen aber sicher nicht einzig da in ihrer Art. Ohne Zweifel basirt Schultze’s Herstellungsmethode darauf, daß er nur Material der besten Qualität, frei von jeder fremden Beimischung, verwendet und auf die vollkommene Reinheit desselben achtet. Das Alles ist aber ohne Schwierigkeit nachzuahmen. Es gilt, um im Besitz aller Elemente des Problems zu sein, nur noch die Zusammensetzung des feuerbeständigen Thones zu untersuchen, der zu den Schmelztiegeln und Gußrinnen verwendet wird. Ist das erreicht und sind unsere Gießer erst in ähnlicher Weise disciplinirt, so sehe ich nicht ein, warum wir nicht dasselbe leisten sollten, was hier vollbracht wird. Bisher sah ich freilich nur zwei Sectoren und es giebt deren vierundzwanzig, ohne die Centralstelle, die Abtheilung für Pläne und Modelle, sozusagen das geheime Cabinet, zu rechnen. Worüber mag man dort wohl brüten? Was mag unseren Freunden bevorstehen, wenn ich an die Drohungen denke, die Herr Schultze bei Antritt seiner Erbschaft ausstieß?«

Erschöpft von den Anstrengungen des Tages, entkleidete sich Schwartz und schlüpfte in das kleine, so unbequeme Bett, wie es eben nur ein deutsches Bett sein kann – und das will viel sagen – zündete sich noch eine Pfeife an und begann in einem alten Buche zu lesen. Offenbar schwärmten seine Gedanken aber irgendwo anders umher. Zwischen seinen Lippen drängten sich unaufhörlich die leichten, duftenden Wölkchen hervor, als sagten sie wieder:

»Bah! Bah! Bah! Bah!…«

Am Ende legte er das Buch gänzlich weg und versank in tiefes Sinnen, als wäre er mit der Lösung eines schwierigen Problems beschäftigt.

»O, rief er plötzlich, und wenn es mit dem Teufel selbst zuginge, ich werde hinter Herrn Schultze’s Geheimniß kommen und zu erfahren wissen, was er gegen France-Ville im Schilde führt!«

Den Namen des Doctor Sarrasin auf den Lippen, schlummerte Schwartz ein, im Traume aber veränderte sich dieser zu dem Namen der kleinen Tochter des Arztes. Ungeschwächt bewahrte er die Erinnerung an das liebliche Mädchen, zumal da Jeanne, seit er sie verlassen, nun zur Jungfrau aufgeblüht sein mußte. Diese Erscheinung erklärt sich leicht durch die bekannten Gesetze der Ideenassociation: Der Gedanke an Doctor Sarrasin legte ja den an dessen Tochter ziemlich nahe und als Schwartz oder vielmehr Marcel Bruckmann erwachte und noch immer Jeannes Namen im Gedächtniß hatte, erstaunte er darüber nicht im mindesten, sondern erkannte nur eine Bestätigung der ausgezeichneten psychologischen Grundwahrheiten Stuart Mill’s.

Sechstes Capitel.


Sechstes Capitel.

Der Albrechts-Schacht.

Madame Bauer, die brave Frau, welche Marcel Bruckmann bei sich aufgenommen hatte, war eine Schweizerin von Geburt und die Witwe eines Bergmannes, der vor etwa vier Jahren durch einen jener Unfälle getödtet wurde, die dem Leben des Kohlengräbers den Charakter eines fortwährenden Kampfes verleihen. Das Etablissement gewährte ihr eine kleine jährliche Pension von dreißig Dollars, neben der sie ihr Leben noch durch den geringen Ertrag eines möblirt vermietheten Zimmers und den Lohn ihres Sohnes kärglich fristete, den dieser jeden Sonntag heimbrachte.

Obgleich erst dreizehn Jahre alt, war Karl doch schon in einer Kohlengrube angestellt, wo er beim Passiren der Kohlenwagen eine jener Luftthüren zu öffnen und zu schließen hatte, die zur Ventilation der Schächte unumgänglich nöthig sind, weil man durch dieselben dem Luftstrome eine beliebige Richtung anzuweisen vermag. Das von seiner Mutter ermiethete Häuschen lag zu entfernt vom Albrechts-Schacht, als daß er jeden Abend hätte dahin gehen können, deshalb hatte man ihm auch noch eine leichte nächtliche Beschäftigung in der Grube angewiesen, welche darin bestand, daß er sechs Pferde in ihrem unterirdischen Stalle zu bewachen und zu füttern hatte, während der Stallknecht nach Hause gegangen war.

Karls Leben verlief also fast ganz und gar fünfhundert Meter unterhalb der Erdoberfläche. Tagsüber stand er bei seiner Luftthüre auf Wache, des Nachts schlief er auf dem Stroh neben seinen Pferden. Nur Sonntags Morgens kehrte er einmal an das Licht zurück und konnte sich wenige Stunden an der Sonne, dem blauen Himmel und dem Lächeln der Mutter erfreuen.

Es liegt auf der Hand, daß er nach einer solchen Woche, wo er aus dem Schachte heraufkam, nicht gerade einem »schmucken jungen Manne« glich. Er ähnelte weit mehr einem Berggeiste der Zauberstücke, einem Ofenkehrer oder einem Papua-Neger. Frau Bauer verwendete dann viel Zeit darauf, ihn unter Verschwendung von warmem Wasser und von Seife erst wieder menschlich zu gestalten. Hierauf legte er den Sonntagsstaat aus grobem grünen Tuche an, ein Ueberbleibsel der väterlichen Nachlassenschaft, den die Mutter aus dem großen Weidenholzschranke hervorholte, um dann ihren Knaben, den sie nun für den schönsten der ganzen Welt hielt, bis zum Abend mit selbstzufriedener Zärtlichkeit zu bewundern.

Von seiner Kohlenstaubschichte befreit, war Karl eben nicht häßlicher als irgend ein Anderer. Seine blonden Seidenhaare und die blauen sanften Augen paßten recht gut zu dem auffallend weißen Teint, doch war sein Körper für das Alter von dreizehn Jahren zu klein. Das sonnenlose Leben machte ihn ebenso blutarm, wie eine im Keller wachsende Pflanze, und wahrscheinlich hätte Doctor Sarrasin’s Blutkügelchen-Zähler bei dem jungen Bergmanne eine viel zu geringe Menge dieser Organismusmünze ergeben.

Im Uebrigen erschien das Kind schweigsam, ruhig, sogar phlegmatisch, ließ aber doch ein wenig von dem Stolze durchblicken, den das Gefühl fortwährender Gefahr, der Gewohnheit regelmäßiger Arbeit und der Selbstbefriedigung über die besiegten Schwierigkeiten so leicht jedem Bergmanne verleiht.

Sein größtes Glück fand er darin, neben der Mutter an dem großen viereckigen Tische zu sitzen, der die Mitte der niedrigen Stube einnahm, und auf einem Carton eine Menge abscheulicher Insecten zu befestigen, die er aus den Eingeweiden der Erde mit heraufgebracht hatte. Die Wärme und gleichmäßige Atmosphäre der Minen erzeugen eine den Naturforschern nur wenig bekannte Fauna, ebenso wie die feuchten Steinkohlenwände eine seltsame Flora von Moosen, unbeschriebenen Pilzen und amorphen Gebilden aufweisen. Der Ingenieur Maulesmülhe, ein Liebhaber der Entomologie, hatte das bald entdeckt und Karl für jede neue Species, von der er ihm, wenn auch nur ein Exemplar verschaffte, einen halben Laubthaler versprochen. Diese goldene Aussicht verlockte den Knaben zuerst dazu, alle Winkel seiner Grube zu durchsuchen, und machte am Ende aus ihm selbst einen Sammler, so daß er nun auch Insecten zum eigenen Vergnügen einfing.

Dabei beschränkte er seine Liebhaberei nicht allein auf Spinnen und Asseln. Er unterhielt in seiner Einsamkeit auch sehr freundschaftliche Beziehungen mit zwei Fledermäusen und einer Feldratte. Seinen Reden nach waren diese drei Thiere die gescheitesten und hübschesten der Erde, jedenfalls verständiger als seine Pferde mit den langen weichen Haaren und der prächtigen Mähne, von denen Karl übrigens nur mit Bewunderung sprach.

Da war vorzüglich Blair-Athol, der Erste des Stalles, ein alter Philosoph, der vor sechs Jahren fünfhundert Meter unter die Oberfläche des Meeres hinabgekommen war und niemals das Licht des Tages wiedergesehen hatte. Jetzt litt das Thier fast an völliger Blindheit. Wie genau kannte es aber sein unterirdisches Terrain! Wie wußte es sich nach rechts und links zu drehen, wenn es seinen Wagen dahinzog, ohne sich je um einen Schritt zu verirren! Wie sicher hielt es vor den Luftthüren in richtiger Entfernung an, um den nöthigen Raum zur Oeffnung derselben frei zu lassen! Wie freundlich wieherte es Morgens und Abends zur bestimmten Minute, wenn ihm sein wohlverdientes Futter gereicht wurde! Und es war so gut, so anhänglich und zärtlich!

»Ich versichere Dir, Mutter, daß es mir wirklich einen Kuß giebt, indem es mit dem Backen an meine Wange streicht, wenn ich ihm mit dem Kopfe nahe komme, sagte Karl. Und Du kannst Dir vorstellen, wie bequem es ist, daß Blair-Athol die Uhr so genau im Kopfe hat. Ohne ihn würden wir die ganze Woche über nicht wissen, ob es Nacht oder Tag, Abend oder Morgen ist!«

So plauderte das Kind und Frau Bauer lauschte ihm mit Wohlgefallen. Sie liebte Blair-Athol schon deshalb, weil ihm ihr Sohn gewogen war, und ermangelte bei Gelegenheit nicht, ihm das auch durch ein mitgesendetes Stückchen Zucker zu beweisen. Was hätte sie nicht darum gegeben, diesen alten treuen Diener, den ihr Mann schon gekannt hatte, einmal zu sehen und gleichzeitig die Stelle zu besuchen, wo der Leichnam des armen Bauer nach der Explosion schwarz wie Tinte und verkohlt von den schlagenden Wettern aufgefunden worden war… Frauen hatten aber keinen Zutritt zur Grube und sie mußte sich also mit den oft wiederholten Beschreibungen ihres Sohnes begnügen.

Ach, sie kannte sie sehr gut, diese Grube, diesen schwarzen Schlund, aus dem ihr Mann nicht wieder zurückgekehrt war! Wie oft hatte sie an der gähnenden Mündung von achtzehn Fuß Durchmesser gewartet und war längs der Schachtmauer dem doppelten Gestelle aus Eichenholz gefolgt, in dem die Butten an ihrem über die stählernen Blockrollen gelegten Kabel auf und ab liefen oder hatte sie an der äußeren Umplankung das Maschinenhaus, das Stübchen des Stemplers und alles Andere besucht, was sich sonst hier noch vorfand! Wie oft wärmte sie sich früher an dem unausgesetzt glühenden Feuer des ungeheuren Eisenkorbes, an dem die Bergleute, wenn sie aus dem Abgrunde emporsteigen, ihre Kleidung trockneten und die ungeduldigen Raucher ihre Pfeifen anzündeten! Wie vertraut war sie mit dem Lärmen und der Thätigkeit dieser höllischen Pforte! Die Schaffner, welche die mit Kohlen beladenen Wagen in Empfang nahmen, die Gestängarbeiter, die Ausleser und Wäscher, die Mechaniker und Heizer, sie hatte Alle wiederholt gesehen und kennen gelernt.

Niemals erblickte ihr Auge aber, und doch sah sie es so lebhaft vor sich, wenn auch nur durch das Auge des Herzens, was da in der Tiefe vorging, wenn die Butte mit ihrer Menschenlast, darunter früher ihr Mann und jetzt ihr einziges Kind, im schwarzen Abgrund verschwunden war.

Sie hörte die Stimme und das Gelächter der Leute, wie es allmälig schwächer wurde und endlich ganz verstummte. Sie folgte in Gedanken diesem Käfige, der sich in den engen lothrechten Schacht hinabsenkte – fünf- bis sechshundert Meter, viermal so tief wie die Höhe der größten Pyramide – sie sah ihn dann endlich am Ziele ankommen und die Männer sich beeilen, den Erdboden zu betreten.

Dann zerstreuten sich diese in der unterirdischen Stadt nach allen Seiten; die Karrenläufer suchten ihre Wagen auf; die Häuer mit der Eisenhaue, von der sie ihren Namen haben, wanderten nach dem Kohlenflötze, das man eben in Arbeit hatte; die Ausfüller sorgten dafür, die leeren Gänge, aus denen die mineralischen Schätze geraubt waren, wieder mit festen Massen auszusetzen; die Zimmerer errichteten die Gerüste zur Unterstützung der nicht ausgemauerten Stollen; die Geleisarbeiter besserten an den Wegen aus oder legten Schienen; die Maurer wölbten Gange…

Eine Centralgalerie geht von dem Schachte aus und endet wie ein breiter Fahrweg an einem anderen, drei bis vier Kilometer entfernten Schachte. Von dieser strahlen rechtwinklig Seitenstollen aus und an diesen wieder parallel mit der ersten die Gänge dritter Ordnung. Zwischen diesen Wegen erheben sich Mauern oder Pfeiler, entweder aus Kohle oder aus Felsgestein, Alles ist regelmäßig, viereckig solid und – schwarz!…

Und in diesem Labyrinth von Straßen gleicher Länge und Breite arbeitete eine ganze Armee halbnackter Bergleute, plaudernd bei dem Schimmer ihrer Sicherheitslampen.

Das war das Bild, welches Frau Bauer sich so häufig vor Augen führte, wenn sie allein und gedankenvoll am Kamine saß.

Unter diesen sich kreuzenden Stollen allen kannte sie vorzüglich einen genau, jedenfalls besser als alle Anderen, den nämlich, dessen Thür ihr kleiner Karl den Tag über öffnete und wieder verschloß. Wenn dann der Abend kam, stieg die Tagesschicht wieder empor, um von der Nachtschicht abgelöst zu werden. Ihr Sohn aber nahm nicht mit in der Kufe Platz. Er begab sich nach dem Stalle, zu seinem Liebling Blair-Athol, besorgte diesem das nöthige Futter an Hafer und seine Provision an Heu; dann verzehrte er selbst sein kaltes Abendbrot, das ihm von oben her zugeschickt wurde, spielte ein wenig mit der großen Ratte, die unbeweglich ihm zu Füßen saß, oder mit den beiden Fledermäusen, welche schwerfällig um sein Haupt flatterten, und schlummerte endlich auf dem ärmlichen Strohlager friedlich ein.

Wie genau wußte Frau Bauer das Alles und wie verstand sie jedes Wort von ihrem Karl, noch bevor er es ganz ausgesprochen hatte.

»Weißt Du, Mutter, was mir gestern der Herr Ingenieur Maulesmülhe sagte? Er sagte, wenn ich auf einige arithmetische Fragen, die er in den nächsten Tagen an mich richten würde, gute Antworten gäbe, so wolle er mich verwenden, die Maßkette zu halten, wenn er mit seiner Boussole Grubenpläne aufnähme. Es scheint, man will einen Stollen nach dem Weberschacht durchschlagen und es wird Mühe kosten, diesen genau zu treffen.

– Wirklich, rief Frau Bauer hocherfreut, der Herr Ingenieur Maulesmülhe hat das gesagt!«

Sie stellte sich schon vor, wie ihr Knabe in den Stollen die Kette hielt, während der Ingenieur mit dem Notizbuche in der Hand die Maße eintrug und das Auge auf die Boussole gerichtet, den Winkel für den Durchschlag bestimmte.

»Leider, fuhr Karl fort, weiß ich Niemand, der mir erklären könnte, was ich von der Arithmetik noch nicht kenne, und ich fürchte, jene Fragen schlecht zu beantworten.«

Jetzt mischte sich Marcel, der am Kamin schweigend sein Pfeifchen rauchte, wozu ihn seine Eigenschaft als Pensionär des Hauses berechtigte, in das Gespräch und sagte zu dem Kinde:

»Wenn Du mir mittheilen willst, was Dir fehlt, so könnte ich Dir wohl aus der Noth helfen.

– Sie? bemerkte Frau Bauer etwas ungläubig.

– Gewiß, erwiderte Marcel. Glauben Sie denn, ich lernte gar nichts bei dem Unterricht, den ich Abends nach dem Essen besuche? Der Lehrer ist mit mir recht zufrieden und meint, ich könnte ihm vielleicht zur Aushilfe und zum Wiederholen dienen.«

Marcel holte darauf aus seinem Zimmer ein noch leeres Schreibheft, setzte sich neben den kleinen Knaben, unterrichtete sich über die Lücken in dessen Kenntnissen und setzte ihm Alles mit so großer Klarheit auseinander, daß dieser darin nicht die geringsten Schwierigkeiten fand.

Von diesem Tage ab erwies Frau Bauer ihrem Pensionär offenbar eine größere Achtung und Marcel faßte mehr und mehr Zuneigung zu seinem kleinen Kameraden.

Er selbst erwies sich übrigens als musterhafter Arbeiter und wurde deshalb bald in die zweite und nach kurzer Zeit zur ersten Classe versetzt. Jeden Morgen Punkt sieben Uhr fand er sich am Thore O ein. Alle Abende begab er sich nach dem Essen zum Unterricht, den der Ingenieur Trubner ertheilte. Geometrie, Algebra, Figuren- und Maschinenzeichnen, Alles erfaßte er mit gleichem Eifer und machte darin so schnelle Fortschritte, daß der Lehrer darüber erstaunte. Nach zweimonatlichem Verweilen in dem Schultze’schen Werke war der junge Arbeiter schon als einer der hellsten Köpfe nicht nur im Sector O, sondern in ganz Stahlstadt vorgemerkt. Der am Schlusse des ersten Vierteljahres von seinem unmittelbaren Vorgesetzten erstattete Bericht über ihn lautete wörtlich:

»Schwartz (Johann), 26 Jahr, Gießer erster Classe. Ich fühle mich verpflichtet, den jungen Mann der Centralleitung als außergewöhnlich befähigt zu empfehlen ebenso wegen seiner theoretischen Kenntnisse wie wegen hervorragender praktischer Geschicklichkeit und besonderer Erfindungsgabe.«

Nichtsdestoweniger bedurfte es einer ganz außerordentlichen Veranlassung, um Marcel die Aufmerksamkeit seiner Chefs zu sichern. Diese Gelegenheit bot sich denn auch, wie dies ja früher oder später immer zu geschehen pflegt, hier leider unter sehr betrübenden Umständen.

Marcel bemerkte eines Sonntags Morgens mit Verwunderung, seinen kleinen Freund Karl noch nicht gesehen zu haben, obwohl schon zehn Uhr vorüber war, und er ging deshalb zu Frau Bauer hinab, um zu fragen, ob sie den Grund dieser Verzögerung kenne. Er fand Letztere in großer Unruhe. Schon seit zwei Stunden hätte Karl zu Hause sein müssen. Da er ihre Sorge kannte, erbot er sich, Erkundigungen einzuziehen, und begab sich also nach dem Albrechts-Schacht.

Unterwegs begegnete er mehreren Bergleuten, welche er fragte, ob sie den Knaben gesehen hätten. Alle verneinten das, wechselten mit ihm das gewohnte: »Glück auf!« und Marcel setzte seinen Weg fort.

So kam er gegen elf Uhr nach dem Albrechts-Schachte selbst. Hier herrschte jetzt vollkommene Ruhe im Gegensatze zu dem geschäftigen Treiben der Werktage. Höchstens plauderte eine junge »Modistin« – so nannten die Bergleute scherzweise die Kohlensortirerinnen – mit dem Stempler, den seine Pflicht selbst an Feiertagen an der Mündung des Schachtes zurückhielt.

»Haben Sie den kleinen Karl Bauer, Nummer 41.902 herauskommen sehen?« fragte Marcel den Beamten.

Der Mann prüfte seine Liste und schüttelte den Kopf.

»Hat das Werk noch einen anderen Ausgang?

– Nein, das hier ist der einzige, antwortete der Stempler. Der Durchschlag nach Norden ist noch nicht vollendet.

– So ist der Junge noch unten?

– Jedenfalls, und das ist eigenthümlich, denn des Sonntags haben nur die fünf Extrawächter in der Grube zu bleiben.

– Darf ich hinabsteigen, um nachzusehen?a name=“page86″ title=“Mallorca/JWE“ id=“page86″/>

–Nicht ohne Erlaubniß.

– Es könnte sich ja ein Unfall ereignet haben, sagte da die Modistin.

– Des Sonntags ist kein Unfall möglich.

– Ich muß aber wissen, was mit dem Kinde geschehen ist, fuhr Marcel fort.

– Wenden Sie sich an den Maschinenmeister, dort im Bureau… wenn er überhaupt da ist…«

In vollem Sonntagsstaate mit einem Hemdkragen so steif wie Weißblech, hatte sich der Maschinenmeister bei Abschluß seiner Rechnungen zum Glück etwas verspätet. Als einsichtiger, gefühlvoller Mann konnte er der Sorge Marcels gegenüber nicht theilnahmslos bleiben.

»Wir wollen nachsehen, was geschehen ist!« sagte er.

Der diensthabende Mechaniker erhielt Befehl, sich fertig zu halten, und jener schickte sich an, mit dem jungen Arbeiter in die Grube anzufahren.

»Haben Sie keine Galibert’schen Apparate? fragte der Letztere. Sie könnten uns von Nutzen sein.

– Richtig, man weiß nie, was da in der Tiefe passirt.«

Der Maschinenmeister nahm aus einem Schranke zwei Gefäße, ähnlich den Zinkbehältern, wie sie die »Coco«-Verkäufer in Paris auf dem Rücken tragen. Das waren zwei Metallkisten mit comprimirter Luft, welche mit den Lippen durch zwei Kautschukrohre mit Hornmundstück, das man zwischen die Zähne nimmt, in Verbindung gesetzt werden. Man füllt sie mit Hilfe besonderer Gebläse und sie sind so eingerichtet, daß sie sich vollständig entleeren können. Schließt man nun die Nase durch eine hölzerne Klammer, so kann man, versorgt mit diesem Vorrath an Luft, straflos in einer unathembaren Atmosphäre verweilen.

Nach Beendigung dieser Vorbereitungen stiegen der Maschinenmeister und Marcel in die Butte ein, das Tau glitt über die Rollen und die Hinabfahrt begann. Beleuchtet von zwei kleinen elektrischen Lampen, plauderten Beide, während sie in die Eingeweide der Erde versanken.

»Für einen Neuling in dieser Fahrt sieht man Ihnen eben nicht viel Furcht an, sagte der Meister. Ich habe genug Leute getroffen, die sich entweder gar nicht dazu entschließen konnten, mit anzufahren, oder die sich wenigstens wie Kaninchen in die Ecke des Fahrstuhles verkrochen.

– Wäre das möglich? antwortete Marcel. Mir thut es ganz und gar nichts. Freilich bin ich schon zwei- oder dreimal in Kohlengruben mit angefahren.«

Man langte bald im Grunde des Schachtes an. Ein Wächter, der sich an der Schachtsohle befand, hatte den kleinen Karl nicht bemerkt.

Im Stalle standen die Pferde allein und schienen sich von ganzem Herzen zu langweilen. Das mußte man wenigstens aus dem freudigen Wiehern schließen, mit dem Blair Athol die drei Ankömmlinge bewillkommte. An einem Nagel hing hier Karls Leinentasche und in einer Ecke, neben einer Striegel, sein Arithmetikheft.

Marcel bemerkte sofort, daß die Laterne nicht an ihrer Stelle war ein weiterer Beweis, daß das Kind in der Grube sein müsse.

»Er müßte irgendwo verschüttet worden sein, sagte der Maschinenmeister, doch das ist kaum anzunehmen. Was hätte er auch in den Strecken zu thun, wo jetzt Kohle gebrochen wird, heute an einem Sonntage?

– O, vielleicht suchte er nach Insecten, bevor er auffahren wollte, erwiderte der Wächter, denn dafür hatte er eine wahre Leidenschaft.«

Der Stallknecht, welcher inzwischen hinzukam, erklärte sich auch für diese Annahme. Er hatte Karl schon vor sieben Uhr mit der Laterne weggehen sehen.

Es blieb nun nichts übrig, als regelrechte Nachsuchungen anzustellen. Mittelst der Pfeife wurden auch die anderen Wächter herbeigerufen und Jeder erhielt den Auftrag, einen gewissen Theil des großen Bergwerkes zu durchsuchen.

Binnen zwei Stunden hatte man alle Theile der Kohlengrube durchwandert und die sieben Menschen fanden sich wieder bei der Schachtsohle zusammen. An keiner Stelle hatte sich etwas von einem Einsturz, aber auch nicht das Geringste von Karl gezeigt. Der Maschinenmeister, welcher wahrscheinlich etwas Hunger spürte, neigte zu der Ansicht, das Kind könne vorübergekommm sein, ohne daß er es bemerkt hätte, und werde sich nun ruhig zu Hause befinden. Marcel aber, der vom Gegentheile überzeugt war, bestand darauf, die Nachforschungen auf’s Neue zu beginnen,

»Was bedeutet das? fragte er, auf eine Stelle in dem Grubenplane zeigend, welche nur durch Punkte angedeutet war, wie die Geographen die terrae ignotae jenseits der arktischen Länder zu bezeichnen pflegen.

– Das ist die vorläufig verlassene Zone, antwortete der Meister; die Flötze waren hier nicht mehr bauwürdig.

– Es giebt eine verlassene Zone?… O, da müssen wir daselbst suchen!« erklärte Marcel und das mit einer Bestimmtheit, der sich die Anderen sofort unterwarfen.

Bald erreichten sie nun die Mündung der Strecken, welche, nach ihren feuchten schimmligen Wänden zu urtheilen, schon mehrere Jahre lang aufgegeben sein mußten. Sie folgten denselben schon eine Zeit lang, ohne etwas Verdächtiges zu entdecken, als Marcel plötzlich stehen blieb.

»Fühlen Sie nicht eine gewisse Schwere in den Gliedern und etwas Kopfschmerz?

– Ja, wahrhaftig! bestätigten seine Begleiter.

– Mir erscheint es, fuhr Marcel fort, als wäre ich manchmal halb betäubt. Hier ist ohne Zweifel zu viel Kohlensäure in der Luft!… Gestatten Sie, daß ich ein Streichhölzchen anbrenne? fragte er den Meister,

– Nach Belieben!« antwortete dieser.

Marcel nahm ein kleines Etui aus der Tasche, entzündete ein Hölzchen und bückte sich, um die Flamme dem Erdboden zu nähern. Diese erlosch sofort.

»Ich wußte es, sagte er. Das Gas hält sich wegen seiner größeren Schwere unten auf dem Boden… Wir dürfen hier nicht länger verweilen… ich meine Diejenigen, welche keine Galibert’schen Apparate haben. Wenn es Ihnen recht ist, Meister, setzen wir die Nachsuchungen allein fort.«

Marcel und der Maschinenmeister nahmen nun Jeder das Mundstück ihres Luftbehälters zwischen die Zähne, klemmten sich die Nasenöffnung zu und drangen dann tiefer in die alten Stollen ein.

Nach einer Viertelstunde mußten sie einmal umkehren, um den Luftvorrath zu erneuern, dann setzten sie den Weg fort.

Bei der dritten Wiederholung endlich krönte der Erfolg ihre Mühe. In dunkler Ferne erglühte der bläuliche Schein einer elektrischen Lampe durch den dunklen Schatten. Sie eilten hinzu…

An der feuchten Wand lag der arme kleine Karl schon kalt und steif. Seine blauen Lippen, das dunkel geröthete Gesicht und seine Lage selbst sagten deutlich genug, was hier vorgegangen war,

Um etwas von der Erde aufzuheben, hatte er sich gebückt und war buchstäblich in der Kohlensäureschicht ertrunken.

Alle Wiederlebungsversuche blieben fruchtlos. Der Tod mochte schon vor vier oder fünf Stunden eingetreten sein. Am nächsten Abend zählte der Friedhof von Stahlstadt ein kleines Grab mehr und die arme Frau Bauer stand nicht nur von ihrem Manne, sondern auch von dem einzigen Kinde verlassen in der Welt da.

Siebentes Capitel.


Siebentes Capitel.

Die Central-Anlagen.

Ein glänzender Bericht des Doctor Echternach, Oberarzt der Section des Albrechts-Schachtes, hatte dargelegt, daß das Ableben Karl Bauer’s, Nr. 41.902, dreizehn Jahre alt, »Fallthürwärter« der Galerie 228, durch Asphyxie in Folge Aufnahme einer größeren Menge von Kohlensäure in die Athmungsorgane eingetreten sei.

Ein nicht minder glänzender Bericht des Ingenieur Maulesmülhe bewies die Notwendigkeit, das Ventilations-System bis zur Zone B des Planes XIV auszudehnen, deren Stollen schädliche Gasarten durch eine Art langsamer, unmerklicher Destillation ausströmten. Endlich erwähnte eine Anmerkung desselben Beamten gegenüber der obersten Geschäftsleitung die aufopferungsvollen Bemühungen des Werkführers Rayer und des Gießers erster Classe, Johann Schwartz.

Als der junge Arbeiter sich acht bis zehn Tage später in der Thorwächterstube seine Marke holen wollte, fand er an dem Nagel gleichzeitig eine an ihn gerichtete Vorladung hängen.

»Genannter Schwartz hat sich heute um zehn Uhr im Bureau des General-Directors, Centralgebäude, Thor und Straße A einzufinden.

– Endlich! dachte Marcel. Sie haben sich Zeit genommen, aber sie kommen doch dazu.«

Durch Plaudereien mit Kameraden und durch seine sonntäglichen Spaziergänge in der Umgebung von Stahlstadt hatte er jetzt hinreichende Kenntnisse von der strengen Organisation der ganzen Anlage, um zu wissen, daß die Erlaubniß, in deren eigentlichen Kern einzudringen, nur ungemein selten ertheilt wurde. Es waren hierüber wirkliche Legenden in Aller Munde. Man erzählte, daß unberechtigte Eindringlinge aus dem abgeschlossenen Mittelpunkte gar nicht wieder erschienen seien; daß die daselbst beschäftigten Arbeiter und Beamten sich vor ihrer Zulassung einer ganzen Reihe freimaurerischer Ceremonien zu unterwerfen und durch feierliche Eidesleistung das Versprechen zu geben hätten, über Alles, was hier vorging, unverbrüchliches Stillschweigen zu bewahren, während über Jeden ohne Gnade durch einen geheimen Gerichtshof die Todesstrafe verhängt wurde, der seinen Schwur verletzte. Eine unterirdische Eisenbahn setzte dieses Heiligthum mit der äußeren Umfassung des Werkes in Verbindung… nächtliche Züge beförderten dahin unbekannte Besucher… dort wurden bisweilen Berathschlagungen abgehalten im Beisein räthselhafter Persönlichkeiten, die sich an den Verhandlungen betheiligten…

Ohne auf solche unsichere Berichte einen besonderen Werth zu legen, wußte Marcel doch, daß sie die volksthümliche Anschauung einer unleugbaren Thatsache ausdrückten, der unendlichen Schwierigkeit nämlich, die es kostete, in die centrale Abtheilung zu gelangen. Von allen ihm bekannten Arbeitern – und er zählte manche Freunde unter den Metall- und den Kohlengräbern, den Maschinenarbeitern und den Gehilfen bei den Hochöfen, unter den Steigern und Zimmerern wie unter den Schmieden – hatte noch keiner durch das Thor A jemals seinen Fuß gesetzt.

Mit dem Gefühle berechtigter und hochgespannter Neugier stellte er sich zur bestimmten Stunde ein und überzeugte sich bald, daß hier die strengsten Vorsichtsmaßregeln beobachtet wurden.

Marcel ward übrigens schon erwartet. Im Thorwächterstübchen befanden sich zwei Männer in grauer Uniform mit dem Säbel an der Seite und dem Revolver im Gürtel. So wie die Klause der Pförtnerin in einem geschlossenen Kloster hatte auch dieser Raum zwei Thüren, eine äußere und innere, welche sich niemals gleichzeitig öffnen ließen.

Nach Prüfung und Visirung seines Passes brachte man ein weißes Tuch herbei, mit dem die beiden uniformirten Gesellen Marcel, der kein Erstaunen darüber zeigte, die Augen sorgfältig verbanden.

Dann nahmen sie ihn an den Armen und führten ihn, ohne ein Wort zu sprechen, hinweg.

Nach zwei- bis dreitausend Schritten ging es eine Treppe in die Höhe, eine Thüre öffnete sich und schloß sich wieder, und Marcel erhielt Erlaubniß, seine Binde abzunehmen.

Er befand sich hier in einem sehr einfachen Saale mit mehreren Stühlen, einer schwarzen Tafel und einer großen Wandkarte mit Musterrissen, nebst allen zum Linearzeichnen gehörigen nöthigen Utensilien. Durch hohe Fenster mit mattem Glase drang das Licht in diesen Raum ein.

Fast gleichzeitig traten zwei Personen ein, denen man die Gelehrten auf den ersten Blick ansah.

»Sie sind uns besonders empfohlen, begann einer derselben. Wir werden Sie prüfen und zusehen, ob Sie sich für die Modellabtheilung eignen. Sind Sie bereit, sofort auf unsere Fragen zu antworten?«

Marcel erklärte sich in bescheidener Weise zur Ablegung der Prüfung bereit.

Die beiden Examinatoren legten ihm nun nacheinander verschiedene Fragen aus der Chemie, Geometrie und Algebra vor. Der junge Arbeiter befriedigte sie nach allen Seiten durch die Klarheit und Bestimmtheit seiner Antworten. Die Figuren, welche er mit Kreide an die Tafel zeichnete, waren so richtig, sauber, fast elegant. Seine Gleichungen standen so geordnet da wie die Linien eines Garde-Regiments. Eine seiner Demonstrationen erschien so bemerkenswert und neu, daß sie ihr Erstaunen darüber zu erkennen gaben und fragten, wo er seinen Unterricht genossen habe.

»In der Primär-Schule meiner Heimat Schaffhausen.

– Sie scheinen ein guter Zeichner zu sein?

– Das war mein liebstes Fach.

– Der Unterricht in der Schweiz steht wirklich auf hoher Stufe! bemerkte der eine Examinator zu dem anderen… Wir lassen Ihnen zwei Stunden Zeit zur Ausführung dieser Zeichnung, fuhr er dann fort, und übergab dem zu Prüfenden den Durchschnitt einer ziemlich complicirten Dampfmaschine. Wenn Sie das vollbringen, werden Sie mit der Censur »Sehr wohl zufrieden und ausnehmend befähigt« zugelassen werden.«

Marcel ging, allein gelassen, eifrig an die Arbeit.

Als seine Richter nach Ablauf der gewährten Frist zurückkehrten, waren sie über die Trefflichkeit seines Aufrisses so erfreut, daß sie der versprochenen Censur noch die Bemerkung hinzufügten: »Wir haben keinen Zeichner von gleicher Geschicklichkeit«.

Bald darauf nahmen die grauen Gesellen den jungen Arbeiter in Empfang und führten ihn unter Beobachtung derselben Maßregeln, d. h. mit verbundenen Augen, nach dem Bureau des General-Directors.

»Sie sind für einen der Zeichensäle der Modell-Abtheilung vorgeschlagen, begann diese Persönlichkeit. Sind Sie bereit, sich den einschlagenden Bedingungen der Fabriksordnung zu unterwerfen?

– Ich kenne diese zwar nicht, erwiderte Marcel, setze aber voraus, daß sie nicht unannehmbar sind.

– So hören Sie: 1. Sie sind während der ganzen Zeit Ihres Engagements verpflichtet, in derselben Abtheilung zu wohnen und dürfen dieselbe nicht anders als mit spezieller, nur ausnahmsweise zu ertheilender Erlaubniß verlassen. – 2. Sie unterwerfen sich einer militärischen Disciplin und geloben Ihrem Vorgesetzten bei harter, unerbittlicher Strafe unbedingten Gehorsam. Dagegen treten Sie gleichzeitig mit Unterofficiersrang in den Verband einer activen Streitmacht ein und können durch regelrechtes Avancement in derselben auch die höchsten Grade erreichen. – 3. Sie verpflichten sich endlich, niemals irgend Jemandem von dem, was Sie in der Ihnen zugängigen Abtheilung sehen, etwas mitzutheilen, – 4. Ihre eingehende wie ausgehende Korrespondenz, welche sich überhaupt nur auf Ihre Familie zu beschränken hat, geht offen durch die Hände der betreffenden Vorgesetzten.

– Kurz, ich bin ein Gefangener!« dachte sich Marcel.

Dann antwortete er einfach: »Diese Bedingungen erscheinen mir gerecht und ich bin bereit, mich denselben zu unterwerfen.

– Gut. Erheben Sie die Hand… Schwören Sie… Sie sind hiermit zum Zeichner im vierten Atelier ernannt… Wohnung erhalten Sie angewiesen und für Essen und Trinken sorgt hier eine Küche erster Ordnung… Ihre Sachen haben Sie noch nicht hier?

– Nein, mein Herr. Da ich nicht wußte, was man von mir wollte, hab‘ ich sie noch bei meiner Wirthin gelassen.

– Man wird sie Ihnen bringen, denn von jetzt ab dürfen Sie die Abtheilung nicht mehr verlassen.

– Da hab‘ ich also wohl daran gethan, dachte Marcel, meine Bemerkungen in Chiffren niedergeschrieben zu haben. Man hätte diese entdecken sollen…!«

Schon gegen Abend war Marcel wohnlich eingerichtet in einem hübschen Zimmerchen des vierten Stockwerkes eines an einem geräumigen Hofe liegenden hohen Hauses und konnte sich eine Vorstellung von seiner neuen Lebensweise machen.

Sie schien sich nicht so traurig zu gestalten, wie er anfänglich vermuthete. Seine Kameraden – er machte im Restaurant bald deren Bekanntschaft – waren im Allgemeinen still und freundlich, wie alle Männer der ernsten Arbeit. Um sich doch einigermaßen zu zerstreuen, denn sonst entbehrte dieses Automatenleben jeder Abwechslung, hatten mehrere derselben ein Orchester gebildet und führten allabendlich eine recht hübsche Musik aus. Während der seltenen Mußestunden boten eine Bibliothek und ein reichlich ausgestattetes Lesezimmer dem Geiste vielseitige wissenschaftliche Nahrung. Die Angestellten waren zum Besuche gewisser, von den ausgezeichnetsten Lehrern abgehaltener Kurse verpflichtet und außerdem regelmäßigen Prüfungen und Probearbeiten unterworfen. Aber die Freiheit, die Luft fehlte diesem engen Raume. Das Ganze glich einer geschlossenen Schule für Erwachsene und dazu einer mit den lästigsten Beschränkungen. Trotz der Gewöhnung an diese eiserne Disciplin lastete die umgebende Atmosphäre doch schwer genug auf den halb Gefangenen.

Der Winter verstrich unter den Arbeiten, denen Marcel mit Leib und Seele oblag. Sein Eifer, die Vollkommenheit seiner Zeichnungen und die außerordentlichen Fortschritte in allen Fächern, welche Lehrer und Examinatoren einstimmig bestätigten, hatten ihm in kurzer Zeit unter allen diesen fleißigen Männern eine gewisse Berühmtheit erworben. Er galt allgemein als der gewandteste, beste Zeichner, der jede Schwierigkeit zu überwinden wußte. Stieß irgendwer einmal auf eine solche, so war er es, zu dem man seine Zuflucht nahm. Selbst die Abtheilungs-Vorsteher begegneten ihm mit einer gewissen Hochachtung, die sich das wahre Verdienst trotz aller Eifersucht doch immer erzwingt.

Hoffte der junge Mann freilich, mit dem Eintritte in die Modell-Abtheilung auch in die innersten Geheimnisse des ganzen Werkes einzudringen, so sah er sich arg enttäuscht.

Sein Leben verrann innerhalb eines Eisengitters von dreihundert Meter Durchmesser, das die Central-Anlagen nach allen Seiten abschloß. Theoretisch erhielt er hier zwar Einsicht in alle Zweige der metallurgischen Industrien, in der Praxis blieb seine Thätigkeit dagegen auf das Zeichnen von Dampfmaschinen beschränkt. Er entwarf deren in allen Größen und Stärkeverhaltnissen, für jede Industrie und andere Verwendung, für Kriegsschiffe und Druckpressen; niemals griff seine Thätigkeit aber über diese Specialität hinaus. Die hier bis auf’s Aeußerste getriebene Arbeitstheilung hielt ihn in ihren starren Fesseln.

Nach viermonatlichem Verweilen in der Section A wußte Marcel von der Gesammt-Organisation der Stahlstadt kaum mehr als vorher, außer daß er seine Notizen um einige allgemeine Bemerkungen über dieses großartige Getriebe bereichert hatte, in dem er selbst trotz seiner Verdienste, nur ein unscheinbares Rädchen darstellte. Er wußte, daß der »Stierthurm« – eine Art Cyklopenbauwerk, das alle umgebenden Gebäude überragte – den eigentlichen Mittelpunkt dieses Spinnengewebes von Anlagen bildete. Aus gelegentlichen, aber nicht zuverlässigen Aeußerungen hatte er beim Essen wohl auch erfahren, daß sich Herrn Schultze’s Privatwohnung im Erdgeschoß jenes Thurmes und das vielerwähnte geheimste Cabinet wieder in dessen Mitte befinde. Man bemerkte dazu, daß jener gegen jede Feuersgefahr gesicherte und im Innern wie ein Panzerschiff von außen geschützte gewölbte Saal durch ein System von Sicherheitsthüren mit Selbstschüssen verschlossen sei, welche auch dem ängstlichsten Bankgeschäfte genügt hätten. Man nahm übrigens an, Herr Schnitze arbeite an der Vollendung einer furchtbaren Kriegsmaschine, der Wirkung ohne Gleichen und welche bestimmt sei, Deutschland die Weltherrschaft zu sichern.

Um den Schleier dieses Geheimnisses zu lüften, brütete Marcel über den abenteuerlichsten Plänen. Ob er aber wie ein Dieb einzusteigen versuchen oder sich einer Verkleidung bedienen sollte – nichts schien ihm Erfolg zu versprechen. Die langen düsteren und festen Mauern, welche in der Nacht glänzend beleuchtet und von bewährten Posten bewacht wurden, hätten doch alle seine Anstrengungen vereitelt. Selbst wenn er alle Hindernisse vielleicht an einer Stelle glücklich überwand, was würde er dann mehr sehen, als irgend eine Einzelheit – niemals das Ganze!

Immerhin! Er hatte sich gelobt, nicht zurückzuschrecken, er wich auf keinen Fall. Und kostete es ihm zehn Jahre eines fast kerkergleichen Lebens, so wollte er auch zehn Jahre lang ausharren. Einst mußte ja die Stunde schlagen, wo das Geheimniß sich ihm offenbarte. Da France-Ville, eine glückselige Stadt, frisch emporblühte und ihre wohlthätigen Einrichtungen Jedermann sichtlich nützten, indem sie den entmuthigten Völkern einen neuen schöneren Horizont eröffneten, so zweifelte Marcel keinen Augenblick, daß Herr Schultze, gegenüber einem solchen Erfolge der lateinischen Race, mehr als je dabei beharren werde, seine Drohungen wahr zu machen. Ganz Stahlstadt selbst und die Arbeiter, für welche dasselbe errichtet war, lieferten hiervon den Beweis.

So verflossen mehrere Monate.

Eines Tages, als Marcel wohl zum tausendsten Male im Stillen seinen Hannibals-Eid wiederholte, kam einer der grauen Akolyten mit der Meldung, daß der General-Director ihn zu sprechen wünsche.

»Es ward mir von Herrn Schultze, begann dieser hohe Beamte, der Auftrag ertheilt, ihm unseren besten Zeichner zu senden. Das sind Sie. Packen Sie also Ihre Effecten zusammen, um in den innersten Kreis zu verziehen. Sie sind hiermit zum Lieutenant befördert!«

Gerade jetzt, wo er fast an dem endlichen Erfolge verzweifelte, jetzt gewährte ihm die logische und naturgemäße Wirkung seines heldenhaften Fleißes die längst herbeigesehnte Erlaubniß zum Zutritt! Marcel übermannte die Freude darüber so sehr, daß sich der Ausdruck dieser Empfindung unwillkürlich in seinen Zügen wiederspiegelte,

»Ich schätze mich glücklich, Ihnen eine so angenehme Nachricht mittheilen zu können, fuhr der Director fort, und kann Ihnen nur rathen, auf dem so unermüdlich verfolgten Wege auszuharren. Jetzt winkt Ihnen die glänzendste Zukunft. So gehen Sie mit Gott!«

Endlich, nach langer Prüfung sah Marcel das Ziel vor sich, das er einst zu erreichen geschworen.

Seine ganzen Habseligkeiten in den Mantelsack unterzubringen, den grauen Männern zu folgen, die letzte Umschließung zu überschreiten, deren einziger Zugang von der Straße A ihm sonst noch wer weiß wie lange hätte versperrt sein können – alles das war für Marcel das Werk weniger Minuten.

Jetzt befand er sich also am Fuße jenes sonst ganz unzugänglichen Stierthurmes, dessen steile Spitze er bisher nur von fern halb in Wolken verloren erblickt hatte.

Das Bild, das sich hier vor seinen Augen entfaltet, war im höchsten Grade überraschend. Man denke sich einen Menschen, der plötzlich, ohne jeden Uebergang, aus einer geräuschvollen, düsteren europäischen Werkstätte mitten in einen jungfräulichen Urwald der Tropenzone versetzt worden wäre. Nicht geringer war das Erstaunen, das sich Marcels im Centrum von Stahlstadt bemächtigte.

Ein echter Urwald gewinnt freilich an Reiz, wenn man ihn nur gleichsam durch die Schilderung phantasiereicher Schriftsteller sieht, während der Park des Herrn Schultze wirklich den wunderbar schönsten Lustgarten darstellte. Hier bildeten hohe, schlanke Palmen, dichtbelaubte Bananen und üppige Cacteen reizende Gruppen. Lianen wanden sich an hochstrebenden Eukalypten empor und bildeten in den Wipfeln lichtgrüne Festons oder reichten in dichten Gehängen wieder bis zur Erde herab. Auf dem Boden selbst grünten und blühten die seltensten Pflanzen. Neben den Ananas reiften Orangen und Goyaven, Kolibris und Paradiesvögel flatterten mit ihrem buntschillernden Gefieder umher. Selbst die ganze Temperatur hatte hier denselben tropischen Charakter wie die Vegetation.

Marcel suchte zuerst nach den Glasdächern und Heizungsanlagen, welche dieses Wunder ermöglichten, und stand einen Augenblick sprachlos vor Erstaunen, nichts als den blauen Himmel über sich zu sehen.

Dann entsann er sich aber, daß unfern von hier eine Kohlengrube in Brand stehe, und durchschaute sehr bald, daß Herr Schultze sich diese Schätze unterirdischer Wärme durch metallene Rohrleitungen dienstbar gemacht habe, um sich die gleichbleibende Temperatur eines Treibhauses zu sichern.

Diese Erklärung aber, welche sein Verstand dem jungen Elsäßer gab, hinderte ihn nicht, mit entzückten Augen das saftige Grün des Rasens zu genießen und in vollen Zügen den köstlichen Wohlgeruch der Atmosphäre einzusaugen. Nachdem er volle sechs Monate kein dürftiges Grashälmchen gesehen, suchte er sich heute reichlich zu entschädigen. Ein sandbestreuter Gang führte ihn in unmerklicher Steigung nach einer schönen, von majestätischer Colonnade überdachten Marmortreppe. Hinter derselben erhob sich ein ungeheures vierseitiges Bauwerk, gleichsam das Fußgestell des Stierthurmes. Unter dem Säulengange bemerkte Marcel sieben bis acht Diener in rother Livrée und einen Schweizer mit Dreimaster und Hellebarde; zwischen den Säulen standen reichverzierte bronzene Kandelaber, und als er die Treppe emporstieg, verrieth ein dumpfes Rollen, daß die unterirdische Eisenbahn unter seinen Füßen hinlief.

Marcel nannte seinen Namen und wurde sofort in einen Vorraum, ein wahres Museum prachtvoller Sculpturen, eingelassen. Ohne sich hier aufhalten zu können, durchschritt er zunächst einen Salon mit roth und goldener Ausschmückung, dann einen solchen in Schwarz und Gold und kam hierauf in ein gelb und golden gehaltenes Zimmer, wo ihn der Diener fünf Minuten lang allein ließ. Endlich wurde er in ein reiches, grün und golden verziertes Arbeitszimmer eingeführt.

Herr Schultze, der, neben einem tüchtigen Schoppen Bier sitzend, eine lange irdene Pfeife schmauchte, machte inmitten dieses Luxus den Eindruck eines Schmutzfleckens auf einem lackirten Stiefel.

Ohne sich zu erheben, ja, ohne nur den Kopf zu verwenden, sagte der König von Stahlstadt frostig und einfach:

»Sind Sie der Zeichner?

– Ja, mein Herr.

– Ich habe Ihre Zeichnungen gesehen. Sie sind recht gut. Aber Sie haben nichts als Dampfmaschinen gezeichnet?

– Man hat nie etwas Anderes von mir verlangt.

– Verstehen Sie sich etwas auf Ballistik?

– In Mußestunden habe ich mich zum Vergnügen damit beschäftigt.«

Diese Antwort ging Herrn Schultze zu Herzen. Er würdigte seinen Untergebenen jetzt eines Blickes.

»Sie würden es also wagen, mit mir eine Kanone zu zeichnen? … Werden ja bald sehen, wie Sie dabei bestehen! … O, es wird Ihnen nicht leicht sein, den Dummkopf Sohne zu ersetzen, der sich heute Morgens durch Unvorsichtigkeit mit einer Dynamitpatrone den Garaus gemacht hat! … Der Esel hätte uns Alle miteinander in die Luft sprengen können!«

Aus Herrn Schultze’s Munde klangen diese Rücksichtslosigkeiten wirklich gar nicht besonders auffallend.

Achtes Capitel.


Achtes Capitel.

Die Höhle des Drachen.

Der Leser, der dem Geschick des jungen Elsäßers folgte, wird sich kaum darüber wundern, diesen schon nach einigen Wochen als Vertrauten des Herrn Schultze wiederzufinden. Beide waren fast unzertrennlich geworden. Arbeiten, Mahlzeiten, Spaziergänge im Parke, lange Pfeifen beim schäumenden Bierkrug – Alles thaten und genossen sie gemeinschaftlich. Noch nie hatte der Ex-Professor von Jena einen Mitarbeiter so ganz nach seinem Geschmacke gefunden, der ihm das Wort von der Lippe ablas und seine theoretischen Anforderungen so schnell zu verwirklichen wußte.

Marcel zeigte sich nicht nur nach allen Seiten gründlich unterrichtet, sondern war auch der liebenswürdigste Gesellschafter, der unverdrossenste Arbeiter, sowie der glücklichste und doch bescheidenste Erfinder.

Herr Schultze war entzückt von ihm. Zehnmal täglich sagte er sich:

»Welcher Fund! Welche Perle von Mann!«

In Wahrheit hatte Marcel den Charakter seines grauenhaften Chefs im ersten Augenblicke durchschaut, als dessen meist hervortretende Charakter-Eigenthümlichkeit einen grenzenlosen Egoismus erkannt, der sich äußerlich durch die empfindlichste Eitelkeit kennzeichnete, und er hatte sich feierlich gelobt, sein eigenes Benehmen unter allen Umständen darnach zu richten.

Binnen wenig Tagen hatte er die Claviatur dieses Instrumentes so genau kennen gelernt, daß er mit Herrn Schultze wie auf einem Piano zu spielen im Stande war. Seine Taktik ging ganz einfach davon aus, den eigenen Werth so viel wie möglich hervorzuheben, dem Anderen aber dabei immer noch Gelegenheit zu lassen, seine Überlegenheit an den Tag zu legen. Fertigte er z. B. eine Zeichnung an, so lieferte er dieselbe möglichst vollkommen – bis auf einen in die Augen fallenden, leicht nachzubessernden Fehler, auf den der Ex-Professor dann sofort mit größter Selbstbefriedigung aufmerksam machte.

Kam ihm ein neuer Gedanke, so ließ er ihn mitten im Gespräche in der Weise laut werden, daß Herr Schultze glauben konnte, ihn zuerst gehabt zu haben. Manchmal ging er hierin noch weiter und sagte zum Beispiel:

»Hier habe ich den Riß zu einem Kriegsschiff mit abnehmbarer Ramme, wie Sie es wünschten, entworfen.

– Ich? antwortete Herr Schultze, der nicht im Geringsten daran gedacht hatte.

– Gewiß! Sie haben das also vergessen?… Einen ablösbaren Rammsporn, der in der Flanke des feindlichen Fahrzeuges einen spindelförmigen Torpedo hinterläßt, welcher nach drei Minuten explodirt.

– Das ist mir gänzlich entfallen. Es gehen mir so viele Gedanken durch den Kopf.«

Und Herr Schultze heimste ganz ruhig die Vaterschaft der neuen Erfindung ein.

Immerhin wurde er durch dieses Verfahren wohl nur zum Theile hinter’s Licht geführt. Wahrscheinlich fühlte er selbst, daß Marcel ihm überlegen war. In Folge eines jener räthselhaften und doch nicht so seltenen Vorgänge im menschlichen Gehirn kam es ihm aber bald gar nicht schwer an, sich mit dem »Schein der Ueberlegenheit« zu begnügen und das vorzüglich seinem Untergebenen gegenüber festzuhalten.

»Er ist doch ein Dummkopf trotz seines Geistes, dieser junge Naseweis!« sagte er manchmal für sich und zeigte heimlich lächelnd die zweiunddreißig »Steine« seines Gebisses.

Seine Eitelkeit fand übrigens wirklich eine gewisse reelle Befriedigung. Er allein war ja im Stande, sozusagen industrielle Träumereien aller Art zu verwirklichen!… Solche Träumereien hatten keinen Werth, außer durch ihn und für ihn!… Marcel war am Ende ja auch nichts Anderes als ein Rädchen des gewaltigen Organismus, den er, Schultze, in’s Leben zu rufen gewußt u. s. w. u. s. w….

Alles in Allem wurde er auch niemals »aufgeknöpfter«, wie man zu sagen pflegt. Nach fünfmonatlichem Verweilen im Stierthurme kannte Marcel von den Geheimnissen der letzten innersten Anlagen auch noch nichts Besonderes. Nur sein längst gehegter Verdacht war zur halben Gewißheit geworden. In ihm wurzelte jetzt die feste Ueberzeugung, daß Stahlstadt noch ein Geheimniß berge und Herr Schultze noch zu einem anderen Zwecke, als den des bloßen Nutzens arbeitete. Alles, was man ringsum sah und hörte, unterstützte die Annahme, daß der Professor irgend eine neue Kriegsmaschine erfunden habe.

Die Lösung dieses Räthsels ließ aber noch immer auf sich warten.

Marcel sah wohl ein, daß auch er es nicht ohne eine Krisis erfahren würde. Da eine solche nicht von selbst eintrat, beschloß er, dieselbe absichtlich herbeizuführen.

Es war am Abend des 5. September nach dem Essen. Ein Jahr vorher, genau auf den Tag, hatte er im Albrechts-Schachte die Leiche seines kleinen Freundes Karl aufgefunden. Draußen bedeckte der lange und rauhe Winter dieser amerikanischen Schweiz schon die ganze Umgebung mit seinem weißen Mantel. Im Parke von Stahlstadt freilich war die Temperatur noch ebenso mild wie im Juni, und der Schnee, der hier schon zum Schmelzen kam, bevor er den Erdboden erreichte, fiel nur als Thau an Stelle der Flocken nieder.

»Diese Würstchen mit Sauerkraut waren doch vortrefflich, nicht wahr? begann Herr Schultze, den auch die Millionen der Begum seinem Lieblingsgerichte nicht abwendig gemacht hatten.

– Ganz ausgezeichnet!« bestätigte Marcel, der diese Speise, welche er allgemach geradezu verwünschte, mit wahrem Heldenmuth niederwürgte.

Seine Magenbeschwerden veranlaßten ihn jetzt aber den letzten Anlauf zu versuchen, den er schon längst im Schilde führte.

»Ich lege mir immer die Frage vor, fuhr Herr Schultze mit einem Seufzer fort, wie die Völker, welche weder Würstchen noch Sauerkraut und Bier kennen, überhaupt ihr Leben fristen können?

– Ja, es muß für sie eine Strafe ohne Ende sein, meinte Marcel… wahrlich, es wäre nur ein Act der Menschlichkeit, sie wieder mit dem »Vaterlande« zu vereinigen.

– O… o… Das kommt noch… Das kommt noch! rief der König von Stahlstadt. Jetzt haben wir uns schon im Herzen Amerikas festgesetzt; nun lassen Sie uns nur erst eine oder zwei Inseln in der Nähe von Japan in Besitz nehmen, dann werden Sie staunen, welche Riesenschritte wir rings um den Erdkreis machen werden!«

Der Kammerdiener hatte die Pfeifen hereingebracht. Herr Schultze stopfte die seinige und setzte sie in Brand. Marcel hatte mit Absicht diesen Augenblick der vollkommensten Glückseligkeit seines Herrn abgewartet.

»Ich muß gestehen, begann er dann nach kurzem Schweigen, daß ich an diese Eroberung nicht recht glauben kann!

– Welche Eroberung? fragte Herr Schultze, der schon nicht mehr bei dem Gegenstande der Unterhaltung war.

– Die Eroberung der ganzen Erde durch die Deutschen!«

Der Ex-Professor glaubte falsch verstanden zu haben.

»Sie glauben nicht an die Unterwerfung der Welt durch die Deutschen?

– Nein.

– Ei, sehen Sie, das ist sonderbar! … Ich wäre begierig, die Gründe dieses Zweifels zu hören.

– Sehr einfach, die französischen Artilleristen werden noch größere Fortschritte machen und Sie überflügeln. Die Schweizer z. B., meine Landsleute, welche jene sehr gut kennen, haben das Vorurtheil, daß ein Franzose so viel ausrichte wie zwei Deutsche. 1870 ist für jene eine Lection gewesen, welche sich gegen Diejenigen kehren wird, die sie ertheilt haben. Davon ist in meinem Vaterlande Jedermann überzeugt, und, ich mag das nicht verhehlen, damit stimmen auch die besten Köpfe Englands überein.«

Marcel hatte diese Worte in einem so kalten trockenen und schneidenden Tone hervorgestoßen, daß er die Wirkung einer solchen schnurgeraden Blasphemie bei dem König von Stahlstadt womöglich verdoppeln mußte.

Herr Schultze war sprachlos und außer Athem, Das Blut stieg ihm so heftig in’s Gesicht, daß der junge Mann fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Da er aber wahrnahm, daß sein Opfer, nachdem dessen Wuth einigermaßen verschnauft war, nicht von einem solchen Schlage sterben würde, fuhr er in seiner Rede fort:

»Ja, es ist unangenehm, sich das sagen zu müssen, aber es bleibt doch wahr. Wenn unsere Rivalen weniger geräuschvoll auftreten, so sind sie dafür desto fleißiger. Glauben Sie denn, daß diese seit dem Kriege gar nichts gelernt haben? Während wir plumper Weise nur darauf ausgehen, das Gewicht unserer Geschütze zu vermehren, bringen sie etwas ganz Neues zu Tage, was sich bei der ersten Gelegenheit zeigen wird.

– Etwas Neues! Etwas Neues! stammelte Herr Schultze, o das bringen wir auch.

– Ah, sehr schön, bleiben wir dabei! Wir stellen aus Stahl her, was unsere Vorgänger aus Bronze machten, das ist Alles! Wir verdoppeln die Proportionen und die Tragweite unserer Geschütze!

– Verdoppeln!… entgegnete Herr Schultze mit einem Tone, der vielmehr sagte: wahrhaftig wir erreichen mehr als eine simple Verdoppelung!

– Im Grunde sind wir aber doch nichts Anderes als Nachahmer. Darf ich Ihnen die volle Wahrheit sagen? Uns fehlt die Erfindungsgabe. Wir ersinnen nichts, die Franzosen erfinden, darauf verlassen Sie sich.«

Herr Schultze hatte scheinbar wieder einige Ruhe gewonnen, doch verrieth das Zittern seiner Lippen, die Blässe, welche der ersten apoplektischen Röthe folgte, wie tief sein Inneres erregt war.

Hätte er je geglaubt, eine solche Erniedrigung zu erfahren? Er sollte Schultze heißen, der unumschränkte Beherrscher der größten Werkstatte und der ersten Kanonengießerei der ganzen Welt sein, Könige und Parlamente zu seinen Füßen sehen und sich hier von einem einfachen Zeichner sagen lassen, daß ihm die Gabe der Erfindung fehle, daß er noch unter dem französischen Artilleristen stehe!… Und das zu erdulden, wo ihm in seiner Festung tausend Mittel zur Verfügung standen, den unverschämten Buben zu vernichten, ihm den Mund auf ewig zu verschließen und seine Argumente aus der Welt zu schaffen? Nein, ein solcher Schimpf war nicht zu ertragen!

Herr Schultze erhob sich jetzt so plötzlich, daß er seine Pfeife dabei zerbrach. Dann blickte er Marcel voll bitterer Ironie an, preßte die Zähne fest aufeinander und sagte zu diesem oder pfiff ihm vielmehr die Worte zu:

»Folgen Sie mir, ich werde Ihnen zeigen, ob ich, Herr Schultze, der Erfindungsgabe entbehre!«

Marcel hatte ein gewagtes Spiel getrieben, doch er hatte gewonnen. Dank der plötzlichen Ueberraschung durch eine so kühne, unerwartete Redeweise, Dank dem heftigen Aerger, den er seinem Chef bereitete, bei dem die Eitelkeit nun einmal stärker war als die Klugheit, Schultze drängte es nun, sein Geheimniß zu entschleiern, er eilte fast wider Willen nach dem Arbeitszimmer, dessen Thür er sorgfältig hinter sich verschloß, ging geraden Weges auf ein Büchergestell zu und drückte auf eines der Fächer. Sofort entstand in der Mauer eine sonst von Bücherreihen versteckte Oeffnung. Diese bildete den Eingang zu einem engen Wege, der bis zu dem Fuße des Stierthurmes selbst führte.

Hier wurde eine starke, eichene Thüre mittelst eines kleinen Schlüssels, den der Werkbesitzer niemals von sich gab, geöffnet. Dann zeigte sich eine zweite Thür mit einem Buchstaben-Vexirschloß, wie man solche wohl an Geldkisten verwendet. Herr Schultze stellte das betreffende Wort ein und schob die schwere Pforte zurück, welche nach innen zu noch mit complicirten Selbstschuß-Apparaten versichert war, die Marcel als Sachkenner natürlich gern näher in Augenschein genommen hätte. Sein Führer ließ ihm hierzu aber keine Zeit.

Beide befanden sich nun vor einer dritten Thür, ohne sichtbares Schloß, welche nur durch einen an den richtigen Stellen und in bestimmter Ordnung angewendeten Druck aufsprang.

Nachdem sie diese drei Verschanzungen durchschritten, stiegen Herr Schultze und sein Begleiter eine eiserne Treppe von zweihundert Stufen empor und gelangten damit nach dem oberen Theile des Stierthurmes, der ganz Stahlstadt überragte.

Dieses Granitbauwerk, dessen Festigkeit auf den ersten Blick einleuchtete, bedeckte eine Art Kasematte mit mehrfachen Schießscharten. In der Mitte derselben stand eine ungeheure Kanone aus Gußstahl.

»Sehen Sie hier!« sagte der Professor, der bisher den Mund nicht mehr aufgethan hatte.

Es war das größte Belagerungsgeschütz, das Marcel je gesehen, als Hinterlader eingerichtet und mindestens 300.000 Kilogramm schwer. Der Durchmesser seiner Mündung erreichte einundeinhalb Meter. Das Ungethüm mit seiner auf Rollen laufenden Stahl-Laffette war doch so leicht zu regieren, daß ein Kind zu seiner Bewegung hingereicht hätte, so ausgezeichnet arbeitete der sinnreiche Mechanismus. Hinter der Laffette hielt eine gewaltige Feder den Rückstoß des Geschützes auf und diente gleichzeitig dazu, dasselbe nach jedem Schuß wieder in seine vorige Lage zu bringen.

»Und welche Perforationskraft besitzt dieses Geschütz? fragte Marcel, den ein solches Meisterstück unwillkürlich in Erstaunen setzte.

– Auf 20.000 Meter durchbohren wir mit einem Vollgeschoß eine vierzigzöllige Platte wie eine Butterschnitte!

– Wie groß ist die Tragweite?

– Die Tragweite! rief Schultze, der sich allgemach erwärmte. O, Sie meinten, wir als Nachahmer hätten es nicht weiter gebracht als bis zur Verdoppelung der Schußweite der heutigen Kanonen. Nun, mit dieser hier verpflichte ich mich, ein Projectil mit der größten Treffsicherheit bis auf zehn Stunden weit zu schleudern.

– Zehn Stunden! wiederholte Marcel, zehn Stunden! Da müssen Sie aber ein bisher unbekanntes Pulver anwenden.

– O, jetzt kann ich Ihnen Alles mittheilen, antwortete Herr Schultze in etwas auffallendem Tone. Es hat nichts mehr zu bedeuten, daß ich Ihnen meine Geheimnisse entschleiere. Das großkörnige Pulver hat sich überlebt. Ich bediene mich nur der Schießbaumwolle, deren Expansivkraft die des gewöhnlichen Pulvers um das Vierfache übertrifft. Eine Kraft, welche ich durch Beimischung von acht Zehnteln ihres Gewichts salpetersauren Natrons noch verfünffache.

– Der Explosion dieses Pyroxils, wendete Marcel ein, vermöchte aber kein Geschütz, und bestände es aus dem besten Stahl der Welt, Widerstand genug zu leisten. Nach drei, vier, fünf Schüssen wird Ihre Kanone zerstört oder doch unbrauchbar sein.

– Und wenn sie nur einen Schuß abgiebt, so wird dieser genügen!

– Der wird sehr theuer zu stehen kommen!

– Etwa eine Million, so hoch belaufen sich die Herstellungskosten des Geschützes.

– Ein Schuß für eine Million! …

– Was thut das, wenn er dafür eine Milliarde zerstört!

– Eine Milliarde!« rief Marcel.

Er mußte an sich halten, um nicht das Entsetzen bemerkbar werden zu lassen, das sich der Bewunderung zugesellte, die ihm diese furchtbare Zerstörungsmaschine immerhin einflößte.

»Das ist ohne Zweifel ein erstaunliches und höchst merkwürdiges Geschütz, es bestätigt aber, trotz aller seiner Vorzüge, nur meinen Ausspruch: Vervollkommnungen, Nachahmung, keine Erfindung!

– Keine Erfindung! versetzte Herr Schultze achselzuckend. Ich wiederhole, daß ich für Sie keine Geheimnisse mehr haben will. Kommen Sie also!«

Der König von Stahlstadt und sein Begleiter verließen die Kasematte und begaben sich, mittelst eines hydraulischen Fahrstuhls nach einer unteren Etage. Hier befanden sich eine Menge länglicher, cylinderförmiger Gegenstände, welche man aus einiger Entfernung recht wohl für demontirte Geschütze hätte ansehen können.

»Da sehen Sie unsere Geschosse!« sagte Herr Schultze.

Jetzt mußte Marcel allerdings anerkennen, daß das, was er hier vor sich sah, nichts ähnelte, was er von früher kannte. Es waren das ungeheure Tuben von zwei Meter Länge und ein Meter zehn Zentimeter Durchmesser, äußerlich mit einem Bleimantel überzogen, um genau in die Züge der Seele des Rohres zu passen, an der Rückseite mit verbolzter Stahlplatte verschlossen und an der Spitze mit länglich stählerner Spitze versehen, die in einem Percussionszünder auslief.

Ueber die eigentliche Natur dieser Geschosse gab ihr äußeres Ansehen noch keinen Aufschluß. Noch lag die Voraussetzung nahe, daß sie im Innern einen furchtbaren Explosionsstoff enthalten möchten, der wahrscheinlich Alles in seiner Art übertraf.

»Sie werden sich nicht klar?« fragte Herr Schultze, als er Marcel schweigend stehen sah.

»In der That, nein! Wozu in aller Welt ein so langes und dem Anscheine nach so schweres Langgeschoß?«

»Der Schein trügt,« erwiderte Herr Schultze, »denn das Gewicht desselben weicht nicht besonders von dem einer gewöhnlichen Kugel desselben Kalibers ab. … Nun, Sie sollen Alles wissen! … Der innerste Theil besteht aus einer langen Spindel von Glas, die mit Eichenholz überkleidet und, unter dem Drucke von zweiundsiebzig Atmosphären mit flüssiger Kohlensäure geladen ist. Beim Niederfallen erfolgt die Explosion der Umhüllung und die Flüssigkeit kehrt in den gasförmigen Zustand zurück. Die Folge davon ist eine Kälte von ungefähr hundert Grad in der Umgebung und gleichzeitig die Beimischung einer enormen Menge Kohlensäure zu der Atmosphäre.

Jedes lebende Wesen, das sich im Umkreise von dreißig Meter um die Stelle der Explosion aufhält, wird ebenso durch Kälte getödtet, wie durch das Gas erstickt. Ich nehme nur dreißig Meter an, um eine Basis für die Berechnung zu gewinnen; die Wirkung erstreckt sich aber höchst wahrscheinlich noch viel weiter, vielleicht auf einen Umkreis von hundert bis zweihundert Meter. Dazu kommt ferner, daß die Kohlensäure in Folge ihrer specifischen Schwere, welche die der Luft bedeutend übertrifft, sich lange Zeit in den unteren Schichten der Atmosphäre aufhält; die todesdrohende Zone behält also ihre vergiftenden Eigenschaften noch mehrere Stunden nach der Explosion, und jedes Geschöpf, das sich in diese hineinwagt, geht rettungslos zu Grunde, Ja, ja, das ist ein Kanonenschuß, der im Augenblick ebenso wie auf die Dauer wirkt! … Bei meinem System giebt es keine Verwundeten mehr, sondern nur noch Todte!«

Herr Schultze fand offenbar Wohlgefallen daran, die Vorzüge seiner Erfindung in das rechte Licht zu stellen. Er hatte seine ganz gute Laune wieder, war roth von Stolz geworden und wies alle seine Zähne.

»Nun denken Sie sich, fuhr er fort, eine hinreichende Anzahl meiner Feuerschlünde auf eine belagerte Stadt gerichtet! Rechnen wir ein Stück auf jede Hektare Oberfläche, das gäbe für eine Stadt von tausend Hektaren hundert Batterien zu je zehn Geschützen. Nehmen wir ferner an, diese alle wären in gehöriger Stellung und sicher gerichtet, dazu günstige ruhige Luft und nun erfolgte durch eine elektrische Leitung das Signal zum Abfeuern … binnen einer Minute athmete auf einer Fläche von tausend Hektaren kein lebendes Wesen mehr! Ein wahrer Ocean von Kohlensäure hätte die Stadt überschwemmt! Die Idee hierzu kam mir übrigens erst im letzten Jahre, als ich den ärztlichen Bericht über den kleinen Jungen im Albrechts-Schacht durchlas. Die erste Anregung erhielt ich allerdings in Neapel, beim Besuche der dortigen Hundsgrotte1. Es bedurfte aber des letzteren Ereignisses, um den Gedanken in mir zur Reife zu bringen. Sie begreifen doch das Princip? Ein künstlicher Ocean von reiner Kohlensaure! Schon ein Fünftel dieses Gases der Atmosphäre beigemengt genügt aber, sie unathembar zu machen!«

Marcel stand sprachlos da; er vermochte in der That kein Wort hervorzubringen. Herr Schultze fühlte seinen Triumph so lebhaft, dass er ihn selbst abzuschwächen suchte.

»Es ärgert mich hierbei nur eine Kleinigkeit,« sagte er,

»Und das wäre?« fragte Marcel.

»Es hat mir noch nicht gelingen wollen, den Knall bei der Explosion zu umgehen. Das verleiht meinem Schuß noch zu viel Aehnlichkeit mit dem gewöhnlichen Kanonenschuß. Denken Sie etwas darüber nach, wie es möglich wäre, einen geräuschlosen Schuß zu erzielen. So ein plötzlicher Tod, der in heiterer stiller Nacht hunderttausend Menschen ganz unbemerkt überrascht, das wäre so nach meinem Sinn!«

Diese wundervolle Aussicht machte Herrn Schultze zum vollkommenen Schwärmer, und vielleicht hätte seine Träumerei, bei welcher er in einem wahren Vollbade seiner Eigenliebe schwelgte, noch lange fortgedauert, wenn ihn nicht eine Bemerkung Marcels daraus erweckt hätte.

»Recht schön, Herr Schultze, aber tausend Geschütze dieser Art kosten Zeit und viel Geld.

– Geld?… Daran ersticken wir fast!… Die Zeit gehört uns!«

Und wahrlich, der Mann, welcher so sprach, glaubte an seine Worte.

»Gut, fuhr Marcel fort, leider ist Ihr mit Kohlensäure gefülltes Geschoß wiederum nichts eigentlich Neues, denn man kennt schon seit vielen Jahren solche Kugeln mit tödtlichen Gasarten; doch gebe ich gerne zu, daß Ihre Maschine unerhörte Verwüstungen anzurichten vermag. Indessen…

– Indessen?…

– Das Geschoß ist zu leicht für seine Größe und wird nimmermehr zehn Stunden weit fliegen!…

– Das ist auch nur für zwei Stunden berechnet, erwiderte Herr Schultze lächelnd. Hier ist dagegen, fügte er lächelnd hinzu, ein Projectil aus Gußstahl. Dieses enthält hundert kleine, symmetrisch angeordnete Kanonen, welche ineinander geschoben sind wie die Auszüge eines Fernrohres, und die, nachdem sie zuerst als Geschosse fortgeschleudert wurden, zuletzt selbst als Kanonen wirken, indem sie eine Unzahl kleiner Kugeln mit leicht entzündlicher Masse aussenden. Ich schieße also gleichsam eine ganze Batterie hinaus, welche Tod und Verderben über eine ganze Stadt ausstreut, indem sie dieselbe mit unauslöschlichem Feuer überschüttet! Dieses Geschoß besitzt die nothwendige Schwere, um zehn Stunden weit zu fliegen. Binnen Kurzem werde ich damit einen Versuch anstellen, der jedem Ungläubigen Gelegenheit bieten soll, hunderttausend Körper, die ich als Leichen zu Boden strecke, mit dem Finger zu berühren!«

Die »Steine« im Munde glänzten bei diesem Versprechen so herausfordernd, daß Marcel nicht übel Lust verspürte, ein Dutzend davon auszubrechen. Er gewann es aber über sich, seine Arme in Ruhe zu lassen. Noch wußte er ja immer noch nicht Alles, was er hören wollte.

In der That begann Herr Schultze bald von Neuem: »Ich sagte Ihnen, daß nächstens ein Versuch angestellt werden solle.

– Wirklich? Und wo? … fragte Marcel.

– Nun, mit einem dieser Geschosse, das durch mein Riesengeschütz von der obersten Platform aus über die Cascade-Mounts hinweggeschleudert werden wird! … Uebrigens auf eine Stadt, welche kaum zehn Stunden weit von uns entfernt liegt, die diesen furchtbaren Donnerschlag nicht erwartet und dessen unausbleibliche Wirkung auch nicht abzuwehren vermöchte. Wir haben heute den 5. September… nun, am 13. um elf Uhr fünfundvierzig Minuten des Nachts wird France-Ville vom amerikanischen Boden verschwinden! Der Untergang Sodoms wird sein Gegenstück erhalten! Professor Schultze wird von seinem Thurme aus alle Feuer des Himmels entfesseln!«

Bei dieser allerdings unvorhergesehenen Erklärung drängte sich in Marcels Brust alles Blut zum Herzen. Zum Glück bemerkte Herr Schultze nicht, was in ihm vorging.

»Sehen Sie, fuhr er fort, als handelte es sich um die gleichgiltigsten Dinge, wir erstreben hier das Gegentheil von dem, was die Erbauer France-Villes beabsichtigen. Wir suchen das Geheimniß, das Leben der Menschen abzukürzen, während Jene darnach trachten, es zu verlängern. Ihr Werk ist aber einmal verdammt, und erst aus dem von uns entsendeten Tode soll das Leben ersprießen. Uebrigens erfüllt Alles in der Natur seinen Zweck, und als Doctor Sarrasin in jener Einöde seine Stadt gründete, hat er sie mir, ohne daran zu denken, als bestes Versuchsobject für die Tragweite meiner Geschütze hingestellt!«

Marcel konnte kaum glauben, was er soeben hörte.

»Aber, begann er mit unwillkürlich zitternder Stimme, welche einen Augenblick lang die Aufmerksamkeit des Königs von Stahlstadt zu erregen schien, die Einwohner von France-Ville haben Ihnen doch nichts gethan? Sie haben, so viel ich weiß, auch nicht die geringste Ursache, mit ihnen Streit zu führen?

– Mein Bester, begann Herr Schultze, in Ihrem nach anderen Seiten recht gut organisirten Gehirn lebt noch ein Rest von keltischen Ideen, die Ihnen noch viel Schaden bringen könnten, wenn Sie noch lange zu leben hätten! Das Recht, das Gute und das Böse sind nur relativ verschiedene Dinge, je nach dem Standpunkt, von dem aus man sie betrachtet. Es giebt nichts Absolutes, als die großen Naturgesetze. – Das Gesetz des Kampfes um’s Dasein gehört dahin ebenso wie das der Gravitation. Sich ihm entziehen zu wollen, ist reiner Unsinn; sich ihm zu fügen und in der von ihm bezeichneten Richtung zu wirken, ist das einzige Rechte und Vernünftige, und aus diesem Grunde werde ich Doctor Sarrasin’s Stadt zerstören. Mit Hilfe meiner Kanonen werden meine fünfzigtausend Deutschen leicht genug mit jenen hunderttausend Träumern fertig werden, die nun einmal unterzugehen bestimmt sind!«

Da Marcel die Nutzlosigkeit jedes Versuches, Herrn Schultze’s Anschauungen zu ändern, von vornherein einsah, setzte er das Gespräch nicht weiter fort.

Beide verließen nun den Geschoßraum, dessen geheime Thüren wieder verschlossen wurden, und begaben sich nach dem Speisezimmer zurück.

So als ob gar nichts vorgefallen sei, führte Herr Schultze hier seinen Bierkrug zum Munde, ließ eine Glocke ertönen, verlangte eine andere Pfeife an Stelle der zerbrochenen und fragte den Kammerdiener:

»Sind Arminius und Sigimer bei der Hand?

– Gewiß.

– Sage ihnen, sie sollen nicht weggehen, damit ich sie rufen kann.«

Als der Diener das Zimmer verlassen, wandte sich der Stahlkönig gegen Marcel und schaute diesem gerade in’s Gesicht.

Dieser schlug die Augen nicht nieder vor jenem Blicke, der selbst metallische Härte angenommen zu haben schien.

»Sie denken das erwähnte Vorhaben wirklich auszuführen? fragte er noch einmal.

– Natürlich. Ich kenne die Lage von France-Ville genau auf das Zehntel einer Secunde bezüglich der Länge und Breite, und am 13. September um elf Uhr fünfundvierzig Minuten Nachts wird die Stadt aufgehört haben zu existiren.

– Einen solchen Plan hätten Sie aber doch völlig geheim halten sollen.

– Mein Lieber, erwiderte Herr Schultze, da fehlt es Ihnen wieder einmal an der nöthigen Logik. Ich beklage es deshalb auch weniger, daß Sie so jung sterben müssen!«

Marcel war bei den letzten Worten aufgesprungen.

»Wußten Sie das wirklich nicht vorher, fuhr Herr Schultze eiskalt fort, daß ich von meinen Projecten niemals gegen Andere spreche als gegen Die, welche sie nicht mehr verrathen können?«

Die Glocke ertönte. Arminius und Sigimer, zwei Riesen von Gestalt, erschienen an der Thür.

»Sie wollten in mein Geheimniß dringen, sagte Herr Schultze, Sie kennen es! … Nun werden Sie dafür den Tod erleiden!«

Marcel gab keine Antwort.

»Sie sind ein viel zu heller Kopf, fuhr Herr Schultze fort, als daß Sie annehmen könnten, ich würde Sie nun, da Sie davon wissen, was ich zunächst beabsichtige, noch am Leben lassen können. Das wäre ein unverzeihlicher Leichtsinn, das wäre unlogisch. Die Größe meines Zieles verbietet mir, dessen Erreichung durch die Rücksichtnahme auf den verhältnißmäßig geringen Werth eines einzelnen Menschenlebens zu gefährden – selbst eines Menschen wie Sie, dessen gute Gehirnorganisation ich übrigens hochschätze. Ich bedauere wirklich, daß mich eine schwache Regung von Eigenliebe etwas zu weit hingerissen hat und mich nun zwingt, Sie unschädlich zu machen. Sie werden jedoch einsehen, daß ich angesichts der von mir verfolgten Interessen nicht einem weicheren Gefühle nachgeben darf. Ich gestehe Ihnen jetzt gern ein, daß Ihr Vorgänger Sohne wegen Verletzung desselben Geheimnisses hat sterben müssen und nicht durch die Explosion einer Dynamit-Patrone umgekommen ist. Meine Regel duldet keine Ausnahme. An einem unumstößlichen Gesetze vermag ich selbst nichts zu ändern!«

Marcel blickte Herrn Schultze an. Der Ton seiner Stimme sagte ihm, daß der Starrsinn dieses Trotzkopfes nicht zu beugen sein werde und daß er verloren sei. Er gab sich also nicht einmal Mühe, gegen jenes Urtheil Einspruch zu erheben.

»Wann werde ich sterben und auf welche Weise? fragte er.

– Sorgen Sie sich nicht um solche Einzelheiten, erklärte Herr Schulze völlig ruhig. Sie werden sterben, doch wird Ihnen jede Todesqual erspart bleiben. Sie werden eines Morgens nicht wieder erwachen. Das ist Alles!«

Auf einen Wink des Stahlkönigs sah Marcel sich abgeführt und nach seinem Zimmer gebracht, vor dessen Thür die beiden Riesen Wache standen.

Als er sich aber allein sah, dachte er zitternd vor Angst und Wuth an den Doctor, an dessen Familie, seine Landsleute, an Alle, die er liebte.

»Der Tod, der meiner wartet, ist das Geringste, sagte er, doch die Gefahr, die ihnen droht, wie soll ich diese beschwören?«

  1. Die Hundsgrotte in der Nähe von Neapel erhielt den Namen von der merkwürdigen Eigenschaft ihrer Atmosphäre, welche einen Hund oder jedes etwa ebenso große vierfüßige Thier erstickt, während sie dem aufrechtstehenden Menschen nicht schadet – eine Eigenschaft, welche auf eine ungefähr sechzig Centimeter hohe Schicht Kohlensäure zurückzuführen ist, die in Folge ihrer Schwere nur dicht über dem Erdboden lagert.

Neuntes Capitel.


Neuntes Capitel.

»P. P. C.«

Marcels Lage war gewiß eine sehr ernste. Was konnte er, dessen Lebensstunden jetzt gezählt waren und der mit der untergehenden Sonne vielleicht seine letzte Nacht hereinbrechen sah, dagegen thun?

Er schlief nicht einen Augenblick – weniger aus Furcht, nicht wieder zu erwachen, wie ihm Herr Schultze gesagt – aber weil seine Gedanken sich von France-Ville, dem eine so beispiellose Katastrophe drohte, nicht wieder zu trennen vermochten.

»Was soll ich beginnen? fragte er sich immer wieder. Jene Kanone zerstören? Den Thurm, der sie trägt, in die Luft sprengen? Wie könnte ich das? Entfliehen! … Entfliehen, wo mein Zimmer von jenen beiden Riesen bewacht ist! Und wenn es mir gelänge, vor jenem schrecklichen 13. September aus Stahlstadt zu entweichen, wie sollte ich das drohende Unheil abwenden? … Immerhin! Kann ich auch unsere liebe Stadt nicht beschützen, so kann ich doch deren Bewohner retten, wenn ich noch zu Ihnen gelange mit dem Rufe: Flieht! Flieht ohne Säumen! Ihr seid bestimmt, durch Feuer und Eisen elend umzukommen! Flieht Alle, Alle!«

Dann wendeten sich Marcels Gedanken einer anderen Richtung zu.

»O, der teuflische Schultze! dachte er. Selbst angenommen, er habe die zerstörende Gewalt seines Geschosses übertrieben und er könne nicht die ganze Stadt mit unverlöschbarem Feuer überschütten, so ist doch kaum daran zu zweifeln, daß ein einziger Schuß einen großen Theil derselben in Asche legen werde! Es ist eine höllische Maschine, die er da erfunden hat, und diese fürchterliche Kanone wird ihr Geschoß, trotz der großen Entfernung zwischen beiden Städten, gewiß sicher nach seinem Ziele schleudern. Eine Anfangsgeschwindigkeit, welche die gewöhnliche um das Zwanzigfache übertrifft! So gegen zehntausend Meter, oder zweiundeinehalbe Stunde in der Secunde! Das ist fast der dritte Theil der Umdrehungs-Schnelligkeit der Erde am Aequator! Ist das wirklich möglich? …

Ja.. Ja! … Wenn sein Geschütz nicht beim ersten Abfeuern zerspringt! … Und das wird nicht geschehen, denn es besteht aus einem Metalle, dessen Widerstand gegen das Zerreißen fast unbegrenzt zu nennen ist! Der Schurke kennt die Lage von France-Ville auf’s Haar! Ohne seine Höhle zu verlassen, wird er sein Rohr mit mathematischer Sicherheit richten und das Geschoß wird, wie er vorausgesagt, mitten in die unglückliche Stadt hineinfallen! Wie kann ich die armen Einwohner warnen?«

Marcel hatte, als der Tag wieder anbrach, kein Auge geschlossen. Er verließ also sein Bett, auf das er sich in seiner fieberhaften Schlaflosigkeit vergebens ausgestreckt hatte.

»Also erst in der folgenden Nacht, sagte er sich. Dieser Henker will mir die Todesqual ersparen und wartet, bis mich vor Erschöpfung der Schlaf überwältigt hat! Und dann? … Ja, welche Todesart mag er mir bestimmt haben? Denkt er mich durch Einathmung von Blausäure zu morden, während ich schlafe? Oder will er in mein Zimmer heimlich Kohlensäure einströmen lassen, über die er ja in beliebiger Menge verfügt? Sollte er dieses Gas nicht vielmehr in flüssigem Zustand verwenden, so wie er es in seinen Glasgeschossen verwendet hat, dessen plötzliche Verflüchtigung eine Kälte von nahe hundert Grad erzeugt? Am folgenden Morgen läge dann an meiner Stelle statt dieses kräftigen, wohlgebauten lebensvollen Körpers eine trockene, gefrorne verhornte Mumie! … O, dieses Elend! … Mein Herz möge vertrocknen, mein Leben bei jener unerträglichen Temperatur erstarren, wenn nur mein Freund, Doctor Sarrasin, seine Familie, Jeanne, meine liebe Jeanne gerettet würden! Um ihretwillen muß ich fliehen … ich werde es also durchsetzen!«

Mit diesem letzten Worte hatte Marcel, obwohl er voraussetzen mußte, jetzt eingesperrt zu sein, die Hand unwillkürlich auf den Drücker des Thürschlosses gelegt.

Zu seinem großen Erstaunen öffnete sich die Thür, er konnte ganz wie früher in den Garten hinab spazieren gehen.

»Aha, sagte er, ich bin nur ein Gefangener in den Central-Anlagen, nicht in meinem Zimmer! Das ist schon etwas!«

Kaum erschien Marcel freilich draußen, als er bemerkte, daß er trotz seiner scheinbaren Freiheit doch nicht zwei Schritte ohne die Aufsicht der beiden Männer machen könnte, welche ganz den historischen oder vielmehr vorhistorischen Namen Arminius und Sigimer entsprachen.

Schon manchmal hatte er sich, wenn er jenen beim Promeniren begegnete, gefragt, was wohl das eigentliche Amt dieser beiden Kolosse in grauer Uniform mit dem Stierhalse, den herkulischen Muskeln und röthlichem Gesicht mit dichten grauen Schnurr- und Backenbärten sein möchte.

Jetzt kannte er dasselbe. Sie waren die ausführenden Organe für Herrn Schultze’s Machtsprüche und daneben seine persönliche Leibwache.

Die beiden Riesen behielten ihn stets im Gesicht, lagerten vor der Thür seines Zimmers und folgten ihm auf dem Fuße, wenn er in den Park hinaustrat. Eine reichliche Bewaffnung mit Revolvern und Dolchen sicherte den Erfolg ihrer Aufgabe noch weiter.

Uebrigens erschienen sie stumm wie die Fische. Marcel hatte wohl mehrmals versucht, eine Unterhaltung mit ihnen anzuknüpfen, aber keine andere Antwort als drohende Blicke erhalten. Selbst das Angebot eines Kruges Bier, das er alle Ursache hatte, für unwiderstehlich zu halten, erwies sich fruchtlos. Nach fünfzehnstündiger Beobachtung hatte er nur eine Leidenschaft seiner Wächter erkannt, eine einzige, die Pfeife, die sie auf Tritt und Schritt rauchten, wenn sie ihm nachgingen. Konnte Marcel vielleicht diese eine Schwäche zu seinem Vortheil ausbeuten? Das wußte er für jetzt noch nicht und konnte es sich wirklich auch kaum vorstellen, doch er hatte sich einmal geschworen zu entfliehen und durfte nun auch nicht das Geringste unbeachtet lassen, was seine Entweichung begünstigen konnte.

Die Zeit drängte – was sollte er beginnen?

Beim leisesten Zeichen eines Widerstandes oder Fluchtversuches war er sicher, zwei Kugeln durch den Kopf zu bekommen. Selbst angenommen, daß die Schüsse ihn nicht trafen, so befand er sich doch inmitten einer dreifachen Umschließung, welche mit dreifachen Reihen von Wachen besetzt war.

Seiner Gewohnheit als alter Zögling der Centralschule entsprechend, hatte Marcel sich seine Aufgabe als klarer mathematischer Kopf zurechtgelegt.

»Angenommen, ein Mensch sei von zwei gänzlich rücksichtslosen Kerlen bewacht, die ihn auch körperlich an Stärke weit übertreffen und überdies bis an die Zähne bewaffnet sind, so kann es sich zuerst nur darum handeln, der Aufmerksamkeit dieser Argusaugen zu entwischen. Ist das erreicht, so gilt es, aus einem befestigten Platz zu entkommen, dessen Zugänge alle strengstens überwacht sind …«

Hundertmal legte Marcel sich diese Fragen vor und hundertmal scheiterte er mit dem Versuche, sie zu lösen.

Es wäre schwer zu entscheiden, ob nur die Gefahr seiner Lage seinen Erfindungsgeist auf’s höchste anspannte oder ob der bloße Zufall ihm endlich zu einem Rettungsanker verhalf.

Jedenfalls wurde Marcels Aufmerksamkeit schon am nächsten Tage, als er im Park umherging, durch einen sonderbaren Strauch, der auf einem Beete grünte, unwillkürlich erregt.

Es war eine düstere, krautartige Pflanze mit wechselständigen, eiförmigen, zugespitzten Blättern, großen glockenförmigen, braunvioletten Blüthen und verästeltem Achsenstengel.

Marcel, der sich mit Botanik nur so nebenher beschäftigt hatte, glaubte in derselben doch die Kennzeichen der Familie der Solaneen zu erkennen. Ganz ohne Absicht pflückte er ein Blättchen davon ab, das er während des Gehens zerkaute.

Er hatte sich nicht geirrt. Eine gewisse Schwere der Glieder, verbunden mit dem Gefühle von Uebelkeit, bewies ihm, daß er hier ein natürliches Laboratorium für Belladona, d.h. eines der wirksamsten Narcotica, aufgefunden habe.

Immer dahinschlendernd, gelangte er nach einem kleinen See, der sich nach dem Süden des Parkes hin erstreckte, um an seinem Ende einen Wasserfall zu speisen, der dem im Boulogner Walde sklavisch nachgebildet war.

»Wo fließt aber das Wasser dieses Falles ab?« fragte sich Marcel.

Dasselbe ergoß sich zunächst in das Bett eines Flüßchens, das nach vielen Windungen an der Grenze des Parkes verschwand.

Dort mußte also ein Ausfluß sein und allem Anscheine nach entleerte sich der Fluß durch einen unterirdischen Kanal, der außerhalb Stahlstadts die Umgebung bewässerte.

Marcel ahnte, daß hier die Pforte zur Flucht zu suchen sei. War es auch kein Thorweg, so blieb es doch immer eine Pforte.

»Doch, wenn der Kanal durch Eisengitter verschlossen wäre? warf ihm da die Stimme der Klugheit ein.

– Wer nicht wagt, gewinnt nicht! Die Feilen wurden nicht erfunden, um Korkpfropfen abzunagen, und Feilen giebt es hier von der besten Art!« erwiderte eine ironische Stimme in seinem Innern, die Stimme, welche die raschen Entschlüsse zur Welt bringt.

Binnen zwei Minuten war Marcels Plan gefaßt. Ein Gedanke – wenn man es einen solchen nennen darf – ein Gedanke war ihm gekommen, der sich vielleicht als unausführbar erwies, aber dem er doch zu folgen versuchen wollte, wenn ihn der Tod nicht vorher ereilte.

Er kehrte also wie von ungefähr nach jenem Gebüsch zurück und pflückte zwei oder drei Blätter so davon ab, daß seine Wächter es bemerken mußten.

Dann begab er sich nach seinem Zimmer, trocknete die Blätter am Feuer, zerrieb sie mit den Händen und mischte sie unter seinen Tabak.

Auch die sechs folgenden Tage erwachte Marcel, eigentlich zu seinem eigenen Erstaunen des Morgens immer wieder. Sollte Herr Schultze, den er jetzt nicht mehr sah und dem er bei seinen Spaziergängen niemals begegnete, seine Absicht aufgegeben haben? Nein, sicher nicht, so wenig wie sein Vorhaben, die Stadt des Doctor Sarrasin zu zerstören.

Marcel benutzte also das ihm noch geschenkte Leben und wiederholte sein Verfahren Tag für Tag. Wohlverstanden fiel es ihm nicht ein, von der Belladonna selbst zu rauchen, und er theilte seinen Tabak deshalb in zwei Packete, das eine für seinen gewöhnlichen Gebrauch, das andere zu seinem täglichen Manöver. Er ging dabei einfach darauf aus, Arminius‘ und Sigimers Neugier zu erregen. Als eingefleischte Raucher mußten sie sich doch endlich den Busch merken, von dem er seine Blätter pflückte und einmal den Versuch machen, welchen Geschmack diese Beimischung dem Tabak wohl verleihe.

Seine Rechnung sollte nicht täuschen und die beabsichtigte Folge trat sozusagen mit mechanischer Nothwendigkeit ein.

Am sechsten Tage – dem Tage vor jenem verhängnißvollen 13. September – sah Marcel endlich, als er den Blick zufällig nach rückwärts schweifen ließ, zu seiner größten Befriedigung, daß auch die beiden Wächter sich einigen Vorrath von jenen Blättern mitnahmen.

Bald darauf überzeugte er sich, daß sie dieselben am Feuer dörrten, dann in den groben Händen zerrieben und ihrem Tabak beimengten. Sie schienen schon im Voraus lüstern zu sein auf diesen Genuß.

Wollte Marcel denn Arminius und Sigimer wirklich nur einschläfern? Nein. Ihm genügte es ja nicht, nur ihrer Wachsamkeit zu entgehen. Er mußte auch Hilfsmittel finden, um im Wasser glücklich durch den Kanal zu kommen, selbst wenn dieser mehrere Kilometer lang war. Auch dieses Mittel stand klar vor Marcels Augen. Immerhin konnte der Versuch neunmal unter zehnmal mißlingen, doch das Opfer seines jede Stunde bedrohten Lebens erschien ihm ja nur gering.

Der Abend kam heran, mit ihm die Essensstunde und der Zeitpunkt für seinen gewöhnlichen letzten Spaziergang. Das unzertrennliche Dreiblatt begab sich in den Park.

Ohne eine Minute zu verlieren, wendete sich Marcel scheinbar absichtslos nach einem im Gebüsch errichteten Gebäude, nämlich der Modellkammer zu. Dort setzte er sich auf eine einsame Bank und begann zu rauchen.

Sofort ließen sich Arminius und Sigimer, die ihre Pfeifen stets bei der Hand hatten, auf einer Bank in der Nähe nieder und bliesen dicke Wolken vor sich her.

Die narcotische Wirkung ließ nicht lange auf sich warten.

Nach kaum fünf Minuten taumelten die zwei schweren Teutonen wie zwei Bären in ihrem Käfig umher. Ihre Augen verschleierte eine Wolke, ihre Ohren summten; ihre Gesichtsfarbe wechselte von hellroth zu kirschroth; machtlos sanken ihre Arme herab und die Köpfe fielen auf die Rücklehne der Bank nieder.

Die Pfeifen lagen bald auf der Erde.

Endlich mischte sich ein lautes Schnarchen unter das Zwitschern der Vögel, welche der ewige Sommer im Parke von Stahlstadt zurückhielt.

Das war der Augenblick, auf den Marcel wartete. Man kann sich vorstellen, mit welcher Ungeduld, denn am nächsten Abend um elf Uhr fünfundvierzig Minuten sollte das von Herrn Schultze dem Untergang geweihte France-Ville verschwinden.

Marcel eilte in den Modellsaal. Dieser große Raum enthielt ein ganzes Museum, hydraulische Motore, Locomotiven, Dampfmaschinen, Locomobilen, Pumpen, Turbinen, Bohrmaschinen, Schiffsmaschinen, Schiffsrümpfe – gewiß für mehrere Millionen, wahre Meisterwerke. Hier wurden die Holzmodelle von jedem Stück aufbewahrt, das seit Gründung der Fabrik des Herrn Schultze jemals in derselben angefertigt worden war, und selbstverständlich fehlten darunter Modelle für Kanonen, Torpedos u. dergl. nicht.

Die Nacht war dunkel und dem kühnen Unternehmen, das der junge Elsäßer plante, besonders günstig. Während er seinen Fluchtversuch ermöglichte, wollte er auch das Modellmuseum von Stahlstadt der Vernichtung preisgeben. O, hätte er es mit der Kasematte und dem Geschütz, das diese barg, den furchtbaren unzerstörbaren Stierthurm gleichzeitig vernichten können! Doch daran war nicht zu denken.

Marcels erste Sorge war es hier, sich eine kleine Stahlsäge auszuwählen, mit der er Eisen durchschneiden konnte, welche er von einem Werkzeuggestelle herabnahm und in die Tasche gleiten ließ. Dann entzündete er ein Streichhölzchen und warf es brennend in die Ecke des Saales, wo Zeichnungen und leichte Modelle aus Weidenholz aufgehäuft lagen.

Dann verschwand er eiligst.

Kurze Zeit nachher züngelten schon die durch das viele leicht brennbare Material genährten Flammen durch die Fenster. Sofort ertönte die Alarmglocke; die elektrischen Klingeln meldeten den Unfall durch ganz Stahlstadt und von allen Seiten stürmten die Feuerwehrmannschaften mit ihren Dampfspritzen herbei.

Gleichzeitig erschien Herr Schultze, dessen Gegenwart geeignet war, seine Arbeiter anzuspornen.

Binnen wenigen Minuten zeigten die Kessel schon vollen Dampfdruck und die gewaltigen Spritzen warfen ihre mächtigen Wasserstrahlen in die Gluth. Sie gossen eine ganze Sündfluth gegen die Mauern und selbst auf das Dach des Modellhauses. Das Feuer erwies sich aber jenem Wasser überlegen, das nur verdunstete, aber nicht zu löschen vermochte, und bald stand das ganze Bauwerk in hellen Flammen. Schon nach fünf Minuten hatte der Brand einen solchen Umfang angenommen, daß man darauf verzichten mußte, seiner Herr zu werden. Der Anblick dieser Feuersbrunst war eben so großartig wie entsetzlich.

Marcel, in einer Ecke verborgen, verlor Herrn Schultze nicht aus den Augen, der seine Leute anfeuerte wie zur Erstürmung einer feindlichen Stadt. Vergeblich. Das Feuer zehrte ruhig fort an seiner Beute und das im Park isolirt stehende Gebäude mußte voraussichtlich total zu Grunde gehen.

Als auch Herr Schultze sich überzeugte, daß nichts von demselben zu retten sei, rief er plötzlich mit lauter Stimme:

»Zehntausend Dollars Belohnung Demjenigen, der das unter der Glaskuppel des Mittelbaues aufbewahrte Modell Nummer 3175 rettet!«

Eben dieses Modell war das Muster der von Herrn Schultze vervollkommneten Kanone und hatte für diesen einen höheren Werth als irgend ein anderes.

Um das geforderte Stück zu holen, mußte man sich aber durch einen wahren Feuerregen wagen und in eine absolut unathembare Atmosphäre begeben. Jedermann lief die größte Gefahr, darin selbst umzukommen. Trotz des Lockmittels der zehntausend Dollars trat auf Herrn Schultze’s Aufruf doch Niemand vor.

Da drängte sich ein Mann heran.

Es war Marcel.

»Ich werde gehen, sagte er.

– Sie! rief Herr Schultze.

– Ich!

– Geben Sie sich aber nicht der Hoffnung hin, daß dadurch an dem über Sie verhängten Todesurtheil etwas geändert werde.

– Ich denke gar nicht daran, dasselbe von mir abzuwenden, sondern nur an die Rettung des kostbaren Modells.

– So geh‘, antwortete Herr Schultze, und ich schwöre Dir im Falle des Gelingens zu, daß die zehntausend Dollars Deinen rechtmäßigen Erben zugestellt werden sollen.

– Darauf rechne ich!« erwiderte Marcel.

Man hatte mehrere für den Fall eines Schadenfeuers immer bereitgehaltene Galibert’sche Apparate herbeigebracht, mit denen man sich ja auch in unathembare Gasarten wagen kann. Marcel hatte einen solchen schon benützt, als er damals den kleinen Karl, das Kind der Frau Bauer, dem Tode zu entreißen suchte.

Ein solcher mit Luft von mehreren Atmosphären Spannung gefüllter Apparat wurde auf seinem Rücken befestigt. Mit der Klammer auf der Nase und das Mundstück des Schlauches zwischen den Lippen drang er nun beherzt in den Rauch ein.

»Endlich! sagte er. Für eine Viertelstunde besitze ich Luftvorrath in dem Behälter! … Gott gebe, daß er hinreicht!«

Selbstverständlich dachte Marcel nicht im Geringsten daran, das Modell der Schultze’schen Kanone aus den Flammen zu retten. Er stürmte nun mit Gefahr für sein Leben durch den qualmerfüllten Saal unter einem Hagel glühender Funken und prasselnder Balken, die ihn wie durch ein Wunder verschont ließen, und genau in dem Moment, wo das Dach unter einer Garbe von prächtigen Feuerstrahlen zusammenbrach, die der Wind bis zu den Wolken hinauftrieb, entkam er durch eine entgegengesetzte Thür des Saales, die sich nach dem Park hin öffnete.

Nach dem kleinen Flusse zu eilen, dessen Uferwand hinabzustürmen bis zu dem unbekannten Ausfluß, der ihn aus Stahlstadt befreien mußte, und sich ohne weiteres Besinnen in das Wasser zu stürzen, das Alles war für Marcel nur das Werk weniger Secunden.

Schnell riß die Strömung ihn in den Wasserschwall, der sieben bis acht Fuß tief sein mochte, dahin. Er brauchte auf keine Richtung zu achten, denn die Strömung führte ihn wie ein Ariadne-Faden. Er merkte auch bald, daß er in einen engen Kanal hineingezogen worden war, eine Art weites Rohr, welches das Wasser vollkommen ausfüllte.

»Wie lang mag dieser Schlauch sein? fragte sich Marcel, daran liegt Alles! Bin ich nicht binnen einer Viertelstunde heraus, so geht mir die Luft aus und mein Schicksal ist besiegelt!«

Marcel bewahrte sich seine ganze Kaltblütigkeit, Zehn Minuten lang wälzte ihn der Strom unaufhaltsam mit sich fort, dann stieß er an einen Widerstand.

Es war ein mit Haspen in der Mauer befestigtes Eisengitter.

»Das wußte ich vorher!« sagte Marcel für sich.

Sofort holte er die Säge aus der Tasche und begann die Krampen des Riegels zu durchsägen.

Nach fünf Minuten hatte er noch nicht viel erzielt. Schon athmete Marcel nur noch mit großer Beschwerde. Die in dem Behälter jetzt sehr verdünnte Luft strömte ihm nur ungenügend zu. In den Ohren begann es zu sausen, das Blut schoß ihm in die Augen, der Kopf brannte, Alles deutete auf einen Schlaganfall hin, der ihn lähmen mußte.

Noch widerstand er, den Athem zeitweise anhaltend, um nur so wenig als möglich von dem Sauerstoff zu verbrauchen, der ihm noch zu Gebote stand, aber der Riegel wich nicht von der Stelle.

Da entfiel ihm gar noch die Säge.

»Gott kann nicht meinen Untergang wollen!« dachte er.

Er packte das Gitter mit beiden Händen und mit der Kraft, wie sie nur der Trieb der Selbsterhaltung verleiht.

Das Gitter gab nach. Der Riegel war gebrochen und die Strömung riß den unglücklichen Marcel mit sich fort, der schon fast erstickt war und nur mit größter Mühe die letzten Restchen Luft aus seinem Behälter saugte.

Am folgenden Tage, als Herrn Schultze’s Leute in das vom Feuer gänzlich zerstörte Gebäude eindrangen, fanden sie unter dem Schutte und der glimmenden Asche nicht das geringste Ueberbleibsel von einem menschlichen Körper. Es lag auf der Hand, daß der muthige Arbeiter ein Opfer seines guten Willens geworden war. Die, welche ihn von den Werkstätten her näher kannten, verwunderten sich hierüber nicht. Das kostbare Modell war also nicht zu retten gewesen, der Mann aber, der das Geheimniß des Königs von Stahlstadt kannte, weilte auch nicht mehr unter den Lebenden.

»Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich ihm jede Todesqual ersparen wollte, sagte sich Herr Schultze zur Beruhigung. Jedenfalls erspare ich auf diese Weise zehntausend Dollars!«

Das war die ganze Leichenrede für den jungen Elsäßer!

Zweites Capitel.


Zweites Capitel.

Zwei Stubenburschen.

Octave Sarrasin, der Sohn des Doctors, gehörte nicht geradezu unter die Faullenzer. Er war weder dumm noch gescheidt, weder schön noch häßlich, weder blond noch braun und überhaupt ein Muster von Mittelmäßigkeit nach allen Seiten. Im Colleg errang er sich gewöhnlich einen zweiten Preis und zwei oder drei Accessits. Beim Baccalaureats-Examen lautete seine Censur »leidlich«. Einmal bei der École centrale abgewiesen, wurde er bei einer zweiten Prüfung mit Nummer hundertsiebenzwanzig aufgenommen. Er war einer jener unentschiedenen Charaktere, einer der Geister, die sich schon mit einer unvollständigen Sicherheit zufrieden geben, die mit dem »Ungefähr« auf vertrautem Fuße stehen und durch’s Leben wandeln wie ein Mondstrahl. In der Hand des Schicksals gleichen diese Leute dem Korkpfropfen auf dem Wellenkamme, Je nachdem der Wind von Norden oder Süden weht, werden sie nach dem Pole oder dem Aequator hineingetrieben. Ihre Laufbahn entscheidet nur der Zufall. Hätte sich Doctor Sarrasin nicht selbst einigen Täuschungen über den Charakter seines Sohnes hingegeben, so würde er wahrscheinlich gezögert haben, ihm jenen Brief zu schreiben; ein wenig väterliche Verblendung ist jedoch auch den besten Köpfen nachgelassen.

Zum Glück verfiel Octave gleich im Anfange seiner höheren Ausbildung der Herrschaft einer energischen Natur, deren etwas tyrannischer, aber wohlthätiger Einfluß sich ihm mit unwiderstehlicher Gewalt aufdrängte. Auf dem Lyceum Charlemagne, wohin ihn sein Vater zur Beendigung der Studien geschickt hatte, schloß Octave einen innigen Freundschaftsbund mit einem seiner Kameraden, einem Elsäßer, Marcel Bruckmann, der zwar ein Jahr jünger war als er, physisch geistig und moralisch aber das entschiedenste Üebergewicht über ihn behauptete. Der schon in seinem zwölften Jahre verwaiste Marcel Bruckmann besaß als Erbtheil eine kleine Rente, welche gerade hinreichte, seine Collegien zu bezahlen. Ohne Octave, der ihn während der Ferien zu seinen Eltern mitzunehmen pflegte, hätte er wohl niemals den Fuß außer den Mauern des Lyceums gesetzt.

Erklärlicher Weise wurde Doctor Sarrasin’s Familie bald auch die des jungen Elsäßers. Trotz scheinbarer Kälte doch von tiefempfindsamer Natur, sagte ihm eine innere Stimme, daß er jenen braven Leuten, die ihm Vater- und Mutterstelle vertraten, sein ganzes Leben zu widmen habe. Es ging also ganz natürlich zu, daß er Doctor Sarrasin, dessen Gattin und deren hübsches und schon recht verständiges Töchterchen aufrichtig verehren lernte, doch gab er Allen seine Erkenntlichkeit nicht durch Worte, sondern mehr durch die That kund. Er stellte sich nämlich die angenehme Aufgabe, aus Jeanne, welche viel Wißbegierde zeigte, ein junges Mädchen mit klarem Verstande, mit festem, urtheilsfähigem Geiste heranzubilden, und Octave gleichzeitig zu einem, seines Vaters würdigen Sohn zu erziehen. Die Erreichung dieser Ziele machte ihm der junge Mann allerdings weniger leicht als das junge Mädchen, die für ihr Alter dem Bruder offenbar überlegen war, Marcel hatte sich aber einmal in den Kopf gesetzt, seine Aufgabe nach beiden Seiten hin zu erfüllen.

Marcel Bruckmaun gehörte zu den mannhaften und klugen Kämpen, welche Elsaß-Lothringen alljährlich zu ihrer Erprobung in den Strudel des Pariser Lebens zu entsenden pflegte. Schon als Kind zeichnete er sich ebenso durch die Kraft und Geschmeidigkeit seiner Muskeln, wie durch seine hervorragenden geistigen Anlagen aus. Er war innerlich ebenso ganz willens- und thatkräftig, wie äußerlich ein Hüne von Gestalt. Von der Schule her beherrschte ihn stets das Bedürfniß, sich in Allem auszuzeichnen, in der Arbeit wie beim Spiele, im Turnsaale wie im chemischen Laboratorium. Entging ihm ein Preis seiner jährlichen Ernte, so hielt er das Jahr für verloren. Mit zwanzig Jahren war er ein Riese an Körper, voller Leben und Thätigkeit, eine hochangespannte organische Maschine von größter Leistungsfähigkeit. Sein intelligenter Kopf erregte die Aufmerksamkeit feinerer Beobachter. Als Zweiter in die Centralschule eingetreten, hatte er beschlossen, sie nur als Erster zu verlassen.

Nur seiner unbeugsamen und für zwei Menschen völlig ausreichenden Energie verdankte Octave überhaupt seine Zulassung. Im Laufe eines Jahres hatte ihn Marcel »gedrillt«, an strenge Arbeit, auch an das schöne Bewußtsein des Erfolges gewöhnt. Ihn beseelte für diese schwächliche, schwankende Natur ein Gefühl freundschaftlichen Mitleids, ähnlich demjenigen, das ein Löwe etwa für einen jungen Hund haben kann. Es machte ihm Vergnügen, diese anämische Pflanze durch den Ueberschuß seines Lebenssaftes zu kräftigen und sie auch neben sich Früchte zeitigen zu lassen.

Der Krieg von 1870 überraschte die beiden Freunde, als sie eben mit Absolvirung ihres Examen beschäftigt waren. Sofort, nachdem der Unterricht unterbrochen worden, trat Marcel voll patriotischen Schmerzes über die Gefahren, welche Straßburg und Elsaß bedrohten, in das einunddreißigste Bataillon der Jäger zu Fuß ein. Octave folgte seinem Beispiele.

Schulter an Schulter standen beide Vorposten während der schrecklichen Belagerung von Paris. Bei Champigny erhielt Marcel eine Kugel in den rechten Arm, bei Buzeval eine Epaulette auf die linke Schulter. Octave besaß weder eine Auszeichnung noch eine Wunde. Gewiß lag dieser Mangel nicht an ihm, denn er wich auch im Feuer nie von seines Freundes Seite; kaum sechs Meter blieb er hinter jenem zurück; sechs Meter thaten eben Alles.

Nach dem Friedensschlusse und der Wiederaufnahme der gewohnten Arbeiten bewohnten die Studirenden zwei benachbarte Zimmer in einem einfachen Hause in der Nähe des Collegs. Das Unglück Frankreichs, der Verlust Elsaß‘ und Lothringens hatten Marcel’s Charakter die ganze Reife des Mannes aufgeprägt.

»Es ist die Aufgabe der französischen Jugend, sagte er, die Fehler ihrer Väter wieder gut zu machen, ein Ziel, das sie nur durch ernstliche Arbeit zu erreichen vermag.«

Um fünf Uhr stand er gewöhnlich auf und nöthigte Octave ebenfalls dazu. Er geleitete ihn zum Unterricht und beim Spazierengehen und wich nie einen Fuß breit von seiner Seite. Nach Hause zurückgekehrt, ging es an die Arbeit, die wohl zuweilen durch eine Pfeife Tabak und eine Tasse Kaffee gewürzt wurde. Um zehn Uhr ging man zu Bett mit befriedigtem, wenn auch nicht zufriedenem Herzen und von geistiger Nahrung gesättigt. Von Zeit zu Zeit eine Partie Billard, ein gutes Schauspiel, in längeren Zwischenräumen ein Concert des Conservatoriums, ein Ritt bis in den Wald von Verrières, ein Spaziergang unter den Bäumen, zweimal wöchentlich ein Wettkampf im Boxen und Fechten – das waren so die Zerstreuungen der beiden Freunde. Octave versuchte zwar manchmal, sich gegen diese Ordnung aufzulehnen und ließ seine Neigung zu weniger empfehlenswerthen Vergnügungen durchschimmern. Er sprach davon, Aristide Leroux zu sehen, der in der Brauerei von St. Michel seinen Mann stellte. Marcel spottete aber so bitter über derartige Abweichungen, daß jener seine Lust meist unterdrückte.

Am 29. October 1871 saßen die beiden Stubenburschen gegen sieben Uhr Abends wie gewöhnlich an demselben Tische unter dem Schirme einer gemeinschaftlichen Lampe. Marcel war mit Leib und Seele in ein Problem der descriptiven Geometrie vertieft. Octave beschäftigte sich höchst aufmerksam mit der für ihn leider weit wichtigeren Herstellung einer Kanne Kaffee. Hierin zeichnete er sich mit Vorliebe aus, weil er damit täglich Gelegenheit fand, für einige Minuten der schrecklichen Notwendigkeit, verwirrte Gleichungen aufzulösen, eine der Aufgaben, die Marcel seiner Meinung nach gar zu häufig wiederholte, überhoben zu sein. Tropfen für Tropfen ließ er also das siedende Wasser durch eine dicke Schicht gemahlenen Mokkas sickern, ein stilles Vergnügen, das ihm volle Befriedigung gewährte. Wenn Marcel’s Fleiß ihm Gewissensbisse machte, so fühlte er stets das unwiderstehliche Bedürfniß, ihn wenigstens durch sein Geplauder einmal zu stören.

»Wir werden uns wohl einen ordentlichen Durchseiher anschaffen müssen, sagte er plötzlich. Dieser antike Filter steht wahrlich nicht auf der Höhe der Civilisation.

– So kauf‘ einen Durchseiher! Das wird mindestens dazu dienen, Dich nicht jeden Abend eine Stunde bei dieser Kocherei verspielen zu lassen!« antwortete Marcel.

Wiederum wandte er sich seinem Problem zu.

»Ein Gewölbe hat als Intrados ein Ellipsoid mit drei ungleichen Winkeln, A, B, D, E sei die Grund-Ellipse, welche die größte Achse oA = a enthält, die mittlere Achse aber oB = b, während die kleinste Achse (o, o‘, o“) vertical und gleich c ist, wonach das Gewölbe ein gedrücktes darstellt…«

In diesem Augenblick klopfte es an die Thüre.

»Ein Brief, Herr Octave Sarrasin!« rief der Hausbursche herein.

Man kann sich denken, wie lieb dem jungen Studenten diese Abwechslung war.

»Der ist von meinem Vater, bemerkte Octave. Ich erkenne die Handschrift… Das nennt man doch wenigstens ein Sendschreiben!« fügte er, das Papierpacket in der Hand wiegend, hinzu.

Marcel wußte so wie er, daß der Doctor in England verweilte. Als er vor acht Tagen durch Paris kam, wurde seine Anwesenheit durch ein den beiden Kameraden gegebenes Mittagsmahl im Restaurant des Hotel-Royal gefeiert, das früher berühmt, jetzt aus der Mode gekommen ist, von Doctor Sarrasin aber noch immer als das non plus ultra des Pariser Raffinements betrachtet wurde.

»Theile mir mit, was der Vater von dem hygienischen Congresse schreibt, sagte Marcel. Es war von ihm ein guter Gedanke, dahinzugehen. Die französischen Gelehrten verfallen zu leicht in den Fehler, sich zu isoliren.«

Marcel machte sich wieder an das Studium seines Problems.

» … Die Extrados bestehen aus einem dem ersten ähnlichen Ellipsoid, das sein Centrum unter o‘ der Verticale o haben möge. Nach Bezeichnung der Brennpunkte der drei Hauptellipsen F1, F2, F ziehen wir die Hilfsellipse und Hyperbel, deren gemeinschaftliche Achse…«

Da veranlaßte ihn ein Schrei Octave’s den Kopf zu erheben.

»Was giebt es denn? fragte er, etwas beunruhigt über das erbleichte Gesicht seines Freundes.

– Lies selbst!« erwiderte dieser, der über die eben empfangene Nachricht ganz von Sinnen zu sein schien.

Marcel nahm den Brief, las ihn zu Ende, durchlas ihn noch einmal, warf einen Blick auf die ihn begleitenden Documente und sagte:

»Das ist merkwürdig!«

Dann stopfte er seine Pfeife und setzte sie in aller Muße in Brand. Octave hing an seinen Lippen.

»Glaubst Du, daß das Alles wahr ist, fragte er mit zitternder Stimme.

– Wahr? … Natürlich. Dein Vater hat einen viel zu klaren Verstand und wissenschaftlichen Geist, als daß er sich durch eine derartige Täuschung fangen ließe. Uebrigens liegen ja die Beweise bei und die Sache ist im Grunde sehr einfach.«

Nachdem die Pfeife richtig in Ordnung gebracht war, ging Marcel auf’s Neue an seine Arbeit. Octave stand mit schlotternden Armen dabei, unfähig, nur noch den Kaffee zu Stande zu bringen, viel weniger vermögend, einen logischen Gedanken zu erfassen. Er fühlte sich aber gedrängt zu sprechen, nur um sich zu überzeugen, daß er nicht träume.

»Aber… wenn das wahr ist, so stellt das Alles auf den Kopf!… Weißt Du wohl, daß eine halbe Milliarde ein wahrhaft enormes Vermögen darstellt?«

Marcel erhob wie zur Bestätigung den Kopf.

»Enorm ist das richtige Wort. Es giebt vielleicht kein ähnliches in ganz Frankreich; man kennt nur wenig solche Vermögen in den Vereinigten Staaten und fünf oder sechs in England, fünfzehn oder zwanzig in der ganzen Welt.

– Und ein Titel noch obendrein! rief Octave, ein Baronets-Titel! Ich habe gewiß niemals darnach gestrebt, einen solchen zu besitzen, da sich dieser aber von selbst bietet, so muß man doch wohl zugestehen, daß er einen eleganteren Klang hat als der bloße Name Sarrasin.«

Marcel blies eine dicke Rauchwolke vor sich her, sagte aber kein Wort, Diese Wolken sagten ja deutlich genug: »Bah!… Bah!«

»Ich hätte es, fuhr Octave fort, gewiß nie so gemacht wie viele Menschen, welche ihrem ehrlichen Namen ein Partikelchen anhängen oder sich ein papierenes Marquisat erkaufen! Doch einen echten authentischen Titel zu besitzen, der völlig regelrecht in die »Peerage« Großbritanniens und Irlands eingetragen ist, ohne daß darüber ein Zweifel oder Einspruch aufkommen kann, wie das sonst so häufig geschieht…«

Die Pfeife Marcel’s wiederholte immer ihr »Bah … Bah!«

»Du magst nun dagegen sagen, was Du willst, mein Lieber, fuhr Octave mit Wärme fort, aber »das Blut ist doch etwas besonderes«, wie die Engländer sagen.«

Er hielt vor dem spöttischen Blicke Marcel’s ein wenig ein und kam wieder auf seine Millionen zurück.

»Erinnerst Du Dich, plauderte er weiter, daß Binôme, unser Mathematik-Professor, in seiner ersten Stunde jedes Unterrichtsjahres regelmäßig wiederkäute, daß eine halbe Milliarde eine größere Zahl ist, als daß der menschliche Geist sich von ihr eine einigermaßen richtige Vorstellung zu machen im Stande wäre, wenn man nicht die graphische Darstellung zu Hilfe nähme?… Du weißt wohl noch, daß ein Mann, selbst wenn er jede Minute einen Franc verausgabte, mehr als tausend Jahre brauchte, um mit jener Summe fertig zu werden. O, wahrhaftig… es ist doch ein eigentümliches Gefühl, sich zu sagen, daß man der Erbe einer halben Milliarde Francs ist!

– Eine halbe Milliarde Francs, wiederholte Marcel mehr erregt durch das Wort als die Sache selbst. Weißt Du auch, was Ihr am besten damit anfangen könntet? Ihr solltet sie Frankreich schenken zur Bezahlung seiner Kriegsschulden! Das Vaterland brauchte nur zehnmal so viel!…

– Laß um Himmels willen meinem Vater gegenüber von einem solchen Gedanken nichts verlauten!… rief Octave erschreckt. Er wäre im Stande, darauf einzugehen. Ich sehe schon kommen, daß er selbst über ein ähnliches Project nachdenken wird… es mag noch hingehen, dem Staate das Capital zu verschreiben, aber die Rente davon müßten wir mindestens für uns behalten!

– Sieh da, Du bist ja, ohne davon eine Ahnung zu haben, ein geborner Kapitalist! erwiderte Marcel. Dennoch sagt mir ein gewisses Etwas, mein armer Octave, daß es für Dich besser gewesen wäre – wenn nicht auch für Deinen Vater, der doch klaren Kopf und Sinn hat – daß diese ungeheure Erbschaft sich auf bescheidenere Dimensionen beschränkte. Ich sähe es weit lieber, Du hättest mit Deiner braven kleinen Schwester eine Rente von fünfundzwanzigtausend Pfund zu verzehren, als diesen Berg von Gold!« Er ging wieder an seine Arbeit.

Auch Octave war es unmöglich, ganz müßig zu bleiben, und er wanderte deshalb so hastig im Zimmer auf und ab, daß sein Freund endlich ungeduldig wurde.

»Du würdest besser thun, in die Luft zu gehen, sagte er, heute Abend bist Du doch für alles Andere untauglich.

– Du hast recht!« antwortete Octave, der mit Freuden diese halbe Erlaubniß ergriff, jeder Art von Arbeit zu entschlüpfen.

Schnell griff er nach dem Hute, eilte die Treppen hinab und befand sich auf der Straße. Nach kaum zehn Schritten machte er schon wieder unter einem Gascandelaber Halt, um den Brief seines Vaters noch einmal zu durchlesen. Er fühlte das Bedürfniß, sich zu überzeugen, daß er wirklich wach sei.

»Eine halbe Milliarde!… Eine halbe Milliarde … wiederholte er sich immer. Das giebt mindestens fünfundzwanzig Millionen Rente… Wenn mir mein Vater jährlich nur eine zum Unterhalte gewährt, nur eine halbe, nur eine viertel davon, so wäre ich ja glücklich. Mit Geld läßt sich gar viel anfangen! Gewiß würde ich es weise anwenden. Ich bin doch kein Dummkopf, nicht wahr?… Man hat ja in der École centrale Aufnahme gefunden!… Dazu besitze ich auch einen Titel!… Ich werde ihm keine Schande machen!«

Im Vorbeigehen sah er sich in den Spiegelscheiben eines Ladens.

»Ich werde ein Hotel haben und Pferde! … Marcel natürlich ganz wie ich. Von dem Augenblicke an, wo ich reich bin, ist es ganz dasselbe, als ob er es wäre. Das versteht sich von selbst! … Eine halbe Milliarde! … Baronet! … Es ist drollig; jetzt, da es gekommen ist, scheint es mir, als hätte ich schon darauf gewartet. Eine innere Stimme sagte mir, daß ich nicht dazu auserlesen sei, ewig über Büchern zu brüten und Gleichungen zu enträthseln! … Doch wie dem auch sei, es ist doch ein schöner Traum!«

Octave wanderte mit derlei Gedanken im Kopfe längs der Arcaden der Rivoli-Straße hin. Er kam nach den Elysäischen Feldern, bog um die Ecke der Rue Royale und gelangte nach dem Boulevard. Früher fiel sein Blick theilnahmslos auf die Schaufenster mit ihren glänzenden Ausstattungen, die er als unnütze Sachen betrachtete, welche ihn nichts angingen. Heute blieb er davor stehen und empfand mit freudiger Erregung, daß alle diese Schätze ihm gehörten, wenn er nur wollte.

»Für mich, sagte er, drehen die Spinnerinnen Hollands ihre Spindeln, für mich erzeugt Elboeuf seine geschmeidigsten Gewebe, construiren die Uhrmacher die feinsten Chronometer, strahlt der Kronleuchter der großen Oper sein Meer von Licht, klingen die Geigen und schreien sich die Sängerinnen heiser! Für mich züchtet man Vollblut in den Manegen und erstrahlt das Café Anglais in vollem Glanze! … Paris ist mein! … Alles gehört mir! … Sollte ich nicht auf Reisen gehen? Nicht meine Baronie in Indien besuchen? Da könnte ich einmal eine Pagode kaufen, sowie die bronzenen und elfenbeinernen Idole über den Marktpreis bezahlen! … Dann schaffte ich mir Elefanten an … ginge auf die Tigerjagd!… Und die herrlichen Gewehre!… Das prächtige Boot! … Ein Boot? Ei nein, aber eine schöne tüchtige Dampfyacht, die mich hinbringt, wohin ich will und anhält und abfährt nach meinem Belieben. Halt, da ich eben beim Dampf bin, meiner Mutter werd‘ ich doch Nachricht zugehen lassen müssen. Wenn ich nun nach Douai führe?… Aber jetzt ist Unterrichtszeit… o, das Colleg, man kann ja wohl einmal fehlen. Aber Marcel muß davon wissen. Ich werde ihm eine Depesche senden, er muß doch begreifen, daß es mich drängt, unter solchen Umständen meine Mutter und meine Schwester zu sehen.« Octave trat in ein Telegraphenbureau, meldete seinem Freunde, daß er abreise und in zwei Tagen zurückkehren werde. Dann sprang er in einen Fiaker und ließ sich nach dem Nordbahnhof fahren.

Sobald er im Waggon saß, setzte er seine Träumereien fort.

Um zwei Uhr Morgens läutete Octave geräuschvoll an der Thüre seines Vaterhauses – an der Nachtklingel – und setzte das friedliche Stadtviertel des Aubette in Aufregung.

»Wer mag denn so krank sein? fragten sich die Gevattern von einem Fenster zum andern.

– Der Doctor ist nicht in der Stadt! rief die alte Magd aus ihrer Luke in der obersten Etage herab.

– Ich bin’s, Octave!… Machen Sie schnell auf, Francine!« Nach längerem Warten gelang es Octave, in das Haus einzudringen. Seine Mutter und die Schwester Jeanne liefen eiligst in Nachtkleidern herbei, um die Ursache seines plötzlichen Besuches zu erfahren. Der mit lauter Stimme vorgelesene Brief des Doctors lieferte schnell den Schlüssel zu diesem Räthsel.

Madame Sarrasin war einen Augenblick ganz außer sich. Mit Freudenthränen im Auge, umarmte sie ihren Sohn und ihre Tochter. Es schien ihr, als gehöre ihnen nun die ganze Welt und als könnte das Unglück unmöglich jemals die jungen Leute treffen, welche jetzt einige hundert Millionen besaßen. Die Frauen sind indeß weit mehr als die Männer dazu geschaffen, große Schicksalswandlungen zu ertragen, Madame Sarrasin durchlas den Brief ihres Gatten noch einmal, sagte sich, daß es seine Sache wäre, über ihr Geschick und das der Kinder zu bestimmen, und die Ruhe zog damit wieder in ihr Herz ein. Jeanne schien über die Freude ihrer Mutter und ihres Bruders beglückt zu sein; ihr dreizehnjähriges Köpfchen selbst aber träumte von keinem größeren Glücke, als sie in diesem kleinen Hause schon genoß, wo sich ihr Leben zwischen dem Unterrichte der Lehrer und den Liebkosungen der Eltern in Frieden und Freuden abspielte. Sie hatte keine besondere Vorstellung davon, warum einige Stöße Banknoten mehr in ihrer Lebensweise eine besondere Veränderung hervorbringen sollten, und machte sich deshalb über die Zukunft keine besonderen Sorgen.

Madame Sarrasin, sehr jung schon die Gattin eines gänzlich mit seinen stillen Studien beschäftigten Fachgelehrten, respectirte die Liebhaberei ihres Mannes, den sie zärtlich liebte, wenn sie ihn auch nicht immer verstand. Da sie das Glück, das Doctor Sarrasin in seiner Arbeit fand, nicht zu theilen vermochte, fühlte sie sich wohl manchmal etwas vereinsamt an der Seite dieses fleißigen Forschers und wandte ihre Liebe, ihre Hoffnungen nur destomehr ihren Kindern zu. Für sie träumte sie immer eine glänzende Zukunft, welche ihnen unzweifelhaft bevorstehen müsse. Octave – daran zweifelte sie keinen Augenblick – war gewiß noch zu höheren Dingen berufen. Seit seinem Eintritte in die Centralschule hatte sich die bescheidene und nützliche Akademie für junge Ingenieure in ihrer Vorstellung zu einer Pflanzschule berühmter Männer erhoben. Ihre einzige Beunruhigung hatte den Grund darin, daß sie ihr geringes Vermögen für ein Hinderniß, für eine Schwierigkeit ansah, welches die glorreiche Laufbahn ihres Sohnes hemmen und auch der einstigen Lebensstellung ihrer Tochter schaden könne. Was sie jetzt freilich aus dem Schreiben ihres Mannes ersah, sagte ihr, daß sie solche Befürchtungen fallen lassen könne. Jetzt war ihre Befriedigung vollständig.

Mutter und Sohn verbrachten einen großen Theil der Nacht plaudernd und Pläne entwerfend, während die mit der Gegenwart zufriedene und um die Zukunft unbesorgte Jeanne in einem Lehnstuhl friedlich eingeschlummert war.

Endlich wollten sich auch die beiden Anderen einige Ruhe gönnen.

»Du hast mir noch gar nichts von Marcel mitgetheilt, sagte Madame Sarrasin zu ihrem Sohne. Setztest Du ihn von dem Briefe des Vaters etwa gar nicht in Kenntniß? Was meint er dazu?

– O, erwiderte Octave, Du kennst ja Marcel! Er ist mehr als ein Gelehrter, er ist ein Stoiker vom Kopf bis zu den Zehen! Ich glaube, er erschrak über die Größe dieser Erbschaft, d. h. in Bezug auf uns; den Vater nahm er davon aus, dessen gesunder Sinn, wie er sagte, und tiefe wissenschaftliche Bildung ihn beruhigte. Zum Teufel, aber was Dich betrifft, Mutter, und Jeanne auch und vorzüglich mich, so verhehlte er nicht, daß er eine geringere Erbschaft, so etwa fünfundzwanzigtausend Pfund Rente, weit lieber gesehen hätte…

– Marcel hat vielleicht so unrecht nicht, antwortete Madame Sarrasin mit einem Blick auf ihren Sohn. Ein plötzlicher Glücksfall birgt für gewisse Naturen nicht selten seine Gefahren!«

Jeanne war eben wieder erwacht und hatte nur die letzten Worte ihrer Mutter gehört.

»Du weißt, Mama, sagte sie, sich die Augen reibend und nach ihrem Kämmerchen wankend, Du weißt, was Du mir eines Tages gesagt hast, daß Marcel immer recht habe! Ich, ich glaube, was unser Freund Marcel für wahr hält!«

Jeanne umarmte noch ihre Mutter und verschwand.

Zwanzigstes Capitel.


Zwanzigstes Capitel.

Schluß.

France-Ville ist nun von jeder Unruhe frei, in Frieden mit allen Nachbarn, weise verwaltet, glücklich mit seinen gesitteten Bewohnern und blüht im eigenen Glücke empor. Sein wohlverdientes Gedeihen erregt bei Niemandem Neid, seine Stärke schützt es vor ungerechten Angriffen.

Stahlstadt war nichts als eine ungeheure Werkstatt, eine gefürchtete Zerstörungsmaschine in der eisernen Hand des Herrn Schultze, jetzt ist durch Marcel Bruckmann’s Bemühen die Liquidation vollendet, ohne daß Jemand dabei geschädigt worden wäre, und nun ist es ein Centralpunkt ohne Gleichen geworden, der befruchtend auf alle Zweige der Industrie wirkt.

Seit einem Jahre ist Marcel der glückliche Gatte Jeanne’s und die Geburt eines Kindes setzte ihrem Glücke noch die Krone auf.

Octave hat sich unter der Leitung seines Schwagers noch weiter trefflich entwickelt und unterstützt jenen mit voller Kraft. Seine Schwester geht jetzt damit um, ihn an eine ihrer Freundinnen zu verheiraten, welche neben hübscher Erscheinung auch gesunden Menschenverstand und Willensstärke genug besitzt, ihn vor etwaigen Rückfällen zu bewahren.

Die Wünsche des Doctors und seiner Gattin sind in Erfüllung gegangen und sie würden sozusagen auf dem Gipfel des Glücks und des Ruhmes stehen – wenn der Ruhm in dem Programm ihres edlen Ehrgeizes nur überhaupt eine Stelle gefunden hatte.

Schließlich dürfen wir wohl versichern, daß für die Zukunft, Dank den Bemühungen des Doctor Sarrasin und Marcel Bruckmann’s, bestens gesorgt ist und daß das Beispiel von France-Ville und Stahlstadt, der Musterstadt und Musterwerkstatt, auch für spätere Generationen nicht verloren sein wird.

Drittes Capitel.


Drittes Capitel.

Unter »Vermischtes«.

Als sich Doctor Sarrasin zur vierten Sitzung des hygienischen Congresses einstellte, drängte sich ihm die Beobachtung auf, daß ihn alle Collegen mit ganz besonderer Auszeichnung empfingen. Bis jetzt hatte der ehrenwerthe Lord Glandover, Ritter des Hosenbandordens, der den nominellen Vorsitz der Versammlung führte, es kaum für der Mühe werth erachtet, von der persönlichen Anwesenheit des französischen Arztes Notiz zu nehmen.

Dieser Lord war ein hochgestellter Mann, dessen Aufgabe darin bestand, die Sitzungen zu eröffnen oder zu schließen und ganz mechanisch denjenigen Rednern das Wort zu ertheilen, welche auf einer ihm vorliegenden Liste verzeichnet standen. Er steckte stets die Hand in eine Oeffnung seines im Uebrigen zugeknöpften Ueberrockes – nicht etwa, weil er vom Pferde gestürzt war – sondern einzig deshalb, weil einige englische Bildhauer diese unbequeme Stellung für die Statuen mehrerer Staatsmänner gewählt haben.

Ein bleiches glattes Gesicht mit einzelnen rothen Flecken, eine Perrücke aus Queckengras, hoch über einer wahrscheinlich etwas hohlklingenden Stirne aufgethürmt, bildeten eine höchst komische und gleichzeitig ungeheuer steife Erscheinung. Lord Glandover bewegte sich nur im Ganzen, als wäre er aus Holz oder Papiermaché hergestellt. Selbst seine Augen zuckten unter dem Knochenbogen ihrer Höhlen nur stoßweise, wie die einer Puppe oder eines Gliedermannes.

Bei der ersten Vorstellung hatte der Präsident des hygienischen Congresses Doctor Sarrasin mit gnädiger Herablassung begrüßt, welche, in Worte übersetzt, etwa lautete:

»Guten Tag, Sie kleiner Mann! … Sie sind also Derjenige, welcher, um sein bischen Leben zu gewinnen, solche kleine Arbeiten mit den kleinsten Maschinchen ausführt? … Ich muß in der That ein scharfes Gesicht besitzen, um eine auf der Stufenleiter der lebenden Wesen so tief unter mir stehende Creatur zu erkennen … Setzen Sie sich in den Schatten meiner Herrlichkeit, ich gestatte es Ihnen!« Heute begrüßte ihn Lord Glandover mit dem zuvorkommendsten Lächeln und trieb die Höflichkeit sogar so weit, ihm einen leeren Platz an seiner rechten Seite anzubieten. Uebrigens hatten sich auch alle übrigen Mitglieder des Congresses von ihren Sitzen erhoben.

Verwundert über diese Zeichen außerordentlich schmeichelhafter Aufmerksamkeit und in der Ueberzeugung, daß der Blutkügelchen-Zähler seinen Collegen bei näherer Betrachtung doch als eine weit wichtigere Entdeckung als auf den ersten Blick erschienen sei, nahm Doctor Sarrasin den ihm angebotenen Platz ein.

All‘ sein Entdecker-Stolz schwand aber dahin, als Lord Glandover sich mit einer so ungewohnten Verrenkung, daß er sich dabei wohl einen steifen Hals zuziehen konnte, zu seinem Ohr neigte und sagte:

»Ich höre, daß Sie ein Mann von großem Vermögen sind? Man sagt mir, Sie ›wären einundzwanzig Millionen Sterling werth‹?«

Lord Glandover schien untröstlich, daß er das eine so hübsche Summe erreichende Aequivalent an Fleisch und Bein hatte so unbeachtet lassen können.

»Warum theilten Sie mir das nicht gleich mit? … Offen gesagt, das war nicht hübsch; man soll sich nicht solchem falschen Verdacht aussetzen!«

Doctor Sarrasin, der sich seinem Gefühle nach nicht um einen Deut mehr werth schätzte als bei den früheren Sitzungen, fragte sich, wie die ihn betreffende Neuigkeit schon eine solche Verbreitung habe finden können, als ihm Doctor Ovidius aus Berlin, sein rechter Nachbar, mit falschem Lächeln zuflüsterte:

»Sie sind ja ein wahrer Rothschild geworden! – Der »Daily Telegraph« bringt schon die Nachricht! … Meinen herzlichen Glückwunsch!«

Er übergab ihm dabei eine Nummer des Journals von demselben Morgen. Da las man unter der Rubrik »Vermischtes« folgende Zeilen, die ihren Verfasser deutlich genug erkennen ließen:

»Eine ungeheure Erbschaft. – Die berühmte, unerhobene Nachlassenschaft der Begum Gokool hat endlich durch die Gewandtheit und Mühe der Herren Billows, Green und Sharp, Sollicitors, 93 Southampton row, London, ihren berechtigten Empfänger gefunden. Der glückliche Eigenthümer jener jetzt in der Bank von England niedergelegten einundzwanzig Millionen Sterling ist ein französischer Arzt, der Doctor Sarrasin, über dessen schöne Denkschrift, die er dem Kongresse für Hygiene in Brighton vorgelegt, wir vor wenig Tagen erst berichtet haben. Nach vieler Mühe und vergeblichen Nachforschungen, deren Aufzählung fast einen Roman für sich bilden würde, ist Mr. Sharp der unbestreitbare Nachweis gelungen, daß Doctor Sarrasin der einzige lebende Nachkomme des Baronet Jean Jacques Langevol, des zweiten Gemahls der Begum Gokool, ist. Der Erwähnte stammt, wie alle Documente bestätigen, aus der kleinen französischen Stadt Bar-le-Duc. Zum Zwecke der Besitzergreifung sind nur noch einige unbedeutende Formalitäten zu erfüllen. Das Gesuch liegt dem Kanzleihofe jetzt schon vor. Es ist wahrlich eine wunderbare Verknüpfung von Umständen zu nennen, die auf das Haupt eines französischen Gelehrten außer einem britannischen Titel nun die Schätze einer ganzen Reihe indischer Rajahs aufgehäuft haben. Die Glücksgöttin hätte ja auch eine minder gute Wahl treffen können, und man darf wohl darüber erfreut sein, daß ein so beträchtliches Capital in Hände gefallen ist, welche gewiß den besten Gebrauch davon zu machen wissen werden.«

Es war eine ganz eigenthümliche Empfindung, welche Doctor Sarrasin die so schnelle Veröffentlichung seiner Angelegenheit widerwärtig erscheinen ließ; nicht die kleinen Unannehmlichkeiten waren daran Schuld, die er als scharfer Menschenkenner als nächste Folge derselben voraussah, sondern er fühlte sich selbst erniedrigt durch die Wichtigkeit, die man der ganzen Sache beilegte; er erschien sich persönlich verkleinert gegenüber der enormen Summe seines Kapitals. Seine Arbeiten, sein persönliches Verdienst – was er selbst nicht zu gering anschlug – verschwanden schon in diesem Ocean von Gold und Silber, selbst in den Augen seiner Collegen. Sie sahen in ihm nicht mehr den unermüdlichen Forscher, den feinen, erleuchteten Geist, den scharfsinnigen Erfinder – sie erkannten in ihm nur eine halbe Milliarde. Wäre er ein kropfbehafteter Krüppel aus den Hochalpen gewesen, ein roher Hottentotte, ein noch so tief gesunkenes Menschenkind, statt einer der ehrenwerthesten Repräsentanten der Menschheit, sein »Gewicht« wäre doch dasselbe geblieben. Lord Glandover hatte sich des Wortes bedient, er »werthete« einundzwanzig Millionen Sterling, nicht mehr und nicht weniger.

Dieser Gedanke entmuthigte ihn und der gesammte Congreß, der ihn mit vollständig wissenschaftlicher Neugier betrachtete, um zu sehen, wie sich »ein halber Milliardär« ausnähme, bemerkte mit Verwunderung, daß sich seine Physiognomie durch eine gewisse Traurigkeit verschleierte.

Doch das war nur eine vorübergehende Schwäche. Die Größe des Zweckes, dem er die unerwarteten Reichthümer zu widmen entschlossen war, trat dem Doctor vor Augen und heiterte seine Züge wieder auf. Er wartete das Ende der Vorlesung des Doctor Stewenson aus Glasgow über die Erziehung der jungen Idioten ruhig ab und erbat sich dann das Wort zu einer Mittheilung.

Lord Glandover ertheilte es ihm sofort, sogar noch vor dem schon angemeldeten Doctor Ovidius. Er hätte es ihm gegeben, auch wenn der ganze Congreß dagegen opponirt, wenn alle Gelehrten Europas Einspruch erhoben hätten gegen eine solche Bevorzugung! Die Stimme des Präsidenten ließ dies deutlich genug erkennen.

»Meine Herren, begann Doctor Sarrasin, ich gedachte eigentlich noch einige Tage zu warten, bevor ich Sie mit dem ungeahnten Glücksfall bekannt machte, der mich betroffen, und ehe ich Ihnen die weiteren Folgen vor Augen führte, welche dieser Zufall für die Wissenschaft haben kann. Da die Sache jedoch ohne mein Zuthun schon bekannt geworden ist, möchte es als Ziererei erscheinen, wenn ich mich nicht über die Begründung oder Übertreibung etwaiger Gerüchte ausspreche. . . Nun, meine Herren, es ist allerdings an dem, daß mir eine beträchtliche Summe, eine Summe »von mehreren hundert Millionen«, welche jetzt im Depot der Bank von England liegt, rechtlicher Weise zugefallen ist. Brauche ich Ihnen erst zu sagen, daß ich mich unter diesen Verhältnissen nur als Fidei-Commissär der Wissenschaft betrachte? (Allseitige Sensation.) Mir gehört ja eigentlich dieses Capital nicht, es gehört der Menschheit, dem Fortschritt! (Bewegung, Ausrufe, einstimmiges Bravo. Der ganze Kongreß erhebt sich, begeistert durch die eben gehörte Erklärung.) Beschämen Sie mich nicht durch Ihren Beifall, meine Herren. Ich kenne keinen einzigen Jünger der Wissenschaft, Keinen, der dieses schönen Namens würdig wäre, der an meiner Stelle nicht das Nämliche gethan hätte. Wer weiß, ob es nicht gar noch Mißgünstige giebt, die da meinen, daß auch eine solche Handlungsweise mehr von Eigenliebe, als von der Hingebung an edlere Zwecke dictirt sei? … (Nein! nein!) Darauf kommt übrigens nicht viel an. Halten wir nur das letzte Ziel im Auge, Ich erkläre also hiermit endgiltig und ohne jeden heimlichen Hintergedanken: Die halbe Milliarde, welche der Zufall in meine Hände gab, ist nicht mein Eigenthum, sondern das der Wissenschaft. Wollen Sie das Parlament bilden, welches das nöthige Budget aufstellt? … Ich habe nicht das genügende Vertrauen zu mir, daß ich im Stande wäre, allein darüber zu verfügen. Ich rufe Sie zu Richtern auf, Sie mögen selbst entscheiden, wie dieser Schatz am nützlichsten zu verwenden sein mag!« (Hurrahs. Ungeheure Erregung. Allgemeines Delirium.)

Der ganze Congreß war auf den Füßen. Einige Mitglieder desselben haben in ihrer Begeisterung die Tische bestiegen. Professor Turnbull aus Glasgow scheint von einem Schlaganfall bedroht. Doctor Cicogna aus Neapel ist ganz außer Athem. Nur Lord Glandover bewahrt die Würde und heitere Ruhe, welche seinem Range entspricht. Er ist übrigens vollkommen überzeugt, daß Doctor Sarrasin sich nur einen angenehmen Scherz erlaube und nicht im Mindesten die Absicht habe, einen so extravaganten Plan auch auszuführen.

Der endlich wieder zu einigem kalten Blute gelangte Congreß hörte mit wahrhaft kirchlicher Ruhe zu.

»Meine Herren, unter den Veranlassungen zu Krankheiten, den Ursachen des Elends und vorzeitigen Todes, welche uns umringen, giebt es eine, die meiner Ansicht nach gewiß die höchste Beachtung verdient, es sind das die bedauernswerthen hygienischen Verhältnisse, unter denen die meisten Menschen leiden. Sie drängen sich in den Städten dicht zusammen, in Wohnungen, denen es an Luft und Licht, den beiden unentbehrlichen Bedingungen des Lebens und der Gesundheit, mangelt. Diese Anhäufungen von Menschen werden nicht selten wirkliche Infectionsherde. Diejenigen, welche dabei den Tod nicht finden, werden doch in ihrer Gesundheit geschädigt; ihr Productionsvermögen nimmt ab und die Gesellschaft verliert auf diese Weise große Summen von Arbeit, welche sonst vortheilhaft zu verwenden wäre. Warum, meine Herren, sollten wir gegen diesen Uebelstand nicht einmal das mächtigste Mittel der Ueberredung, nämlich das eigene Beispiel versuchen? Warum sollten wir nicht einmal alle Kräfte, alle unsere Kenntnisse vereinigen, um den Plan zu einer Musterstadt, die den strengsten wissenschaftlichen Anforderungen entspräche, auszuarbeiten und durchzuführen? … (Ja, ja, sehr richtig!) Warum sollten wir also nicht das Capital, das uns zur freien Verfügung steht, dazu anwenden, diese Stadt zu erbauen und sie der Welt gleichsam als praktischen Unterrichtsgegenstand vor Augen zu stellen?« (Ja wohl! Gewiß! – Donnernder Beifall.)

Die Mitglieder des Kongresses drücken, wie von ansteckender Tollkrankheit befallen, einander die Hände, stürzen sich auf Doctor Sarrasin, heben ihn in die Höhe und tragen ihn im Triumph durch den Saal.

»Nach dieser Stadt, meine Herren, fuhr der Doctor fort, als es ihm gelungen, seinen Platz wieder zu erobern, die Jeder von uns schon vor seinem geistigen Auge vollendet sieht, was wohl binnen wenig Monaten zur Wahrheit werden kann, nach dieser Stadt der Gesundheit und des Wohlergehens laden wir dann alle Völker zum Besuche ein, verbreiten den Plan und die Beschreibung derselben in allen Sprachen und ziehen solche ehrenwerthe Familien dahin, welche Armuth und Arbeitsmangel aus den überfüllten Ländern vertrieben haben. Auch solche – Sie werden nicht darüber erstaunen, wenn ich daran denke – welche äußere Verhältnisse zu einem grausamen Exil gezwungen haben, würden bei uns einen Platz für ihre Thätigkeit, für die fruchtbringende Entfaltung ihrer Geisteskräfte finden und uns moralische Schätze zuführen, welche mehr werth sind als Goldminen und Diamantengruben. Wir errichten hier geräumige Schulen, in denen die Jugend, erzogen nach weisen, alle moralischen, physischen und intellectuellen Fähigkeiten gleichmäßig ausbildenden Grundsätzen, uns für die Zukunft vielversprechende Generationen sichern würde!«

Wir müssen darauf verzichten, den enthusiastischen Lärm zu beschreiben, der dieser Mittheilung folgte. Die Beifallsrufe, die »Hipp! Hipp!« die Hurrahs hörten eine ganze Viertelstunde nicht mehr auf.

Doctor Sarrasin hatte sich kaum wieder niedergesetzt, als sich Lord Glandover nochmals zu ihm herabneigte und mit den Augen zwinkernd ihm in’s Ohr sagte:

»Eine ausgezeichnete Speculation! … Sie rechnen auf den Ertrag des Octroi, ja? … Ein ganz sicheres Geschäft, sobald es von gewählten Namen eingeführt und patronisirt wird! … Alle Kranken und Halbgesunden werden dort wohnen wollen! … Ich hoffe, Sie heben mir ein gutes Stück Land auf, nicht wahr?«

Der durch diese Hartnäckigkeit, mit der er seinen besten Absichten nur eigennützige Motive untergeschoben sah, erzürnte Doctor wollte diesmal Seiner Herrlichkeit antworten, als er hörte, daß der Vicepräsident einen durch Acclamation darzubringenden Dank vorschlug für den Urheber der menschenfreundlichen Vorschläge, welche die Versammlung eben vernommen hatte.

»Es wird dem Congreß von Brighton, sagte er, zur ewigen Ehre gereichen, daß dieser Gedanke hier an’s Licht trat. Ihn überhaupt zu fassen, das bedurfte nichts Geringeres als der höchsten klarsten Einsicht im Verein mit einem großen Herzen und einer Freigebigkeit ohne Gleichen. . . und doch, jetzt, da diese Idee ausgesprochen ist, wundert man sich fast, daß sie nicht schon lange einmal verwirklicht wurde! Wie viele in nutzlosen Kriegen verschwendete Milliarden, wie viel durch lächerliche Speculation vergeudete Capitalien hätte man einem solchen Zwecke schon opfern können und sollen!«

Schließlich machte der Redner den Vorschlag, die neue Stadt als gerechte Ehrenbezeugung für ihren Gründer »Sarrasina« zu nennen.

Dieser Vorschlag hatte schon einstimmige Annahme gefunden, als man auf das Ersuchen Doctor Sarrasin’s ihn doch noch einmal in Berathung nehmen mußte.

»Nein, sagte dieser, mein Name hat hierbei nichts zu schaffen. Hüten wir uns überhaupt, die zukünftige Stadt durch eine Benennung zu entstellen, welche unter dem Vorwande, aus dem Griechischen oder Lateinischen zu stammen, dem Wesen der Sache, die sie trägt, immer einen etwas pedantischen Anstrich verleiht. Jene wird die Stadt des Wohlbefindens sein, doch ich wünschte, daß mit ihr der Name meines Vaterlandes verknüpft würde und wir sie z. B. »France-Ville« tauften!«

Man konnte dem Doctor diese wohlverdiente Satisfaction nicht weigern.

France-Ville war mit Worten schon gegründet; es sollte, da die Sitzung geschlossen wurde, das auch bald auf dem Papiere sein. Man beschäftigte sich sofort mit der Berathung der Hauptgegenstände des Projects.

Lassen wir den Congreß jedoch bei dieser praktischen Beschäftigung, welche sich von der gewöhnlichen Thätigkeit derartiger Versammlungen so wesentlich unterschied, um dem Schicksal der Mitteilung des »Daily Telegraph« auf einer ihrer unzähligen Wanderungen Schritt für Schritt zu folgen.

Vom Abend des 29. October ab strahlte die piquante, wörtlich abgedruckte Neuigkeit mittelst der englischen Journale nach allen Provinzen des Vereinigten Königreiches aus. Sie erschien unter Anderem in der Huller Zeitung und stand am Kopfe der zweiten Seite einer Nummer dieses bescheidenen Blattes, das die »Mary Queen«, ein mit Kohlen beladener Dreimaster, schon am 1. November nach Rotterdam brachte.

Dort sofort von der fleißigen Scheere des Chefredacteurs und einzigen Secretärs des »Niederländischen Echos« ausgeschnitten und in die Sprache Cuyp’s und Potter’s übertragen, gelangte die sensationelle Nachricht auf den Flügeln des Dampfes am 2. November an die »Bremer Nachrichten«. Hier erhielt sie, ohne an der Thatsache etwas zu ändern, ein neues Kleid und erschien nun bald gedruckt in drei Sprachen. Wir wissen freilich nicht, warum der teutonische Journalist, nachdem er seine Übersetzung mit »Eine übergroße Erbschaft« überschrieben hatte, zu der elenden Ausflucht griff, die Leichtgläubigkeit seiner Leser dadurch zu mißbrauchen, daß er in Paranthese hinzufügte: »Original-Correspondenz aus Brighton«?

Nachdem die Sache nun einmal deutsch geworden, gelangte der Bericht auch an die Redaction der großen »Norddeutschen Allgemeinen«, welche ihm einen Platz in der zweiten Spalte der dritten Seite einräumte, während sie die frühere Überschrift, als eine zu charlatanmäßige für eine so ernsthafte Person, einfach unterdrückte.

Nachdem der Bericht so verschiedene Wandlungen durchgemacht, kam er am Abend des 3. November in die große Hand eines sächsischen Hausdieners und durch diesen in das Zimmer des Professor Schultze, an der Universität Jena.

Einen so hohen Platz eine solche Persönlichkeit auch auf der Stufenleiter der lebenden Wesen einnimmt, so bot der Genannte auf den ersten Blick doch nichts Außergewöhnliches dar. Er war ein hochgewachsener Mann von fünf- bis sechsundvierzig Jahren; seine mächtigen Schultern deuteten auf eine gute Constitution; seine Stirne war kahl und die wenigen Haare an den Schläfen und dem Hinterkopfe erinnerten mit ihrer Farbe etwa an den Flachs. Seine Augen waren blau, doch von jenem unbestimmten Blau, das keinen Gedanken verräth. Aus ihnen scheint kein Strahl hervorzuleuchten, und doch fühlt man sich unangenehm berührt durch ihren Blick. Professor Schultze hatte einen großen Mund mit einer Doppelreihe tüchtiger Zähne, welche nicht wieder loslassen, was sie einmal packten, doch mit einem Saume schmaler Lippen, deren Hauptaufgabe darin zu bestehen schien, die Worte zu zählen, welche sie passirten. Die ganze Erscheinung machte auf jeden Andern einen beunruhigenden, fast widerwärtigen Eindruck, worüber der Professor selbst übrigens ganz befriedigt zu sein schien.

Bei dem durch seinen Diener verursachten Geräusch wandte er die Augen nach dem Kamine und sah nach einer sehr hübschen Wiener Stutzuhr, die sich merkwürdiger Weise unter die sonst sehr einfache Ausstattung seines Zimmers verirrt hatte, wobei er mit einer mehr steifen als rauhen Stimme sagte:

»Sechs Uhr fünfundfünfzig! Mein Courier kommt spätestens um sechs Uhr dreißig. Sie bringen mir ihn heute wieder fünfundzwanzig Minuten zu spät. Das nächste Mal, wenn er nicht um sechs Uhr dreißig auf meinem Tische liegt, verlassen Sie binnen acht Tagen meinen Dienst.

– Wünscht der Herr Professor jetzt zu speisen? fragte der Diener, bevor er sich zurückzog.

– Es ist jetzt erst sechs Uhr fünfundfünfzig und ich esse um sieben Uhr! Das ist Ihnen schon seit den drei Wochen, die Sie in meinem Hause sind, bekannt. Beachten Sie für die Zukunft, daß ich niemals mit den Stunden wechsle und nicht gewohnt bin, meine Anordnungen zu wiederholen.«

Der Professor legte das Journal auf den Tisch und begann wieder an einem Aufsatze zu arbeiten, der in den nächsten Tagen in den »Annalen für Physiologie« erscheinen sollte. Wir begehen wohl keine Indiscretion, wenn wir die Überschrift dieser Arbeit mittheilen. Dieselbe lautete nämlich:

»Warum verfallen alle Franzosen in höherem oder geringerem Grade einer fortwährenden Entartung?«

Während sich der Professor mit dieser Aufgabe beschäftigte, wurde das Abendessen, bestehend aus einer Schüssel mit Würstchen und Kohl, nebst einem tüchtigen Krug Bier auf einem anderen Tische servirt. Der Gelehrte legte die Feder weg und verzehrte diese Mahlzeit mit größerem Wohlgefallen, als man von einer so ernsthaften Persönlichkeit erwartet hätte. Dann klingelte er nach dem Kaffee, zündete eine große Porzellanpfeife an und machte sich wieder an die Arbeit.

Es war fast Mitternacht, als der Professor das letzte Blatt weglegte, worauf er sich sofort nach seinem Schlafzimmer begab, um der wohlverdienten Ruhe zu pflegen. Erst im Bette löste er das Kreuzband von seinem Journal und begann vor dem Einschlafen noch ein wenig zu lesen. Eben als ihm die Augen zufallen wollten, wurde seine Aufmerksamkeit durch einen fremden Namen, nämlich Langevol, erregt, dem er unter der Rubrik »Vermischtes« in Verbindung mit der ungeheuren Erbschaftsangelegenheit begegnete. So viel er sich aber auch bemühte, sich klar zu machen, weshalb ihm dieser Name besonders auffiel, so gelangte er doch zu keinem Resultate. Nachdem er eine Zeit lang vergeblich hin und her überlegt hatte, warf er die Zeitung weg, blies das Licht aus und lag bald in tiefem Schlafe.

In Folge eines gewissen physiologischen Phänomens aber, über welches er sich früher selbst in langen gelehrten Abhandlungen verbreitet hatte, kehrte dieser Name Langevol sogar in Professor Schultze’s Träumen wieder. Ja, beim Erwachen am nächsten Morgen hatte er ihn zu seiner größten Verwunderung zuerst auf den Lippen.

Plötzlich, als er gerade nach der Uhr sehen wollte, ging ihm ein unerwartetes Licht auf. Er hob das vor dem Bett liegende Journal wieder auf und las die betreffende Nachricht wiederholt von Anfang bis zu Ende durch, während er sich immer noch die Stirne rieb, als wolle er seine Gedanken in besseren Fluß bringen. Offenbar wurde er sich klar, denn er sprang plötzlich auf und lief, ohne sich zum Anziehen des großgeblümten Schlafrockes Zeit zu nehmen, nach der Wand, holte ein neben dem Fenster hängendes kleines Porträt herab und strich mit dem Aermel über dessen bestaubte Rückseite.

Der Professor hatte sich nicht getäuscht. Hinter dem Bilde las man in vergilbten, durch ein halbes Jahrhundert schon nahezu unleserlich gemachten Schriftzügen die Worte: »Therese Schultze, geborne Langevol.«

Noch am Abend desselben Tages reiste der Professor mit dem Schnellzuge nach London ab.

Viertes Capitel.


Viertes Capitel.

Jeder seinen Theil.

Am 6. November um 7 Uhr Morgens kam Herr Schultze auf dem Bahnhofe von Charing-Croß an. Gegen Mittag stellte er sich in Nummer 93, Southampton row, in einem durch eine hölzerne Barrière in zwei Theile getrennten größeren Zimmer ein, das auf der einen Seite für die Beamten des Hauses, auf der anderen für das Publikum bestimmt war und dessen Mobiliar aus sechs Stühlen, einem dunklen Tische, unzähligen grünen Pappbänden und einem ungeheuren Adreßbuche bestand. Vor dem Tische saßen zwei junge Leute, welche eben dabei waren, ihr aus Brot und Käse bestehendes Frühstück – die gewöhnliche Mahlzeit im Reiche der Schreiber – zu verzehren.

»Ich komme hier recht zu den Herren Billows, Green und Sharp? fragte der Professor mit demselben Tone, mit dem er etwa sein Essen bestellte.

– Mister Sharp ist in seinem Cabinet, – Ihr Name? Und welche Angelegenheit?

– Professor Schultze aus Jena, Langevol’sche Erbschaftssache.«

Der junge Mann meldete diese Auskunft durch ein Sprachrohr weiter und erhielt auf dem nämlichen Wege eine Antwort, die er sich freilich hütete, laut zu wiederholen. Man konnte dieselbe etwa übersetzen:

»Zum Teufel mit der Langevol’schen Erbschaftssache! Wiederum ein Narr, welcher Ansprüche zu haben glaubt!«

Antwort des jungen Mannes:

»Es ist ein Herr von »respectabler« Erscheinung. Er macht keinen besonders angenehmen Eindruck, gehört aber offenbar nicht zu den gewöhnlichen Leuten.«

Ein weiterer mysteriöser Ausruf.

»Und er kommt aus Deutschland?

– So sagt er wenigstens,«

Durch das Sprachrohr zitterte ein Seufzer.

»Lassen Sie ihn heraufkommen.«

– Zwei Treppen hoch, die Thür gerade aus!« wendete sich der junge Mann nun an Herrn Schultze, indem er ihm den Weg andeutete.

Der Professor verschwand in einem inneren Gang, kletterte zwei Treppen hinauf und stand bald vor einer gepolsterten Thür, an der der Name des Mister Sharp sich in schwarzen Buchstaben von einem Messingschilde abhob.

Der Bezeichnete saß vor einem großen Mahagoni-Schreibtische in einem gewöhnlich ausgestatteten Zimmer mit wollenen Teppichen, lederüberzogenen Stühlen und gewaltigen Actenfascikeln. Er erhob sich kaum in seinem Armstuhl und schien, nach der gewöhnlichen höflichen Methode der meisten Bureaumenschen, fünf Minuten eifrigst mit dem Durchblättern des größten Actenpackets beschäftigt, um zu zeigen, wie sehr seine Thätigkeit beansprucht sei. Endlich geruhte er, sich an Professor Schultze zu wenden, der neben ihm Platz genommen hatte.

»Ich bitte, mein Herr, begann er, mir möglichst kurz auseinander zu setzen, was Sie zu mir führt. Meine Zeit ist außerordentlich beschränkt und ich bin nur im Stande, Ihnen wenig Minuten zu widmen.«

Der Professor lächelte ziemlich gleichgiltig und bewies jenem dadurch, daß ein solcher Empfang auf ihn gar keinen imponirenden Eindruck hervorbringe.

»Vielleicht werden Sie noch einige Minuten zugeben, wenn Sie erst wissen, was mich hierherführt.

– So sprechen Sie, mein Herr.

– Es betrifft den Nachlaß Jean Jacques Langevol’s aus Bar-le-Duc und ich bin der Enkel von dessen älterer Schwester, Therese Langevol, vermählt im Jahre 1792 mit meinem Großvater, Martin Schultze, früherem Wundarzt der Armee von Braunschweig und verstorben im Jahre 1814. Ich besitze selbst noch drei von meinem Großonkel an seine Schwester gerichtete Briefe und verschiedene Nachrichten über seinen Marsch in die Heimat nach der Schlacht bei Jena, ohne jetzt hier der anderen amtlichen Urkunden zu erwähnen, welche meine directe Abstammung bescheinigen.«

Wir brauchen dem Professor Schultze nicht weiter zu folgen in den Aufklärungen, welche er Mr. Sharp gab. Er wurde dabei, ganz gegen seine Gewohnheit, fast weitschweifig und schien sich über dieses Thema gar nicht erschöpfen zu können. Ihm lag nämlich vor Allem daran, Mr. Sharp, als einen Engländer, von der Nothwendigkeit zu überzeugen, der germanischen Race den Vorrang vor allen Uebrigen zu bewahren. Wenn er überhaupt den Gedanken hegte, seine Ansprüche auf diesen Nachlaß geltend zu machen, so geschah das nur, um ihn jenen französischen Händen zu entreißen, die davon leicht ungeeigneten Gebrauch machen konnten! … Worin er seinen Gegner in erster Reihe bekämpfte, das war vor Allem dessen Nationalität! … Einem Deutschen gegenüber würde er jedenfalls Verzicht leisten u. s. w., u. s. w. Die Befürchtung aber, daß ein angeblicher Gelehrter, ein Franzose, jenes gewaltige Capital zur Unterstützung französischer Ideen verwenden könne, brachte ihn aus Rand und Band und legte ihm die Pflicht auf, seine Rechte bis zum Aeußersten geltend zu machen.

Auf den ersten Blick erschien diese Ideenverbindung zwischen der politischen Anschauungsweise und dem reichen Nachlasse nicht recht verständlich. Mr. Sharp besaß aber zu viel geschäftlichen Scharfblick, um den höheren Zusammenhang zwischen den Anforderungen des Vertreters der germanischen Race im Allgemeinen und denen des Professor Schultze im Besonderen bezüglich der Beerbung der Begum zu durchschauen. Beide erschienen ihm übrigens von nahezu gleichem Werthe.

Ein Zweifel hierüber war ja nicht wohl möglich. So erniedrigend es auch für einen akademischen Lehrer der Universität Jena sein mußte, zu Leuten aus untergeordneter Menschenrace in verwandtschaftlichen Beziehungen zu stehen, so lag es doch auf der Hand, daß diesem unvergleichlichen menschlichen Producte etwas französisches Blut, wenigstens mütterlicherseits, beigemischt war. Immerhin handelte es sich hier nur um eine Verwandtschaft in zweiter Linie gegenüber der Abstammung des Doctor Sarrasin, welche natürlich auch nur einen rechtlich untergeordneten Anspruch auf jene Erbschaft bedingte. Der Sollicitor erkannte jedoch schnell die Möglichkeit, dieselbe mit einiger Aussicht auf Erfolg anhängig zu machen und in dieser Möglichkeit auch noch weiter die günstige Lage der Verhältnisse für den Vortheil der Firma Billows, Green und Sharp, nämlich die Gelegenheit, aus dieser jetzt schönen Affaire Langevol eine ganz außerordentlich ertragsreiche zu machen, so etwa eine neue Inscenirung von Boz Dickens »Jarndyce gegen Jarndyce«. Vor den Augen des Mannes der Gesetze breitete sich schon ein ganzer Horizont von Stempelpapier, Acten und Schriftstücken aller Art aus. Oder, was noch mehr werth schien, er dachte im Interesse seiner Clienten an ein durch ihn, Sharp, herbeizuführendes Compromiß, das ihm fast ebensoviel Ehre als Vortheil bringen mußte.

Inzwischen setzte er Herrn Schultze die Ansprüche des Doctor Sarrasin auseinander, brachte die Belege für dieselben bei und deutete dabei mit darauf hin, daß, wenn Billows, Green und Sharp es in die Hand nähmen, die Rechtsansprüche des Professors – »Ansprüche übrigens, mein lieber Herr, welche sich einem ordentlichen Processe gegenüber wohl schwerlich als stichhaltig erweisen dürften« – die er aus seiner Verwandtschaft mit dem Doctor herleite, zu vertheidigen, er darauf rechne, daß der allgemein anerkannte Gerechtigkeitssinn der Deutschen es auch Billows, Green und Sharp nicht verüblen werde, wenn sie, der Erkenntlichkeit des Professors gewiß, jenen anderen, begründeteren Ansprüchen gegenüber seine Sache zu führen versuchten.

Der Professor war ein viel zu offener Kopf, um die Logik in der Darlegung des Geschäftsmannes nicht zu begreifen. Er bemühte sich, ihn nach dieser Seite hin zu beruhigen, ohne sich, bezüglich der »Erkenntlichkeit«, gerade bestimmt zu binden. Mr. Sharp bat ihn nun in höflichster Form um die Erlaubniß, seine Angelegenheit nach eigenem Ermessen prüfen zu dürfen, und geleitete ihn mit rücksichtsvollster Artigkeit wieder zur Thür. Jetzt war bei ihm keine Rede mehr von den nur knapp zugemessenen Minuten, mit denen er vorher so sehr geizte!

Herr Schultze zog sich zwar mit der Ueberzeugung zurück, daß er wohl keinen vollberechtigten Anspruch auf die Erbschaft der Begum habe, aber auch mit der anderen, daß ein Kampf zwischen der angelsächsischen und lateinischen Race, ganz abgesehen von seiner Verdienstlichkeit an sich, wenn er nur richtig geführt würde, nicht anders als zum Vortheil der ersteren ausschlagen könne.

Zunächst erschien es nun von Wichtigkeit, die Meinung des Doctor Sarrasin kennen zn lernen. Eine unverzüglich nach Brighton abgelassene Depesche brachte den französischen Gelehrten schon gegen fünf Uhr in das Cabinet des Sollicitors.

Doctor Sarrasin vernahm mit einer Ruhe, über welche Mr, Sharp nicht wenig erstaunte, den eingetretenen Zwischenfall. Auf die ersten Worte des Mr. Sharp hin erklärte er mit aller Offenheit, daß er sich erinnere, in seiner Familie davon reden gehört zu haben, wie eine, von einer reichen vornehmen Dame erzogene Großtante von ihm, mit jener ausgewandert sei und sich in Deutschland verheiratet haben solle. Im Uebrigen war ihm weder der Name, noch der genaue Grad der Verwandtschaft dieser Großtante bekannt.

Mr. Sharp griff schon nach seinen sorgfältig katalogisirten Actenstücken, die er dem Doctor zur Einsicht vorlegte.

Es erwuchs hiermit – Mr. Sharp verheimlichte das nicht – Material zu einem Processe, und Processe dieser Art ziehen sich gern in die Länge. Man brauchte zwar der gegnerischen Partei das Zugeständniß, zu dem Doctor Sarrasin sich eben in seiner Aufrichtigkeit dem Sollicitor gegenüber herbeigelassen hatte, nicht mitzutheilen . . . immerhin existirten noch jene Briefe Jean Jacques Langevol’s an seine Schwester, deren Herr Schultze erwähnte und welche der Sache offenbar eine ihm günstige Wendung gaben. Stand diese auch auf schwachen Füßen und entbehrten jene Beweisstücke des eigentlichen legalen Charakters, so waren sie doch einmal vorhanden. Aus dem Staube der städtischen Archive würden dann schon noch weitere Beweise ausgegraben werden. Vielleicht ging die gegnerische Partei, wenn ihr authentische Beweise mangelten, sogar so weit, solche zu erfinden. Man mußte eben auf Alles vorbereitet sein. Wer konnte es vorher sagen, ob nicht neue Untersuchungen jener plötzlich wieder auferstandenen Therese Langevol und ihrer Vertreter nicht am Ende gar noch Ansprüche zu Tage förderten, welche denen des Doctor Sarrasin vorgingen? … Jedenfalls drohten lange Streitigkeiten, endlose Beweisführungen und eine Lösung der ganzen Frage erst in weiter Ferne. Die Wahrscheinlichkeiten, den Proceß zu gewinnen, wögen auf beiden Seiten etwa gleichviel; beiden Parteien würde es nicht schwer fallen, von fremder Hand die nöthige Unterstützung zum Kostenvorschuß zu finden, um alle Hebel in Bewegung zu setzen. Ein berühmt gewordener ähnlicher Proceß hätte im Kanzleigericht volle dreiundachtzig Jahre gespielt und wäre zuletzt nur niedergeschlagen worden, weil die Mittel zu seiner Weiterführung ausgegangen waren; Capital und Interessen – Alles hatte er verschlungen! … Sachverstandigen-Urtheile, Commissionen, Beibringung von Beweisstücken und gewöhnliche Proceduren würden einen gar nicht zu bestimmenden Zeitraum beanspruchen! … Nach zehn Jahren könne die Sache recht wohl noch völlig unentschieden und die halbe Milliarde in der Bank eingeschlafen sein…

Doctor Sarrasin hörte dieser Darlegung ruhig zu. Wenn er auch nicht Alles so fest wie die Worte des Evangeliums glaubte, so bemächtigte sich seiner doch eine Art Entmuthigung. Wie ein Reisender, der vorn auf einem Schiffe steht, wenn er den Hafen, in den er einzulaufen gedachte, plötzlich sich weiter zurückziehen sieht, so gestand er sich, daß es nicht unmöglich sei, daß jenes große Vermögen, welches ihm schon so sicher war, daß er im Voraus darüber verfügt hatte, sich gar noch verflüchtigen und ihm noch entschwinden könnte.

»Ja, was ist dann zu thun? fragte er den Sollicitor.

– Was? … Hm! …« Das war freilich schwer zu sagen. Noch schwieriger, es auszuführen. Immerhin konnte sich ja noch Alles nach Wunsch ordnen lassen. Er, Sharp, hegte wenigstens diese Ansicht. Die englische Justiz war ja ausgezeichnet – vielleicht etwas langsam, das gestand er zu – ja sicher etwas langsam pede claudo … hm! … hm! … aber dafür desto zuverlässiger. Es könnte ja gar nicht fehlen, daß Doctor Sarrasin nach Verlauf einiger Jahre in Besitz jenes Nachlasses kam, vorausgesetzt… hm! … hm! … daß seine Ansprüche wirklich rechtlich begründet wären! …

Der Doctor verließ das Cabinet in Southampton row mit sehr stark erschüttertem Vertrauen und überzeugt, daß er werde auf eine ganze Serie endloser Processe eingehen oder auf seinen schönen Traum verzichten müssen. Wenn er freilich an sein herrliches Project dachte, so konnte er sich doch einigen Bedauerns nicht erwehren.

Inzwischen bestellte Mr. Sharp den Professor Schultze, der ihm seine Adresse hinterlassen hatte, wieder zu sich. Er theilte diesem mit, daß Doctor Sarrasin niemals habe von einer gewissen Therese Langevol reden hören, daß er ausdrücklich die Existenz eines deutschen Zweiges seiner Familie ableugnete und jede Vereinbarung ablehne. Es blieb also dem Professor, wenn er sein Recht für begründet halte, nichts übrig als zu »klagen«. Er stehe zwar der Sache ganz ohne eigenes Interesse, mehr als Liebhaber gegenüber und habe gewiß nicht die Absicht, ihn zu irgendwelchen Maßregeln zu überreden. Was könne anderseits ein Sollicitor wünschen, als einen Proceß oder lieber zehn Processe dreißig Jahre hindurch, wie sie diese Nachlaßregelung mit sich zu führen scheine? Er, Sharp, hätte ja alle Ursache, sich darüber zu freuen. Wenn er nicht fürchte, Professor Schultze einen von ihm verdächtig aussehenden Vorschlag zu machen, könnte er seine Uninteressirtheit wohl so weit treiben, dem Herrn selbst einen seiner Collegen vorzuschlagen, dem er seine Vertretung übertragen könnte… und gewiß, auf die Wahl eines solchen käme jetzt sehr viel an. Die Carrière des Juristen sei zur wahrhaften Landstraße geworden!… Abenteurer und Langfinger wandelten diese in Menge! … Er gestand das ein mit Schamröthe auf der Stirne! …

»Wenn der französische Doctor einen Vergleich eingehen wollte, was würde das kosten?« fragte der Professor.

Ihn, als Gelehrten, konnten jene Worte Sharp’s nicht verblüffen! Als praktischer Mann ging er gerade auf sein letztes Ziel los, um unterwegs keine kostbare Zeit zu verlieren. Der Sollicitor kam durch dieses Verfahren außer Fassung. Er stellte Herrn Schultze vor, daß die Sache nicht so geschwind gehe, daß man nicht ein Ende vorhersehen könne, wo man erst im Anfange stehe; daß es, um Doctor Sarrasin einem Vergleiche geneigt zu machen, nothwendig sei, die Sache etwas zu verzögern und jenem seine Bereitwilligkeit zu einem solchen Schritte zu verheimlichen.

»Ich bitte Sie, mein Herr, schloß er, lassen Sie mir freie Hand und vertrauen Sie mir, ich stehe für Alles.

– Gewiß, das glaube ich, erwiderte Schultze, ich wüßte jedoch am liebsten bald, woran ich wäre.«

Es gelang ihm diesmal noch nicht, von Mr. Sharp herauszulocken, wie hoch er die sächsische Erkenntlichkeit taxire und er mußte ihm zunächst freie Hand lassen.

Am folgenden Tage ließ jener Doctor Sarrasin zu sich bitten. In größter Gelassenheit fragte ihn dieser, ob er ihm wichtige Neuigkeiten mitzutheilen habe. Der durch diese Gleichgiltigkeit beunruhigte Sollicitor eröffnete ihm, daß eine allseitige Ueberlegung ihn überzeugt habe, es werde das Beste sein, das Uebel an der Wurzel zu fassen und dem neuen Prätendenten einen Vergleich vorzuschlagen. Das wäre, Doctor Sarrasin müsse das selbst zugestehen, gewiß ein uneigennütziger Vorschlag, den wenig Collegen an seiner Stelle gemacht haben würden. Er setzte aber seinen Stolz daran, diese Angelegenheit, welche er fast mit den Augen eines Vaters betrachtete, schnell zu erledigen.

Doctor Sarrasin hörte diesen Rath an und billigte ihn, als das verhältnißmäßig klügste Auskunftsmittel. Er hatte sich seit einigen Tagen schon so sehr in den Gedanken, seinen wissenschaftlichen Traum zur Ausführung zu bringen, hineingelebt, daß er diesem Project alles Andere unterordnete.

Zehn Jahre oder auch nur ein Jahr zu warten, ohne zu dessen Verwirklichung schreiten zu können, wäre für ihn eine grausame Täuschung gewesen. Mit den gesetzlichen Fragen wenig vertraut, hätte er, ohne gerade von Mr. Sharp’s Worten dupirt zu sein, doch seine Anrechte gern für eine Baarsumme hingegeben, wenn diese ihm nur erlaubte, von der Theorie zur Praxis überzugehen. Er ertheilte Mr. Sharp also ebenfalls uneingeschränkte Vollmacht und reiste wieder ab.

Der Sollicitor hatte nun erreicht, was er wollte. Gewiß wäre mancher Anderer an seiner Statt der Versuchung unterlegen, die streitigen Punkte durch einen Proceß zu erledigen, der ihm, der Lage der Sache nach, eine fette, lebenslängliche Rente gesichert hätte. Mr. Sharp gehörte aber nicht zu den Leuten, welche sich gern auf weitausgehende Speculationen einlassen. Er sah die Möglichkeit vor sich, mit einem Schlage eine reichliche Ernte einzuheimsen, und beschloß, diese Gelegenheit zu benützen. Schon am nächsten Tage schrieb er wieder an den Doctor und ließ dabei durchblicken, daß Herr Schultze vielleicht nicht abgeneigt sein werde, auf ein gütliches Arrangement einzugehen. Besuchte er dann wiederum einmal Doctor Sarrasin, das andere Mal Professor Schultze, so äußerte er sich abwechselnd immer gegen den Einen und den Anderen, daß die gegnerische Partei von dem gemachten Vorschlage nichts hören wolle und daß die Gerüchte von dem Streite jetzt gar noch einen dritten Kandidaten herbeigezogen hätten …

Dieses Spiel währte etwa acht Tage. Morgens ging Alles nach Wunsch und des Abends erhoben sich irgendwelche unerwartete Schwierigkeiten, welche der Sache wieder eine üblere Wendung gaben. Für den armen Doctor waren das lauter Fußangeln, Ausflüchte oder doch schmerzliche Verzögerungen. Mr. Sharp konnte sich nicht entschließen, den Angelhaken anzuziehen, aus Furcht, der Fisch könnte sich zuletzt zu einer äußersten Anstrengung aufraffen und den Faden, an dem er ihn hielt, zerreißen. Diese Vorsicht erwies sich jedoch im gegebenen Falle für überflüssig. Vom ersten Tage ab erklärte sich Doctor Sarrasin, der vor den Belästigungen eines langen Processes zurückscheute, getreu seinem Worte zu einem Ausgleiche bereit. Als Mr. Sharp denn endlich den psychologischen Moment, wie der technische Ausdruck lautete, gekommen glaubte, wo sein Client, nach weniger anständiger Ausdrucksweise, »gar gekocht« sein mußte, demaskirte er plötzlich seine Batterie und schlug selbst einen sofortigen Ausgleich vor.

Dazu stellte sich auch eine andere wohlwollende Persönlichkeit, Banquier Stilbing, ein, der den Rath gab, zwischen den beiden Parteien einfach zu theilen, und sich erbot, jeder derselben 250 Millionen Francs auszuzahlen, während er als Commissionsgebühr für sich bescheidener Weise nur den Ueberschuß über die halbe Milliarde, nämlich 27 Millionen beanspruchte.

Doctor Sarrasin hätte Mr. Sharp gern umarmt, als er ihm dieses Resultat mittheilte, das jenem noch höchst günstig erschien. Er war auf der Stelle bereit, zu unterzeichnen, er verlangte nach nichts Anderem, er hätte den Banquier Stilbing und dem Sollicitor Sharp gern goldene Statuen gewidmet und der hohen Bank von England sammt allen Chicanen des Vereinigten Königreichs noch dazu.

Die Acten wurden geschlossen, die Zeugen waren bestellt, die Stempelmaschine von Sommerset House zur Arbeit bereit. Herr Schultze hatte sich ergeben. Durch den gewandten Sharp an die Mauer gedrückt, müßte er zitternd eingestehen, daß die Sache, einem weniger gutmüthigen Gegner als Doctor Sarrasin gegenüber, für ihn wohl einen schlimmeren Ausgang gehabt haben würde. Die ganze Angelegenheit kam nun in Ordnung. Gegen ihre gebührend legitimirte Vollmacht und ihre Zustimmungs-Erklärung zu der Theilung des Nachlasses in zwei gleiche Hälften erhielten sie einen auf sich ausgestellten Chec über je hunderttausend Pfund und für den Rest Wechsel, welche sofort nach Erfüllung der gesetzlichen Formalitäten fällig waren.

So endete diese erstaunliche Angelegenheit zum größeren Ruhme der Superiorität der anglo-sächsischen Race.

Man erzählt sich noch, daß Mr. Sharp beim Abendessen im Cobden-Club in Gesellschaft seines Freundes Stilbing ein Glas Champagner auf das Wohl des Doctor Sarrasin, ein zweites auf das des Professor Schultze getrunken und sich beim Leeren der Flasche zu dem indiscreten Ausspruche habe hinreißen lassen:

»Hurrah!… Rule Britannia!… Es giebt doch Niemand außer uns!«

In Wahrheit freilich betrachtete Banquier Stilbing seinen Gast als armen Teufel, der sich für siebenundzwanzig Millionen ein Geschäft von fünfzig habe aus den Händen gehen lassen, und der Professor dachte im Grunde nicht anders, wenigstens von der Stunde ab, da er, Herr Schultze, sich in die Nothlage versetzt sah, jedem beliebigen Arrangement seine Zustimmung zu geben. Und wozu hätte man nicht einen Mann, wie Doctor Sarrasin, einen leichtblütigen, raschen und gewiß schwärmerischen Mann vielleicht noch bestimmen können!

Gerüchtweise hatte der Professor reden gehört von dem Project seines Rivalen, eine französische Stadt unter den ausgewähltesten hygienischen Verhältnissen zu begründen, welche das Aufblühen einer geistig und körperlich auf’s beste entwickelten jungen Generation sicherten. Ein solches Unternehmen erschien in seinen Augen absurd und mußte allem Anscheine nach scheitern, schon weil es im Widerspruche stand gegen das von ihm verfochtene Gesetz, daß die lateinische Race dem Untergange geweiht sei, sich vorläufig jedenfalls der sächsichen Race unterzuordnen und nach und nach überhaupt vom Erdboden zu verschwinden habe. Diese Resultate konnten nun doch einigermaßen in Frage gestellt werden, wenn das Programm des Doctors seiner Verwirklichung entgegenging, noch mehr, wenn sich dasselbe erfolgversprechend entwickelte. Im Interesse der allgemeinen Weltordnung und in Folge eines unausweichlichen Gesetzes lag es also jedem Sachsen ob, ein so wahnwitziges Unternehmen, wenn irgend möglich, zu vereiteln. Unter den gegebenen Verhältnissen war es für ihn, Professor Schultze, Docent der Chemie an der Universität Jena, bekannt durch seine zahlreichen vergleichenden Arbeiten über die verschiedenen Menschenracen – aus denen ganz deutlich hervorging, daß die germanische Race alle übrigen zu absorbiren bestimmt sei – es war also für ihn klar, daß er durch die gleichzeitig schöpferische und zerstörende Kraft der Natur, dazu ausersehen sei, die Pygmäen zu bekämpfen, welche sich – gegen sie auflehnten. Von aller Ewigkeit her war es bestimmt gewesen, daß Therese Langevol Martin Schultze heiraten mußte, und daß, wenn sich eines Tages die beiden Nationalitäten, vertreten durch den französischen Doctor und den deutschen Professor, gegenüberstehen würden, der Letztere unbedingt den Ersteren zermalmen müsse. Schon hielt er ja die Hälfte des Vermögens seines Gegners in der Hand, Das war das Mittel, dessen er bedurfte.

Jenes Project stand seiner Wichtigkeit nach für Herrn Schultze übrigens erst in zweiter Linie; er betrachtete es nur neben den weit umfänglicheren, über denen er selbst brütete, um alle Völker zu unterwerfen, die sich weigern würden, sich mit dem deutschen Volke zu verschmelzen und sich dem »Vaterlande« anzuschließen. Da er jedoch Doctor Sarrasin’s, seines unversöhnlichen Feindes, Absichten bis zum Grunde – wenn sie einen solchen überhaupt besaßen – kennen lernen wollte, vermittelte er sich Zutritt zu dem internationalen, hygienischen Congreß und besuchte fleißig dessen Sitzungen. Beim Weggehen aus einer solchen Versammlung hörten einige Mitglieder, darunter zufällig auch Doctor Sarrasin selbst, ihn die Erklärung abgeben, daß sich gleichzeitig mit France-Ville eine befestigte Stadt erheben werde, welche die Existenz jenes absonderlichen und widernatürlichen Ameisenhaufens schnell genug unmöglich machen werde.

»Ich hoffe, fügte er hinzu, daß die Erfahrung, welche wir mit ihr machen werden, der Welt als warnendes Beispiel dienen werde!«

Besaß Doctor Sarrasin auch ein großes Herz voller Liebe für die Menschheit, so brauchte er doch nicht erst zu lernen, daß nicht alle Seinesgleichen den Namen Philantropen verdienten. Er schrieb jenes Wort seines Gegners also in sein Gedächtniß, da er als vernünftiger Mann sich sagte, daß man keine Drohung gänzlich außer Acht lassen solle. Als er bald darauf an Marcel schrieb, um diesen einzuladen, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen, erwähnte er auch dieses Vorfalles und entwarf von Herrn Schultze dabei ein Bild, welches den jungen Elsäßer überzeugte, daß der gute Doctor in jenem einen halsstarrigen Gegner haben werde.

»Wir brauchen vor Allem kräftige und entschlossene Männer, schloß der Doctor, tüchtige Gelehrte, nicht allein zum bauen, sondern auch zum vertheidigen.«

»Wenn ich Ihnen, antwortete Marcel darauf, nicht augenblicklich an die Hand zu gehen im Stande bin, um an der Begründung Ihrer Stadt theilzunehmen, so rechnen Sie doch darauf, mich zur richtigen Stunde zu finden. Ich werde jenen Herrn Schultze nicht einen Tag aus den Augen verlieren. Meine Eigenschaft als Elsäßer giebt mir einen Schimmer von Recht, mich um seine Angelegenheiten zu bekümmern. Fern oder nahe, ich bleibe Ihnen allezeit ergeben. Beunruhigen Sie sich nicht, wenn Sie möglicher Weise einmal monate- oder gar jahrelang nichts von mir hören sollten. Nah oder fern werd‘ ich nur den Einen Gedanken haben, für Sie zu arbeiten und Frankreich zu dienen.«

Neunzehntes Capitel.


Neunzehntes Capitel.

Eine Familien-Angelegenheit.

Vielleicht ist im Laufe dieser Erzählung von den persönlichen Angelegenheiten der eigentlichen Helden derselben etwas zu wenig die Rede gewesen. Ein Grund mehr, jetzt um ihrer selbst willen ausführlicher auf dieselben zurückzukommen.

Der gute Doctor ging nicht so sehr im Allgemeinen und in seinem Streben für die Menschheit auf, daß das Individuum für ihn entschwunden wäre, obwohl er hier nur seinen Idealen nachzujagen schien. Er erschrak also etwas über die Blässe, welche Marcel’s Antlitz bei seinen letzten Worten bedeckte. Seine Augen suchten in denen des jungen Mannes den Sinn dieser plötzlichen Erregung zu lesen. Das Stillschweigen des alten Praktikers hatte etwa die Bedeutung einer Frage an das Schweigen des jungen Ingenieurs, wobei der Erstere zu erwarten schien, das jener dasselbe brechen würde; Marcel aber, der durch eine ungeheure Willensanstrengung seiner Herr geworden war, fand bald sein kaltes Blut wieder. Sein Teint hatte die natürlichen Farben wieder angenommen und seine Haltung war die eines Menschen, der die Fortsetzung einer Unterhaltung erwartet.

Doctor Sarrasin, der jetzt vielleicht selbst etwas über seine Worte an Marcel erschrak, näherte sich seinem jungen Freunde; dann nahm er dessen Arm, wie es ein Arzt zu thun pflegt, wenn er so nebenbei den Puls eines Kranken fühlen will.

Marcel ließ es sich willig gefallen, ohne daran zu denken, was der Doctor that, und da er auch nicht sprach, begann sein alter Freund auf’s Neue:

»Mein wackerer Freund, unsere Unterhaltung über die spätere Gestaltung Stahlstadts führen wir wohl gelegentlich weiter. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, daß wir uns nicht mit der Verbesserung des Looses Aller beschäftigten, und vorzüglich des Schicksals Derjenigen, die man liebt und die unserem Herzen überhaupt am nächsten stehen. So halte ich z.B. den Augenblick für gekommen, Dir von einem jungen Mädchen zu erzählen – deren Namen Du später erfahren sollst – was sie schon seit langer Zeit und seit einem Jahre wenigstens zum zwanzigsten Male ihrem Vater und ihrer Mutter antwortete, wenn die Rede auf das Heiraten kam. Alle diesbezüglichen Fragen waren übrigens so vorsichtig gestellt, daß wohl jede auf deren Erörterung hätte eingehen können, und doch antwortete das junge Mädchen Nein! und immer nur Nein!«

Da entzog Marcel, wie durch eine plötzliche Bewegung getrieben, seine Hand rasch der des Doctors. Sei es nun, daß sich derselbe von der Gesundheit seines Patienten hinreichend überzeugt, oder daß er es gar nicht bemerkt hatte, wie jener ihm seinen Arm und scheinbar sein Vertrauen entzogen, jedenfalls fuhr er in seiner Erzählung fort, ohne auf diesen kleinen Zwischenfall Rücksicht zu nehmen.

»Nun, so sage uns endlich, drang die Mutter in die junge Person, von der ich spreche, die Gründe Deiner fortwährenden Ablehnung. Erziehung, Vermögen, glückliche Verhältnisse, körperliche Vorzüge – Du hast ja Alles! Warum dies bestimmte, entschlossene rasche Nein! auf alle jene Fragen, welche Du nicht einmal der Prüfung für werth zu halten scheinst? Du bist doch sonst nicht so peremtorisch!

– Gegenüber diesem Vorwurf ihrer Mutter sah sich das junge Mädchen gezwungen, zu reden, und einmal entschlossen, das peinliche Schweigen zu brechen, sagte sie Folgendes:

»Ich antworte Dir, liebe Mutter, mit voller Offenherzigkeit »Nein«, wie ich Dir »Ja« antworten würde, wenn dieses Ja aus meinem Herzen kommen könnte. Ich stimme darin mit Euch vollkommen überein, daß eine große Anzahl der Partien, welche Ihr vorschlagt, nach vielen Seiten annehmbar erscheint; aber außer der Befürchtung, daß sich alle diese Anfragen vielmehr an die beste, d. h. die reichste Partie der Stadt wenden, als an meine Person, und daß dieser Gedanke mir nicht Lust macht, Ja zusagen, wage ich, da Ihr es wünscht, auszusprechen, daß darunter der Antrag sich nicht befindet, den ich erwartete, noch erwarte und der leider wohl sehr lange auf sich warten lassen wird, oder auch niemals kommt.

– Was, Kind, rief die Mutter erstaunt, Du bist … Sie vollendete den Satz nicht, da sie kein rechtes Ende desselben zu finden wußte, sondern warf nur einen zärtlichen Blick auf ihren Gatten, als ob sie auf dieser Seite einen Ausweg und Hilfe suchte.

Ob dieser nun auf die Sache nicht eingehen wollte, oder wünschte er vielleicht, daß darüber erst Mutter und Tochter etwas klarer werden möchten, jedenfalls schien er den Blick nicht zu verstehen, obwohl das arme Kind tief erröthend und jetzt scheinbar auch etwas erregt, nun plötzlich noch weiter ging,

– Ich sagte Dir, meine Herzensmutter, fuhr sie fort, daß die Anfrage, welche ich erwartete, noch sehr lange auf sich warten lassen könnte, oder auch niemals erfolgt. Ich gestehe Dir, daß diese Verzögerung mich weder verwundern noch kränken wird. Ich habe, sagt man, das Unglück, reich zu sein; Der, welcher jene Frage stellen sollte, ist dagegen sehr arm; deshalb hat er bis jetzt geschwiegen und sehr recht gethan. Ich muß vielmehr abwarten ob …

– Warum sollen wir ihm aber nichts andeuten, fiel ihr die Mutter in’s Wort, welche die Worte, die sie von der Tochter zu hören fürchtete, von deren Lippen nehmen wollte.«

Da mischte sich der Vater des Mädchens ein.

»Meine beste Freundin, sagte er, die beiden Hände seiner Gattin liebevoll fassend, eine um ihre Tochter so zärtlich besorgte Mutter wie Du, rühmt vor dieser, wenn sie in die Welt eintritt oder doch nahe daran ist, nicht ungestraft die Vorzüge eines jungen wackern Mannes, der fast zu unserer Familie gehört, macht nicht ungehört auf die Achtbarkeit seines Charakters aufmerksam oder stimmt ihrem Gatten mit Eifer zu, wenn dieser Gelegenheit nimmt, dessen Fähigkeiten hervorzuheben, wenn er mit Wärme von den tausend Beweisen rührender Anhänglichkeit spricht, die er von demselben empfangen hat. Wenn Diejenige, die diesen jungen Mann vor Augen hat, der von Vater und Mutter allen Anderen vorgezogen wird, ihn selbst nicht bemerkt hätte, so hätte sie eben vollkommen gegen Recht und Pflicht gehandelt.

– Ach, mein Vater, rief das junge Mädchen, während sie sich ihrer Mutter in die Arme warf, um ihre Erregung zu verbergen, wenn Du mich durchschaust, warum zwingt Ihr mich, selbst zu sprechen?

– Warum? Ei, um die Freude zu haben, Dich zu hören, mein Töchterchen, um mich zu überzeugen, daß ich mich nicht täuschte, um Dir sagen zu können, und von Deiner Mutter sagen zu lassen, daß wir den Weg billigen, den Dein Herz betreten, daß Deine Wahl uns entzückt; und was den armen und stolzen Mann betrifft, der den Antrag machen sollte, dem seine zarte Zurückhaltung widerstrebt, so werde ich diese Frage an ihn stellen … Ja, ja, ich werde es thun, da ich in seinem Herzen gelesen habe wie in dem Deinigen! Beruhige Dich also! Bei der ersten sich darbietenden Gelegenheit werde ich Marcel fragen, ob es ihm recht ist, mein Schwiegersohn zu werden! …«

Diese unerwartete Anrede, welche ihm plötzlich die Augen öffnete, schnellte Marcel wie eine Feder empor, Octave hatte schweigend seine Hand gedrückt, während Doctor Sarrasin ihn in seine Arme preßte. Der junge Elsäßer war bleich wie der Tod. Ist das aber nicht die Farbe, die das Glück stets auf die Wangen treibt, selbst bei den stärksten Seelen, wenn es in das Herz einzieht, ohne: Vorsehen! gerufen zu haben? …