Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang von Goethe – Wilhelm Meisters Lehrjahre

Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre

Roman

Erstes Buch

Erstes Kapitel

Das Schauspiel dauerte sehr lange. Die alte Barbara trat einigemal ans Fenster und horchte, ob die Kutschen nicht rasseln wollten. Sie erwartete Marianen, ihre schöne Gebieterin, die heute im Nachspiele, als junger Offizier gekleidet, das Publikum entzückte, mit größerer Ungeduld als sonst, wenn sie ihr nur ein mäßiges Abendessen vorzusetzen hatte; diesmal sollte sie mit einem Paket überrascht werden, das Norberg, ein junger, reicher Kaufmann, mit der Post geschickt hatte, um zu zeigen, daß er auch in der Entfernung seiner Geliebten gedenke.

Barbara war als alte Dienerin, Vertraute, Ratgeberin, Unterhändlerin und Haushälterin in Besitz des Rechtes, die Siegel zu eröffnen, und auch diesen Abend konnte sie ihrer Neugierde um so weniger widerstehen, als ihr die Gunst des freigebigen Liebhabers mehr als selbst Marianen am Herzen lag. Zu ihrer größten Freude hatte sie in dem Paket ein feines Stück Nesseltuch und die neuesten Bänder für Marianen, für sich aber ein Stück Kattun, Halstücher und ein Röllchen Geld gefunden. Mit welcher Neigung, welcher Dankbarkeit erinnerte sie sich des abwesenden Norbergs! Wie lebhaft nahm sie sich vor, auch bei Marianen seiner im besten zu gedenken, sie zu erinnern, was sie ihm schuldig sei und was er von ihrer Treue hoffen und erwarten müsse.

Das Nesseltuch, durch die Farbe der halbaufgerollten Bänder belebt, lag wie ein Christgeschenk auf dem Tischchen; die Stellung der Lichter erhöhte den Glanz der Gabe, alles war in Ordnung, als die Alte den Tritt Marianens auf der Treppe vernahm und ihr entgegeneilte. Aber wie sehr verwundert trat sie zurück, als das weibliche Offizierchen, ohne auf die Liebkosungen zu achten, sich an ihr vorbeidrängte, mit ungewöhnlicher Hast und Bewegung in das Zimmer trat, Federhut und Degen auf den Tisch warf, unruhig auf und nieder ging und den feierlich angezündeten Lichtern keinen Blick gönnte.

»Was hast du, Liebchen?« rief die Alte verwundert aus. »Um ’s Himmels willen, Töchterchen, was gibt’s? Sieh hier diese Geschenke! Von wem können sie sein, als von deinem zärtlichsten Freunde? Norberg schickt dir das Stück Musselin zum Nachtkleide; bald ist er selbst da; er scheint mir eifriger und freigebiger als jemals.«

Die Alte kehrte sich um und wollte die Gaben, womit er auch sie bedacht, vorweisen, als Mariane, sich von den Geschenken wegwendend, mit Leidenschaft ausrief: »Fort! Fort! heute will ich nichts von allem diesen hören; ich habe dir gehorcht, du hast es gewollt, es sei so! Wenn Norberg zurückkehrt, bin ich wieder sein, bin ich dein, mache mit mir, was du willst, aber bis dahin will ich mein sein, und hättest du tausend Zungen, du solltest mir meinen Vorsatz nicht ausreden. Dieses ganze Mein will ich dem geben, der mich liebt und den ich liebe. Keine Gesichter! Ich will mich dieser Leidenschaft überlassen, als wenn sie ewig dauern sollte.«

Der Alten fehlte es nicht an Gegenvorstellungen und Gründen; doch da sie in fernerem Wortwechsel heftig und bitter ward, sprang Mariane auf sie los und faßte sie bei der Brust. Die Alte lachte überlaut. »Ich werde sorgen müssen«, rief sie aus, »daß sie wieder bald in lange Kleider kommt, wenn ich meines Lebens sicher sein will. Fort, zieht Euch aus! Ich hoffe, das Mädchen wird mir abbitten, was mir der flüchtige Junker Leids zugefügt hat; herunter mit dem Rock und immer so fort alles herunter! Es ist eine unbequeme Tracht, und für Euch gefährlich, wie ich merke. Die Achselbänder begeistern Euch.«

Die Alte hatte Hand an sie gelegt, Mariane riß sich los. »Nicht so geschwind!« rief sie aus, »ich habe noch heute Besuch zu erwarten.«

»Das ist nicht gut«, versetzte die Alte. »Doch nicht den jungen, zärtlichen, unbefiederten Kaufmannssohn?« – »Eben den«, versetzte Mariane.

»Es scheint, als wenn die Großmut Eure herrschende Leidenschaft werden wollte«, erwiderte die Alte spottend; »Ihr nehmt Euch der Unmündigen, der Unvermögenden mit großem Eifer an. Es muß reizend sein, als uneigennützige Geberin angebetet zu werden.«

»Spotte, wie du willst. Ich lieb ihn! ich lieb ihn! Mit welchem Entzücken sprech ich zum erstenmal diese Worte aus! Das ist diese Leidenschaft, die ich so oft vorgestellt habe, von der ich keinen Begriff hatte. Ja, ich will mich ihm um den Hals werfen! ich will ihn fassen, als wenn ich ihn ewig halten wollte. Ich will ihm meine ganze Liebe zeigen, seine Liebe in ihrem ganzen Umfang genießen.«

»Mäßigt Euch«, sagte die Alte gelassen, »mäßigt Euch! Ich muß Eure Freude durch ein Wort unterbrechen: Norberg kommt! in vierzehn Tagen kommt er! Hier ist sein Brief, der die Geschenke begleitet hat.«

»Und wenn mir die Morgensonne meinen Freund rauben sollte, will ich mir’s verbergen. Vierzehn Tage! Welche Ewigkeit! In vierzehn Tagen, was kann da nicht vorfallen, was kann sich da nicht verändern!«

Wilhelm trat herein. Mit welcher Lebhaftigkeit flog sie ihm entgegen! mit welchem Entzücken umschlang er die rote Uniform! drückte er das weiße Atlaswestchen an seine Brust! Wer wagte hier zu beschreiben, wem geziemt es, die Seligkeit zweier Liebenden auszusprechen! Die Alte ging murrend beiseite, wir entfernen uns mit ihr und lassen die Glücklichen allein.

Zweites Kapitel

Als Wilhelm seine Mutter des andern Morgens begrüßte, eröffnete sie ihm, daß der Vater sehr verdrießlich sei und ihm den täglichen Besuch des Schauspiels nächstens untersagen werde. »Wenn ich gleich selbst«, fuhr sie fort, »manchmal gern ins Theater gehe, so möchte ich es doch oft verwünschen, da meine häusliche Ruhe durch deine unmäßige Leidenschaft zu diesem Vergnügen gestört wird. Der Vater wiederholt immer wozu es nur nütze sei? Wie man seine Zeit nur so verderben könne?«

»Ich habe es auch schon von ihm hören müssen«, versetzte Wilhelm, »und habe ihm vielleicht zu hastig geantwortet; aber um ’s Himmels willen, Mutter! ist denn alles unnütz, was uns nicht unmittelbar Geld in den Beutel bringt, was uns nicht den allernächsten Besitz verschafft? Hatten wir in dem alten Hause nicht Raum genug? und war es nötig, ein neues zu bauen? Verwendet der Vater nicht jährlich einen ansehnlichen Teil seines Handelsgewinnes zur Verschönerung der Zimmer? Diese seidenen Tapeten, diese englischen Mobilien, sind sie nicht auch unnütz? Könnten wir uns nicht mit geringeren begnügen? Wenigstens bekenne ich, daß mir diese gestreiften Wände, diese hundertmal wiederholten Blumen, Schnörkel, Körbchen und Figuren einen durchaus unangenehmen Eindruck machen. Sie kommen mir höchstens vor wie unser Theatervorhang. Aber wie anders ist’s, vor diesem zu sitzen! Wenn man noch so lange warten muß, so weiß man doch, er wird in die Höhe gehen, und wir werden die mannigfaltigsten Gegenstände sehen, die uns unterhalten, aufklären und erheben.«

»Mach es nur mäßig«, sagte die Mutter, »der Vater will auch abends unterhalten sein; und dann glaubt er, es zerstreue dich, und am Ende trag ich, wenn er verdrießlich wird, die Schuld. Wie oft mußte ich mir das verwünschte Puppenspiel vorwerfen lassen, das ich euch vor zwölf Jahren zum Heiligen Christ gab und das euch zuerst Geschmack am Schauspiele beibrachte!«

»Schelten Sie das Puppenspiel nicht, lassen Sie sich Ihre Liebe und Vorsorge nicht gereuen! Es waren die ersten vergnügten Augenblicke, die ich in dem neuen, leeren Hause genoß; ich sehe es diesen Augenblick noch vor mir, ich weiß, wie sonderbar es mir vorkam, als man uns, nach Empfang der gewöhnlichen Christgeschenke, vor einer Türe niedersitzen hieß, die aus einem andern Zimmer hereinging. Sie eröffnete sich; allein nicht wie sonst zum Hin- und Widerlaufen, der Eingang war durch eine unerwartete Festlichkeit ausgefüllt. Es baute sich ein Portal in die Höhe, das von einem mystischen Vorhang verdeckt war. Erst standen wir alle von ferne, und wie unsere Neugierde größer ward, um zu sehen, was wohl Blinkendes und Rasselndes sich hinter der halb durchsichtigen Hülle verbergen möchte, wies man jedem sein Stühlchen an und gebot uns, in Geduld zu warten.

So saß nun alles und war still; eine Pfeife gab das Signal, der Vorhang rollte in die Höhe und zeigte eine hochrot gemalte Aussicht in den Tempel. Der Hohepriester Samuel erschien mit Jonathan, und ihre wechselnden wunderlichen Stimmen kamen mir höchst ehrwürdig vor. Kurz darauf betrat Saul die Szene, in großer Verlegenheit über die Impertinenz des schwerlötigen Kriegers, der ihn und die Seinigen herausgefordert hatte. Wie wohl ward es mir daher, als der zwerggestaltete Sohn Isai mit Schäferstab, Hirtentasche und Schleuder hervorhüpfte und sprach: ›Großmächtigster König und Herr Herr! es entfalle keinem der Mut um deswillen; wenn Ihro Majestät mir erlauben wollen, so will ich hingehen und mit dem gewaltigen Riesen in den Streit treten.‹ – Der erste Akt war geendet und die Zuschauer höchst begierig zu sehen, was nun weiter vorgehen sollte; jedes wünschte, die Musik möchte nur bald aufhören. Endlich ging der Vorhang wieder in die Höhe. David weihte das Fleisch des Ungeheuers den Vögeln unter dem Himmel und den Tieren auf dem Felde; der Philister sprach Hohn, stampfte viel mit beiden Füßen, fiel endlich wie ein Klotz und gab der ganzen Sache einen herrlichen Ausschlag. Wie dann nachher die Jungfrauen sangen: ›Saul hat tausend geschlagen, David aber zehntausend!‹, der Kopf des Riesen vor dem kleinen Überwinder hergetragen wurde und er die schöne Königstochter zur Gemahlin erhielt, verdroß es mich doch bei aller Freude, daß der Glücksprinz so zwergmäßig gebildet sei. Denn nach der Idee vom großen Goliath und kleinen David hatte man nicht verfehlt, beide recht charakteristisch zu machen. Ich bitte Sie, wo sind die Puppen hingekommen? Ich habe versprochen, sie einem Freunde zu zeigen, dem ich viel Vergnügen machte, indem ich ihn neulich von diesem Kinderspiel unterhielt.«

»Es wundert mich nicht, daß du dich dieser Dinge so lebhaft erinnerst: denn du nahmst gleich den größten Anteil daran. Ich weiß, wie du mir das Büchlein entwendetest und das ganze Stück auswendig lerntest; ich wurde es erst gewahr, als du eines Abends dir einen Goliath und David von Wachs machtest, sie beide gegeneinander perorieren ließest, dem Riesen endlich einen Stoß gabst und sein unförmliches Haupt auf einer großen Stecknadel mit wächsernem Griff dem kleinen David in die Hand klebtest. Ich hatte damals so eine herzliche mütterliche Freude über dein gutes Gedächtnis und deine pathetische Rede, daß ich mir sogleich vornahm, dir die hölzerne Truppe nun selbst zu übergeben. Ich dachte damals nicht, daß es mir so manche verdrießliche Stunde machen sollte.«

»Lassen Sie sich’s nicht gereuen«, versetzte Wilhelm; »denn es haben uns diese Scherze manche vergnügte Stunde gemacht.«

Und mit diesem erbat er sich die Schlüssel, eilte, fand die Puppen und war einen Augenblick in jene Zeiten versetzt, wo sie ihm noch belebt schienen, wo er sie durch die Lebhaftigkeit seiner Stimme, durch die Bewegung seiner Hände zu beleben glaubte. Er nahm sie mit auf seine Stube und verwahrte sie sorgfältig.

Drittes Kapitel

Wenn die erste Liebe, wie ich allgemein behaupten höre, das Schönste ist, was ein Herz früher oder später empfinden kann, so müssen wir unsern Helden dreifach glücklich preisen, daß ihm gegönnt ward, die Wonne dieser einzigen Augenblicke in ihrem ganzen Umfange zu genießen. Nur wenig Menschen werden so vorzüglich begünstigt, indes die meisten von ihren frühern Empfindungen nur durch eine harte Schule geführt werden, in welcher sie, nach einem kümmerlichen Genuß, gezwungen sind, ihren besten Wünschen entsagen und das, was ihnen als höchste Glückseligkeit vorschwebte, für immer entbehren zu lernen.

Auf den Flügeln der Einbildungskraft hatte sich Wilhelms Begierde zu dem reizenden Mädchen erhoben; nach einem kurzen Umgange hatte er ihre Neigung gewonnen, er fand sich im Besitz einer Person, die er so sehr liebte, ja verehrte: denn sie war ihm zuerst in dem günstigen Lichte theatralischer Vorstellung erschienen, und seine Leidenschaft zur Bühne verband sich mit der ersten Liebe zu einem weiblichen Geschöpfe. Seine Jugend ließ ihn reiche Freuden genießen, die von einer lebhaften Dichtung erhöht und erhalten wurden. Auch der Zustand seiner Geliebten gab ihrem Betragen eine Stimmung, welche seinen Empfindungen sehr zu Hülfe kam; die Furcht, ihr Geliebter möchte ihre übrigen Verhältnisse vor der Zeit entdecken, verbreitete über sie einen liebenswürdigen Anschein von Sorge und Scham, ihre Leidenschaft für ihn war lebhaft, selbst ihre Unruhe schien ihre Zärtlichkeit zu vermehren; sie war das lieblichste Geschöpf in seinen Armen.

Als er aus dem ersten Taumel der Freude erwachte und auf sein Leben und seine Verhältnisse zurückblickte, erschien ihm alles neu, seine Pflichten heiliger, seine Liebhabereien lebhafter, seine Kenntnisse deutlicher, seine Talente kräftiger, seine Vorsätze entschiedener. Es ward ihm daher leicht, eine Einrichtung zu treffen, um den Vorwürfen seines Vaters zu entgehen, seine Mutter zu beruhigen und Marianens Liebe ungestört zu genießen. Er verrichtete des Tags seine Geschäfte pünktlich, entsagte gewöhnlich dem Schauspiel, war abends bei Tische unterhaltend und schlich, wenn alles zu Bette war, in seinen Mantel gehüllt, sachte zu dem Garten hinaus und eilte, alle Lindors und Leanders im Busen, unaufhaltsam zu seiner Geliebten.

»Was bringen Sie?« fragte Mariane, als er eines Abends ein Bündel hervorwies, das die Alte in Hoffnung angenehmer Geschenke sehr aufmerksam betrachtete. »Sie werden es nicht erraten«, versetzte Wilhelm.

Wie verwunderte sich Mariane, wie entsetzte sich Barbara, als die aufgebundene Serviette einen verworrenen Haufen spannenlanger Puppen sehen ließ. Mariane lachte laut, als Wilhelm die verworrenen Drähte auseinanderzuwickeln und jede Figur einzeln vorzuzeigen bemüht war. Die Alte schlich verdrießlich beiseite.

Es bedarf nur einer Kleinigkeit, um zwei Liebende zu unterhalten, und so vergnügten sich unsre Freunde diesen Abend aufs beste. Die kleine Truppe wurde gemustert, jede Figur genau betrachtet und belacht. König Saul im schwarzen Samtrocke mit der goldenen Krone wollte Marianen gar nicht gefallen; er sehe ihr, sagte sie, zu steif und pedantisch aus. Desto besser behagte ihr Jonathan, sein glattes Kinn, sein gelb und rotes Kleid und der Turban. Auch wußte sie ihn gar artig am Drahte hin und her zu drehen, ließ ihn Reverenzen machen und Liebeserklärungen hersagen. Dagegen wollte sie dem Propheten Samuel nicht die mindeste Aufmerksamkeit schenken, wenn ihr gleich Wilhelm das Brustschildchen anpries und erzählte, daß der Schillertaft des Leibrocks von einem alten Kleide der Großmutter genommen sei. David war ihr zu klein und Goliath zu groß; sie hielt sich an ihren Jonathan. Sie wußte ihm so artig zu tun und zuletzt ihre Liebkosungen von der Puppe auf unsern Freund herüberzutragen, daß auch diesmal wieder ein geringes Spiel die Einleitung glücklicher Stunden ward.

Aus der Süßigkeit ihrer zärtlichen Träume wurden sie durch einen Lärm geweckt, welcher auf der Straße entstand. Mariane rief der Alten, die, nach ihrer Gewohnheit noch fleißig, die veränderlichen Materialien der Theatergarderobe zum Gebrauch des nächsten Stückes anzupassen beschäftigt war. Sie gab die Auskunft, daß eben eine Gesellschaft lustiger Gesellen aus dem Italienerkeller nebenan heraustaumle, wo sie bei frischen Austern, die eben angekommen, des Champagners nicht geschont hätten.

»Schade«, sagte Mariane, »daß es uns nicht früher eingefallen ist, wir hätten uns auch was zugute tun sollen.«

»Es ist wohl noch Zeit«, versetzte Wilhelm und reichte der Alten einen Louisdor hin. »Verschafft Sie uns, was wir wünschen, so soll Sie’s mit genießen.«

Die Alte war behend, und in kurzer Zeit stand ein artig bestellter Tisch mit einer wohlgeordneten Kollation vor den Liebenden. Die Alte mußte sich dazusetzen; man aß, trank und ließ sich’s wohl sein.

In solchen Fällen fehlt es nie an Unterhaltung. Mariane nahm ihren Jonathan wieder vor, und die Alte wußte das Gespräch auf Wilhelms Lieblingsmaterie zu wenden. »Sie haben uns schon einmal«, sagte sie, »von der ersten Aufführung eines Puppenspiels am Weihnachtsabend unterhalten; es war lustig zu hören. Sie wurden eben unterbrochen, als das Ballett angehen sollte. Nun kennen wir das herrliche Personal, das jene großen Wirkungen hervorbrachte.«

»Ja«, sagte Mariane, »erzähle uns weiter, wie war dir’s zumute?«

»Es ist eine schöne Empfindung, liebe Mariane«, versetzte Wilhelm, »wenn wir uns alter Zeiten und alter unschädlicher Irrtümer erinnern, besonders wenn es in einem Augenblick geschieht, da wir eine Höhe glücklich erreicht haben, von welcher wir uns umsehen und den zurückgelegten Weg überschauen können. Es ist so angenehm, selbstzufrieden sich mancher Hindernisse zu erinnern, die wir oft mit einem peinlichen Gefühle für unüberwindlich hielten, und dasjenige, was wir jetzt entwickelt sind, mit dem zu vergleichen, was wir damals unentwickelt waren. Aber unaussprechlich glücklich fühl ich mich jetzt, da ich in diesem Augenblicke mit dir von dem Vergangnen rede, weil ich zugleich vorwärts in das reizende Land schaue, das wir zusammen Hand in Hand durchwandern können.«

»Wie war es mit dem Ballett?« fiel die Alte ihm ein. »Ich fürchte, es ist nicht alles abgelaufen, wie es sollte.«

»O ja«, versetzte Wilhelm, »sehr gut! Von jenen wunderlichen Sprüngen der Mohren und Mohrinnen, Schäfer und Schäferinnen, Zwerge und Zwerginnen ist mir eine dunkle Erinnerung auf mein ganzes Leben geblieben. Nun fiel der Vorhang, die Türe schloß sich, und die ganze kleine Gesellschaft eilte wie betrunken und taumelnd zu Bette; ich weiß aber wohl, daß ich nicht einschlafen konnte, daß ich noch etwas erzählt haben wollte, daß ich noch viele Fragen tat und daß ich nur ungern die Wärterin entließ, die uns zur Ruhe gebracht hatte.

Den andern Morgen war leider das magische Gerüste wieder verschwunden, der mystische Schleier weggehoben, man ging durch jene Türe wieder frei aus einer Stube in die andere, und so viel Abenteuer hatten keine Spur zurückgelassen. Meine Geschwister liefen mit ihren Spielsachen auf und ab, ich allein schlich hin und her, es schien mir unmöglich, daß da nur zwo Türpfosten sein sollten, wo gestern so viel Zauberei gewesen war. Ach, wer eine verlorne Liebe sucht, kann nicht unglücklicher sein, als ich mir damals schien!«

Ein freudetrunkner Blick, den er auf Marianen warf, überzeugte sie, daß er nicht fürchtete, jemals in diesen Fall kommen zu können.

Viertes Kapitel

»Mein einziger Wunsch war nunmehr«, fuhr Wilhelm fort, »eine zweite Aufführung des Stücks zu sehen. Ich lag der Mutter an, und diese suchte zu einer gelegenen Stunde den Vater zu bereden; allein ihre Mühe war vergebens. Er behauptete, nur ein seltenes Vergnügen könne bei den Menschen einen Wert haben, Kinder und Alte wüßten nicht zu schätzen, was ihnen Gutes täglich begegnete.

Wir hätten auch noch lange, vielleicht bis wieder Weihnachten, warten müssen, hätte nicht der Erbauer und heimliche Direktor des Schauspiels selbst Lust gefühlt, die Vorstellung zu wiederholen und dabei in einem Nachspiele einen ganz frisch fertig gewordenen Hanswurst zu produzieren.

Ein junger Mann von der Artillerie, mit vielen Talenten begabt, besonders in mechanischen Arbeiten geschickt, der dem Vater während des Bauens viele wesentliche Dienste geleistet hatte und von ihm reichlich beschenkt worden war, wollte sich am Christfeste der kleinen Familie dankbar erzeigen und machte dem Hause seines Gönners ein Geschenk mit diesem ganz eingerichteten Theater, das er ehmals in müßigen Stunden zusammengebaut, geschnitzt und gemalt hatte. Er war es, der mit Hülfe eines Bedienten selbst die Puppen regierte und mit verstellter Stimme die verschiedenen Rollen hersagte. Ihm ward nicht schwer, den Vater zu bereden, der einem Freunde aus Gefälligkeit zugestand, was er seinen Kindern aus Überzeugung abgeschlagen hatte. Genug, das Theater ward wieder aufgestellt, einige Nachbarskinder gebeten und das Stück wiederholt.

Hatte ich das erstemal die Freude der Überraschung und des Staunens, so war zum zweiten Male die Wollust des Aufmerkens und Forschens groß. Wie das zugehe, war jetzt mein Anliegen. Daß die Puppen nicht selbst redeten, hatte ich mir schon das erstemal gesagt; daß sie sich nicht von selbst bewegten, vermutete ich auch; aber warum das alles doch so hübsch war und es doch so aussah, als wenn sie selbst redeten und sich bewegten, und wo die Lichter und die Leute sein möchten, diese Rätsel beunruhigten mich um desto mehr, je mehr ich wünschte, zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich meine Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zuschauer die Freude der Illusion zu genießen.

Das Stück war zu Ende, man machte Vorbereitungen zum Nachspiel, die Zuschauer waren aufgestanden und schwatzten durcheinander. Ich drängte mich näher an die Türe und hörte inwendig am Klappern, daß man mit Aufräumen beschäftigt sei. Ich hub den untern Teppich auf und guckte zwischen dem Gestelle durch. Meine Mutter bemerkte es und zog mich zurück; allein ich hatte doch soviel gesehen, daß man Freunde und Feinde, Saul und Goliath und wie sie alle heißen mochten, in einen Schiebkasten packte, und so erhielt meine halbbefriedigte Neugierde frische Nahrung. Dabei hatte ich zu meinem größten Erstaunen den Lieutenant im Heiligtume sehr geschäftig erblickt. Nunmehr konnte mich der Hanswurst, sosehr er mit seinen Absätzen klapperte, nicht unterhalten. Ich verlor mich in tiefes Nachdenken und war nach dieser Entdeckung ruhiger und unruhiger als vorher. Nachdem ich etwas erfahren hatte, kam es mir erst vor, als ob ich gar nichts wisse, und ich hatte recht: denn es fehlte mir der Zusammenhang, und darauf kommt doch eigentlich alles an.«

Fünftes Kapitel

»Die Kinder haben«, fuhr Wilhelm fort, »in wohleingerichteten und geordneten Häusern eine Empfindung, wie ungefähr Ratten und Mäuse haben mögen: sie sind aufmerksam auf alle Ritzen und Löcher, wo sie zu einem verbotenen Naschwerk gelangen können; sie genießen es mit einer solchen verstohlnen, wollüstigen Furcht, die einen großen Teil des kindischen Glücks ausmacht.

Ich war vor allen meinen Geschwistern aufmerksam, wenn irgend ein Schlüssel steckenblieb. Je größer die Ehrfurcht war, die ich für die verschlossenen Türen in meinem Herzen herumtrug, an denen ich wochen- und monatelang vorbeigehen mußte und in die ich nur manchmal, wenn die Mutter das Heiligtum öffnete, um etwas herauszuholen, einen verstohlnen Blick tat, desto schneller war ich, einen Augenblick zu benutzen, den mich die Nachlässigkeit der Wirtschafterinnen manchmal treffen ließ.

Unter allen Türen war, wie man leicht erachten kann, die Türe der Speisekammer diejenige, auf die meine Sinne am schärfsten gerichtet waren. Wenig ahnungsvolle Freuden des Lebens glichen der Empfindung, wenn mich meine Mutter manchmal hineinrief, um ihr etwas heraustragen zu helfen, und ich dann einige gedörrte Pflaumen entweder ihrer Güte oder meiner List zu danken hatte. Die aufgehäuften Schätze übereinander umfingen meine Einbildungskraft mit ihrer Fülle, und selbst der wunderliche Geruch, den so mancherlei Spezereien durcheinander aushauchten, hatte so eine leckere Wirkung auf mich, daß ich niemals versäumte, sooft ich in der Nähe war, mich wenigstens an der eröffneten Atmosphäre zu weiden. Dieser merkwürdige Schlüssel blieb eines Sonntagmorgens, da die Mutter von dem Geläute übereilt ward und das ganze Haus in einer tiefen Sabbatstille lag, stecken. Kaum hatte ich es bemerkt, als ich etlichemal sachte an der Wand hin- und herging, mich endlich still und fein andrängte, die Türe öffnete und mich mit einem Schritt in der Nähe so vieler langgewünschter Glückseligkeit fühlte. Ich besah Kästen, Säcke, Schachteln, Büchsen, Gläser mit einem schnellen, zweifelnden Blicke, was ich wählen und nehmen sollte, griff endlich nach den vielgeliebten gewelkten Pflaumen, versah mich mit einigen getrockneten Äpfeln und nahm genügsam noch eine eingemachte Pomeranzenschale dazu: mit welcher Beute ich meinen Weg wieder rückwärtsglitschen wollte, als mir ein paar nebeneinander stehende Kasten in die Augen fielen, aus deren einem Drähte, oben mit Häkchen versehen, durch den übel verschlossenen Schieber heraushingen. Ahnungsvoll fiel ich darüber her; und mit welcher überirdischen Empfindung entdeckte ich, daß darin meine Helden- und Freudenwelt aufeinandergepackt sei! Ich wollte die obersten aufheben, betrachten, die untersten hervorziehen; allein gar bald verwirrte ich die leichten Drähte, kam darüber in Unruhe und Bangigkeit, besonders da die Köchin in der benachbarten Küche einige Bewegungen machte, daß ich alles, so gut ich konnte, zusammendrückte, den Kasten zuschob, nur ein geschriebenes Büchelchen, worin die Komödie von David und Goliath aufgezeichnet war, das obenauf gelegen hatte, zu mir steckte und mich mit dieser Beute leise die Treppe hinauf in eine Dachkammer rettete.

Von der Zeit an wandte ich alle verstohlenen einsamen Stunden darauf, mein Schauspiel wiederholt zu lesen, es auswendig zu lernen und mir in Gedanken vorzustellen, wie herrlich es sein müßte, wenn ich auch die Gestalten dazu mit meinen Fingern beleben könnte. Ich ward darüber in meinen Gedanken selbst zum David und Goliath. In allen Winkeln des Bodens, der Ställe, des Gartens, unter allerlei Umständen studierte ich das Stück ganz in mich hinein, ergriff alle Rollen und lernte sie auswendig, nur daß ich mich meist an den Platz der Haupthelden zu setzen pflegte und die übrigen wie Trabanten nur im Gedächtnisse mitlaufen ließ. So lagen mir die großmütigen Reden Davids, mit denen er den übermütigen Riesen Goliath herausforderte, Tag und Nacht im Sinne; ich murmelte sie oft vor mich hin, niemand gab acht darauf als der Vater, der manchmal einen solchen Ausruf bemerkte und bei sich selbst das gute Gedächtnis seines Knaben pries, der von so wenigem Zuhören so mancherlei habe behalten können.

Hierdurch ward ich immer verwegener und rezitierte eines Abends das Stück zum größten Teile vor meiner Mutter, indem ich mir einige Wachsklümpchen zu Schauspielern bereitete. Sie merkte auf, drang in mich, und ich gestand.

Glücklicherweise fiel diese Entdeckung in die Zeit, da der Lieutenant selbst den Wunsch geäußert hatte, mich in diese Geheimnisse einweihen zu dürfen. Meine Mutter gab ihm sogleich Nachricht von dem unerwarteten Talente ihres Sohnes, und er wußte nun einzuleiten, daß man ihm ein Paar Zimmer im obersten Stocke, die gewöhnlich leer standen, überließ, in deren einem wieder die Zuschauer sitzen, in dem andern die Schauspieler sein, und das Proszenium abermals die Öffnung der Türe ausfüllen sollte. Der Vater hatte seinem Freunde das alles zu veranstalten erlaubt, er selbst schien nur durch die Finger zu sehen, nach dem Grundsatze, man müsse den Kindern nicht merken lassen, wie lieb man sie habe, sie griffen immer zu weit um sich; er meinte, man müsse bei ihren Freuden ernst scheinen und sie ihnen manchmal verderben, damit ihre Zufriedenheit sie nicht übermäßig und übermütig mache.«

Sechstes Kapitel

»Der Lieutenant schlug nunmehr das Theater auf und besorgte das übrige. Ich merkte wohl, daß er die Woche mehrmals zu ungewöhnlicher Zeit ins Haus kam, und vermutete die Absicht. Meine Begierde wuchs unglaublich, da ich wohl fühlte, daß ich vor Sonnabends keinen Teil an dem, was zubereitet wurde, nehmen durfte. Endlich erschien der gewünschte Tag. Abends um fünf Uhr kam mein Führer und nahm mich mit hinauf. Zitternd vor Freude trat ich hinein und erblickte auf beiden Seiten des Gestelles die herabhängenden Puppen in der Ordnung, wie sie auftreten sollten; ich betrachtete sie sorgfältig, stieg auf den Tritt, der mich über das Theater erhub, so daß ich nun über der kleinen Welt schwebte. Ich sah nicht ohne Ehrfurcht zwischen die Brettchen hinunter, weil die Erinnerung, welche herrliche Wirkung das Ganze von außen tue, und das Gefühl, in welche Geheimnisse ich eingeweiht sei, mich umfaßten. Wir machten einen Versuch, und es ging gut.

Den andern Tag, da eine Gesellschaft Kinder geladen war, hielten wir uns trefflich, außer daß ich in dem Feuer der Aktion meinen Jonathan fallen ließ und genötigt war, mit der Hand hinunterzugreifen und ihn zu holen: ein Zufall, der die Illusion sehr unterbrach, ein großes Gelächter verursachte und mich unsäglich kränkte. Auch schien dieses Versehn dem Vater sehr willkommen zu sein, der das große Vergnügen, sein Söhnchen so fähig zu sehen, wohlbedächtig nicht an den Tag gab, nach geendigtem Stücke sich gleich an die Fehler hing und sagte, es wäre recht artig gewesen, wenn nur dies oder das nicht versagt hätte.

Mich kränkte das innig, ich ward traurig für den Abend, hatte aber am kommenden Morgen allen Verdruß schon wieder verschlafen und war in dem Gedanken selig, daß ich, außer jenem Unglück, trefflich gespielt habe. Dazu kam der Beifall der Zuschauer, welche durchaus behaupteten: obgleich der Lieutenant in Absicht der groben und feinen Stimme sehr viel getan habe, so peroriere er doch meist zu affektiert und steif; dagegen spreche der neue Anfänger seinen David und Jonathan vortrefflich; besonders lobte die Mutter den freimütigen Ausdruck, wie ich den Goliath herausgefordert und dem Könige den bescheidenen Sieger vorgestellt habe.

Nun blieb zu meiner größten Freude das Theater aufgeschlagen, und da der Frühling herbeikam und man ohne Feuer bestehen konnte, lag ich in meinen Frei- und Spielstunden in der Kammer und ließ die Puppen wacker durcheinanderspielen. Oft lud ich meine Geschwister und Kameraden hinauf; wenn sie aber auch nicht kommen wollten, war ich allein oben. Meine Einbildungskraft brütete über der kleinen Welt, die gar bald eine andere Gestalt gewann.

Ich hatte kaum das erste Stück, wozu Theater und Schauspieler geschaffen und gestempelt waren, etlichemal aufgeführt, als es mir schon keine Freude mehr machte. Dagegen waren mir unter den Büchern des Großvaters die ›Deutsche Schaubühne‹ und verschiedene italienisch-deutsche Opern in die Hände gekommen, in die ich mich sehr vertiefte und jedesmal nur erst vorne die Personen überrechnete und dann sogleich ohne weiteres zur Aufführung des Stückes schritt. Da mußte nun König Saul in seinem schwarzen Samtkleide den Chaumigrem, Cato und Darius spielen; wobei zu bemerken ist, daß die Stücke niemals ganz, sondern meistenteils nur die fünften Akte, wo es an ein Totstechen ging, aufgeführt wurden.

Auch war es natürlich, daß mich die Oper mit ihren mannigfaltigen Veränderungen und Abenteuern mehr als alles anziehen mußte. Ich fand darin stürmische Meere, Götter, die in Wolken herabkommen, und, was mich vorzüglich glücklich machte, Blitze und Donner. Ich half mir mit Pappe, Farbe und Papier, wußte gar trefflich Nacht zu machen, der Blitz war fürchterlich anzusehen, nur der Donner gelang nicht immer, doch das hatte so viel nicht zu sagen. Auch fand sich in den Opern mehr Gelegenheit, meinen David und Goliath anzubringen, welches im regelmäßigen Drama gar nicht angehen wollte. Ich fühlte täglich mehr Anhänglichkeit für das enge Plätzchen, wo ich so manche Freude genoß; und ich gestehe, daß der Geruch, den die Puppen aus der Speisekammer an sich gezogen hatten, nicht wenig dazu beitrug.

Die Dekorationen meines Theaters waren nunmehr in ziemlicher Vollkommenheit; denn daß ich von Jugend auf ein Geschick gehabt hatte, mit dem Zirkel umzugehen, Pappe auszuschneiden und Bilder zu illuminieren, kam mir jetzt wohl zustatten. Um desto weher tat es mir, wenn mich gar oft das Personal an Ausführung großer Sachen hinderte.

Meine Schwestern, indem sie ihre Puppen aus- und ankleideten, erregten in mir den Gedanken, meinen Helden auch nach und nach bewegliche Kleider zu verschaffen. Man trennte ihnen die Läppchen vom Leibe, setzte sie, so gut man konnte, zusammen, sparte sich etwas Geld, kaufte neues Band und Flittern, bettelte sich manches Stückchen Taft zusammen und schaffte nach und nach eine Theatergarderobe an, in welcher besonders die Reifröcke für die Damen nicht vergessen waren.

Die Truppe war nun wirklich mit Kleidern für das größte Stück versehen, und man hätte denken sollen, es würde nun erst recht eine Aufführung der andern folgen; aber es ging mir, wie es den Kindern öfter zu gehen pflegt: sie fassen weite Plane, machen große Anstalten, auch wohl einige Versuche, und es bleibt alles zusammen liegen. Dieses Fehlers muß ich mich auch anklagen. Die größte Freude lag bei mir in der Erfindung und in der Beschäftigung der Einbildungskraft. Dies oder jenes Stück interessierte mich um irgendeiner Szene willen, und ich ließ gleich wieder neue Kleider dazu machen. Über solchen Anstalten waren die ursprünglichen Kleidungsstücke meiner Helden in Unordnung geraten und verschleppt worden, daß also nicht einmal das erste große Stück mehr aufgeführt werden konnte. Ich überließ mich meiner Phantasie, probierte und bereitete ewig, baute tausend Luftschlösser und spürte nicht, daß ich den Grund des kleinen Gebäudes zerstört hatte.«

Während dieser Erzählung hatte Mariane alle ihre Freundlichkeit gegen Wilhelm aufgeboten, um ihre Schläfrigkeit zu verbergen. So scherzhaft die Begebenheit von einer Seite schien, so war sie ihr doch zu einfach und die Betrachtungen dabei zu ernsthaft. Sie setzte zärtlich ihren Fuß auf den Fuß des Geliebten und gab ihm scheinbare Zeichen ihrer Aufmerksamkeit und ihres Beifalls. Sie trank aus seinem Glase, und Wilhelm war überzeugt, es sei kein Wort seiner Geschichte auf die Erde gefallen. Nach einer kleinen Pause rief er aus: »Es ist nun an dir, Mariane, mir auch deine ersten jugendlichen Freuden mitzuteilen. Noch waren wir immer zu sehr mit dem Gegenwärtigen beschäftigt, als daß wir uns wechselseitig um unsere vorige Lebensweise hätten bekümmern können. Sage mir: unter welchen Umständen bist du erzogen? Welche sind die ersten lebhaften Eindrücke, deren du dich erinnerst?«

Diese Fragen würden Marianen in große Verlegenheit gesetzt haben, wenn ihr die Alte nicht sogleich zu Hülfe gekommen wäre. »Glauben Sie denn«, sagte das kluge Weib, »daß wir auf das, was uns früh begegnet, so aufmerksam sind, daß wir so artige Begebenheiten zu erzählen haben und, wenn wir sie zu erzählen hätten, daß wir der Sache auch ein solches Geschick zu geben wüßten?«

»Als wenn es dessen bedürfte!« rief Wilhelm aus. »Ich liebe dieses zärtliche, gute, liebliche Geschöpf so sehr, daß mich jeder Augenblick meines Lebens verdrießt, den ich ohne sie zugebracht habe. Laß mich wenigstens durch die Einbildungskraft teil an deinem vergangenen Leben nehmen! Erzähle mir alles, ich will dir alles erzählen. Wir wollen uns wo möglich täuschen und jene für die Liebe verlornen Zeiten wiederzugewinnen suchen.«

»Wenn Sie so eifrig darauf bestehen, können wir Sie wohl befriedigen«, sagte die Alte. »Erzählen Sie uns nur erst, wie Ihre Liebhaberei zum Schauspiele nach und nach gewachsen sei, wie Sie sich geübt, wie Sie so glücklich zugenommen haben, daß Sie nunmehr für einen guten Schauspieler gelten können. Es hat Ihnen dabei gewiß nicht an lustigen Begebenheiten gemangelt. Es ist nicht der Mühe wert, daß wir uns zur Ruhe legen, ich habe noch eine Flasche in Reserve; und wer weiß, ob wir bald wieder so ruhig und zufrieden zusammensitzen?«

Mariane schaute mit einem traurigen Blick nach ihr auf, den Wilhelm nicht bemerkte und in seiner Erzählung fortfuhr.

Siebentes Kapitel

»Die Zerstreuungen der Jugend, da meine Gespanschaft sich zu vermehren anfing, taten dem einsamen, stillen Vergnügen Eintrag. Ich war wechselsweise bald Jäger, bald Soldat, bald Reiter, wie es unsre Spiele mit sich brachten: doch hatte ich immer darin einen kleinen Vorzug vor den andern, daß ich imstande war, ihnen die nötigen Gerätschaften schicklich auszubilden. So waren die Schwerter meistens aus meiner Fabrik; ich verzierte und vergoldete die Schlitten, und ein geheimer Instinkt ließ mich nicht ruhen, bis ich unsre Miliz ins Antike umgeschaffen hatte. Helme wurden verfertiget, mit papiernen Büschen geschmückt, Schilde, sogar Harnische wurden gemacht, Arbeiten, bei denen die Bedienten im Hause, die etwa Schneider waren, und die Nähterinnen manche Nadel zerbrachen.

Einen Teil meiner jungen Gesellen sah ich nun wohlgerüstet; die übrigen wurden auch nach und nach, doch geringer, ausstaffiert, und es kam ein stattliches Korps zusammen. Wir marschierten in Höfen und Gärten, schlugen uns brav auf die Schilde und auf die Köpfe; es gab manche Mißhelligkeit, die aber bald beigelegt war.

Dieses Spiel, das die andern sehr unterhielt, war kaum etlichemal getrieben worden, als es mich schon nicht mehr befriedigte. Der Anblick so vieler gerüsteten Gestalten mußte in mir notwendig die Ritterideen aufreizen, die seit einiger Zeit, da ich in das Lesen alter Romane gefallen war, meinen Kopf anfüllten.

›Das befreite Jerusalem‹, davon mir Koppens Übersetzung in die Hände fiel, gab meinen herumschweifenden Gedanken endlich eine bestimmte Richtung. Ganz konnte ich zwar das Gedicht nicht lesen; es waren aber Stellen, die ich auswendig wußte, deren Bilder mich umschwebten. Besonders fesselte mich Chlorinde mit ihrem ganzen Tun und Lassen. Die Mannweiblichkeit, die ruhige Fülle ihres Daseins taten mehr Wirkung auf den Geist, der sich zu entwickeln anfing, als die gemachten Reize Armidens, ob ich gleich ihren Garten nicht verachtete.

Aber hundert- und hundertmal, wenn ich abends auf dem Altan, der zwischen den Giebeln des Hauses angebracht ist, spazierte, über die Gegend hinsah und von der hinabgewichenen Sonne ein zitternder Schein am Horizont heraufdämmerte, die Sterne hervortraten, aus allen Winkeln und Tiefen die Nacht hervordrang und der klingende Ton der Grillen durch die feierliche Stille schrillte, sagte ich mir die Geschichte des traurigen Zweikampfs zwischen Tankred und Chlorinden vor.

Sosehr ich, wie billig, von der Partei der Christen war, stand ich doch der heidnischen Heldin mit ganzem Herzen bei, als sie unternahm, den großen Turm der Belagerer anzuzünden. Und wie nun Tankred dem vermeinten Krieger in der Nacht begegnet, unter der düstern Hülle der Streit beginnt und sie gewaltig kämpfen! – Ich konnte nie die Worte aussprechen:

›Allein das Lebensmaß Chlorindens ist nun voll,

Und ihre Stunde kommt, in der sie sterben soll!‹, daß mir nicht die Tränen in die Augen kamen, die reichlich flossen, wie der unglückliche Liebhaber ihr das Schwert in die Brust stößt, der Sinkenden den Helm löst, sie erkennt und zur Taufe bebend das Wasser holt.

Aber wie ging mir das Herz über, wenn in dem bezauberten Walde Tankredens Schwert den Baum trifft, Blut nach dem Hiebe fließt und eine Stimme ihm in die Ohren tönt, daß er auch hier Chlorinden verwunde, daß er vom Schicksal bestimmt sei, das, was er liebt, überall unwissend zu verletzen!

Es bemächtigte sich die Geschichte meiner Einbildungskraft so, daß sich mir, was ich von dem Gedichte gelesen hatte, dunkel zu einem Ganzen in der Seele bildete, von dem ich dergestalt eingenommen war, daß ich es auf irgendeine Weise vorzustellen gedachte. Ich wollte Tankreden und Reinalden spielen und fand dazu zwei Rüstungen ganz bereit, die ich schon gefertiget hatte. Die eine, von dunkelgrauem Papier mit Schuppen, sollte den ernsten Tankred, die andere, von Silber- und Goldpapier, den glänzenden Reinald zieren. In der Lebhaftigkeit meiner Vorstellung erzählte ich alles meinen Gespanen, die davon ganz entzückt wurden und nur nicht wohl begreifen konnten, daß das alles aufgeführt, und zwar von ihnen aufgeführt werden sollte.

Diesen Zweifeln half ich mit vieler Leichtigkeit ab. Ich disponierte gleich über ein paar Zimmer in eines benachbarten Gespielen Haus, ohne zu berechnen, daß die alte Tante sie nimmermehr hergeben würde; ebenso war es mit dem Theater, wovon ich auch keine bestimmte Idee hatte, außer daß man es auf Balken setzen, die Kulissen von geteilten spanischen Wänden hinstellen und zum Grund ein großes Tuch nehmen müsse. Woher aber die Materialien und Gerätschaften kommen sollten, hatte ich nicht bedacht.

Für den Wald fanden wir eine gute Auskunft: wir gaben einem alten Bedienten aus einem der Häuser, der nun Förster geworden war, gute Worte, daß er uns junge Birken und Fichten schaffen möchte, die auch wirklich geschwinder, als wir hoffen konnten, herbeigebracht wurden. Nun aber fand man sich in großer Verlegenheit, wie man das Stück, eh die Bäume verdorrten, zustande bringen könne. Da war guter Rat teuer! Es fehlte an Platz, am Theater, an Vorhängen. Die spanischen Wände waren das einzige, was wir hatten.

In dieser Verlegenheit gingen wir wieder den Lieutenant an, dem wir eine weitläufige Beschreibung von der Herrlichkeit machten, die es geben sollte. Sowenig er uns begriff, so behülflich war er, schob in eine kleine Stube, was sich von Tischen im Hause und der Nachbarschaft nur finden wollte, aneinander, stellte die Wände darauf, machte eine hintere Aussicht von grünen Vorhängen, die Bäume wurden auch gleich mit in die Reihe gestellt.

Indessen war es Abend geworden, man hatte die Lichter angezündet, die Mägde und Kinder saßen auf ihren Plätzen, das Stück sollte angehn, die ganze Heldenschar war angezogen; nun spürte aber jeder zum erstenmal, daß er nicht wisse, was er zu sagen habe. In der Hitze der Erfindung, da ich ganz von meinem Gegenstande durchdrungen war, hatte ich vergessen, daß doch jeder wissen müsse, was und wo er es zu sagen habe; und in der Lebhaftigkeit der Ausführung war es den übrigen auch nicht beigefallen: sie glaubten, sie würden sich leicht als Helden darstellen, leicht so handeln und reden können wie die Personen, in deren Welt ich sie versetzt hatte. Sie standen alle erstaunt, fragten sich einander, was zuerst kommen sollte, und ich, der ich mich als Tankred vornean gedacht hatte, fing, allein auftretend, einige Verse aus dem Heldengedichte herzusagen an. Weil aber die Stelle gar zu bald ins Erzählende überging und ich in meiner eignen Rede endlich als dritte Person vorkam, auch der Gottfried, von dem die Sprache war, nicht herauskommen wollte, so mußte ich unter großem Gelächter meiner Zuschauer eben wieder abziehen: ein Unfall, der mich tief in der Seele kränkte. Verunglückt war die Expedition; die Zuschauer saßen da und wollten etwas sehen. Gekleidet waren wir; ich raffte mich zusammen und entschloß mich kurz und gut, ›David und Goliath‹ zu spielen. Einige der Gesellschaft hatten ehemals das Puppenspiel mit mir aufgeführt, alle hatten es oft gesehn; man teilte die Rollen aus, es versprach jeder, sein Bestes zu tun, und ein kleiner drolliger Junge malte sich einen schwarzen Bart, um, wenn ja eine Lücke einfallen sollte, sie als Hanswurst mit einer Posse auszufüllen, eine Anstalt, die ich, als dem Ernste des Stückes zuwider, sehr ungern geschehen ließ. Doch schwur ich mir, wenn ich nur einmal aus dieser Verlegenheit gerettet wäre, mich nie, als mit der größten Überlegung, an die Vorstellung eines Stücks zu wagen.«

Achtes Kapitel

Mariane, vom Schlaf überwältigt, lehnte sich an ihren Geliebten, der sie fest an sich drückte und in seiner Erzählung fortfuhr, indes die Alte den Überrest des Weins mit gutem Bedachte genoß.

»Die Verlegenheit«, sagte er, »in der ich mich mit meinen Freunden befunden hatte, indem wir ein Stück, das nicht existierte, zu spielen unternahmen, war bald vergessen. Meiner Leidenschaft, jeden Roman, den ich las, jede Geschichte, die man mich lehrte, in einem Schauspiele darzustellen, konnte selbst der unbiegsamste Stoff nicht widerstehen. Ich war völlig überzeugt, daß alles, was in der Erzählung ergötzte, vorgestellt eine viel größere Wirkung tun müsse; alles sollte vor meinen Augen, alles auf der Bühne vorgehen. Wenn uns in der Schule die Weltgeschichte vorgetragen wurde, zeichnete ich mir sorgfältig aus, wo einer auf eine besondere Weise erstochen oder vergiftet wurde, und meine Einbildungskraft sah über Exposition und Verwicklung hinweg und eilte dem interessanten fünften Akte zu. So fing ich auch wirklich an, einige Stücke von hinten hervor zu schreiben, ohne daß ich auch nur bei einem einzigen bis zum Anfange gekommen wäre.

Zu gleicher Zeit las ich, teils aus eignem Antrieb, teils auf Veranlassung meiner guten Freunde, welche in den Geschmack gekommen waren, Schauspiele aufzuführen, einen ganzen Wust theatralischer Produktionen durch, wie sie der Zufall mir in die Hände führte. Ich war in den glücklichen Jahren, wo uns noch alles gefällt, wo wir in der Menge und Abwechslung unsre Befriedigung finden. Leider aber ward mein Urteil noch auf eine andere Weise bestochen. Die Stücke gefielen mir besonders, in denen ich zu gefallen hoffte, und es waren wenige, die ich nicht in dieser angenehmen Täuschung durchlas; und meine lebhafte Vorstellungskraft, da ich mich in alle Rollen denken konnte, verführte mich zu glauben, daß ich auch alle darstellen würde; gewöhnlich wählte ich daher bei der Austeilung diejenigen, welche sich gar nicht für mich schickten, und, wenn es nur einigermaßen angehn wollte, wohl gar ein paar Rollen.

Kinder wissen beim Spiele aus allem alles zu machen; ein Stab wird zur Flinte, ein Stückchen Holz zum Degen, jedes Bündelchen zur Puppe und jeder Winkel zur Hütte. In diesem Sinne entwickelte sich unser Privattheater. Bei der völligen Unkenntnis unserer Kräfte unternahmen wir alles, bemerkten kein qui pro quo und waren überzeugt, jeder müsse uns dafür nehmen, wofür wir uns gaben. Leider ging alles einen so gemeinen Gang, daß mir nicht einmal eine merkwürdige Albernheit zu erzählen übrigbleibt. Erst spielten wir die wenigen Stücke durch, in welchen nur Mannspersonen auftreten; dann verkleideten wir einige aus unserm Mittel und zogen zuletzt die Schwestern mit ins Spiel. In einigen Häusern hielt man es für eine nützliche Beschäftigung und lud Gesellschaften darauf. Unser Artillerielieutenant verließ uns auch hier nicht. Er zeigte uns, wie wir kommen und gehen, deklamieren und gestikulieren sollten; allein er erntete für seine Bemühung meistens wenig Dank, indem wir die theatralischen Künste schon besser als er zu verstehen glaubten.

Wir verfielen gar bald auf das Trauerspiel: denn wir hatten oft sagen hören und glaubten selbst, es sei leichter, eine Tragödie zu schreiben und vorzustellen, als im Lustspiele vollkommen zu sein. Auch fühlten wir uns beim ersten tragischen Versuche ganz in unserm Elemente; wir suchten uns der Höhe des Standes, der Vortrefflichkeit der Charaktere durch Steifheit und Affektation zu nähern und dünkten uns durchaus nicht wenig; allein vollkommen glücklich waren wir nur, wenn wir recht rasen, mit den Füßen stampfen und uns wohl gar vor Wut und Verzweiflung auf die Erde werfen durften.

Knaben und Mädchen waren in diesen Spielen nicht lange beisammen, als die Natur sich zu regen und die Gesellschaft sich in verschiedene kleine Liebesgeschichten zu teilen anfing, da denn meistenteils Komödie in der Komödie gespielt wurde. Die glücklichen Paare drückten sich hinter den Theaterwänden die Hände auf das zärtlichste; sie verschwammen in Glückseligkeit, wenn sie einander, so bebändert und aufgeschmückt, recht idealisch vorkamen, indes gegenüber die unglücklichen Nebenbuhler sich vor Neid verzehrten und mit Trotz und Schadenfreude allerlei Unheil anrichteten.

Diese Spiele, obgleich ohne Verstand unternommen und ohne Anleitung durchgeführt, waren doch nicht ohne Nutzen für uns. Wir übten unser Gedächtnis und unsern Körper und erlangten mehr Geschmeidigkeit im Sprechen und Betragen, als man sonst in so frühen Jahren gewinnen kann. Für mich aber war jene Zeit besonders Epoche, mein Geist richtete sich ganz nach dem Theater, und ich fand kein größer Glück, als Schauspiele zu lesen, zu schreiben und zu spielen.

Der Unterricht meiner Lehrer dauerte fort; man hatte mich dem Handelsstand gewidmet und zu unserm Nachbar auf das Comptoir getan; aber eben zu selbiger Zeit entfernte sich mein Geist nur gewaltsamer von allem, was ich für ein niedriges Geschäft halten mußte. Der Bühne wollte ich meine ganze Tätigkeit widmen, auf ihr mein Glück und meine Zufriedenheit finden.

Ich erinnere mich noch eines Gedichtes, das sich unter meinen Papieren finden muß, in welchem die Muse der tragischen Dichtkunst und eine andere Frauengestalt, in der ich das Gewerbe personifiziert hatte, sich um meine werte Person recht wacker zanken. Die Erfindung ist gemein, und ich erinnere mich nicht, ob die Verse etwas taugen; aber ihr sollt es sehen, um der Furcht, des Abscheues, der Liebe und der Leidenschaft willen, die darin herrschen. Wie ängstlich hatte ich die alte Hausmutter geschildert mit dem Rocken im Gürtel, mit Schlüsseln an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkisch und haushältisch, kleinlich und beschwerlich! Wie kümmerlich beschrieb ich den Zustand dessen, der sich unter ihrer Rute bücken und sein knechtisches Tagewerk im Schweiße des Angesichtes verdienen sollte!

Wie anders trat jene dagegen auf! Welche Erscheinung ward sie dem bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Wesen und Betragen als eine Tochter der Freiheit anzusehen. Das Gefühl ihrer selbst gab ihr Würde ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten wie ein tausendfaches Echo die reizenden Bewegungen der Göttlichen. Welch ein Kontrast! Und auf welche Seite sich mein Herz wandte, kannst du leicht denken. Auch war nichts vergessen, um meine Muse kenntlich zu machen. Kronen und Dolche, Ketten und Masken, wie sie mir meine Vorgänger überliefert hatten, waren ihr auch hier zugeteilt. Der Wettstreit war heftig, die Reden beider Personen kontrastierten gehörig, da man im vierzehnten Jahre gewöhnlich das Schwarze und Weiße recht nah aneinander zu malen pflegt. Die Alte redete, wie es einer Person geziemt, die eine Stecknadel aufhebt, und jene wie eine, die Königreiche verschenkt. Die warnenden Drohungen der Alten wurden verschmäht; ich sah die mir versprochenen Reichtümer schon mit dem Rücken an: enterbt und nackt übergab ich mich der Muse, die mir ihren goldnen Schleier zuwarf und meine Blöße bedeckte. –

Hätte ich denken können, o meine Geliebte!« rief er aus, indem er Marianen fest an sich drückte, »daß eine ganz andere, eine lieblichere Gottheit kommen, mich in meinem Vorsatz stärken, mich auf meinem Wege begleiten würde; welch eine schönere Wendung würde mein Gedicht genommen haben, wie interessant würde nicht der Schluß desselben geworden sein! Doch es ist kein Gedicht, es ist Wahrheit und Leben, was ich in deinen Armen finde; laß uns das süße Glück mit Bewußtsein genießen!«

Durch den Druck seines Armes, durch die Lebhaftigkeit seiner erhöhten Stimme war Mariane erwacht und verbarg durch Liebkosungen ihre Verlegenheit: denn sie hatte auch nicht ein Wort von dem letzten Teile seiner Erzählung vernommen, und es ist zu wünschen, daß unser Held für seine Lieblingsgeschichten aufmerksamere Zuhörer künftig finden möge.

Neuntes Kapitel

So brachte Wilhelm seine Nächte im Genusse vertraulicher Liebe, seine Tage in Erwartung neuer seliger Stunden zu. Schon zu jener Zeit, als ihn Verlangen und Hoffnung zu Marianen hinzog, fühlte er sich wie neu belebt, er fühlte, daß er ein anderer Mensch zu werden beginne; nun war er mit ihr vereinigt, die Befriedigung seiner Wünsche ward eine reizende Gewohnheit. Sein Herz strebte, den Gegenstand seiner Leidenschaft zu veredeln, sein Geist, das geliebte Mädchen mit sich emporzuheben. In der kleinsten Abwesenheit ergriff ihn ihr Andenken. War sie ihm sonst notwendig gewesen, so war sie ihm jetzt unentbehrlich, da er mit allen Banden der Menschheit an sie geknüpft war. Seine reine Seele fühlte, daß sie die Hälfte, mehr als die Hälfte seiner selbst sei. Er war dankbar und hingegeben ohne Grenzen.

Auch Mariane konnte sich eine Zeitlang täuschen; sie teilte die Empfindung seines lebhaften Glücks mit ihm. Ach! wenn nur nicht manchmal die kalte Hand des Vorwurfs ihr über das Herz gefahren wäre! Selbst an dem Busen Wilhelms war sie nicht sicher davor, selbst unter den Flügeln seiner Liebe. Und wenn sie nun gar wieder allein war und aus den Wolken, in denen seine Leidenschaft sie emportrug, in das Bewußtsein ihres Zustandes herabsank, dann war sie zu bedauern. Denn Leichtsinn kam ihr zu Hülfe, solange sie in niedriger Verworrenheit lebte, sich über ihre Verhältnisse betrog oder vielmehr sie nicht kannte; da erschienen ihr die Vorfälle, denen sie ausgesetzt war, nur einzeln: Vergnügen und Verdruß lösten sich ab, Demütigung wurde durch Eitelkeit, und Mangel oft durch augenblicklichen Überfluß vergütet; sie konnte Not und Gewohnheit sich als Gesetz und Rechtfertigung anführen, und so lange ließen sich alle unangenehmen Empfindungen von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tage abschütteln. Nun aber hatte das arme Mädchen sich Augenblicke in eine bessere Welt hinübergerückt gefühlt, hatte wie von oben herab aus Licht und Freude ins Öde, Verworfene ihres Lebens heruntergesehen, hatte gefühlt, welche elende Kreatur ein Weib ist, das mit dem Verlangen nicht zugleich Liebe und Ehrfurcht einflößt, und fand sich äußerlich und innerlich um nichts gebessert. Sie hatte nichts, was sie aufrichten konnte. Wenn sie in sich blickte und suchte, war es in ihrem Geiste leer, und ihr Herz hatte keinen Widerhalt. Je trauriger dieser Zustand war, desto heftiger schloß sich ihre Neigung an den Geliebten fest; ja die Leidenschaft wuchs mit jedem Tage, wie die Gefahr, ihn zu verlieren, mit jedem Tage näherrückte.

Dagegen schwebte Wilhelm glücklich in höheren Regionen, ihm war auch eine neue Welt aufgegangen, aber reich an herrlichen Aussichten. Kaum ließ das Übermaß der ersten Freude nach, so stellte sich das hell vor seine Seele, was ihn bisher dunkel durchwühlt hatte. »Sie ist dein! Sie hat sich dir hingegeben! Sie, das geliebte, gesuchte, angebetete Geschöpf, dir auf Treu und Glauben hingegeben; aber sie hat sich keinem Undankbaren überlassen.« Wo er stand und ging, redete er mit sich selbst; sein Herz floß beständig über, und er sagte sich in einer Fülle von prächtigen Worten die erhabensten Gesinnungen vor. Er glaubte den hellen Wink des Schicksals zu verstehen, das ihm durch Marianen die Hand reichte, sich aus dem stockenden, schleppenden bürgerlichen Leben herauszureißen, aus dem er schon so lange sich zu retten gewünscht hatte. Seines Vaters Haus, die Seinigen zu verlassen schien ihm etwas Leichtes. Er war jung und neu in der Welt, und sein Mut, in ihren Weiten nach Glück und Befriedigung zu rennen, durch die Liebe erhöht. Seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar; das hohe Ziel, das er sich vorgesteckt sah, schien ihm näher, indem er an Marianens Hand hinstrebte, und in selbstgefälliger Bescheidenheit erblickte er in sich den trefflichen Schauspieler, den Schöpfer eines künftigen Nationaltheaters, nach dem er so vielfältig hatte seufzen hören. Alles, was in den innersten Winkeln seiner Seele bisher geschlummert hatte, wurde rege. Er bildete aus den vielerlei Ideen mit Farben der Liebe ein Gemälde auf Nebelgrund, dessen Gestalten freilich sehr ineinanderflossen; dafür aber auch das Ganze eine desto reizendere Wirkung tat.

Zehntes Kapitel

Er saß nun zu Hause, kramte unter seinen Papieren und rüstete sich zur Abreise. Was nach seiner bisherigen Bestimmung schmeckte, ward beiseite gelegt; er wollte bei seiner Wanderung in die Welt auch von jeder unangenehmen Erinnerung frei sein. Nur Werke des Geschmacks, Dichter und Kritiker, wurden als bekannte Freunde unter die Erwählten gestellt; und da er bisher die Kunstrichter sehr wenig genutzt hatte, so erneuerte sich seine Begierde nach Belehrung, als er seine Bücher wieder durchsah und fand, daß die theoretischen Schriften noch meist unaufgeschnitten waren. Er hatte sich, in der völligen Überzeugung von der Notwendigkeit solcher Werke, viele davon angeschafft und mit dem besten Willen in keines auch nur bis in die Hälfte sich hineinlesen können.

Dagegen hatte er sich desto eifriger an Beispiele gehalten und in allen Arten, die ihm bekannt worden waren, selbst Versuche gemacht.

Werner trat herein, und als er seinen Freund mit den bekannten Heften beschäftigt sah, rief er aus: »Bist du schon wieder über diesen Papieren? Ich wette, du hast nicht die Absicht, eins oder das andere zu vollenden! Du siehst sie durch und wieder durch und beginnst allenfalls etwas Neues.«

»Zu vollenden ist nicht die Sache des Schülers, es ist genug, wenn er sich übt.«

»Aber doch fertigmacht, so gut er kann.«

»Und doch ließe sich wohl die Frage aufwerfen, ob man nicht eben gute Hoffnung von einem jungen Menschen fassen könne, der bald gewahr wird, wenn er etwas Ungeschicktes unternommen hat, in der Arbeit nicht fortfährt und an etwas, das niemals einen Wert haben kann, weder Mühe noch Zeit verschwenden mag.«

»Ich weiß wohl, es war nie deine Sache, etwas zustande zu bringen, du warst immer müde, eh es zur Hälfte kam. Da du noch Direktor unsers Puppenspiels warst, wie oft wurden neue Kleider für die Zwerggesellschaft gemacht, neue Dekorationen ausgeschnitten? Bald sollte dieses, bald jenes Trauerspiel aufgeführt werden, und höchstens gabst du einmal den fünften Akt, wo alles recht bunt durcheinanderging und die Leute sich erstachen.«

»Wenn du von jenen Zeiten sprechen willst, wer war denn schuld, daß wir die Kleider, die unsern Puppen angepaßt und auf den Leib festgenäht waren, heruntertrennen ließen und den Aufwand einer weitläufigen und unnützen Garderobe machten? Warst du’s nicht, der immer ein neues Stück Band zu verhandeln hatte, der meine Liebhaberei anzufeuern und zu nützen wußte?«

Werner lachte und rief aus: »Ich erinnere mich immer noch mit Freuden, daß ich von euren theatralischen Feldzügen Vorteil zog wie Lieferanten vom Kriege. Als ihr euch zur Befreiung Jerusalems rüstetet, machte ich auch einen schönen Profit wie ehemals die Venezianer im ähnlichen Falle. Ich finde nichts vernünftiger in der Welt, als von den Torheiten anderer Vorteil zu ziehen.«

»Ich weiß nicht, ob es nicht ein edleres Vergnügen wäre, die Menschen von ihren Torheiten zu heilen.«

»Wie ich sie kenne, möchte das wohl ein eitles Bestreben sein. Es gehört schon etwas dazu, wenn ein einziger Mensch klug und reich werden soll, und meistens wird er es auf Unkosten der andern.«

»Es fällt mir eben recht der ›Jüngling am Scheidewege‹ in die Hände«, versetzte Wilhelm, indem er ein Heft aus den übrigen Papieren herauszog, »das ist doch fertig geworden, es mag übrigens sein, wie es will.«

»Leg es beiseite, wirf es ins Feuer!« versetzte Werner. »Die Erfindung ist nicht im geringsten lobenswürdig; schon vormals ärgerte mich diese Komposition genug und zog dir den Unwillen des Vaters zu. Es mögen ganz artige Verse sein; aber die Vorstellungsart ist grundfalsch. Ich erinnere mich noch deines personifizierten Gewerbes, deiner zusammengeschrumpften, erbärmlichen Sibylle. Du magst das Bild in irgendeinem elenden Kramladen aufgeschnappt haben. Von der Handlung hattest du damals keinen Begriff; ich wüßte nicht, wessen Geist ausgebreiteter wäre, ausgebreiteter sein müßte als der Geist eines echten Handelsmannes. Welchen Überblick verschafft uns nicht die Ordnung, in der wir unsere Geschäfte führen! Sie läßt uns jederzeit das Ganze überschauen, ohne daß wir nötig hätten, uns durch das Einzelne verwirren zu lassen. Welche Vorteile gewährt die doppelte Buchhaltung dem Kaufmanne! Es ist eine der schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes, und ein jeder gute Haushalter sollte sie in seiner Wirtschaft einführen.«

»Verzeih mir«, sagte Wilhelm lächelnd, »du fängst von der Form an, als wenn das die Sache wäre; gewöhnlich vergeßt ihr aber auch über eurem Addieren und Bilanzieren das eigentliche Fazit des Lebens.«

»Leider siehst du nicht, mein Freund, wie Form und Sache hier nur eins ist, eins ohne das andere nicht bestehen könnte. Ordnung und Klarheit vermehrt die Lust zu sparen und zu erwerben. Ein Mensch, der übel haushält, befindet sich in der Dunkelheit sehr wohl; er mag die Posten nicht gerne zusammenrechnen, die er schuldig ist. Dagegen kann einem guten Wirte nichts angenehmer sein, als sich alle Tage die Summe seines wachsenden Glückes zu ziehen. Selbst ein Unfall, wenn er ihn verdrießlich überrascht, erschreckt ihn nicht; denn er weiß sogleich, was für erworbene Vorteile er auf die andere Waagschale zu legen hat. Ich bin überzeugt, mein lieber Freund, wenn du nur einmal einen rechten Geschmack an unsern Geschäften finden könntest, so würdest du dich überzeugen, daß manche Fähigkeiten des Geistes auch dabei ihr freies Spiel haben können.«

»Es ist möglich, daß mich die Reise, die ich vorhabe, auf andere Gedanken bringt.«

»O gewiß! Glaube mir, es fehlt dir nur der Anblick einer großen Tätigkeit, um dich auf immer zu dem Unsern zu machen; und wenn du zurückkommst, wirst du dich gern zu denen gesellen, die durch alle Arten von Spedition und Spekulation einen Teil des Geldes und Wohlbefindens, das in der Welt seinen notwendigen Kreislauf führt, an sich zu reißen wissen. Wirf einen Blick auf die natürlichen und künstlichen Produkte aller Weltteile, betrachte, wie sie wechselsweise zur Notdurft geworden sind! Welch eine angenehme, geistreiche Sorgfalt ist es, alles, was in dem Augenblicke am meisten gesucht wird und doch bald fehlt, bald schwer zu haben ist, zu kennen, jedem, was er verlangt, leicht und schnell zu verschaffen, sich vorsichtig in Vorrat zu setzen und den Vorteil jedes Augenblickes dieser großen Zirkulation zu genießen! Dies ist, dünkt mich, was jedem, der Kopf hat, eine große Freude machen wird.«

Wilhelm schien nicht abgeneigt, und Werner fuhr fort: »Besuche nur erst ein paar große Handelsstädte, ein paar Häfen, und du wirst gewiß mit fortgerissen werden. Wenn du siehst, wie viele Menschen beschäftiget sind; wenn du siehst, wo so manches herkommt, wo es hingeht, so wirst du es gewiß auch mit Vergnügen durch deine Hände gehen sehen. Die geringste Ware siehst du im Zusammenhange mit dem ganzen Handel, und eben darum hältst du nichts für gering, weil alles die Zirkulation vermehrt, von welcher dein Leben seine Nahrung zieht.«

Werner, der seinen richtigen Verstand in dem Umgange mit Wilhelm ausbildete, hatte sich gewöhnt, auch an sein Gewerbe, an seine Geschäfte mit Erhebung der Seele zu denken, und glaubte immer, daß er es mit mehrerem Rechte tue als sein sonst verständiger und geschätzter Freund, der, wie es ihm schien, auf das Unreellste von der Welt einen so großen Wert und das Gewicht seiner ganzen Seele legte. Manchmal dachte er, es könne gar nicht fehlen, dieser falsche Enthusiasmus müsse zu überwältigen und ein so guter Mensch auf den rechten Weg zu bringen sein. In dieser Hoffnung fuhr er fort: »Es haben die Großen dieser Welt sich der Erde bemächtiget, sie leben in Herrlichkeit und Überfluß. Der kleinste Raum unsers Weltteils ist schon in Besitz genommen, jeder Besitz befestigt, Ämter und andere bürgerliche Geschäfte tragen wenig ein; wo gibt es nun noch einen rechtmäßigeren Erwerb, eine billigere Eroberung als den Handel? Haben die Fürsten dieser Welt die Flüsse, die Wege, die Häfen in ihrer Gewalt und nehmen von dem, was durch- und vorbeigeht, einen starken Gewinn: sollen wir nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen und durch unsere Tätigkeit auch Zoll von jenen Artikeln nehmen, die teils das Bedürfnis, teils der Übermut den Menschen unentbehrlich gemacht hat? Und ich kann dir versichern, wenn du nur deine dichterische Einbildungskraft anwenden wolltest, so könntest du meine Göttin als eine unüberwindliche Siegerin der deinigen kühn entgegenstellen. Sie führt freilich lieber den Ölzweig als das Schwert; Dolch und Ketten kennt sie gar nicht: aber Kronen teilet sie auch ihren Lieblingen aus, die, es sei ohne Verachtung jener gesagt, von echtem, aus der Quelle geschöpftem Golde und von Perlen glänzen, die sie aus der Tiefe des Meeres durch ihre immer geschäftigen Diener geholt hat.«

Wilhelmen verdroß dieser Ausfall ein wenig, doch verbarg er seine Empfindlichkeit; denn er erinnerte sich, daß Werner auch seine Apostrophen mit Gelassenheit anzuhören pflegte. Übrigens war er billig genug, um gerne zu sehen, wenn jeder von seinem Handwerk aufs beste dachte; nur mußte man ihm das seinige, dem er sich mit Leidenschaft gewidmet hatte, unangefochten lassen.

»Und dir«, rief Werner aus, »der du an menschlichen Dingen so herzlichen Anteil nimmst, was wird es dir für ein Schauspiel sein, wenn du das Glück, das mutige Unternehmungen begleitet, vor deinen Augen den Menschen wirst gewährt sehen! Was ist reizender als der Anblick eines Schiffes, das von einer glücklichen Fahrt wieder anlangt, das von einem reichen Fange frühzeitig zurückkehrt! Nicht der Verwandte, der Bekannte, der Teilnehmer allein, ein jeder fremde Zuschauer wird hingerissen, wenn er die Freude sieht, mit welcher der eingesperrte Schiffer ans Land springt, noch ehe sein Fahrzeug es ganz berührt, sich wieder frei fühlt und nunmehr das, was er dem falschen Wasser entzogen, der getreuen Erde anvertrauen kann. Nicht in Zahlen allein, mein Freund, erscheint uns der Gewinn; das Glück ist die Göttin der lebendigen Menschen, und um ihre Gunst wahrhaft zu empfinden, muß man leben und Menschen sehen, die sich recht lebendig bemühen und recht sinnlich genießen.«

Eilftes Kapitel

Es ist nun Zeit, daß wir auch die Väter unsrer beiden Freunde näher kennenlernen; ein paar Männer von sehr verschiedener Denkungsart, deren Gesinnungen aber darin übereinkamen, daß sie den Handel für das edelste Geschäft hielten und beide höchst aufmerksam auf jeden Vorteil waren, den ihnen irgend eine Spekulation bringen konnte. Der alte Meister hatte gleich nach dem Tode seines Vaters eine kostbare Sammlung von Gemälden, Zeichnungen, Kupferstichen und Antiquitäten ins Geld gesetzt, sein Haus nach dem neuesten Geschmacke von Grund aus aufgebaut und möbliert und sein übriges Vermögen auf alle mögliche Weise gelten gemacht. Einen ansehnlichen Teil davon hatte er dem alten Werner in die Handlung gegeben, der als ein tätiger Handelsmann berühmt war und dessen Spekulationen gewöhnlich durch das Glück begünstigt wurden. Nichts wünschte aber der alte Meister so sehr, als seinem Sohne Eigenschaften zu geben, die ihm selbst fehlten, und seinen Kindern Güter zu hinterlassen, auf deren Besitz er den größten Wert legte. Zwar empfand er eine besondere Neigung zum Prächtigen, zu dem, was in die Augen fällt, das aber auch zugleich einen innern Wert und eine Dauer haben sollte. In seinem Hause mußte alles solid und massiv sein, der Vorrat reichlich, das Silbergeschirr schwer, das Tafelservice kostbar; dagegen waren die Gäste selten, denn eine jede Mahlzeit ward ein Fest, das sowohl wegen der Kosten als wegen der Unbequemlichkeit nicht oft wiederholt werden konnte. Sein Haushalt ging einen gelassenen und einförmigen Schritt, und alles, was sich darin bewegte und erneuerte, war gerade das, was niemanden einigen Genuß gab.

Ein ganz entgegengesetztes Leben führte der alte Werner in einem dunkeln und finstern Hause. Hatte er seine Geschäfte in der engen Schreibstube am uralten Pulte vollendet, so wollte er gut essen und womöglich noch besser trinken, auch konnte er das Gute nicht allein genießen: neben seiner Familie mußte er seine Freunde, alle Fremden, die nur mit seinem Hause in einiger Verbindung standen, immer bei Tische sehen; seine Stühle waren uralt, aber er lud täglich jemanden ein, darauf zu sitzen. Die guten Speisen zogen die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich, und niemand bemerkte, daß sie in gemeinem Geschirr aufgetragen wurden. Sein Keller hielt nicht viel Wein, aber der ausgetrunkene ward gewöhnlich durch einen bessern ersetzt.

So lebten die beiden Väter, welche öfter zusammenkamen, sich wegen gemeinschaftlicher Geschäfte beratschlagten und eben heute die Versendung Wilhelms in Handelsangelegenheiten beschlossen.

»Er mag sich in der Welt umsehen«, sagte der alte Meister, »und zugleich unsre Geschäfte an fremden Orten betreiben; man kann einem jungen Menschen keine größere Wohltat erweisen, als wenn man ihn zeitig in die Bestimmung seines Lebens einweiht. Ihr Sohn ist von seiner Expedition so glücklich zurückgekommen, hat seine Geschäfte so gut zu machen gewußt, daß ich recht neugierig bin, wie sich der meinige beträgt; ich fürchte, er wird mehr Lehrgeld geben als der Ihrige.«

Der alte Meister, welcher von seinem Sohne und dessen Fähigkeiten einen großen Begriff hatte, sagte diese Worte in Hoffnung, daß sein Freund ihm widersprechen und die vortrefflichen Gaben des jungen Mannes herausstreichen sollte. Allein hierin betrog er sich; der alte Werner, der in praktischen Dingen niemanden traute als dem, den er geprüft hatte, versetzte gelassen: »Man muß alles versuchen; wir können ihn ebendenselben Weg schicken, wir geben ihm eine Vorschrift, wornach er sich richtet; es sind verschiedene Schulden einzukassieren, alte Bekanntschaften zu erneuern, neue zu machen. Er kann auch die Spekulation, mit der ich Sie neulich unterhielt, befördern helfen; denn ohne genaue Nachrichten an Ort und Stelle zu sammeln, läßt sich dabei wenig tun.«

»Er mag sich vorbereiten«, versetzte der alte Meister, »und so bald als möglich aufbrechen. Wo nehmen wir ein Pferd für ihn her, das sich zu dieser Expedition schickt?«

»Wir werden nicht weit darnach suchen. Ein Krämer in H***, der uns noch einiges schuldig, aber sonst ein guter Mann ist, hat mir eins an Zahlungs Statt angeboten; mein Sohn kennt es, es soll ein recht brauchbares Tier sein.«

»Er mag es selbst holen, mag mit dem Postwagen hinüberfahren, so ist er übermorgen beizeiten wieder da, man macht ihm indessen den Mantelsack und die Briefe zurechte, und so kann er zu Anfang der künftigen Woche aufbrechen.«

Wilhelm wurde gerufen, und man machte ihm den Entschluß bekannt. Wer war froher als er, da er die Mittel zu seinem Vorhaben in seinen Händen sah, da ihm die Gelegenheit ohne sein Mitwirken zubereitet worden! So groß war seine Leidenschaft, so rein seine Überzeugung, er handle vollkommen recht, sich dem Drucke seines bisherigen Lebens zu entziehen und einer neuen, edlern Bahn zu folgen, daß sein Gewissen sich nicht im mindesten regte, keine Sorge in ihm entstand, ja daß er vielmehr diesen Betrug für heilig hielt. Er war gewiß, daß ihn Eltern und Verwandte in der Folge für diesen Schritt preisen und segnen sollten, er erkannte den Wink eines leitenden Schicksals an diesen zusammentreffenden Umständen.

Wie lang ward ihm die Zeit bis zur Nacht, bis zur Stunde, in der er seine Geliebte wiedersehen sollte! Er saß auf seinem Zimmer und überdachte seinen Reiseplan, wie ein künstlicher Dieb oder Zauberer in der Gefangenschaft manchmal die Füße aus den festgeschlossenen Ketten herauszieht, um die Überzeugung bei sich zu nähren, daß seine Rettung möglich, ja noch näher sei, als kurzsichtige Wächter glauben.

Endlich schlug die nächtliche Stunde; er entfernte sich aus seinem Hause, schüttelte allen Druck ab und wandelte durch die stillen Gassen. Auf dem großen Platze hub er seine Hände gen Himmel, fühlte alles hinter und unter sich; er hatte sich von allem losgemacht. Nun dachte er sich in den Armen seiner Geliebten, dann wieder mit ihr auf dem blendenden Theatergerüste, er schwebte in einer Fülle von Hoffnungen, und nur manchmal erinnerte ihn der Ruf des Nachtwächters, daß er noch auf dieser Erde wandle.

Seine Geliebte kam ihm an der Treppe entgegen, und wie schön! wie lieblich! In dem neuen weißen Negligé empfing sie ihn, er glaubte sie noch nie so reizend gesehen zu haben. So weihte sie das Geschenk des abwesenden Liebhabers in den Armen des gegenwärtigen ein, und mit wahrer Leidenschaft verschwendete sie den ganzen Reichtum ihrer Liebkosungen, welche ihr die Natur eingab, welche die Kunst sie gelehrt hatte, an ihren Liebling, und man frage, ob er sich glücklich, ob er sich selig fühlte.

Er entdeckte ihr, was vorgegangen war, und ließ ihr im allgemeinen seinen Plan, seine Wünsche sehen. Er wolle unterzukommen suchen, sie alsdann abholen, er hoffe, sie werde ihm ihre Hand nicht versagen. Das arme Mädchen aber schwieg, verbarg ihre Tränen und drückte den Freund an ihre Brust, der, ob er gleich ihr Verstummen auf das günstigste auslegte, doch eine Antwort gewünscht hätte, besonders da er sie zuletzt auf das bescheidenste, auf das freundlichste fragte, ob er sich denn nicht Vater glauben dürfe. Aber auch darauf antwortete sie nur mit einem Seufzer, einem Kusse.

Zwölftes Kapitel

Den andern Morgen erwachte Mariane nur zu neuer Betrübnis; sie fand sich sehr allein, mochte den Tag nicht sehen, blieb im Bette und weinte. Die Alte setzte sich zu ihr, suchte ihr einzureden, sie zu trösten; aber es gelang ihr nicht, das verwundete Herz so schnell zu heilen. Nun war der Augenblick nahe, dem das arme Mädchen wie dem letzten ihres Lebens entgegengesehen hatte. Konnte man sich auch in einer ängstlichern Lage fühlen? Ihr Geliebter entfernte sich, ein unbequemer Liebhaber drohte zu kommen, und das größte Unheil stand bevor, wenn beide, wie es leicht möglich war, einmal zusammentreffen sollten.

»Beruhige dich, Liebchen«, rief die Alte, »verweine mir deine schönen Augen nicht! Ist es denn ein so großes Unglück, zwei Liebhaber zu besitzen? Und wenn du auch deine Zärtlichkeit nur dem einen schenken kannst, so sei wenigstens dankbar gegen den andern, der, nach der Art, wie er für dich sorgt, gewiß dein Freund genannt zu werden verdient.«

»Es ahnte meinem Geliebten«, versetzte Mariane dagegen mit Tränen, »daß uns eine Trennung bevorstehe; ein Traum hat ihm entdeckt, was wir ihm so sorgfältig zu verbergen suchen. Er schlief so ruhig an meiner Seite. Auf einmal höre ich ihn ängstliche, unvernehmliche Töne stammeln. Mir wird bange, und ich wecke ihn auf. Ach! mit welcher Liebe, mit welcher Zärtlichkeit, mit welchem Feuer umarmt‘ er mich! ›O Mariane!‹ rief er aus, ›welchem schrecklichen Zustande hast du mich entrissen! Wie soll ich dir danken, daß du mich aus dieser Hölle befreit hast? Mir träumte‹, fuhr er fort, ›ich befände mich, entfernt von dir, in einer unbekannten Gegend; aber dein Bild schwebte mir vor; ich sah dich auf einem schönen Hügel, die Sonne beschien den ganzen Platz; wie reizend kamst du mir vor! Aber es währte nicht lange, so sah ich dein Bild hinuntergleiten, immer hinuntergleiten; ich streckte meine Arme nach dir aus, sie reichten nicht durch die Ferne. Immer sank dein Bild und näherte sich einem großen See, der am Fuße des Hügels weit ausgebreitet lag, eher ein Sumpf als ein See. Auf einmal gab dir ein Mann die Hand; er schien dich hinaufführen zu wollen, aber leitete dich seitwärts und schien dich nach sich zu ziehen. Ich rief, da ich dich nicht erreichen konnte, ich hoffte dich zu warnen. Wollte ich gehen, so schien der Boden mich festzuhalten; konnt ich gehen, so hinderte mich das Wasser, und sogar mein Schreien erstickte in der beklemmten Brust.‹ – So erzählte der Arme, indem er sich von seinem Schrecken an meinem Busen erholte und sich glücklich pries, einen fürchterlichen Traum durch die seligste Wirklichkeit verdrängt zu sehen.«

Die Alte suchte soviel möglich durch ihre Prose die Poesie ihrer Freundin ins Gebiet des gemeinen Lebens herunterzulocken und bediente sich dabei der guten Art, welche Vogelstellern zu gelingen pflegt, indem sie durch ein Pfeifchen die Töne derjenigen nachzuahmen suchen, welche sie bald und häufig in ihrem Garne zu sehen wünschen. Sie lobte Wilhelmen, rühmte seine Gestalt, seine Augen, seine Liebe. Das arme Mädchen hörte ihr gerne zu, stand auf, ließ sich ankleiden und schien ruhiger. »Mein Kind, mein Liebchen«, fuhr die Alte schmeichelnd fort, »ich will dich nicht betrüben, nicht beleidigen, ich denke dir nicht dein Glück zu rauben. Darfst du meine Absicht verkennen, und hast du vergessen, daß ich jederzeit mehr für dich als für mich gesorgt habe? Sag mir nur, was du willst; wir wollen schon sehen, wie wir es ausführen.«

»Was kann ich wollen?« versetzte Mariane; »ich bin elend, auf mein ganzes Leben elend; ich liebe ihn, der mich liebt, sehe, daß ich mich von ihm trennen muß, und weiß nicht, wie ich es überleben kann. Norberg kommt, dem wir unsere ganze Existenz schuldig sind, den wir nicht entbehren können. Wilhelm ist sehr eingeschränkt, er kann nichts für mich tun.«

»Ja, er ist unglücklicherweise von jenen Liebhabern, die nichts als ihr Herz bringen, und eben diese haben die meisten Prätensionen.«

»Spotte nicht! Der Unglückliche denkt sein Haus zu verlassen, auf das Theater zu gehen, mir seine Hand anzubieten.«

»Leere Hände haben wir schon viere.«

»Ich habe keine Wahl«, fuhr Mariane fort, »entscheide du! Stoße mich da- oder dorthin, nur wisse noch eins: wahrscheinlich trag ich ein Pfand im Busen, das uns noch mehr aneinanderfesseln sollte; das bedenke und entscheide: wen soll ich lassen? wem soll ich folgen?«

Nach einigem Stillschweigen rief die Alte: »Daß doch die Jugend immer zwischen den Extremen schwankt! Ich finde nichts natürlicher, als alles zu verbinden, was uns Vergnügen und Vorteil bringt. Liebst du den einen, so mag der andere bezahlen; es kommt nur darauf an, daß wir klug genug sind, sie beide auseinanderzuhalten.«

»Mache, was du willst, ich kann nichts denken; aber folgen will ich.«

»Wir haben den Vorteil, daß wir den Eigensinn des Direktors, der auf die Sitten seiner Truppe stolz ist, vorschützen können. Beide Liebhaber sind schon gewohnt, heimlich und vorsichtig zu Werke zu gehen. Für Stunde und Gelegenheit will ich sorgen; nur mußt du hernach die Rolle spielen, die ich dir vorschreibe. Wer weiß, welcher Umstand uns hilft. Käme Norberg nur jetzt, da Wilhelm entfernt ist! Wer wehrt dir, in den Armen des einen an den andern zu denken? Ich wünsche dir zu einem Sohne Glück; er soll einen reichen Vater haben.«

Mariane war durch diese Vorstellungen nur für kurze Zeit gebessert. Sie konnte ihren Zustand nicht in Harmonie mit ihrer Empfindung, ihrer Überzeugung bringen; sie wünschte diese schmerzlichen Verhältnisse zu vergessen, und tausend kleine Umstände mußten sie jeden Augenblick daran erinnern.

Dreizehntes Kapitel

Wilhelm hatte indessen die kleine Reise vollendet und überreichte, da er seinen Handelsfreund nicht zu Hause fand, das Empfehlungsschreiben der Gattin des Abwesenden. Aber auch diese gab ihm auf seine Fragen wenig Bescheid; sie war in einer heftigen Gemütsbewegung und das ganze Haus in großer Verwirrung.

Es währte jedoch nicht lange, so vertraute sie ihm (und es war auch nicht zu verheimlichen), daß ihre Stieftochter mit einem Schauspieler davongegangen sei, mit einem Menschen, der sich von einer kleinen Gesellschaft vor kurzem losgemacht, sich im Orte aufgehalten und im Französischen Unterricht gegeben habe. Der Vater, außer sich vor Schmerz und Verdruß, sei ins Amt gelaufen, um die Flüchtigen verfolgen zu lassen. Sie schalt ihre Tochter heftig, schmähte den Liebhaber, so daß an beiden nichts Lobenswürdiges übrigblieb, beklagte mit vielen Worten die Schande, die dadurch auf die Familie gekommen, und setzte Wilhelmen in nicht geringe Verlegenheit, der sich und sein heimliches Vorhaben durch diese Sibylle gleichsam mit prophetischem Geiste voraus getadelt und gestraft fühlte. Noch stärkern und innigern Anteil mußte er aber an den Schmerzen des Vaters nehmen, der aus dem Amte zurückkam, mit stiller Trauer und halben Worten seine Expedition der Frau erzählte und, indem er nach eingesehenem Briefe das Pferd Wilhelmen vorführen ließ, seine Zerstreuung und Verwirrung nicht verbergen konnte.

Wilhelm gedachte sogleich das Pferd zu besteigen und sich aus einem Hause zu entfernen, in welchem ihm unter den gegebenen Umständen unmöglich wohl werden konnte; allein der gute Mann wollte den Sohn eines Hauses, dem er so viel schuldig war, nicht unbewirtet und ohne ihn eine Nacht unter seinem Dache behalten zu haben, entlassen.

Unser Freund hatte ein trauriges Abendessen eingenommen, eine unruhige Nacht ausgestanden und eilte frühmorgens, so bald als möglich sich von Leuten zu entfernen, die, ohne es zu wissen, ihn mit ihren Erzählungen und Äußerungen auf das empfindlichste gequält hatten.

Er ritt langsam und nachdenkend die Straße hin, als er auf einmal eine Anzahl bewaffneter Leute durchs Feld kommen sah, die er an ihren weiten und langen Röcken, großen Aufschlägen, unförmlichen Hüten und plumpen Gewehren, an ihrem treuherzigen Gange und dem bequemen Tragen ihres Körpers sogleich für ein Kommando Landmiliz erkannte. Unter einer alten Eiche hielten sie stille, setzten ihre Flinten nieder und lagerten sich bequem auf dem Rasen, um eine Pfeife zu rauchen. Wilhelm verweilte bei ihnen und ließ sich mit einem jungen Menschen, der zu Pferde herbeikam, in ein Gespräch ein. Er mußte die Geschichte der beiden Entflohenen, die ihm nur zu sehr bekannt war, leider noch einmal, und zwar mit Bemerkungen, die weder dem jungen Paare noch den Eltern sonderlich günstig waren, vernehmen. Zugleich erfuhr er, daß man hierher gekommen sei, die jungen Leute wirklich in Empfang zu nehmen, die in dem benachbarten Städtchen eingeholt und angehalten worden waren. Nach einiger Zeit sah man von ferne einen Wagen herbeikommen, der von einer Bürgerwache mehr lächerlich als fürchterlich umgeben war. Ein unförmlicher Stadtschreiber ritt voraus und komplimentierte mit dem gegenseitigen Aktuarius (denn das war der junge Mann, mit dem Wilhelm gesprochen hatte) an der Grenze mit großer Gewissenhaftigkeit und wunderlichen Gebärden, wie es etwa Geist und Zauberer, der eine inner-, der andere außerhalb des Kreises, bei gefährlichen nächtlichen Operationen tun mögen.

Die Aufmerksamkeit der Zuschauer war indes auf den Bauerwagen gerichtet, und man betrachtete die armen Verirrten nicht ohne Mitleiden, die auf ein paar Bündeln Stroh beieinander saßen, sich zärtlich anblickten und die Umstehenden kaum zu bemerken schienen. Zufälligerweise hatte man sich genötigt gesehen, sie von dem letzten Dorfe auf eine so unschickliche Art fortzubringen, indem die alte Kutsche, in welcher man die Schöne transportierte, zerbrochen war. Sie erbat sich bei dieser Gelegenheit die Gesellschaft ihres Freundes, den man, in der Überzeugung, er sei auf einem kapitalen Verbrechen betroffen, bis dahin mit Ketten beschwert nebenhergehen lassen. Diese Ketten trugen denn freilich nicht wenig bei, den Anblick der zärtlichen Gruppe interessanter zu machen, besonders weil der junge Mann sie mit vielem Anstand bewegte, indem er wiederholt seiner Geliebten die Hände küßte.

»Wir sind sehr unglücklich!« rief sie den Umstehenden zu; »aber nicht so schuldig, wie wir scheinen. So belohnen grausame Menschen treue Liebe, und Eltern, die das Glück ihrer Kinder gänzlich vernachlässigen, reißen sie mit Ungestüm aus den Armen der Freude, die sich ihrer nach langen, trüben Tagen bemächtigte!«

Indes die Umstehenden auf verschiedene Weise ihre Teilnahme zu erkennen gaben, hatten die Gerichte ihre Zeremonien absolviert; der Wagen ging weiter, und Wilhelm, der an dem Schicksal der Verliebten großen Teil nahm, eilte auf dem Fußpfade voraus, um mit dem Amtmanne, noch ehe der Zug ankäme, Bekanntschaft zu machen. Er erreichte aber kaum das Amthaus, wo alles in Bewegung und zum Empfang der Flüchtlinge bereit war, als ihn der Aktuarius einholte und durch eine umständliche Erzählung, wie alles gegangen, besonders aber durch ein weitläufiges Lob seines Pferdes, das er erst gestern vom Juden getauscht, jedes andere Gespräch verhinderte.

Schon hatte man das unglückliche Paar außen am Garten, der durch eine kleine Pforte mit dem Amthause zusammenhing, abgesetzt und sie in der Stille hineingeführt. Der Aktuarius nahm über diese schonende Behandlung von Wilhelmen ein aufrichtiges Lob an, ob er gleich eigentlich dadurch nur das vor dem Amthause versammelte Volk necken und ihm das angenehme Schauspiel einer gedemütigten Mitbürgerin entziehen wollte.

Der Amtmann, der von solchen außerordentlichen Fällen kein sonderlicher Liebhaber war, weil er meistenteils dabei einen und den andern Fehler machte und für den besten Willen gewöhnlich von fürstlicher Regierung mit einem derben Verweise belohnt wurde, ging mit schweren Schritten nach der Amtsstube, wohin ihm der Aktuarius, Wilhelm und einige angesehene Bürger folgten.

Zuerst ward die Schöne vorgeführt, die, ohne Frechheit, gelassen und mit Bewußtsein ihrer selbst hereintrat. Die Art, wie sie gekleidet war und sich überhaupt betrug, zeigte, daß sie ein Mädchen sei, die etwas auf sich halte. Sie fing auch, ohne gefragt zu werden, über ihren Zustand nicht unschicklich zu reden an.

Der Aktuarius gebot ihr zu schweigen und hielt seine Feder über dem gebrochenen Blatte. Der Amtmann setzte sich in Fassung, sah ihn an, räusperte sich und fragte das arme Kind, wie ihr Name heiße und wie alt sie sei.

»Ich bitte Sie, mein Herr«, versetzte sie, »es muß mir gar wunderbar vorkommen, daß Sie mich um meinen Namen und mein Alter fragen, da Sie sehr gut wissen, wie ich heiße und daß ich so alt wie Ihr ältester Sohn bin. Was Sie von mir wissen wollen und was Sie wissen müssen, will ich gern ohne Umschweife sagen.

Seit meines Vaters zweiter Heirat werde ich zu Hause nicht zum besten gehalten. Ich hätte einige hübsche Partien tun können, wenn nicht meine Stiefmutter aus Furcht vor der Ausstattung sie zu vereiteln gewußt hätte. Nun habe ich den jungen Melina kennenlernen, ich habe ihn lieben müssen, und da wir die Hindernisse voraussahen, die unserer Verbindung im Wege stunden, entschlossen wir uns, miteinander in der weiten Welt ein Glück zu suchen, das uns zu Hause nicht gewährt schien. Ich habe nichts mitgenommen, als was mein eigen war; wir sind nicht als Diebe und Räuber entflohen, und mein Geliebter verdient nicht, daß er mit Ketten und Banden belegt herumgeschleppt werde. Der Fürst ist gerecht, er wird diese Härte nicht billigen. Wenn wir strafbar sind, so sind wir es nicht auf diese Weise.«

Der alte Amtmann kam hierüber doppelt und dreifach in Verlegenheit. Die gnädigsten Ausputzer summten ihm schon um den Kopf, und die geläufige Rede des Mädchens hatte ihm den Entwurf des Protokolls gänzlich zerrüttet. Das Übel wurde noch größer, als sie bei wiederholten ordentlichen Fragen sich nicht weiter einlassen wollte, sondern sich auf das, was sie eben gesagt, standhaft berief.

»Ich bin keine Verbrecherin«, sagte sie. »Man hat mich auf Strohbündeln zur Schande hierhergeführt; es ist eine höhere Gerechtigkeit, die uns wieder zu Ehren bringen soll.«

Der Aktuarius hatte indessen immer ihre Worte nachgeschrieben und flüsterte dem Amtmanne zu: er solle nur weitergehen; ein förmliches Protokoll würde sich nachher schon verfassen lassen.

Der Alte nahm wieder Mut und fing nun an, nach den süßen Geheimnissen der Liebe mit dürren Worten und in hergebrachten, trockenen Formeln sich zu erkundigen.

Wilhelmen stieg die Röte ins Gesicht, und die Wangen der artigen Verbrecherin belebten sich gleichfalls durch die reizende Farbe der Schamhaftigkeit. Sie schwieg und stockte, bis die Verlegenheit selbst zuletzt ihren Mut zu erhöhen schien.

»Sein Sie versichert«, rief sie aus, »daß ich stark genug sein würde, die Wahrheit zu bekennen, wenn ich auch gegen mich selbst sprechen müßte; sollte ich nun zaudern und stocken, da sie mir Ehre macht? Ja, ich habe ihn von dem Augenblicke an, da ich seiner Neigung und seiner Treue gewiß war, als meinen Ehemann angesehen; ich habe ihm alles gerne gegönnt, was die Liebe fordert und was ein überzeugtes Herz nicht versagen kann. Machen Sie nun mit mir, was Sie wollen. Wenn ich einen Augenblick zu gestehen zauderte, so war die Furcht, daß mein Bekenntnis für meinen Geliebten schlimme Folgen haben könnte, allein daran Ursache.«

Wilhelm faßte, als er ihr Geständnis hörte, einen hohen Begriff von den Gesinnungen des Mädchens, indes sie die Gerichtspersonen für eine freche Dirne erkannten und die gegenwärtigen Bürger Gott dankten, daß dergleichen Fälle in ihren Familien entweder nicht vorgekommen oder nicht bekannt geworden waren.

Wilhelm versetzte seine Mariane in diesem Augenblicke vor den Richterstuhl, legte ihr noch schönere Worte in den Mund, ließ ihre Aufrichtigkeit noch herzlicher und ihr Bekenntnis noch edler werden. Die heftigste Leidenschaft, beiden Liebenden zu helfen, bemächtigte sich seiner. Er verbarg sie nicht und bat den zaudernden Amtmann heimlich, er möchte doch der Sache ein Ende machen, es sei ja alles so klar als möglich und bedürfe keiner weitern Untersuchung.

Dieses half so viel, daß man das Mädchen abtreten, dafür aber den jungen Menschen, nachdem man ihm vor der Türe die Fesseln abgenommen hatte, hereinkommen ließ. Dieser schien über sein Schicksal mehr nachdenkend. Seine Antworten waren gesetzter, und wenn er von einer Seite weniger heroische Freimütigkeit zeigte, so empfahl er sich hingegen durch Bestimmtheit und Ordnung seiner Aussage.

Da auch dieses Verhör geendiget war, welches mit dem vorigen in allem übereinstimmte, nur daß er, um das Mädchen zu schonen, hartnäckig leugnete, was sie selbst schon bekannt hatte, ließ man auch sie endlich wieder vortreten, und es entstand zwischen beiden eine Szene, welche ihnen das Herz unsers Freundes gänzlich zu eigen machte.

Was nur in Romanen und Komödien vorzugehen pflegt, sah er hier in einer unangenehmen Gerichtsstube vor seinen Augen: den Streit wechselseitiger Großmut, die Stärke der Liebe im Unglück.

»Ist es denn also wahr«, sagte er bei sich selbst, »daß die schüchterne Zärtlichkeit, die vor dem Auge der Sonne und der Menschen sich verbirgt und nur in abgesonderter Einsamkeit, in tiefem Geheimnisse zu genießen wagt, wenn sie durch einen feindseligen Zufall hervorgeschleppt wird, sich alsdann mutiger, stärker, tapferer zeigt als andere, brausende und großtuende Leidenschaften?«

Zu seinem Troste schloß sich die ganze Handlung noch ziemlich bald. Sie wurden beide in leidliche Verwahrung genommen, und wenn es möglich gewesen wäre, so hätte er noch diesen Abend das Frauenzimmer zu ihren Eltern hinübergebracht. Denn er setzte sich fest vor, hier ein Mittelsmann zu werden und die glückliche und anständige Verbindung beider Liebenden zu befördern.

Er erbat sich von dem Amtmanne die Erlaubnis, mit Melina allein zu reden, welche ihm denn auch ohne Schwierigkeit verstattet wurde.

Vierzehntes Kapitel

Das Gespräch der beiden neuen Bekannten wurde gar bald vertraut und lebhaft. Denn als Wilhelm dem niedergeschlagnen Jüngling sein Verhältnis zu den Eltern des Frauenzimmers entdeckte, sich zum Mittler anbot und selbst die besten Hoffnungen zeigte, erheiterte sich das traurige und sorgenvolle Gemüt des Gefangnen, er fühlte sich schon wieder befreit, mit seinen Schwiegereltern versöhnt, und es war nun von künftigem Erwerb und Unterkommen die Rede.

»Darüber werden Sie doch nicht in Verlegenheit sein«, versetzte Wilhelm; »denn Sie scheinen mir beiderseits von der Natur bestimmt, in dem Stande, den Sie gewählt haben, Ihr Glück zu machen. Eine angenehme Gestalt, eine wohlklingende Stimme, ein gefühlvolles Herz! Können Schauspieler besser ausgestattet sein? Kann ich Ihnen mit einigen Empfehlungen dienen, so wird es mir viel Freude machen.«

»Ich danke Ihnen von Herzen«, versetzte der andere; »aber ich werde wohl schwerlich davon Gebrauch machen können, denn ich denke, wo möglich nicht auf das Theater zurückzukehren.«

»Daran tun Sie sehr übel«, sagte Wilhelm nach einer Pause, in welcher er sich von seinem Erstaunen erholt hatte; denn er dachte nicht anders, als daß der Schauspieler, sobald er mit seiner jungen Gattin befreit worden, das Theater aufsuchen werde. Es schien ihm ebenso natürlich und notwendig, als daß der Frosch das Wasser sucht. Nicht einen Augenblick hatte er daran gezweifelt und mußte nun zu seinem Erstaunen das Gegenteil erfahren.

»Ja«, versetzte der andere, »ich habe mir vorgenommen, nicht wieder auf das Theater zurückzukehren, vielmehr eine bürgerliche Bedienung, sie sei auch, welche sie wolle, anzunehmen, wenn ich nur eine erhalten kann.«

»Das ist ein sonderbarer Entschluß, den ich nicht billigen kann; denn ohne besondere Ursache ist es niemals ratsam, die Lebensart, die man ergriffen hat, zu verändern, und überdies wüßte ich keinen Stand, der so viel Annehmlichkeiten, so viel reizende Aussichten darböte, als den eines Schauspielers.«

»Man sieht, daß Sie keiner gewesen sind«, versetzte jener.

Darauf sagte Wilhelm: »Mein Herr, wie selten ist der Mensch mit dem Zustande zufrieden, in dem er sich befindet! Er wünscht sich immer den seines Nächsten, aus welchem sich dieser gleichfalls heraussehnt.«

»Indes bleibt doch ein Unterschied«, versetzte Melina, »zwischen dem Schlimmen und dem Schlimmern; Erfahrung, nicht Ungeduld macht mich so handeln. Ist wohl irgend ein Stückchen Brot kümmerlicher, unsicherer und mühseliger in der Welt? Beinahe wäre es ebensogut, vor den Türen zu betteln. Was hat man von dem Neide seiner Mitgenossen und der Parteilichkeit des Direktors, von der veränderlichen Laune des Publikums auszustehen! Wahrhaftig, man muß ein Fell haben wie ein Bär, der in Gesellschaft von Affen und Hunden an der Kette herumgeführt und geprügelt wird, um bei dem Tone eines Dudelsacks vor Kindern und Pöbel zu tanzen.«

Wilhelm dachte allerlei bei sich selbst, was er jedoch dem guten Menschen nicht ins Gesicht sagen wollte. Er ging also nur von ferne mit dem Gespräch um ihn herum. Jener ließ sich desto aufrichtiger und weitläufiger heraus. – »Täte es nicht not«, sagte er, »daß ein Direktor jedem Stadtrate zu Füßen fiele, um nur die Erlaubnis zu haben, vier Wochen zwischen der Messe ein paar Groschen mehr an einem Orte zirkulieren zu lassen. Ich habe den unsrigen, der soweit ein guter Mann war, oft bedauert, wenn er mir gleich zu anderer Zeit Ursache zu Mißvergnügen gab. Ein guter Akteur steigert ihn, die schlechten kann er nicht loswerden; und wenn er seine Einnahme einigermaßen der Ausgabe gleichsetzen will, so ist es dem Publikum gleich zuviel, das Haus steht leer, und man muß, um nur nicht gar zugrunde zu gehen, mit Schaden und Kummer spielen. Nein, mein Herr! da Sie sich unsrer, wie Sie sagen, annehmen mögen, so bitte ich Sie, sprechen Sie auf das ernstlichste mit den Eltern meiner Geliebten! Man versorge mich hier, man gebe mir einen kleinen Schreiber- oder Einnehmerdienst, und ich will mich glücklich schätzen.«

Nachdem sie noch einige Worte gewechselt hatten, schied Wilhelm mit dem Versprechen, morgen ganz früh die Eltern anzugehen und zu sehen, was er ausrichten könne. Kaum war er allein, so mußte er sich in folgenden Ausrufungen Luft machen: »Unglücklicher Melina, nicht in deinem Stande, sondern in dir liegt das Armselige, über das du nicht Herr werden kannst! Welcher Mensch in der Welt, der ohne innern Beruf ein Handwerk, eine Kunst oder irgendeine Lebensart ergriffe, müßte nicht wie du seinen Zustand unerträglich finden? Wer mit einem Talente zu einem Talente geboren ist, findet in demselben sein schönstes Dasein! Nichts ist auf der Erde ohne Beschwerlichkeit! Nur der innere Trieb, die Lust, die Liebe helfen uns Hindernisse überwinden, Wege bahnen und uns aus dem engen Kreise, worin sich andere kümmerlich abängstigen, emporheben. Dir sind die Bretter nichts als Bretter, und die Rollen, was einem Schulknaben sein Pensum ist. Die Zuschauer siehst du an, wie sie sich selbst an Werkeltagen vorkommen. Dir könnte es also freilich einerlei sein, hinter einem Pult über liniierten Büchern zu sitzen, Zinsen einzutragen und Reste herauszustochern. Du fühlst nicht das zusammenbrennende, zusammentreffende Ganze, das allein durch den Geist erfunden, begriffen und ausgeführt wird; du fühlst nicht, daß in den Menschen ein besserer Funke lebt, der, wenn er keine Nahrung erhält, wenn er nicht geregt wird, von der Asche täglicher Bedürfnisse und Gleichgültigkeit tiefer bedeckt und doch so spät und fast nie erstickt wird. Du fühlst in deiner Seele keine Kraft, ihn aufzublasen, in deinem eignen Herzen keinen Reichtum, um dem erweckten Nahrung zu geben. Der Hunger treibt dich, die Unbequemlichkeiten sind dir zuwider, und es ist dir verborgen, daß in jedem Stande diese Feinde lauern, die nur mit Freudigkeit und Gleichmut zu überwinden sind. Du tust wohl, dich in jene Grenzen einer gemeinen Stelle zu sehnen; denn welche würdest du wohl ausfüllen, die Geist und Mut verlangt! Gib einem Soldaten, einem Staatsmanne, einem Geistlichen deine Gesinnungen, und mit ebensoviel Recht wird er sich über das Kümmerliche seines Standes beschweren können. Ja, hat es nicht sogar Menschen gegeben, die von allem Lebensgefühl so ganz verlassen waren, daß sie das ganze Leben und Wesen der Sterblichen für ein Nichts, für ein kummervolles und staubgleiches Dasein erklärt haben? Regten sich lebendig in deiner Seele die Gestalten wirkender Menschen, wärmte deine Brust ein teilnehmendes Feuer, verbreitete sich über deine ganze Gestalt die Stimmung, die aus dem Innersten kommt, wären die Töne deiner Kehle, die Worte deiner Lippen lieblich anzuhören, fühltest du dich genug in dir selbst, so würdest du dir gewiß Ort und Gelegenheit aufsuchen, dich in andern fühlen zu können.«

Unter solchen Worten und Gedanken hatte sich unser Freund ausgekleidet und stieg mit einem Gefühle des innigsten Behagens zu Bette. Ein ganzer Roman, was er an der Stelle des Unwürdigen morgenden Tages tun würde, entwickelte sich in seiner Seele, angenehme Phantasien begleiteten ihn in das Reich des Schlafes sanft hinüber und überließen ihn dort ihren Geschwistern, den Träumen, die ihn mit offenen Armen aufnahmen und das ruhende Haupt unsers Freundes mit dem Vorbilde des Himmels umgaben.

Am frühen Morgen war er schon wieder erwacht und dachte seiner vorstehenden Unterhandlung nach. Er kehrte in das Haus der verlassenen Eltern zurück, wo man ihn mit Verwunderung aufnahm. Er trug sein Anbringen bescheiden vor und fand gar bald mehr und weniger Schwierigkeiten, als er vermutet hatte. Geschehen war es einmal, und wenngleich außerordentlich strenge und harte Leute sich gegen das Vergangene und Nichtzuändernde mit Gewalt zu setzen und das Übel dadurch zu vermehren pflegen, so hat dagegen das Geschehene auf die Gemüter der meisten eine unwiderstehliche Gewalt, und was unmöglich schien, nimmt sogleich, als es geschehen ist, neben dem Gemeinen seinen Platz ein. Es war also bald ausgemacht, daß der Herr Melina die Tochter heiraten sollte; dagegen sollte sie wegen ihrer Unart kein Heiratsgut mitnehmen und versprechen, das Vermächtnis einer Tante noch einige Jahre gegen geringe Interessen in des Vaters Händen zu lassen. Der zweite Punkt, wegen einer bürgerlichen Versorgung, fand schon größere Schwierigkeiten. Man wollte das ungeratene Kind nicht vor Augen sehen, man wollte die Verbindung eines hergelaufenen Menschen mit einer so angesehenen Familie, welche sogar mit einem Superintendenten verwandt war, sich durch die Gegenwart nicht beständig aufrücken lassen; man konnte ebensowenig hoffen, daß die fürstlichen Kollegien ihm eine Stelle anvertrauen würden. Beide Eltern waren gleich stark dagegen, und Wilhelm, der sehr eifrig dafür sprach, weil er dem Menschen, den er geringschätzte, die Rückkehr auf das Theater nicht gönnte und überzeugt war, daß er eines solchen Glückes nicht wert sei, konnte mit allen seinen Argumenten nichts ausrichten. Hätte er die geheimen Triebfedern gekannt, so würde er sich die Mühe gar nicht gegeben haben, die Eltern überreden zu wollen. Denn der Vater, der seine Tochter gerne bei sich behalten hätte, haßte den jungen Menschen, weil seine Frau selbst ein Auge auf ihn geworfen hatte, und diese konnte in ihrer Stieftochter eine glückliche Nebenbuhlerin nicht vor Augen leiden. Und so mußte Melina wider seinen Willen mit seiner jungen Braut, die schon größere Lust bezeigte, die Welt zu sehen und sich der Welt sehen zu lassen, nach einigen Tagen abreisen, um bei irgendeiner Gesellschaft ein Unterkommen zu finden.

Funfzehntes Kapitel

Glückliche Jugend! Glückliche Zeiten des ersten Liebesbedürfnisses! Der Mensch ist dann wie ein Kind, das sich am Echo stundenlang ergötzt, die Unkosten des Gespräches allein trägt und mit der Unterhaltung wohl zufrieden ist, wenn der unsichtbare Gegenpart auch nur die letzten Silben der ausgerufenen Worte wiederholt.

So war Wilhelm in den frühern, besonders aber in den spätern Zeiten seiner Leidenschaft für Marianen, als er den ganzen Reichtum seines Gefühls auf sie hinübertrug und sich dabei als einen Bettler ansah, der von ihren Almosen lebte. Und wie uns eine Gegend reizender, ja allein reizend vorkommt, wenn sie von der Sonne beschienen wird, so war auch alles in seinen Augen verschönert und verherrlicht, was sie umgab, was sie berührte.

Wie oft stand er auf dem Theater hinter den Wänden, wozu er sich das Privilegium von dem Direktor erbeten hatte! Dann war freilich die perspektivische Magie verschwunden, aber die viel mächtigere Zauberei der Liebe fing erst an zu wirken. Stundenlang konnte er am schmutzigen Lichtwagen stehen, den Qualm der Unschlittlampen einziehen, nach der Geliebten hinausblicken und, wenn sie wieder hereintrat und ihn freundlich ansah, sich in Wonne verloren dicht an dem Balken- und Lattengerippe in einen paradiesischen Zustand versetzt fühlen. Die ausgestopften Lämmchen, die Wasserfälle von Zindel, die pappenen Rosenstöcke und die einseitigen Strohhütten erregten in ihm liebliche dichterische Bilder uralter Schäferwelt. Sogar die in der Nähe häßlich erscheinenden Tänzerinnen waren ihm nicht immer zuwider, weil sie auf einem Brette mit seiner Vielgeliebten standen. Und so ist es gewiß, daß Liebe, welche Rosenlauben, Myrtenwäldchen und Mondschein erst beleben muß, auch sogar Hobelspänen und Papierschnitzeln einen Anschein belebter Naturen geben kann. Sie ist eine so starke Würze, daß selbst schale und ekle Brühen davon schmackhaft werden.

Solch einer Würze bedurft es freilich, um jenen Zustand leidlich, ja in der Folge angenehm zu machen, in welchem er gewöhnlich ihre Stube, ja gelegentlich sie selbst antraf.

In einem feinen Bürgerhause erzogen, war Ordnung und Reinlichkeit das Element, worin er atmete, und indem er von seines Vaters Prunkliebe einen Teil geerbt hatte, wußte er in den Knabenjahren sein Zimmer, das er als sein kleines Reich ansah, stattlich auszustaffieren. Seine Bettvorhänge waren in große Falten aufgezogen und mit Quasten befestigt, wie man Thronen vorzustellen pflegt; er hatte sich einen Teppich in die Mitte des Zimmers und einen feinern auf den Tisch anzuschaffen gewußt; seine Bücher und Gerätschaften legte und stellte er fast mechanisch so, daß ein niederländischer Maler gute Gruppen zu seinen Stilleben hätte herausnehmen können. Eine weiße Mütze hatte er wie einen Turban zurechtgebunden und die Ärmel seines Schlafrocks nach orientalischem Kostüme kurz stutzen lassen. Doch gab er hiervon die Ursache an, daß die langen, weiten Ärmel ihn im Schreiben hinderten. Wenn er abends ganz allein war und nicht mehr fürchten durfte, gestört zu werden, trug er gewöhnlich eine seidene Schärpe um den Leib, und er soll manchmal einen Dolch, den er sich aus einer alten Rüstkammer zugeeignet, in den Gürtel gesteckt und so die ihm zugeteilten tragischen Rollen memoriert und probiert, ja in ebendem Sinne sein Gebet kniend auf dem Teppich verrichtet haben.

Wie glücklich pries er daher in früheren Zeiten den Schauspieler, den er im Besitz so mancher majestätischen Kleider, Rüstungen und Waffen und in steter Übung eines edlen Betragens sah, dessen Geist einen Spiegel des Herrlichsten und Prächtigsten, was die Welt an Verhältnissen, Gesinnungen und Leidenschaften hervorgebracht, darzustellen schien. Ebenso dachte sich Wilhelm auch das häusliche Leben eines Schauspielers als eine Reihe von würdigen Handlungen und Beschäftigungen, davon die Erscheinung auf dem Theater die äußerste Spitze sei, etwa wie ein Silber, das vom Läuterfeuer lange herumgetrieben worden, endlich farbig-schön vor den Augen des Arbeiters erscheint und ihm zugleich andeutet, daß das Metall nunmehr von allen fremden Zusätzen gereiniget sei.

Wie sehr stutzte er daher anfangs, wenn er sich bei seiner Geliebten befand und durch den glücklichen Nebel, der ihn umgab, nebenaus auf Tische, Stühle und Boden sah. Die Trümmer eines augenblicklichen, leichten und falschen Putzes lagen, wie das glänzende Kleid eines abgeschuppten Fisches, zerstreut in wilder Unordnung durcheinander. Die Werkzeuge menschlicher Reinlichkeit, als Kämme, Seife, Tücher, waren mit den Spuren ihrer Bestimmung gleichfalls nicht versteckt. Musik, Rollen und Schuhe, Wäsche und italienische Blumen, Etuis, Haarnadeln, Schminktöpfchen und Bänder, Bücher und Strohhüte, keines verschmähte die Nachbarschaft des andern, alle waren durch ein gemeinschaftliches Element, durch Puder und Staub, vereinigt. Jedoch da Wilhelm in ihrer Gegenwart wenig von allem andern bemerkte, ja vielmehr ihm alles, was ihr gehörte, sie berührt hatte, lieb werden mußte, so fand er zuletzt in dieser verworrenen Wirtschaft einen Reiz, den er in seiner stattlichen Prunkordnung niemals empfunden hatte. Es war ihm – wenn er hier ihre Schnürbrust wegnahm, um zum Klavier zu kommen, dort ihre Röcke aufs Bette legte, um sich setzen zu können, wenn sie selbst mit unbefangener Freimütigkeit manches Natürliche, das man sonst gegen einen andern aus Anstand zu verheimlichen pflegt, vor ihm nicht zu verbergen suchte – es war ihm, sag ich, als wenn er ihr mit jedem Augenblicke näher würde, als wenn eine Gemeinschaft zwischen ihnen durch unsichtbare Bande befestigt würde.

Nicht ebenso leicht konnte er die Aufführung der übrigen Schauspieler, die er bei seinen ersten Besuchen manchmal bei ihr antraf, mit seinen Begriffen vereinigen. Geschäftig im Müßiggange, schienen sie an ihren Beruf und Zweck am wenigsten zu denken; über den poetischen Wert eines Stückes hörte er sie niemals reden und weder richtig noch unrichtig darüber urteilen; es war immer nur die Frage: »Was wird das Stück machen? Ist es ein Zugstück? Wie lange wird es spielen? Wie oft kann es wohl gegeben werden?« und was Fragen und Bemerkungen dieser Art mehr waren. Dann ging es gewöhnlich auf den Direktor los, daß er mit der Gage zu karg und besonders gegen den einen und den andern ungerecht sei, dann auf das Publikum, daß es mit seinem Beifall selten den rechten Mann belohne, daß das deutsche Theater sich täglich verbessere, daß der Schauspieler nach seinen Verdiensten immer mehr geehrt werde und nicht genug geehrt werden könne. Dann sprach man viel von Kaffeehäusern und Weingärten und was daselbst vorgefallen, wieviel irgendein Kamerad Schulden habe und Abzug leiden müsse, von Disproportion der wöchentlichen Gage, von Kabalen einer Gegenpartei; wobei denn doch zuletzt die große und verdiente Aufmerksamkeit des Publikums wieder in Betracht kam und der Einfluß des Theaters auf die Bildung einer Nation und der Welt nicht vergessen wurde.

Alle diese Dinge, die Wilhelmen sonst schon manche unruhige Stunde gemacht hatten, kamen ihm gegenwärtig wieder ins Gedächtnis, als ihn sein Pferd langsam nach Hause trug und er die verschiedenen Vorfälle, die ihm begegnet waren, überlegte. Die Bewegung, welche durch die Flucht eines Mädchens in eine gute Bürgerfamilie, ja in ein ganzes Städtchen gekommen war, hatte er mit Augen gesehen; die Szenen auf der Landstraße und im Amthause, die Gesinnungen Melinas, und was sonst noch vorgegangen war, stellten sich ihm wieder dar und brachten seinen lebhaften, vordringenden Geist in eine Art von sorglicher Unruhe, die er nicht lange ertrug, sondern seinem Pferde die Sporen gab und nach der Stadt zu eilte.

Allein auch auf diesem Wege rannte er nur neuen Unannehmlichkeiten entgegen. Werner, sein Freund und vermutlicher Schwager, wartete auf ihn, um ein ernsthaftes, bedeutendes und unerwartetes Gespräch mit ihm anzufangen.

Werner war einer von den geprüften, in ihrem Dasein bestimmten Leuten, die man gewöhnlich kalte Leute zu nennen pflegt, weil sie bei Anlässen weder schnell noch sichtlich auflodern; auch war sein Umgang mit Wilhelmen ein anhaltender Zwist, wodurch sich ihre Liebe aber nur desto fester knüpfte: denn ungeachtet ihrer verschiedenen Denkungsart fand jeder seine Rechnung bei dem andern. Werner tat sich darauf etwas zugute, daß er dem vortrefflichen, obgleich gelegentlich ausschweifenden Geist Wilhelms mitunter Zügel und Gebiß anzulegen schien, und Wilhelm fühlte oft einen herrlichen Triumph, wenn er seinen bedächtlichen Freund in warmer Aufwallung mit sich fortnahm. So übte sich einer an dem andern, sie wurden gewohnt, sich täglich zu sehen, und man hätte sagen sollen, das Verlangen, einander zu finden, sich miteinander zu besprechen, sei durch die Unmöglichkeit, einander verständlich zu werden, vermehrt worden. Im Grunde aber gingen sie doch, weil sie beide gute Menschen waren, nebeneinander, miteinander nach einem Ziel und konnten niemals begreifen, warum denn keiner den andern auf seine Gesinnung reduzieren könne.

Werner bemerkte seit einiger Zeit, daß Wilhelms Besuche seltner wurden, daß er in Lieblingsmaterien kurz und zerstreut abbrach, daß er sich nicht mehr in lebhafte Ausbildung seltsamer Vorstellungen vertiefte, an welcher sich freilich ein freies, in der Gegenwart des Freundes Ruhe und Zufriedenheit findendes Gemüt am sichersten erkennen läßt. Der pünktliche und bedächtige Werner suchte anfangs den Fehler in seinem eignen Betragen, bis ihn einige Stadtgespräche auf die rechte Spur brachten und einige Unvorsichtigkeiten Wilhelms ihn der Gewißheit näher führten. Er ließ sich auf eine Untersuchung ein und entdeckte gar bald, daß Wilhelm vor einiger Zeit eine Schauspielerin öffentlich besucht, mit ihr auf dem Theater gesprochen und sie nach Hause gebracht habe; er wäre trostlos gewesen, wenn ihm auch die nächtlichen Zusammenkünfte bekannt geworden wären, denn er hörte, daß Mariane ein verführerisches Mädchen sei, die seinen Freund wahrscheinlich ums Geld bringe und sich noch nebenher von dem unwürdigsten Liebhaber unterhalten lasse.

Sobald er seinen Verdacht soviel möglich zur Gewißheit erhoben, beschloß er einen Angriff auf Wilhelmen und war mit allen Anstalten völlig in Bereitschaft, als dieser eben verdrießlich und verstimmt von seiner Reise zurückkam.

Werner trug ihm noch denselbigen Abend alles, was er wußte, erst gelassen, dann mit dem dringenden Ernste einer wohldenkenden Freundschaft vor, ließ keinen Zug unbestimmt und gab seinem Freunde alle die Bitterkeiten zu kosten, die ruhige Menschen an Liebende mit tugendhafter Schadenfreude so freigebig auszuspenden pflegen. Aber wie man sich denken kann, richtete er wenig aus. Wilhelm versetzte mit inniger Bewegung, doch mit großer Sicherheit: »Du kennst das Mädchen nicht! Der Schein ist vielleicht nicht zu ihrem Vorteil, aber ich bin ihrer Treue und Tugend so gewiß als meiner Liebe.«

Werner beharrte auf seiner Anklage und erbot sich zu Beweisen und Zeugen. Wilhelm verwarf sie und entfernte sich von seinem Freunde verdrießlich und erschüttert wie einer, dem ein ungeschickter Zahnarzt einen schadhaften festsitzenden Zahn gefaßt und vergebens daran geruckt hat.

Höchst unbehaglich fand sich Wilhelm, das schöne Bild Marianens erst durch die Grillen der Reise, dann durch Werners Unfreundlichkeit in seiner Seele getrübt und beinahe entstellt zu sehen. Er griff zum sichersten Mittel, ihm die völlige Klarheit und Schönheit wiederherzustellen, indem er nachts auf den gewöhnlichen Wegen zu ihr hineilte. Sie empfing ihn mit lebhafter Freude; denn er war bei seiner Ankunft vorbeigeritten, sie hatte ihn diese Nacht erwartet, und es läßt sich denken, daß alle Zweifel bald aus seinem Herzen vertrieben wurden. Ja, ihre Zärtlichkeit schloß sein ganzes Vertrauen wieder auf, und er erzählte ihr, wie sehr sich das Publikum, wie sehr sich sein Freund an ihr versündiget.

Mancherlei lebhafte Gespräche führten sie auf die ersten Zeiten ihrer Bekanntschaft, deren Erinnerung eine der schönsten Unterhaltungen zweier Liebenden bleibt. Die ersten Schritte, die uns in den Irrgarten der Liebe bringen, sind so angenehm, die ersten Aussichten so reizend, daß man sie gar zu gern in sein Gedächtnis zurückruft. Jeder Teil sucht einen Vorzug vor dem andern zu behalten, er habe früher, uneigennütziger geliebt, und jedes wünscht in diesem Wettstreite lieber überwunden zu werden als zu überwinden.

Wilhelm wiederholte Marianen, was sie schon so oft gehört hatte, daß sie bald seine Aufmerksamkeit von dem Schauspiel ab und auf sich allein gezogen habe, daß ihre Gestalt, ihr Spiel, ihre Stimme ihn gefesselt; wie er zuletzt nur die Stücke, in denen sie gespielt, besucht habe, wie er endlich aufs Theater geschlichen sei, oft, ohne von ihr bemerkt zu werden, neben ihr gestanden habe; dann sprach er mit Entzücken von dem glücklichen Abende, an dem er eine Gelegenheit gefunden, ihr eine Gefälligkeit zu erzeigen und ein Gespräch einzuleiten.

Mariane dagegen wollte nicht Wort haben, daß sie ihn so lange nicht bemerkt hätte; sie behauptete, ihn schon auf dem Spaziergange gesehen zu haben, und bezeichnete ihm zum Beweis das Kleid, das er am selbigen Tage angehabt; sie behauptete, daß er ihr damals vor allen andern gefallen und daß sie seine Bekanntschaft gewünscht habe.

Wie gern glaubte Wilhelm das alles! Wie gern ließ er sich überreden, daß sie zu ihm, als er sich ihr genähert, durch einen unwiderstehlichen Zug hingeführt worden, daß sie absichtlich zwischen die Kulissen neben ihn getreten sei, um ihn näher zu sehen und Bekanntschaft mit ihm zu machen, und daß sie zuletzt, da seine Zurückhaltung und Blödigkeit nicht zu überwinden gewesen, ihm selbst Gelegenheit gegeben und ihn gleichsam genötigt habe, ein Glas Limonade herbeizuholen.

Unter diesem liebevollen Wettstreit, den sie durch alle kleinen Umstände ihres kurzen Romans verfolgten, vergingen ihnen die Stunden sehr schnell, und Wilhelm verließ völlig beruhigt seine Geliebte mit dem festen Vorsatze, sein Vorhaben unverzüglich ins Werk zu richten.

Sechzehntes Kapitel

Was zu seiner Abreise nötig war, hatten Vater und Mutter besorgt; nur einige Kleinigkeiten, die an der Equipage fehlten, verzögerten seinen Aufbruch um einige Tage. Wilhelm benutzte diese Zeit, um an Marianen einen Brief zu schreiben, wodurch er die Angelegenheit endlich zur Sprache bringen wollte, über welche sie sich mit ihm zu unterhalten bisher immer vermieden hatte. Folgendermaßen lautete der Brief:

»Unter der lieben Hülle der Nacht, die mich sonst in deinen Armen bedeckte, sitze ich und denke und schreibe an dich, und was ich sinne und treibe, ist nur um deinetwillen. O Mariane! mir, dem glücklichsten unter den Männern, ist es wie einem Bräutigam, der ahnungsvoll, welch eine neue Welt sich in ihm und durch ihn entwickeln wird, auf den festlichen Teppichen steht und während der heiligen Zeremonien sich gedankenvoll lüstern vor die geheimnisreichen Vorhänge versetzt, woher ihm die Lieblichkeit der Liebe entgegensäuselt.

Ich habe über mich gewonnen, dich in einigen Tagen nicht zu sehen; es war leicht in Hoffnung einer solchen Entschädigung, ewig mit dir zu sein, ganz der Deinige zu bleiben! Soll ich wiederholen, was ich wünsche? Und doch ist es nötig; denn es scheint, als habest du mich bisher nicht verstanden.

Wie oft habe ich mit leisen Tönen der Treue, die, weil sie alles zu halten wünscht, wenig zu sagen wagt, an deinem Herzen geforscht nach dem Verlangen einer ewigen Verbindung. Verstanden hast du mich gewiß: denn in deinem Herzen muß ebender Wunsch keimen; vernommen hast du mich in jedem Kusse, in der anschmiegenden Ruhe jener glücklichen Abende. Da lernt ich deine Bescheidenheit kennen, und wie vermehrte sich meine Liebe! Wo eine andere sich künstlich betragen hätte, um durch überflüssigen Sonnenschein einen Entschluß in dem Herzen ihres Liebhabers zur Reife zu bringen, eine Erklärung hervorzulocken und ein Versprechen zu befestigen, eben da ziehst du dich zurück, schließest die halbgeöffnete Brust deines Geliebten wieder zu und suchst durch eine anscheinende Gleichgültigkeit deine Beistimmung zu verbergen; aber ich verstehe dich! Welch ein Elender müßte ich sein, wenn ich an diesen Zeichen die reine, uneigennützige, nur für den Freund besorgte Liebe nicht erkennen wollte! Vertraue mir und sei ruhig! Wir gehören einander an, und keins von beiden verläßt oder verliert etwas, wenn wir füreinander leben.

Nimm sie hin, diese Hand! feierlich noch dies überflüssige Zeichen! Alle Freuden der Liebe haben wir empfunden, aber es sind neue Seligkeiten in dem bestätigten Gedanken der Dauer. Frage nicht, wie? Sorge nicht! Das Schicksal sorgt für die Liebe, und um so gewisser, da Liebe genügsam ist.

Mein Herz hat schon lange meiner Eltern Haus verlassen; es ist bei dir, wie mein Geist auf der Bühne schwebt. O meine Geliebte! Ist wohl einem Menschen so gewährt, seine Wünsche zu verbinden, wie mir? Kein Schlaf kömmt in meine Augen, und wie eine ewige Morgenröte steigt deine Liebe und dein Glück vor mir auf und ab.

Kaum daß ich mich halte, nicht auffahre, zu dir hinrenne und mir deine Einwilligung erzwinge und gleich morgen frühe weiter in die Welt nach meinem Ziele hinstrebe. – Nein, ich will mich bezwingen! ich will nicht unbesonnen törichte, verwegene Schritte tun; mein Plan ist entworfen, und ich will ihn ruhig ausführen.

Ich bin mit Direktor Serlo bekannt, meine Reise geht gerade zu ihm, er hat vor einem Jahre oft seinen Leuten etwas von meiner Lebhaftigkeit und Freude am Theater gewünscht, und ich werde ihm gewiß willkommen sein; denn bei eurer Truppe möchte ich aus mehr als einer Ursache nicht eintreten; auch spielt Serlo so weit von hier, daß ich anfangs meinen Schritt verbergen kann. Einen leidlichen Unterhalt finde ich da gleich; ich sehe mich in dem Publiko um, lerne die Gesellschaft kennen und hole dich nach.

Mariane, du siehst, was ich über mich gewinnen kann, um dich gewiß zu haben; denn dich so lange nicht zu sehen, dich in der weiten Welt zu wissen! recht lebhaft darf ich mir’s nicht denken. Wenn ich mir dann aber wieder deine Liebe vorstelle, die mich vor allem sichert, wenn du meine Bitte nicht verschmähst, ehe wir scheiden, und du mir deine Hand vor dem Priester reichst, so werde ich ruhig gehen. Es ist nur eine Formel unter uns, aber eine so schöne Formel, der Segen des Himmels zu dem Segen der Erde. In der Nachbarschaft, im Ritterschaftlichen, geht es leicht und heimlich an.

Für den Anfang habe ich Geld genug; wir wollen teilen, es wird für uns beide hinreichen; ehe das verzehrt ist, wird der Himmel weiterhelfen.

Ja, Liebste, es ist mir gar nicht bange. Was mit so viel Fröhlichkeit begonnen wird, muß ein glückliches Ende erreichen. Ich habe nie gezweifelt, daß man sein Fortkommen in der Welt finden könne, wenn es einem Ernst ist, und ich fühle Mut genug, für zwei, ja für mehrere einen reichlichen Unterhalt zu gewinnen. Die Welt ist undankbar, sagen viele; ich habe noch nicht gefunden, daß sie undankbar sei, wenn man auf die rechte Art etwas für sie zu tun weiß. Mir glüht die ganze Seele bei dem Gedanken, endlich einmal aufzutreten und den Menschen in das Herz hineinzureden, was sie sich so lange zu hören sehnen. Wie tausendmal ist es freilich mir, der ich von der Herrlichkeit des Theaters so eingenommen bin, bang durch die Seele gegangen, wenn ich die Elendesten gesehen habe sich einbilden, sie könnten uns ein großes, treffliches Wort ans Herz reden! Ein Ton, der durch die Fistel gezwungen wird, klingt viel besser und reiner; es ist unerhört, wie sich diese Bursche in ihrer groben Ungeschicklichkeit versündigen.

Das Theater hat oft einen Streit mit der Kanzel gehabt; sie sollten, dünkt mich, nicht miteinander hadern. Wie sehr wäre zu wünschen, daß an beiden Orten nur durch edle Menschen Gott und Natur verherrlicht würden! Es sind keine Träume, meine Liebste! Wie ich an deinem Herzen habe fühlen können, daß du in Liebe bist, so ergreife ich auch den glänzenden Gedanken und sage – ich will’s nicht aussagen, aber hoffen will ich, daß wir einst als ein Paar gute Geister den Menschen erscheinen werden, ihre Herzen aufzuschließen, ihre Gemüter zu berühren und ihnen himmlische Genüsse zu bereiten, so gewiß mir an deinem Busen Freuden gewährt waren, die immer himmlisch genennt werden müssen, weil wir uns in jenen Augenblicken aus uns selbst gerückt, über uns selbst erhaben fühlen.

Ich kann nicht schließen; ich habe schon zuviel gesagt und weiß nicht, ob ich dir schon alles gesagt habe, alles, was dich angeht: denn die Bewegung des Rades, das sich in meinem Herzen dreht, sind keine Worte vermögend auszudrücken.

Nimm dieses Blatt indes, meine Liebe! Ich habe es wieder durchgelesen und finde, daß ich von vorne anfangen sollte; doch enthält es alles, was du zu wissen nötig hast, was dir Vorbereitung ist, wenn ich bald mit Fröhlichkeit der süßen Liebe an deinen Busen zurückkehre. Ich komme mir vor wie ein Gefangener, der in einem Kerker lauschend seine Fesseln abfeilt. Ich sage gute Nacht meinen sorglos schlafenden Eltern! – Lebe wohl, Geliebte! Lebe wohl! Für diesmal schließ ich; die Augen sind mir zwei-, dreimal zugefallen; es ist schon tief in der Nacht.«

Siebzehntes Kapitel

Der Tag wollte nicht endigen, als Wilhelm, seinen Brief schön gefaltet in der Tasche, sich zu Marianen hinsehnte; auch war es kaum düster geworden, als er sich wider seine Gewohnheit nach ihrer Wohnung hinschlich. Sein Plan war: sich auf die Nacht anzumelden, seine Geliebte auf kurze Zeit wieder zu verlassen, ihr, eh er wegginge, den Brief in die Hand zu drücken und, bei seiner Rückkehr in tiefer Nacht ihre Antwort, ihre Einwilligung zu erhalten oder durch die Macht seiner Liebkosungen zu erzwingen. Er flog in ihre Arme und konnte sich an ihrem Busen kaum wieder fassen. Die Lebhaftigkeit seiner Empfindungen verbarg ihm anfangs, daß sie nicht wie sonst mit Herzlichkeit antwortete; doch konnte sie einen ängstlichen Zustand nicht lange verbergen; sie schützte eine Krankheit, eine Unpäßlichkeit vor; sie beklagte sich über Kopfweh, sie wollte sich auf den Vorschlag, daß er heute nacht wiederkommen wolle, nicht einlassen. Er ahnte nichts Böses, drang nicht weiter in sie, fühlte aber, daß es nicht die Stunde sei, ihr seinen Brief zu übergeben. Er behielt ihn bei sich, und da verschiedene ihrer Bewegungen und Reden ihn auf eine höfliche Weise wegzugehen nötigten, ergriff er im Taumel seiner ungenügsamen Liebe eines ihrer Halstücher, steckte es in die Tasche und verließ wider Willen ihre Lippen und ihre Türe. Er schlich nach Hause, konnte aber auch da nicht lange bleiben, kleidete sich um und suchte wieder die freie Luft.

Als er einige Straßen auf und ab gegangen war, begegnete ihm ein Unbekannter, der nach einem gewissen Gasthofe fragte; Wilhelm erbot sich, ihm das Haus zu zeigen; der Fremde erkundigte sich nach dem Namen der Straße, nach den Besitzern verschiedener großen Gebäude, vor denen sie vorbeigingen, sodann nach einigen Polizeieinrichtungen der Stadt, und sie waren in einem ganz interessanten Gespräche begriffen, als sie am Tore des Wirtshauses ankamen. Der Fremde nötigte seinen Führer, hineinzutreten und ein Glas Punsch mit ihm zu trinken; zugleich gab er seinen Namen an und seinen Geburtsort, auch die Geschäfte, die ihn hierhergebracht hätten, und ersuchte Wilhelmen um ein gleiches Vertrauen. Dieser verschwieg ebensowenig seinen Namen als seine Wohnung.

»Sind Sie nicht ein Enkel des alten Meisters, der die schöne Kunstsammlung besaß?« fragte der Fremde.

»Ja, ich bin’s. Ich war zehn Jahre, als der Großvater starb, und es schmerzte mich lebhaft, diese schönen Sachen verkaufen zu sehen.«

»Ihr Vater hat eine große Summe Geldes dafür erhalten.«

»Sie wissen also davon?«

»O ja, ich habe diesen Schatz noch in Ihrem Hause gesehen. Ihr Großvater war nicht bloß ein Sammler, er verstand sich auf die Kunst, er war in einer frühern, glücklichen Zeit in Italien gewesen und hatte Schätze von dort mit zurückgebracht, welche jetzt um keinen Preis mehr zu haben wären. Er besaß treffliche Gemälde von den besten Meistern; man traute kaum seinen Augen, wenn man seine Handzeichnungen durchsah; unter seinen Marmorn waren einige unschätzbare Fragmente; von Bronzen besaß er eine sehr instruktive Suite; so hatte er auch seine Münzen für Kunst und Geschichte zweckmäßig gesammelt; seine wenigen geschnittenen Steine verdienten alles Lob; auch war das Ganze gut aufgestellt, wenngleich die Zimmer und Säle des alten Hauses nicht symmetrisch gebaut waren.«

»Sie können denken, was wir Kinder verloren, als alle die Sachen heruntergenommen und eingepackt wurden. Es waren die ersten traurigen Zeiten meines Lebens. Ich weiß noch, wie leer uns die Zimmer vorkamen, als wir die Gegenstände nach und nach verschwinden sahen, die uns von Jugend auf unterhalten hatten und die wir ebenso unveränderlich hielten als das Haus und die Stadt selbst.«

»Wenn ich nicht irre, so gab Ihr Vater das gelöste Kapital in die Handlung eines Nachbars, mit dem er eine Art Gesellschaftshandel einging.«

»Ganz richtig! und ihre gesellschaftlichen Spekulationen sind ihnen wohl geglückt; sie haben in diesen zwölf Jahren ihr Vermögen sehr vermehrt und sind beide nur desto heftiger auf den Erwerb gestellt; auch hat der alte Werner einen Sohn, der sich viel besser zu diesem Handwerke schickt als ich.«

»Es tut mir leid, daß dieser Ort eine solche Zierde verloren hat, als das Kabinett Ihres Großvaters war. Ich sah es noch kurz vorher, ehe es verkauft wurde, und ich darf wohl sagen, ich war Ursache, daß der Kauf zustande kam. Ein reicher Edelmann, ein großer Liebhaber, der aber bei so einem wichtigen Handel sich nicht allein auf sein eigen Urteil verließ, hatte mich hierher geschickt und verlangte meinen Rat. Sechs Tage besah ich das Kabinett, und am siebenten riet ich meinem Freunde, die ganze geforderte Summe ohne Anstand zu bezahlen. Sie waren als ein munterer Knabe oft um mich herum; Sie erklärten mir die Gegenstände der Gemälde und wußten überhaupt das Kabinett recht gut auszulegen.«

»Ich erinnere mich einer solchen Person, aber in Ihnen hätte ich sie nicht wiedererkannt.«

»Es ist auch schon eine geraume Zeit, und wir verändern uns doch mehr oder weniger. Sie hatten, wenn ich mich recht erinnere, ein Lieblingsbild darunter, von dem Sie mich gar nicht weglassen wollten.«

»Ganz richtig! es stellte die Geschichte vor, wie der kranke Königssohn sich über die Braut seines Vaters in Liebe verzehrt.«

»Es war eben nicht das beste Gemälde, nicht gut zusammengesetzt, von keiner sonderlichen Farbe, und die Ausführung durchaus manieriert.«

»Das verstand ich nicht und versteh es noch nicht; der Gegenstand ist es, der mich an einem Gemälde reizt, nicht die Kunst.«

»Da schien Ihr Großvater anders zu denken; denn der größte Teil seiner Sammlung bestand aus trefflichen Sachen, in denen man immer das Verdienst ihres Meisters bewunderte, sie mochten vorstellen, was sie wollten; auch hing dieses Bild in dem äußersten Vorsaale, zum Zeichen, daß er es wenig schätzte.«

»Da war es eben, wo wir Kinder immer spielen durften und wo dieses Bild einen unauslöschlichen Eindruck auf mich machte, den mir selbst Ihre Kritik, die ich übrigens verehre, nicht auslöschen könnte, wenn wir auch jetzt vor dem Bilde stünden. Wie jammerte mich, wie jammert mich noch ein Jüngling, der die süßen Triebe, das schönste Erbteil, das uns die Natur gab, in sich verschließen und das Feuer, das ihn und andere erwärmen und beleben sollte, in seinem Busen verbergen muß, so daß sein Innerstes unter ungeheuren Schmerzen verzehrt wird! Wie bedaure ich die Unglückliche, die sich einem andern widmen soll, wenn ihr Herz schon den würdigen Gegenstand eines wahren und reinen Verlangens gefunden hat!«

»Diese Gefühle sind freilich sehr weit von jenen Betrachtungen entfernt, unter denen ein Kunstliebhaber die Werke großer Meister anzusehen pflegt; wahrscheinlich würde Ihnen aber, wenn das Kabinett ein Eigentum Ihres Hauses geblieben wäre, nach und nach der Sinn für die Werke selbst aufgegangen sein, so daß Sie nicht immer nur sich selbst und Ihre Neigung in den Kunstwerken gesehen hätten.«

»Gewiß tat mir der Verkauf des Kabinetts gleich sehr leid, und ich habe es auch in reifern Jahren öfters vermißt; wenn ich aber bedenke, daß es gleichsam so sein mußte, um eine Liebhaberei, um ein Talent in mir zu entwickeln, die weit mehr auf mein Leben wirken sollten, als jene leblosen Bilder je getan hätten, so bescheide ich mich dann gern und verehre das Schicksal, das mein Bestes und eines jeden Bestes einzuleiten weiß.«

»Leider höre ich schon wieder das Wort Schicksal von einem jungen Manne aussprechen, der sich eben in einem Alter befindet, wo man gewöhnlich seinen lebhaften Neigungen den Willen höherer Wesen unterzuschieben pflegt.«

»So glauben Sie kein Schicksal? Keine Macht, die über uns waltet und alles zu unserm Besten lenkt?«

»Es ist hier die Rede nicht von meinem Glauben, noch der Ort, auszulegen, wie ich mir Dinge, die uns allen unbegreiflich sind, einigermaßen denkbar zu machen suche; hier ist nur die Frage, welche Vorstellungsart zu unserm Besten gereicht. Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen, und nur, indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch, ein Gott der Erde genannt zu werden. Wehe dem, der sich von Jugend auf gewöhnt, in dem Notwendigen etwas Willkürliches finden zu wollen, der dem Zufälligen eine Art von Vernunft zuschreiben möchte, welcher zu folgen sogar eine Religion sei. Heißt das etwas weiter, als seinem eignen Verstande entsagen und seinen Neigungen unbedingten Raum geben? Wir bilden uns ein, fromm zu sein, indem wir ohne Überlegung hinschlendern, uns durch angenehme Zufälle determinieren lassen und endlich dem Resultate eines solchen schwankenden Lebens den Namen einer göttlichen Führung geben.«

»Waren Sie niemals in dem Falle, daß ein kleiner Umstand Sie veranlaßte, einen gewissen Weg einzuschlagen, auf welchem bald eine gefällige Gelegenheit Ihnen entgegenkam und eine Reihe von unerwarteten Vorfällen Sie endlich ans Ziel brachte, das Sie selbst noch kaum ins Auge gefaßt hatten? Sollte das nicht Ergebenheit in das Schicksal, Zutrauen zu einer solchen Leitung einflößen?«

»Mit diesen Gesinnungen könnte kein Mädchen ihre Tugend, niemand sein Geld im Beutel behalten; denn es gibt Anlässe genug, beides loszuwerden. Ich kann mich nur über den Menschen freuen, der weiß, was ihm und andern nütze ist, und seine Willkür zu beschränken arbeitet. Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will. Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allen; nur die Fähigkeit dazu wird uns angeboren, sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein.«

Dieses und mehreres wurde noch unter ihnen abgehandelt; endlich trennten sie sich, ohne daß sie einander sonderlich überzeugt zu haben schienen, doch bestimmten sie auf den folgenden Tag einen Ort der Zusammenkunft.

Wilhelm ging noch einige Straßen auf und nieder; er hörte Klarinetten, Waldhörner und Fagotte, es schwoll sein Busen. Durchreisende Spielleute machten eine angenehme Nachtmusik. Er sprach mit ihnen, und um ein Stück Geld folgten sie ihm zu Marianens Wohnung. Hohe Bäume zierten den Platz vor ihrem Hause, darunter stellte er seine Sänger; er selbst ruhte auf einer Bank in einiger Entfernung und überließ sich ganz den schwebenden Tönen, die in der labenden Nacht um ihn säuselten. Unter den holden Sternen hingestreckt, war ihm sein Dasein wie ein goldner Traum. »Sie hört auch diese Flöten«, sagte er in seinem Herzen; »sie fühlt, wessen Andenken, wessen Liebe die Nacht wohlklingend macht; auch in der Entfernung sind wir durch diese Melodien zusammengebunden, wie in jeder Entfernung durch die feinste Stimmung der Liebe. Ach! zwei liebende Herzen, sie sind wie zwei Magnetuhren; was in der einen sich regt, muß auch die andere mit bewegen, denn es ist nur eins, was in beiden wirkt, eine Kraft, die sie durchgeht. Kann ich in ihren Armen eine Möglichkeit fühlen, mich von ihr zu trennen? Und doch, ich werde fern von ihr sein, werde einen Heilort für unsere Liebe suchen und werde sie immer mit mir haben.

Wie oft ist mir’s geschehen, daß ich, abwesend von ihr, in Gedanken an sie verloren, ein Buch, ein Kleid oder sonst etwas berührte und glaubte, ihre Hand zu fühlen, so ganz war ich mit ihrer Gegenwart umkleidet. Und jener Augenblicke mich zu erinnern, die das Licht des Tages wie das Auge des kalten Zuschauers fliehen, die zu genießen Götter den schmerzlosen Zustand der reinen Seligkeit zu verlassen sich entschließen dürften! – Mich zu erinnern? – Als wenn man den Rausch des Taumelkelchs in der Erinnerung erneuern könnte, der unsere Sinne, von himmlischen Banden umstrickt, aus aller ihrer Fassung reißt. – Und ihre Gestalt – –« Er verlor sich im Andenken an sie, seine Ruhe ging in Verlangen über, er umfaßte einen Baum, kühlte seine heiße Wange an der Rinde, und die Winde der Nacht saugten begierig den Hauch auf, der aus dem reinen Busen bewegt hervordrang. Er fühlte nach dem Halstuch, das er von ihr mitgenommen hatte, es war vergessen, es steckte im vorigen Kleide. Seine Lippen lechzten, seine Glieder zitterten vor Verlangen.

Die Musik hörte auf, und es war ihm, als wär er aus dem Elemente gefallen, in dem seine Empfindungen bisher emporgetragen wurden. Seine Unruhe vermehrte sich, da seine Gefühle nicht mehr von den sanften Tönen genährt und gelindert wurden. Er setzte sich auf ihre Schwelle nieder und war schon mehr beruhigt. Er küßte den messingenen Ring, womit man an ihre Türe pochte, er küßte die Schwelle, über die ihre Füße aus- und eingingen, und erwärmte sie durch das Feuer seiner Brust. Dann saß er wieder eine Weile stille und dachte sie hinter ihren Vorhängen, im weißen Nachtkleide mit dem roten Band um den Kopf, in süßer Ruhe und dachte sich selbst so nahe zu ihr hin, daß ihm vorkam, sie müßte nun von ihm träumen. Seine Gedanken waren lieblich wie die Geister der Dämmerung; Ruhe und Verlangen wechselten in ihm; die Liebe lief mit schaudernder Hand tausendfältig über alle Saiten seiner Seele; es war, als wenn der Gesang der Sphären über ihm stille stünde, um die leisen Melodien seines Herzens zu belauschen.

Hätte er den Hauptschlüssel bei sich gehabt, der ihm sonst Marianens Türe öffnete, er würde sich nicht gehalten haben, würde ins Heiligtum der Liebe eingedrungen sein. Doch er entfernte sich langsam, schwankte halb träumend unter den Bäumen hin, wollte nach Hause und ward immer wieder umgewendet; endlich, als er’s über sich vermochte, ging und an der Ecke noch einmal zurücksah, kam es ihm vor, als wenn Marianens Türe sich öffnete und eine dunkle Gestalt sich herausbewegte. Er war zu weit, um deutlich zu sehen, und eh er sich faßte und recht aufsah, hatte sich die Erscheinung schon in der Nacht verloren; nur ganz weit glaubte er sie wieder an einem weißen Hause vorbeistreifen zu sehen. Er stund und blinzte, und ehe er sich ermannte und nacheilte, war das Phantom verschwunden. Wohin sollt er ihm folgen? Welche Straße hatte den Menschen aufgenommen, wenn es einer war?

Wie einer, dem der Blitz die Gegend in einem Winkel erhellte, gleich darauf mit geblendeten Augen die vorigen Gestalten, den Zusammenhang der Pfade in der Finsternis vergebens sucht, so war’s vor seinen Augen, so war’s in seinem Herzen. Und wie ein Gespenst der Mitternacht, das ungeheure Schrecken erzeugt, in folgenden Augenblicken der Fassung für ein Kind des Schreckens gehalten wird und die fürchterliche Erscheinung Zweifel ohne Ende in der Seele zurückläßt, so war auch Wilhelm in der größten Unruhe, als er, an einen Eckstein gelehnt, die Helle des Morgens und das Geschrei der Hähne nicht achtete, bis die frühen Gewerbe lebendig zu werden anfingen und ihn nach Hause trieben.

Er hatte, wie er zurückkam, das unerwartete Blendwerk mit den triftigsten Gründen beinahe aus der Seele vertrieben; doch die schöne Stimmung der Nacht, an die er jetzt auch nur wie an eine Erscheinung zurückdachte, war auch dahin. Sein Herz zu letzen, ein Siegel seinem wiederkehrenden Glauben aufzudrücken, nahm er das Halstuch aus der vorigen Tasche. Das Rauschen eines Zettels, der herausfiel, zog ihm das Tuch von den Lippen; er hob auf und las:

»So hab ich dich lieb, kleiner Narre! Was war dir auch gestern? Heute nacht komm ich zu dir. Ich glaube wohl, daß dir’s leid tut, von hier wegzugehen; aber habe Geduld; auf die Messe komm ich dir nach. Höre, tu mir nicht wieder die schwarzgrünbraune Jacke an, du siehst drin aus wie die Hexe von Endor. Hab ich dir nicht das weiße Negligé darum geschickt, daß ich ein weißes Schäfchen in meinen Armen haben will? Schick mir deine Zettel immer durch die alte Sibylle; die hat der Teufel selbst zur Iris bestellt.«

Zweites Buch

Erstes

Kapitel

Jeder, der mit lebhaften Kräften vor unsern Augen eine Absicht zu erreichen strebt, kann, wir mögen seinen Zweck loben oder tadeln, sich unsre Teilnahme versprechen; sobald aber die Sache entschieden ist, wenden wir unser Auge sogleich von ihm weg; alles, was geendigt, was abgetan daliegt, kann unsre Aufmerksamkeit keineswegs fesseln, besonders wenn wir schon frühe der Unternehmung einen übeln Ausgang prophezeit haben.

Deswegen sollen unsre Leser nicht umständlich mit dem Jammer und der Not unsers verunglückten Freundes, in die er geriet, als er seine Hoffnungen und Wünsche auf eine so unerwartete Weise zerstört sah, unterhalten werden. Wir überspringen vielmehr einige Jahre und suchen ihn erst da wieder auf, wo wir ihn in einer Art von Tätigkeit und Genuß zu finden hoffen, wenn wir vorher nur kürzlich so viel, als zum Zusammenhang der Geschichte nötig ist, vorgetragen haben.

Die Pest oder ein böses Fieber rasen in einem gesunden, vollsaftigen Körper, den sie anfallen, schneller und heftiger, und so ward der arme Wilhelm unvermutet von einem unglücklichen Schicksale überwältigt, daß in einem Augenblicke sein ganzes Wesen zerrüttet war. Wie wenn von ungefähr unter der Zurüstung ein Feuerwerk in Brand gerät und die künstlich gebohrten und gefüllten Hülsen, die, nach einem gewissen Plane geordnet und abgebrannt, prächtig abwechselnde Feuerbilder in die Luft zeichnen sollten, nunmehr unordentlich und gefährlich durcheinander zischen und sausen: so gingen auch jetzt in seinem Busen Glück und Hoffnung, Wollust und Freuden, Wirkliches und Geträumtes auf einmal scheiternd durcheinander. In solchen wüsten Augenblicken erstarrt der Freund, der zur Rettung hinzueilt, und dem, den es trifft, ist es eine Wohltat, daß ihn die Sinne verlassen.

Tage des lauten, ewig wiederkehrenden und mit Vorsatz erneuerten Schmerzens folgten darauf; doch sind auch diese für eine Gnade der Natur zu achten. In solchen Stunden hatte Wilhelm seine Geliebte noch nicht ganz verloren; seine Schmerzen waren unermüdet erneuerte Versuche, das Glück, das ihm aus der Seele entfloh, noch festzuhalten, die Möglichkeit desselben in der Vorstellung wieder zu erhaschen, seinen auf immer abgeschiedenen Freuden ein kurzes Nachleben zu verschaffen. Wie man einen Körper, solange die Verwesung dauert, nicht ganz tot nennen kann, solange die Kräfte, die vergebens nach ihren alten Bestimmungen zu wirken suchen, an der Zerstörung der Teile, die sie sonst belebten, sich abarbeiten; nur dann, wenn sich alles aneinander aufgerieben hat, wenn wir das Ganze in gleichgültigen Staub zerlegt sehen, dann entsteht das erbärmliche, leere Gefühl des Todes in uns, nur durch den Atem des Ewiglebenden zu erquicken.

In einem so neuen, ganzen, lieblichen Gemüte war viel zu zerreißen, zu zerstören, zu ertöten, und die schnellheilende Kraft der Jugend gab selbst der Gewalt des Schmerzens neue Nahrung und Heftigkeit. Der Streich hatte sein ganzes Dasein an der Wurzel getroffen. Werner, aus Not sein Vertrauter, griff voll Eifer zu Feuer und Schwert, um einer verhaßten Leidenschaft, dem Ungeheuer, ins innerste Leben zu dringen. Die Gelegenheit war so glücklich, das Zeugnis so bei der Hand, und wieviel Geschichten und Erzählungen wußt er nicht zu nutzen. Er trieb’s mit solcher Heftigkeit und Grausamkeit Schritt vor Schritt, ließ dem Freunde nicht das Labsal des mindesten augenblicklichen Betruges, vertrat ihm jeden Schlupfwinkel, in welchen er sich vor der Verzweiflung hätte retten können, daß die Natur, die ihren Liebling nicht wollte zugrunde gehen lassen, ihn mit Krankheit anfiel, um ihm von der andern Seite Luft zu machen.

Ein lebhaftes Fieber mit seinem Gefolge, den Arzeneien, der Überspannung und der Mattigkeit; dabei die Bemühungen der Familie, die Liebe der Mitgebornen, die durch Mangel und Bedürfnisse sich erst recht fühlbar macht, waren so viele Zerstreuungen eines veränderten Zustandes und eine kümmerliche Unterhaltung. Erst als er wieder besser wurde, das heißt, als seine Kräfte erschöpft waren, sah Wilhelm mit Entsetzen in den qualvollen Abgrund eines dürren Elendes hinab, wie man in den ausgebrannten, hohlen Becher eines Vulkans hinunterblickt.

Nunmehr machte er sich selbst die bittersten Vorwürfe, daß er nach so großem Verlust noch einen schmerzenlosen, ruhigen, gleichgültigen Augenblick haben könne. Er verachtete sein eigen Herz und sehnte sich nach dem Labsal des Jammers und der Tränen.

Um diese wieder in sich zu erwecken, brachte er vor sein Andenken alle Szenen des vergangenen Glücks. Mit der größten Lebhaftigkeit malte er sie sich aus, strebte wieder in sie hinein, und wenn er sich zur möglichsten Höhe hinaufgearbeitet hatte, wenn ihm der Sonnenschein voriger Tage wieder die Glieder zu beleben, den Busen zu heben schien, sah er rückwärts auf den schrecklichen Abgrund, labte sein Auge an der zerschmetternden Tiefe, warf sich hinunter und erzwang von der Natur die bittersten Schmerzen. Mit so wiederholter Grausamkeit zerriß er sich selbst; denn die Jugend, die so reich an eingehüllten Kräften ist, weiß nicht, was sie verschleudert, wenn sie dem Schmerz, den ein Verlust erregt, noch so viele erzwungene Leiden zugesellt, als wollte sie dem Verlornen dadurch noch erst einen rechten Wert geben. Auch war er so überzeugt, daß dieser Verlust der einzige, der erste und letzte sei, den er in seinem Leben empfinden könne, daß er jeden Trost verabscheute, der ihm diese Leiden als endlich vorzustellen unternahm.

Zweites Kapitel

Gewöhnt, auf diese Weise sich selbst zu quälen, griff er nun auch das übrige, was ihm nach der Liebe und mit der Liebe die größten Freuden und Hoffnungen gegeben hatte, sein Talent als Dichter und Schauspieler, mit hämischer Kritik von allen Seiten an. Er sah in seinen Arbeiten nichts als eine geistlose Nachahmung einiger hergebrachten Formen, ohne innern Wert; er wollte darin nur steife Schulexerzitien erkennen, denen es an jedem Funken von Naturell, Wahrheit und Begeisterung fehle. In seinen Gedichten fand er nur ein monotones Silbenmaß, in welchem, durch einen armseligen Reim zusammengehalten, ganz gemeine Gedanken und Empfindungen sich hinschleppten; und so benahm er sich auch jede Aussicht, jede Lust, die ihn von dieser Seite noch allenfalls hätte wieder aufrichten können.

Seinem Schauspielertalente ging es nicht besser. Er schalt sich, daß er nicht früher die Eitelkeit entdeckt, die allein dieser Anmaßung zum Grunde gelegen. Seine Figur, sein Gang, seine Bewegung und Deklamation mußten herhalten; er sprach sich jede Art von Vorzug, jedes Verdienst, das ihn über das Gemeine emporgehoben hätte, entscheidend ab und vermehrte seine stumme Verzweiflung dadurch auf den höchsten Grad. Denn wenn es hart ist, der Liebe eines Weibes zu entsagen, so ist die Empfindung nicht weniger schmerzlich, von dem Umgange der Musen sich loszureißen, sich ihrer Gemeinschaft auf immer unwürdig zu erklären und auf den schönsten und nächsten Beifall, der unsrer Person, unserm Betragen, unsrer Stimme öffentlich gegeben wird, Verzicht zu tun.

So hatte sich denn unser Freund völlig resigniert und sich zugleich mit großem Eifer den Handelsgeschäften gewidmet. Zum Erstaunen seines Freundes und zur größten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf dem Comptoir und der Börse, im Laden und Gewölbe tätiger als er; Korrespondenz und Rechnungen, und was ihm aufgetragen wurde, besorgte und verrichtete er mit größtem Fleiß und Eifer. Freilich nicht mit dem heitern Fleiße, der zugleich dem Geschäftigen Belohnung ist, wenn wir dasjenige, wozu wir geboren sind, mit Ordnung und Folge verrichten, sondern mit dem stillen Fleiße der Pflicht, der den besten Vorsatz zum Grunde hat, der durch Überzeugung genährt und durch ein innres Selbstgefühl belohnt wird; der aber doch oft, selbst dann, wenn ihm das schönste Bewußtsein die Krone reicht, einen vordringenden Seufzer kaum zu ersticken vermag.

Auf diese Weise hatte Wilhelm eine Zeitlang sehr emsig fortgelebt und sich überzeugt, daß jene harte Prüfung vom Schicksale zu seinem Besten veranstaltet worden. Er war froh, auf dem Wege des Lebens sich beizeiten, obgleich unfreundlich genug, gewarnt zu sehen, anstatt daß andere später und schwerer die Mißgriffe büßen, wozu sie ein jugendlicher Dünkel verleitet hat. Denn gewöhnlich wehrt sich der Mensch so lange, als er kann, den Toren, den er im Busen hegt, zu verabschieden, einen Hauptirrtum zu bekennen und eine Wahrheit einzugestehen, die ihn zur Verzweiflung bringt.

So entschlossen er war, seinen liebsten Vorstellungen zu entsagen, so war doch einige Zeit nötig, um ihn von seinem Unglücke völlig zu überzeugen. Endlich aber hatte er jede Hoffnung der Liebe, des poetischen Hervorbringens und der persönlichen Darstellung mit triftigen Gründen so ganz in sich vernichtet, daß er Mut faßte, alle Spuren seiner Torheit, alles, was ihn irgend noch daran erinnern könnte, völlig auszulöschen. Er hatte daher an einem kühlen Abende ein Kaminfeuer angezündet und holte ein Reliquienkästchen hervor, in welchem sich hunderterlei Kleinigkeiten fanden, die er in bedeutenden Augenblicken von Marianen erhalten oder derselben geraubt hatte. Jede vertrocknete Blume erinnerte ihn an die Zeit, da sie noch frisch in ihren Haaren blühte; jedes Zettelchen an die glückliche Stunde, wozu sie ihn dadurch einlud; jede Schleife an den lieblichen Ruheplatz seines Hauptes, ihren schönen Busen. Mußte nicht auf diese Weise jede Empfindung, die er schon lange getötet glaubte, sich wieder zu bewegen anfangen? Mußte nicht die Leidenschaft, über die er, abgeschieden von seiner Geliebten, Herr geworden war, in der Gegenwart dieser Kleinigkeiten wieder mächtig werden? Denn wir merken erst, wie traurig und unangenehm ein trüber Tag ist, wenn ein einziger durchdringender Sonnenblick uns den aufmunternden Glanz einer heitern Stunde darstellt.

Nicht ohne Bewegung sah er daher diese so lange bewahrten Heiligtümer nacheinander in Rauch und Flamme vor sich aufgehen. Einigemal hielt er zaudernd inne und hatte noch eine Perlenschnur und ein flornes Halstuch übrig, als er sich entschloß, mit den dichterischen Versuchen seiner Jugend das abnehmende Feuer wieder aufzufrischen.

Bis jetzt hatte er alles sorgfältig aufgehoben, was ihm, von der frühsten Entwicklung seines Geistes an, aus der Feder geflossen war. Noch lagen seine Schriften in Bündel gebunden auf dem Boden des Koffers, wohin er sie gepackt hatte, als er sie auf seiner Flucht mitzunehmen hoffte. Wie ganz anders eröffnete er sie jetzt, als er sie damals zusammenband!

Wenn wir einen Brief, den wir unter gewissen Umständen geschrieben und gesiegelt haben, der aber den Freund, an den er gerichtet war, nicht antrifft, sondern wieder zu uns zurückgebracht wird, nach einiger Zeit eröffnen, überfällt uns eine sonderbare Empfindung, indem wir unser eignes Siegel erbrechen und uns mit unserm veränderten Selbst wie mit einer dritten Person unterhalten. Ein ähnliches Gefühl ergriff mit Heftigkeit unsern Freund, als er das erste Paket eröffnete und die zerteilten Hefte ins Feuer warf, die eben gewaltsam aufloderten, als Werner hereintrat, sich über die lebhafte Flamme verwunderte und fragte, was hier vorgehe.

»Ich gebe einen Beweis«, sagte Wilhelm, »daß es mir Ernst sei, ein Handwerk aufzugeben, wozu ich nicht geboren ward«; und mit diesen Worten warf er das zweite Paket in das Feuer. Werner wollte ihn abhalten, allein es war geschehen.

»Ich sehe nicht ein, wie du zu diesem Extrem kommst«, sagte dieser. »Warum sollen denn nun diese Arbeiten, wenn sie nicht vortrefflich sind, gar vernichtet werden?«

»Weil ein Gedicht entweder vortrefflich sein oder gar nicht existieren soll; weil jeder, der keine Anlage hat, das Beste zu leisten, sich der Kunst enthalten und sich vor jeder Verführung dazu ernstlich in acht nehmen sollte. Denn freilich regt sich in jedem Menschen ein gewisses unbestimmtes Verlangen, dasjenige, was er sieht, nachzuahmen; aber dieses Verlangen beweist gar nicht, daß auch die Kraft in uns wohne, mit dem, was wir unternehmen, zustande zu kommen. Sieh nur die Knaben an, wie sie jedesmal, sooft Seiltänzer in der Stadt gewesen, auf allen Planken und Balken hin und wider gehen und balancieren, bis ein anderer Reiz sie wieder zu einem ähnlichen Spiele hinzieht. Hast du es nicht in dem Zirkel unsrer Freunde bemerkt? Sooft sich ein Virtuose hören läßt, finden sich immer einige, die sogleich dasselbe Instrument zu lernen anfangen. Wie viele irren auf diesem Wege herum! Glücklich, wer den Fehlschluß von seinen Wünschen auf seine Kräfte bald gewahr wird!«

Werner widersprach; die Unterredung ward lebhaft, und Wilhelm konnte nicht ohne Bewegung die Argumente, mit denen er sich selbst so oft gequält hatte, gegen seinen Freund wiederholen. Werner behauptete, es sei nicht vernünftig, ein Talent, zu dem man nur einigermaßen Neigung und Geschick habe, deswegen, weil man es niemals in der größten Vollkommenheit ausüben werde, ganz aufzugeben. Es finde sich ja so manche leere Zeit, die man dadurch ausfüllen und nach und nach etwas hervorbringen könne, wodurch wir uns und andern ein Vergnügen bereiten.

Unser Freund, der hierin ganz anderer Meinung war, fiel ihm sogleich ein und sagte mit großer Lebhaftigkeit:

»Wie sehr irrst du, lieber Freund, wenn du glaubst, daß ein Werk, dessen erste Vorstellung die ganze Seele füllen muß, in unterbrochenen, zusammengegeizten Stunden könne hervorgebracht werden. Nein, der Dichter muß ganz sich, ganz in seinen geliebten Gegenständen leben. Er, der vom Himmel innerlich auf das köstlichste begabt ist, der einen sich immer selbst vermehrenden Schatz im Busen bewahrt, er muß auch von außen ungestört mit seinen Schätzen in der stillen Glückseligkeit leben, die ein Reicher vergebens mit aufgehäuften Gütern um sich hervorzubringen sucht. Sieh die Menschen an, wie sie nach Glück und Vergnügen rennen! Ihre Wünsche, ihre Mühe, ihr Geld jagen rastlos, und wonach? Nach dem, was der Dichter von der Natur erhalten hat, nach dem Genuß der Welt, nach dem Mitgefühl seiner selbst in andern, nach einem harmonischen Zusammensein mit vielen oft unvereinbaren Dingen.

Was beunruhiget die Menschen, als daß sie ihre Begriffe nicht mit den Sachen verbinden können, daß der Genuß sich ihnen unter den Händen wegstiehlt, daß das Gewünschte zu spät kommt und daß alles Erreichte und Erlangte auf ihr Herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnen läßt. Gleichsam wie einen Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinübergesetzt. Er sieht das Gewirre der Leidenschaften, Familien und Reiche sich zwecklos bewegen, er sieht die unauflöslichen Rätsel der Mißverständnisse, denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, unsäglich verderbliche Verwirrungen verursachen. Er fühlt das Traurige und das Freudige jedes Menschenschicksals mit. Wenn der Weltmensch in einer abzehrenden Melancholie über großen Verlust seine Tage hinschleicht oder in ausgelassener Freude seinem Schicksale entgegengeht, so schreitet die empfängliche, leichtbewegliche Seele des Dichters wie die wandelnde Sonne von Nacht zu Tag fort, und mit leisen Übergängen stimmt seine Harfe zu Freude und Leid. Eingeboren auf dem Grund seines Herzens wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend träumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstiget werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Wie! willst du, daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe heruntersteige? Er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der Hund sich auf eine Fährte gewöhnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern?«

Werner hatte, wie man sich denken kann, mit Verwunderung zugehört. »Wenn nur auch die Menschen«, fiel er ihm ein, »wie die Vögel gemacht wären und, ohne daß sie spinnen und weben, holdselige Tage in beständigem Genuß zubringen könnten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne Gegenden begäben, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!«

»So haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo das Ehrwürdige mehr erkannt ward«, rief Wilhelm aus, »und so sollten sie immer leben. Genugsam in ihrem Innersten ausgestattet, bedurften sie wenig von außen; die Gabe, schöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in süßen, sich an jeden Gegenstand anschmiegenden Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt und war für den Begabten ein reichliches Erbteil. An der Könige Höfen, an den Tischen der Reichen, vor den Türen der Verliebten horchte man auf sie, indem sich das Ohr und die Seele für alles andere verschloß, wie man sich seligpreist und entzückt stillesteht, wenn aus den Gebüschen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervordringt! Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender Stand erhöhte sie nur desto mehr. Der Held lauschte ihren Gesängen, und der Überwinder der Welt huldigte einem Dichter, weil er fühlte, daß ohne diesen sein ungeheures Dasein nur wie ein Sturmwind vorüberfahren würde; der Liebende wünschte sein Verlangen und seinen Genuß so tausendfach und so harmonisch zu fühlen, als ihn die beseelte Lippe zu schildern verstand; und selbst der Reiche konnte seine Besitztümer, seine Abgötter, nicht mit eigenen Augen so kostbar sehen, als sie ihm vom Glanz des allen Wert fühlenden und erhöhenden Geistes beleuchtet erschienen. Ja, wer hat, wenn du willst, Götter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?«

»Mein Freund«, versetzte Werner nach einigem Nachdenken, »ich habe schon oft bedauert, daß du das, was du so lebhaft fühlst, mit Gewalt aus deiner Seele zu verbannen strebst. Ich müßte mich sehr irren, wenn du nicht besser tätest, dir selbst einigermaßen nachzugeben, als dich durch die Widersprüche eines so harten Entsagens aufzureiben und dir mit der einen unschuldigen Freude den Genuß aller übrigen zu entziehen.«

»Darf ich dir’s gestehen, mein Freund«, versetzte der andre, »und wirst du mich nicht lächerlich finden, wenn ich dir bekenne, daß jene Bilder mich noch immer verfolgen, sosehr ich sie fliehe, und daß, wenn ich mein Herz untersuche, alle frühen Wünsche fest, ja noch fester als sonst darin haften? Doch was bleibt mir Unglücklichem gegenwärtig übrig? Ach, wer mir vorausgesagt hätte, daß die Arme meines Geistes so bald zerschmettert werden sollten, mit denen ich ins Unendliche griff und mit denen ich doch gewiß ein Großes zu umfassen hoffte, wer mir das vorausgesagt hätte, würde mich zur Verzweiflung gebracht haben. Und noch jetzt, da das Gericht über mich ergangen ist, jetzt, da ich die verloren habe, die anstatt einer Gottheit mich zu meinen Wünschen hinüberführen sollte, was bleibt mir übrig, als mich den bittersten Schmerzen zu überlassen? O mein Bruder«, fuhr er fort, »ich leugne nicht, sie war mir bei meinen heimlichen Anschlägen der Kloben, an den eine Strickleiter befestigt ist; gefährlich hoffend schwebt der Abenteurer in der Luft, das Eisen bricht, und er liegt zerschmettert am Fuße seiner Wünsche. Es ist auch nun für mich kein Trost, keine Hoffnung mehr! Ich werde«, rief er aus, indem er aufsprang, »von diesen unglückseligen Papieren keines übriglassen.« Er faßte abermals ein paar Hefte an, riß sie auf und warf sie ins Feuer. Werner wollte ihn abhalten, aber vergebens. »Laß mich!« rief Wilhelm, »was sollen diese elenden Blätter? Für mich sind sie weder Stufe noch Aufmunterung mehr. Sollen sie übrigbleiben, um mich bis ans Ende meines Lebens zu peinigen? Sollen sie vielleicht einmal der Welt zum Gespötte dienen, anstatt Mitleiden und Schauer zu erregen? Weh über mich und über mein Schicksal! Nun verstehe ich erst die Klagen der Dichter, der aus Not weise gewordnen Traurigen. Wie lange hielt ich mich für unzerstörbar, für unverwundlich, und ach! nun seh ich, daß ein tiefer früher Schade nicht wieder auswachsen, sich nicht wieder herstellen kann; ich fühle, daß ich ihn mit ins Grab nehmen muß. Nein! keinen Tag des Lebens soll der Schmerz von mir weichen, der mich noch zuletzt umbringt, und auch ihr Andenken soll bei mir bleiben, mit mir leben und sterben, das Andenken der Unwürdigen – ach, mein Freund! wenn ich von Herzen reden soll – der gewiß nicht ganz Unwürdigen! Ihr Stand, ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt. Ich bin zu grausam gewesen, du hast mich in deine Kälte, in deine Härte unbarmherzig eingeweiht, meine zerrütteten Sinne gefangengehalten und mich verhindert, das für sie und für mich zu tun, was ich uns beiden schuldig war. Wer weiß, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und erst nach und nach fällt mir’s aufs Gewissen, in welcher Verzweiflung, in welcher Hülflosigkeit ich sie verließ! War’s nicht möglich, daß sie sich entschuldigen konnte? War’s nicht möglich? Wieviel Mißverständnisse können die Welt verwirren, wieviel Umstände können dem größten Fehler Vergebung erflehen! – Wie oft denke ich mir sie, in der Stille für sich sitzend, auf ihren Ellenbogen gestützt. – ›Das ist‹, sagt sie, ›die Treue, die Liebe, die er mir zuschwur! Mit diesem unsanften Schlag das schöne Leben zu endigen, das uns verband!‹« – Er brach in einen Strom von Tränen aus, indem er sich mit dem Gesichte auf den Tisch warf und die übergebliebenen Papiere benetzte.

Werner stand in der größten Verlegenheit dabei. Er hatte sich dieses rasche Auflodern der Leidenschaft nicht vermutet. Etlichemal wollte er seinem Freunde in die Rede fallen, etlichemal das Gespräch woandershin lenken, vergebens! er widerstand dem Strome nicht. Auch hier übernahm die ausdauernde Freundschaft wieder ihr Amt. Er ließ den heftigsten Anfall des Schmerzens vorüber, indem er durch seine stille Gegenwart eine aufrichtige, reine Teilnehmung am besten sehen ließ, und so blieben sie diesen Abend; Wilhelm ins stille Nachgefühl des Schmerzens versenkt und der andere erschreckt durch den neuen Ausbruch einer Leidenschaft, die er lange bemeistert und durch guten Rat und eifriges Zureden überwältigt zu haben glaubte.

Drittes Kapitel

Nach solchen Rückfällen pflegte Wilhelm meist nur desto eifriger sich den Geschäften und der Tätigkeit zu widmen, und es war der beste Weg, dem Labyrinthe, das ihn wieder anzulocken suchte, zu entfliehen. Seine gute Art, sich gegen Fremde zu betragen, seine Leichtigkeit, fast in allen lebenden Sprachen Korrespondenz zu führen, gaben seinem Vater und dessen Handelsfreunde immer mehr Hoffnung und trösteten sie über die Krankheit, deren Ursache ihnen nicht bekannt geworden war, und über die Pause, die ihren Plan unterbrochen hatte. Man beschloß Wilhelms Abreise zum zweitenmal, und wir finden ihn auf seinem Pferde, den Mantelsack hinter sich, erheitert durch freie Luft und Bewegung, dem Gebirge sich nähern, wo er einige Aufträge ausrichten sollte.

Er durchstrich langsam Täler und Berge mit der Empfindung des größten Vergnügens. Überhangende Felsen, rauschende Wasserbäche, bewachsene Wände, tiefe Gründe sah er hier zum erstenmal, und doch hatten seine frühsten Jugendträume schon in solchen Gegenden geschwebt. Er fühlte sich bei diesem Anblicke wieder verjüngt; alle erduldeten Schmerzen waren aus seiner Seele weggewaschen, und mit völliger Heiterkeit sagte er sich Stellen aus verschiedenen Gedichten, besonders aus dem »Pastor fido« vor, die an diesen einsamen Plätzen scharenweis seinem Gedächtnisse zuflossen. Auch erinnerte er sich mancher Stellen aus seinen eigenen Liedern, die er mit einer besondern Zufriedenheit rezitierte. Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahnung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten.

Mehrere Menschen, die aufeinanderfolgend hinter ihm herkamen, an ihm mit einem Gruße vorbeigingen und den Weg ins Gebirge, durch steile Fußpfade, eilig fortsetzten, unterbrachen einigemal seine stille Unterhaltung, ohne daß er jedoch aufmerksam auf sie geworden wäre. Endlich gesellte sich ein gesprächiger Gefährte zu ihm und erzählte die Ursache der starken Pilgerschaft.

»Zu Hochdorf«, sagte er, »wird heute abend eine Komödie gegeben, wozu sich die ganze Nachbarschaft versammelt.«

»Wie!« rief Wilhelm, »in diesen einsamen Gebirgen, zwischen diesen undurchdringlichen Wäldern hat die Schauspielkunst einen Weg gefunden und sich einen Tempel aufgebaut? und ich muß zu ihrem Feste wallfahrten?«

»Sie werden sich noch mehr wundern«, sagte der andere, »wenn Sie hören, durch wen das Stück aufgeführt wird. Es ist eine große Fabrik in dem Orte, die viel Leute ernährt. Der Unternehmer, der sozusagen von aller menschlichen Gesellschaft entfernt lebt, weiß seine Arbeiter im Winter nicht besser zu beschäftigen, als daß er sie veranlaßt hat, Komödie zu spielen. Er leidet keine Karten unter ihnen und wünscht sie auch sonst von rohen Sitten abzuhalten. So bringen sie die langen Abende zu, und heute, da des Alten Geburtstag ist, geben sie ihm zu Ehren eine besondere Festlichkeit.«

Wilhelm kam zu Hochdorf an, wo er übernachten sollte, und stieg bei der Fabrik ab, deren Unternehmer auch als Schuldner auf seiner Liste stand.

Als er seinen Namen nannte, rief der Alte verwundert aus: »Ei, mein Herr, sind Sie der Sohn des braven Mannes, dem ich so viel Dank und bis jetzt noch Geld schuldig bin? Ihr Herr Vater hat so viel Geduld mit mir gehabt, daß ich ein Bösewicht sein müßte, wenn ich nicht eilig und fröhlich bezahlte. Sie kommen eben zur rechten Zeit, um zu sehen, daß es mir Ernst ist.«

Er rief seine Frau herbei, welche ebenso erfreut war, den jungen Mann zu sehen; sie versicherte, daß er seinem Vater gleiche, und bedauerte, daß sie ihn wegen der vielen Fremden die Nacht nicht beherbergen könne.

Das Geschäft war klar und bald berichtigt; Wilhelm steckte ein Röllchen Gold in die Tasche und wünschte, daß seine übrigen Geschäfte auch so leicht gehen möchten.

Die Stunde des Schauspiels kam heran, man erwartete nur noch den Oberforstmeister, der endlich auch anlangte, mit einigen Jägern eintrat und mit der größten Verehrung empfangen wurde.

Die Gesellschaft wurde nunmehr ins Schauspielhaus geführt, wozu man eine Scheune eingerichtet hatte, die gleich am Garten lag. Haus und Theater waren, ohne sonderlichen Geschmack, munter und artig genug angelegt. Einer von den Malern, die auf der Fabrik arbeiteten, hatte bei dem Theater in der Residenz gehandlangt und hatte nun Wald, Straße und Zimmer, freilich etwas roh, hingestellt. Das Stück hatten sie von einer herumziehenden Truppe geborgt und nach ihrer eigenen Weise zurechtgeschnitten. So wie es war, unterhielt es. Die Intrige, daß zwei Liebhaber ein Mädchen ihrem Vormunde und wechselsweise sich selbst entreißen wollen, brachte allerlei interessante Situationen hervor. Es war das erste Stück, das unser Freund nach einer so langen Zeit wieder sah; er machte mancherlei Betrachtungen. Es war voller Handlung, aber ohne Schilderung wahrer Charaktere. Es gefiel und ergötzte. So sind die Anfänge aller Schauspielkunst. Der rohe Mensch ist zufrieden, wenn er nur etwas vorgehen sieht; der gebildete will empfinden, und Nachdenken ist nur dem ganz ausgebildeten angenehm.

Den Schauspielern hätte er hie und da gerne nachgeholfen; denn es fehlte nur wenig, so hätten sie um vieles besser sein können.

In seinen stillen Betrachtungen störte ihn der Tabaksdampf, der immer stärker und stärker wurde. Der Oberforstmeister hatte bald nach Anfang des Stücks seine Pfeife angezündet, und nach und nach nahmen sich mehrere diese Freiheit heraus. Auch machten die großen Hunde dieses Herrn schlimme Auftritte. Man hatte sie zwar ausgesperrt; allein sie fanden bald den Weg zur Hintertüre herein, liefen auf das Theater, rannten wider die Akteurs und gesellten sich endlich durch einen Sprung über das Orchester zu ihrem Herrn, der den ersten Platz im Parterre eingenommen hatte.

Zum Nachspiel ward ein Opfer dargebracht. Ein Porträt, das den Alten in seinem Bräutigamskleide vorstellte, stand auf einem Altar, mit Kränzen behangen. Alle Schauspieler huldigten ihm in demutvollen Stellungen. Das jüngste Kind trat, weiß gekleidet, hervor und hielt eine Rede in Versen, wodurch die ganze Familie und sogar der Oberforstmeister, der sich dabei an seine Kinder erinnerte, zu Tränen bewegt wurde. So endigte sich das Stück, und Wilhelm konnte nicht umhin, das Theater zu besteigen, die Aktricen in der Nähe zu besehen, sie wegen ihres Spiels zu loben und ihnen auf die Zukunft einigen Rat zu geben.

Die übrigen Geschäfte unsers Freundes, die er nach und nach in größern und kleinern Gebirgsorten verrichtete, liefen nicht alle so glücklich noch so vergnügt ab. Manche Schuldner baten um Aufschub, manche waren unhöflich, manche leugneten. Nach seinem Auftrage sollte er einige verklagen; er mußte einen Advokaten aufsuchen, diesen instruieren, sich vor Gericht stellen und was dergleichen verdrießliche Geschäfte noch mehr waren.

Ebensoschlimm erging es ihm, wenn man ihm eine Ehre erzeigen wollte. Nur wenig Leute fand er, die ihn einigermaßen unterrichten konnten; wenige, mit denen er in ein nützliches Handelsverhältnis zu kommen hoffte. Da nun auch unglücklicherweise Regentage einfielen und eine Reise zu Pferd in diesen Gegenden mit unerträglichen Beschwerden verknüpft war, so dankte er dem Himmel, als er sich dem flachen Lande wieder näherte und am Fuße des Gebirges in einer schönen und fruchtbaren Ebene, an einem sanften Flusse, im Sonnenscheine ein heiteres Landstädtchen liegen sah, in welchem er zwar keine Geschäfte hatte, aber eben deswegen sich entschloß, ein paar Tage daselbst zu verweilen, um sich und seinem Pferde, das von dem schlimmen Wege sehr gelitten hatte, einige Erholung zu verschaffen.

Viertes Kapitel

Als er in einem Wirtshause auf dem Markte abtrat, ging es darin sehr lustig, wenigstens sehr lebhaft zu. Eine große Gesellschaft Seiltänzer, Springer und Gaukler, die einen starken Mann bei sich hatten, waren mit Weib und Kindern eingezogen und machten, indem sie sich auf eine öffentliche Erscheinung bereiteten, einen Unfug über den andern. Bald stritten sie mit dem Wirte, bald unter sich selbst; und wenn ihr Zank unleidlich war, so waren die Äußerungen ihres Vergnügens ganz und gar unerträglich. Unschlüssig, ob er gehen oder bleiben sollte, stand er unter dem Tore und sah den Arbeitern zu, die auf dem Platze ein Gerüst aufzuschlagen anfingen.

Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren Korb dar, und er kaufte sich einen schönen Strauß, den er mit Liebhaberei anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich auftat und ein wohlgebildetes Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der Entfernung bemerken, daß eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Ihre blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um ihren Nacken; sie schien sich nach dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte, aus der Türe jenes Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begrüßte ihn und sagte: »Das Frauenzimmer am Fenster läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen abtreten wollen?« – »Sie stehn ihr alle zu Diensten«, versetzte Wilhelm, indem er dem leichten Boten das Bouquet überreichte und zugleich der Schönen ein Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte und sich vom Fenster zurückzog.

Nachdenkend über dieses artige Abenteuer ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm entgegensprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidnes Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung an und konnte nicht mit sich einig werden, ob er sie für einen Knaben oder für ein Mädchen erklären sollte. Doch entschied er sich bald für das letzte und hielt sie auf, da sie bei ihm vorbeikam, bot ihr einen guten Tag und fragte sie, wem sie angehöre, ob er schon leicht sehen konnte, daß sie ein Glied der springenden und tanzenden Gesellschaft sein müsse. Mit einem scharfen schwarzen Seitenblick sah sie ihn an, indem sie sich von ihm losmachte und in die Küche lief, ohne zu antworten.

Als er die Treppe hinaufkam, fand er auf dem weiten Vorsaale zwei Mannspersonen, die sich im Fechten übten oder vielmehr ihre Geschicklichkeit aneinander zu versuchen schienen. Der eine war offenbar von der Gesellschaft, die sich im Hause befand, der andere hatte ein weniger wildes Ansehn. Wilhelm sah ihnen zu und hatte Ursache, sie beide zu bewundern, und als nicht lange darauf der schwarzbärtige, nervige Streiter den Kampfplatz verließ, bot der andere mit vieler Artigkeit Wilhelmen das Rapier an.

»Wenn Sie einen Schüler«, versetzte dieser, »in die Lehre nehmen wollen, so bin ich wohl zufrieden, mit Ihnen einige Gänge zu wagen.« Sie fochten zusammen, und obgleich der Fremde dem Ankömmling weit überlegen war, so war er doch höflich genug zu versichern, daß alles nur auf Übung ankomme; und wirklich hatte Wilhelm auch gezeigt, daß er früher von einem guten und gründlichen deutschen Fechtmeister unterrichtet worden war.

Ihre Unterhaltung ward durch das Getöse unterbrochen, mit welchem die bunte Gesellschaft aus dem Wirtshause auszog, um die Stadt von ihrem Schauspiel zu benachrichtigen und auf ihre Künste begierig zu machen. Einem Tambour folgte der Entrepreneur zu Pferde, hinter ihm eine Tänzerin auf einem ähnlichen Gerippe, die ein Kind vor sich hielt, das mit Bändern und Flintern wohl herausgeputzt war. Darauf kam die übrige Truppe zu Fuß, wovon einige auf ihren Schultern Kinder, in abenteuerlichen Stellungen, leicht und bequem dahertrugen, unter denen die junge, schwarzköpfige, düstere Gestalt Wilhelms Aufmerksamkeit aufs neue erregte.

Pagliasso lief unter der andringenden Menge drollig hin und her und teilte mit sehr begreiflichen Späßen, indem er bald ein Mädchen küßte, bald einen Knaben pritschte, seine Zettel aus und erweckte unter dem Volke eine unüberwindliche Begierde, ihn näher kennenzulernen.

In den gedruckten Anzeigen waren die mannigfaltigen Künste der Gesellschaft, besonders eines Monsieur Narziß und der Demoiselle Landrinette herausgestrichen, welche beide als Hauptpersonen die Klugheit gehabt hatten, sich von dem Zuge zu enthalten, sich dadurch ein vornehmeres Ansehn zu geben und größere Neugier zu erwecken.

Während des Zuges hatte sich auch die schöne Nachbarin wieder am Fenster sehen lassen, und Wilhelm hatte nicht verfehlt, sich bei seinem Gesellschafter nach ihr zu erkundigen. Dieser, den wir einstweilen Laertes nennen wollen, erbot sich, Wilhelmen zu ihr hinüber zu begleiten. »Ich und das Frauenzimmer«, sagte er lächelnd, »sind ein paar Trümmer einer Schauspielergesellschaft, die vor kurzem hier scheiterte. Die Anmut des Orts hat uns bewogen, einige Zeit hier zu bleiben und unsre wenige gesammelte Barschaft in Ruhe zu verzehren, indes ein Freund ausgezogen ist, ein Unterkommen für sich und uns zu suchen.«

Laertes begleitete sogleich seinen neuen Bekannten zu Philinens Türe, wo er ihn einen Augenblick stehenließ, um in einem benachbarten Laden Zuckerwerk zu holen. »Sie werden mir es gewiß danken«, sagte er, indem er zurückkam, »daß ich Ihnen diese artige Bekanntschaft verschaffe.«

Das Frauenzimmer kam ihnen auf einem Paar leichten Pantöffelchen mit hohen Absätzen aus der Stube entgegengetreten. Sie hatte eine schwarze Mantille über ein weißes Negligé geworfen, das, eben weil es nicht ganz reinlich war, ihr ein häusliches und bequemes Ansehn gab; ihr kurzes Röckchen ließ die niedlichsten Füße von der Welt sehen.

»Sein Sie mir willkommen!« rief sie Wilhelmen zu, »und nehmen Sie meinen Dank für die schönen Blumen.« Sie führte ihn mit der einen Hand ins Zimmer, indem sie mit der andern den Strauß an die Brust drückte. Als sie sich niedergesetzt hatten und in gleichgültigen Gesprächen begriffen waren, denen sie eine reizende Wendung zu geben wußte, schüttete ihr Laertes gebrannte Mandeln in den Schoß, von denen sie sogleich zu naschen anfing. »Sehn Sie, welch ein Kind dieser junge Mensch ist!« rief sie aus, »er wird Sie überreden wollen, daß ich eine große Freundin von solchen Näschereien sei, und er ist’s, der nicht leben kann, ohne irgend etwas Leckeres zu genießen.«

»Lassen Sie uns nur gestehn«, versetzte Laertes, »daß wir hierin, wie in mehrerem, einander gern Gesellschaft leisten. Zum Beispiel«, sagte er, »es ist heute ein sehr schöner Tag; ich dächte, wir führen spazieren und nähmen unser Mittagsmahl auf der Mühle.« – »Recht gern«, sagte Philine, »wir müssen unserm neuen Bekannten eine kleine Veränderung machen.« Laertes sprang fort, denn er ging niemals, und Wilhelm wollte einen Augenblick nach Hause, um seine Haare, die von der Reise noch verworren aussahen, in Ordnung bringen zu lassen. »Das können Sie hier!« sagte sie, rief ihren kleinen Diener, nötigte Wilhelmen auf die artigste Weise, seinen Rock auszuziehen, ihren Pudermantel anzulegen und sich in ihrer Gegenwart frisieren zu lassen. »Man muß ja keine Zeit versäumen«, sagte sie; »man weiß nicht, wie lange man beisammen bleibt.«

Der Knabe, mehr trotzig und unwillig als ungeschickt, benahm sich nicht zum besten, raufte Wilhelmen und schien so bald nicht fertig werden zu wollen. Philine verwies ihm einigemal seine Unart, stieß ihn endlich ungeduldig hinweg und jagte ihn zur Türe hinaus. Nun übernahm sie selbst die Bemühung und kräuselte die Haare unsers Freundes mit großer Leichtigkeit und Zierlichkeit, ob sie gleich auch nicht zu eilen schien und bald dieses, bald jenes an ihrer Arbeit auszusetzen hatte, indem sie nicht vermeiden konnte, mit ihren Knien die seinigen zu berühren und Strauß und Busen so nahe an seine Lippen zu bringen, daß er mehr als einmal in Versuchung gesetzt ward, einen Kuß darauf zu drücken.

Als Wilhelm mit einem kleinen Pudermesser seine Stirne gereinigt hatte, sagte sie zu ihm: »Stecken Sie es ein, und gedenken Sie meiner dabei.« Es war ein artiges Messer; der Griff von eingelegtem Stahl zeigte die freundlichen Worte: »Gedenkt mein«. Wilhelm steckte es zu sich, dankte ihr und bat um die Erlaubnis, ihr ein kleines Gegengeschenk machen zu dürfen.

Nun war man fertig geworden. Laertes hatte die Kutsche gebracht, und nun begann eine sehr lustige Fahrt. Philine warf jedem Armen, der sie anbettelte, etwas zum Schlage hinaus, indem sie ihm zugleich ein munteres und freundliches Wort zurief.

Sie waren kaum auf der Mühle angekommen und hatten ein Essen bestellt, als eine Musik vor dem Hause sich hören ließ. Es waren Bergleute, die zu Zither und Triangel mit lebhaften und grellen Stimmen verschiedene artige Lieder vortrugen. Es dauerte nicht lange, so hatte eine herbeiströmende Menge einen Kreis um sie geschlossen, und die Gesellschaft nickte ihnen ihren Beifall aus den Fenstern zu. Als sie diese Aufmerksamkeit gesehen, erweiterten sie ihren Kreis und schienen sich zu ihrem wichtigsten Stückchen vorzubereiten. Nach einer Pause trat ein Bergmann mit einer Hacke hervor und stellte, indes die andern eine ernsthafte Melodie spielten, die Handlung des Schürfens vor.

Es währte nicht lange, so trat ein Bauer aus der Menge und gab jenem pantomimisch drohend zu verstehen, daß er sich von hier hinwegbegeben solle. Die Gesellschaft war darüber verwundert und erkannte erst den in einen Bauer verkleideten Bergmann, als er den Mund auftat und in einer Art von Rezitativ den andern schalt, daß er wage, auf seinem Acker zu hantieren. Jener kam nicht aus der Fassung, sondern fing an, den Landmann zu belehren, daß er recht habe, hier einzuschlagen, und gab ihm dabei die ersten Begriffe vom Bergbau. Der Bauer, der die fremde Terminologie nicht verstand, tat allerlei alberne Fragen, worüber die Zuschauer, die sich klüger fühlten, ein herzliches Gelächter aufschlugen. Der Bergmann suchte ihn zu berichten und bewies ihm den Vorteil, der zuletzt auch auf ihn fließe, wenn die unterirdischen Schätze des Landes herausgewühlt würden. Der Bauer, der jenem zuerst mit Schlägen gedroht hatte, ließ sich nach und nach besänftigen, und sie schieden als gute Freunde voneinander; besonders aber zog sich der Bergmann auf die honorabelste Art aus diesem Streite.

»Wir haben«, sagte Wilhelm bei Tische, »an diesem kleinen Dialog das lebhafteste Beispiel, wie nützlich allen Ständen das Theater sein könnte, wie vielen Vorteil der Staat selbst daraus ziehen müßte, wenn man die Handlungen, Gewerbe und Unternehmungen der Menschen von ihrer guten, lobenswürdigen Seite und in dem Gesichtspunkte auf das Theater brächte, aus welchem sie der Staat selbst ehren und schützen muß. Jetzt stellen wir nur die lächerliche Seite der Menschen dar; der Lustspieldichter ist gleichsam nur ein hämischer Kontrolleur, der auf die Fehler seiner Mitbürger überall ein wachsames Auge hat und froh zu sein scheint, wenn er ihnen eins anhängen kann. Sollte es nicht eine angenehme und würdige Arbeit für einen Staatsmann sein, den natürlichen, wechselseitigen Einfluß aller Stände zu überschauen und einen Dichter, der Humor genug hätte, bei seinen Arbeiten zu leiten? Ich bin überzeugt, es könnten auf diesem Wege manche sehr unterhaltende, zugleich nützliche und lustige Stücke ersonnen werden.«

»Soviel ich«, sagte Laertes, »überall, wo ich herumgeschwärmt bin, habe bemerken können, weiß man nur zu verbieten, zu hindern und abzulehnen; selten aber zu gebieten, zu befördern und zu belohnen. Man läßt alles in der Welt gehn, bis es schädlich wird; dann zürnt man und schlägt drein.«

»Laßt mir den Staat und die Staatsleute weg«, sagte Philine, »ich kann mir sie nicht anders als in Perücken vorstellen, und eine Perücke, es mag sie aufhaben, wer da will, erregt in meinen Fingern eine krampfhafte Bewegung; ich möchte sie gleich dem ehrwürdigen Herrn herunternehmen, in der Stube herumspringen und den Kahlkopf auslachen.«

Mit einigen lebhaften Gesängen, welche sie sehr schön vortrug, schnitt Philine das Gespräch ab und trieb zu einer schnellen Rückfahrt, damit man die Künste der Seiltänzer am Abende zu sehen nicht versäumen möchte. Drollig bis zur Ausgelassenheit, setzte sie ihre Freigebigkeit gegen die Armen auf dem Heimwege fort, indem sie zuletzt, da ihr und ihren Reisegefährten das Geld ausging, einem Mädchen ihren Strohhut und einem alten Weibe ihr Halstuch zum Schlage hinauswarf.

Philine lud beide Begleiter zu sich in ihre Wohnung, weil man, wie sie sagte, aus ihren Fenstern das öffentliche Schauspiel besser als im andern Wirtshause sehen könne.

Als sie ankamen, fanden sie das Gerüst aufgeschlagen und den Hintergrund mit aufgehängten Teppichen geziert. Die Schwungbretter waren schon gelegt, das Schlappseil an die Pfosten befestigt und das straffe Seil über die Böcke gezogen. Der Platz war ziemlich mit Volk gefüllt und die Fenster mit Zuschauern einiger Art besetzt.

Pagliaß bereitete erst die Versammlung mit einigen Albernheiten, worüber die Zuschauer immer zu lachen pflegen, zur Aufmerksamkeit und guten Laune vor. Einige Kinder, deren Körper die seltsamsten Verrenkungen darstellten, erregten bald Verwunderung, bald Grausen, und Wilhelm konnte sich des tiefen Mitleidens nicht enthalten, als er das Kind, an dem er beim ersten Anblicke teilgenommen, mit einiger Mühe die sonderbaren Stellungen hervorbringen sah. Doch bald erregten die lustigen Springer ein lebhaftes Vergnügen, wenn sie erst einzeln, dann hintereinander und zuletzt alle zusammen sich vorwärts und rückwärts in der Luft überschlugen. Ein lautes Händeklatschen und Jauchzen erscholl aus der ganzen Versammlung.

Nun aber ward die Aufmerksamkeit auf einen ganz andern Gegenstand gewendet. Die Kinder, eins nach dem andern, mußten das Seil betreten, und zwar die Lehrlinge zuerst, damit sie durch ihre Übungen das Schauspiel verlängerten und die Schwierigkeit der Kunst ins Licht setzten. Es zeigten sich auch einige Männer und erwachsene Frauenspersonen mit ziemlicher Geschicklichkeit; allein es war noch nicht Monsieur Narziß, noch nicht Demoiselle Landrinette.

Endlich traten auch diese aus einer Art von Zelt hinter aufgespannten roten Vorhängen hervor und erfüllten durch ihre angenehme Gestalt und zierlichen Putz die bisher glücklich genährte Hoffnung der Zuschauer. Er ein munteres Bürschchen von mittlerer Größe, schwarzen Augen und einem starken Haarzopf; sie nicht minder wohl und kräftig gebildet; beide zeigten sich nacheinander auf dem Seile mit leichten Bewegungen, Sprüngen und seltsamen Posituren. Ihre Leichtigkeit, seine Verwegenheit, die Genauigkeit, womit beide ihre Kunststücke ausführten, erhöhten mit jedem Schritt und Sprung das allgemeine Vergnügen. Der Anstand, womit sie sich betrugen, die anscheinenden Bemühungen der andern um sie gaben ihnen das Ansehn, als wenn sie Herr und Meister der ganzen Truppe wären, und jedermann hielt sie des Ranges wert.

Die Begeisterung des Volks teilte sich den Zuschauern an den Fenstern mit, die Damen sahen unverwandt nach Narzissen, die Herren nach Landrinetten. Das Volk jauchzte, und das feinere Publikum enthielt sich nicht des Klatschens; kaum daß man noch über Pagliassen lachte. Wenige nur schlichen sich weg, als einige von der Truppe, um Geld zu sammeln, sich mit zinnernen Tellern durch die Menge drängten.

»Sie haben ihre Sache, dünkt mich, gut gemacht«, sagte Wilhelm zu Philinen, die bei ihm am Fenster lag, »ich bewundere ihren Verstand, womit sie auch geringe Kunststückchen, nach und nach und zur rechten Zeit angebracht, gelten zu machen wußten, und wie sie aus der Ungeschicklichkeit ihrer Kinder und aus der Virtuosität ihrer Besten ein Ganzes zusammenarbeiteten, das erst unsre Aufmerksamkeit erregte und dann uns auf das angenehmste unterhielt.«

Das Volk hatte sich nach und nach verlaufen, und der Platz war leer geworden, indes Philine und Laertes über die Gestalt und die Geschicklichkeit Narzissens und Landrinettens in Streit gerieten und sich wechselsweise neckten. Wilhelm sah das wunderbare Kind auf der Straße bei andern spielenden Kindern stehen, machte Philinen darauf aufmerksam, die sogleich nach ihrer lebhaften Art dem Kinde rief und winkte und, da es nicht kommen wollte, singend die Treppe hinunterklapperte und es heraufführte.

»Hier ist das Rätsel«, rief sie, als sie das Kind zur Türe hereinzog. Es blieb am Eingange stehen, eben als wenn es gleich wieder hinausschlüpfen wollte, legte die rechte Hand vor die Brust, die linke vor die Stirn und bückte sich tief. »Fürchte dich nicht, liebe Kleine«, sagte Wilhelm, indem er auf sie losging. Sie sah ihn mit unsicherm Blick an und trat einige Schritte näher.

»Wie nennest du dich?« fragte er. – »Sie heißen mich Mignon.« – »Wieviel Jahre hast du?« – »Es hat sie niemand gezählt.« – »Wer war dein Vater?« – »Der große Teufel ist tot.«

»Nun, das ist wunderlich genug!« rief Philine aus. Man fragte sie noch einiges; sie brachte ihre Antworten in einem gebrochenen Deutsch und mit einer sonderbar feierlichen Art vor; dabei legte sie jedesmal die Hände an Brust und Haupt und neigte sich tief.

Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sein Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustande dieses Wesens angezogen. Er schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre; ihr Körper war gut gebaut, nur daß ihre Glieder einen stärkern Wuchs versprachen oder einen zurückgehaltenen ankündigten. Ihre Bildung war nicht regelmäßig, aber auffallend; ihre Stirne geheimnisvoll, ihre Nase außerordentlich schön, und der Mund, ob er schon für ihr Alter zu sehr geschlossen schien und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch immer treuherzig und reizend genug. Ihre bräunliche Gesichtsfarbe konnte man durch die Schminke kaum erkennen. Diese Gestalt prägte sich Wilhelmen sehr tief ein; er sah sie noch immer an, schwieg und vergaß der Gegenwärtigen über seinen Betrachtungen. Philine weckte ihn aus seinem Halbtraume, indem sie dem Kinde etwas übriggebliebenes Zuckerwerk reichte und ihm ein Zeichen gab, sich zu entfernen. Es machte seinen Bückling wie oben und fuhr blitzschnell zur Türe hinaus.

Als die Zeit nunmehr herbeikam, daß unsre neuen Bekannten sich für diesen Abend trennen sollten, redeten sie vorher noch eine Spazierfahrt auf den morgenden Tag ab. Sie wollten abermals an einem andern Orte, auf einem benachbarten Jägerhause, ihr Mittagsmahl einnehmen. Wilhelm sprach diesen Abend noch manches zu Philinens Lobe, worauf Laertes nur kurz und leichtsinnig antwortete.

Den andern Morgen, als sie sich abermals eine Stunde im Fechten geübt hatten, gingen sie nach Philinens Gasthofe, vor welchem sie die bestellte Kutsche schon hatten anfahren sehen. Aber wie verwundert war Wilhelm, als die Kutsche verschwunden, und wie noch mehr, als Philine nicht zu Hause anzutreffen war. Sie hatte sich, so erzählte man, mit ein paar Fremden, die diesen Morgen angekommen waren, in den Wagen gesetzt und war mit ihnen davongefahren. Unser Freund, der sich in ihrer Gesellschaft eine angenehme Unterhaltung versprochen hatte, konnte seinen Verdruß nicht verbergen. Dagegen lachte Laertes und rief: »So gefällt sie mir! Das sieht ihr ganz ähnlich! Lassen Sie uns nur gerade nach dem Jagdhause gehen; sie mag sein, wo sie will, wir wollen ihretwegen unsere Promenade nicht versäumen.«

Als Wilhelm unterwegs diese Inkonsequenz des Betragens zu tadeln fortfuhr, sagte Laertes: »Ich kann nicht inkonsequent finden, wenn jemand seinem Charakter treu bleibt. Wenn sie sich etwas vornimmt oder jemanden etwas verspricht, so geschieht es nur unter der stillschweigenden Bedingung, daß es ihr auch bequem sein werde, den Vorsatz auszuführen oder ihr Versprechen zu halten. Sie verschenkt gern, aber man muß immer bereit sein, ihr das Geschenkte wiederzugeben.«

»Dies ist ein seltsamer Charakter«, versetzte Wilhelm.

»Nichts weniger als seltsam, nur daß sie keine Heuchlerin ist. Ich liebe sie deswegen, ja ich bin ihr Freund, weil sie mir das Geschlecht so rein darstellt, das ich zu hassen so viel Ursache habe. Sie ist mir die wahre Eva, die Stammutter des weiblichen Geschlechts; so sind alle, nur wollen sie es nicht Wort haben.«

Unter mancherlei Gesprächen, in welchen Laertes seinen Haß gegen das weibliche Geschlecht sehr lebhaft ausdrückte, ohne jedoch die Ursache davon anzugeben, waren sie in den Wald gekommen, in welchen Wilhelm sehr verstimmt eintrat, weil die Äußerungen des Laertes ihm die Erinnerung an sein Verhältnis zu Marianen wieder lebendig gemacht hatten. Sie fanden nicht weit von einer beschatteten Quelle unter herrlichen alten Bäumen Philinen allein an einem steinernen Tische sitzen. Sie sang ihnen ein lustiges Liedchen entgegen, und als Laertes nach ihrer Gesellschaft fragte, rief sie aus: »Ich habe sie schön angeführt; ich habe sie zum besten gehabt, wie sie es verdienten. Schon unterwegs setzte ich ihre Freigebigkeit auf die Probe, und da ich bemerkte, daß sie von den kargen Näschern waren, nahm ich mir gleich vor, sie zu bestrafen. Nach unsrer Ankunft fragten sie den Kellner, was zu haben sei, der mit der gewöhnlichen Geläufigkeit seiner Zunge alles, was da war, und mehr als da war, hererzählte. Ich sah ihre Verlegenheit, sie blickten einander an, stotterten und fragten nach dem Preise. ›Was bedenken Sie sich lange‹, rief ich aus, ›die Tafel ist das Geschäft eines Frauenzimmers, lassen Sie mich dafür sorgen.‹ Ich fing darauf an, ein unsinniges Mittagmahl zu bestellen, wozu noch manches durch Boten aus der Nachbarschaft geholt werden sollte. Der Kellner, den ich durch ein paar schiefe Mäuler zum Vertrauten gemacht hatte, half mir endlich, und so haben wir sie durch die Vorstellung eines herrlichen Gastmahls dergestalt geängstigt, daß sie sich kurz und gut zu einem Spaziergange in den Wald entschlossen, von dem sie wohl schwerlich zurückkommen werden. Ich habe eine Viertelstunde auf meine eigene Hand gelacht und werde lachen, sooft ich an die Gesichter denke.« Bei Tische erinnerte sich Laertes an ähnliche Fälle; sie kamen in den Gang, lustige Geschichten, Mißverständnisse und Prellereien zu erzählen.

Ein junger Mann von ihrer Bekanntschaft aus der Stadt kam mit einem Buche durch den Wald geschlichen, setzte sich zu ihnen und rühmte den schönen Platz. Er machte sie auf das Rieseln der Quelle, auf die Bewegung der Zweige, auf die einfallenden Lichter und auf den Gesang der Vögel aufmerksam. Philine sang ein Liedchen vom Kuckuck, welches dem Ankömmling nicht zu behagen schien; er empfahl sich bald.

»Wenn ich nur nichts mehr von Natur und Naturszenen hören sollte«, rief Philine aus, als er weg war; »es ist nichts unerträglicher, als sich das Vergnügen vorrechnen zu lassen, das man genießt. Wenn schön Wetter ist, geht man spazieren, wie man tanzt wenn aufgespielt wird. Wer mag aber nur einen Augenblick an die Musik, wer ans schöne Wetter denken? Der Tänzer interessiert uns, nicht die Violine, und in ein Paar schöne schwarze Augen zu sehen, tut einem Paar blauen Augen gar zu wohl. Was sollen dagegen Quellen und Brunnen und alte, morsche Linden!« Sie sah, indem sie so sprach, Wilhelmen, der ihr gegenüber saß, mit einem Blick in die Augen, dem er nicht wehren konnte, wenigstens bis an die Türe seines Herzens vorzudringen.

»Sie haben recht«, versetzte er mit einiger Verlegenheit, »der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren. Alles andere, was uns umgibt, ist entweder nur Element, in dem wir leben, oder Werkzeug, dessen wir uns bedienen. Je mehr wir uns dabei aufhalten, je mehr wir darauf merken und teil daran nehmen, desto schwächer wird das Gefühl unsers eignen Wertes und das Gefühl der Gesellschaft. Die Menschen, die einen großen Wert auf Gärten, Gebäude, Kleider, Schmuck oder irgend ein Besitztum legen, sind weniger gesellig und gefällig; sie verlieren die Menschen aus den Augen, welche zu erfreuen und zu versammeln nur sehr wenigen glückt. Sehn wir es nicht auch auf dem Theater? Ein guter Schauspieler macht uns bald eine elende, unschickliche Dekoration vergessen, dahingegen das schönste Theater den Mangel an guten Schauspielern erst recht fühlbar macht.«

Nach Tische setzte Philine sich in das beschattete hohe Gras. Ihre beiden Freunde mußten ihr Blumen in Menge herbeischaffen. Sie wand sich einen vollen Kranz und setzte ihn auf; sie sah unglaublich reizend aus. Die Blumen reichten noch zu einem andern hin; auch den flocht sie, indem sich beide Männer neben sie setzten. Als er unter allerlei Scherz und Anspielungen fertig geworden war, drückte sie ihn Wilhelmen mit der größten Anmut aufs Haupt und rückte ihn mehr als einmal anders, bis er recht zu sitzen schien. »Und ich werde, wie es scheint, leer ausgehen«, sagte Laertes.

»Mitnichten«, versetzte Philine. »Ihr sollt Euch keinesweges beklagen.« Sie nahm ihren Kranz vom Haupte und setzte ihn Laertes auf.

»Wären wir Nebenbuhler«, sagte dieser, »so würden wir sehr heftig streiten können, welchen von beiden du am meisten begünstigst.«

»Da wärt ihr rechte Toren«, versetzte sie, indem sie sich zu ihm hinüberbog und ihm den Mund zum Kuß reichte, sich aber sogleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen schlang und einen lebhaften Kuß auf seine Lippen drückte. »Welcher schmeckt am besten?« fragte sie neckisch.

»Wunderlich!« rief Laertes. »Es scheint, als wenn so etwas niemals nach Wermut schmecken könne.«

»Sowenig«, sagte Philine, »als irgend eine Gabe, die jemand ohne Neid und Eigensinn genießt. Nun hätte ich«, rief sie aus, »noch Lust, eine Stunde zu tanzen, und dann müssen wir wohl wieder nach unsern Springern sehen.«

Man ging nach dem Hause und fand Musik daselbst. Philine, die eine gute Tänzerin war, belebte ihre beiden Gesellschafter. Wilhelm war nicht ungeschickt, allein es fehlte ihm an einer künstlichen Übung. Seine beiden Freunde nahmen sich vor, ihn zu unterrichten.

Man verspätete sich. Die Seiltänzer hatten ihre Künste schon zu produzieren angefangen. Auf dem Platze hatten sich viele Zuschauer eingefunden, doch war unsern Freunden, als sie ausstiegen, ein Getümmel merkwürdig, das eine große Anzahl Menschen nach dem Tore des Gasthofes, in welchem Wilhelm eingekehrt war, hingezogen hatte. Wilhelm sprang hinüber, um zu sehen, was es sei, und mit Entsetzen erblickte er, als er sich durchs Volk drängte, den Herrn der Seiltänzergesellschaft, der das interessante Kind bei den Haaren aus dem Hause zu schleppen bemüht war und mit einem Peitschenstiel unbarmherzig auf den kleinen Körper losschlug.

Wilhelm fuhr wie ein Blitz auf den Mann zu und faßte ihn bei der Brust. »Laß das Kind los!« schrie er wie ein Rasender, »oder einer von uns bleibt hier auf der Stelle.« Er faßte zugleich den Kerl mit einer Gewalt, die nur der Zorn geben kann, bei der Kehle, daß dieser zu ersticken glaubte, das Kind losließ und sich gegen den Angreifenden zu verteidigen suchte. Einige Leute, die mit dem Kinde Mitleiden fühlten, aber Streit anzufangen nicht gewagt hatten, fielen dem Seiltänzer sogleich in die Arme, entwaffneten ihn und drohten ihm mit vielen Schimpfreden. Dieser, der sich jetzt nur auf die Waffen seines Mundes reduziert sah, fing gräßlich zu drohen und zu fluchen an: die faule, unnütze Kreatur wolle ihre Schuldigkeit nicht tun; sie verweigere, den Eiertanz zu tanzen, den er dem Publiko versprochen habe; er wolle sie totschlagen, und es solle ihn niemand daran hindern. Er suchte sich loszumachen, um das Kind, das sich unter der Menge verkrochen hatte, aufzusuchen. Wilhelm hielt ihn zurück und rief: »Du sollst nicht eher dieses Geschöpf weder sehen noch berühren, bis du vor Gericht Rechenschaft gibst, wo du es gestohlen hast; ich werde dich aufs Äußerste treiben; du sollst mir nicht entgehen.« Diese Rede, welche Wilhelm in der Hitze, ohne Gedanken und Absicht, aus einem dunklen Gefühl oder, wenn man will, aus Inspiration ausgesprochen hatte, brachte den wütenden Menschen auf einmal zur Ruhe. Er rief: »Was hab ich mit der unnützen Kreatur zu schaffen! Zahlen Sie mir, was mich ihre Kleider kosten, und Sie mögen sie behalten; wir wollen diesen Abend noch einig werden.« Er eilte darauf, die unterbrochene Vorstellung fortzusetzen und die Unruhe des Publikums durch einige bedeutende Kunststücke zu befriedigen.

Wilhelm suchte nunmehr, da es stille geworden war, nach dem Kinde, das sich aber nirgends fand. Einige wollten es auf dem Boden, andere auf den Dächern der benachbarten Häuser gesehen haben. Nachdem man es allerorten gesucht hatte, mußte man sich beruhigen und abwarten, ob es nicht von selbst wieder herbeikommen wolle.

Indes war Narziß nach Hause gekommen, welchen Wilhelm über die Schicksale und die Herkunft des Kindes befragte. Dieser wußte nichts davon, denn er war nicht lange bei der Gesellschaft, erzählte dagegen mit großer Leichtigkeit und vielem Leichtsinne seine eigenen Schicksale. Als ihm Wilhelm zu dem großen Beifall Glück wünschte, dessen er sich zu erfreuen hatte, äußerte er sich sehr gleichgültig darüber. »Wir sind gewohnt« sagte er, »daß man über uns lacht und unsre Künste bewundert; aber wir werden durch den außerordentlichen Beifall um nichts gebessert. Der Entrepreneur zahlt uns und mag sehen, wie er zurechtekömmt.« Er beurlaubte sich darauf und wollte sich eilig entfernen.

Auf die Frage, wo er so schnell hinwolle, lächelte der junge Mensch und gestand, daß seine Figur und Talente ihm einen solidern Beifall zugezogen, als der des großen Publikums sei. Er habe von einigen Frauenzimmern Botschaft erhalten, die sehr eifrig verlangten, ihn näher kennenzulernen, und er fürchte, mit den Besuchen, die er abzulegen habe, vor Mitternacht kaum fertig zu werden. Er fuhr fort, mit der größten Aufrichtigkeit seine Abenteuer zu erzählen, und hätte die Namen, Straßen und Häuser angezeigt, wenn nicht Wilhelm eine solche Indiskretion abgelehnt und ihn höflich entlassen hätte.

Laertes hatte indessen Landrinetten unterhalten und versicherte, sie sei vollkommen würdig, ein Weib zu sein und zu bleiben.

Nun ging die Unterhandlung mit dem Entrepreneur wegen des Kindes an, das unserm Freunde für dreißig Taler überlassen wurde, gegen welche der schwarzbärtige, heftige Italiener seine Ansprüche völlig abtrat, von der Herkunft des Kindes aber weiter nichts bekennen wollte, als daß er solches nach dem Tode seines Bruders, den man wegen seiner außerordentlichen Geschicklichkeit den großen Teufel genannt, zu sich genommen habe.

Der andere Morgen ging meist mit Aufsuchen des Kindes hin. Vergebens durchkroch man alle Winkel des Hauses und der Nachbarschaft; es war verschwunden, und man fürchtete, es möchte in ein Wasser gesprungen sein oder sich sonst ein Leids angetan haben.

Philinens Reize konnten die Unruhe unsers Freundes nicht ableiten. Er brachte einen traurigen, nachdenklichen Tag zu. Auch des Abends, da Springer und Tänzer alle ihre Kräfte aufboten, um sich dem Publiko aufs beste zu empfehlen, konnte sein Gemüt nicht erheitert und zerstreut werden.

Durch den Zulauf aus benachbarten Ortschaften hatte die Anzahl der Menschen außerordentlich zugenommen, und so wälzte sich auch der Schneeball des Beifalls zu einer ungeheuren Größe. Der Sprung über die Degen und durch das Faß mit papiernen Böden machte eine große Sensation. Der starke Mann ließ zum allgemeinen Grausen, Entsetzen und Erstaunen, indem er sich mit dem Kopf und den Füßen auf ein Paar auseinandergeschobene Stühle legte, auf seinen hohlschwebenden Leib einen Amboß heben und auf demselben von einigen wackern Schmiedegesellen ein Hufeisen fertig schmieden.

Auch war die sogenannte Herkulesstärke, da eine Reihe Männer, auf den Schultern einer ersten Reihe stehend, abermals Frauen und Jünglinge trägt, so daß zuletzt eine lebendige Pyramide entsteht, deren Spitze ein Kind, auf den Kopf gestellt, als Knopf und Wetterfahne ziert, in diesen Gegenden noch nie gesehen worden und endigte würdig das ganze Schauspiel. Narziß und Landrinette ließen sich in Tragsesseln auf den Schultern der übrigen durch die vornehmsten Straßen der Stadt unter lautem Freudengeschrei des Volks tragen. Man warf ihnen Bänder, Blumensträuße und seidene Tücher zu und drängte sich, sie ins Gesicht zu fassen. Jedermann schien glücklich zu sein, sie anzusehn und von ihnen eines Blicks gewürdigt zu werden.

»Welcher Schauspieler, welcher Schriftsteller, ja welcher Mensch überhaupt würde sich nicht auf dem Gipfel seiner Wünsche sehen, wenn er durch irgendein edles Wort oder eine gute Tat einen so allgemeinen Eindruck hervorbrächte? Welche köstliche Empfindung müßte es sein, wenn man gute, edle, der Menschheit würdige Gefühle ebenso schnell durch einen elektrischen Schlag ausbreiten, ein solches Entzücken unter dem Volke erregen könnte, als diese Leute durch ihre körperliche Geschicklichkeit getan haben; wenn man der Menge das Mitgefühl alles Menschlichen geben, wenn man sie mit der Vorstellung des Glücks und Unglücks, der Weisheit und Torheit, ja des Unsinns und der Albernheit entzünden, erschüttern und ihr stockendes Innere in freie, lebhafte und reine Bewegung setzen könnte!« So sprach unser Freund, und da weder Philine noch Laertes gestimmt schienen, einen solchen Diskurs fortzusetzen, unterhielt er sich allein mit diesen Lieblingsbetrachtungen, als er bis spät in die Nacht um die Stadt spazierte und seinen alten Wunsch, das Gute, Edle, Große durch das Schauspiel zu versinnlichen, wieder einmal mit aller Lebhaftigkeit und aller Freiheit einer losgebundenen Einbildungskraft verfolgte.

Fünftes Kapitel

Des andern Tages, als die Seiltänzer mit großem Geräusch abgezogen waren, fand sich Mignon sogleich wieder ein und trat hinzu, als Wilhelm und Laertes ihre Fechtübungen auf dem Saale fortsetzten. »Wo hast du gesteckt?« fragte Wilhelm freundlich, »du hast uns viel Sorge gemacht.« Das Kind antwortete nichts und sah ihn an. »Du bist nun unser«, rief Laertes, »wir haben dich gekauft.« – »Was hast du bezahlt?« fragte das Kind ganz trocken. »Hundert Dukaten«, versetzte Laertes; »wenn du sie wiedergibst, kannst du frei sein.« – »Das ist wohl viel?« fragte das Kind. – »O ja, du magst dich nur gut aufführen.« – »Ich will dienen«, versetzte sie.

Von dem Augenblicke an merkte sie genau, was der Kellner den beiden Freunden für Dienste zu leisten hatte, und litt schon des andern Tages nicht mehr, daß er ins Zimmer kam. Sie wollte alles selbst tun und machte auch ihre Geschäfte, zwar langsam und mitunter unbehülflich, doch genau und mit großer Sorgfalt.

Sie stellte sich oft an ein Gefäß mit Wasser und wusch ihr Gesicht mit so großer Emsigkeit und Heftigkeit, daß sie sich fast die Backen aufrieb, bis Laertes durch Fragen und Necken erfuhr, daß sie die Schminke von ihren Wangen auf alle Weise loszuwerden suche und über dem Eifer, womit sie es tat, die Röte, die sie durchs Reiben hervorgebracht hatte, für die hartnäckigste Schminke halte. Man bedeutete sie, und sie ließ ab, und nachdem sie wieder zur Ruhe gekommen war, zeigte sich eine schöne braune, obgleich nur von wenigem Rot erhöhte Gesichtsfarbe.

Durch die frevelhaften Reize Philinens, durch die geheimnisvolle Gegenwart des Kindes mehr, als er sich selbst gestehen durfte, unterhalten, brachte Wilhelm verschiedene Tage in dieser sonderbaren Gesellschaft zu und rechtfertigte sich bei sich selbst durch eine fleißige Übung in der Fecht- und Tanzkunst, wozu er so leicht nicht wieder Gelegenheit zu finden glaubte.

Nicht wenig verwundert und gewissermaßen erfreut war er, als er eines Tages Herrn und Frau Melina ankommen sah, welche gleich nach dem ersten frohen Gruße sich nach der Direktrice und den übrigen Schauspielern erkundigten und mit großem Schrecken vernahmen, daß jene sich schon lange entfernt habe und diese bis auf wenige zerstreut seien.

Das junge Paar hatte sich nach ihrer Verbindung, zu der, wie wir wissen, Wilhelm behülflich gewesen, an einigen Orten nach Engagement umgesehen, keines gefunden und war endlich in dieses Städtchen gewiesen worden, wo einige Personen, die ihnen unterwegs begegneten, ein gutes Theater gesehen haben wollten.

Philinen wollte Madame Melina, und Herr Melina dem lebhaften Laertes, als sie Bekanntschaft machten, keinesweges gefallen. Sie wünschten die neuen Ankömmlinge gleich wieder los zu sein, und Wilhelm konnte ihnen keine günstigen Gesinnungen beibringen, ob er ihnen gleich wiederholt versicherte, daß es recht gute Leute seien.

Eigentlich war auch das bisherige lustige Leben unsrer drei Abenteurer durch die Erweiterung der Gesellschaft auf mehr als eine Weise gestört; denn Melina fing im Wirtshause (er hatte in ebendemselben, in welchem Philine wohnte, Platz gefunden) gleich zu markten und zu quengeln an. Er wollte für weniges Geld besseres Quartier, reichlichere Mahlzeit und promptere Bedienung haben. In kurzer Zeit machten Wirt und Kellner verdrießliche Gesichter, und wenn die andern, um froh zu leben, sich alles gefallen ließen und nur geschwind bezahlten, um nicht länger an das zu denken, was schon verzehrt war, so mußte die Mahlzeit, die Melina regelmäßig sogleich berichtigte, jederzeit von vorn wieder durchgenommen werden, so daß Philine ihn ohne Umstände ein wiederkäuendes Tier nannte.

Noch verhaßter war Madame Melina dem lustigen Mädchen. Diese junge Frau war nicht ohne Bildung, doch fehlte es ihr gänzlich an Geist und Seele. Sie deklamierte nicht übel und wollte immer deklamieren; allein man merkte bald, daß es nur eine Wortdeklamation war, die auf einzelnen Stellen lastete und die Empfindung des Ganzen nicht ausdruckte. Bei diesem allen war sie nicht leicht jemanden, besonders Männern, unangenehm. Vielmehr schrieben ihr diejenigen, die mit ihr umgingen, gewöhnlich einen schönen Verstand zu: denn sie war, was ich mit einem Worte eine Anempfinderin nennen möchte; sie wußte einem Freunde, um dessen Achtung ihr zu tun war, mit einer besondern Aufmerksamkeit zu schmeicheln, in seine Ideen so lange als möglich einzugehen, sobald sie aber ganz über ihren Horizont waren, mit Ekstase eine solche neue Erscheinung aufzunehmen. Sie verstand zu sprechen und zu schweigen und, ob sie gleich kein tückisches Gemüt hatte, mit großer Vorsicht aufzupassen, wo des andern schwache Seite sein möchte.

Sechstes Kapitel

Melina hatte sich indessen nach den Trümmern der vorigen Direktion genau erkundigt. Sowohl Dekorationen als Garderobe waren an einige Handelsleute versetzt, und ein Notarius hatte den Auftrag von der Direktrice erhalten, unter gewissen Bedingungen, wenn sich Liebhaber fänden, in den Verkauf aus freier Hand zu willigen. Melina wollte die Sachen besehen und zog Wilhelmen mit sich. Dieser empfand, als man ihnen die Zimmer eröffnete, eine gewisse Neigung dazu, die er sich jedoch selbst nicht gestand. In so einem schlechten Zustande auch die geklecksten Dekorationen waren, so wenig scheinbar auch türkische und heidnische Kleider, alte Karikaturröcke für Männer und Frauen, Kutten für Zauberer, Juden und Pfaffen sein mochten, so konnt er sich doch der Empfindung nicht erwehren, daß er die glücklichsten Augenblicke seines Lebens in der Nähe eines ähnlichen Trödelkrams gefunden hatte. Hätte Melina in sein Herz sehen können, so würde er ihm eifriger zugesetzt haben, eine Summe Geldes auf die Befreiung, Aufstellung und neue Belebung dieser zerstreuten Glieder zu einem schönen Ganzen herzugeben. »Welch ein glücklicher Mensch«, rief Melina aus, »könnte ich sein, wenn ich nur zweihundert Taler besäße, um zum Anfange den Besitz dieser ersten theatralischen Bedürfnisse zu erlangen. Wie bald wollt ich ein kleines Schauspiel beisammen haben, das uns in dieser Stadt, in dieser Gegend gewiß sogleich ernähren sollte.« Wilhelm schwieg, und beide verließen nachdenklich die wieder eingesperrten Schätze.

Melina hatte von dieser Zeit an keinen andern Diskurs als Projekte und Vorschläge, wie man ein Theater einrichten und dabei seinen Vorteil finden könnte. Er suchte Philinen und Laertes zu interessieren, und man tat Wilhelmen Vorschläge, Geld herzuschießen und Sicherheit dagegen anzunehmen. Diesem fiel aber erst bei dieser Gelegenheit recht auf, daß er hier so lange nicht hätte verweilen sollen; er entschuldigte sich und wollte Anstalten machen, seine Reise fortzusetzen.

Indessen war ihm Mignons Gestalt und Wesen immer reizender geworden. In alle seinem Tun und Lassen hatte das Kind etwas Sonderbares. Es ging die Treppe weder auf noch ab, sondern sprang; es stieg auf den Geländern der Gänge weg, und eh man sich’s versah, saß es oben auf dem Schranke und blieb eine Weile ruhig. Auch hatte Wilhelm bemerkt, daß es für jeden eine besondere Art von Gruß hatte. Ihn grüßte sie seit einiger Zeit mit über die Brust geschlagenen Armen. Manche Tage war sie ganz stumm, zuzeiten antwortete sie mehr auf verschiedene Fragen, immer sonderbar, doch so, daß man nicht unterscheiden konnte, ob es Witz oder Unkenntnis der Sprache war, indem sie ein gebrochnes, mit Französisch und Italienisch durchflochtenes Deutsch sprach. In seinem Dienste war das Kind unermüdet und früh mit der Sonne auf; es verlor sich dagegen abends zeitig, schlief in einer Kammer auf der nackten Erde und war durch nichts zu bewegen, ein Bette oder einen Strohsack anzunehmen. Er fand sie oft, daß sie sich wusch. Auch ihre Kleider waren reinlich, obgleich alles fast doppelt und dreifach an ihr geflickt war. Man sagte Wilhelmen auch, daß sie alle Morgen ganz früh in die Messe gehe, wohin er ihr einmal folgte und sie in der Ecke der Kirche mit dem Rosenkranze knien und andächtig beten sah. Sie bemerkte ihn nicht, er ging nach Hause, machte sich vielerlei Gedanken über diese Gestalt und konnte sich bei ihr nichts Bestimmtes denken.

Neues Andringen Melinas um eine Summe Geldes zur Auslösung der mehr erwähnten Theatergerätschaften bestimmte Wilhelmen noch mehr, an seine Abreise zu denken. Er wollte den Seinigen, die lange nichts von ihm gehört hatten, noch mit dem heutigen Posttage schreiben; er fing auch wirklich einen Brief an Wernern an und war mit Erzählung seiner Abenteuer, wobei er, ohne es selbst zu bemerken, sich mehrmal von der Wahrheit entfernt hatte, schon ziemlich weit gekommen, als er zu seinem Verdruß auf der hintern Seite des Briefblatts schon einige Verse geschrieben fand, die er für Madame Melina aus seiner Schreibtafel zu kopieren angefangen hatte. Unwillig zerriß er das Blatt und verschob die Wiederholung seines Bekenntnisses auf den nächsten Posttag.

Siebentes Kapitel

Unsre Gesellschaft befand sich abermals beisammen, und Philine, die auf jedes Pferd, das vorbeikam, auf jeden Wagen, der anfuhr, äußerst aufmerksam war, rief mit großer Lebhaftigkeit: »Unser Pedant! Da kommt unser allerliebster Pedant! Wen mag er bei sich haben?« Sie rief und winkte zum Fenster hinaus, und der Wagen hielt stille.

Ein kümmerlich armer Teufel, den man an seinem verschabten, graulich-braunen Rocke und an seinen übelkonditionierten Unterkleidern für einen Magister, wie sie auf Akademien zu vermodern pflegen, hätte halten sollen, stieg aus dem Wagen und entblößte, indem er, Philinen zu grüßen, den Hut abtat, eine übelgepuderte, aber übrigens sehr steife Perücke, und Philine warf ihm hundert Kußhände zu.

So wie sie ihre Glückseligkeit fand, einen Teil der Männer zu lieben und ihre Liebe zu genießen, so war das Vergnügen nicht viel geringer, das sie sich sooft als möglich gab, die übrigen, die sie eben in diesem Augenblicke nicht liebte, auf eine sehr leichtfertige Weise zum besten zu haben.

Über den Lärm, womit sie diesen alten Freund empfing, vergaß man, auf die übrigen zu achten, die ihm nachfolgten. Doch glaubte Wilhelm die zwei Frauenzimmer und einen ältlichen Mann, der mit ihnen hereintrat, zu kennen. Auch entdeckte sich’s bald, daß er sie alle drei vor einigen Jahren bei der Gesellschaft, die in seiner Vaterstadt spielte, mehrmals gesehen hatte. Die Töchter waren seit der Zeit herangewachsen; der Alte aber hatte sich wenig verändert. Dieser spielte gewöhnlich die gutmütigen, polternden Alten, wovon das deutsche Theater nicht leer wird und die man auch im gemeinen Leben nicht selten antrifft. Denn da es der Charakter unsrer Landsleute ist, das Gute ohne viel Prunk zu tun und zu leisten, so denken sie selten daran, daß es auch eine Art gebe, das Rechte mit Zierlichkeit und Anmut zu tun, und verfallen vielmehr, von einem Geiste des Widerspruchs getrieben, leicht in den Fehler, durch ein mürrisches Wesen ihre liebste Tugend im Kontraste darzustellen.

Solche Rollen spielte unser Schauspieler sehr gut, und er spielte sie so oft und ausschließlich, daß er darüber eine ähnliche Art sich zu betragen im gemeinen Leben angenommen hatte.

Wilhelm geriet in große Bewegung, sobald er ihn erkannte; denn er erinnerte sich, wie oft er diesen Mann neben seiner geliebten Mariane auf dem Theater gesehen hatte; er hörte ihn noch schelten, er hörte ihre schmeichelnde Stimme, mit der sie seinem rauhen Wesen in manchen Rollen zu begegnen hatte.

Die erste lebhafte Frage an die neuen Ankömmlinge, ob ein Unterkommen auswärts zu finden und zu hoffen sei, ward leider mit Nein beantwortet, und man mußte vernehmen, daß die Gesellschaften, bei denen man sich erkundigt, besetzt und einige davon sogar in Sorgen seien, wegen des bevorstehenden Krieges auseinandergehen zu müssen. Der polternde Alte hatte mit seinen Töchtern aus Verdruß und Liebe zur Abwechselung ein vorteilhaftes Engagement aufgegeben, hatte mit dem Pedanten, den er unterwegs antraf, einen Wagen gemietet, um hieherzukommen, wo denn auch, wie sie fanden, guter Rat teuer war.

Die Zeit, in welcher sich die übrigen über ihre Angelegenheiten sehr lebhaft unterhielten, brachte Wilhelm nachdenklich zu. Er wünschte den Alten allein zu sprechen, wünschte und fürchtete, von Marianen zu hören, und befand sich in der größten Unruhe.

Die Artigkeiten der neuangekommenen Frauenzimmer konnten ihn nicht aus seinem Traume reißen; aber ein Wortwechsel, der sich erhub, machte ihn aufmerksam. Es war Friedrich, der blonde Knabe, der Philinen aufzuwarten pflegte, sich aber diesmal lebhaft widersetzte, als er den Tisch decken und Essen herbeischaffen sollte. »Ich habe mich verpflichtet«, rief er aus, »Ihnen zu dienen, aber nicht, allen Menschen aufzuwarten.« Sie gerieten darüber in einen heftigen Streit. Philine bestand darauf, er habe seine Schuldigkeit zu tun, und als er sich hartnäckig widersetzte, sagte sie ihm ohne Umstände, er könnte gehn, wohin er wolle.

»Glauben Sie etwa, daß ich mich nicht von Ihnen entfernen könne?« rief er aus, ging trotzig weg, machte seinen Bündel zusammen und eilte sogleich zum Hause hinaus. »Geh, Mignon«, sagte Philine, »und schaff uns, was wir brauchen; sag es dem Kellner, und hilf aufwarten!«

Mignon trat vor Wilhelm hin und fragte in ihrer lakonischen Art: »Soll ich? darf ich?« Und Wilhelm versetzte: »Tu, mein Kind, was Mademoiselle dir sagt.«

Das Kind besorgte alles und wartete den ganzen Abend mit großer Sorgfalt den Gästen auf. Nach Tische suchte Wilhelm mit dem Alten einen Spaziergang allein zu machen: es gelang ihm, und nach mancherlei Fragen, wie es ihm bisher gegangen, wendete sich das Gespräch auf die ehemalige Gesellschaft, und Wilhelm wagte zuletzt, nach Marianen zu fragen.

»Sagen Sie mir nichts von dem abscheulichen Geschöpf!« rief der Alte, »ich habe verschworen, nicht mehr an sie zu denken.« Wilhelm erschrak über diese Äußerung, war aber noch in größerer Verlegenheit, als der Alte fortfuhr, auf ihre Leichtfertigkeit und Liederlichkeit zu schmälen. Wie gern hätte unser Freund das Gespräch abgebrochen; allein er mußte nun einmal die polternden Ergießungen des wunderlichen Mannes aushalten.

»Ich schäme mich«, fuhr dieser fort, »daß ich ihr so geneigt war. Doch hätten Sie das Mädchen näher gekannt, Sie würden mich gewiß entschuldigen. Sie war so artig, natürlich und gut, so gefällig und in jedem Sinne leidlich. Nie hätt ich mir vorgestellt, daß Frechheit und Undank die Hauptzüge ihres Charakters sein sollten.«

Schon hatte sich Wilhelm gefaßt gemacht, das Schlimmste von ihr zu hören, als er auf einmal mit Verwunderung bemerkte, daß der Ton des Alten milder wurde, seine Rede endlich stockte und er ein Schnupftuch aus der Tasche nahm, um die Tränen zu trocknen, die zuletzt seine Rede unterbrachen.

»Was ist Ihnen?« rief Wilhelm aus. »Was gibt Ihren Empfindungen auf einmal eine so entgegengesetzte Richtung? Verbergen Sie mir es nicht; ich nehme an dem Schicksale dieses Mädchens mehr Anteil, als Sie glauben; nur lassen Sie mich alles wissen.«

»Ich habe wenig zu sagen«, versetzte der Alte, indem er wieder in seinen ernstlichen, verdrießlichen Ton überging, »ich werde es ihr nie vergeben, was ich um sie geduldet habe. Sie hatte«, fuhr er fort, »immer ein gewisses Zutrauen zu mir; ich liebte sie wie meine Tochter und hatte, da meine Frau noch lebte, den Entschluß gefaßt, sie zu mir zu nehmen und sie aus den Händen der Alten zu retten, von deren Anleitung ich mir nicht viel Gutes versprach. Meine Frau starb, das Projekt zerschlug sich.

Gegen das Ende des Aufenthalts in Ihrer Vaterstadt, es sind nicht gar drei Jahre, merkte ich ihr eine sichtbare Traurigkeit an; ich fragte sie, aber sie wich aus. Endlich machten wir uns auf die Reise. Sie fuhr mit mir in einem Wagen, und ich bemerkte, was sie mir auch bald gestand, daß sie guter Hoffnung sei und in der größten Furcht schwebe, von unserm Direktor verstoßen zu werden. Auch dauerte es nur kurze Zeit, so machte er die Entdeckung, kündigte ihr den Kontrakt, der ohnedies nur auf sechs Wochen stand, sogleich auf, zahlte, was sie zu fordern hatte, und ließ sie, aller Vorstellungen ungeachtet, in einem kleinen Städtchen, in einem schlechten Wirtshause zurück.

»Der Henker hole alle liederlichen Dirnen!« rief der Alte mit Verdruß, »und besonders diese, die mir so manche Stunde meines Lebens verdorben hat. Was soll ich lange erzählen, wie ich mich ihrer angenommen, was ich für sie getan, was ich an sie gehängt, wie ich auch in der Abwesenheit für sie gesorgt habe. Ich wollte lieber mein Geld in den Teich werfen und meine Zeit hinbringen, räudige Hunde zu erziehen, als nur jemals wieder auf so ein Geschöpf die mindeste Aufmerksamkeit wenden. Was war’s? Im Anfang erhielt ich Danksagungsbriefe, Nachricht von einigen Orten ihres Aufenthalts, und zuletzt kein Wort mehr, nicht einmal Dank für das Geld, das ich ihr zu ihren Wochen geschickt hatte. O die Verstellung und der Leichtsinn der Weiber ist so recht zusammengepaart, um ihnen ein bequemes Leben und einem ehrlichen Kerl manche verdrießliche Stunde zu schaffen!«

Achtes Kapitel

Man denke sich Wilhelms Zustand, als er von dieser Unterredung nach Hause kam. Alle seine alten Wunden waren wieder aufgerissen und das Gefühl, daß sie seiner Liebe nicht ganz unwürdig gewesen, wieder lebhaft geworden; denn in dem Interesse des Alten, in dem Lobe, das er ihr wider Willen geben mußte, war unserm Freunde ihre ganze Liebenswürdigkeit wieder erschienen; ja selbst die heftige Anklage des leidenschaftlichen Mannes enthielt nichts, was sie vor Wilhelms Augen hätte herabsetzen können. Denn dieser bekannte sich selbst als Mitschuldigen ihrer Vergehungen, und ihr Schweigen zuletzt schien ihm nicht tadelhaft; er machte sich vielmehr nur traurige Gedanken darüber, sah sie als Wöchnerin, als Mutter in der Welt ohne Hülfe herumirren, wahrscheinlich mit seinem eigenen Kinde herumirren; Vorstellungen, welche das schmerzlichste Gefühl in ihm erregten.

Mignon hatte auf ihn gewartet und leuchtete ihm die Treppe hinauf. Als sie das Licht niedergesetzt hatte, bat sie ihn zu erlauben, daß sie ihm heute abend mit einem Kunststücke aufwarten dürfe. Er hätte es lieber verbeten, besonders da er nicht wußte, was es werden sollte. Allein er konnte diesem guten Geschöpfe nichts abschlagen. Nach einer kurzen Zeit trat sie wieder herein. Sie trug einen Teppich unter dem Arme, den sie auf der Erde ausbreitete. Wilhelm ließ sie gewähren. Sie brachte darauf vier Lichter, stellte eins auf jeden Zipfel des Teppichs. Ein Körbchen mit Eiern, das sie darauf holte, machte die Absicht deutlicher. Künstlich abgemessen schritt sie nunmehr auf dem Teppich hin und her und legte in gewissen Maßen die Eier auseinander, dann rief sie einen Menschen herein, der im Hause aufwartete und die Violine spielte. Er trat mit seinem Instrumente in die Ecke; sie verband sich die Augen, gab das Zeichen und fing zugleich mit der Musik, wie ein aufgezogenes Räderwerk, ihre Bewegungen an, indem sie Takt und Melodie mit dem Schlage der Kastagnetten begleitete.

Behende, leicht, rasch, genau führte sie den Tanz. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern nieder, daß man jeden Augenblick dachte, sie müsse eins zertreten oder bei schnellen Wendungen das andre fortschleudern. Mitnichten! Sie berührte keines, ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten, ja sogar mit Sprüngen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen durchwand.

Unaufhaltsam wie ein Uhrwerk lief sie ihren Weg, und die sonderbare Musik gab dem immer wieder von vorne anfangenden und losrauschenden Tanze bei jeder Wiederholung einen neuen Stoß. Wilhelm war von dem sonderbaren Schauspiele ganz hingerissen; er vergaß seiner Sorgen, folgte jeder Bewegung der geliebten Kreatur und war verwundert, wie in diesem Tanze sich ihr Charakter vorzüglich entwickelte.

Streng, scharf, trocken, heftig und in sanften Stellungen mehr feierlich als angenehm zeigte sie sich. Er empfand, was er schon für Mignon gefühlt, in diesem Augenblicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindes Statt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken.

Der Tanz ging zu Ende; sie rollte die Eier mit den Füßen sachte zusammen auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beschädigte keines und stellte sich dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr Kunststück mit einem Bücklinge endigte.

Wilhelm dankte ihr, daß sie ihm den Tanz, den er zu sehen gewünscht, so artig und unvermutet vorgetragen habe. Er streichelte sie und bedauerte, daß sie sich’s habe so sauer werden lassen. Er versprach ihr ein neues Kleid, worauf sie heftig antwortete: »Deine Farbe!« Auch das versprach er ihr, ob er gleich nicht deutlich wußte, was sie darunter meine. Sie nahm die Eier zusammen, den Teppich unter den Arm, fragte, ob er noch etwas zu befehlen habe, und schwang sich zur Türe hinaus.

Von dem Musikus erfuhr er, daß sie sich seit einiger Zeit viele Mühe gegeben, ihm den Tanz, welches der bekannte Fandango war, so lange vorzusingen, bis er ihn habe spielen können. Auch habe sie ihm für seine Bemühungen etwas Geld angeboten, das er aber nicht nehmen wollen.

Neuntes Kapitel

Nach einer unruhigen Nacht, die unser Freund teils wachend, teils von schweren Träumen geängstigt zubrachte, in denen er Marianen bald in aller Schönheit, bald in kümmerlicher Gestalt, jetzt mit einem Kinde auf dem Arm, bald desselben beraubt sah, war der Morgen kaum angebrochen, als Mignon schon mit einem Schneider hereintrat. Sie brachte graues Tuch und blauen Taffet und erklärte nach ihrer Art, daß sie ein neues Westchen und Schifferhosen, wie sie solche an den Knaben in der Stadt gesehen, mit blauen Aufschlägen und Bändern haben wolle.

Wilhelm hatte seit dem Verlust Marianens alle muntern Farben abgelegt. Er hatte sich an das Grau, an die Kleidung der Schatten, gewöhnt, und nur etwa ein himmelblaues Futter oder ein kleiner Kragen von dieser Farbe belebte einigermaßen jene stille Kleidung. Mignon, begierig, seine Farbe zu tragen, trieb den Schneider, der in kurzem die Arbeit zu liefern versprach.

Die Tanz- und Fechtstunden, die unser Freund heute mit Laertes nahm, wollten nicht zum besten glücken. Auch wurden sie bald durch Melinas Ankunft unterbrochen, der umständlich zeigte, wie jetzt eine kleine Gesellschaft beisammen sei, mit welcher man schon Stücke genug aufführen könne. Er erneuerte seinen Antrag, daß Wilhelm einiges Geld zum Etablissement vorstrecken solle, wobei dieser abermals seine Unentschlossenheit zeigte.

Philine und die Mädchen kamen bald hierauf mit Lachen und Lärmen herein. Sie hatten sich abermals eine Spazierfahrt ausgedacht: denn Veränderung des Orts und der Gegenstände war eine Lust, nach der sie sich immer sehnten. Täglich an einem andern Orte zu essen war ihr höchster Wunsch. Diesmal sollte es eine Wasserfahrt werden.

Das Schiff, womit sie die Krümmungen des angenehmen Flusses hinunterfahren wollten, war schon durch den Pedanten bestellt. Philine trieb, die Gesellschaft zauderte nicht und war bald eingeschifft.

»Was fangen wir nun an?« sagte Philine, indem sich alle auf die Bänke niedergelassen hatten.

»Das kürzeste wäre«, versetzte Laertes, »wir extemporierten ein Stück. Nehme jeder eine Rolle, die seinem Charakter am angemessensten ist, und wir wollen sehen, wie es uns gelingt.«

»Fürtrefflich!« sagte Wilhelm, »denn in einer Gesellschaft, in der man sich nicht verstellt, in welcher jedes nur seinem Sinne folgt, kann Anmut und Zufriedenheit nicht lange wohnen, und wo man sich immer verstellt, dahin kommen sie gar nicht. Es ist also nicht übel getan, wir geben uns die Verstellung gleich von Anfang zu und sind nachher unter der Maske so aufrichtig, als wir wollen.«

»Ja«, sagte Laertes, »deswegen geht sich’s so angenehm mit Weibern um, die sich niemals in ihrer natürlichen Gestalt sehen lassen.«

»Das macht«, versetzte Madame Melina, »daß sie nicht so eitel sind wie die Männer, welche sich einbilden, sie seien schon immer liebenswürdig genug, wie sie die Natur hervorgebracht hat.«

Indessen war man zwischen angenehmen Büschen und Hügeln, zwischen Gärten und Weinbergen hingefahren, und die jungen Frauenzimmer, besonders aber Madame Melina, drückten ihr Entzücken über die Gegend aus. Letztre fing sogar an, ein artiges Gedicht von der beschreibenden Gattung über eine ähnliche Naturszene feierlich herzusagen; allein Philine unterbrach sie und schlug ein Gesetz vor, daß sich niemand unterfangen solle, von einem unbelebten Gegenstande zu sprechen; sie setzte vielmehr den Vorschlag zur extemporierten Komödie mit Eifer durch. Der polternde Alte sollte einen pensionierten Offizier, Laertes einen vazierenden Fechtmeister, der Pedant einen Juden vorstellen, sie selbst wolle eine Tirolerin machen und überließ den übrigen, sich ihre Rollen zu wählen. Man sollte fingieren, als ob sie eine Gesellschaft weltfremder Menschen seien, die soeben auf einem Marktschiffe zusammenkomme.

Sie fing sogleich mit dem Juden ihre Rolle zu spielen an, und eine allgemeine Heiterkeit verbreitete sich.

Man war nicht lange gefahren, als der Schiffer stillehielt, um mit Erlaubnis der Gesellschaft noch jemand einzunehmen, der am Ufer stand und gewinkt hatte.

»Das ist eben noch, was wir brauchten«, rief Philine, »ein blinder Passagier fehlte noch der Reisegesellschaft.«

Ein wohlgebildeter Mann stieg in das Schiff, den man an seiner Kleidung und seiner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geistlichen hätte nehmen können. Er begrüßte die Gesellschaft, die ihm nach ihrer Weise dankte und ihn bald mit ihrem Scherz bekannt machte. Er nahm darauf die Rolle eines Landgeistlichen an, die er zur Verwunderung aller auf das artigste durchsetzte, indem er bald ermahnte, bald Histörchen erzählte, einige schwache Seiten blicken ließ und sich doch im Respekt zu erhalten wußte.

Indessen hatte jeder, der nur ein einziges Mal aus seinem Charakter herausgegangen war, ein Pfand geben müssen. Philine hatte sie mit großer Sorgfalt gesammelt und besonders den geistlichen Herrn mit vielen Küssen bei der künftigen Einlösung bedroht, ob er gleich selbst nie in Strafe genommen ward. Melina dagegen war völlig ausgeplündert, Hemdenknöpfe und Schnallen und alles, was Bewegliches an seinem Leibe war, hatte Philine zu sich genommen; denn er wollte einen reisenden Engländer vorstellen und konnte auf keine Weise in seine Rolle hineinkommen.

Die Zeit war indes auf das angenehmste vergangen, jedes hatte seine Einbildungskraft und seinen Witz aufs möglichste angestrengt und jedes seine Rolle mit angenehmen und unterhaltenden Scherzen ausstaffiert. So kam man an dem Ort an, wo man sich den Tag über aufhalten wollte, und Wilhelm geriet mit dem Geistlichen, wie wir ihn seinem Aussehn und seiner Rolle nach nennen wollen, auf dem Spaziergange bald in ein interessantes Gespräch.

»Ich finde diese Übung«, sagte der Unbekannte, »unter Schauspielern, ja in Gesellschaft von Freunden und Bekannten sehr nützlich. Es ist die beste Art, die Menschen aus sich heraus- und durch einen Umweg wieder in sich hineinzuführen. Es sollte bei jeder Truppe eingeführt sein, daß sie sich manchmal auf diese Weise üben müßte, und das Publikum würde gewiß dabei gewinnen, wenn alle Monate ein nicht geschriebenes Stück aufgeführt würde, worauf sich freilich die Schauspieler in mehrern Proben müßten vorbereitet haben.«

»Man dürfte sich«, versetzte Wilhelm, »ein extemporiertes Stück nicht als ein solches denken, das aus dem Stegreife sogleich komponiert würde, sondern als ein solches, wovon zwar Plan, Handlung und Szeneneinteilung gegeben wären, dessen Ausführung aber dem Schauspieler überlassen bliebe.«

»Ganz richtig«, sagte der Unbekannte, »und eben was diese Ausführung betrifft, würde ein solches Stück, sobald die Schauspieler nur einmal im Gang wären, außerordentlich gewinnen. Nicht die Ausführung durch Worte, denn durch diese muß freilich der überlegende Schriftsteller seine Arbeit zieren, sondern die Ausführung durch Gebärden und Mienen, Ausrufungen und was dazu gehört, kurz, das stumme, halblaute Spiel, welches nach und nach bei uns ganz verlorenzugehen scheint. Es sind wohl Schauspieler in Deutschland, deren Körper das zeigt, was sie denken und fühlen, die durch Schweigen, Zaudern, durch Winke, durch zarte, anmutige Bewegungen des Körpers eine Rede vorzubereiten und die Pausen des Gesprächs durch eine gefällige Pantomime mit dem Ganzen zu verbinden wissen; aber eine Übung, die einem glücklichen Naturell zu Hülfe käme und es lehrte, mit dem Schriftsteller zu wetteifern, ist nicht so im Gange, als es zum Troste derer, die das Theater besuchen, wohl zu wünschen wäre.«

»Sollte aber nicht«, versetzte Wilhelm, »ein glückliches Naturell, als das Erste und Letzte, einen Schauspieler wie jeden andern Künstler, ja vielleicht wie jeden Menschen, allein zu einem so hochaufgesteckten Ziele bringen?«

»Das Erste und Letzte, Anfang und Ende möchte es wohl sein und bleiben; aber in der Mitte dürfte dem Künstler manches fehlen, wenn nicht Bildung das erst aus ihm macht, was er sein soll, und zwar frühe Bildung; denn vielleicht ist derjenige, dem man Genie zuschreibt, übler daran als der, der nur gewöhnliche Fähigkeiten besitzt; denn jener kann leichter verbildet und viel heftiger auf falsche Wege gestoßen werden als dieser.«

»Aber«, versetzte Wilhelm, »wird das Genie sich nicht selbst retten, die Wunden, die es sich geschlagen, selbst heilen?«

»Mitnichten«, versetzte der andere, »oder wenigstens nur notdürftig; denn niemand glaube die ersten Eindrücke der Jugend überwinden zu können. Ist er in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und edlen Gegenständen, in dem Umgange mit guten Menschen aufgewachsen, haben ihn seine Meister das gelehrt, was er zuerst wissen mußte, um das übrige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu verlernen braucht, wurden seine ersten Handlungen so geleitet, daß er das Gute künftig leichter und bequemer vollbringen kann, ohne sich irgend etwas abgewöhnen zu müssen, so wird dieser Mensch ein reineres, vollkommneres und glücklicheres Leben führen als ein anderer, der seine ersten Jugendkräfte im Widerstand und im Irrtum zugesetzt hat. Es wird so viel von Erziehung gesprochen und geschrieben, und ich sehe nur wenig Menschen, die den einfachen, aber großen Begriff, der alles andere in sich schließt, fassen und in die Ausführung übertragen können.«

»Das mag wohl wahr sein«, sagte Wilhelm, »denn jeder Mensch ist beschränkt genug, den andern zu seinem Ebenbild erziehen zu wollen. Glücklich sind diejenigen daher, deren sich das Schicksal annimmt, das jeden nach seiner Weise erzieht!«

»Das Schicksal«, versetzte lächelnd der andere, »ist ein vornehmer, aber teurer Hofmeister. Ich würde mich immer lieber an die Vernunft eines menschlichen Meisters halten. Das Schicksal, für dessen Weisheit ich alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall, durch den es wirkt, ein sehr ungelenkes Organ haben. Denn selten scheint dieser genau und rein auszuführen, was jenes beschlossen hatte.«

»Sie scheinen einen sehr sonderbaren Gedanken auszusprechen«, versetzte Wilhelm.

»Mitnichten! Das meiste, was in der Welt begegnet, rechtfertigt meine Meinung. Zeigen viele Begebenheiten im Anfange nicht einen großen Sinn, und gehen die meisten nicht auf etwas Albernes hinaus?«

»Sie wollen scherzen.«

»Und ist es nicht«, fuhr der andere fort, »mit dem, was einzelnen Menschen begegnet, ebenso? Gesetzt, das Schicksal hätte einen zu einem guten Schauspieler bestimmt (und warum sollt es uns nicht auch mit guten Schauspielern versorgen?), unglücklicherweise führte der Zufall aber den jungen Mann in ein Puppenspiel, wo er sich früh nicht enthalten könnte, an etwas Abgeschmacktem teilzunehmen, etwas Albernes leidlich, wohl gar interessant zu finden und so die jugendlichen Eindrücke, welche nie verlöschen, denen wir eine gewisse Anhänglichkeit nie entziehen können, von einer falschen Seite zu empfangen.«

»Wie kommen Sie aufs Puppenspiel?« fiel ihm Wilhelm mit einiger Bestürzung ein.

»Es war nur ein willkürliches Beispiel; wenn es Ihnen nicht gefällt, so nehmen wir ein andres. Gesetzt, das Schicksal hätte einen zu einem großen Maler bestimmt, und dem Zufall beliebte es, seine Jugend in schmutzige Hütten, Ställe und Scheunen zu verstoßen, glauben Sie, daß ein solcher Mann sich jemals zur Reinlichkeit, zum Adel, zur Freiheit der Seele erheben werde? Mit je lebhafterm Sinn er das Unreine in seiner Jugend angefaßt und nach seiner Art veredelt hat, desto gewaltsamer wird es sich in der Folge seines Lebens an ihm rächen, indem es sich, inzwischen daß er es zu überwinden suchte, mit ihm aufs innigste verbunden hat. Wer früh in schlechter, unbedeutender Gesellschaft gelebt hat, wird sich, wenn er auch später eine bessere haben kann, immer nach jener zurücksehnen, deren Eindruck ihm zugleich mit der Erinnerung jugendlicher, nur selten zu wiederholender Freuden geblieben ist.«

Man kann denken, daß unter diesem Gespräch sich nach und nach die übrige Gesellschaft entfernt hatte. Besonders war Philine gleich vom Anfang auf die Seite getreten. Man kam durch einen Seitenweg zu ihnen zurück. Philine brachte die Pfänder hervor, welche auf allerlei Weise gelöst werden mußten, wobei der Fremde sich durch die artigsten Erfindungen und durch eine ungezwungene Teilnahme der ganzen Gesellschaft und besonders den Frauenzimmern sehr empfahl, und so flossen die Stunden des Tages unter Scherzen, Singen, Küssen und allerlei Neckereien auf das angenehmste vorbei.

Zehntes Kapitel

Als sie sich wieder nach Hause begeben wollten, sahen sie sich nach ihrem Geistlichen um; allein er war verschwunden und an keinem Orte zu finden.

»Es ist nicht artig von dem Manne, der sonst viel Lebensart zu haben scheint«, sagte Madame Melina, »eine Gesellschaft, die ihn so freundlich aufgenommen, ohne Abschied zu verlassen.«

»Ich habe mich die ganze Zeit her schon besonnen«, sagte Laertes, »wo ich diesen sonderbaren Mann schon ehemals möchte gesehen haben. Ich war eben im Begriff, ihn beim Abschiede darüber zu befragen.«

»Mir ging es ebenso«, versetzte Wilhelm, »und ich hätte ihn gewiß nicht entlassen, bis er uns etwas Näheres von seinen Umständen entdeckt hätte. Ich müßte mich sehr irren, wenn ich ihn nicht schon irgendwo gesprochen hätte.«

»Und doch könntet ihr euch«, sagte Philine, »darin wirklich irren. Dieser Mann hat eigentlich nur das falsche Ansehen eines Bekannten, weil er aussieht wie ein Mensch und nicht wie Hans oder Kunz.«

»Was soll das heißen«, sagte Laertes, »sehen wir nicht auch aus wie Menschen?«

»Ich weiß, was ich sage«, versetzte Philine, »und wenn ihr mich nicht begreift, so laßt’s gut sein. Ich werde nicht am Ende noch gar meine Worte auslegen sollen.«

Zwei Kutschen fuhren vor. Man lobte die Sorgfalt des Laertes, der sie bestellt hatte. Philine nahm neben Madame Melina, Wilhelmen gegenüber, Platz, und die übrigen richteten sich ein, so gut sie konnten. Laertes selbst ritt auf Wilhelms Pferde, das auch mit herausgekommen war, nach der Stadt zurück.

Philine saß kaum in dem Wagen, als sie artige Lieder zu singen und das Gespräch auf Geschichten zu lenken wußte, von denen sie behauptete, daß sie mit Glück dramatisch behandelt werden könnten. Durch diese kluge Wendung hatte sie gar bald ihren jungen Freund in seine beste Laune gesetzt, und er komponierte aus dem Reichtum seines lebendigen Bildervorrats sogleich ein ganzes Schauspiel mit allen seinen Akten, Szenen, Charakteren und Verwicklungen. Man fand für gut, einige Arien und Gesänge einzuflechten; man dichtete sie, und Philine, die in alles einging, paßte ihnen gleich bekannte Melodien an und sang sie aus dem Stegreife.

Sie hatte eben heute ihren schönen, sehr schönen Tag; sie wußte mit allerlei Neckereien unsern Freund zu beleben; es ward ihm wohl, wie es ihm lange nicht gewesen war.

Seitdem ihn jene grausame Entdeckung von der Seite Marianens gerissen hatte, war er dem Gelübde treu geblieben, sich vor der zusammenschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten, das treulose Geschlecht zu meiden, seine Schmerzen, seine Neigung, seine süßen Wünsche in seinem Busen zu verschließen. Die Gewissenhaftigkeit, womit er dies Gelübde beobachtete, gab seinem ganzen Wesen eine geheime Nahrung, und da sein Herz nicht ohne Teilnehmung bleiben konnte, so ward eine liebevolle Mitteilung nun zum Bedürfnisse. Er ging wieder wie von dem ersten Jugendnebel begleitet umher, seine Augen faßten jeden reizenden Gegenstand mit Freuden auf, und nie war sein Urteil über eine liebenswürdige Gestalt schonender gewesen. Wie gefährlich ihm in einer solchen Lage das verwegene Mädchen werden mußte, läßt sich leider nur zu gut einsehen.

Zu Hause fanden sie auf Wilhelms Zimmer schon alles zum Empfange bereit, die Stühle zu einer Vorlesung zurechtegestellt und den Tisch in die Mitte gesetzt, auf welchem der Punschnapf seinen Platz nehmen sollte.

Die deutschen Ritterstücke waren damals eben neu und hatten die Aufmerksamkeit und Neigung des Publikums an sich gezogen. Der alte Polterer hatte eines dieser Art mitgebracht, und die Vorlesung war beschlossen worden. Man setzte sich nieder. Wilhelm bemächtigte sich des Exemplars und fing zu lesen an.

Die geharnischten Ritter, die alten Burgen, die Treuherzigkeit, Rechtlichkeit und Redlichkeit, besonders aber die Unabhängigkeit der handelnden Personen wurden mit großem Beifall aufgenommen. Der Vorleser tat sein möglichstes, und die Gesellschaft kam außer sich. Zwischen dem zweiten und dritten Akt kam der Punsch in einem großen Napfe, und da in dem Stücke selbst sehr viel getrunken und angestoßen wurde, so war nichts natürlicher, als daß die Gesellschaft bei jedem solchen Falle sich lebhaft an den Platz der Helden versetzte, gleichfalls anklingte und die Günstlinge unter den handelnden Personen hochleben ließ.

Jedermann war von dem Feuer des edelsten Nationalgeistes entzündet. Wie sehr gefiel es dieser deutschen Gesellschaft, sich ihrem Charakter gemäß auf eignem Grund und Boden poetisch zu ergötzen! Besonders taten die Gewölbe und Keller, die verfallenen Schlösser, das Moos und die hohlen Bäume, über alles aber die nächtlichen Zigeunerszenen und das heimliche Gericht eine ganz unglaubliche Wirkung. Jeder Schauspieler sah nun, wie er bald in Helm und Harnisch, jede Schauspielerin, wie sie mit einem großen stehenden Kragen ihre Deutschheit vor dem Publiko produzieren werde. Jeder wollte sich sogleich einen Namen aus dem Stücke oder aus der deutschen Geschichte zueignen, und Madame Melina beteuerte, Sohn oder Tochter, wozu sie Hoffnung hatte, nicht anders als Adelbert oder Mechtilde taufen zu lassen.

Gegen den fünften Akt ward der Beifall lärmender und lauter, ja zuletzt, als der Held wirklich seinem Unterdrücker entging und der Tyrann gestraft wurde, war das Entzücken so groß, daß man schwur, man habe nie so glückliche Stunden gehabt. Melina, den der Trank begeistert hatte, war der lauteste, und da der zweite Punschnapf geleert war und Mitternacht herannahte, schwur Laertes hoch und teuer, es sei kein Mensch würdig, an diese Gläser jemals wieder eine Lippe zu setzen, und warf mit dieser Beteurung sein Glas hinter sich und durch die Scheiben auf die Gasse hinaus. Die übrigen folgten seinem Beispiele, und ungeachtet der Protestationen des herbeieilenden Wirtes wurde der Punschnapf selbst, der nach einem solchen Feste durch unheiliges Getränk nicht wieder entweiht werden sollte, in tausend Stücke geschlagen. Philine, der man ihren Rausch am wenigsten ansah, indes die beiden Mädchen nicht in den anständigsten Stellungen auf dem Kanapee lagen, reizte die andern mit Schadenfreude zum Lärm. Madame Melina rezitierte einige erhabene Gedichte, und ihr Mann, der im Rausche nicht sehr liebenswürdig war, fing an, auf die schlechte Bereitung des Punsches zu schelten, versicherte, daß er ein Fest ganz anders einzurichten verstehe, und ward zuletzt, als Laertes Stillschweigen gebot, immer gröber und lauter, so daß dieser, ohne sich lange zu bedenken, ihm die Scherben des Napfs an den Kopf warf und dadurch den Lärm nicht wenig vermehrte.

Indessen war die Scharwache herbeigekommen und verlangte, ins Haus eingelassen zu werden. Wilhelm, vom Lesen sehr erhitzt, ob er gleich nur wenig getrunken, hatte genug zu tun, um mit Beihülfe des Wirts die Leute durch Geld und gute Worte zu befriedigen und die Glieder der Gesellschaft in ihren mißlichen Umständen nach Hause zu schaffen. Er warf sich, als er zurückkam, vom Schlafe überwältigt, voller Unmut unausgekleidet aufs Bette, und nichts glich der unangenehmen Empfindung, als er des andern Morgens die Augen aufschlug und mit düsterm Blick auf die Verwüstungen des vergangenen Tages, den Unrat und die bösen Wirkungen hinsah, die ein geistreiches, lebhaftes und wohlgemeintes Dichterwerk hervorgebracht hatte.

Eilftes Kapitel

Nach einem kurzen Bedenken rief er sogleich den Wirt herbei und ließ sowohl den Schaden als die Zeche auf seine Rechnung schreiben. Zugleich vernahm er nicht ohne Verdruß, daß sein Pferd von Laertes gestern bei dem Hereinreiten dergestalt angegriffen worden, daß es wahrscheinlich, wie man zu sagen pflegt, verschlagen habe und daß der Schmied wenig Hoffnung zu seinem Aufkommen gebe.

Ein Gruß von Philinen, den sie ihm aus ihrem Fenster zuwinkte, versetzte ihn dagegen wieder in einen heitern Zustand, und er ging sogleich in den nächsten Laden, um ihr ein kleines Geschenk, das er ihr gegen das Pudermesser noch schuldig war, zu kaufen, und wir müssen bekennen, er hielt sich nicht in den Grenzen eines proportionierten Gegengeschenks. Er kaufte ihr nicht allein ein Paar sehr niedliche Ohrringe, sondern nahm dazu noch einen Hut und Halstuch und einige andere Kleinigkeiten, die er sie den ersten Tag hatte verschwenderisch wegwerfen sehen.

Madame Melina, die ihn eben, als er seine Gaben überreichte, zu beobachten kam, suchte noch vor Tische eine Gelegenheit, ihn sehr ernstlich über die Empfindung für dieses Mädchen zur Rede zu setzen, und er war um so erstaunter, als er nichts weniger denn diese Vorwürfe zu verdienen glaubte. Er schwur hoch und teuer, daß es ihm keineswegs eingefallen sei, sich an diese Person, deren ganzen Wandel er wohl kenne, zu wenden; er entschuldigte sich, so gut er konnte, über sein freundliches und artiges Betragen gegen sie, befriedigte aber Madame Melina auf keine Weise, vielmehr ward diese immer verdrießlicher, da sie bemerken mußte, daß die Schmeichelei, wodurch sie sich eine Art von Neigung unsers Freundes erworben hatte, nicht hinreiche, diesen Besitz gegen die Angriffe einer lebhaften, jüngern und von der Natur glücklicher begabten Person zu verteidigen.

Ihren Mann fanden sie gleichfalls, da sie zu Tische kamen, bei sehr üblem Humor, und er fing schon an, ihn über Kleinigkeiten auszulassen, als der Wirt hereintrat und einen Harfenspieler anmeldete. »Sie werden«, sagte er, »gewiß Vergnügen an der Musik und an den Gesängen dieses Mannes finden; es kann sich niemand, der ihn hört, enthalten, ihn zu bewundern und ihm etwas weniges mitzuteilen.«

»Lassen Sie ihn weg«, versetzte Melina, »ich bin nichts weniger als gestimmt, einen Leiermann zu hören, und wir haben allenfalls Sänger unter uns, die gern etwas verdienten.« Er begleitete diese Worte mit einem tückischen Seitenblicke, den er auf Philinen warf. Sie verstand ihn und war gleich bereit, zu seinem Verdruß den angemeldeten Sänger zu beschützen. Sie wendete sich zu Wilhelmen und sagte: »Sollen wir den Mann nicht hören, sollen wir nichts tun, um uns aus der erbärmlichen Langenweile zu retten?«

Melina wollte ihr antworten, und der Streit wäre lebhafter geworden, wenn nicht Wilhelm den im Augenblick hereintretenden Mann begrüßt und ihn herbeigewinkt hätte.

Die Gestalt dieses seltsamen Gastes setzte die ganze Gesellschaft in Erstaunen, und er hatte schon von einem Stuhle Besitz genommen, ehe jemand ihn zu fragen oder sonst etwas vorzubringen das Herz hatte. Sein kahler Scheitel war von wenig grauen Haaren umkränzt, große blaue Augen blickten sanft unter langen weißen Augenbrauen hervor. An eine wohlgebildete Nase schloß sich ein langer weißer Bart an, ohne die gefällige Lippe zu bedecken, und ein langes dunkelbraunes Gewand umhüllte den schlanken Körper vom Halse bis zu den Füßen; und so fing er auf der Harfe, die er vor sich genommen hatte, zu präludieren an.

Die angenehmen Töne, die er aus dem Instrumente hervorlockte, erheiterten gar bald die Gesellschaft.

»Ihr pflegt auch zu singen, guter Alter«, sagte Philine.

»Gebt uns etwas, das Herz und Geist zugleich mit den Sinnen ergötze«, sagte Wilhelm. »Das Instrument sollte nur die Stimme begleiten; denn Melodien, Gänge und Läufe ohne Worte und Sinn scheinen mir Schmetterlingen oder schönen bunten Vögeln ähnlich zu sein, die in der Luft vor unsern Augen herumschweben, die wir allenfalls haschen und uns zueignen möchten; da sich der Gesang dagegen wie ein Genius gen Himmel hebt und das bessere Ich in uns ihn zu begleiten anreizt.«

Der Alte sah Wilhelmen an, alsdann in die Höhe, tat einige Griffe auf der Harfe und begann sein Lied. Es enthielt ein Lob auf den Gesang, pries das Glück der Sänger und ermahnte die Menschen, sie zu ehren. Er trug das Lied mit so viel Leben und Wahrheit vor, daß es schien, als hätte er es in diesem Augenblicke und bei diesem Anlasse gedichtet. Wilhelm enthielt sich kaum, ihm um den Hals zu fallen; nur die Furcht, ein lautes Gelächter zu erregen, zog ihn auf seinen Stuhl zurück; denn die übrigen machten schon halblaut einige alberne Anmerkungen und stritten, ob es ein Pfaffe oder ein Jude sei.

Als man nach dem Verfasser des Liedes fragte, gab er keine bestimmte Antwort; nur versicherte er, daß er reich an Gesängen sei und wünsche nur, daß sie gefallen möchten. Der größte Teil der Gesellschaft war fröhlich und freudig, ja selbst Melina nach seiner Art offen geworden, und indem man untereinander schwatzte und scherzte, fing der Alte das Lob des geselligen Lebens auf das geistreichste zu singen an. Er pries Einigkeit und Gefälligkeit mit einschmeichelnden Tönen. Auf einmal ward sein Gesang trocken, rauh und verworren, als er gehässige Verschlossenheit, kurzsinnige Feindschaft und gefährlichen Zwiespalt bedauerte, und gern warf jede Seele diese unbequemen Fesseln ab, als er, auf den Fittichen einer vordringenden Melodie getragen, die Friedensstifter pries und das Glück der Seelen, die sich wiederfinden, sang.

Kaum hatte er geendigt, als ihm Wilhelm zurief: »Wer du auch seist, der du als ein hülfreicher Schutzgeist mit einer segnenden und belebenden Stimme zu uns kommst, nimm meine Verehrung und meinen Dank! fühle, daß wir alle dich bewundern, und vertrau uns, wenn du etwas bedarfst!«

Der Alte schwieg, ließ erst seine Finger über die Saiten schleichen, dann griff er sie stärker an und sang:

»Was hör ich draußen vor dem Tor,

Was auf der Brücke schallen?

Laßt den Gesang zu unserm Ohr

Im Saale widerhallen!«

Der König sprach’s, der Page lief,

Der Knabe kam, der König rief:

»Bring ihn herein, den Alten!« »Gegrüßet seid, ihr hohen Herrn,

Gegrüßt ihr, schöne Damen!

Welch reicher Himmel! Stern bei Stern!

Wer kennet ihre Namen?

Im Saal voll Pracht und Herrlichkeit

Schließt, Augen, euch, hier ist nicht Zeit,

Sich staunend zu ergötzen.« Der Sänger drückt‘ die Augen ein

Und schlug die vollen Töne;

Der Ritter schaute mutig drein,

Und in den Schoß die Schöne.

Der König, dem das Lied gefiel,

Ließ ihm, zum Lohne für sein Spiel,

Eine goldne Kette holen. »Die goldne Kette gib mir nicht,

Die Kette gib den Rittern,

Vor deren kühnem Angesicht

Der Feinde Lanzen splittern.

Gib sie dem Kanzler, den du hast,

Und laß ihn noch die goldne Last

Zu andern Lasten tragen. Ich singe, wie der Vogel singt,

Der in den Zweigen wohnet.

Das Lied, das aus der Kehle dringt,

Ist Lohn, der reichlich lohnet;

Doch darf ich bitten, bitt ich eins:

Laß einen Trunk des besten Weins

In reinem Glase bringen.« Er setzt‘ es an, er trank es aus:

»O Trank der süßen Labe!

Oh! dreimal hochbeglücktes Haus,

Wo das ist kleine Gabe!

Ergeht’s euch wohl, so denkt an mich,

Und danket Gott so warm, als ich

Für diesen Trunk euch danke.«

Da der Sänger nach geendigtem Liede ein Glas Wein, das für ihn eingeschenkt dastand, ergriff und es mit freundlicher Miene, sich gegen seine Wohltäter wendend, austrank, entstand eine allgemeine Freude in der Versammlung. Man klatschte und rief ihm zu, es möge dieses Glas zu seiner Gesundheit, zur Stärkung seiner alten Glieder gereichen. Er sang noch einige Romanzen und erregte immer mehr Munterkeit in der Gesellschaft.

»Kannst du die Melodie, Alter«, rief Philine, »›Der Schäfer putzte sich zum Tanz‹?«

»O ja«, versetzte er; »wenn Sie das Lied singen und aufführen wollen, an mir soll es nicht fehlen.«

Philine stand auf und hielt sich fertig. Der Alte begann die Melodie, und sie sang ein Lied, das wir unsern Lesern nicht mitteilen können, weil sie es vielleicht abgeschmackt oder wohl gar unanständig finden könnten.

Inzwischen hatte die Gesellschaft, die immer heiterer geworden war, noch manche Flasche Wein ausgetrunken und fing an, sehr laut zu werden. Da aber unserm Freunde die bösen Folgen ihrer Lust noch in frischem Andenken schwebten, suchte er abzubrechen, steckte dem Alten für seine Bemühung eine reichliche Belohnung in die Hand, die andern taten auch etwas, man ließ ihn abtreten und ruhen und versprach sich auf den Abend eine wiederholte Freude von seiner Geschicklichkeit.

Als er hinweg war, sagte Wilhelm zu Philinen: »Ich kann zwar in Ihrem Leibgesange weder ein dichterisches oder sittliches Verdienst finden; doch wenn Sie mit ebender Naivetät, Eigenheit und Zierlichkeit etwas Schickliches auf dem Theater jemals ausführen, so wird Ihnen allgemeiner, lebhafter Beifall gewiß zuteil werden.«

»Ja«, sagte Philine, »es müßte eine recht angenehme Empfindung sein, sich am Eise zu wärmen.«

»Überhaupt«, sagte Wilhelm, »wie sehr beschämt dieser Mann manchen Schauspieler. Haben Sie bemerkt, wie richtig der dramatische Ausdruck seiner Romanzen war? Gewiß, es lebte mehr Darstellung in seinem Gesang als in unsern steifen Personen auf der Bühne; man sollte die Aufführung mancher Stücke eher für eine Erzählung halten und diesen musikalischen Erzählungen eine sinnliche Gegenwart zuschreiben.«

»Sie sind ungerecht!« versetzte Laertes, »ich gebe mich weder für einen großen Schauspieler noch Sänger; aber das weiß ich, daß, wenn die Musik die Bewegungen des Körpers leitet, ihnen Leben gibt und ihnen zugleich das Maß vorschreibt; wenn Deklamation und Ausdruck schon von dem Kompositeur auf mich übertragen werden: so bin ich ein ganz andrer Mensch, als wenn ich im prosaischen Drama das alles erst erschaffen und Takt und Deklamation mir erst erfinden soll, worin mich noch dazu jeder Mitspielende stören kann.«

»Soviel weiß ich«, sagte Melina, »daß uns dieser Mann in einem Punkte gewiß beschämt, und zwar in einem Hauptpunkte. Die Stärke seiner Talente zeigt sich in dem Nutzen, den er davon zieht. Uns, die wir vielleicht bald in Verlegenheit sein werden, wo wir eine Mahlzeit hernehmen, bewegt er, unsre Mahlzeit mit ihm zu teilen. Er weiß uns das Geld, das wir anwenden könnten, um uns in einige Verfassung zu setzen, durch ein Liedchen aus der Tasche zu locken. Es scheint so angenehm zu sein, das Geld zu verschleudern, womit man sich und andern eine Existenz verschaffen könnte.«

Das Gespräch bekam durch diese Bemerkung nicht die angenehmste Wendung. Wilhelm, auf den der Vorwurf eigentlich gerichtet war, antwortete mit einiger Leidenschaft, und Melina, der sich eben nicht der größten Feinheit befliß, brachte zuletzt seine Beschwerden mit ziemlich trockenen Worten vor. »Es sind nun schon vierzehn Tage«, sagte er, »daß wir das hier verpfändete Theater und die Garderobe besehen haben, und beides konnten wir für eine sehr leidliche Summe haben. Sie machten mir damals Hoffnung, daß Sie mir soviel kreditieren würden, und bis jetzt habe ich noch nicht gesehen, daß Sie die Sache weiter bedacht oder sich einem Entschluß genähert hätten. Griffen Sie damals zu, so wären wir jetzt im Gange. Ihre Absicht zu verreisen haben Sie auch noch nicht ausgeführt, und Geld scheinen Sie mir diese Zeit über auch nicht gespart zu haben; wenigstens gibt es Personen, die immer Gelegenheit zu verschaffen wissen, daß es geschwinder weggehe.«

Dieser nicht ganz ungerechte Vorwurf traf unsern Freund. Er versetzte einiges darauf mit Lebhaftigkeit, ja mit Heftigkeit und ergriff, da die Gesellschaft aufstund und sich zerstreute, die Türe, indem er nicht undeutlich zu erkennen gab, daß er sich nicht lange mehr bei so unfreundlichen und undankbaren Menschen aufhalten wolle. Er eilte verdrießlich hinunter, sich auf eine steinerne Bank zu setzen, die vor dem Tore seines Gasthofs stand, und bemerkte nicht, daß er halb aus Lust, halb aus Verdruß mehr als gewöhnlich getrunken hatte.

Zwölftes Kapitel

Nach einer kurzen Zeit, die er, beunruhigt von mancherlei Gedanken, sitzend und vor sich hin sehend zugebracht hatte, schlenderte Philine singend zur Haustüre heraus, setzte sich zu ihm, ja man dürfte beinahe sagen auf ihn, so nahe rückte sie an ihn heran, lehnte sich auf seine Schultern, spielte mit seinen Locken, streichelte ihn und gab ihm die besten Worte von der Welt. Sie bat ihn, er möchte ja bleiben und sie nicht in der Gesellschaft allein lassen, in der sie vor Langerweile sterben müßte; sie könne nicht mehr mit Melina unter einem Dache ausdauern und habe sich deswegen herüberquartiert.

Vergebens suchte er sie abzuweisen, ihr begreiflich zu machen, daß er länger weder bleiben könne noch dürfe. Sie ließ mit Bitten nicht ab, ja unvermutet schlang sie ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn mit dem lebhaftesten Ausdrucke des Verlangens.

»Sind Sie toll, Philine?« rief Wilhelm aus, indem er sich loszumachen suchte, »die öffentliche Straße zum Zeugen solcher Liebkosungen zu machen, die ich auf keine Weise verdiene! Lassen Sie mich los, ich kann nicht und ich werde nicht bleiben.«

»Und ich werde dich festhalten«, sagte sie, »und ich werde dich hier auf öffentlicher Gasse so lange küssen, bis du mir versprichst, was ich wünsche. Ich lache mich zu Tode«, fuhr sie fort; »nach dieser Vertraulichkeit halten mich die Leute gewiß für deine Frau von vier Wochen, und die Ehemänner, die eine so anmutige Szene sehen, werden mich ihren Weibern als ein Muster einer kindlich unbefangenen Zärtlichkeit anpreisen.«

Eben gingen einige Leute vorbei, und sie liebkoste ihn auf das anmutigste, und er, um kein Skandal zu geben, war gezwungen, die Rolle des geduldigen Ehemannes zu spielen. Dann schnitt sie den Leuten Gesichter im Rücken und trieb voll Übermut allerhand Ungezogenheiten, bis er zuletzt versprechen mußte, noch heute und morgen und übermorgen zu bleiben.

»Sie sind ein rechter Stock!« sagte sie darauf, indem sie von ihm abließ, »und ich eine Törin, daß ich so viel Freundlichkeit an Sie verschwende.« Sie stand verdrießlich auf und ging einige Schritte; dann kehrte sie lachend zurück und rief: »Ich glaube eben, daß ich darum in dich vernarrt bin, ich will nur gehen und meinen Strickstrumpf holen, daß ich etwas zu tun habe. Bleibe ja, damit ich den steinernen Mann auf der steinernen Bank wiederfinde.«

Diesmal tat sie ihm unrecht: denn sosehr er sich von ihr zu enthalten strebte, so würde er doch in diesem Augenblicke, hätte er sich mit ihr in einer einsamen Laube befunden, ihre Liebkosungen wahrscheinlich nicht unerwidert gelassen haben.

Sie ging, nachdem sie ihm einen leichtfertigen Blick zugeworfen, in das Haus. Er hatte keinen Beruf, ihr zu folgen, vielmehr hatte ihr Betragen einen neuen Widerwillen in ihm erregt; doch hob er sich, ohne selbst recht zu wissen warum, von der Bank, um ihr nachzugehen.

Er war eben im Begriff, in die Türe zu treten, als Melina herbeikam, ihn bescheiden anredete und ihn wegen einiger im Wortwechsel zu hart ausgesprochenen Ausdrücke um Verzeihung bat. »Sie nehmen mir nicht übel«, fuhr er fort, »wenn ich in dem Zustande, in dem ich mich befinde, mich vielleicht zu ängstlich bezeige; aber die Sorge für eine Frau, vielleicht bald für ein Kind, verhindert mich von einem Tag zum andern, ruhig zu leben und meine Zeit mit dem Genuß angenehmer Empfindungen hinzubringen, wie Ihnen noch erlaubt ist. Überdenken Sie, und wenn es Ihnen möglich ist, so setzen Sie mich in den Besitz der theatralischen Gerätschaften, die sich hier vorfinden. Ich werde nicht lange Ihr Schuldner und Ihnen dafür ewig dankbar bleiben.«

Wilhelm, der sich ungern auf der Schwelle aufgehalten sah, über die ihn eine unwiderstehliche Neigung in diesem Augenblicke zu Philinen hinüberzog, sagte mit einer überraschten Zerstreuung und eilfertigen Gutmütigkeit: »Wenn ich Sie dadurch glücklich und zufrieden machen kann, so will ich mich nicht länger bedenken. Gehn Sie hin, machen Sie alles richtig. Ich bin bereit, noch diesen Abend oder morgen früh das Geld zu zahlen.« Er gab hierauf Melinan die Hand zur Bestätigung seines Versprechens und war sehr zufrieden, als er ihn eilig über die Straße weggehen sah; leider aber wurde er von seinem Eindringen ins Haus zum zweitenmal und auf eine unangenehmere Weise zurückgehalten.

Ein junger Mensch mit einem Bündel auf dem Rücken kam eilig die Straße her und trat zu Wilhelmen, der ihn gleich für Friedrichen erkannte.

»Da bin ich wieder!« rief er aus, indem er seine großen blauen Augen freudig umher und hinauf an alle Fenster gehen ließ; »wo ist Mamsell? Der Henker mag es länger in der Welt aushalten, ohne sie zu sehen!«

Der Wirt, der eben dazugetreten war, versetzte: »Sie ist oben«, und mit wenigen Sprüngen war er die Treppe hinauf, und Wilhelm blieb auf der Schwelle wie eingewurzelt stehen. Er hätte in den ersten Augenblicken den Jungen bei den Haaren rückwärts die Treppe herunterreißen mögen; dann hemmte der heftige Krampf einer gewaltsamen Eifersucht auf einmal den Lauf seiner Lebensgeister und seiner Ideen, und da er sich nach und nach von seiner Erstarrung erholte, überfiel ihn eine Unruhe, ein Unbehagen, dergleichen er in seinem Leben noch nicht empfunden hatte.

Er ging auf seine Stube und fand Mignon mit Schreiben beschäftigt. Das Kind hatte sich eine Zeit her mit großem Fleiße bemüht, alles, was es auswendig wußte, zu schreiben, und hatte seinem Herrn und Freund das Geschriebene zu korrigieren gegeben. Sie war unermüdet und faßte gut; aber die Buchstaben blieben ungleich und die Linien krumm. Auch hier schien ihr Körper dem Geiste zu widersprechen. Wilhelm, dem die Aufmerksamkeit des Kindes, wenn er ruhigen Sinnes war, große Freude machte, achtete diesmal wenig auf das, was sie ihm zeigte; sie fühlte es und betrübte sich darüber nur desto mehr, als sie glaubte, diesmal ihre Sache recht gut gemacht zu haben.

Wilhelms Unruhe trieb ihn auf den Gängen des Hauses auf und ab und bald wieder an die Haustüre. Ein Reiter sprengte vor, der ein gutes Ansehn hatte und der bei gesetzten Jahren noch viel Munterkeit verriet. Der Wirt eilte ihm entgegen, reichte ihm als einem bekannten Freunde die Hand und rief: »Ei, Herr Stallmeister, sieht man Sie auch einmal wieder!«

»Ich will nur hier füttern«, versetzte der Fremde, »ich muß gleich hinüber auf das Gut, um in der Geschwindigkeit allerlei einrichten zu lassen. Der Graf kömmt morgen mit seiner Gemahlin, sie werden sich eine Zeitlang drüben aufhalten, um den Prinzen von *** auf das beste zu bewirten, der in dieser Gegend wahrscheinlich sein Hauptquartier aufschlägt.«

»Es ist schade, daß Sie nicht bei uns bleiben können«, versetzte der Wirt, »wir haben gute Gesellschaft.« Der Reitknecht, der nachsprengte, nahm dem Stallmeister das Pferd ab, der sich unter der Türe mit dem Wirt unterhielt und Wilhelmen von der Seite ansah.

Dieser, da er merkte, daß von ihm die Rede sei, begab sich weg und ging einige Straßen auf und ab.

Dreizehntes Kapitel

In der verdrießlichen Unruhe, in der er sich befand, fiel ihm ein, den Alten aufzusuchen, durch dessen Harfe er die bösen Geister zu verscheuchen hoffte. Man wies ihn, als er nach dem Manne fragte, an ein schlechtes Wirtshaus in einem entfernten Winkel des Städtchens und in demselben die Treppe hinauf bis auf den Boden, wo ihm der süße Harfenklang aus einer Kammer entgegenschallte. Es waren herzrührende, klagende Töne, von einem traurigen, ängstlichen Gesange begleitet. Wilhelm schlich an die Türe, und da der gute Alte eine Art von Phantasie vortrug und wenige Strophen teils singend, teils rezitierend immer wiederholte, konnte der Horcher nach einer kurzen Aufmerksamkeit ungefähr folgendes verstehen:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,

Wer nie die kummervollen Nächte

Auf seinem Bette weinend saß,

Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte. Ihr führt ins Leben uns hinein,

Ihr laßt den Armen schuldig werden,

Dann überlaßt ihr ihn der Pein;

Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.

Die wehmütige, herzliche Klage drang tief in die Seele des Hörers. Es schien ihm, als ob der Alte manchmal von Tränen gehindert würde fortzufahren; dann klangen die Saiten allein, bis sich wieder die Stimme leise in gebrochenen Lauten dareinmischte. Wilhelm stand an dem Pfosten, seine Seele war tief gerührt, die Trauer des Unbekannten schloß sein beklommenes Herz auf; er widerstand nicht dem Mitgefühl und konnte und wollte die Tränen nicht zurückhalten, die des Alten herzliche Klage endlich auch aus seinen Augen hervorlockte. Alle Schmerzen, die seine Seele drückten, lösten sich zu gleicher Zeit auf, er überließ sich ihnen ganz, stieß die Kammertüre auf und stand vor dem Alten, der ein schlechtes Bette, den einzigen Hausrat dieser armseligen Wohnung, zu seinem Sitze zu nehmen genötigt gewesen.

»Was hast du mir für Empfindungen rege gemacht, guter Alter!« rief er aus, »alles, was in meinem Herzen stockte, hast du losgelöst; laß dich nicht stören, sondern fahre fort, indem du deine Leiden linderst, einen Freund glücklich zu machen.« Der Alte wollte aufstehen und etwas reden, Wilhelm verhinderte ihn daran; denn er hatte zu Mittage bemerkt, daß der Mann ungern sprach; er setzte sich vielmehr zu ihm auf den Strohsack nieder.

Der Alte trocknete seine Tränen und fragte mit einem freundlichen Lächeln: »Wie kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen diesen Abend wieder aufwarten.«

»Wir sind hier ruhiger«, versetzte Wilhelm, »singe mir, was du willst, was zu deiner Lage paßt, und tue nur, als ob ich gar nicht hier wäre. Es scheint mir, als ob du heute nicht irren könntest. Ich finde dich sehr glücklich, daß du dich in der Einsamkeit so angenehm beschäftigen und unterhalten kannst und, da du überall ein Fremdling bist, in deinem Herzen die angenehmste Bekanntschaft findest.«

Der Alte blickte auf seine Saiten, und nachdem er sanft präludiert hatte, stimmte er an und sang:

Wer sich der Einsamkeit ergibt,

Ach! der ist bald allein;

Ein jeder lebt, ein jeder liebt

Und läßt ihn seiner Pein. Ja! laßt mich meiner Qual!

Und kann ich nur einmal

Recht einsam sein,

Dann bin ich nicht allein. Es schleicht ein Liebender lauschend sacht,

Ob seine Freundin allein?

So überschleicht bei Tag und Nacht

Mich Einsamen die Pein, Mich Einsamen die Qual.

Ach werd ich erst einmal

Einsam im Grabe sein,

Da läßt sie mich allein!

Wir würden zu weitläufig werden und doch die Anmut der seltsamen Unterredung nicht ausdrücken können, die unser Freund mit dem abenteuerlichen Fremden hielt. Auf alles, was der Jüngling zu ihm sagte, antwortete der Alte mit der reinsten Übereinstimmung durch Anklänge, die alle verwandten Empfindungen rege machten und der Einbildungskraft ein weites Feld eröffneten.

Wer einer Versammlung frommer Menschen, die sich, abgesondert von der Kirche, reiner, herzlicher und geistreicher zu erbauen glauben, beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von der gegenwärtigen Szene machen können; er wird sich erinnern, wie der Liturg seinen Worten den Vers eines Gesanges anzupassen weiß, der die Seele dahin erhebt, wohin der Redner wünscht, daß sie ihren Flug nehmen möge, wie bald darauf ein anderer aus der Gemeinde in einer andern Melodie den Vers eines andern Liedes hinzufügt und an diesen wieder ein dritter einen dritten anknüpft, wodurch die verwandten Ideen der Lieder, aus denen sie entlehnt sind, zwar erregt werden, jede Stelle aber durch die neue Verbindung neu und individuell wird, als wenn sie in dem Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch denn aus einem bekannten Kreise von Ideen, aus bekannten Liedern und Sprüchen für diese besondere Gesellschaft, für diesen Augenblick ein eigenes Ganzes entsteht, durch dessen Genuß sie belebt, gestärkt und erquickt wird. So erbaute der Alte seinen Gast, indem er durch bekannte und unbekannte Lieder und Stellen nahe und ferne Gefühle, wachende und schlummernde, angenehme und schmerzliche Empfindungen in eine Zirkulation brachte, von der in dem gegenwärtigen Zustande unsers Freundes das Beste zu hoffen war.

Vierzehntes Kapitel

Denn wirklich fing er auf dem Rückwege über seine Lage lebhafter, als bisher geschehen, zu denken an und war mit dem Vorsatze, sich aus derselben herauszureißen, nach Hause gelangt, als ihm der Wirt sogleich im Vertrauen eröffnete, daß Mademoiselle Philine an dem Stallmeister des Grafen eine Eroberung gemacht habe, der, nachdem er seinen Auftrag auf dem Gute ausgerichtet, in höchster Eile zurückgekommen sei und ein gutes Abendessen oben auf ihrem Zimmer mit ihr verzehre.

In eben diesem Augenblicke trat Melina mit dem Notarius herein; sie gingen zusammen auf Wilhelms Zimmer, wo dieser, wiewohl mit einigem Zaudern, seinem Versprechen Genüge leistete, dreihundert Taler auf Wechsel an Melina auszahlte, welche dieser sogleich dem Notarius übergab und dagegen das Dokument über den geschlossenen Kauf der ganzen theatralischen Gerätschaft erhielt, welche ihm morgen früh übergeben werden sollte.

Kaum waren sie auseinandergegangen, als Wilhelm ein entsetzliches Geschrei in dem Hause vernahm. Er hörte eine jugendliche Stimme, die zornig und drohend durch ein unmäßiges Weinen und Heulen durchbrach. Er hörte diese Wehklage von oben herunter an seiner Stube vorbei nach dem Hausplatze eilen.

Als die Neugierde unsern Freund herunterlockte, fand er Friedrichen in einer Art von Raserei. Der Knabe weinte, knirschte, stampfte, drohte mit geballten Fäusten und stellte sich ganz ungebärdig vor Zorn und Verdruß, Mignon stand gegenüber und sah mit Verwunderung zu, und der Wirt erklärte einigermaßen diese Erscheinung.

Der Knabe sei nach seiner Rückkunft, da ihn Philine gut aufgenommen, zufrieden, lustig und munter gewesen, habe gesungen und gesprungen bis zur Zeit, da der Stallmeister mit Philinen Bekanntschaft gemacht. Nun habe das Mittelding zwischen Kind und Jüngling angefangen, seinen Verdruß zu zeigen, die Türen zuzuschlagen und auf und nieder zu rennen. Philine habe ihm befohlen, heute abend bei Tische aufzuwarten, worüber er nur noch mürrischer und trotziger geworden; endlich habe er eine Schüssel mit Ragout, anstatt sie auf den Tisch zu setzen, zwischen Mademoiselle und den Gast, die ziemlich nahe zusammen gesessen, hineingeworfen, worauf ihm der Stallmeister ein paar tüchtige Ohrfeigen gegeben und ihn zur Türe hinausgeschmissen. Er, der Wirt, habe darauf die beiden Personen säubern helfen, deren Kleider sehr übel zugerichtet gewesen.

Als der Knabe die gute Wirkung seiner Rache vernahm, fing er laut zu lachen an, indem ihm noch immer die Tränen an den Backen herunterliefen. Er freute sich einige Zeit herzlich, bis ihm der Schimpf, den ihm der Stärkere angetan, wieder einfiel, da er denn von neuem zu heulen und zu drohen anfing.

Wilhelm stand nachdenklich und beschämt vor dieser Szene. Er sah sein eignes Innerstes mit starken und übertriebenen Zügen dargestellt; auch er war von einer unüberwindlichen Eifersucht entzündet; auch er, wenn ihn der Wohlstand nicht zurückgehalten hätte, würde gern seine wilde Laune befriedigt, gern mit tückischer Schadenfreude den geliebten Gegenstand verletzt und seinen Nebenbuhler ausgefordert haben; er hätte die Menschen, die nur zu seinem Verdrusse dazusein schienen, vertilgen mögen.

Laertes, der auch herbeigekommen war und die Geschichte vernommen hatte, bestärkte schelmisch den aufgebrachten Knaben, als dieser beteuerte und schwur: der Stallmeister müsse ihm Satisfaktion geben, er habe noch keine Beleidigung auf sich sitzen lassen; weigere sich der Stallmeister, so werde er sich zu rächen wissen.

Laertes war hier grade in seinem Fache. Er ging ernsthaft hinauf, den Stallmeister im Namen des Knaben herauszufordern.

»Das ist lustig«, sagte dieser; »einen solchen Spaß hätte ich mir heut abend kaum vorgestellt.« Sie gingen hinunter, und Philine folgte ihnen. »Mein Sohn«, sagte der Stallmeister zu Friedrichen, »du bist ein braver Junge, und ich weigere mich nicht, mit dir zu fechten; nur da die Ungleichheit unsrer Jahre und Kräfte die Sache ohnehin etwas abenteuerlich macht, so schlage ich statt anderer Waffen ein Paar Rapiere vor; wir wollen die Knöpfe mit Kreide bestreichen, und wer dem andern den ersten oder die meisten Stöße auf den Rock zeichnet, soll für den Überwinder gehalten und von dem andern mit dem besten Weine, der in der Stadt zu haben ist, traktiert werden.«

Laertes entschied, daß dieser Vorschlag angenommen werden könnte; Friedrich gehorchte ihm als seinem Lehrmeister. Die Rapiere kamen herbei, Philine setzte sich hin, strickte und sah beiden Kämpfern mit großer Gemütsruhe zu.

Der Stallmeister, der sehr gut focht, war gefällig genug, seinen Gegner zu schonen und sich einige Kreidenflecke auf den Rock bringen zu lassen, worauf sie sich umarmten und Wein herbeigeschafft wurde. Der Stallmeister wollte Friedrichs Herkunft und seine Geschichte wissen, der denn ein Märchen erzählte, das er schon oft wiederholt hatte und mit dem wir ein andermal unsre Leser bekannt zu machen gedenken.

In Wilhelms Seele vollendete indessen dieser Zweikampf die Darstellung seiner eigenen Gefühle: denn er konnte sich nicht leugnen, daß er das Rapier, ja lieber noch einen Degen selbst gegen den Stallmeister zu führen wünschte, wenn er schon einsah, daß ihm dieser in der Fechtkunst weit überlegen sei. Doch würdigte er Philinen nicht eines Blicks, hütete sich vor jeder Äußerung, die seine Empfindung hätte verraten können, und eilte, nachdem er einigemal auf die Gesundheit der Kämpfer Bescheid getan, auf sein Zimmer, wo sich tausend unangenehme Gedanken auf ihn zudrängten.

Er erinnerte sich der Zeit, in der sein Geist durch ein unbedingtes, hoffnungsreiches Streben emporgehoben wurde, wo er in dem lebhaftesten Genusse aller Art wie in einem Elemente schwamm. Es ward ihm deutlich, wie er jetzt in ein unbestimmtes Schlendern geraten war, in welchem er nur noch schlürfend kostete, was er sonst mit vollen Zügen eingesogen hatte; aber deutlich konnte er nicht sehen, welches unüberwindliche Bedürfnis ihm die Natur zum Gesetz gemacht hatte und wie sehr dieses Bedürfnis durch Umstände nur gereizt, halb befriedigt und irregeführt worden war.

Es darf also niemand wundern, wenn er bei Betrachtung seines Zustandes, und indem er sich aus demselben herauszudenken arbeitete, in die größte Verwirrung geriet. Es war nicht genug, daß er durch seine Freundschaft zu Laertes, durch seine Neigung zu Philinen, durch seinen Anteil an Mignon länger als billig an einem Orte und in einer Gesellschaft festgehalten wurde, in welcher er seine Lieblingsneigung hegen, gleichsam verstohlen seine Wünsche befriedigen und, ohne sich einen Zweck vorzusetzen, seinen alten Träumen nachschleichen konnte. Aus diesen Verhältnissen sich loszureißen und gleich zu scheiden, glaubte er Kraft genug zu besitzen. Nun hatte er aber vor wenigen Augenblicken sich mit Melina in ein Geldgeschäft eingelassen, er hatte den rätselhaften Alten kennenlernen, welchen zu entziffern er eine unbeschreibliche Begierde fühlte. Allein auch dadurch sich nicht zurückhalten zu lassen, war er nach lang hin und her geworfenen Gedanken entschlossen oder glaubte wenigstens entschlossen zu sein. »Ich muß fort«, rief er aus, »ich will fort!« Er warf sich in einen Sessel und war sehr bewegt. Mignon trat herein und fragte, ob sie ihn aufwickeln dürfe. Sie kam still; es schmerzte sie tief, daß er sie heute so kurz abgefertigt hatte.

Nichts ist rührender, als wenn eine Liebe, die sich im stillen genährt, eine Treue, die sich im verborgenen befestigt hat, endlich dem, der ihrer bisher nicht wert gewesen, zur rechten Stunde nahe kommt und ihm offenbar wird. Die lange und streng verschlossene Knospe war reif, und Wilhelms Herz konnte nicht empfänglicher sein.

Sie stand vor ihm und sah seine Unruhe. »Herr!« rief sie aus, »wenn du unglücklich bist, was soll aus Mignon werden?« – »Liebes Geschöpf«, sagte er, indem er ihre Hände nahm, »du bist auch mit unter meinen Schmerzen. – Ich muß fort.« Sie sah ihm in die Augen, die von verhaltenen Tränen blinkten, und kniete mit Heftigkeit vor ihm nieder. Er behielt ihre Hände, sie legte ihr Haupt auf seine Knie und war ganz still. Er spielte mit ihren Haaren und war freundlich. Sie blieb lange ruhig. Endlich fühlte er an ihr eine Art Zucken, das ganz sachte anfing und sich durch alle Glieder wachsend verbreitete. »Was ist dir, Mignon?« rief er aus, »was ist dir?« Sie richtete ihr Köpfchen auf und sah ihn an, fuhr auf einmal nach dem Herzen, wie mit einer Gebärde, welche Schmerzen verbeißt. Er hob sie auf, und sie fiel auf seinen Schoß; er drückte sie an sich und küßte sie. Sie antwortete durch keinen Händedruck, durch keine Bewegung. Sie hielt ihr Herz fest, und auf einmal tat sie einen Schrei, der mit krampfigen Bewegungen des Körpers begleitet war. Sie fuhr auf und fiel auch sogleich wie an allen Gelenken gebrochen vor ihm nieder. Es war ein gräßlicher Anblick! »Mein Kind!« rief er aus, indem er sie aufhob und fest umarmte, »mein Kind, was ist dir?« Die Zuckung dauerte fort, die vom Herzen sich den schlotternden Gliedern mitteilte; sie hing nur in seinen Armen. Er schloß sie an sein Herz und benetzte sie mit seinen Tränen. Auf einmal schien sie wieder angespannt, wie eins, das den höchsten körperlichen Schmerz erträgt; und bald mit einer neuen Heftigkeit wurden alle ihre Glieder wieder lebendig, und sie warf sich ihm, wie ein Ressort, das zuschlägt, um den Hals, indem in ihrem Innersten wie ein gewaltiger Riß geschah, und in dem Augenblicke floß ein Strom von Tränen aus ihren geschlossenen Augen in seinen Busen. Er hielt sie fest. Sie weinte, und keine Zunge spricht die Gewalt dieser Tränen aus. Ihre langen Haare waren aufgegangen und hingen von der Weinenden nieder, und ihr ganzes Wesen schien in einen Bach von Tränen unaufhaltsam dahinzuschmelzen. Ihre starren Glieder wurden gelinde, es ergoß sich ihr Innerstes, und in der Verirrung des Augenblickes fürchtete Wilhelm, sie werde in seinen Armen zerschmelzen und er nichts von ihr übrigbehalten. Er hielt sie nur fester und fester. »Mein Kind!« rief er aus, »mein Kind! Du bist ja mein! Wenn dich das Wort trösten kann. Du bist mein! Ich werde dich behalten, dich nicht verlassen!« Ihre Tränen flossen noch immer. Endlich richtete sie sich auf. Eine weiche Heiterkeit glänzte von ihrem Gesichte. »Mein Vater!« rief sie, »du willst mich nicht verlassen! willst mein Vater sein! – Ich bin dein Kind!«

Sanft fing vor der Türe die Harfe an zu klingen; der Alte brachte seine herzlichsten Lieder dem Freunde zum Abendopfer, der, sein Kind immer fester in Armen haltend, des reinsten, unbeschreiblichsten Glückes genoß.

Drittes Buch

Erstes Kapitel

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,

Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,

Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,

Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin

Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn! Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,

Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,

Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:

Was hat man dir, du armes Kind, getan?

Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin

Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn! Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?

Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,

In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,

Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:

Kennst du ihn wohl?

Dahin! Dahin

Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn!

Als Wilhelm des Morgens sich nach Mignon im Hause umsah, fand er sie nicht, hörte aber, daß sie früh mit Melina ausgegangen sei, welcher sich, um die Garderobe und die übrigen Theatergerätschaften zu übernehmen, beizeiten aufgemacht hatte.

Nach Verlauf einiger Stunden hörte Wilhelm Musik vor seiner Türe. Er glaubte anfänglich, der Harfenspieler sei schon wieder zugegen; allein er unterschied bald die Töne einer Zither, und die Stimme, welche zu singen anfing, war Mignons Stimme. Wilhelm öffnete die Türe, das Kind trat herein und sang das Lied, das wir soeben aufgezeichnet haben.

Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleich die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.

Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das »Kennst du es wohl?« drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem »Dahin! Dahin!« lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr »Laß uns ziehn!« wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.

Nachdem sie das Lied zum zweitenmal geendigt hatte, hielt sie einen Augenblick inne, sah Wilhelmen scharf an und fragte: »Kennst du das Land?« – »Es muß wohl Italien gemeint sein«, versetzte Wilhelm; »woher hast du das Liedchen?« – »Italien!« sagte Mignon bedeutend, »gehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier.« – »Bist du schon dort gewesen, liebe Kleine?« fragte Wilhelm. – Das Kind war still und nichts weiter aus ihm zu bringen.

Melina, der hereinkam, besah die Zither und freute sich, daß sie schon so hübsch zurechtgemacht sei. Das Instrument war ein Inventarienstück der alten Garderobe. Mignon hatte sich’s diesen Morgen ausgebeten, der Harfenspieler bezog es sogleich, und das Kind entwickelte bei dieser Gelegenheit ein Talent, das man an ihm bisher noch nicht kannte.

Melina hatte schon die Garderobe mit allem Zugehör übernommen; einige Glieder des Stadtrats versprachen ihm gleich die Erlaubnis, einige Zeit im Orte zu spielen. Mit frohem Herzen und erheitertem Gesicht kam er nunmehr wieder zurück. Er schien ein ganz anderer Mensch zu sein: denn er war sanft, höflich gegen jedermann, ja zuvorkommend und einnehmend. Er wünschte sich Glück, daß er nunmehr seine Freunde, die bisher verlegen und müßig gewesen, werde beschäftigen und auf eine Zeitlang engagieren können, wobei er zugleich bedauerte, daß er freilich zum Anfange nicht imstande sei, die vortrefflichen Subjekte, die das Glück ihm zugeführt, nach ihren Fähigkeiten und Talenten zu belohnen, da er seine Schuld einem so großmütigen Freunde, als Wilhelm sich gezeigt habe, vor allen Dingen abtragen müsse.

»Ich kann Ihnen nicht ausdrücken«, sagte Melina zu ihm, »welche Freundschaft Sie mir erzeigen, indem Sie mir zur Direktion eines Theaters verhelfen. Denn als ich Sie antraf, befand ich mich in einer sehr wunderlichen Lage. Sie erinnern sich, wie lebhaft ich Ihnen bei unsrer ersten Bekanntschaft meine Abneigung gegen das Theater sehen ließ, und doch mußte ich mich, sobald ich verheiratet war, aus Liebe zu meiner Frau, welche sich viel Freude und Beifall versprach, nach einem Engagement umsehen. Ich fand keins, wenigstens kein beständiges, dagegen aber glücklicherweise einige Geschäftsmänner, die eben in außerordentlichen Fällen jemanden brauchen konnten, der mit der Feder umzugehen wußte, Französisch verstand und im Rechnen nicht ganz unerfahren war. So ging es mir eine Zeitlang recht gut, ich ward leidlich bezahlt, schaffte mir manches an, und meine Verhältnisse machten mir keine Schande. Allein die außerordentlichen Aufträge meiner Gönner gingen zu Ende, an eine dauerhafte Versorgung war nicht zu denken, und meine Frau verlangte nur desto eifriger nach dem Theater, leider zu einer Zeit, wo ihre Umstände nicht die vorteilhaftesten sind, um sich dem Publikum mit Ehren darzustellen. Nun, hoffe ich, soll die Anstalt, die ich durch Ihre Hülfe einrichten werde, für mich und die Meinigen ein guter Anfang sein, und ich verdanke Ihnen mein künftiges Glück, es werde auch, wie es wolle.«

Wilhelm hörte diese Äußerungen mit Zufriedenheit an, und die sämtlichen Schauspieler waren gleichfalls mit den Erklärungen des neuen Direktors so ziemlich zufrieden, freuten sich heimlich, daß sich so schnell ein Engagement zeige, und waren geneigt, für den Anfang mit einer geringen Gage vorliebzunehmen, weil die meisten dasjenige, was ihnen so unvermutet angeboten wurde, als einen Zuschuß ansahen, auf den sie vor kurzem noch nicht Rechnung machen konnten. Melina war im Begriff, diese Disposition zu benutzen, suchte auf eine geschickte Weise jeden besonders zu sprechen und hatte bald den einen auf diese, den andern auf eine andere Weise zu bereden gewußt, daß sie die Kontrakte geschwind abzuschließen geneigt waren, über das neue Verhältnis kaum nachdachten und sich schon gesichert glaubten, mit sechswöchentlicher Aufkündigung wieder loskommen zu können.

Nun sollten die Bedingungen in gehörige Form gebracht werden, und Melina dachte schon an die Stücke, mit denen er zuerst das Publikum anlocken wollte, als ein Kurier dem Stallmeister die Ankunft der Herrschaft verkündigte und dieser die untergelegten Pferde vorzuführen befahl.

Bald darauf fuhr der hochbepackte Wagen, von dessen Bocke zwei Bedienten heruntersprangen, vor dem Gasthause vor, und Philine war nach ihrer Art am ersten bei der Hand und stellte sich unter die Türe.

»Wer ist Sie?« fragte die Gräfin im Hereintreten.

»Eine Schauspielerin, Ihro Exzellenz zu dienen«, war die Antwort, indem der Schalk mit einem gar frommen Gesichte und demütigen Gebärden sich neigte und der Dame den Rock küßte.

Der Graf, der noch einige Personen umherstehen sah, die sich gleichfalls für Schauspieler ausgaben, erkundigte sich nach der Stärke der Gesellschaft, nach dem letzten Orte ihres Aufenthalts und ihrem Direktor. »Wenn es Franzosen wären«, sagte er zu seiner Gemahlin, »könnten wir dem Prinzen eine unerwartete Freude machen und ihm bei uns seine Lieblingsunterhaltung verschaffen.«

»Es käme darauf an«, versetzte die Gräfin, »ob wir nicht diese Leute, wenn sie schon unglücklicherweise nur Deutsche sind, auf dem Schloß, solange der Fürst bei uns bleibt, spielen ließen. Sie haben doch wohl einige Geschicklichkeit. Eine große Sozietät läßt sich am besten durch ein Theater unterhalten, und der Baron würde sie schon zustutzen.«

Unter diesen Worten gingen sie die Treppe hinauf, und Melina präsentierte sich oben als Direktor. »Ruf Er seine Leute zusammen«, sagte der Graf, »und stell Er sie mir vor, damit ich sehe, was an ihnen ist. Ich will auch zugleich die Liste von den Stücken sehen, die sie allenfalls aufführen könnten.«

Melina eilte mit einem tiefen Bücklinge aus dem Zimmer und kam bald mit den Schauspielern zurück. Sie drückten sich vor- und hintereinander, die einen präsentierten sich schlecht, aus großer Begierde zu gefallen, und die andern nicht besser, weil sie sich leichtsinnig darstellten. Philine bezeigte der Gräfin, die außerordentlich gnädig und freundlich war, alle Ehrfurcht; der Graf musterte indes die übrigen. Er fragte einen jeden nach seinem Fache und äußerte gegen Melina, daß man streng auf Fächer halten müsse, welchen Ausspruch dieser in der größten Devotion aufnahm.

Der Graf bemerkte sodann einem jeden, worauf er besonders zu studieren, was er an seiner Figur und Stellung zu bessern habe, zeigte ihnen einleuchtend, woran es den Deutschen immer fehle, und ließ so außerordentliche Kenntnisse sehen, daß alle in der größten Demut vor so einem erleuchteten Kenner und erlauchten Beschützer standen und kaum Atem zu holen sich getrauten.

»Wer ist der Mensch dort in der Ecke?« fragte der Graf, indem er nach einem Subjekte sah, das ihm noch nicht vorgestellt worden war, und eine hagre Figur nahte sich in einem abgetragenen, auf dem Ellbogen mit Fleckchen besetzten Rocke; eine kümmerliche Perücke bedeckte das Haupt des demütigen Klienten.

Dieser Mensch, den wir schon aus dem vorigen Buche als Philinens Liebling kennen, pflegte gewöhnlich Pedanten, Magister und Poeten zu spielen und meistens die Rolle zu übernehmen, wenn jemand Schläge kriegen oder begossen werden sollte. Er hatte sich gewisse kriechende, lächerliche, furchtsame Bücklinge angewöhnt, und seine stockende Sprache, die zu seinen Rollen paßte, machte die Zuschauer lachen, so daß er immer noch als ein brauchbares Glied der Gesellschaft angesehen wurde, besonders da er übrigens sehr dienstfertig und gefällig war. Er nahte sich auf seine Weise dem Grafen, neigte sich vor demselben und beantwortete jede Frage auf die Art, wie er sich in seinen Rollen auf dem Theater zu gebärden pflegte. Der Graf sah ihn mit gefälliger Aufmerksamkeit und mit Überlegung eine Zeitlang an, alsdann rief er, indem er sich zu der Gräfin wendete: »Mein Kind, betrachte mir diesen Mann genau; ich hafte dafür, das ist ein großer Schauspieler oder kann es werden.« Der Mensch machte von ganzem Herzen einen albernen Bückling, so daß der Graf laut über ihn lachen mußte und ausrief: »Er macht seine Sachen exzellent! Ich wette, dieser Mensch kann spielen, was er will, und es ist schade, daß man ihn bisher zu nichts Besserm gebraucht hat.«

Ein so außerordentlicher Vorzug war für die übrigen sehr kränkend, nur Melina empfand nichts davon, er gab vielmehr dem Grafen vollkommen recht und versetzte mit ehrfurchtsvoller Miene: »Ach ja, es hat wohl ihm und mehreren von uns nur ein solcher Kenner und eine solche Aufmunterung gefehlt, wie wir sie gegenwärtig an Eurer Exzellenz gefunden haben.«

»Ist das die sämtliche Gesellschaft?« sagte der Graf.

»Es sind einige Glieder abwesend«, versetzte der kluge Melina, »und überhaupt könnten wir, wenn wir nur Unterstützung fänden, sehr bald aus der Nachbarschaft vollzählig sein.«

Indessen sagte Philine zur Gräfin: »Es ist noch ein recht hübscher junger Mann oben, der sich gewiß bald zum ersten Liebhaber qualifizieren würde.«

»Warum läßt er sich nicht sehen?« versetzte die Gräfin.

»Ich will ihn holen«, rief Philine und eilte zur Türe hinaus.

Sie fand Wilhelmen noch mit Mignon beschäftigt und beredete ihn, mit herunterzugehen. Er folgte ihr mit einigem Unwillen, doch trieb ihn die Neugier: denn da er von vornehmen Personen hörte, war er voll Verlangen, sie näher kennenzulernen. Er trat ins Zimmer, und seine Augen begegneten sogleich den Augen der Gräfin, die auf ihn gerichtet waren. Philine zog ihn zu der Dame, indes der Graf sich mit den übrigen beschäftigte. Wilhelm neigte sich und gab auf verschiedene Fragen, welche die reizende Dame an ihn tat, nicht ohne Verwirrung Antwort. Ihre Schönheit, Jugend, Anmut, Zierlichkeit und feines Betragen machten den angenehmsten Eindruck auf ihn, um so mehr, da ihre Reden und Gebärden mit einer gewissen Schamhaftigkeit, ja man dürfte sagen Verlegenheit begleitet waren. Auch dem Grafen ward er vorgestellt, der aber wenig acht auf ihn hatte, sondern zu seiner Gemahlin ans Fenster trat und sie um etwas zu fragen schien. Man konnte bemerken, daß ihre Meinung auf das lebhafteste mit der seinigen übereinstimmte, ja daß sie ihn eifrig zu bitten und ihn in seiner Gesinnung zu bestärken schien.

Er kehrte sich darauf bald zu der Gesellschaft und sagte: »Ich kann mich gegenwärtig nicht aufhalten, aber ich will einen Freund zu euch schicken, und wenn ihr billige Bedingungen macht und euch recht viel Mühe geben wollt, so bin ich nicht abgeneigt, euch auf dem Schlosse spielen zu lassen.«

Alle bezeigten ihre große Freude darüber, und besonders küßte Philine mit der größten Lebhaftigkeit der Gräfin die Hände.

»Sieht Sie, Kleine«, sagte die Dame, indem sie dem leichtfertigen Mädchen die Backen klopfte, »sieht Sie, mein Kind, da kommt Sie wieder zu mir, ich will schon mein Versprechen halten, Sie muß sich nur besser anziehen.« Philine entschuldigte sich, daß sie wenig auf ihre Garderobe zu verwenden habe, und sogleich befahl die Gräfin ihren Kammerfrauen, einen englischen Hut und ein seidnes Halstuch, die leicht auszupacken waren, heraufzugeben. Nun putzte die Gräfin selbst Philinen an, die fortfuhr, sich mit einer scheinheiligen, unschuldigen Miene gar artig zu gebärden und zu betragen.

Der Graf bot seiner Gemahlin die Hand und führte sie hinunter. Sie grüßte die ganze Gesellschaft im Vorbeigehen freundlich und kehrte sich nochmals gegen Wilhelmen um, indem sie mit der huldreichsten Miene zu ihm sagte: »Wir sehen uns bald wieder.«

So glückliche Aussichten belebten die ganze Gesellschaft; jeder ließ nunmehr seinen Hoffnungen, Wünschen und Einbildungen freien Lauf, sprach von den Rollen, die er spielen, von dem Beifall, den er erhalten wollte. Melina überlegte, wie er noch geschwind durch einige Vorstellungen den Einwohnern des Städtchens etwas Geld abnehmen und zugleich die Gesellschaft in Atem setzen könne, indes andere in die Küche gingen, um ein besseres Mittagsessen zu bestellen, als man sonst einzunehmen gewohnt war.

Zweites Kapitel

Nach einigen Tagen kam der Baron, und Melina empfing ihn nicht ohne Furcht. Der Graf hatte ihn als einen Kenner angekündigt, und es war zu besorgen, er werde gar bald die schwache Seite des kleinen Haufens entdecken und einsehen, daß er keine formierte Truppe vor sich habe, indem sie kaum ein Stück gehörig besetzen konnten; allein sowohl der Direktor als die sämtlichen Glieder waren bald aus aller Sorge, da sie an dem Baron einen Mann fanden, der mit dem größten Enthusiasmus das vaterländische Theater betrachtete, dem ein jeder Schauspieler und jede Gesellschaft willkommen und erfreulich war. Er begrüßte sie alle mit Feierlichkeit, pries sich glücklich, eine deutsche Bühne so unvermutet anzutreffen, mit ihr in Verbindung zu kommen und die vaterländischen Musen in das Schloß seines Verwandten einzuführen. Er brachte bald darauf ein Heft aus der Tasche, in welchem Melina die Punkte des Kontraktes zu erblicken hoffte; allein es war ganz etwas anderes. Der Baron bat sie, ein Drama, das er selbst verfertigt und das er von ihnen gespielt zu sehen wünschte, mit Aufmerksamkeit anzuhören. Willig schlossen sie einen Kreis und waren erfreut, mit so geringen Kosten sich in der Gunst eines so notwendigen Mannes befestigen zu können, obgleich ein jeder nach der Dicke des Heftes übermäßig lange Zeit befürchtete. Auch war es wirklich so; das Stück war in fünf Akten geschrieben und von der Art, die gar kein Ende nimmt.

Der Held war ein vornehmer, tugendhafter, großmütiger und dabei verkannter und verfolgter Mann, der aber denn doch zuletzt den Sieg über seine Feinde davontrug, über welche sodann die strengste poetische Gerechtigkeit ausgeübt worden wäre, wenn er ihnen nicht auf der Stelle verziehen hätte.

Indem dieses Stück vorgetragen wurde, hatte jeder Zuhörer Raum genug, an sich selbst zu denken und ganz sachte aus der Demut, zu der er sich noch vor kurzem geneigt fühlte, zu einer glücklichen Selbstgefälligkeit emporzusteigen und von da aus die anmutigsten Aussichten in die Zukunft zu überschauen. Diejenigen, die keine ihnen angemessene Rolle in dem Stück fanden, erklärten es bei sich für schlecht und hielten den Baron für einen unglücklichen Autor, dagegen die andern eine Stelle, bei der sie beklatscht zu werden hofften, mit dem größten Lobe zur möglichsten Zufriedenheit des Verfassers verfolgten.

Mit dem Ökonomischen waren sie geschwind fertig. Melina wußte zu seinem Vorteil mit dem Baron den Kontrakt abzuschließen und ihn vor den übrigen Schauspielern geheimzuhalten.

Über Wilhelmen sprach Melina den Baron im Vorbeigehen und versicherte, daß er sich sehr gut zum Theaterdichter qualifiziere und zum Schauspieler selbst keine üblen Anlagen habe. Der Baron machte sogleich mit ihm als einem Kollegen Bekanntschaft, und Wilhelm produzierte einige kleine Stücke, die nebst wenigen Reliquien an jenem Tage, als er den größten Teil seiner Arbeiten in Feuer aufgehen ließ, durch einen Zufall gerettet wurden. Der Baron lobte sowohl die Stücke als den Vortrag, nahm als bekannt an, daß er mit hinüber auf das Schloß kommen würde, versprach bei seinem Abschiede allen die beste Aufnahme, bequeme Wohnung, gutes Essen, Beifall und Geschenke, und Melina setzte noch die Versicherung eines bestimmten Taschengeldes hinzu.

Man kann denken, in welche gute Stimmung durch diesen Besuch die Gesellschaft gesetzt war, indem sie statt eines ängstlichen und niedrigen Zustandes auf einmal Ehre und Behagen vor sich sah. Sie machten sich schon zum voraus auf jene Rechnung lustig, und jedes hielt für unschicklich, nur noch irgendeinen Groschen Geld in der Tasche zu behalten.

Wilhelm ging indessen mit sich zu Rate, ob er die Gesellschaft auf das Schloß begleiten solle, und fand in mehr als einem Sinne rätlich, dahin zu gehen. Melina hoffte, bei diesem vorteilhaften Engagement seine Schuld wenigstens zum Teil abtragen zu können, und unser Freund, der auf Menschenkenntnis ausging, wollte die Gelegenheit nicht versäumen, die große Welt näher kennenzulernen, in der er viele Aufschlüsse über das Leben, über sich selbst und die Kunst zu erlangen hoffte. Dabei durfte er sich nicht gestehen, wie sehr er wünsche, der schönen Gräfin wieder näher zu kommen. Er suchte sich vielmehr im allgemeinen zu überzeugen, welchen großen Vorteil ihm die nähere Kenntnis der vornehmen und reichen Welt bringen würde. Er machte seine Betrachtungen über den Grafen, die Gräfin, den Baron, über die Sicherheit, Bequemlichkeit und Anmut ihres Betragens und rief, als er allein war, mit Entzücken aus:

»Dreimal glücklich sind diejenigen zu preisen, die ihre Geburt sogleich über die untern Stufen der Menschheit hinaushebt; die durch jene Verhältnisse, in welchen sich manche gute Menschen die ganze Zeit ihres Lebens abängstigen, nicht durchzugehen, auch nicht einmal darin als Gäste zu verweilen brauchen. Allgemein und richtig muß ihr Blick auf dem höheren Standpunkte werden, leicht ein jeder Schritt ihres Lebens! Sie sind von Geburt an gleichsam in ein Schiff gesetzt, um bei der Überfahrt, die wir alle machen müssen, sich des günstigen Windes zu bedienen und den widrigen abzuwarten, anstatt daß andere nur für ihre Person schwimmend sich abarbeiten, vom günstigen Winde wenig Vorteil genießen und im Sturme mit bald erschöpften Kräften untergehen. Welche Bequemlichkeit, welche Leichtigkeit gibt ein angebornes Vermögen! und wie sicher blühet ein Handel, der auf ein gutes Kapital gegründet ist, so daß nicht jeder mißlungene Versuch sogleich in Untätigkeit versetzt! Wer kann den Wert und Unwert irdischer Dinge besser kennen, als der sie zu genießen von Jugend auf im Falle war, und wer kann seinen Geist früher auf das Notwendige, das Nützliche, das Wahre leiten, als der sich von so vielen Irrtümern in einem Alter überzeugen muß, wo es ihm noch an Kräften nicht gebricht, ein neues Leben anzufangen!«

So rief unser Freund allen denenjenigen Glück zu, die sich in den höheren Regionen befinden; aber auch denen, die sich einem solchen Kreise nähern, aus diesen Quellen schöpfen können, und pries seinen Genius, der Anstalt machte, auch ihn diese Stufen hinanzuführen.

Indessen mußte Melina, nachdem er lange sich den Kopf zerbrochen, wie er nach dem Verlangen des Grafen und nach seiner eigenen Überzeugung die Gesellschaft in Fächer einteilen und einem jeden seine bestimmte Mitwirkung übertragen wollte, zuletzt, da es an die Ausführung kam, sehr zufrieden sein, wenn er bei einem so geringen Personal die Schauspieler willig fand, sich nach Möglichkeit in diese oder jene Rollen zu schicken. Doch übernahm gewöhnlich Laertes die Liebhaber, Philine die Kammermädchen, die beiden jungen Frauenzimmer teilten sich in die naiven und zärtlichen Liebhaberinnen, der alte Polterer ward am besten gespielt. Melina selbst glaubte als Chevalier auftreten zu dürfen, Madame Melina mußte zu ihrem größten Verdruß in das Fach der jungen Frauen, ja sogar der zärtlichen Mütter übergehen, und weil in den neuern Stücken nicht leicht mehr ein Pedant oder Poet, wenn er auch vorkommen sollte, lächerlich gemacht wird, so mußte der bekannte Günstling des Grafen nunmehr die Präsidenten und Minister spielen, weil diese gewöhnlich als Bösewichter vorgestellt und im fünften Akte übel behandelt werden. Ebenso steckte Melina mit Vergnügen als Kammerjunker oder Kammerherr die Grobheiten ein, welche ihm von biedern deutschen Männern hergebrachtermaßen in mehreren beliebten Stücken aufgedrungen wurden, weil er sich doch bei dieser Gelegenheit artig herausputzen konnte und das Air eines Hofmannes, das er vollkommen zu besitzen glaubte, anzunehmen die Erlaubnis hatte.

Es dauerte nicht lange, so kamen von verschiedenen Gegenden mehrere Schauspieler herbeigeflossen, welche ohne sonderliche Prüfung angenommen, aber auch ohne sonderliche Bedingungen festgehalten wurden.

Wilhelm, den Melina vergebens einigemal zu einer Liebhaberrolle zu bereden suchte, nahm sich der Sache mit vielem guten Willen an, ohne daß unser neuer Direktor seine Bemühungen im mindesten anerkannte; vielmehr glaubte dieser mit seiner Würde auch alle nötige Einsicht überkommen zu haben; besonders war das Streichen eine seiner angenehmsten Beschäftigungen, wodurch er ein jedes Stück auf das gehörige Zeitmaß herunterzusetzen wußte, ohne irgendeine andere Rücksicht zu nehmen. Er hatte viel Zuspruch, das Publikum war sehr zufrieden, und die geschmackvollsten Einwohner des Städtchens behaupteten, daß das Theater in der Residenz keinesweges so gut als das ihre bestellt sei.

Drittes Kapitel

Endlich kam die Zeit herbei, daß man sich zur Überfahrt schicken, die Kutschen und Wagen erwarten sollte, die unsere ganze Truppe nach dem Schlosse des Grafen hinüberzuführen bestellt waren. Schon zum voraus fielen große Streitigkeiten vor, wer mit dem andern fahren, wie man sitzen sollte. Die Ordnung und Einteilung ward endlich nur mit Mühe ausgemacht und festgesetzt, doch leider ohne Wirkung. Zur bestimmten Stunde kamen weniger Wagen, als man erwartet hatte, und man mußte sich einrichten. Der Baron, der zu Pferde nicht lange hinterdrein folgte, gab zur Ursache an, daß im Schlosse alles in großer Bewegung sei, weil nicht allein der Fürst einige Tage früher eintreffen werde, als man geglaubt, sondern weil auch unerwarteter Besuch schon gegenwärtig angelangt sei; der Platz gehe sehr zusammen, sie würden auch deswegen nicht so gut logieren, als man es ihnen vorher bestimmt habe, welches ihm außerordentlich leid tue.

Man teilte sich in die Wagen, so gut es gehen wollte, und da leidlich Wetter und das Schloß nur einige Stunden entfernt war, machten sich die Lustigsten lieber zu Fuße auf den Weg, als daß sie die Rückkehr der Kutschen hätten abwarten sollen. Die Karawane zog mit Freudengeschrei aus, zum erstenmal ohne Sorgen, wie der Wirt zu bezahlen sei. Das Schloß des Grafen stand ihnen wie ein Feengebäude vor der Seele, sie waren die glücklichsten und fröhlichsten Menschen von der Welt, und jeder knüpfte unterwegs an diesen Tag, nach seiner Art zu denken, eine Reihe von Glück, Ehre und Wohlstand.

Ein starker Regen, der unerwartet einfiel, konnte sie nicht aus diesen angenehmen Empfindungen reißen; da er aber immer anhaltender und stärker wurde, spürten viele von ihnen eine ziemliche Unbequemlichkeit. Die Nacht kam herbei, und erwünschter konnte ihnen nichts erscheinen als der durch alle Stockwerke erleuchtete Palast des Grafen, der ihnen von einem Hügel entgegenglänzte, so daß sie die Fenster zählen konnten.

Als sie näher kamen, fanden sie auch alle Fenster der Seitengebäude erhellet. Ein jeder dachte bei sich, welches wohl sein Zimmer werden möchte, und die meisten begnügten sich bescheiden mit einer Stube in der Mansarde oder den Flügeln.

Nun fuhren sie durch das Dorf und am Wirtshause vorbei. Wilhelm ließ halten, um dort abzusteigen; allein der Wirt versicherte, daß er ihm nicht den geringsten Raum anweisen könne. Der Herr Graf habe, weil unvermutete Gäste angekommen, sogleich das ganze Wirtshaus besprochen, an allen Zimmern stehe schon seit gestern mit Kreide deutlich angeschrieben, wer darin wohnen solle. Wider seinen Willen mußte also unser Freund mit der übrigen Gesellschaft zum Schloßhofe hineinfahren.

Um die Küchenfeuer in einem Seitengebäude sahen sie geschäftige Köche sich hin und her bewegen und waren durch diesen Anblick schon erquickt; eilig kamen Bediente mit Lichtern auf die Treppe des Hauptgebäudes gesprungen, und das Herz der guten Wanderer quoll über diesen Aussichten auf. Wie sehr verwunderten sie sich dagegen, als sich dieser Empfang in ein entsetzliches Fluchen auflöste. Die Bedienten schimpften auf die Fuhrleute, daß sie hier hereingefahren seien; sie sollten umwenden, rief man, und wieder hinaus nach dem alten Schlosse zu, hier sei kein Raum für diese Gäste! Einem so unfreundlichen und unerwarteten Bescheide fügten sie noch allerlei Spöttereien hinzu und lachten sich untereinander aus, daß sie durch diesen Irrtum in den Regen gesprengt worden. Es goß noch immer, keine Sterne standen am Himmel, und nun wurde die Gesellschaft durch einen holperichten Weg zwischen zwei Mauern in das alte, hintere Schloß gezogen, welches unbewohnt dastand, seit der Vater des Grafen das vordere gebaut hatte. Teils im Hofe, teils unter einem langen, gewölbten Torwege hielten die Wagen still, und die Fuhrleute, Anspanner aus dem Dorfe, spannten aus und ritten ihrer Wege.

Da niemand zum Empfange der Gesellschaft sich zeigte, stiegen sie aus, riefen, suchten, vergebens! Alles blieb finster und stille. Der Wind blies durch das hohe Tor, und grauerlich waren die alten Türme und Höfe, wovon sie kaum die Gestalten in der Finsternis unterschieden. Sie froren und schauerten, die Frauen fürchteten sich, die Kinder fingen an zu weinen, ihre Ungeduld vermehrte sich mit jedem Augenblicke, und ein so schneller Glückswechsel, auf den niemand vorbereitet war, brachte sie alle ganz und gar aus der Fassung.

Da sie jeden Augenblick erwarteten, daß jemand kommen und ihnen aufschließen werde, da bald Regen, bald Sturm sie täuschte und sie mehr als einmal den Tritt des erwünschten Schloßvogts zu hören glaubten, blieben sie eine lange Zeit unmutig und untätig, es fiel keinem ein, in das neue Schloß zu gehen und dort mitleidige Seelen um Hülfe anzurufen. Sie konnten nicht begreifen, wo ihr Freund, der Baron, geblieben sei, und waren in einer höchst beschwerlichen Lage.

Endlich kamen wirklich Menschen an, und man erkannte an ihren Stimmen jene Fußgänger, die auf dem Wege hinter den Fahrenden zurückgeblieben waren. Sie erzählten, daß der Baron mit dem Pferde gestürzt sei, sich am Fuße stark beschädigt habe und daß man auch sie, da sie im Schlosse nachgefragt, mit Ungestüm hieher gewiesen habe.

Die ganze Gesellschaft war in der größten Verlegenheit; man ratschlagte, was man tun sollte, und konnte keinen Entschluß fassen. Endlich sah man von weitem eine Laterne kommen und holte frischen Atem; allein die Hoffnung einer baldigen Erlösung verschwand auch wieder, indem die Erscheinung näher kam und deutlich ward. Ein Reitknecht leuchtete dem bekannten Stallmeister des Grafen vor, und dieser erkundigte sich, als er näher kam, sehr eifrig nach Mademoiselle Philinen. Sie war kaum aus dem übrigen Haufen hervorgetreten, als er ihr sehr dringend anbot, sie in das neue Schloß zu führen, wo ein Plätzchen für sie bei den Kammerjungfern der Gräfin bereitet sei. Sie besann sich nicht lange, das Anerbieten dankbar zu ergreifen, faßte ihn bei dem Arme und wollte, da sie den andern ihren Koffer empfohlen, mit ihm forteilen; allein man trat ihnen in den Weg, fragte, bat, beschwor den Stallmeister, daß er endlich, um nur mit seiner Schönen loszukommen, alles versprach und versicherte, in kurzem solle das Schloß eröffnet und sie auf das beste einquartiert werden. Bald darauf sahen sie den Schein seiner Laterne verschwinden und hofften lange vergebens auf das neue Licht, das ihnen endlich nach vielem Warten, Schelten und Schmähen erschien und sie mit einigem Troste und Hoffnung belebte.

Ein alter Hausknecht eröffnete die Türe des alten Gebäudes, in das sie mit Gewalt eindrangen. Ein jeder sorgte nun für seine Sachen, sie abzupacken, sie hereinzuschaffen. Das meiste war, wie die Personen selbst, tüchtig durchweicht. Bei dem einen Lichte ging alles sehr langsam. Im Gebäude stieß man sich, stolperte, fiel. Man bat um mehr Lichter, man bat um Feuerung. Der einsilbige Hausknecht ließ mit genauer Not seine Laterne da, ging und kam nicht wieder.

Nun fing man an, das Haus zu durchsuchen; die Türen aller Zimmer waren offen, große Öfen, gewirkte Tapeten, eingelegte Fußböden waren von seiner vorigen Pracht noch übrig, von anderm Hausgeräte aber nichts zu finden, kein Tisch, kein Stuhl, kein Spiegel, kaum einige ungeheuere leere Bettstellen, alles Schmuckes und alles Notwendigen beraubt. Die nassen Koffer und Mantelsäcke wurden zu Sitzen gewählt, ein Teil der müden Wandrer bequemte sich auf dem Fußboden, Wilhelm hatte sich auf einige Stufen gesetzt, Mignon lag auf seinen Knien; das Kind war unruhig, und auf seine Frage, was ihm fehlte, antwortete es: »Mich hungert!« Er fand nichts bei sich, um das Verlangen des Kindes zu stillen, die übrige Gesellschaft hatte jeden Vorrat auch aufgezehrt, und er mußte die arme Kreatur ohne Erquickung lassen. Er blieb bei dem ganzen Vorfalle untätig, still in sich gekehrt: denn er war sehr verdrießlich und grimmig, daß er nicht auf seinem Sinne bestanden und bei dem Wirtshause abgestiegen sei, wenn er auch auf dem obersten Boden hätte sein Lager nehmen sollen.

Die übrigen gebärdeten sich jeder nach seiner Art. Einige hatten einen Haufen altes Gehölz in einen ungeheuren Kamin des Saals geschafft und zündeten mit großem Jauchzen den Scheiterhaufen an. Unglücklicherweise ward auch diese Hoffnung, sich zu trocknen und zu wärmen, auf das schrecklichste getäuscht, denn dieser Kamin stand nur zur Zierde da und war von oben herein vermauert; der Dampf trat schnell zurück und erfüllte auf einmal die Zimmer; das dürre Holz schlug prasselnd in Flammen auf, und auch die Flamme ward herausgetrieben; der Zug, der durch die zerbrochenen Fensterscheiben drang, gab ihr eine unstete Richtung, man fürchtete das Schloß anzuzünden, mußte das Feuer auseinanderziehen, austreten, dämpfen, der Rauch vermehrte sich, der Zustand wurde unerträglicher, man kam der Verzweiflung nahe.

Wilhelm war vor dem Rauch in ein entferntes Zimmer gewichen, wohin ihm bald Mignon folgte und einen wohlgekleideten Bedienten, der eine hohe, hellbrennende, doppelt erleuchtete Laterne trug, hereinführte; dieser wendete sich an Wilhelmen, und indem er ihm auf einem schönen porzellanenen Teller Konfekt und Früchte überreichte, sagte er: »Dies schickt Ihnen das junge Frauenzimmer von drüben mit der Bitte, zur Gesellschaft zu kommen; sie läßt sagen«, setzte der Bediente mit einer leichtfertigen Miene hinzu, »es geht ihr sehr wohl, und sie wünsche ihre Zufriedenheit mit ihren Freunden zu teilen.«

Wilhelm erwartete nichts weniger als diesen Antrag, denn er hatte Philinen seit dem Abenteuer der steinernen Bank mit entschiedener Verachtung begegnet und war so fest entschlossen, keine Gemeinschaft mehr mit ihr zu machen, daß er im Begriff stand, die süße Gabe wieder zurückzuschicken, als ein bittender Blick Mignons ihn vermochte, sie anzunehmen und im Namen des Kindes dafür zu danken; die Einladung schlug er ganz aus. Er bat den Bedienten, einige Sorge für die angekommene Gesellschaft zu haben, und erkundigte sich nach dem Baron. Dieser lag zu Bette, hatte aber schon, soviel der Bediente zu sagen wußte, einem andern Auftrag gegeben, für die elend Beherbergten zu sorgen.

Der Bediente ging und hinterließ Wilhelmen eins von seinen Lichtern, das dieser in Ermanglung eines Leuchters auf das Fenstergesims kleben mußte und nun wenigstens bei seinen Betrachtungen die vier Wände des Zimmers erhellt sah. Denn es währte noch lange, ehe die Anstalten rege wurden, die unsere Gäste zur Ruhe bringen sollten. Nach und nach kamen Lichter, jedoch ohne Lichtputzen, dann einige Stühle, eine Stunde darauf Deckbetten, dann Kissen, alles wohl durchnetzt, und es war schon weit über Mitternacht, als endlich Strohsäcke und Matratzen herbeigeschafft wurden, die, wenn man sie zuerst gehabt hätte, höchst willkommen gewesen wären.

In der Zwischenzeit war auch etwas von Essen und Trinken angelangt, das ohne viele Kritik genossen wurde, ob es gleich einem sehr unordentlichen Abhub ähnlich sah und von der Achtung, die man für die Gäste hatte, kein sonderliches Zeugnis ablegte.

Viertes Kapitel

Durch die Unart und den Übermut einiger leichtfertigen Gesellen vermehrte sich die Unruhe und das Übel der Nacht, indem sie sich einander neckten, aufweckten und sich wechselsweise allerlei Streiche spielten. Der andere Morgen brach an, unter lauten Klagen über ihren Freund, den Baron, daß er sie so getäuscht und ihnen ein ganz anderes Bild von der Ordnung und Bequemlichkeit, in die sie kommen würden, gemacht habe. Doch zur Verwunderung und Trost erschien in aller Frühe der Graf selbst mit einigen Bedienten und erkundigte sich nach ihren Umständen. Er war sehr entrüstet, als er hörte, wie übel es ihnen ergangen, und der Baron, der geführt herbeihinkte, verklagte den Haushofmeister, wie befehlswidrig er sich bei dieser Gelegenheit gezeigt, und glaubte ihm ein rechtes Bad angerichtet zu haben.

Der Graf befahl sogleich, daß alles in seiner Gegenwart zur möglichsten Bequemlichkeit der Gäste geordnet werden solle. Darauf kamen einige Offiziere, die von den Aktricen sogleich Kundschaft nahmen, und der Graf ließ sich die ganze Gesellschaft vorstellen, redete einen jeden bei seinem Namen an und mischte einige Scherze in die Unterredung, daß alle über einen so gnädigen Herrn ganz entzückt waren. Endlich mußte Wilhelm auch an die Reihe, an den sich Mignon anhing. Wilhelm entschuldigte sich, so gut er konnte, über seine Freiheit, der Graf hingegen schien seine Gegenwart als bekannt anzunehmen.

Ein Herr, der neben dem Grafen stand, den man für einen Offizier hielt, ob er gleich keine Uniform anhatte, sprach besonders mit unserm Freunde und zeichnete sich vor allen andern aus. Große, hellblaue Augen leuchteten unter einer hohen Stirne hervor, nachlässig waren seine blonden Haare aufgeschlagen, und seine mittlere Statur zeigte ein sehr wackres, festes und bestimmtes Wesen. Seine Fragen waren lebhaft, und er schien sich auf alles zu verstehen, wonach er fragte.

Wilhelm erkundigte sich nach diesem Manne bei dem Baron, der aber nicht viel Gutes von ihm zu sagen wußte. Er habe den Charakter als Major, sei eigentlich der Günstling des Prinzen, versehe dessen geheimste Geschäfte und werde für dessen rechten Arm gehalten, ja man habe Ursache zu glauben, er sei sein natürlicher Sohn. In Frankreich, England, Italien sei er mit Gesandtschaften gewesen, er werde überall sehr distinguiert, und das mache ihn einbildisch; er wähne, die deutsche Literatur aus dem Grunde zu kennen, und erlaube sich allerlei schale Spöttereien gegen dieselbe. Er, der Baron, vermeide alle Unterredung mit ihm, und Wilhelm werde wohl tun, sich auch von ihm entfernt zu halten, denn am Ende gebe er jedermann etwas ab. Man nenne ihn Jarno, wisse aber nicht recht, was man aus dem Namen machen solle.

Wilhelm hatte darauf nichts zu sagen, denn er empfand gegen den Fremden, ob er gleich etwas Kaltes und Abstoßendes hatte, eine gewisse Neigung.

Die Gesellschaft wurde in dem Schlosse eingeteilt, und Melina befahl sehr strenge, sie sollten sich nunmehr ordentlich halten, die Frauen sollten besonders wohnen und jeder nur auf seine Rollen, auf die Kunst sein Augenmerk und seine Neigung richten. Er schlug Vorschriften und Gesetze, die aus vielen Punkten bestanden, an alle Türen. Die Summe der Strafgelder war bestimmt, die ein jeder Übertreter in eine gemeine Büchse entrichten sollte.

Diese Verordnungen wurden wenig geachtet. Junge Offiziere gingen aus und ein, spaßten nicht eben auf das feinste mit den Aktricen, hatten die Akteure zum besten und vernichteten die ganze kleine Polizeiordnung, noch ehe sie Wurzel fassen konnte. Man jagte sich durch die Zimmer, verkleidete sich, versteckte sich. Melina, der anfangs einigen Ernst zeigen wollte, ward mit allerlei Mutwillen auf das Äußerste gebracht, und als ihn bald darauf der Graf holen ließ, um den Platz zu sehen, wo das Theater aufgerichtet werden sollte, ward das Übel nur immer ärger. Die jungen Herren ersannen sich allerlei platte Späße, durch Hülfe einiger Akteure wurden sie noch plumper, und es schien, als wenn das ganze alte Schloß vom wütenden Heere besessen sei; auch endigte der Unfug nicht eher, als bis man zur Tafel ging.

Der Graf hatte Melinan in einen großen Saal geführt, der noch zum alten Schlosse gehörte, durch eine Galerie mit dem neuen verbunden war und worin ein kleines Theater sehr wohl aufgestellt werden konnte. Daselbst zeigte der einsichtsvolle Hausherr, wie er alles wolle eingerichtet haben.

Nun ward die Arbeit in großer Eile vorgenommen, das Theatergerüste aufgeschlagen und ausgeziert, was man von Dekorationen in dem Gepäcke hatte und brauchen konnte, angewendet und das übrige mit Hülfe einiger geschickten Leute des Grafen verfertiget. Wilhelm griff selbst mit an, half die Perspektive bestimmen, die Umrisse abschnüren und war höchst beschäftigt, daß es nicht unschicklich werden sollte. Der Graf, der öfters dazukam, war sehr zufrieden damit, zeigte, wie sie das, was sie wirklich taten, eigentlich machen sollten, und ließ dabei ungemeine Kenntnisse jeder Kunst sehen.

Nun fing das Probieren recht ernstlich an, wozu sie auch Raum und Muße genug gehabt hätten, wenn sie nicht von den vielen anwesenden Fremden immer gestört worden wären. Denn es kamen täglich neue Gäste an, und ein jeder wollte die Gesellschaft in Augenschein nehmen.

Fünftes Kapitel

Der Baron hatte Wilhelmen einige Tage mit der Hoffnung hingehalten, daß er der Gräfin noch besonders vorgestellt werden sollte. »Ich habe«, sagte er, »dieser vortrefflichen Dame so viel von Ihren geistreichen und empfindungsvollen Stücken erzählt, daß sie nicht erwarten kann, Sie zu sprechen und sich eins und das andere vorlesen zu lassen. Halten Sie sich ja gefaßt, auf den ersten Wink hinüberzukommen, denn bei dem nächsten ruhigen Morgen werden Sie gewiß gerufen werden.« Er bezeichnete ihm darauf das Nachspiel, welches er zuerst vorlesen sollte, wodurch er sich ganz besonders empfehlen würde. Die Dame bedaure gar sehr, daß er zu einer solchen unruhigen Zeit eingetroffen sei und sich mit der übrigen Gesellschaft in dem alten Schlosse schlecht behelfen müsse.

Mit großer Sorgfalt nahm darauf Wilhelm das Stück vor, womit er seinen Eintritt in die große Welt machen sollte. »Du hast«, sagte er, »bisher im stillen für dich gearbeitet, nur von einzelnen Freunden Beifall erhalten; du hast eine Zeitlang ganz an deinem Talente verzweifelt, und du mußt immer noch in Sorgen sein, ob du denn auch auf dem rechten Wege bist und ob du soviel Talent als Neigung zum Theater hast. Vor den Ohren solcher geübten Kenner, im Kabinette, wo keine Illusion stattfindet, ist der Versuch weit gefährlicher als anderwärts, und ich möchte doch auch nicht gerne zurückbleiben, diesen Genuß an meine vorigen Freuden knüpfen und die Hoffnung auf die Zukunft erweitern.«

Er nahm darauf einige Stücke durch, las sie mit der größten Aufmerksamkeit, korrigierte hier und da, rezitierte sie sich laut vor, um auch in Sprache und Ausdruck recht gewandt zu sein, und steckte dasjenige, welches er am meisten geübt, womit er die größte Ehre einzulegen glaubte, in die Tasche, als er an einem Morgen hinüber vor die Gräfin gefordert wurde.

Der Baron hatte ihm versichert, sie würde allein mit einer guten Freundin sein. Als er in das Zimmer trat, kam die Baronesse von C*** ihm mit vieler Freundlichkeit entgegen, freute sich, seine Bekanntschaft zu machen, und präsentierte ihn der Gräfin, die sich eben frisieren ließ und ihn mit freundlichen Worten und Blicken empfing, neben deren Stuhl er aber leider Philinen knien und allerlei Torheiten machen sah. »Das schöne Kind«, sagte die Baronesse, »hat uns verschiedenes vorgesungen. Endige Sie doch das angefangene Liedchen, damit wir nichts davon verlieren.«

Wilhelm hörte das Stückchen mit großer Geduld an, indem er die Entfernung des Friseurs wünschte, ehe er seine Vorlesung anfangen wollte. Man bot ihm eine Tasse Schokolade an, wozu ihm die Baronesse selbst den Zwieback reichte. Dessenungeachtet schmeckte ihm das Frühstück nicht, denn er wünschte zu lebhaft, der schönen Gräfin irgend etwas vorzutragen, was sie interessieren, wodurch er ihr gefallen könnte. Auch Philine war ihm nur zu sehr im Wege, die ihm als Zuhörerin oft schon unbequem gewesen war. Er sah mit Schmerzen dem Friseur auf die Hände und hoffte in jedem Augenblicke mehr auf die Vollendung des Baues.

Indessen war der Graf hereingetreten und erzählte von den heut zu erwartenden Gästen, von der Einteilung des Tages, und was sonst etwa Häusliches vorkommen möchte. Da er hinausging, ließen einige Offiziere bei der Gräfin um die Erlaubnis bitten, ihr, weil sie noch vor Tafel wegreiten müßten, aufwarten zu dürfen. Der Kammerdiener war indessen fertig geworden, und sie ließ die Herren hereinkommen.

Die Baronesse gab sich inzwischen Mühe, unsern Freund zu unterhalten und ihm viele Achtung zu bezeigen, die er mit Ehrfurcht, obgleich etwas zerstreut, aufnahm. Er fühlte manchmal nach dem Manuskripte in der Tasche, hoffte auf jeden Augenblick, und fast wollte seine Geduld reißen, als ein Galanteriehändler hereingelassen wurde, der seine Pappen, Kasten, Schachteln unbarmherzig eine nach der andern eröffnete und jede Sorte seiner Waren mit einer diesem Geschlechte eigenen Zudringlichkeit vorwies.

Die Gesellschaft vermehrte sich. Die Baronesse sah Wilhelmen an und sprach leise mit der Gräfin; er bemerkte es, ohne die Absicht zu verstehen, die ihm endlich zu Hause klar wurde, als er sich nach einer ängstlich und vergebens durchharrten Stunde wegbegab. Er fand ein schönes englisches Portefeuille in der Tasche. Die Baronesse hatte es ihm heimlich beizustecken gewußt, und gleich darauf folgte der Gräfin kleiner Mohr, der ihm eine artig gestickte Weste überbrachte, ohne recht deutlich zu sagen, woher sie komme.

Sechstes Kapitel

Das Gemisch der Empfindungen von Verdruß und Dankbarkeit verdarb ihm den ganzen Rest des Tages, bis er gegen Abend wieder Beschäftigung fand, indem Melina ihm eröffnete, der Graf habe von einem Vorspiele gesprochen, das dem Prinzen zu Ehren den Tag seiner Ankunft aufgeführt werden sollte. Er wolle darin die Eigenschaften dieses großen Helden und Menschenfreundes personifizieret haben. Diese Tugenden sollten miteinander auftreten, sein Lob verkündigen und zuletzt seine Büste mit Blumen- und Lorbeerkränzen umwinden, wobei sein verzogener Name mit dem Fürstenhute durchscheinend glänzen sollte. Der Graf habe ihm aufgegeben, für die Versifikation und übrige Einrichtung dieses Stückes zu sorgen, und er hoffe, daß ihm Wilhelm, dem es etwas Leichtes sei, hierin gerne beistehen werde.

»Wie!« rief dieser verdrießlich aus, »haben wir nichts als Porträte, verzogene Namen und allegorische Figuren, um einen Fürsten zu ehren, der nach meiner Meinung ein ganz anderes Lob verdient? Wie kann es einem vernünftigen Manne schmeicheln, sich in effigie aufgestellt und seinen Namen auf geöltem Papiere schimmern zu sehen! Ich fürchte sehr, die Allegorien würden, besonders bei unserer Garderobe, zu manchen Zweideutigkeiten und Späßen Anlaß geben. Wollen Sie das Stück machen oder machen lassen, so kann ich nichts dawider haben, nur bitte ich, daß ich damit verschont bleibe.«

Melina entschuldigte sich, es sei nur die ungefähre Angabe des Herrn Grafen, der ihnen übrigens ganz überlasse, wie sie das Stück arrangieren wollten. »Herzlich gerne«, versetzte Wilhelm, »trage ich etwas zum Vergnügen dieser vortrefflichen Herrschaft bei, und meine Muse hat noch kein so angenehmes Geschäfte gehabt, als zum Lob eines Fürsten, der so viel Verehrung verdient, auch nur stammelnd sich hören zu lassen. Ich will der Sache nachdenken, vielleicht gelingt es mir, unsre kleine Truppe so zu stellen, daß wir doch wenigstens einigen Effekt machen.«

Von diesem Augenblicke sann Wilhelm eifrig dem Auftrage nach. Ehe er einschlief, hatte er alles schon ziemlich geordnet, und den andern Morgen bei früher Zeit war der Plan fertig, die Szenen entworfen, ja schon einige der vornehmsten Stellen und Gesänge in Verse und zu Papiere gebracht.

Wilhelm eilte morgens gleich, den Baron wegen gewisser Umstände zu sprechen, und legte ihm seinen Plan vor. Diesem gefiel er sehr wohl, doch bezeigte er einige Verwunderung. Denn er hatte den Grafen gestern abend von einem ganz andern Stücke sprechen hören, welches nach seiner Angabe in Verse gebracht werden sollte.

»Es ist mir nicht wahrscheinlich«, versetzte Wilhelm, »daß es die Absicht des Herrn Grafen gewesen sei, gerade das Stück, so wie er es Melinan angegeben, fertigen zu lassen: wenn ich nicht irre, so wollte er uns bloß durch einen Fingerzeig auf den rechten Weg weisen. Der Liebhaber und Kenner zeigt dem Künstler an, was er wünscht, und überläßt ihm alsdann die Sorge, das Werk hervorzubringen.«

»Mitnichten«, versetzte der Baron; »der Herr Graf verläßt sich darauf, daß das Stück so und nicht anders, wie er es angegeben, aufgeführt werde. Das Ihrige hat freilich eine entfernte Ähnlichkeit mit seiner Idee, und wenn wir es durchsetzen und ihn von seinen ersten Gedanken abbringen wollen, so müssen wir es durch die Damen bewirken. Vorzüglich weiß die Baronesse dergleichen Operationen meisterhaft anzulegen; es wird die Frage sein, ob ihr der Plan so gefällt, daß sie sich der Sache annehmen mag, und dann wird es gewiß gehen.«

»Wir brauchen ohnedies die Hülfe der Damen«, sagte Wilhelm, »denn es möchte unser Personal und unsere Garderobe zu der Ausführung nicht hinreichen. Ich habe auf einige hübsche Kinder gerechnet, die im Hause hin und wider laufen und die dem Kammerdiener und dem Haushofmeister zugehören.«

Darauf ersuchte er den Baron, die Damen mit seinem Plane bekannt zu machen. Dieser kam bald zurück und brachte die Nachricht, sie wollten ihn selbst sprechen. Heute abend, wenn die Herren sich zum Spiele setzten, das ohnedies wegen der Ankunft eines gewissen Generals ernsthafter werden würde als gewöhnlich, wollten sie sich unter dem Vorwande einer Unpäßlichkeit in ihr Zimmer zurückziehen, er sollte durch die geheime Treppe eingeführt werden und könne alsdann seine Sache auf das beste vortragen. Diese Art von Geheimnis gebe der Angelegenheit nunmehr einen doppelten Reiz, und die Baronesse besonders freue sich wie ein Kind auf dieses Rendezvous und mehr noch darauf, daß es heimlich und geschickt gegen den Willen des Grafen unternommen werden sollte.

Gegen Abend um die bestimmte Zeit ward Wilhelm abgeholt und mit Vorsicht hinaufgeführt. Die Art, mit der ihm die Baronesse in einem kleinen Kabinette entgegenkam, erinnerte ihn einen Augenblick an vorige glückliche Zeiten. Sie brachte ihn in das Zimmer der Gräfin, und nun ging es an ein Fragen, an ein Untersuchen. Er legte seinen Plan mit der möglichsten Wärme und Lebhaftigkeit vor, so daß die Damen dafür ganz eingenommen wurden, und unsere Leser werden erlauben, daß wir sie auch in der Kürze damit bekannt machen.

In einer ländlichen Szene sollten Kinder das Stück mit einem Tanze eröffnen, der jenes Spiel vorstellte, wo eins herumgehen und dem andern einen Platz abgewinnen muß. Darauf sollten sie mit andern Scherzen abwechseln und zuletzt zu einem immer wiederkehrenden Reihentanze ein fröhliches Lied singen. Darauf sollte der Harfner mit Mignon herbeikommen, Neugierde erregen und mehrere Landleute herbeilocken; der Alte sollte verschiedene Lieder zum Lobe des Friedens, der Ruhe, der Freude singen und Mignon darauf den Eiertanz tanzen.

In dieser unschuldigen Freude werden sie durch eine kriegerische Musik gestört und die Gesellschaft von einem Trupp Soldaten überfallen. Die Mannspersonen setzen sich zur Wehre und werden überwunden, die Mädchen fliehen und werden eingeholt. Es scheint alles im Getümmel zugrunde zu gehen, als eine Person, über deren Bestimmung der Dichter noch ungewiß war, herbeikommt und durch die Nachricht, daß der Heerführer nicht weit sei, die Ruhe wiederherstellt. Hier wird der Charakter des Helden mit den schönsten Zügen geschildert, mitten unter den Waffen Sicherheit versprochen, dem Übermut und der Gewalttätigkeit Schranken gesetzt. Es wird ein allgemeines Fest zu Ehren des großmütigen Heerführers begangen.

Die Damen waren mit dem Plane sehr zufrieden, nur behaupteten sie, es müsse notwendig etwas Allegorisches in dem Stücke sein, um es dem Herrn Grafen angenehm zu machen. Der Baron tat den Vorschlag, den Anführer der Soldaten als den Genius der Zwietracht und der Gewalttätigkeit zu bezeichnen; zuletzt aber müsse Minerva herbeikommen, ihm Fesseln anzulegen, Nachricht von der Ankunft des Helden zu geben und dessen Lob zu preisen. Die Baronesse übernahm das Geschäft, den Grafen zu überzeugen, daß der von ihm angegebene Plan, nur mit einiger Veränderung, ausgeführt worden sei; dabei verlangte sie ausdrücklich, daß am Ende des Stücks notwendig die Büste, der verzogene Namen und der Fürstenhut erscheinen mußten, weil sonst alle Unterhandlung vergeblich sein würde.

Wilhelm, der sich schon im Geiste vorgestellt hatte, wie fein er seinen Helden aus dem Munde der Minerva preisen wollte, gab nur nach langem Widerstande in diesem Punkte nach, allein er fühlte sich auf eine sehr angenehme Weise gezwungen. Die schönen Augen der Gräfin und ihr liebenswürdiges Betragen hätten ihn gar leicht bewogen, auch auf die schönste und angenehmste Erfindung, auf die so erwünschte Einheit einer Komposition und auf alle schicklichen Details Verzicht zu tun und gegen sein poetisches Gewissen zu handeln. Ebenso stand auch seinem bürgerlichen Gewissen ein harter Kampf bevor, indem bei bestimmterer Austeilung der Rollen die Damen ausdrücklich darauf bestanden, daß er mitspielen müsse.

Laertes hatte zu seinem Teil jenen gewalttätigen Kriegsgott erhalten. Wilhelm sollte den Anführer der Landleute vorstellen, der einige sehr artige und gefühlvolle Verse zu sagen hatte. Nachdem er sich eine Zeitlang gesträubt, mußte er sich endlich doch ergeben; besonders fand er keine Entschuldigung, da die Baronesse ihm vorstellte, die Schaubühne hier auf dem Schlosse sei ohnedem nur als ein Gesellschaftstheater anzusehen, auf dem sie gern, wenn man nur eine schickliche Einleitung machen könnte, mitzuspielen wünschte. Darauf entließen die Damen unsern Freund mit vieler Freundlichkeit. Die Baronesse versicherte ihm, daß er ein unvergleichlicher Mensch sei, und begleitete ihn bis an die kleine Treppe, wo sie ihm mit einem Händedruck gute Nacht gab.

Siebentes Kapitel

Befeuert durch den aufrichtigen Anteil, den die Frauenzimmer an der Sache nahmen, ward der Plan, der ihm durch die Erzählung gegenwärtiger geworden war, ganz lebendig. Er brachte den größten Teil der Nacht und den andern Morgen mit der sorgfältigsten Versifikation des Dialogs und der Lieder zu.

Er war so ziemlich fertig, als er in das neue Schloß gerufen wurde, wo er hörte, daß die Herrschaft, die eben frühstückte, ihn sprechen wollte. Er trat in den Saal, die Baronesse kam ihm wieder zuerst entgegen, und unter dem Vorwande, als wenn sie ihm einen guten Morgen bieten wollte, lispelte sie heimlich zu ihm: »Sagen Sie nichts von Ihrem Stücke, als was Sie gefragt werden.«

»Ich höre«, rief ihm der Graf zu, »Sie sind recht fleißig und arbeiten an meinem Vorspiele, das ich zu Ehren des Prinzen geben will. Ich billige, daß Sie eine Minerva darin anbringen wollen, und ich denke beizeiten darauf, wie die Göttin zu kleiden ist, damit man nicht gegen das Kostüm verstößt. Ich lasse deswegen aus meiner Bibliothek alle Bücher herbeibringen, worin sich das Bild derselben befindet.«

In eben dem Augenblicke traten einige Bedienten mit großen Körben voll Bücher allerlei Formats in den Saal.

Montfaucon, die Sammlungen antiker Statuen, Gemmen und Münzen, alle Arten mythologischer Schriften wurden aufgeschlagen und die Figuren verglichen. Aber auch daran war es noch nicht genug! Des Grafen vortreffliches Gedächtnis stellte ihm alle Minerven vor, die etwa noch auf Titelkupfern, Vignetten oder sonst vorkommen mochten. Es mußte deshalb ein Buch nach dem andern aus der Bibliothek herbeigeschafft werden, so daß der Graf zuletzt in einem Haufen von Büchern saß. Endlich, da ihm keine Minerva mehr einfiel, rief er mit Lachen aus: »Ich wollte wetten, daß nun keine Minerva mehr in der ganzen Bibliothek sei, und es möchte wohl das erste Mal vorkommen, daß eine Büchersammlung so ganz und gar des Bildes ihrer Schutzgöttin entbehren muß.«

Die ganze Gesellschaft freute sich über den Einfall, und besonders Jarno, der den Grafen immer mehr Bücher herbeizuschaffen gereizt hatte, lachte ganz unmäßig.

»Nunmehr«, sagte der Graf, indem er sich zu Wilhelm wendete, »ist es eine Hauptsache, welche Göttin meinen Sie? Minerva oder Pallas? die Göttin des Krieges oder der Künste?«

»Sollte es nicht am schicklichsten sein, Euer Exzellenz«, versetzte Wilhelm, »wenn man hierüber sich nicht bestimmt ausdrückte und sie, eben weil sie in der Mythologie eine doppelte Person spielt, auch hier in doppelter Qualität erscheinen ließe? Sie meldet einen Krieger an, aber nur, um das Volk zu beruhigen, sie preist einen Helden, indem sie seine Menschlichkeit erhebt, sie überwindet die Gewalttätigkeit und stellt die Freude und Ruhe unter dem Volke wieder her.«

Die Baronesse, der es bange wurde, Wilhelm möchte sich verraten, schob geschwinde den Leibschneider der Gräfin dazwischen, der seine Meinung abgeben mußte, wie ein solcher antiker Rock auf das beste gefertiget werden könnte. Dieser Mann, in Maskenarbeiten erfahren, wußte die Sache sehr leicht zu machen, und da Madame Melina ungeachtet ihrer hohen Schwangerschaft die Rolle der himmlischen Jungfrau übernommen hatte, so wurde er angewiesen, ihr das Maß zu nehmen, und die Gräfin bezeichnete, wiewohl mit einigem Unwillen ihrer Kammerjungfern, die Kleider aus der Garderobe, welche dazu verschnitten werden sollten.

Auf eine geschickte Weise wußte die Baronesse Wilhelmen wieder beiseite zu schaffen und ließ ihn bald darauf wissen, sie habe die übrigen Sachen auch besorgt. Sie schickte ihm zugleich den Musikus, der des Grafen Hauskapelle dirigierte, damit dieser teils die notwendigen Stücke komponieren, teils schickliche Melodien aus dem Musikvorrate dazu aussuchen sollte. Nunmehr ging alles nach Wunsche, der Graf fragte dem Stücke nicht weiter nach, sondern war hauptsächlich mit der transparenten Dekoration beschäftigt, welche am Ende des Stückes die Zuschauer überraschen sollte. Seine Erfindung und die Geschicklichkeit seines Konditors brachten zusammen wirklich eine recht angenehme Erleuchtung zuwege. Denn auf seinen Reisen hatte er die größten Feierlichkeiten dieser Art gesehen, viele Kupfer und Zeichnungen mitgebracht und wußte, was dazu gehörte, mit vielem Geschmacke anzugeben.

Unterdessen endigte Wilhelm sein Stück, gab einem jeden seine Rolle, übernahm die seinige, und der Musikus, der sich zugleich sehr gut auf den Tanz verstand, richtete das Ballett ein, und so ging alles zum besten.

Nur ein unerwartetes Hindernis legte sich in den Weg, das ihm eine böse Lücke zu machen drohte. Er hatte sich den größten Effekt von Mignons Eiertanze versprochen, und wie erstaunt war er daher, als das Kind ihm mit seiner gewöhnlichen Trockenheit abschlug zu tanzen, versicherte, es sei nunmehr sein und werde nicht mehr auf das Theater gehen. Er suchte es durch allerlei Zureden zu bewegen und ließ nicht eher ab, als bis es bitterlich zu weinen anfing, ihm zu Füßen fiel und rief: »Lieber Vater! bleib auch du von den Brettern!« Er merkte nicht auf diesen Wink und sann, wie er durch eine andere Wendung die Szene interessant machen wollte.

Philine, die eins von den Landmädchen machte und in dem Reihentanz die einzelne Stimme singen und die Verse dem Chore zubringen sollte, freute sich recht ausgelassen darauf. Übrigens ging ihr es vollkommen nach Wunsche, sie hatte ihr besonderes Zimmer, war immer um die Gräfin, die sie mit ihren Affenpossen unterhielt und dafür täglich etwas geschenkt bekam: ein Kleid zu diesem Stücke wurde auch für sie zurechtegemacht; und weil sie von einer leichten, nachahmenden Natur war, so hatte sie sich bald aus dem Umgange der Damen soviel gemerkt, als sich für sie schickte, und war in kurzer Zeit voll Lebensart und guten Betragens geworden. Die Sorgfalt des Stallmeisters nahm mehr zu als ab, und da die Offiziere auch stark auf sie eindrangen und sie sich in einem so reichlichen Elemente befand, fiel es ihr ein, auch einmal die Spröde zu spielen und auf eine geschickte Weise sich in einem gewissen vornehmen Ansehen zu üben. Kalt und fein, wie sie war, kannte sie in acht Tagen die Schwächen des ganzen Hauses, daß, wenn sie absichtlich hätte verfahren können, sie gar leicht ihr Glück würde gemacht haben. Allein auch hier bediente sie sich ihres Vorteils nur, um sich zu belustigen, um sich einen guten Tag zu machen und impertinent zu sein, wo sie merkte, daß es ohne Gefahr geschehen konnte.

Die Rollen waren gelernt, eine Hauptprobe des Stücks ward befohlen, der Graf wollte dabeisein, und seine Gemahlin fing an zu sorgen, wie er es aufnehmen möchte. Die Baronesse berief Wilhelmen heimlich, und man zeigte, je näher die Stunde herbeirückte, immer mehr Verlegenheit: denn es war doch eben ganz und gar nichts von der Idee des Grafen übriggeblieben. Jarno, der eben hereintrat, wurde in das Geheimnis gezogen. Es freute ihn herzlich, und er war geneigt, seine guten Dienste den Damen anzubieten. »Es wäre gar schlimm«, sagte er, »gnädige Frau, wenn Sie sich aus dieser Sache nicht allein heraushelfen wollten; doch auf alle Fälle will ich im Hinterhalte liegenbleiben.« Die Baronesse erzählte hierauf, wie sie bisher dem Grafen das ganze Stück, aber nur immer stellenweise und ohne Ordnung erzählt habe, daß er also auf jedes Einzelne vorbereitet sei, nur stehe er freilich in Gedanken, das Ganze werde mit seiner Idee zusammentreffen. »Ich will mich«, sagte sie, »heute abend in der Probe zu ihm setzen und ihn zu zerstreuen suchen. Den Konditor habe ich auch schon vorgehabt, daß er ja die Dekorationen am Ende recht schön macht, dabei aber doch etwas Geringes fehlen läßt.«

»Ich wüßte einen Hof«, versetzte Jarno, »wo wir so tätige und kluge Freunde brauchten, als Sie sind. Will es heute abend mit Ihren Künsten nicht mehr fort, so winken Sie mir, und ich will den Grafen herausholen und ihn nicht eher wieder hineinlassen, bis Minerva auftritt und von der Illumination bald Sukkurs zu hoffen ist. Ich habe ihm schon seit einigen Tagen etwas zu eröffnen, das seinen Vetter betrifft und das ich noch immer aus Ursachen aufgeschoben habe. Es wird ihm auch das eine Distraktion geben, und zwar nicht die angenehmste.«

Einige Geschäfte hinderten den Grafen, beim Anfange der Probe zu sein, dann unterhielt ihn die Baronesse. Jarnos Hülfe war gar nicht nötig. Denn indem der Graf genug zurechtzuweisen, zu verbessern und anzuordnen hatte, vergaß er sich ganz und gar darüber, und da Frau Melina zuletzt nach seinem Sinne sprach und die Illumination gut ausfiel, bezeigte er sich vollkommen zufrieden. Erst als alles vorbei war und man zum Spiele ging, schien ihm der Unterschied aufzufallen, und er fing an nachzudenken, ob denn das Stück auch wirklich von seiner Erfindung sei. Auf einen Wink fiel nun Jarno aus seinem Hinterhalte hervor, der Abend verging, die Nachricht, daß der Prinz wirklich komme, bestätigte sich, man ritt einigemal aus, die Avantgarde in der Nachbarschaft kampieren zu sehen, das Haus war voll Lärmen und Unruhe, und unsere Schauspieler, die nicht immer zum besten von den unwilligen Bedienten versorgt wurden, mußten, ohne daß jemand sonderlich sich ihrer erinnerte, in dem alten Schlosse ihre Zeit in Erwartungen und Übungen zubringen.

Achtes Kapitel

Endlich war der Prinz angekommen; die Generalität, die Stabsoffiziere und das übrige Gefolge, das zu gleicher Zeit eintraf, die vielen Menschen, die teils zum Besuche, teils geschäftswegen einsprachen, machten das Schloß einem Bienenstocke ähnlich, der eben schwärmen will. Jedermann drängte sich herbei, den vortrefflichen Fürsten zu sehen, und jedermann bewunderte seine Leutseligkeit und Herablassung, jedermann erstaunte, in dem Helden und Heerführer zugleich den gefälligsten Hofmann zu erblicken.

Alle Hausgenossen mußten nach Ordre des Grafen bei der Ankunft des Fürsten auf ihrem Posten sein, kein Schauspieler durfte sich blicken lassen, weil der Prinz mit den vorbereiteten Feierlichkeiten überrascht werden sollte, und so schien er auch des Abends, als man ihn in den großen, wohlerleuchteten und mit gewirkten Tapeten des vorigen Jahrhunderts ausgezierten Saal führte, ganz und gar nicht auf ein Schauspiel, viel weniger auf ein Vorspiel zu seinem Lobe vorbereitet zu sein. Alles lief auf das beste ab, und die Truppe mußte nach vollendeter Vorstellung herbei und sich dem Prinzen zeigen, der jeden auf die freundlichste Weise etwas zu fragen, jedem auf die gefälligste Art etwas zu sagen wußte. Wilhelm als Autor mußte besonders vortreten, und ihm ward gleichfalls sein Teil Beifall zugespendet.

Nach dem Vorspiele fragte niemand sonderlich, in einigen Tagen war es, als wenn nichts dergleichen wäre aufgeführt worden, außer daß Jarno mit Wilhelmen gelegentlich davon sprach und es sehr verständig lobte; nur setzte er hinzu: »Es ist schade, daß Sie mit hohlen Nüssen um hohle Nüsse spielen.« – Mehrere Tage lag Wilhelmen dieser Ausdruck im Sinne, er wußte nicht, wie er ihn auslegen noch was er daraus nehmen sollte.

Unterdessen spielte die Gesellschaft jeden Abend so gut, als sie es nach ihren Kräften vermochte, und tat das mögliche, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zu ziehen. Ein unverdienter Beifall munterte sie auf, und in ihrem alten Schlosse glaubten sie nun wirklich, eigentlich um ihretwillen dränge sich die große Versammlung herbei, nach ihren Vorstellungen ziehe sich die Menge der Fremden und sie seien der Mittelpunkt, um den und um deswillen sich alles drehe und bewege.

Wilhelm allein bemerkte zu seinem großen Verdrusse gerade das Gegenteil. Denn obgleich der Prinz die ersten Vorstellungen von Anfange bis zu Ende auf seinem Sessel sitzend mit der größten Gewissenhaftigkeit abwartete, so schien er sich doch nach und nach auf eine gute Weise davon zu dispensieren. Gerade diejenigen, welche Wilhelm im Gespräche als die Verständigsten gefunden hatte, Jarno an ihrer Spitze, brachten nur flüchtige Augenblicke im Theatersaale zu, übrigens saßen sie im Vorzimmer, spielten oder schienen sich von Geschäften zu unterhalten.

Wilhelmen verdroß gar sehr, bei seinen anhaltenden Bemühungen des erwünschtesten Beifalls zu entbehren. Bei der Auswahl der Stücke, der Abschrift der Rollen, den häufigen Proben, und was sonst nur immer vorkommen konnte, ging er Melinan eifrig zur Hand, der ihn denn auch, seine eigene Unzulänglichkeit im stillen fühlend, zuletzt gewähren ließ. Die Rollen memorierte Wilhelm mit Fleiß und trug sie mit Wärme und Lebhaftigkeit und mit soviel Anstand vor, als die wenige Bildung erlaubte, die er sich selbst gegeben hatte.

Die fortgesetzte Teilnahme des Barons benahm indes der übrigen Gesellschaft jeden Zweifel, indem er sie versicherte, daß sie die größten Effekte hervorbringe, besonders indem sie eins seiner eigenen Stücke aufführte, nur bedauerte er, daß der Prinz eine ausschließende Neigung für das französische Theater habe, daß ein Teil seiner Leute hingegen, worunter sich Jarno besonders auszeichne, den Ungeheuern der englischen Bühne einen leidenschaftlichen Vorzug gebe.

War nun auf diese Weise die Kunst unsrer Schauspieler nicht auf das beste bemerkt und bewundert, so waren dagegen ihre Personen den Zuschauern und Zuschauerinnen nicht völlig gleichgültig. Wir haben schon oben angezeigt, daß die Schauspielerinnen gleich von Anfang die Aufmerksamkeit junger Offiziere erregten; allein sie waren in der Folge glücklicher und machten wichtigere Eroberungen. Doch wir schweigen davon und bemerken nur, daß Wilhelm der Gräfin von Tag zu Tag interessanter vorkam, so wie auch in ihm eine stille Neigung gegen sie aufzukeimen anfing. Sie konnte, wenn er auf dem Theater war, die Augen nicht von ihm abwenden, und er schien bald nur allein gegen sie gerichtet zu spielen und zu rezitieren. Sich wechselseitig anzusehen war ihnen ein unaussprechliches Vergnügen, dem sich ihre harmlosen Seelen ganz überließen, ohne lebhaftere Wünsche zu nähren oder für irgendeine Folge besorgt zu sein.

Wie über einen Fluß hinüber, der sie scheidet, zwei feindliche Vorposten sich ruhig und lustig zusammen besprechen, ohne an den Krieg zu denken, in welchem ihre beiderseitigen Parteien begriffen sind, so wechselte die Gräfin mit Wilhelm bedeutende Blicke über die ungeheure Kluft der Geburt und des Standes hinüber, und jedes glaubte an seiner Seite, sicher seinen Empfindungen nachhängen zu dürfen.

Die Baronesse hatte sich indessen den Laertes ausgesucht, der ihr als ein wackerer, munterer Jüngling besonders gefiel und der, sosehr Weiberfeind er war, doch ein vorbeigehendes Abenteuer nicht verschmähete und wirklich diesmal wider Willen durch die Leutseligkeit und das einnehmende Wesen der Baronesse gefesselt worden wäre, hätte ihm der Baron zufällig nicht einen guten oder, wenn man will, einen schlimmen Dienst erzeigt, indem er ihn mit den Gesinnungen dieser Dame näher bekannt machte.

Denn als Laertes sie einst laut rühmte und sie allen andern ihres Geschlechts vorzog, versetzte der Baron scherzend: »Ich merke schon, wie die Sachen stehen, unsre liebe Freundin hat wieder einen für ihre Ställe gewonnen.« Dieses unglückliche Gleichnis, das nur zu klar auf die gefährlichen Liebkosungen einer Circe deutete, verdroß Laertes über die Maßen, und er konnte dem Baron nicht ohne Ärgernis zuhören, der ohne Barmherzigkeit fortfuhr:

»Jeder Fremde glaubt, daß er der erste sei, dem ein so angenehmes Betragen gelte; aber er irrt gewaltig, denn wir alle sind einmal auf diesem Wege herumgeführt worden; Mann, Jüngling oder Knabe, er sei, wer er sei, muß sich eine Zeitlang ihr ergeben, ihr anhängen und sich mit Sehnsucht um sie bemühen.«

Den Glücklichen, der eben, in die Gärten einer Zauberin hineintretend, von allen Seligkeiten eines künstlichen Frühlings empfangen wird, kann nichts unangenehmer überraschen, als wenn ihm, dessen Ohr ganz auf den Gesang der Nachtigall lauscht, irgendein verwandelter Vorfahr unvermutet entgegengrunzt.

Laertes schämte sich nach dieser Entdeckung recht von Herzen, daß ihn seine Eitelkeit nochmals verleitet habe, von irgendeiner Frau auch nur im mindesten gut zu denken. Er vernachlässigte sie nunmehr völlig, hielt sich zu dem Stallmeister, mit dem er fleißig focht und auf die Jagd ging, bei Proben und Vorstellungen aber sich betrug, als wenn dies bloß eine Nebensache wäre.

Der Graf und die Gräfin ließen manchmal morgens einige von der Gesellschaft rufen, da jeder denn immer Philinens unverdientes Glück zu beneiden Ursache fand. Der Graf hatte seinen Liebling, den Pedanten, oft stundenlang bei seiner Toilette. Dieser Mensch ward nach und nach bekleidet und bis auf Uhr und Dose equipiert und ausgestattet.

Auch wurde die Gesellschaft manchmal samt und sonders nach Tafel vor die hohen Herrschaften gefordert. Sie schätzten sich es zur größten Ehre und bemerkten es nicht, daß man zu ebenderselben Zeit durch Jäger und Bediente eine Anzahl Hunde hereinbringen und Pferde im Schloßhofe vorführen ließ.

Man hatte Wilhelmen gesagt, daß er ja gelegentlich des Prinzen Liebling Racine loben und dadurch auch von sich eine gute Meinung erwecken solle. Er fand dazu an einem solchen Nachmittage Gelegenheit, da er auch mit vorgefordert worden war und der Prinz ihn fragte, ob er auch fleißig die großen französischen Theaterschriftsteller lese, darauf ihm denn Wilhelm mit einem sehr lebhaften Ja antwortete. Er bemerkte nicht, daß der Fürst, ohne seine Antwort abzuwarten, schon im Begriff war, sich weg und zu jemand andern zu wenden, er faßte ihn vielmehr sogleich und trat ihm beinah in den Weg, indem er fortfuhr: er schätze das französische Theater sehr hoch und lese die Werke der großen Meister mit Entzücken; besonders habe er zu wahrer Freude gehört, daß der Fürst den großen Talenten eines Racine völlige Gerechtigkeit widerfahren lasse. »Ich kann es mir vorstellen«, fuhr er fort, »wie vornehme und erhabene Personen einen Dichter schätzen müssen, der die Zustände ihrer höheren Verhältnisse so vortrefflich und richtig schildert. Corneille hat, wenn ich so sagen darf, große Menschen dargestellt, und Racine vornehme Personen. Ich kann mir, wenn ich seine Stücke lese, immer den Dichter denken, der an einem glänzenden Hofe lebt, einen großen König vor Augen hat, mit den Besten umgeht und in die Geheimnisse der Menschheit dringt, wie sie sich hinter kostbar gewirkten Tapeten verbergen. Wenn ich seinen ›Britannicus‹, seine ›Bérénice‹ studiere, so kommt es mir wirklich vor, ich sei am Hofe, sei in das Große und Kleine dieser Wohnungen der irdischen Götter geweiht, und ich sehe durch die Augen eines feinfühlenden Franzosen Könige, die eine ganze Nation anbetet, Hofleute, die von viel Tausenden beneidet werden, in ihrer natürlichen Gestalt mit ihren Fehlern und Schmerzen. Die Anekdote, daß Racine sich zu Tode gegrämt habe, weil Ludwig der Vierzehnte ihn nicht mehr angesehen, ihn seine Unzufriedenheit fühlen lassen, ist mir ein Schlüssel zu allen seinen Werken, und es ist unmöglich, daß ein Dichter von so großen Talenten, dessen Leben und Tod an den Augen eines Königes hängt, nicht auch Stücke schreiben solle, die des Beifalls eines Königes und eines Fürsten wert seien.«

Jarno war herbeigetreten und hörte unserem Freunde mit Verwunderung zu; der Fürst, der nicht geantwortet und nur mit einem gefälligen Blicke seinen Beifall gezeigt hatte, wandte sich seitwärts, obgleich Wilhelm, dem es noch unbekannt war, daß es nicht anständig sei, unter solchen Umständen einen Diskurs fortzusetzen und eine Materie erschöpfen zu wollen, noch gerne mehr gesprochen und dem Fürsten gezeigt hätte, daß er nicht ohne Nutzen und Gefühl seinen Lieblingsdichter gelesen.

»Haben Sie denn niemals«, sagte Jarno, indem er ihn beiseite nahm, »ein Stück von Shakespearen gesehen?«

»Nein«, versetzte Wilhelm, »denn seit der Zeit, daß sie in Deutschland bekannter geworden sind, bin ich mit dem Theater unbekannt worden, und ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, daß sich zufällig eine alte jugendliche Liebhaberei und Beschäftigung gegenwärtig wieder erneuerte. Indessen hat mich alles, was ich von jenen Stücken gehört, nicht neugierig gemacht, solche seltsame Ungeheuer näher kennenzulernen, die über alle Wahrscheinlichkeit, allen Wohlstand hinauszuschreiten scheinen.«

»Ich will Ihnen denn doch raten«, versetzte jener, »einen Versuch zu machen; es kann nichts schaden, wenn man auch das Seltsame mit eigenen Augen sieht. Ich will Ihnen ein paar Teile borgen, und Sie können Ihre Zeit nicht besser anwenden, als wenn Sie sich gleich von allem losmachen und in der Einsamkeit Ihrer alten Wohnung in die Zauberlaterne dieser unbekannten Welt sehen. Es ist sündlich, daß Sie Ihre Stunden verderben, diese Affen menschlicher auszuputzen und diese Hunde tanzen zu lehren. Nur eins bedinge ich mir aus, daß Sie sich an die Form nicht stoßen; das übrige kann ich Ihrem richtigen Gefühle überlassen.«

Die Pferde standen vor der Tür, und Jarno setzte sich mit einigen Kavalieren auf, um sich mit der Jagd zu erlustigen. Wilhelm sah ihm traurig nach. Er hätte gern mit diesem Manne noch vieles gesprochen, der ihm, wiewohl auf eine unfreundliche Art, neue Ideen gab, Ideen, deren er bedurfte.

Der Mensch kommt manchmal, indem er sich einer Entwicklung seiner Kräfte, Fähigkeiten und Begriffe nähert, in eine Verlegenheit, aus der ihm ein guter Freund leicht helfen könnte. Er gleicht einem Wanderer, der nicht weit von der Herberge ins Wasser fällt; griffe jemand sogleich zu, risse ihn ans Land, so wäre es um einmal naß werden getan, anstatt daß er sich auch wohl selbst, aber am jenseitigen Ufer, heraushilft und einen beschwerlichen, weiten Umweg nach seinem bestimmten Ziele zu machen hat.

Wilhelm fing an zu wittern, daß es in der Welt anders zugehe, als er es sich gedacht. Er sah das wichtige und bedeutungsvolle Leben der Vornehmen und Großen in der Nähe und verwunderte sich, wie einen leichten Anstand sie ihm zu geben wußten. Ein Heer auf dem Marsche, ein fürstlicher Held an seiner Spitze, so viele mitwirkende Krieger, so viele zudringende Verehrer erhöhten seine Einbildungskraft. In dieser Stimmung erhielt er die versprochenen Bücher, und in kurzem, wie man es vermuten kann, ergriff ihn der Strom jenes großen Genius und führte ihn einem unübersehlichen Meere zu, worin er sich gar bald völlig vergaß und verlor.

Neuntes Kapitel

Das Verhältnis des Barons zu den Schauspielern hatte seit ihrem Aufenthalte im Schlosse verschiedene Veränderungen erlitten. Im Anfange gereichte es zu beiderseitiger Zufriedenheit: denn indem der Baron das erstemal in seinem Leben eines seiner Stücke, mit denen er ein Gesellschaftstheater schon belebt hatte, in den Händen wirklicher Schauspieler und auf dem Wege zu einer anständigen Vorstellung sah, war er von dem besten Humor, bewies sich freigebig und kaufte bei jedem Galanteriehändler, deren sich manche einstellten, kleine Geschenke für die Schauspielerinnen und wußte den Schauspielern manche Bouteille Champagner extra zu verschaffen; dagegen gaben sie sich auch mit seinen Stücken alle Mühe, und Wilhelm sparte keinen Fleiß, die herrlichen Reden des vortrefflichen Helden, dessen Rolle ihm zugefallen war, auf das genaueste zu memorieren.

Indessen hatten sich doch auch nach und nach einige Mißhelligkeiten eingeschlichen. Die Vorliebe des Barons für gewisse Schauspieler wurde von Tag zu Tag merklicher, und notwendig mußte dies die übrigen verdrießen. Er erhob seine Günstlinge ganz ausschließlich und brachte dadurch Eifersucht und Uneinigkeit unter die Gesellschaft. Melina, der sich bei streitigen Fällen ohnedem nicht zu helfen wußte, befand sich in einem sehr unangenehmen Zustande. Die Gepriesenen nahmen das Lob an, ohne sonderlich dankbar zu sein, und die Zurückgesetzten ließen auf allerlei Weise ihren Verdruß spüren und wußten ihrem erst hochverehrten Gönner den Aufenthalt unter ihnen auf eine oder die andere Weise unangenehm zu machen; ja es war ihrer Schadenfreude keine geringe Nahrung, als ein gewisses Gedicht, dessen Verfasser man nicht kannte, im Schlosse viele Bewegung verursachte. Bisher hatte man sich immer, doch auf eine ziemlich feine Weise, über den Umgang des Barons mit den Komödianten aufgehalten, man hatte allerlei Geschichten auf ihn gebracht, gewisse Vorfälle ausgeputzt und ihnen eine lustige und interessante Gestalt gegeben. Zuletzt fing man an zu erzählen, es entstehe eine Art von Handwerksneid zwischen ihm und einigen Schauspielern, die sich auch einbildeten, Schriftsteller zu sein, und auf diese Sage gründet sich das Gedicht, von welchem wir sprachen und welches lautete wie folgt:

Ich armer Teufel, Herr Baron,

Beneide Sie um Ihren Stand,

Um Ihren Platz so nah am Thron

Und um manch schön‘ Stück Ackerland,

Um Ihres Vaters festes Schloß,

Um seine Wildbahn und Geschoß. Mich armen Teufel, Herr Baron,

Beneiden Sie, so wie es scheint,

Weil die Natur vom Knaben schon

Mit mir es mütterlich gemeint.

Ich ward mit leichtem Mut und Kopf

Zwar arm, doch nicht ein armer Tropf. Nun dächt ich, lieber Herr Baron,

Wir ließen’s beide, wie wir sind:

Sie blieben des Herrn Vaters Sohn,

Und ich blieb‘ meiner Mutter Kind.

Wir leben ohne Neid und Haß,

Begehren nicht des andern Titel,

Sie keinen Platz auf dem Parnaß,

Und keinen ich in dem Kapitel.

Die Stimmen über dieses Gedicht, das in einigen fast unleserlichen Abschriften sich in verschiedenen Händen befand, waren sehr geteilt, auf den Verfasser aber wußte niemand zu mutmaßen, und als man mit einiger Schadenfreude sich darüber zu ergötzen anfing, erklärte sich Wilhelm sehr dagegen.

»Wir Deutschen«, rief er aus, »verdienten, daß unsere Musen in der Verachtung blieben, in der sie so lange geschmachtet haben, da wir nicht Männer von Stande zu schätzen wissen, die sich mit unserer Literatur auf irgendeine Weise abgeben mögen. Geburt, Stand und Vermögen stehen in keinem Widerspruch mit Genie und Geschmack, das haben uns fremde Nationen gelehrt, welche unter ihren besten Köpfen eine große Anzahl Edelleute zählen. War es bisher in Deutschland ein Wunder, wenn ein Mann von Geburt sich den Wissenschaften widmete, wurden bisher nur wenige berühmte Namen durch ihre Neigung zu Kunst und Wissenschaft noch berühmter; stiegen dagegen manche aus der Dunkelheit hervor und traten wie unbekannte Sterne an den Horizont: so wird das nicht immer so sein, und wenn ich mich nicht sehr irre, so ist die erste Klasse der Nation auf dem Wege, sich ihrer Vorteile auch zu Erringung des schönsten Kranzes der Musen in Zukunft zu bedienen. Es ist mir daher nichts unangenehmer, als wenn ich nicht allein den Bürger oft über den Edelmann, der die Musen zu schätzen weiß, spotten, sondern auch Personen von Stande selbst, mit unüberlegter Laune und niemals zu billigender Schadenfreude, ihresgleichen von einem Wege abschrecken sehe, auf dem einen jeden Ehre und Zufriedenheit erwartet.«

Es schien die letzte Äußerung gegen den Grafen gerichtet zu sein, von welchem Wilhelm gehört hatte, daß er das Gedicht wirklich gut finde. Freilich war diesem Herrn, der immer auf seine Art mit dem Baron zu scherzen pflegte, ein solcher Anlaß sehr erwünscht, seinen Verwandten auf alle Weise zu plagen. Jedermann hatte seine eigenen Mutmaßungen, wer der Verfasser des Gedichtes sein könnte, und der Graf, der sich nicht gern im Scharfsinn von jemand übertroffen sah, fiel auf einen Gedanken, den er sogleich zu beschwören bereit war: das Gedicht könnte sich nur von seinem Pedanten herschreiben, der ein sehr feiner Bursche sei und an dem er schon lange so etwas poetisches Genie gemerkt habe. Um sich ein rechtes Vergnügen zu machen, ließ er deswegen an einem Morgen diesen Schauspieler rufen, der ihm in Gegenwart der Gräfin, der Baronesse und Jarnos das Gedicht nach seiner Art vorlesen mußte und dafür Lob, Beifall und ein Geschenk einerntete und die Frage des Grafen, ob er nicht sonst noch einige Gedichte von frühern Zeiten besitze, mit Klugheit abzulehnen wußte. So kam der Pedant zum Rufe eines Dichters, eines Witzlings und in den Augen derer, die dem Baron günstig waren, eines Pasquillanten und schlechten Menschen. Von der Zeit an applaudierte ihm der Graf nur immer mehr, er mochte seine Rolle spielen, wie er wollte, so daß der arme Mensch zuletzt aufgeblasen, ja beinahe verrückt wurde und darauf sann, gleich Philinen ein Zimmer im Schlosse zu beziehen.

Wäre dieser Plan sogleich zu vollführen gewesen, so möchte er einen großen Unfall vermieden haben. Denn als er eines Abends spät nach dem alten Schlosse ging und in dem dunkeln, engen Wege herumtappte, ward er auf einmal angefallen, von einigen Personen festgehalten, indessen andere auf ihn wacker losschlugen und ihn im Finstern so zerdraschen, daß er beinahe liegenblieb und nur mit Mühe zu seinen Kameraden hinaufkroch, die, sosehr sie sich entrüstet stellten, über diesen Unfall ihre heimliche Freude fühlten und sich kaum des Lachens erwehren konnten, als sie ihn so wohl durchwalkt und seinen neuen braunen Rock über und über weiß, als wenn er mit Müllern Händel gehabt, bestäubt und befleckt sahen.

Der Graf, der sogleich hiervon Nachricht erhielt, brach in einen unbeschreiblichen Zorn aus. Er behandelte diese Tat als das größte Verbrechen, qualifizierte sie zu einem beleidigten Burgfrieden und ließ durch seinen Gerichtshalter die strengste Inquisition vornehmen. Der weißbestäubte Rock sollte eine Hauptanzeige geben. Alles, was nur irgend mit Puder und Mehl im Schlosse zu schaffen haben konnte, wurde mit in die Untersuchung gezogen, jedoch vergebens.

Der Baron versicherte bei seiner Ehre feierlich: jene Art zu scherzen habe ihm freilich sehr mißfallen, und das Betragen des Herrn Grafen sei nicht das freundschaftlichste gewesen, aber er habe sich darüber hinauszusetzen gewußt, und an dem Unfall, der dem Poeten oder Pasquillanten, wie man ihn nennen wolle, begegnet, habe er nicht den mindesten Anteil.

Die übrigen Bewegungen der Fremden und die Unruhe des Hauses brachten bald die ganze Sache in Vergessenheit, und der unglückliche Günstling mußte das Vergnügen, fremde Federn eine kurze Zeit getragen zu haben, teuer bezahlen.

Unsere Truppe, die regelmäßig alle Abende fortspielte und im ganzen sehr wohl gehalten wurde, fing nun an, je besser es ihr ging, desto größere Anforderungen zu machen. In kurzer Zeit war ihnen Essen, Trinken, Aufwartung, Wohnung zu gering, und sie lagen ihrem Beschützer, dem Baron, an, daß er für sie besser sorgen und ihnen zu dem Genusse und der Bequemlichkeit, die er ihnen versprochen, doch endlich verhelfen solle. Ihre Klagen wurden lauter und die Bemühungen ihres Freundes, ihnen genugzutun, immer fruchtloser.

Wilhelm kam indessen, außer in Proben und Spielstunden, wenig mehr zum Vorscheine. In einem der hintersten Zimmer verschlossen, wozu nur Mignon und dem Harfner der Zutritt gerne verstattet wurde, lebte und webte er in der Shakespearischen Welt, so daß er außer sich nichts kannte noch empfand.

Man erzählt von Zauberern, die durch magische Formeln eine ungeheure Menge allerlei geistiger Gestalten in ihre Stube herbeiziehen. Die Beschwörungen sind so kräftig, daß sich bald der Raum des Zimmers ausfüllt und die Geister, bis an den kleinen gezogenen Kreis hinangedrängt, um denselben und über dem Haupte des Meisters in ewig drehender Verwandlung sich bewegend vermehren. Jeder Winkel ist vollgepfropft und jedes Gesims besetzt. Eier dehnen sich aus, und Riesengestalten ziehen sich in Pilze zusammen. Unglücklicherweise hat der Schwarzkünstler das Wort vergessen, womit er diese Geisterflut wieder zur Ebbe bringen könnte. – So saß Wilhelm, und mit unbekannter Bewegung wurden tausend Empfindungen und Fähigkeiten in ihm rege, von denen er keinen Begriff und keine Ahnung gehabt hatte. Nichts konnte ihn aus diesem Zustande reißen, und er war sehr unzufrieden, wenn irgend jemand zu kommen Gelegenheit nahm, um ihn von dem, was auswärts vorging, zu unterhalten.

So merkte er kaum auf, als man ihm die Nachricht brachte, es sollte in dem Schloßhofe eine Exekution vorgehen und ein Knabe gestäupt werden, der sich eines nächtlichen Einbruchs verdächtig gemacht habe und, da er den Rock eines Perückenmachers trage, wahrscheinlich mit unter den Meuchlern gewesen sei. Der Knabe leugne zwar auf das hartnäckigste, und man könne ihn deswegen nicht förmlich bestrafen, wolle ihm aber als einem Vagabunden einen Denkzettel geben und ihn weiterschicken, weil er einige Tage in der Gegend herumgeschwärmt sei, sich des Nachts in den Mühlen aufgehalten, endlich eine Leiter an eine Gartenmauer angelehnt habe und herübergestiegen sei.

Wilhelm fand an dem ganzen Handel nichts sonderlich merkwürdig, als Mignon hastig hereinkam und ihm versicherte, der Gefangene sei Friedrich, der sich seit den Händeln mit dem Stallmeister von der Gesellschaft und aus unsern Augen verloren hatte.

Wilhelm, den der Knabe interessierte, machte sich eilends auf und fand im Schloßhofe schon Zurüstungen. Denn der Graf liebte die Feierlichkeit auch in dergleichen Fällen. Der Knabe wurde herbeigebracht: Wilhelm trat dazwischen und bat, daß man innehalten möchte, indem er den Knaben kenne und vorher erst verschiedenes seinetwegen anzubringen habe. Er hatte Mühe, mit seinen Vorstellungen durchzudringen, und erhielt endlich die Erlaubnis, mit dem Delinquenten allein zu sprechen. Dieser versicherte, von dem Überfalle, bei dem ein Akteur sollte gemißhandelt worden sein, wisse er gar nichts. Er sei nur um das Schloß herumgestreift und des Nachts hereingeschlichen, um Philinen aufzusuchen, deren Schlafzimmer er ausgekundschaftet gehabt und es auch gewiß würde getroffen haben, wenn er nicht unterwegs aufgefangen worden wäre.

Wilhelm, der, zur Ehre der Gesellschaft, das Verhältnis nicht gerne entdecken wollte, eilte zu dem Stallmeister und bat ihn, nach seiner Kenntnis der Personen und des Hauses diese Angelegenheit zu vermitteln und den Knaben zu befreien.

Dieser launige Mann erdachte unter Wilhelms Beistand eine kleine Geschichte, daß der Knabe zur Truppe gehört habe, von ihr entlaufen sei, doch wieder gewünscht, sich bei ihr einzufinden und aufgenommen zu werden. Er habe deswegen die Absicht gehabt, bei Nachtzeit einige seiner Gönner aufzusuchen und sich ihnen zu empfehlen. Man bezeugte übrigens, daß er sich sonst gut aufgeführt, die Damen mischten sich darein, und er ward entlassen.

Wilhelm nahm ihn auf, und er war nunmehr die dritte Person der wunderbaren Familie, die Wilhelm seit einiger Zeit als seine eigene ansah. Der Alte und Mignon nahmen den Wiederkehrenden freundlich auf, und alle drei verbanden sich nunmehr, ihrem Freunde und Beschützer aufmerksam zu dienen und ihm etwas Angenehmes zu erzeigen.

Zehntes Kapitel

Philine wußte sich nun täglich besser bei den Damen einzuschmeicheln. Wenn sie zusammen allein waren, leitete sie meistenteils das Gespräch auf die Männer, welche kamen und gingen, und Wilhelm war nicht der letzte, mit dem man sich beschäftigte. Dem klugen Mädchen blieb es nicht verborgen, daß er einen tiefen Eindruck auf das Herz der Gräfin gemacht habe; sie erzählte daher von ihm, was sie wußte und nicht wußte; hütete sich aber, irgend etwas vorzubringen, das man zu seinem Nachteil hätte deuten können, und rühmte dagegen seinen Edelmut, seine Freigebigkeit und besonders seine Sittsamkeit im Betragen gegen das weibliche Geschlecht. Alle übrigen Fragen, die an sie geschahen, beantwortete sie mit Klugheit, und als die Baronesse die zunehmende Neigung ihrer schönen Freundin bemerkte, war auch ihr diese Entdeckung sehr willkommen. Denn ihre Verhältnisse zu mehrern Männern, besonders in diesen letzten Tagen zu Jarno, blieben der Gräfin nicht verborgen, deren reine Seele einen solchen Leichtsinn nicht ohne Mißbilligung und ohne sanften Tadel bemerken konnte.

Auf diese Weise hatte die Baronesse sowohl als Philine jede ein besonderes Interesse, unsern Freund der Gräfin näherzubringen, und Philine hoffte noch überdies, bei Gelegenheit wieder für sich zu arbeiten und die verlorne Gunst des jungen Mannes sich wo möglich wieder zu erwerben.

Eines Tags, als der Graf mit der übrigen Gesellschaft auf die Jagd geritten war und man die Herren erst den andern Morgen zurückerwartete, ersann sich die Baronesse einen Scherz, der völlig in ihrer Art war; denn sie liebte die Verkleidungen und kam, um die Gesellschaft zu überraschen, bald als Bauermädchen, bald als Page, bald als Jägerbursche zum Vorschein. Sie gab sich dadurch das Ansehn einer kleinen Fee, die überall und gerade da, wo man sie am wenigsten vermutet, gegenwärtig ist. Nichts glich ihrer Freude, wenn sie unerkannt eine Zeitlang die Gesellschaft bedient oder sonst unter ihr gewandelt hatte und sie sich zuletzt auf eine scherzhafte Weise zu entdecken wußte.

Gegen Abend ließ sie Wilhelmen auf ihr Zimmer fordern, und da sie eben noch etwas zu tun hatte, sollte Philine ihn vorbereiten.

Er kam und fand nicht ohne Verwunderung statt der gnädigen Frauen das leichtfertige Mädchen im Zimmer. Sie begegnete ihm mit einer gewissen anständigen Freimütigkeit, in der sie sich bisher geübt hatte, und nötigte ihn dadurch gleichfalls zur Höflichkeit.

Zuerst scherzte sie im allgemeinen über das gute Glück, das ihn verfolge und ihn auch, wie sie wohl merke, gegenwärtig hierhergebracht habe; sodann warf sie ihm auf eine angenehme Art sein Betragen vor, womit er sie bisher gequält habe, schalt und beschuldigte sich selbst, gestand, daß sie sonst wohl so seine Begegnung verdient, machte eine so aufrichtige Beschreibung ihres Zustandes, den sie den vorigen nannte, und setzte hinzu, daß sie sich selbst verachten müsse, wenn sie nicht fähig wäre, sich zu ändern und sich seiner Freundschaft wert zu machen.

Wilhelm war über diese Rede betroffen. Er hatte zu wenig Kenntnis der Welt, um zu wissen, daß eben ganz leichtsinnige und der Besserung unfähige Menschen sich oft am lebhaftesten anklagen, ihre Fehler mit großer Freimütigkeit bekennen und bereuen, ob sie gleich nicht die mindeste Kraft in sich haben, von dem Wege zurückzutreten, auf den eine übermächtige Natur sie hinreißt. Er konnte daher nicht unfreundlich gegen die zierliche Sünderin bleiben; er ließ sich mit ihr in ein Gespräch ein und vernahm von ihr den Vorschlag zu einer sonderbaren Verkleidung, womit man die schöne Gräfin zu überraschen gedachte.

Er fand dabei einiges Bedenken, das er Philinen nicht verhehlte; allein die Baronesse, welche in dem Augenblick hereintrat, ließ ihm keine Zeit zu Zweifeln übrig, sie zog ihn vielmehr mit sich fort, indem sie versicherte, es sei eben die rechte Stunde.

Es war dunkel geworden, und sie führte ihn in die Garderobe des Grafen, ließ ihn seinen Rock ausziehen und in den seidnen Schlafrock des Grafen hineinschlüpfen, setzte ihm darauf die Mütze mit dem roten Bande auf, führte ihn ins Kabinett und hieß ihn sich in den großen Sessel setzen und ein Buch nehmen, zündete die Argandische Lampe selbst an, die vor ihm stand, und unterrichtete ihn, was er zu tun und was er für eine Rolle zu spielen habe.

Man werde, sagte sie, der Gräfin die unvermutete Ankunft ihres Gemahls und seine üble Laune ankündigen; sie werde kommen, einigemal im Zimmer auf und ab gehn, sich alsdann auf die Lehne des Sessels setzen, ihren Arm auf seine Schultern legen und einige Worte sprechen. Er solle seine Ehemannsrolle so lange und so gut als möglich spielen; wenn er sich aber endlich entdecken müßte, so solle er hübsch artig und galant sein.

Wilhelm saß nun unruhig genug in dieser wunderlichen Maske; der Vorschlag hatte ihn überrascht, und die Ausführung eilte der Überlegung zuvor. Schon war die Baronesse wieder zum Zimmer hinaus, als er erst bemerkte, wie gefährlich der Posten war, den er eingenommen hatte. Er leugnete sich nicht, daß die Schönheit, die Jugend, die Anmut der Gräfin einigen Eindruck auf ihn gemacht hatten; allein da er seiner Natur nach von aller leeren Galanterie weit entfernt war und ihm seine Grundsätze einen Gedanken an ernsthaftere Unternehmungen nicht erlaubten, so war er wirklich in diesem Augenblicke in nicht geringer Verlegenheit. Die Furcht, der Gräfin zu mißfallen oder ihr mehr als billig zu gefallen, war gleich groß bei ihm.

Jeder weibliche Reiz, der jemals auf ihn gewirkt hatte, zeigte sich wieder vor seiner Einbildungskraft. Mariane erschien ihm im weißen Morgenkleide und flehte um sein Andenken. Philinens Liebenswürdigkeit, ihre schönen Haare und ihr einschmeichelndes Betragen waren durch ihre neueste Gegenwart wieder wirksam geworden; doch alles trat wie hinter den Flor der Entfernung zurück, wenn er sich die edle, blühende Gräfin dachte, deren Arm er in wenig Minuten an seinem Halse fühlen sollte, deren unschuldige Liebkosungen er zu erwidern aufgefordert war.

Die sonderbare Art, wie er aus dieser Verlegenheit sollte gezogen werden, ahnete er freilich nicht. Denn wie groß war sein Erstaunen, ja sein Schrecken, als hinter ihm die Türe sich auftat und er bei dem ersten verstohlnen Blick in den Spiegel den Grafen ganz deutlich erblickte, der mit einem Lichte in der Hand hereintrat. Sein Zweifel, was er zu tun habe, ob er sitzen bleiben oder aufstehen, fliehen, bekennen, leugnen oder um Vergebung bitten solle, dauerte nur einige Augenblicke. Der Graf, der unbeweglich in der Türe stehengeblieben war, trat zurück und machte sie sachte zu. In dem Moment sprang die Baronesse zur Seitentüre herein, löschte die Lampe aus, riß Wilhelmen vom Stuhle und zog ihn nach sich in das Kabinett. Geschwind warf er den Schlafrock ab, der sogleich wieder seinen gewöhnlichen Platz erhielt. Die Baronesse nahm Wilhelms Rock über den Arm und eilte mit ihm durch einige Stuben, Gänge und Verschläge in ihr Zimmer, wo Wilhelm, nachdem sie sich erholt hatte, von ihr vernahm: sie sei zu der Gräfin gekommen, um ihr die erdichtete Nachricht von der Ankunft des Grafen zu bringen. »Ich weiß es schon«, sagte die Gräfin; »was mag wohl begegnet sein? Ich habe ihn soeben zum Seitentor hereinreiten sehen.« Erschrocken sei die Baronesse sogleich auf des Grafen Zimmer gelaufen, um ihn abzuholen.

»Unglücklicherweise sind Sie zu spät gekommen!« rief Wilhelm aus, »der Graf war vorhin im Zimmer und hat mich sitzen sehen.«

»Hat er Sie erkannt?«

»Ich weiß es nicht. Er sah mich im Spiegel, so wie ich ihn, und eh ich wußte, ob es ein Gespenst oder er selbst war, trat er schon wieder zurück und drückte die Türe hinter sich zu.«

Die Verlegenheit der Baronesse vermehrte sich, als ein Bedienter sie zu rufen kam und anzeigte, der Graf befinde sich bei seiner Gemahlin. Mit schwerem Herzen ging sie hin und fand den Grafen zwar still und in sich gekehrt, aber in seinen Äußerungen milder und freundlicher als gewöhnlich. Sie wußte nicht, was sie denken sollte. Man sprach von den Vorfällen der Jagd und den Ursachen seiner früheren Zurückkunft. Das Gespräch ging bald aus. Der Graf ward stille, und besonders mußte der Baronesse auffallen, als er nach Wilhelmen fragte und den Wunsch äußerte, man möchte ihn rufen lassen, damit er etwas vorlese.

Wilhelm, der sich im Zimmer der Baronesse wieder angekleidet und einigermaßen erholt hatte, kam nicht ohne Sorgen auf den Befehl herbei. Der Graf gab ihm ein Buch, aus welchem er eine abenteuerliche Novelle nicht ohne Beklemmung vorlas. Sein Ton hatte etwas Unsicheres, Zitterndes, das glücklicherweise dem Inhalt der Geschichte gemäß war. Der Graf gab einigemal freundliche Zeichen des Beifalls und lobte den besondern Ausdruck der Vorlesung, da er zuletzt unsern Freund entließ.

Eilftes Kapitel

Wilhelm hatte kaum einige Stücke Shakespeares gelesen, als ihre Wirkung auf ihn so stark wurde, daß er weiter fortzufahren nicht imstande war. Seine ganze Seele geriet in Bewegung. Er suchte Gelegenheit, mit Jarno zu sprechen, und konnte ihm nicht genug für die verschaffte Freude danken.

»Ich habe es wohl vorausgesehen«, sagte dieser, »daß Sie gegen die Trefflichkeiten des außerordentlichsten und wunderbarsten aller Schriftsteller nicht unempfindlich bleiben würden.«

»Ja«, rief Wilhelm aus, »ich erinnere mich nicht, daß ein Buch, ein Mensch oder irgendeine Begebenheit des Lebens so große Wirkungen auf mich hervorgebracht hätte als die köstlichen Stücke, die ich durch Ihre Gütigkeit habe kennenlernen. Sie scheinen ein Werk eines himmlischen Genius zu sein, der sich den Menschen nähert, um sie mit sich selbst auf die gelindeste Weise bekannt zu machen. Es sind keine Gedichte! Man glaubt vor den aufgeschlagenen ungeheuren Büchern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust und sie mit Gewalt rasch hin und wider blättert. Ich bin über die Stärke und Zartheit, über die Gewalt und Ruhe so erstaunt und außer aller Fassung gebracht, daß ich nur mit Sehnsucht auf die Zeit warte, da ich mich in einem Zustande befinden werde, weiterzulesen.«

»Bravo«, sagte Jarno, indem er unserm Freunde die Hand reichte und sie ihm drückte, »so wollte ich es haben! Und die Folgen, die ich hoffe, werden gewiß auch nicht ausbleiben.«

»Ich wünschte«, versetzte Wilhelm, »daß ich Ihnen alles, was gegenwärtig in mir vorgeht, entdecken könnte. Alle Vorgefühle, die ich jemals über Menschheit und ihre Schicksale gehabt, die mich von Jugend auf, mir selbst unbemerkt, begleiteten, finde ich in Shakespeares Stücken erfüllt und entwickelt. Es scheint, als wenn er uns alle Rätsel offenbarte, ohne daß man doch sagen kann: hier oder da ist das Wort der Auflösung. Seine Menschen scheinen natürliche Menschen zu sein, und sie sind es doch nicht. Diese geheimnisvollsten und zusammengesetztesten Geschöpfe der Natur handeln vor uns in seinen Stücken, als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuse man von Kristall gebildet hätte, sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunden an, und man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das sie treibt. Diese wenigen Blicke, die ich in Shakespeares Welt getan, reizen mich mehr als irgend etwas andres, in der wirklichen Welt schnellere Fortschritte vorwärts zu tun, mich in die Flut der Schicksale zu mischen, die über sie verhängt sind, und dereinst, wenn es mir glücken sollte, aus dem großen Meere der wahren Natur wenige Becher zu schöpfen und sie von der Schaubühne dem lechzenden Publikum meines Vaterlandes auszuspenden.«

»Wie freut mich die Gemütsverfassung, in der ich Sie sehe«, versetzte Jarno und legte dem bewegten Jüngling die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie den Vorsatz nicht fahren, in ein tätiges Leben überzugehen, und eilen Sie, die guten Jahre, die Ihnen gegönnt sind, wacker zu nutzen. Kann ich Ihnen behülflich sein, so geschieht es von ganzem Herzen. Noch habe ich nicht gefragt, wie Sie in diese Gesellschaft gekommen sind, für die Sie weder geboren noch erzogen sein können. Soviel hoffe ich und sehe ich, daß Sie sich heraussehnen. Ich weiß nichts von Ihrer Herkunft, von Ihren häuslichen Umständen; überlegen Sie, was Sie mir vertrauen wollen. Soviel kann ich Ihnen nur sagen, die Zeiten des Krieges, in denen wir leben, können schnelle Wechsel des Glückes hervorbringen; mögen Sie Ihre Kräfte und Talente unserm Dienste widmen, Mühe und, wenn es not tut, Gefahr nicht scheuen, so habe ich eben jetzo eine Gelegenheit, Sie an einen Platz zu stellen, den eine Zeitlang bekleidet zu haben Sie in der Folge nicht gereuen wird.« Wilhelm konnte seinen Dank nicht genug ausdrücken und war willig, seinem Freunde und Beschützer die ganze Geschichte seines Lebens zu erzählen.

Sie hatten sich unter diesem Gespräche weit in den Park verloren und waren auf die Landstraße, welche durch denselben ging, gekommen. Jarno stand einen Augenblick still und sagte: »Bedenken Sie meinen Vorschlag, entschließen Sie sich, geben Sie mir in einigen Tagen Antwort, und schenken Sie mir Ihr Vertrauen. Ich versichre Sie, es ist mir bisher unbegreiflich gewesen, wie Sie sich mit solchem Volke haben gemein machen können. Ich hab es oft mit Ekel und Verdruß gesehen, wie Sie, um nur einigermaßen leben zu können, Ihr Herz an einen herumziehenden Bänkelsänger und an ein albernes, zwitterhaftes Geschöpf hängen mußten.«

Er hatte noch nicht ausgeredet, als ein Offizier zu Pferde eilends herankam, dem ein Reitknecht mit einem Handpferd folgte. Jarno rief ihm einen lebhaften Gruß zu. Der Offizier sprang vom Pferde, beide umarmten sich und unterhielten sich miteinander, indem Wilhelm, bestürzt über die letzten Worte seines kriegerischen Freundes, in sich gekehrt an der Seite stand. Jarno durchblätterte einige Papiere, die ihm der Ankommende überreicht hatte; dieser aber ging auf Wilhelmen zu, reichte ihm die Hand und rief mit Emphase: »Ich treffe Sie in einer würdigen Gesellschaft; folgen Sie dem Rate Ihres Freundes, und erfüllen Sie dadurch zugleich die Wünsche eines Unbekannten, der herzlichen Teil an Ihnen nimmt.« Er sprach’s, umarmte Wilhelmen, drückte ihn mit Lebhaftigkeit an seine Brust. Zu gleicher Zeit trat Jarno herbei und sagte zu dem Fremden: »Es ist am besten, ich reite gleich mit Ihnen hinein, so können Sie die nötigen Ordres erhalten, und Sie reiten noch vor Nacht wieder fort.« Beide schwangen sich darauf zu Pferde und überließen unsern verwunderten Freund seinen eigenen Betrachtungen.

Die letzten Worte Jarnos klangen noch in seinen Ohren. Ihm war unerträglich, das Paar menschlicher Wesen, das ihm unschuldigerweise seine Neigung abgewonnen hatte, durch einen Mann, den er so sehr verehrte, so tief heruntergesetzt zu sehen. Die sonderbare Umarmung des Offiziers, den er nicht kannte, machte wenig Eindruck auf ihn, sie beschäftigte seine Neugierde und Einbildungskraft einen Augenblick; aber Jarnos Reden hatten sein Herz getroffen; er war tief verwundet, und nun brach er auf seinem Rückwege gegen sich selbst in Vorwürfe aus, daß er nur einen Augenblick die hartherzige Kälte Jarnos, die ihm aus den Augen heraussehe und aus allen seinen Gebärden spreche, habe verkennen und vergessen mögen. »Nein«, rief er aus, »du bildest dir nur ein, du abgestorbener Weltmann, daß du ein Freund sein könntest! Alles, was du mir anbieten magst, ist der Empfindung nicht wert, die mich an diese Unglücklichen bindet. Welch ein Glück, daß ich noch beizeiten entdecke, was ich von dir zu erwarten hätte!«

Er schloß Mignon, die ihm entgegenkam, in die Arme und rief aus: »Nein, uns soll nichts trennen, du gutes kleines Geschöpf! Die scheinbare Klugheit der Welt soll mich nicht vermögen, dich zu verlassen noch zu vergessen, was ich dir schuldig bin.«

Das Kind, dessen heftige Liebkosungen er sonst abzulehnen pflegte, erfreute sich dieses unerwarteten Ausdrucks der Zärtlichkeit und hing sich so fest an ihn, daß er es nur mit Mühe zuletzt loswerden konnte.

Seit dieser Zeit gab er mehr auf Jarnos Handlungen acht, die ihm nicht alle lobenswürdig schienen; ja es kam wohl manches vor, das ihm durchaus mißfiel. So hatte er zum Beispiel starken Verdacht, das Gedicht auf den Baron, welches der arme Pedant so teuer hatte bezahlen müssen, sei Jarnos Arbeit. Da nun dieser in Wilhelms Gegenwart über den Vorfall gescherzt hatte, glaubte unser Freund hierin das Zeichen eines höchst verdorbenen Herzens zu erkennen; denn was konnte boshafter sein, als einen Unschuldigen, dessen Leiden man verursacht, zu verspotten und weder an Genugtuung noch Entschädigung zu denken. Gern hätte Wilhelm sie selbst veranlaßt, denn er war durch einen sehr sonderbaren Zufall den Tätern jener nächtlichen Mißhandlung auf die Spur gekommen.

Man hatte ihm bisher immer zu verbergen gewußt, daß einige junge Offiziere im unteren Saale des alten Schlosses mit einem Teile der Schauspieler und Schauspielerinnen ganze Nächte auf eine lustige Weise zubrachten. Eines Morgens, als er nach seiner Gewohnheit früh aufgestanden, kam er von ungefähr in das Zimmer und fand die jungen Herren, die eine höchst sonderbare Toilette zu machen im Begriff stunden. Sie hatten in einen Napf mit Wasser Kreide eingerieben und trugen den Teig mit einer Bürste auf ihre Westen und Beinkleider, ohne sie auszuziehen, und stellten also die Reinlichkeit ihrer Garderobe auf das schnellste wieder her. Unserm Freunde, der sich über diese Handgriffe wunderte, fiel der weiß bestäubte und befleckte Rock des Pedanten ein; der Verdacht wurde um soviel stärker, als er erfuhr, daß einige Verwandte des Barons sich unter der Gesellschaft befänden.

Um diesem Verdacht näher auf die Spur zu kommen, suchte er die jungen Herren mit einem kleinen Frühstücke zu beschäftigen. Sie waren sehr lebhaft und erzählten viele lustige Geschichten. Der eine besonders, der eine Zeitlang auf Werbung gestanden, wußte nicht genug die List und Tätigkeit seines Hauptmanns zu rühmen, der alle Arten von Menschen an sich zu ziehen und jeden nach seiner Art zu überlisten verstand. Umständlich erzählte er, wie junge Leute von gutem Hause und sorgfältiger Erziehung durch allerlei Vorspiegelungen einer anständigen Versorgung betrogen worden, und lachte herzlich über die Gimpel, denen es im Anfange so wohlgetan habe, sich von einem angesehenen, tapferen, klugen und freigebigen Offizier geschätzt und hervorgezogen zu sehen.

Wie segnete Wilhelm seinen Genius, der ihm so unvermutet den Abgrund zeigte, dessen Rande er sich unschuldigerweise genähert hatte. Er sah nun in Jarno nichts als den Werber; die Umarmung des fremden Offiziers war ihm leicht erklärlich. Er verabscheuete die Gesinnungen dieser Männer und vermied von dem Augenblicke, mit irgend jemand, der eine Uniform trug, zusammenzukommen, und so wäre ihm die Nachricht, daß die Armee weiter vorwärtsrücke, sehr angenehm gewesen, wenn er nicht zugleich hätte fürchten müssen, aus der Nähe seiner schönen Freundin, vielleicht auf immer, verbannt zu werden.

Zwölftes Kapitel

Inzwischen hatte die Baronesse mehrere Tage, von Sorgen und einer unbefriedigten Neugierde gepeinigt, zugebracht. Denn das Betragen des Grafen seit jenem Abenteuer war ihr ein völliges Rätsel. Er war ganz aus seiner Manier herausgegangen; von seinen gewöhnlichen Scherzen hörte man keinen. Seine Forderungen an die Gesellschaft und an die Bedienten hatten sehr nachgelassen. Von Pedanterie und gebieterischem Wesen merkte man wenig, vielmehr war er still und in sich gekehrt, jedoch schien er heiter und wirklich ein anderer Mensch zu sein. Bei Vorlesungen, zu denen er zuweilen Anlaß gab, wählte er ernsthafte, oft religiöse Bücher, und die Baronesse lebte in beständiger Furcht, es möchte hinter dieser anscheinenden Ruhe sich ein geheimer Groll verbergen, ein stiller Vorsatz, den Frevel, den er so zufällig entdeckt, zu rächen. Sie entschloß sich daher, Jarno zu ihrem Vertrauten zu machen, und sie konnte es um so mehr, als sie mit ihm in einem Verhältnisse stand, in dem man sich sonst wenig zu verbergen pflegt. Jarno war seit kurzer Zeit ihr entschiedener Freund; doch waren sie klug genug, ihre Neigung und ihre Freuden vor der lärmenden Welt, die sie umgab, zu verbergen. Nur den Augen der Gräfin war dieser neue Roman nicht entgangen, und höchstwahrscheinlich suchte die Baronesse ihre Freundin gleichfalls zu beschäftigen, um den stillen Vorwürfen zu entgehen, welche sie denn doch manchmal von jener edlen Seele zu erdulden hatte.

Kaum hatte die Baronesse ihrem Freunde die Geschichte erzählt, als er lachend ausrief: »Da glaubt der Alte gewiß, sich selbst gesehen zu haben! Er fürchtet, daß ihm diese Erscheinung Unglück, ja vielleicht gar den Tod bedeute, und nun ist er zahm geworden wie alle die Halbmenschen, wenn sie an die Auflösung denken, welcher niemand entgangen ist noch entgehen wird. Nur stille! Da ich hoffe, daß er noch lange leben soll, so wollen wir ihn bei dieser Gelegenheit wenigstens so formieren, daß er seiner Frau und seinen Hausgenossen nicht mehr zur Last sein soll.«

Sie fingen nun, sobald es nur schicklich war, in Gegenwart des Grafen an, von Ahnungen, Erscheinungen und dergleichen zu sprechen. Jarno spielte den Zweifler, seine Freundin gleichfalls, und sie trieben es so weit, daß der Graf endlich Jarno beiseite nahm, ihm seine Freigeisterei verwies und ihn durch sein eignes Beispiel von der Möglichkeit und Wirklichkeit solcher Geschichten zu überzeugen suchte. Jarno spielte den Betroffenen, Zweifelnden und endlich den Überzeugten, machte sich aber gleich darauf in stiller Nacht mit seiner Freundin desto lustiger über den schwachen Weltmann, der nun auf einmal von seinen Unarten durch einen Popanz bekehrt worden und der nur noch deswegen zu loben sei, weil er mit so vieler Fassung ein bevorstehendes Unglück, ja vielleicht gar den Tod erwarte.

»Auf die natürlichste Folge, welche diese Erscheinung hätte haben können, möchte er doch wohl nicht gefaßt sein«, rief die Baronesse mit ihrer gewöhnlichen Munterkeit, zu der sie, sobald ihr eine Sorge vom Herzen genommen war, gleich wieder übergehen konnte. Jarno ward reichlich belohnt, und man schmiedete neue Anschläge, den Grafen noch mehr kirre zu machen und die Neigung der Gräfin zu Wilhelm noch mehr zu reizen und zu bestärken.

In dieser Absicht erzählte man der Gräfin die ganze Geschichte, die sich zwar anfangs unwillig darüber zeigte, aber seit der Zeit nachdenklicher ward und in ruhigen Augenblicken jene Szene, die ihr zubereitet war, zu bedenken, zu verfolgen und auszumalen schien.

Die Anstalten, welche nunmehr von allen Seiten getroffen wurden, ließen keinen Zweifel mehr übrig, daß die Armeen bald vorwärtsrücken und der Prinz zugleich sein Hauptquartier verändern würde; ja es hieß, daß der Graf zugleich auch das Gut verlassen und wieder nach der Stadt zurückkehren werde. Unsere Schauspieler konnten sich also leicht die Nativität stellen; doch nur der einzige Melina nahm seine Maßregeln darnach, die andern suchten nur noch von dem Augenblicke soviel als möglich das Vergnüglichste zu erhaschen.

Wilhelm war indessen auf eine eigene Weise beschäftigt. Die Gräfin hatte von ihm die Abschrift seiner Stücke verlangt, und er sah diesen Wunsch der liebenswürdigen Frau als die schönste Belohnung an.

Ein junger Autor, der sich noch nicht gedruckt gesehn, wendet in einem solchen Falle die größte Aufmerksamkeit auf eine reinliche und zierliche Abschrift seiner Werke. Es ist gleichsam das goldne Zeitalter der Autorschaft; man sieht sich in jene Jahrhunderte versetzt, in denen die Presse noch nicht die Welt mit so viel unnützen Schriften überschwemmt hatte; wo nur würdige Geistesprodukte abgeschrieben und von den edelsten Menschen verwahrt wurden; und wie leicht begeht man alsdann den Fehlschluß, daß ein sorgfältig abgezirkeltes Manuskript auch ein würdiges Geistesprodukt sei, wert, von einem Kenner und Beschützer besessen und aufgestellt zu werden.

Man hatte zu Ehren des Prinzen, der nun in kurzem abgehen sollte, noch ein großes Gastmahl angestellt. Viele Damen aus der Nachbarschaft waren geladen, und die Gräfin hatte sich beizeiten angezogen. Sie hatte diesen Tag ein reicheres Kleid angelegt, als sie sonst zu tun gewohnt war. Frisur und Aufsatz waren gesuchter, sie war mit allen ihren Juwelen geschmückt. Ebenso hatte die Baronesse das mögliche getan, um sich mit Pracht und Geschmack anzukleiden.

Philine, als sie merkte, daß den beiden Damen in Erwartung ihrer Gäste die Zeit zu lang wurde, schlug vor, Wilhelmen kommen zu lassen, der sein fertiges Manuskript zu überreichen und noch einige Kleinigkeiten vorzulesen wünsche. Er kam und erstaunte im Hereintreten über die Gestalt, über die Anmut der Gräfin, die durch ihren Putz nur sichtbarer geworden waren. Er las nach dem Befehle der Damen, allein so zerstreut und schlecht, daß, wenn die Zuhörerinnen nicht so nachsichtig gewesen wären, sie ihn gar bald würden entlassen haben.

Sooft er die Gräfin anblickte, schien es ihm, als wenn ein elektrischer Funke sich vor seinen Augen zeigte; er wußte zuletzt nicht mehr, wo er Atem zu seiner Rezitation hernehmen solle. Die schöne Dame hatte ihm immer gefallen; aber jetzt schien es ihm, als ob er nie etwas Vollkommneres gesehen hätte, und von den tausenderlei Gedanken, die sich in seiner Seele kreuzten, mochte ungefähr folgendes der Inhalt sein:

Wie töricht lehnen sich doch so viele Dichter und sogenannte gefühlvolle Menschen gegen Putz und Pracht auf und verlangen nur in einfachen, der Natur angemessenen Kleidern die Frauen alles Standes zu sehen. Sie schelten den Putz, ohne zu bedenken, daß es der arme Putz nicht ist, der uns mißfällt, wenn wir eine häßliche oder minder schöne Person reich und sonderbar gekleidet erblicken; aber ich wollte alle Kenner der Welt hier versammeln und sie fragen, ob sie wünschten, etwas von diesen Falten, von diesen Bändern und Spitzen, von diesen Puffen, Locken und leuchtenden Steinen wegzunehmen. Würden sie nicht fürchten, den angenehmen Eindruck zu stören, der ihnen hier so willig und natürlich entgegenkommt? Ja, »natürlich« darf ich wohl sagen! Wenn Minerva ganz gerüstet aus dem Haupte des Jupiter entsprang, so scheinet diese Göttin in ihrem vollen Putze aus irgendeiner Blume mit leichtem Fuße hervorgetreten zu sein.

Er sah sie oft im Lesen an, als wenn er diesen Eindruck sich auf ewig einprägen wollte, und las einigemal falsch, ohne darüber in Verwirrung zu geraten, ob er gleich sonst über die Verwechselung eines Wortes oder Buchstabens als über einen leidigen Schandfleck einer ganzen Vorlesung verzweifeln konnte.

Ein falscher Lärm, als wenn die Gäste angefahren kämen, machte der Vorlesung ein Ende; die Baronesse ging weg, und die Gräfin, im Begriff, ihren Schreibtisch zuzumachen, der noch offenstand, ergriff ein Ringkästchen und steckte noch einige Ringe an die Finger. »Wir werden uns bald trennen«, sagte sie, indem sie ihre Augen auf das Kästchen heftete; »nehmen Sie ein Andenken von einer guten Freundin, die nichts lebhafter wünscht, als daß es Ihnen wohl gehen möge.« Sie nahm darauf einen Ring heraus, der unter einem Kristall ein schön von Haaren geflochtenes Schild zeigte und mit Steinen besetzt war. Sie überreichte ihn Wilhelmen, der, als er ihn annahm, nichts zu sagen und nichts zu tun wußte, sondern wie eingewurzelt in den Boden dastand. Die Gräfin schloß den Schreibtisch zu und setzte sich auf ihren Sofa.

»Und ich soll leer ausgehn«, sagte Philine, indem sie zur rechten Hand der Gräfin niederkniete; »seht nur den Menschen, der zur Unzeit so viele Worte im Munde führt und jetzt nicht einmal eine armselige Danksagung herstammeln kann. Frisch, mein Herr, tun Sie wenigstens pantomimisch Ihre Schuldigkeit, und wenn Sie heute selbst nichts zu erfinden wissen, so ahmen Sie mir wenigstens nach.«

Philine ergriff die rechte Hand der Gräfin und küßte sie mit Lebhaftigkeit. Wilhelm stürzte auf seine Knie, faßte die linke und drückte sie an seine Lippen. Die Gräfin schien verlegen, aber ohne Widerwillen.

»Ach!« rief Philine aus, »so viel Schmuck hab ich wohl schon gesehen, aber noch nie eine Dame, so würdig, ihn zu tragen. Welche Armbänder! aber auch welche Hand! Welcher Halsschmuck! aber auch welche Brust!«

»Stille, Schmeichlerin!« rief die Gräfin.

»Stellt denn das den Herrn Grafen vor?« sagte Philine, indem sie auf ein reiches Medaillon deutete, das die Gräfin an kostbaren Ketten an der linken Seite trug.

»Er ist als Bräutigam gemalt«, versetzte die Gräfin.

»War er denn damals so jung?« fragte Philine, »Sie sind ja nur erst, wie ich weiß, wenige Jahre verheiratet.«

»Diese Jugend kommt auf die Rechnung des Malers«, versetzte die Gräfin.

»Es ist ein schöner Mann«, sagte Philine. »Doch sollte wohl niemals«, fuhr sie fort, indem sie die Hand auf das Herz der Gräfin legte, »in diese verborgene Kapsel sich ein ander Bild eingeschlichen haben?«

»Du bist sehr verwegen, Philine!« rief sie aus, »ich habe dich verzogen. Laß mich so etwas nicht zum zweitenmal hören.«

»Wenn Sie zürnen, bin ich unglücklich«, rief Philine, sprang auf und eilte zur Türe hinaus.

Wilhelm hielt die schönste Hand noch in seinen Händen. Er sah unverwandt auf das Armschloß, das zu seiner größten Verwunderung die Anfangsbuchstaben seiner Namen in brillantenen Zügen sehen ließ.

»Besitz ich«, fragte er bescheiden, »in dem kostbaren Ringe denn wirklich Ihre Haare?«

»Ja«, versetzte sie mit halber Stimme; dann nahm sie sich zusammen und sagte, indem sie ihm die Hand drückte: »Stehen Sie auf, und leben Sie wohl!«

»Hier steht mein Name«, rief er aus, »durch den sonderbarsten Zufall!« Er zeigte auf das Armschloß.

»Wie?« rief die Gräfin, »es ist die Chiffer einer Freundin!«

»Es sind die Anfangsbuchstaben meines Namens. Vergessen Sie meiner nicht. Ihr Bild steht unauslöschlich in meinem Herzen. Leben Sie wohl, lassen Sie mich fliehen!«

Er küßte ihre Hand und wollte aufstehn; aber wie im Traum das Seltsamste aus dem Seltsamsten sich entwickelnd uns überrascht, so hielt er, ohne zu wissen, wie es geschah, die Gräfin in seinen Armen, ihre Lippen ruhten auf den seinigen, und ihre wechselseitigen lebhaften Küsse gewährten ihnen eine Seligkeit, die wir nur aus dem ersten aufbrausenden Schaum des frisch eingeschenkten Bechers der Liebe schlürfen.

Ihr Haupt ruhte auf seiner Schulter, und der zerdrückten Locken und Bänder ward nicht gedacht. Sie hatte ihren Arm um ihn geschlungen; er umfaßte sie mit Lebhaftigkeit und drückte sie wiederholend an seine Brust. O daß ein solcher Augenblick nicht Ewigkeiten währen kann, und wehe dem neidischen Geschick, das auch unsern Freunden diese kurzen Augenblicke unterbrach.

Wie erschrak Wilhelm, wie betäubt fuhr er aus einem glücklichen Traume auf, als die Gräfin sich auf einmal mit einem Schrei von ihm losriß und mit der Hand nach ihrem Herzen fuhr.

Er stand betäubt vor ihr da; sie hielt die andere Hand vor die Augen und rief nach einer Pause: »Entfernen Sie sich, eilen Sie!«

Er stand noch immer.

»Verlassen Sie mich«, rief sie, und indem sie die Hand von den Augen nahm und ihn mit einem unbeschreiblichen Blicke ansah, setzte sie mit der lieblichsten Stimme hinzu: »Fliehen Sie mich, wenn Sie mich lieben.«

Wilhelm war aus dem Zimmer und wieder auf seiner Stube, eh er wußte, wo er sich befand.

Die Unglücklichen! Welche sonderbare Warnung des Zufalls oder der Schickung riß sie auseinander?

Viertes Buch

Erstes Kapitel

Laertes stand nachdenklich am Fenster und blickte, auf seinen Arm gestützt, in das Feld hinaus. Philine schlich über den großen Saal herbei, lehnte sich auf den Freund und verspottete sein ernsthaftes Ansehen.

»Lache nur nicht«, versetzte er, »es ist abscheulich, wie die Zeit vergeht, wie alles sich verändert und ein Ende nimmt! Sieh nur, hier stand vor kurzem noch ein schönes Lager, wie lustig sahen die Zelte aus! wie lebhaft ging es darin zu! wie sorgfältig bewachte man den ganzen Bezirk! und nun ist alles auf einmal verschwunden. Nur kurze Zeit werden das zertretene Stroh und die eingegrabenen Kochlöcher noch eine Spur zeigen; dann wird alles bald umgepflügt sein, und die Gegenwart so vieler tausend rüstiger Menschen in dieser Gegend wird nur noch in den Köpfen einiger alten Leute spuken.«

Philine fing an zu singen und zog ihren Freund zu einem Tanze in den Saal. »Laß uns«, rief sie, »da wir der Zeit nicht nachlaufen können, wenn sie vorüber ist, sie wenigstens als eine schöne Göttin, indem sie bei uns vorbeizieht, fröhlich und zierlich verehren!«

Sie hatten kaum einige Wendungen gemacht, als Madame Melina durch den Saal ging. Philine war boshaft genug, sie gleichfalls zum Tanze einzuladen und sie dadurch an die Mißgestalt zu erinnern, in welche sie durch ihre Schwangerschaft versetzt war.

»Wenn ich nur«, sagte Philine hinter ihrem Rücken, »keine Frau mehr guter Hoffnung sehen sollte!«

»Sie hofft doch«, sagte Laertes.

»Aber es kleidet sie so häßlich. Hast du die vordere Wackelfalte des verkürzten Rocks gesehen, die immer vorausspaziert, wenn sie sich bewegt? Sie hat gar keine Art noch Geschick, sich nur ein bißchen zu mustern und ihren Zustand zu verbergen.«

»Laß nur«, sagte Laertes, »die Zeit wird ihr schon zu Hülfe kommen.«

»Es wäre doch immer hübscher«, rief Philine, »wenn man die Kinder von den Bäumen schüttelte.«

Der Baron trat herein und sagte ihnen etwas Freundliches im Namen des Grafen und der Gräfin, die ganz früh abgereist waren, und machte ihnen einige Geschenke. Er ging darauf zu Wilhelmen, der sich im Nebenzimmer mit Mignon beschäftigte. Das Kind hatte sich sehr freundlich und zutätig bezeigt, nach Wilhelms Eltern, Geschwistern und Verwandten gefragt und ihn dadurch an seine Pflicht erinnert, den Seinigen von sich einige Nachricht zu geben.

Der Baron brachte ihm nebst einem Abschiedsgruße von den Herrschaften die Versicherung, wie sehr der Graf mit ihm, seinem Spiele, seinen poetischen Arbeiten und seinen theatralischen Bemühungen zufrieden gewesen sei. Er zog darauf zum Beweis dieser Gesinnung einen Beutel hervor, durch dessen schönes Gewebe die reizende Farbe neuer Goldstücke durchschimmerte; Wilhelm trat zurück und weigerte sich, ihn anzunehmen.

»Sehen Sie«, fuhr der Baron fort, »diese Gabe als einen Ersatz für Ihre Zeit, als eine Erkenntlichkeit für Ihre Mühe, nicht als eine Belohnung Ihres Talents an. Wenn uns dieses einen guten Namen und die Neigung der Menschen verschafft, so ist billig, daß wir durch Fleiß und Anstrengung zugleich die Mittel erwerben, unsre Bedürfnisse zu befriedigen, da wir doch einmal nicht ganz Geist sind. Wären wir in der Stadt, wo alles zu finden ist, so hätte man diese kleine Summe in eine Uhr, einen Ring oder sonst etwas verwandelt; nun gebe ich aber den Zauberstab unmittelbar in Ihre Hände; schaffen Sie sich ein Kleinod dafür, das Ihnen am liebsten und am dienlichsten ist, und verwahren Sie es zu unserm Andenken. Dabei halten Sie ja den Beutel in Ehren. Die Damen haben ihn selbst gestrickt, und ihre Absicht war, durch das Gefäß dem Inhalt die annehmlichste Form zu geben.«

»Vergeben Sie«, versetzte Wilhelm, »meiner Verlegenheit und meinen Zweifeln, dieses Geschenk anzunehmen. Es vernichtet gleichsam das wenige, was ich getan habe, und hindert das freie Spiel einer glücklichen Erinnerung. Geld ist eine schöne Sache, wo etwas abgetan werden soll, und ich wünschte nicht, in dem Andenken Ihres Hauses so ganz abgetan zu sein.«

»Das ist nicht der Fall«, versetzte der Baron; »aber indem Sie selbst zart empfinden, werden Sie nicht verlangen, daß der Graf sich völlig als Ihren Schuldner denken soll: ein Mann, der seinen größten Ehrgeiz darein setzt, aufmerksam und gerecht zu sein. Ihm ist nicht entgangen, welche Mühe Sie sich gegeben und wie Sie seinen Absichten ganz Ihre Zeit gewidmet haben, ja er weiß, daß Sie, um gewisse Anstalten zu beschleunigen, Ihr eignes Geld nicht schonten. Wie will ich wieder vor ihm erscheinen, wenn ich ihn nicht versichern kann, daß seine Erkenntlichkeit Ihnen Vergnügen gemacht hat.«

»Wenn ich nur an mich selbst denken, wenn ich nur meinen eigenen Empfindungen folgen dürfte«, versetzte Wilhelm, »würde ich mich, ungeachtet aller Gründe, hartnäckig weigern, diese Gabe, so schön und ehrenvoll sie ist, anzunehmen; aber ich leugne nicht, daß sie mich in dem Augenblicke, in dem sie mich in Verlegenheit setzt, aus einer Verlegenheit reißt, in der ich mich bisher gegen die Meinigen befand und die mir manchen stillen Kummer verursachte. Ich habe sowohl mit dem Gelde als mit der Zeit, von denen ich Rechenschaft zu geben habe, nicht zum besten hausgehalten; nun wird es mir durch den Edelmut des Herrn Grafen möglich, den Meinigen getrost von dem Glücke Nachricht zu geben, zu dem mich dieser sonderbare Seitenweg geführt hat. Ich opfre die Delikatesse, die uns wie ein zartes Gewissen bei solchen Gelegenheiten warnt, einer höhern Pflicht auf, und um meinem Vater mutig unter die Augen treten zu können, steh ich beschämt vor den Ihrigen.«

»Es ist sonderbar«, versetzte der Baron, »welch ein wunderlich Bedenken man sich macht, Geld von Freunden und Gönnern anzunehmen, von denen man jede andere Gabe mit Dank und Freude empfangen würde. Die menschliche Natur hat mehr ähnliche Eigenheiten, solche Skrupel gern zu erzeugen und sorgfältig zu nähren.«

»Ist es nicht das nämliche mit allen Ehrenpunkten?« fragte Wilhelm.

»Ach ja«, versetzte der Baron, »und andern Vorurteilen. Wir wollen sie nicht ausjäten, um nicht vielleicht edle Pflanzen zugleich mit auszuraufen. Aber mich freut immer, wenn einzelne Personen fühlen, über was man sich hinaussetzen kann und soll, und ich denke mit Vergnügen an die Geschichte des geistreichen Dichters, der für ein Hoftheater einige Stücke verfertigte, welche den ganzen Beifall des Monarchen erhielten. ›Ich muß ihn ansehnlich belohnen‹, sagte der großmütige Fürst; ›man forsche an ihm, ob ihm irgendein Kleinod Vergnügen macht oder ob er nicht verschmäht, Geld anzunehmen.‹ Nach seiner scherzhaften Art antwortete der Dichter dem abgeordneten Hofmann: ›Ich danke lebhaft für die gnädigen Gesinnungen, und da der Kaiser alle Tage Geld von uns nimmt, so sehe ich nicht ein, warum ich mich schämen sollte, Geld von ihm anzunehmen.‹«

Der Baron hatte kaum das Zimmer verlassen, als Wilhelm eifrig die Barschaft zählte, die ihm so unvermutet und, wie er glaubte, so unverdient zugekommen war. Es schien, als ob ihm der Wert und die Würde des Goldes, die uns in spätern Jahren erst fühlbar werden, ahnungsweise zum erstenmal entgegenblickten, als die schönen, blinkenden Stücke aus dem zierlichen Beutel hervorrollten. Er machte seine Rechnung und fand, daß er, besonders da Melina den Vorschuß sogleich wieder zu bezahlen versprochen hatte, ebensoviel, ja noch mehr in Kassa habe als an jenem Tage, da Philine ihm den ersten Strauß abfordern ließ. Mit heimlicher Zufriedenheit blickte er auf sein Talent, mit einem kleinen Stolze auf das Glück, das ihn geleitet und begleitet hatte. Er ergriff nunmehr mit Zuversicht die Feder, um einen Brief zu schreiben, der auf einmal die Familie aus aller Verlegenheit und sein bisheriges Betragen in das beste Licht setzen sollte. Er vermied eine eigentliche Erzählung und ließ nur in bedeutenden und mystischen Ausdrücken dasjenige, was ihm begegnet sein könnte, erraten. Der gute Zustand seiner Kasse, der Erwerb, den er seinem Talent schuldig war, die Gunst der Großen, die Neigung der Frauen, die Bekanntschaft in einem weiten Kreise, die Ausbildung seiner körperlichen und geistigen Anlagen, die Hoffnung für die Zukunft bildeten ein solches wunderliches Luftgemälde, daß Fata Morgagna selbst es nicht seltsamer hätte durcheinanderwirken können.

In dieser glücklichen Exaltation fuhr er fort, nachdem der Brief geschlossen war, ein langes Selbstgespräch zu unterhalten, in welchem er den Inhalt des Schreibens rekapitulierte und sich eine tätige und würdige Zukunft ausmalte. Das Beispiel so vieler edlen Krieger hatte ihn angefeuert, die Shakespearische Dichtung hatte ihm eine neue Welt eröffnet, und von den Lippen der schönen Gräfin hatte er ein unaussprechliches Feuer in sich gesogen. Das alles konnte, das sollte nicht ohne Wirkung bleiben.

Der Stallmeister kam und fragte, ob sie mit Einpacken fertig seien. Leider hatte außer Melina noch niemand daran gedacht. Nun sollte man eilig aufbrechen. Der Graf hatte versprochen, die ganze Gesellschaft einige Tagereisen weit transportieren zu lassen, die Pferde waren eben bereit und konnten nicht lange entbehrt werden. Wilhelm fragte nach seinem Koffer; Madame Melina hatte sich ihn zunutze gemacht; er verlangte nach seinem Gelde, Herr Melina hatte es ganz unten in den Koffer mit großer Sorgfalt gepackt. Philine sagte: »Ich habe in dem meinigen noch Platz«, nahm Wilhelms Kleider und befahl Mignon, das übrige nachzubringen. Wilhelm mußte es, nicht ohne Widerwillen, geschehen lassen.

Indem man aufpackte und alles zubereitete, sagte Melina: »Es ist mir verdrießlich, daß wir wie Seiltänzer und Marktschreier reisen; ich wünschte, daß Mignon Weiberkleider anzöge und daß der Harfenspieler sich noch geschwinde den Bart scheren ließe.« Mignon hielt sich fest an Wilhelm und sagte mit großer Lebhaftigkeit: »Ich bin ein Knabe: ich will kein Mädchen sein!« Der Alte schwieg, und Philine machte bei dieser Gelegenheit über die Eigenheit des Grafen, ihres Beschützers, einige lustige Anmerkungen. »Wenn der Harfner seinen Bart abschneidet«, sagte sie, »so mag er ihn nur sorgfältig auf Band nähen und bewahren, daß er ihn gleich wieder vornehmen kann, sobald er dem Herrn Grafen irgendwo in der Welt begegnet: denn dieser Bart allein hat ihm die Gnade dieses Herrn verschafft.«

Als man in sie drang und eine Erklärung dieser sonderbaren Äußerung verlangte, ließ sie sich folgendergestalt vernehmen: »Der Graf glaubt, daß es zur Illusion sehr viel beitrage, wenn der Schauspieler auch im gemeinen Leben seine Rolle fortspielt und seinen Charakter souteniert; deswegen war er dem Pedanten so günstig, und er fand, es sei recht gescheit, daß der Harfner seinen falschen Bart nicht allein abends auf dem Theater, sondern auch beständig bei Tage trage, und freute sich sehr über das natürliche Aussehen der Maskerade.«

Als die andern über diesen Irrtum und über die sonderbaren Meinungen des Grafen spotteten, ging der Harfner mit Wilhelm beiseite, nahm von ihm Abschied und bat mit Tränen, ihn ja sogleich zu entlassen. Wilhelm redete ihm zu und versicherte, daß er ihn gegen jedermann schützen werde, daß ihm niemand ein Haar krümmen, viel weniger ohne seinen Willen abschneiden solle.

Der Alte war sehr bewegt, und in seinen Augen glühte ein sonderbares Feuer. »Nicht dieser Anlaß treibt mich hinweg«, rief er aus; »schon lange mache ich mir stille Vorwürfe, daß ich um Sie bleibe. Ich sollte nirgends verweilen, denn das Unglück ereilt mich und beschädigt die, die sich zu mir gesellen. Fürchten Sie alles, wenn Sie mich nicht entlassen, aber fragen Sie mich nicht, ich gehöre nicht mir zu, ich kann nicht bleiben.«

»Wem gehörst du an? Wer kann eine solche Gewalt über dich ausüben?«

»Mein Herr, lassen Sie mir mein schaudervolles Geheimnis, und geben Sie mich los! Die Rache, die mich verfolgt, ist nicht des irdischen Richters; ich gehöre einem unerbittlichen Schicksale; ich kann nicht bleiben, und ich darf nicht!«

»In diesem Zustande, in dem ich dich sehe, werde ich dich gewiß nicht lassen.«

»Es ist Hochverrat an Ihnen, mein Wohltäter, wenn ich zaudre. Ich bin sicher bei Ihnen, aber Sie sind in Gefahr. Sie wissen nicht, wen Sie in Ihrer Nähe hegen. Ich bin schuldig, aber unglücklicher als schuldig. Meine Gegenwart verscheucht das Glück, und die gute Tat wird ohnmächtig, wenn ich dazutrete. Flüchtig und unstet sollt ich sein, daß mein unglücklicher Genius mich nicht einholet, der mich nur langsam verfolgt und nur dann sich merken läßt, wenn ich mein Haupt niederlegen und ruhen will. Dankbarer kann ich mich nicht bezeigen, als wenn ich Sie verlasse.«

»Sonderbarer Mensch! du kannst mir das Vertrauen in dich so wenig nehmen als die Hoffnung, dich glücklich zu sehen. Ich will in die Geheimnisse deines Aberglaubens nicht eindringen; aber wenn du ja in Ahnung wunderbarer Verknüpfungen und Vorbedeutungen lebst, so sage ich dir zu deinem Trost und zu deiner Aufmunterung: geselle dich zu meinem Glücke, und wir wollen sehen, welcher Genius der stärkste ist, dein schwarzer oder mein weißer!«

Wilhelm ergriff diese Gelegenheit, um ihm noch mancherlei Tröstliches zu sagen; denn er hatte schon seit einiger Zeit in seinem wunderbaren Begleiter einen Menschen zu sehen geglaubt, der durch Zufall oder Schickung eine große Schuld auf sich geladen hat und nun die Erinnerung derselben immer mit sich fortschleppt. Noch vor wenigen Tagen hatte Wilhelm seinen Gesang behorcht und folgende Zeilen wohl bemerkt:

Ihm färbt der Morgensonne Licht

Den reinen Horizont mit Flammen,

Und über seinem schuld’gen Haupte bricht

Das schöne Bild der ganzen Welt zusammen.

Der Alte mochte nun sagen, was er wollte, so hatte Wilhelm immer ein stärker Argument, wußte alles zum besten zu kehren und zu wenden, wußte so brav, so herzlich und tröstlich zu sprechen, daß der Alte selbst wieder aufzuleben und seinen Grillen zu entsagen schien.

Zweites Kapitel

Melina hatte Hoffnung, in einer kleinen, aber wohlhabenden Stadt mit seiner Gesellschaft unterzukommen. Schon befanden sie sich an dem Orte, wohin sie die Pferde des Grafen gebracht hatten, und sahen sich nach andern Wagen und Pferden um, mit denen sie weiterzukommen hofften. Melina hatte den Transport übernommen und zeigte sich nach seiner Gewohnheit übrigens sehr karg. Dagegen hatte Wilhelm die schönen Dukaten der Gräfin in der Tasche, auf deren fröhliche Verwendung er das größte Recht zu haben glaubte, und sehr leicht vergaß er, daß er sie in der stattlichen Bilanz, die er den Seinigen zuschickte, schon sehr ruhmredig aufgeführt hatte.

Sein Freund Shakespeare, den er mit großer Freude auch als seinen Paten anerkannte und sich nur um so lieber Wilhelm nennen ließ, hatte ihm einen Prinzen bekannt gemacht, der sich unter geringer, ja sogar schlechter Gesellschaft eine Zeitlang aufhält und ungeachtet seiner edlen Natur an der Roheit, Unschicklichkeit und Albernheit solcher ganz sinnlichen Bursche sich ergötzt. Höchst willkommen war ihm das Ideal, womit er seinen gegenwärtigen Zustand vergleichen konnte, und der Selbstbetrug, wozu er eine fast unüberwindliche Neigung spürte, ward ihm dadurch außerordentlich erleichtert.

Er fing nun an, über seine Kleidung nachzudenken. Er fand, daß ein Westchen, über das man im Notfall einen kurzen Mantel würfe, für einen Wanderer eine sehr angemessene Tracht sei. Lange, gestrickte Beinkleider und ein Paar Schnürstiefeln schienen die wahre Tracht eines Fußgängers. Dann verschaffte er sich eine schöne seidne Schärpe, die er zuerst unter dem Vorwande, den Leib warm zu halten, umband; dagegen befreite er seinen Hals von der Knechtschaft einer Binde und ließ sich einige Streifen Nesseltuch ans Hemde heften, die aber etwas breit gerieten und das völlige Ansehen eines antiken Kragens erhielten. Das schöne seidne Halstuch, das gerettete Andenken Marianens, lag nur locker geknüpft unter der nesseltuchnen Krause. Ein runder Hut mit einem bunten Bande und einer großen Feder machte die Maskerade vollkommen.

Die Frauen beteuerten, diese Tracht lasse ihm vorzüglich gut. Philine stellte sich ganz bezaubert darüber und bat sich seine schönen Haare aus, die er, um dem natürlichen Ideal nur desto näherzukommen, unbarmherzig abgeschnitten hatte. Sie empfahl sich dadurch nicht übel, und unser Freund, der durch seine Freigebigkeit sich das Recht erworben hatte, auf Prinz Harrys Manier mit den übrigen umzugehen, kam bald selbst in den Geschmack, einige tolle Streiche anzugeben und zu befördern. Man focht, man tanzte, man erfand allerlei Spiele, und in der Fröhlichkeit des Herzens genoß man des leidlichen Weins, den man angetroffen hatte, in starkem Maße, und Philine lauerte in der Unordnung dieser Lebensart dem spröden Helden auf, für den sein guter Genius Sorge tragen möge.

Eine vorzügliche Unterhaltung, mit der sich die Gesellschaft besonders ergötzte, bestand in einem extemporierten Spiel, in welchem sie ihre bisherigen Gönner und Wohltäter nachahmten und durchzogen. Einige unter ihnen hatten sich sehr gut die Eigenheiten des äußern Anstandes verschiedner vornehmer Personen gemerkt, und die Nachbildung derselben ward von der übrigen Gesellschaft mit dem größten Beifall aufgenommen, und als Philine aus dem geheimen Archiv ihrer Erfahrungen einige besondere Liebeserklärungen, die an sie geschehen waren, vorbrachte, wußte man sich vor Lachen und Schadenfreude kaum zu lassen.

Wilhelm schalt ihre Undankbarkeit; allein man setzte ihm entgegen, daß sie das, was sie dort erhalten, genugsam abverdient und daß überhaupt das Betragen gegen so verdienstvolle Leute, wie sie sich zu sein rühmten, nicht das beste gewesen sei. Nun beschwerte man sich, mit wie wenig Achtung man ihnen begegnet, wie sehr man sie zurückgesetzt habe. Das Spotten, Necken und Nachahmen ging wieder an, und man ward immer bitterer und ungerechter.

»Ich wünschte«, sagte Wilhelm darauf, »daß durch eure Äußerungen weder Neid noch Eigenliebe durchschiene und daß ihr jene Personen und ihre Verhältnisse aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtetet. Es ist eine eigene Sache, schon durch die Geburt auf einen erhabenen Platz in der menschlichen Gesellschaft gesetzt zu sein. Wem ererbte Reichtümer eine vollkommene Leichtigkeit des Daseins verschafft haben, wer sich, wenn ich mich so ausdrücken darf, von allem Beiwesen der Menschheit von Jugend auf reichlich umgeben findet, gewöhnt sich meist, diese Güter als das Erste und Größte zu betrachten, und der Wert einer von der Natur schön ausgestatteten Menschheit wird ihm nicht so deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch untereinander ist nach äußern Vorzügen abgemessen; sie erlauben jedem, seinen Titel, seinen Rang, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste geltend zu machen.«

Diesen Worten gab die Gesellschaft einen unmäßigen Beifall. Man fand abscheulich, daß der Mann von Verdienst immer zurückstehen müsse und daß in der großen Welt keine Spur von natürlichem und herzlichem Umgang zu finden sei. Sie kamen besonders über diesen letzten Punkt aus dem Hundertsten ins Tausendste.

»Scheltet sie nicht darüber«, rief Wilhelm aus, »bedauert sie vielmehr! Denn von jenem Glück, das wir als das höchste erkennen, das aus dem innern Reichtum der Natur fließt, haben sie selten eine erhöhte Empfindung. Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es gegönnt, das Glück der Freundschaft in reichem Maße zu genießen. Wir können unsre Geliebten weder durch Gnade erheben, noch durch Gunst befördern, noch durch Geschenke beglücken. Wir haben nichts als uns selbst. Dieses ganze Selbst müssen wir hingeben und, wenn es einigen Wert haben soll, dem Freunde das Gut auf ewig versichern. Welch ein Genuß, welch ein Glück für den Geber und Empfänger! In welchen seligen Zustand versetzt uns die Treue! Sie gibt dem vorübergehenden Menschenleben eine himmlische Gewißheit; sie macht das Hauptkapital unsers Reichtums aus.«

Mignon hatte sich ihm unter diesen Worten genähert, schlang ihre zarten Arme um ihn und blieb mit dem Köpfchen an seine Brust gelehnt stehen. Er legte die Hand auf des Kindes Haupt und fuhr fort: »Wie leicht wird es einem Großen, die Gemüter zu gewinnen! wie leicht eignet er sich die Herzen zu! Ein gefälliges, bequemes, nur einigermaßen menschliches Betragen tut Wunder, und wie viele Mittel hat er, die einmal erworbenen Geister festzuhalten. Uns kommt alles seltner, wird alles schwerer, und wie natürlich ist es, daß wir auf das, was wir erwerben und leisten, einen größern Wert legen. Welche rührenden Beispiele von treuen Dienern, die sich für ihre Herren aufopferten! Wie schön hat uns Shakespeare solche geschildert! Die Treue ist in diesem Falle ein Bestreben einer edlen Seele, einem Größern gleich zu werden. Durch fortdauernde Anhänglichkeit und Liebe wird der Diener seinem Herrn gleich, der ihn sonst nur als einen bezahlten Sklaven anzusehen berechtigt ist. Ja, diese Tugenden sind nur für den geringen Stand; er kann sie nicht entbehren, und sie kleiden ihn schön. Wer sich leicht loskaufen kann, wird so leicht versucht, sich auch der Erkenntlichkeit zu überheben. Ja, in diesem Sinne glaube ich behaupten zu können, daß ein Großer wohl Freunde haben, aber nicht Freund sein könne.«

Mignon drückte sich immer fester an ihn.

»Nun gut«, versetzte einer aus der Gesellschaft. »Wir brauchen ihre Freundschaft nicht und haben sie niemals verlangt. Nur sollten sie sich besser auf Künste verstehen, die sie doch beschützen wollen. Wenn wir am besten gespielt haben, hat uns niemand zugehört: alles war lauter Parteilichkeit. Wem man günstig war, der gefiel, und man war dem nicht günstig, der zu gefallen verdiente. Es war nicht erlaubt, wie oft das Alberne und Abgeschmackte Aufmerksamkeit und Beifall auf sich zog.«

»Wenn ich abrechne«, versetzte Wilhelm, »was Schadenfreude und Ironie gewesen sein mag, so denk ich, es geht in der Kunst wie in der Liebe. Wie will der Weltmann bei seinem zerstreuten Leben die Innigkeit erhalten, in der ein Künstler bleiben muß, wenn er etwas Vollkommenes hervorzubringen denkt, und die selbst demjenigen nicht fremd sein darf, der einen solchen Anteil am Werke nehmen will, wie der Künstler ihn wünscht und hofft.

Glaubt mir, meine Freunde, es ist mit den Talenten wie mit der Tugend: man muß sie um ihrer selbst willen lieben oder sie ganz aufgeben. Und doch werden sie beide nicht anders erkannt und belohnt, als wenn man sie gleich einem gefährlichen Geheimnis im verborgnen üben kann.«

»Unterdessen, bis ein Kenner uns auffindet, kann man Hungers sterben«, rief einer aus der Ecke.

»Nicht eben sogleich«, versetzte Wilhelm. »Ich habe gesehen, solange einer lebt und sich rührt, findet er immer seine Nahrung, und wenn sie auch gleich nicht die reichlichste ist. Und worüber habt ihr euch denn zu beschweren? Sind wir nicht ganz unvermutet, eben da es mit uns am schlimmsten aussah, gut aufgenommen und bewirtet worden? Und jetzt, da es uns noch an nichts gebricht, fällt es uns denn ein, etwas zu unserer Übung zu tun und nur einigermaßen weiterzustreben? Wir treiben fremde Dinge und entfernen, den Schulkindern ähnlich, alles, was uns nur an unsre Lektion erinnern könnte.«

»Wahrhaftig«, sagte Philine, »es ist unverantwortlich! Laßt uns ein Stück wählen; wir wollen es auf der Stelle spielen. Jeder muß sein möglichstes tun, als wenn er vor dem größten Auditorium stünde.«

Man überlegte nicht lange; das Stück ward bestimmt. Es war eines derer, die damals in Deutschland großen Beifall fanden und nun verschollen sind. Einige pfiffen eine Symphonie, jeder besann sich schnell auf seine Rolle, man fing an und spielte mit der größten Aufmerksamkeit das Stück durch, und wirklich über Erwartung gut. Man applaudierte sich wechselsweise; man hatte sich selten so wohl gehalten.

Als sie fertig waren, empfanden sie alle ein ausnehmendes Vergnügen, teils über ihre wohlzugebrachte Zeit, teils weil jeder besonders mit sich zufrieden sein konnte. Wilhelm ließ sich weitläufig zu ihrem Lobe heraus, und ihre Unterhaltung war heiter und fröhlich.

»Ihr solltet sehen«, rief unser Freund, »wie weit wir kommen müßten, wenn wir unsre Übungen auf diese Art fortsetzten und nicht bloß auf Auswendiglernen, Probieren und Spielen uns mechanisch pflicht- und handwerksmäßig einschränkten. Wieviel mehr Lob verdienen die Tonkünstler, wie sehr ergötzen sie sich, wie genau sind sie, wenn sie gemeinschaftlich ihre Übungen vornehmen! Wie sind sie bemüht, ihre Instrumente übereinzustimmen, wie genau halten sie Takt, wie zart wissen sie die Stärke und Schwäche des Tons auszudrücken! Keinem fällt es ein, sich bei dem Solo eines andern durch ein vorlautes Akkompagnieren Ehre zu machen. Jeder sucht in dem Geist und Sinne des Komponisten zu spielen und jeder das, was ihm aufgetragen ist, es mag viel oder wenig sein, gut auszudrücken. Sollten wir nicht ebenso genau und ebenso geistreich zu Werke gehen, da wir eine Kunst treiben, die noch viel zarter als jede Art von Musik ist, da wir die gewöhnlichsten und seltensten Äußerungen der Menschheit geschmackvoll und ergötzend darzustellen berufen sind? Kann etwas abscheulicher sein, als in den Proben zu sudeln und sich bei der Vorstellung auf Laune und gut Glück zu verlassen? Wir sollten unser größtes Glück und Vergnügen dareinsetzen, miteinander übereinzustimmen, um uns wechselsweise zu gefallen, und auch nur insofern den Beifall des Publikums zu schätzen, als wir ihn uns gleichsam untereinander schon selbst garantiert hätten. Warum ist der Kapellmeister seines Orchesters gewisser als der Direktor seines Schauspiels? Weil dort jeder sich seines Mißgriffs, der das äußere Ohr beleidigt, schämen muß; aber wie selten hab ich einen Schauspieler verzeihliche und unverzeihliche Mißgriffe, durch die das innere Ohr so schnöde beleidigt wird, anerkennen und sich ihrer schämen sehen! Ich wünschte nur, daß das Theater so schmal wäre als der Draht eines Seiltänzers, damit sich kein Ungeschickter hinaufwagte, anstatt daß jetzo ein jeder sich Fähigkeit genug fühlt, darauf zu paradieren.«

Die Gesellschaft nahm diese Apostrophe gut auf, indem jeder überzeugt war, daß nicht von ihm die Rede sein könne, da er sich noch vor kurzem nebst den übrigen so gut gehalten. Man kam vielmehr überein, daß man in dem Sinne, wie man angefangen, auf dieser Reise und künftig, wenn man zusammen bliebe, eine gesellige Bearbeitung wolle obwalten lassen. Man fand nur, daß, weil dieses eine Sache der guten Laune und des freien Willens sei, so müsse sich eigentlich kein Direktor dareinmischen. Man nahm als ausgemacht an, daß unter guten Menschen die republikanische Form die beste sei; man behauptete, das Amt eines Direktors müsse herumgehen; er müsse von allen gewählt werden und eine Art von kleinem Senat ihm jederzeit beigesetzt bleiben. Sie waren so von diesem Gedanken eingenommen, daß sie wünschten, ihn gleich ins Werk zu richten.

»Ich habe nichts dagegen«, sagte Melina, »wenn ihr auf der Reise einen solchen Versuch machen wollt; ich suspendiere meine Direktorschaft gern, bis wir wieder an Ort und Stelle kommen.« Er hoffte dabei zu sparen und manche Ausgaben der kleinen Republik oder dem Interimsdirektor aufzuwälzen. Nun ging man sehr lebhaft zu Rate, wie man die Form des neuen Staates aufs beste einrichten wolle.

»Es ist ein wanderndes Reich«, sagte Laertes; »wir werden wenigstens keine Grenzstreitigkeiten haben.«

Man schritt sogleich zur Sache und erwählte Wilhelmen zum ersten Direktor. Der Senat ward bestellt, die Frauen erhielten Sitz und Stimme, man schlug Gesetze vor, man verwarf, man genehmigte. Die Zeit ging unvermerkt unter diesem Spiele vorüber, und weil man sie angenehm zubrachte, glaubte man auch wirklich etwas Nützliches getan und durch die neue Form eine neue Aussicht für die vaterländische Bühne eröffnet zu haben.

Drittes Kapitel

Wilhelm hoffte nunmehr, da er die Gesellschaft in so guter Disposition sah, sich auch mit ihr über das dichterische Verdienst der Stücke unterhalten zu können. »Es ist nicht genug«, sagte er zu ihnen, als sie des andern Tages wieder zusammenkamen, »daß der Schauspieler ein Stück nur so obenhin ansehe, dasselbe nach dem ersten Eindruck beurteile und ohne Prüfung sein Gefallen oder Mißfallen daran zu erkennen gebe. Dies ist dem Zuschauer wohl erlaubt, der gerührt und unterhalten sein, aber eigentlich nicht urteilen will. Der Schauspieler dagegen soll von dem Stücke und von den Ursachen seines Lobes und Tadels Rechenschaft geben können: und wie will er das, wenn er nicht in den Sinn seines Autors, wenn er nicht in die Absichten desselben einzudringen versteht? Ich habe den Fehler, ein Stück aus einer Rolle zu beurteilen, eine Rolle nur an sich und nicht im Zusammenhange mit dem Stück zu betrachten, an mir selbst in diesen Tagen so lebhaft bemerkt, daß ich euch das Beispiel erzählen will, wenn ihr mir ein geneigtes Gehör gönnen wollt.

Ihr kennt Shakespeares unvergleichlichen ›Hamlet‹ aus einer Vorlesung, die euch schon auf dem Schlosse das größte Vergnügen machte. Wir setzten uns vor, das Stück zu spielen, und ich hatte, ohne zu wissen, was ich tat, die Rolle des Prinzen übernommen; ich glaubte sie zu studieren, indem ich anfing, die stärksten Stellen, die Selbstgespräche und jene Auftritte zu memorieren, in denen Kraft der Seele, Erhebung des Geistes und Lebhaftigkeit freien Spielraum haben, wo das bewegte Gemüt sich in einem gefühlvollen Ausdrucke zeigen kann.

Auch glaubte ich recht in den Geist der Rolle einzudringen, wenn ich die Last der tiefen Schwermut gleichsam selbst auf mich nähme und unter diesem Druck meinem Vorbilde durch das seltsame Labyrinth so mancher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen suchte. So memorierte ich, und so übte ich mich und glaubte nach und nach mit meinem Helden zu einer Person zu werden.

Allein je weiter ich kam, desto schwerer ward mir die Vorstellung des Ganzen, und mir schien zuletzt fast unmöglich, zu einer Übersicht zu gelangen. Nun ging ich das Stück in einer ununterbrochenen Folge durch, und auch da wollte mir leider manches nicht passen. Bald schienen sich die Charaktere, bald der Ausdruck zu widersprechen, und ich verzweifelte fast, einen Ton zu finden, in welchem ich meine ganze Rolle mit allen Abweichungen und Schattierungen vortragen könnte. In diesen Irrgängen bemühte ich mich lange vergebens, bis ich mich endlich auf einem ganz besondern Wege meinem Ziele zu nähern hoffte.

Ich suchte jede Spur auf, die sich von dem Charakter Hamlets in früher Zeit vor dem Tode seines Vaters zeigte; ich bemerkte, was unabhängig von dieser traurigen Begebenheit, unabhängig von den nachfolgenden schrecklichen Ereignissen dieser interessante Jüngling gewesen war und was er ohne sie vielleicht geworden wäre.

Zart und edel entsprossen, wuchs die königliche Blume unter den unmittelbaren Einflüssen der Majestät hervor; der Begriff des Rechts und der fürstlichen Würde, das Gefühl des Guten und Anständigen mit dem Bewußtsein der Höhe seiner Geburt entwickelten sich zugleich in ihm. Er war ein Fürst, ein geborner Fürst, und wünschte zu regieren, nur damit der Gute ungehindert gut sein möchte. Angenehm von Gestalt, gesittet von Natur, gefällig von Herzen aus, sollte er das Muster der Jugend sein und die Freude der Welt werden.

Ohne irgendeine hervorstechende Leidenschaft war seine Liebe zu Ophelien ein stilles Vorgefühl süßer Bedürfnisse; sein Eifer zu ritterlichen Übungen war nicht ganz original; vielmehr mußte diese Lust durch das Lob, das man dem Dritten beilegte, geschärft und erhöht werden; rein fühlend, kannte er die Redlichen und wußte die Ruhe zu schätzen, die ein aufrichtiges Gemüt an dem offnen Busen eines Freundes genießt. Bis auf einen gewissen Grad hatte er in Künsten und Wissenschaften das Gute und Schöne erkennen und würdigen gelernt; das Abgeschmackte war ihm zuwider, und wenn in seiner zarten Seele der Haß aufkeimen konnte, so war es nur ebenso viel, als nötig ist, um bewegliche und falsche Höflinge zu verachten und spöttisch mit ihnen zu spielen. Er war gelassen in seinem Wesen, in seinem Betragen einfach, weder im Müßiggange behaglich noch allzu begierig nach Beschäftigung. Ein akademisches Hinschlendern schien er auch bei Hofe fortzusetzen. Er besaß mehr Fröhlichkeit der Laune als des Herzens, war ein guter Gesellschafter, nachgiebig, bescheiden, besorgt, und konnte eine Beleidigung vergeben und vergessen; aber niemals konnte er sich mit dem vereinigen, der die Grenzen des Rechten, des Guten, des Anständigen überschritt.

Wenn wir das Stück wieder zusammen lesen werden, könnt ihr beurteilen, ob ich auf dem rechten Wege bin. Wenigstens hoffe ich meine Meinung durchaus mit Stellen belegen zu können.«

Man gab der Schilderung lauten Beifall; man glaubte vorauszusehen, daß sich nun die Handelsweise Hamlets gar gut werde erklären lassen; man freute sich über diese Art, in den Geist des Schriftstellers einzudringen. Jeder nahm sich vor, auch irgendein Stück auf diese Art zu studieren und den Sinn des Verfassers zu entwickeln.

Viertes Kapitel

Nur einige Tage mußte die Gesellschaft an dem Orte liegenbleiben, und sogleich zeigten sich für verschiedene Glieder derselben nicht unangenehme Abenteuer, besonders aber ward Laertes von einer Dame angereizt, die in der Nachbarschaft ein Gut hatte, gegen die er sich aber äußerst kalt, ja unartig betrug und darüber von Philinen viele Spöttereien erdulden mußte. Sie ergriff die Gelegenheit, unserm Freund die unglückliche Liebesgeschichte zu erzählen, über die der arme Jüngling dem ganzen weiblichen Geschlechte feind geworden war. »Wer wird ihm übelnehmen«, rief sie aus, »daß er ein Geschlecht haßt, das ihm so übel mitgespielt hat und ihm alle Übel, die sonst Männer von Weibern zu befürchten haben, in einem sehr konzentrierten Tranke zu verschlucken gab? Stellen Sie sich vor: binnen vierundzwanzig Stunden war er Liebhaber, Bräutigam, Ehmann, Hahnrei, Patient und Witwer! Ich wüßte nicht, wie man’s einem ärger machen wollte.«

Laertes lief halb lachend, halb verdrießlich zur Stube hinaus, und Philine fing in ihrer allerliebsten Art die Geschichte zu erzählen an, wie Laertes als ein junger Mensch von achtzehn Jahren, eben als er bei einer Theatergesellschaft eingetroffen, ein schönes vierzehnjähriges Mädchen gefunden, die eben mit ihrem Vater, der sich mit dem Direktor entzweiet, abzureisen willens gewesen. Er habe sich aus dem Stegreife sterblich verliebt, dem Vater alle möglichen Vorstellungen getan zu bleiben und endlich versprochen, das Mädchen zu heiraten. Nach einigen angenehmen Stunden des Brautstandes sei er getraut worden, habe eine glückliche Nacht als Ehmann zugebracht, darauf habe ihn seine Frau des andern Morgens, als er in der Probe gewesen, nach Standesgebühr mit einem Hörnerschmuck beehrt; weil er aber aus allzugroßer Zärtlichkeit viel zu früh nach Hause geeilt, habe er leider einen ältern Liebhaber an seiner Stelle gefunden, habe mit unsinniger Leidenschaft dreingeschlagen, Liebhaber und Vater herausgefordert und sei mit einer leidlichen Wunde davongekommen. Vater und Tochter seien darauf noch in der Nacht abgereist, und er sei leider auf eine doppelte Weise verwundet zurückgeblieben. Sein Unglück habe ihn zu dem schlechtesten Feldscher von der Welt geführt, und der Arme sei leider mit schwarzen Zähnen und triefenden Augen aus diesem Abenteuer geschieden. Er sei zu bedauern, weil er übrigens der bravste Junge sei, den Gottes Erdboden trüge. »Besonders«, sagte sie, »tut es mir leid, daß der arme Narr nun die Weiber haßt: denn wer die Weiber haßt, wie kann der leben?«

Melina unterbrach sie mit der Nachricht, daß alles zum Transport völlig bereit sei und daß sie morgen früh abfahren könnten. Er überreichte ihnen eine Disposition, wie sie fahren sollten.

»Wenn mich ein guter Freund auf den Schoß nimmt«, sagte Philine, »so bin ich zufrieden, daß wir eng und erbärmlich sitzen; übrigens ist mir alles einerlei.«

»Es tut nichts«, sagte Laertes, der auch herbeikam.

»Es ist verdrießlich!« sagte Wilhelm und eilte weg. Er fand für sein Geld noch einen gar bequemen Wagen, den Melina verleugnet hatte. Eine andere Einteilung ward gemacht, und man freute sich, bequem abreisen zu können, als die bedenkliche Nachricht einlief: daß auf dem Wege, den sie nehmen wollten, sich ein Freikorps sehen lasse, von dem man nicht viel Gutes erwartete.

An dem Orte selbst war man sehr auf diese Zeitung aufmerksam, wenn sie gleich nur schwankend und zweideutig war. Nach der Stellung der Armeen schien es unmöglich, daß ein feindliches Korps sich habe durchschleichen oder daß ein freundliches so weit habe zurückbleiben können. Jedermann war eifrig, unsrer Gesellschaft die Gefahr, die auf sie wartete, recht gefährlich zu beschreiben und ihr einen andern Weg anzuraten.

Die meisten waren darüber in Unruhe und Furcht gesetzt, und als nach der neuen republikanischen Form die sämtlichen Glieder des Staats zusammengerufen wurden, um über diesen außerordentlichen Fall zu beratschlagen, waren sie fast einstimmig der Meinung, daß man das Übel vermeiden und am Orte bleiben oder ihm ausweichen und einen andern Weg erwählen müsse.

Nur Wilhelm, von Furcht nicht eingenommen, hielt für schimpflich, einen Plan, in den man mit so viel Überlegung eingegangen war, nunmehr auf ein bloßes Gerücht aufzugeben. Er sprach ihnen Mut ein, und seine Gründe waren männlich und überzeugend.

»Noch«, sagte er, »ist es nichts als ein Gerücht, und wie viele dergleichen entstehen im Kriege! Verständige Leute sagen, daß der Fall höchst unwahrscheinlich, ja beinah unmöglich sei. Sollten wir uns in einer so wichtigen Sache bloß durch ein so ungewisses Gerede bestimmen lassen? Die Route, welche uns der Herr Graf angegeben hat, auf die unser Paß lautet, ist die kürzeste, und wir finden auf selbiger den besten Weg. Sie führt uns nach der Stadt, wo ihr Bekanntschaften, Freunde vor euch seht und eine gute Aufnahme zu hoffen habt. Der Umweg bringt uns auch dahin, aber in welche schlimmen Wege verwickelt er uns, wie weit führt er uns ab! Können wir Hoffnung haben, uns in der späten Jahrszeit wieder herauszufinden, und was für Zeit und Geld werden wir indessen versplittern!« Er sagte noch viel und trug die Sache von so mancherlei vorteilhaften Seiten vor, daß ihre Furcht sich verringerte und ihr Mut zunahm. Er wußte ihnen so viel von der Mannszucht der regelmäßigen Truppen vorzusagen und ihnen die Marodeurs und das hergelaufene Gesindel so nichtswürdig zu schildern und selbst die Gefahr so lieblich und lustig darzustellen, daß alle Gemüter aufgeheitert wurden.

Laertes war vom ersten Moment an auf seiner Seite und versicherte, daß er nicht wanken noch weichen wolle. Der alte Polterer fand wenigstens einige übereinstimmende Ausdrücke in seiner Manier, Philine lachte sie alle zusammen aus, und da Madame Melina, die, ihrer hohen Schwangerschaft ungeachtet, ihre natürliche Herzhaftigkeit nicht verloren hatte, den Vorschlag heroisch fand, so konnte Melina, der denn freilich auf dem nächsten Wege, auf den er akkordiert hatte, viel zu sparen hoffte, nicht widerstehen, und man willigte in den Vorschlag von ganzem Herzen.

Nun fing man an, sich auf alle Fälle zur Verteidigung einzurichten. Man kaufte große Hirschfänger und hing sie an wohlgestickten Riemen über die Schultern. Wilhelm steckte noch überdies ein Paar Terzerole in den Gürtel; Laertes hatte ohnedem eine gute Flinte bei sich, und man machte sich mit einer hohen Freudigkeit auf den Weg.

Den zweiten Tag schlugen die Fuhrleute, die der Gegend wohl kundig waren, vor: sie wollten auf einem waldigen Bergplatze Mittagsruhe halten, weil das Dorf weit abgelegen sei und man bei guten Tagen gern diesen Weg nähme.

Die Witterung war schön, und jedermann stimmte leicht in den Vorschlag ein. Wilhelm eilte zu Fuß durch das Gebirge voraus, und über seine sonderbare Gestalt mußte jeder, der ihm begegnete, stutzig werden. Er eilte mit schnellen und zufriedenen Schritten den Wald hinauf, Laertes pfiff hinter ihm drein, nur die Frauen ließen sich in den Wagen fortschleppen. Mignon lief gleichfalls nebenher, stolz auf den Hirschfänger, den man ihr, als die Gesellschaft sich bewaffnete, nicht abschlagen konnte. Um ihren Hut hatte sie die Perlenschnur gewunden, die Wilhelm von Marianens Reliquien übrigbehalten hatte. Friedrich der Blonde trug die Flinte des Laertes, der Harfner hatte das friedlichste Ansehen. Sein langes Kleid war in den Gürtel gesteckt, und so ging er freier. Er stützte sich auf einen knotigen Stab, sein Instrument war bei den Wagen zurückgeblieben.

Nachdem sie nicht ganz ohne Beschwerlichkeit die Höhe erstiegen, erkannten sie sogleich den angezeigten Platz an den schönen Buchen, die ihn umgaben und bedeckten. Eine große, sanft abhängige Waldwiese lud zum Bleiben ein; eine eingefaßte Quelle bot die lieblichste Erquickung dar, und es zeigte sich an der andern Seite durch Schluchten und Waldrücken eine ferne, schöne und hoffnungsvolle Aussicht. Da lagen Dörfer und Mühlen in den Gründen, Städtchen in der Ebene, und neue, in der Ferne eintretende Berge machten die Aussicht noch hoffnungsvoller, indem sie nur wie eine sanfte Beschränkung hereintraten.

Die ersten Ankommenden nahmen Besitz von der Gegend, ruhten im Schatten aus, machten ein Feuer an und erwarteten geschäftig, singend die übrige Gesellschaft, welche nach und nach herbeikam und den Platz, das schöne Wetter, die unaussprechlich schöne Gegend mit einem Munde begrüßte.

Fünftes Kapitel

Hatte man oft zwischen vier Wänden gute und fröhliche Stunden zusammen genossen, so war man natürlich noch viel aufgeweckter hier, wo die Freiheit des Himmels und die Schönheit der Gegend jedes Gemüt zu reinigen schien. Alle fühlten sich einander näher, alle wünschten in einem so angenehmen Aufenthalt ihr ganzes Leben hinzubringen. Man beneidete die Jäger, Köhler und Holzhauer, Leute, die ihr Beruf in diesen glücklichen Wohnplätzen festhält; über alles aber pries man die reizende Wirtschaft eines Zigeunerhaufens. Man beneidete die wunderlichen Gesellen, die in seligem Müßiggange alle abenteuerlichen Reize der Natur zu genießen berechtigt sind; man freute sich, ihnen einigermaßen ähnlich zu sein.

Indessen hatten die Frauen angefangen, Erdäpfel zu sieden und die mitgebrachten Speisen auszupacken und zu bereiten. Einige Töpfe standen beim Feuer, gruppenweise lagerte sich die Gesellschaft unter den Bäumen und Büschen. Ihre seltsamen Kleidungen und die mancherlei Waffen gaben ihr ein fremdes Ansehen. Die Pferde wurden beiseite gefüttert, und wenn man die Kutschen hätte verstecken wollen, so wäre der Anblick dieser kleinen Horde bis zur Illusion romantisch gewesen.

Wilhelm genoß ein nie gefühltes Vergnügen. Er konnte hier eine wandernde Kolonie und sich als Anführer derselben denken. In diesem Sinne unterhielt er sich mit einem jeden und bildete den Wahn des Moments so poetisch als möglich aus. Die Gefühle der Gesellschaft erhöhten sich; man aß, trank und jubilierte und bekannte wiederholt, niemals schönere Augenblicke erlebt zu haben.

Nicht lange hatte das Vergnügen zugenommen, als bei den jungen Leuten die Tätigkeit erwachte. Wilhelm und Laertes griffen zu den Rapieren und fingen diesmal in theatralischer Absicht ihre Übungen an. Sie wollten den Zweikampf darstellen, in welchem Hamlet und sein Gegner ein so tragisches Ende nehmen. Beide Freunde waren überzeugt, daß man in dieser wichtigen Szene nicht, wie es wohl auf Theatern zu geschehen pflegt, nur ungeschickt hin und wider stoßen dürfe: sie hofften ein Muster darzustellen, wie man bei der Aufführung auch dem Kenner der Fechtkunst ein würdiges Schauspiel zu geben habe. Man schloß einen Kreis um sie her; beide fochten mit Eifer und Einsicht, das Interesse der Zuschauer wuchs mit jedem Gange.

Auf einmal aber fiel im nächsten Busche ein Schuß und gleich darauf noch einer, und die Gesellschaft fuhr erschreckt auseinander. Bald erblickte man bewaffnete Leute, die auf den Ort zudrangen, wo die Pferde nicht weit von den bepackten Kutschen ihr Futter einnahmen.

Ein allgemeiner Schrei entfuhr dem weiblichen Geschlechte, unsre Helden warfen die Rapiere weg, griffen nach den Pistolen, eilten den Räubern entgegen und forderten unter lebhaften Drohungen Rechenschaft des Unternehmens.

Als man ihnen lakonisch mit ein paar Musketenschüssen antwortete, drückte Wilhelm seine Pistole auf einen Krauskopf ab, der den Wagen erstiegen hatte und die Stricke des Gepäckes auseinanderschnitt. Wohlgetroffen stürzte er sogleich herunter; Laertes hatte auch nicht fehlgeschossen, und beide Freunde zogen beherzt ihre Seitengewehre, als ein Teil der räuberischen Bande mit Fluchen und Gebrüll auf sie losbrach, einige Schüsse auf sie tat und sich mit blinkenden Säbeln ihrer Kühnheit entgegensetzte. Unsre jungen Helden hielten sich tapfer; sie riefen ihren übrigen Gesellen zu und munterten sie zu einer allgemeinen Verteidigung auf. Bald aber verlor Wilhelm den Anblick des Lichtes und das Bewußtsein dessen, was vorging. Von einem Schuß, der ihn zwischen der Brust und dem linken Arm verwundete, von einem Hiebe, der ihm den Hut spaltete und fast bis auf die Hirnschale durchdrang, betäubt, fiel er nieder und mußte das unglückliche Ende des Überfalls nur erst in der Folge aus der Erzählung vernehmen.

Als er die Augen wieder aufschlug, befand er sich in der wunderbarsten Lage. Das erste, was ihm durch die Dämmerung, die noch vor seinen Augen lag, entgegenblickte, war das Gesicht Philinens, das sich über das seine herüberneigte. Er fühlte sich schwach, und da er, um sich emporzurichten, eine Bewegung machte, fand er sich in Philinens Schoß, in den er auch wieder zurücksank. Sie saß auf dem Rasen, hatte den Kopf des vor ihr ausgestreckten Jünglings leise an sich gedrückt und ihm in ihren Armen, soviel sie konnte, ein sanftes Lager bereitet. Mignon kniete mit zerstreuten, blutigen Haaren an seinen Füßen und umfaßte sie mit vielen Tränen.

Als Wilhelm seine blutigen Kleider ansah, fragte er mit gebrochener Stimme, wo er sich befinde, was ihm und den andern begegnet sei. Philine bat ihn, ruhigzubleiben; die übrigen, sagte sie, seien alle in Sicherheit und niemand als er und Laertes verwundet. Weiter wollte sie nichts erzählen und bat ihn inständig, er möchte sich ruhighalten, weil seine Wunden nur schlecht und in der Eile verbunden seien. Er reichte Mignon die Hand und erkundigte sich nach der Ursache der blutigen Locken des Kindes, das er auch verwundet glaubte.

Um ihn zu beruhigen, erzählte Philine: dieses gutherzige Geschöpf, da es seinen Freund verwundet gesehen, habe sich in der Geschwindigkeit auf nichts besonnen, um das Blut zu stillen, es habe seine eigenen Haare, die um den Kopf geflogen, genommen, um die Wunden zu stopfen, habe aber bald von dem vergeblichen Unternehmen abstehen müssen. Nachher verband man ihn mit Schwamm und Moos, Philine hatte dazu ihr Halstuch hergegeben.

Wilhelm bemerkte, daß Philine mit dem Rücken gegen ihren Koffer saß, der noch ganz wohl verschlossen und unbeschädigt aussah. Er fragte, ob die andern auch so glücklich gewesen, ihre Habseligkeiten zu retten. Sie antwortete mit Achselzucken und einem Blick auf die Wiese, wo zerbrochene Kasten, zerschlagene Koffer, zerschnittene Mantelsäcke und eine Menge kleiner Gerätschaften zerstreut hin und wieder lagen. Kein Mensch war auf dem Platze zu sehen, und die wunderliche Gruppe fand sich in dieser Einsamkeit allein.

Wilhelm erfuhr nun immer mehr, als er wissen wollte: die übrigen Männer, die allenfalls noch Widerstand hätten tun können, waren gleich in Schrecken gesetzt und bald überwältigt; ein Teil floh, ein Teil sah mit Entsetzen dem Unfalle zu. Die Fuhrleute, die sich noch wegen ihrer Pferde am hartnäckigsten gehalten hatten, wurden niedergeworfen und gebunden, und in kurzem war alles rein ausgeplündert und weggeschleppt. Die beängstigten Reisenden fingen, sobald die Sorge für ihr Leben vorüber war, ihren Verlust zu bejammern an, eilten mit möglichster Geschwindigkeit dem benachbarten Dorfe zu, führten den leicht verwundeten Laertes mit sich und brachten nur wenige Trümmer ihrer Besitztümer davon. Der Harfner hatte sein beschädigtes Instrument an einen Baum gelehnt und war mit nach dem Orte geeilt, einen Wundarzt aufzusuchen und seinem für tot zurückgelassenen Wohltäter nach Möglichkeit beizuspringen.

Sechstes Kapitel

Unsre drei verunglückten Abenteurer blieben indes noch eine Zeitlang in ihrer seltsamen Lage, niemand eilte ihnen zu Hülfe. Der Abend kam herbei, die Nacht drohte hereinzubrechen; Philinens Gleichgültigkeit fing an, in Unruhe überzugehen, Mignon lief hin und wider, und die Ungeduld des Kindes nahm mit jedem Augenblicke zu. Endlich, da ihnen ihr Wunsch gewährt ward und Menschen sich ihnen näherten, überfiel sie ein neuer Schrecken. Sie hörten ganz deutlich einen Trupp Pferde in dem Wege heraufkommen, den auch sie zurückgelegt hatten, und fürchteten, daß abermals eine Gesellschaft ungebetener Gäste diesen Waldplatz besuchen möchte, um Nachlese zu halten.

Wie angenehm wurden sie dagegen überrascht, als ihnen aus den Büschen, auf einem Schimmel reitend, ein Frauenzimmer zu Gesichte kam, die von einem ältlichen Herrn und einigen Kavalieren begleitet wurde; Reitknechte, Bedienten und ein Trupp Husaren folgten nach.

Philine, die zu dieser Erscheinung große Augen machte, war eben im Begriff zu rufen und die schöne Amazone um Hülfe anzuflehen, als diese schon erstaunt ihre Augen nach der wunderbaren Gruppe wendete, sogleich ihr Pferd lenkte, herzuritt und stillehielt. Sie erkundigte sich eifrig nach dem Verwundeten, dessen Lage, in dem Schoße der leichtfertigen Samariterin, ihr höchst sonderbar vorzukommen schien.

»Ist es Ihr Mann?« fragte sie Philinen. »Es ist nur ein guter Freund«, versetzte diese mit einem Ton, der Wilhelmen höchst zuwider war. Er hatte seine Augen auf die sanften, hohen, stillen, teilnehmenden Gesichtszüge der Ankommenden geheftet; er glaubte nie etwas Edleres noch Liebenswürdigeres gesehen zu haben. Ein weiter Mannsüberrock verbarg ihm ihre Gestalt; sie hatte ihn, wie es schien, gegen die Einflüsse der kühlen Abendluft, von einem ihrer Gesellschafter geborgt.

Die Ritter waren indes auch näher gekommen; einige stiegen ab, die Dame tat ein Gleiches und fragte mit menschenfreundlicher Teilnehmung nach allen Umständen des Unfalls, der die Reisenden betroffen hatte, besonders aber nach den Wunden des hingestreckten Jünglings. Darauf wandte sie sich schnell um und ging mit einem alten Herrn seitwärts nach den Wagen, welche langsam den Berg heraufkamen und auf dem Waldplatze stillehielten.

Nachdem die junge Dame eine kurze Zeit am Schlage der einen Kutsche gestanden und sich mit den Ankommenden unterhalten hatte, stieg ein Mann von untersetzter Gestalt heraus, den sie zu unserm verwundeten Helden führte. An dem Kästchen, das er in der Hand hatte, und an der ledernen Tasche mit Instrumenten erkannte man ihn bald für einen Wundarzt. Seine Manieren waren mehr rauh als einnehmend, doch seine Hand leicht und seine Hülfe willkommen.

Er untersuchte genau, erklärte, keine Wunde sei gefährlich, er wolle sie auf der Stelle verbinden, alsdann könne man den Kranken in das nächste Dorf bringen.

Die Besorgnisse der jungen Dame schienen sich zu vermehren. »Sehen Sie nur,« sagte sie, nachdem sie einigemal hin und her gegangen war und den alten Herrn wieder herbeiführte, »sehen Sie, wie man ihn zugerichtet hat! Und leidet er nicht um unsertwillen?« Wilhelm hörte diese Worte und verstand sie nicht. Sie ging unruhig hin und wider; es schien, als könnte sie sich nicht von dem Anblick des Verwundeten losreißen und als fürchtete sie zugleich den Wohlstand zu verletzen, wenn sie stehenbliebe zu der Zeit, da man ihn, wiewohl mit Mühe, zu entkleiden anfing. Der Chirurgus schnitt eben den linken Ärmel auf, als der alte Herr hinzutrat und ihr mit einem ernsthaften Tone die Notwendigkeit, ihre Reise fortzusetzen, vorstellte. Wilhelm hatte seine Augen auf sie gerichtet und war von ihren Blicken so eingenommen, daß er kaum fühlte, was mit ihm vorging.

Philine war indessen aufgestanden, um der gnädigen Dame die Hand zu küssen. Als sie nebeneinander standen, glaubte unser Freund nie einen solchen Abstand gesehn zu haben. Philine war ihm noch nie in einem so ungünstigen Lichte erschienen. Sie sollte, wie es ihm vorkam, sich jener edlen Natur nicht nahen, noch weniger sie berühren.

Die Dame fragte Philinen Verschiedenes, aber leise. Endlich kehrte sie sich zu dem alten Herrn, der noch immer trocken dabeistand, und sagte: »Lieber Oheim, darf ich auf Ihre Kosten freigebig sein?« Sie zog sogleich den Überrock aus, und ihre Absicht, ihn dem Verwundeten und Unbekleideten hinzugeben, war nicht zu verkennen.

Wilhelm, den der heilsame Blick ihrer Augen bisher festgehalten hatte, war nun, als der Überrock fiel, von ihrer schönen Gestalt überrascht. Sie trat näher herzu und legte den Rock sanft über ihn. In diesem Augenblicke, da er den Mund öffnen und einige Worte des Dankes stammeln wollte, wirkte der lebhafte Eindruck ihrer Gegenwart so sonderbar auf seine schon angegriffenen Sinne, daß es ihm auf einmal vorkam, als sei ihr Haupt mit Strahlen umgeben und über ihr ganzes Bild verbreite sich nach und nach ein glänzendes Licht. Der Chirurgus berührte ihn eben unsanfter, indem er die Kugel, welche in der Wunde stak, herauszuziehen Anstalt machte. Die Heilige verschwand vor den Augen des Hinsinkenden; er verlor alles Bewußtsein, und als er wieder zu sich kam, waren Reiter und Wagen, die Schöne samt ihren Begleitern verschwunden.

Siebentes Kapitel

Nachdem unser Freund verbunden und angekleidet war, eilte der Chirurgus weg, eben als der Harfenspieler mit einer Anzahl Bauern heraufkam. Sie bereiteten eilig aus abgehauenen Ästen und eingeflochtenem Reisig eine Trage, luden den Verwundeten darauf und brachten ihn unter Anführung eines reitenden Jägers, den die Herrschaft zurückgelassen hatte, sachte den Berg hinunter. Der Harfner, still und in sich gekehrt, trug sein beschädigtes Instrument, einige Leute schleppten Philinens Koffer, sie schlenderte mit einem Bündel nach, Mignon sprang bald voraus, bald zur Seite durch Busch und Wald und blickte sehnlich nach ihrem kranken Beschützer hinüber.

Dieser lag, in seinen warmen Überrock gehüllt, ruhig auf der Bahre. Eine elektrische Wärme schien aus der feinen Wolle in seinen Körper überzugehen; genug, er fühlte sich in die behaglichste Empfindung versetzt. Die schöne Besitzerin des Kleides hatte mächtig auf ihn gewirkt. Er sah noch den Rock von ihren Schultern fallen, die edelste Gestalt, von Strahlen umgeben, vor sich stehen, und seine Seele eilte der Verschwundenen durch Felsen und Wälder auf dem Fuße nach.

Nur mit sinkender Nacht kam der Zug im Dorfe vor dem Wirtshause an, in welchem sich die übrige Gesellschaft befand und verzweiflungsvoll den unersetzlichen Verlust beklagte. Die einzige, kleine Stube des Hauses war von Menschen vollgepfropft: einige lagen auf der Streue, andere hatten die Bänke eingenommen, einige sich hinter den Ofen gedruckt, und Frau Melina erwartete in einer benachbarten Kammer ängstlich ihre Niederkunft. Der Schrecken hatte sie beschleunigt, und unter dem Beistande der Wirtin, einer jungen, unerfahrnen Frau, konnte man wenig Gutes erwarten.

Als die neuen Ankömmlinge hereingelassen zu werden verlangten, entstand ein allgemeines Murren. Man behauptete nun, daß man allein auf Wilhelms Rat, unter seiner besondern Anführung diesen gefährlichen Weg unternommen und sich diesem Unfall ausgesetzt habe. Man warf die Schuld des übeln Ausgangs auf ihn, widersetzte sich an der Türe seinem Eintritt und behauptete: er müsse anderswo unterzukommen suchen. Philinen begegnete man noch schnöder; der Harfenspieler und Mignon mußten auch das Ihrige leiden.

Nicht lange hörte der Jäger, dem die Vorsorge für die Verlassenen von seiner schönen Herrschaft ernstlich anbefohlen war, dem Streite mit Geduld zu; er fuhr mit Fluchen und Drohen auf die Gesellschaft los, gebot ihnen zusammenzurücken und den Ankommenden Platz zu machen. Man fing an, sich zu bequemen. Er bereitete Wilhelmen einen Platz auf einem Tische, den er in eine Ecke schob; Philine ließ ihren Koffer danebenstellen und setzte sich drauf. Jeder druckte sich, so gut er konnte, und der Jäger begab sich weg, um zu sehen, ob er nicht ein bequemeres Quartier für das Ehepaar ausmachen könne.

Kaum war er fort, als der Unwille wieder laut zu werden anfing und ein Vorwurf den andern drängte. Jedermann erzählte und erhöhte seinen Verlust, man schalt die Verwegenheit, durch die man so vieles eingebüßt, man verhehlte sogar die Schadenfreude nicht, die man über die Wunden unseres Freundes empfand, man verhöhnte Philinen und wollte ihr die Art und Weise, wie sie ihren Koffer gerettet, zum Verbrechen machen. Aus allerlei Anzüglichkeiten und Stichelreden hätte man schließen sollen, sie habe sich während der Plünderung und Niederlage um die Gunst des Anführers der Bande bemüht und habe ihn, wer weiß durch welche Künste und Gefälligkeiten, vermocht, ihren Koffer freizugeben. Man wollte sie eine ganze Weile vermißt haben. Sie antwortete nichts und klapperte nur mit den großen Schlössern ihres Koffers, um ihre Neider recht von seiner Gegenwart zu überzeugen und die Verzweiflung des Haufens durch ihr eigenes Glück zu vermehren.

Achtes Kapitel

Wilhelm, ob er gleich durch den starken Verlust des Blutes schwach und nach der Erscheinung jenes hülfreichen Engels mild und sanft geworden war, konnte sich doch zuletzt des Verdrusses über die harten und ungerechten Reden nicht enthalten, welche bei seinem Stillschweigen von der unzufriednen Gesellschaft immer erneuert wurden. Endlich fühlte er sich gestärkt genug, um sich aufzurichten und ihnen die Unart vorzustellen, mit der sie ihren Freund und Führer beunruhigten. Er hob sein verbundenes Haupt in die Höhe und fing, indem er sich mit einiger Mühe stützte und gegen die Wand lehnte, folgendergestalt zu reden an:

»Ich vergebe dem Schmerze, den jeder über seinen Verlust empfindet, daß ihr mich in einem Augenblicke beleidigt, wo ihr mich beklagen solltet, daß ihr mir widersteht und mich von euch stoßt, das erstemal, da ich Hülfe von euch erwarten könnte. Für die Dienste, die ich euch erzeigte, für die Gefälligkeiten, die ich euch erwies, habe ich mich durch euren Dank, durch euer freundschaftliches Betragen bisher genugsam belohnt gefunden; verleitet mich nicht, zwingt mein Gemüt nicht, zurückzugehen und zu überdenken, was ich für euch getan habe; diese Berechnung würde mir nur peinlich werden. Der Zufall hat mich zu euch geführt, Umstände und eine heimliche Neigung haben mich bei euch gehalten. Ich nahm an euren Arbeiten, an euren Vergnügungen teil; meine wenigen Kenntnisse waren zu eurem Dienste. Gebt ihr mir jetzt auf eine bittre Weise den Unfall schuld, der uns betroffen hat, so erinnert ihr euch nicht, daß der erste Vorschlag, diesen Weg zu nehmen, von fremden Leuten kam, von euch allen geprüft und so gut von jedem als von mir gebilligt worden ist. Wäre unsre Reise glücklich vollbracht, so würde sich jeder wegen des guten Einfalls loben, daß er diesen Weg angeraten, daß er ihn vorgezogen; er würde sich unsrer Überlegungen und seines ausgeübten Stimmrechts mit Freuden erinnern; jetzo macht ihr mich allein verantwortlich, ihr zwingt mir eine Schuld auf, die ich willig übernehmen wollte, wenn mich das reinste Bewußtsein nicht freispräche, ja wenn ich mich nicht auf euch selbst berufen könnte. Habt ihr gegen mich etwas zu sagen, so bringt es ordentlich vor, und ich werde mich zu verteidigen wissen; habt ihr nichts Gegründetes anzugeben, so schweigt, und quält mich nicht, jetzt, da ich der Ruhe so äußerst bedürftig bin.«

Statt aller Antwort fingen die Mädchen an, abermals zu weinen und ihren Verlust umständlich zu erzählen; Melina war ganz außer Fassung: denn er hatte freilich am meisten, und mehr, als wir denken können, eingebüßt. Wie ein Rasender stolperte er in dem engen Raume hin und her, stieß den Kopf wider die Wand, fluchte und schalt auf das unziemlichste; und da nun gar zu gleicher Zeit die Wirtin aus der Kammer trat mit der Nachricht, daß seine Frau mit einem toten Kinde niedergekommen, erlaubte er sich die heftigsten Ausbrüche, und einstimmig mit ihm heulte, schrie, brummte und lärmte alles durcheinander.

Wilhelm, der zugleich von mitleidiger Teilnehmung an ihrem Zustande und von Verdruß über ihre niedrige Gesinnung bis in sein Innerstes bewegt war, fühlte unerachtet der Schwäche seines Körpers die ganze Kraft seiner Seele lebendig. »Fast«, rief er aus, »muß ich euch verachten, so beklagenswert ihr auch sein mögt. Kein Unglück berechtigt uns, einen Unschuldigen mit Vorwürfen zu beladen; habe ich teil an diesem falschen Schritte, so büße ich auch mein Teil. Ich liege verwundet hier, und wenn die Gesellschaft verloren hat, so verliere ich das meiste. Was an Garderobe geraubt worden, was an Dekorationen zugrunde gegangen, war mein: denn Sie, Herr Melina, haben mich noch nicht bezahlt, und ich spreche Sie von dieser Forderung hiemit völlig frei.«

»Sie haben gut schenken«, rief Melina, »was niemand wiedersehen wird. Ihr Geld lag in meiner Frau Koffer, und es ist Ihre Schuld, daß es Ihnen verlorengeht. Aber oh! wenn das alles wäre!« Er fing aufs neue zu stampfen, zu schimpfen und zu schreien an. Jedermann erinnerte sich der schönen Kleider aus der Garderobe des Grafen, der Schnallen, Uhren, Dosen, Hüte, welche Melina von dem Kammerdiener so glücklich gehandelt hatte. Jedem fielen seine eigenen, obgleich viel geringeren Schätze dabei wieder ins Gedächtnis; man blickte mit Verdruß auf Philinens Koffer, man gab Wilhelmen zu verstehen, er habe wahrlich nicht übelgetan, sich mit dieser Schönen zu assoziieren und durch ihr Glück auch seine Habseligkeiten zu retten.

»Glaubt ihr denn«, rief er endlich aus, »daß ich etwas Eignes haben werde, solange ihr darbt, und ist es wohl das erste Mal, daß ich in der Not mit euch redlich teile? Man öffne den Koffer, und was mein ist, will ich zum öffentlichen Bedürfnis niederlegen.«

»Es ist mein Koffer«, sagte Philine, »und ich werde ihn nicht eher aufmachen, bis es mir beliebt. Ihre paar Fittiche, die ich Ihnen aufgehoben, können wenig betragen, und wenn sie an die redlichsten Juden verkauft werden. Denken Sie an sich, was Ihre Heilung kosten, was Ihnen in einem fremden Lande begegnen kann.«

»Sie werden mir, Philine«, versetzte Wilhelm, »nichts vorenthalten, was mein ist, und das wenige wird uns aus der ersten Verlegenheit retten. Allein der Mensch besitzt noch manches, womit er seinen Freunden beistehen kann, das eben nicht klingende Münze zu sein braucht. Alles, was in mir ist, soll diesen Unglücklichen gewidmet sein, die gewiß, wenn sie wieder zu sich selbst kommen, ihr gegenwärtiges Betragen bereuen werden. Ja«, fuhr er fort, »ich fühle, daß ihr bedürft, und was ich vermag, will ich euch leisten; schenkt mir euer Vertrauen aufs neue, beruhigt euch für diesen Augenblick, nehmet an, was ich euch verspreche! Wer will die Zusage im Namen aller von mir empfangen?«

Hier streckte er seine Hand aus und rief: »Ich verspreche, daß ich nicht eher von euch weichen, euch nicht eher verlassen will, als bis ein jeder seinen Verlust doppelt und dreifach ersetzt sieht, bis ihr den Zustand, in dem ihr euch, durch wessen Schuld es wolle, befindet, völlig vergessen und mit einem glücklichern vertauscht habt.«

Er hielt seine Hand noch immer ausgestreckt, und niemand wollte sie fassen. »Ich versprech es noch einmal«, rief er aus, indem er auf sein Kissen zurücksank. Alle blieben stille; sie waren beschämt, aber nicht getröstet, und Philine, auf ihrem Koffer sitzend, knackte Nüsse auf, die sie in ihrer Tasche gefunden hatte.

Neuntes Kapitel

Der Jäger kam mit einigen Leuten zurück und machte Anstalt, den Verwundeten wegzuschaffen. Er hatte den Pfarrer des Orts beredet, das Ehepaar aufzunehmen; Philinens Koffer ward fortgetragen, und sie folgte mit natürlichem Anstand. Mignon lief voraus, und da der Kranke im Pfarrhaus ankam, ward ihm ein weites Ehebette, das schon lange Zeit als Gast- und Ehrenbette bereitstand, eingegeben. Hier bemerkte man erst, daß die Wunde aufgegangen war und stark geblutet hatte. Man mußte für einen neuen Verband sorgen. Der Kranke verfiel in ein Fieber, Philine wartete ihn treulich, und als die Müdigkeit sie übermeisterte, löste sie der Harfenspieler ab; Mignon war mit dem festen Vorsatz zu wachen in einer Ecke eingeschlafen.

Des Morgens, als Wilhelm sich ein wenig erholt hatte, erfuhr er von dem Jäger, daß die Herrschaft, die ihnen gestern zu Hülfe gekommen sei, vor kurzem ihre Güter verlassen habe, um den Kriegsbewegungen auszuweichen und sich bis zum Frieden in einer ruhigern Gegend aufzuhalten. Er nannte den ältlichen Herrn und seine Nichte, zeigte den Ort an, wohin sie sich zuerst begeben, erklärte Wilhelmen, wie das Fräulein ihm eingebunden, für die Verlassenen Sorge zu tragen.

Der hereintretende Wundarzt unterbrach die lebhaften Danksagungen, in welche sich Wilhelm gegen den Jäger ergoß, machte eine umständliche Beschreibung der Wunden, versicherte, daß sie leicht heilen würden, wenn der Patient sich ruhighielte und sich abwartete.

Nachdem der Jäger weggeritten war, erzählte Philine, daß er ihr einen Beutel mit zwanzig Louisdorn zurückgelassen, daß er dem Geistlichen ein Douceur für die Wohnung gegeben und die Kurkosten für den Chirurgus bei ihm niedergelegt habe. Sie gelte durchaus für Wilhelms Frau, introduziere sich ein für allemal bei ihm in dieser Qualität und werde nicht zugeben, daß er sich nach einer andern Wartung umsehe.

»Philine«, sagte Wilhelm, »ich bin Ihnen bei dem Unfall, der uns begegnet ist, schon manchen Dank schuldig geworden, und ich wünschte nicht, meine Verbindlichkeiten gegen Sie vermehrt zu sehen. Ich bin unruhig, solange Sie um mich sind: denn ich weiß nichts, womit ich Ihnen die Mühe vergelten kann. Geben Sie mir meine Sachen, die Sie in Ihrem Koffer gerettet haben, heraus, schließen Sie sich an die übrige Gesellschaft an, suchen Sie ein ander Quartier, nehmen Sie meinen Dank, und die goldne Uhr als eine kleine Erkenntlichkeit; nur verlassen Sie mich; Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr, als Sie glauben.«

Sie lachte ihm ins Gesicht, als er geendigt hatte. »Du bist ein Tor«, sagte sie, »du wirst nicht klug werden. Ich weiß besser, was dir gut ist; ich werde bleiben, ich werde mich nicht von der Stelle rühren. Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht; und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an?«

Sie blieb und hatte sich bald bei dem Pfarrer und seiner Familie eingeschmeichelt, indem sie immer lustig war, jedem etwas zu schenken, jedem nach dem Sinne zu reden wußte und dabei immer tat, was sie wollte. Wilhelm befand sich nicht übel; der Chirurgus, ein unwissender, aber nicht ungeschickter Mensch, ließ die Natur walten, und so war der Patient bald auf dem Wege der Besserung. Sehnlich wünschte dieser sich wiederhergestellt zu sehen, um seine Plane, seine Wünsche eifrig verfolgen zu können.

Unaufhörlich rief er sich jene Begebenheit zurück, welche einen unauslöschlichen Eindruck auf sein Gemüt gemacht hatte. Er sah die schöne Amazone reitend aus den Büschen hervorkommen, sie näherte sich ihm, stieg ab, ging hin und wider und bemühte sich um seinetwillen. Er sah das umhüllende Kleid von ihren Schultern fallen; ihr Gesicht, ihre Gestalt glänzend verschwinden. Alle seine Jugendträume knüpften sich an dieses Bild. Er glaubte nunmehr die edle, heldenmütige Chlorinde mit eignen Augen gesehen zu haben: ihm fiel der kranke Königssohn wieder ein, an dessen Lager die schöne, teilnehmende Prinzessin mit stiller Bescheidenheit herantritt.

»Sollten nicht«, sagte er manchmal im stillen zu sich selbst, »uns in der Jugend, wie im Schlafe, die Bilder zukünftiger Schicksale umschweben und unserm unbefangenen Auge ahnungsvoll sichtbar werden? Sollten die Keime dessen, was uns begegnen wird, nicht schon von der Hand des Schicksals ausgestreut, sollte nicht ein Vorgenuß der Früchte, die wir einst zu brechen hoffen, möglich sein?«

Sein Krankenlager gab ihm Zeit, jene Szene tausendmal zu wiederholen. Tausendmal rief er den Klang jener süßen Stimme zurück, und wie beneidete er Philinen, die jene hülfreiche Hand geküßt hatte. Oft kam ihm die Geschichte wie ein Traum vor, und er würde sie für ein Märchen gehalten haben, wenn nicht das Kleid zurückgeblieben wäre, das ihm die Gewißheit der Erscheinung versicherte.

Mit der größten Sorgfalt für dieses Gewand war das lebhafteste Verlangen verbunden, sich damit zu bekleiden. Sobald er aufstand, warf er es über und befürchtete den ganzen Tag, es möchte durch einen Flecken oder auf sonst eine Weise beschädigt werden.

Zehntes Kapitel

Laertes besuchte seinen Freund. Er war bei jener lebhaften Szene im Wirtshause nicht gegenwärtig gewesen, denn er lag in einer obern Kammer. Über seinen Verlust war er sehr getröstet und half sich mit seinem gewöhnlichen: »Was tut’s?« Er erzählte verschiedene lächerliche Züge von der Gesellschaft, besonders gab er Frau Melina schuld: sie beweine den Verlust ihrer Tochter nur deswegen, weil sie nicht das altdeutsche Vergnügen haben könne, eine Mechtilde taufen zu lassen. Was ihren Mann betreffe, so offenbare sich’s nun, daß er viel Geld bei sich gehabt und auch schon damals des Vorschusses, den er Wilhelmen abgelockt, keineswegs bedurft habe. Melina wolle nunmehr mit dem nächsten Postwagen abgehn und werde von Wilhelmen ein Empfehlungsschreiben an seinen Freund, den Direktor Serlo, verlangen, bei dessen Gesellschaft er, weil die eigne Unternehmung gescheitert, nun unterzukommen hoffe.

Mignon war einige Tage sehr still gewesen, und als man in sie drang, gestand sie endlich, daß ihr rechter Arm verrenkt sei. »Das hast du deiner Verwegenheit zu danken«, sagte Philine und erzählte, wie das Kind im Gefechte seinen Hirschfänger gezogen und, als es seinen Freund in Gefahr gesehen, wacker auf die Freibeuter zugehauen habe. Endlich sei es beim Arme ergriffen und auf die Seite geschleudert worden. Man schalt auf sie, daß sie das Übel nicht eher entdeckt habe, doch merkte man wohl, daß sie sich vor dem Chirurgus gescheut, der sie bisher immer für einen Knaben gehalten hatte. Man suchte das Übel zu heben, und sie mußte den Arm in der Binde tragen. Hierüber war sie aufs neue empfindlich, weil sie den besten Teil der Pflege und Wartung ihres Freundes Philinen überlassen mußte, und die angenehme Sünderin zeigte sich nur um desto tätiger und aufmerksamer.

Eines Morgens, als Wilhelm erwachte, fand er sich mit ihr in einer sonderbaren Nähe. Er war auf seinem weiten Lager in der Unruhe des Schlafs ganz an die hintere Seite gerutscht. Philine lag quer über den vordern Teil hingestreckt; sie schien auf dem Bette sitzend und lesend eingeschlafen zu sein. Ein Buch war ihr aus der Hand gefallen; sie war zurück und mit dem Kopf nah an seine Brust gesunken, über die sich ihre blonden, aufgelösten Haare in Wellen ausbreiteten. Die Unordnung des Schlafs erhöhte mehr als Kunst und Vorsatz ihre Reize; eine kindische lächelnde Ruhe schwebte über ihrem Gesichte. Er sah sie eine Zeitlang an und schien sich selbst über das Vergnügen zu tadeln, womit er sie ansah, und wir wissen nicht, ob er seinen Zustand segnete oder tadelte, der ihm Ruhe und Mäßigung zur Pflicht machte. Er hatte sie eine Zeitlang aufmerksam betrachtet, als sie sich zu regen anfing. Er schloß die Augen sachte zu, doch konnte er nicht unterlassen zu blinzen und nach ihr zu sehen, als sie sich wieder zurechtputzte und wegging, nach dem Frühstück zu fragen.

Nach und nach hatten sich nun die sämtlichen Schauspieler bei Wilhelmen gemeldet, hatten Empfehlungsschreiben und Reisegeld mehr oder weniger unartig und ungestüm gefordert und immer mit Widerwillen Philinens erhalten. Vergebens stellte sie ihrem Freunde vor, daß der Jäger auch diesen Leuten eine ansehnliche Summe zurückgelassen, daß man ihn nur zum besten habe. Vielmehr kamen sie darüber in einen lebhaften Zwist, und Wilhelm behauptete nunmehr ein für allemal, daß sie sich gleichfalls an die übrige Gesellschaft anschließen und ihr Glück bei Serlo versuchen sollte.

Nur einige Augenblicke verließ sie ihr Gleichmut, dann erholte sie sich schnell wieder und rief: »Wenn ich nur meinen Blonden wieder hätte, so wollt ich mich um euch alle nichts kümmern.« Sie meinte Friedrichen, der sich vom Waldplatze verloren und nicht wieder gezeigt hatte.

Des andern Morgens brachte Mignon die Nachricht ans Bette, daß Philine in der Nacht abgereist sei; im Nebenzimmer habe sie alles, was ihm gehöre, sehr ordentlich zusammengelegt. Er empfand ihre Abwesenheit; er hatte an ihr eine treue Wärterin, eine muntere Gesellschafterin verloren; er war nicht mehr gewohnt, allein zu sein. Allein Mignon füllte die Lücke bald wieder aus.

Seitdem jene leichtfertige Schöne in ihren freundlichen Bemühungen den Verwundeten umgab, hatte sich die Kleine nach und nach zurückgezogen und war stille für sich geblieben; nun aber, da sie wieder freies Feld gewann, trat sie mit Aufmerksamkeit und Liebe hervor, war eifrig, ihm zu dienen, und munter, ihn zu unterhalten.

Eilftes Kapitel

Mit lebhaften Schritten nahete er sich der Besserung; er hoffte nun, in wenig Tagen seine Reise antreten zu können. Er wollte nicht etwa planlos ein schlenderndes Leben fortsetzen, sondern zweckmäßige Schritte sollten künftig seine Bahn bezeichnen. Zuerst wollte er die hülfreiche Herrschaft aufsuchen, um seine Dankbarkeit an den Tag zu legen, alsdann zu seinem Freunde, dem Direktor, eilen, um für die verunglückte Gesellschaft auf das beste zu sorgen, und zugleich die Handelsfreunde, an die er mit Adressen versehen war, besuchen und die ihm aufgetragnen Geschäfte verrichten. Er machte sich Hoffnung, daß ihm das Glück wie vorher auch künftig beistehen und ihm Gelegenheit verschaffen werde, durch eine glückliche Spekulation den Verlust zu ersetzen und die Lücke seiner Kasse wieder auszufüllen.

Das Verlangen, seine Retterin wiederzusehen, wuchs mit jedem Tage. Um seine Reiseroute zu bestimmen, ging er mit dem Geistlichen zu Rate, der schöne geographische und statistische Kenntnisse hatte und eine artige Bücher- und Kartensammlung besaß. Man suchte nach dem Orte, den die edle Familie während des Kriegs zu ihrem Sitz erwählt hatte, man suchte Nachrichten von ihr selbst auf; allein der Ort war in keiner Geographie, auf keiner Karte zu finden, und die genealogischen Handbücher sagten nichts von einer solchen Familie.

Wilhelm wurde unruhig, und als er seine Bekümmernis laut werden ließ, entdeckte ihm der Harfenspieler: er habe Ursache zu glauben, daß der Jäger, es sei aus welcher Ursache es wolle, den wahren Namen verschwiegen habe.

Wilhelm, der nun einmal sich in der Nähe der Schönen glaubte, hoffte einige Nachricht von ihr zu erhalten, wenn er den Harfenspieler abschickte; aber auch diese Hoffnung ward getäuscht. Sosehr der Alte sich auch erkundigte, konnte er doch auf keine Spur kommen. In jenen Tagen waren verschiedene lebhafte Bewegungen und unvorhergesehene Durchmärsche in diesen Gegenden vorgefallen; niemand hatte auf die reisende Gesellschaft besonders achtgegeben, so daß der ausgesendete Bote, um nicht für einen jüdischen Spion angesehn zu werden, wieder zurückgehen und ohne Ölblatt vor seinem Herrn und Freund erscheinen mußte. Er legte strenge Rechenschaft ab, wie er den Auftrag auszurichten gesucht, und war bemüht, allen Verdacht einer Nachlässigkeit von sich zu entfernen. Er suchte auf alle Weise Wilhelms Betrübnis zu lindern, besann sich auf alles, was er von dem Jäger erfahren hatte, und brachte mancherlei Mutmaßungen vor, wobei denn endlich ein Umstand vorkam, woraus Wilhelm einige rätselhafte Worte der schönen Verschwundenen deuten konnte.

Die räuberische Bande nämlich hatte nicht der wandernden Truppe, sondern jener Herrschaft aufgepaßt, bei der sie mit Recht vieles Geld und Kostbarkeiten vermutete und von deren Zug sie genaue Nachricht mußte gehabt haben. Man wußte nicht, ob man die Tat einem Freikorps, ob man sie Marodeurs oder Räubern zuschreiben sollte. Genug, zum Glücke der vornehmen und reichen Karawane waren die Geringen und Armen zuerst auf den Platz gekommen und hatten das Schicksal erduldet, das jenen zubereitet war. Darauf bezogen sich die Worte der jungen Dame, deren sich Wilhelm noch gar wohl erinnerte. Wenn er nun vergnügt und glücklich sein konnte, daß ein vorsichtiger Genius ihn zum Opfer bestimmt hatte, eine vollkommene Sterbliche zu retten, so war er dagegen nahe an der Verzweiflung, da ihm, sie wiederzufinden, sie wiederzusehen wenigstens für den Augenblick alle Hoffnung verschwunden war.

Was diese sonderbare Bewegung in ihm vermehrte, war die Ähnlichkeit, die er zwischen der Gräfin und der schönen Unbekannten entdeckt zu haben glaubte. Sie glichen sich, wie sich Schwestern gleichen mögen, deren keine die jüngere noch die ältere genannt werden darf, denn sie scheinen Zwillinge zu sein.

Die Erinnerung an die liebenswürdige Gräfin war ihm unendlich süß. Er rief sich ihr Bild nur allzugern wieder ins Gedächtnis. Aber nun trat die Gestalt der edlen Amazone gleich dazwischen, eine Erscheinung verwandelte sich in die andere, ohne daß er imstande gewesen wäre, diese oder jene festzuhalten.

Wie wunderbar mußte ihm daher die Ähnlichkeit ihrer Handschriften sein! denn er verwahrte ein reizendes Lied von der Hand der Gräfin in seiner Schreibtafel, und in dem Überrock hatte er ein Zettelchen gefunden, worin man sich mit viel zärtlicher Sorgfalt nach dem Befinden eines Oheims erkundigte.

Wilhelm war überzeugt, daß seine Retterin dieses Billett geschrieben, daß es auf der Reise in einem Wirtshause aus einem Zimmer in das andere geschickt und von dem Oheim in die Tasche gesteckt worden sei. Er hielt beide Handschriften gegeneinander, und wenn die zierlich gestellten Buchstaben der Gräfin ihm sonst so sehr gefallen hatten, so fand er in den ähnlichen, aber freieren Zügen der Unbekannten eine unaussprechlich fließende Harmonie. Das Billett enthielt nichts, und schon die Züge schienen ihn, so wie ehemals die Gegenwart der Schönen, zu erheben.

Er verfiel in eine träumende Sehnsucht, und wie einstimmend mit seinen Empfindungen war das Lied, das eben in dieser Stunde Mignon und der Harfner als ein unregelmäßiges Duett mit dem herzlichsten Ausdrucke sangen:

Nur wer die Sehnsucht kennt,

Weiß, was ich leide!

Allein und abgetrennt

Von aller Freude,

Seh ich ans Firmament

Nach jener Seite.

Ach! der mich liebt und kennt,

Ist in der Weite.

Es schwindelt mir, es brennt

Mein Eingeweide.

Nur wer die Sehnsucht kennt,

Weiß, was ich leide!

Zwölftes Kapitel

Die sanften Lockungen des lieben Schutzgeistes, anstatt unsern Freund auf irgendeinen Weg zu führen, nährten und vermehrten die Unruhe, die er vorher empfunden hatte. Eine heimliche Glut schlich in seinen Adern; bestimmte und unbestimmte Gegenstände wechselten in seiner Seele und erregten ein endloses Verlangen. Bald wünschte er sich ein Roß, bald Flügel, und indem es ihm unmöglich schien, bleiben zu können, sah er sich erst um, wohin er denn eigentlich begehre.

Der Faden seines Schicksals hatte sich so sonderbar verworren; er wünschte die seltsamen Knoten aufgelöst oder zerschnitten zu sehen. Oft, wenn er ein Pferd traben oder einen Wagen rollen hörte, schaute er eilig zum Fenster hinaus, in der Hoffnung, es würde jemand sein, der ihn aufsuchte und, wäre es auch nur durch Zufall, ihm Nachricht, Gewißheit und Freude brächte. Er erzählte sich Geschichten vor, wie sein Freund Werner in diese Gegend kommen und ihn überraschen könnte, daß Mariane vielleicht erscheinen dürfte. Der Ton eines jeden Posthorns setzte ihn in Bewegung. Melina sollte von seinem Schicksale Nachricht geben, vorzüglich aber sollte der Jäger wiederkommen und ihn zu jener angebeteten Schönheit einladen.

Von allem diesen geschah leider nichts, und er mußte zuletzt wieder mit sich allein bleiben, und indem er das Vergangene wieder durchnahm, ward ihm ein Umstand, je mehr er ihn betrachtete und beleuchtete, immer widriger und unerträglicher. Es war seine verunglückte Heerführerschaft, an die er ohne Verdruß nicht denken konnte. Denn ob er gleich am Abend jenes bösen Tages sich vor der Gesellschaft so ziemlich herausgeredet hatte, so konnte er sich doch selbst seine Schuld nicht verleugnen. Er schrieb sich vielmehr in hypochondrischen Augenblicken den ganzen Vorfall allein zu.

Die Eigenliebe läßt uns sowohl unsre Tugenden als unsre Fehler viel bedeutender, als sie sind, erscheinen. Er hatte das Vertrauen auf sich rege gemacht, den Willen der übrigen gelenkt und war, von Unerfahrenheit und Kühnheit geleitet, vorangegangen; es ergriff sie eine Gefahr, der sie nicht gewachsen waren. Laute und stille Vorwürfe verfolgten ihn, und wenn er der irregeführten Gesellschaft nach dem empfindlichen Verluste zugesagt hatte, sie nicht zu verlassen, bis er ihnen das Verlorne mit Wucher ersetzt hätte, so hatte er sich über eine neue Verwegenheit zu schelten, womit er ein allgemein ausgeteiltes Übel auf seine Schultern zu nehmen sich vermaß. Bald verwies er sich, daß er durch Aufspannung und Drang des Augenblicks ein solches Versprechen getan hatte; bald fühlte er wieder, daß jenes gutmütige Hinreichen seiner Hand, die niemand anzunehmen würdigte, nur eine leichte Förmlichkeit sei gegen das Gelübde, das sein Herz getan hatte. Er sann auf Mittel, ihnen wohltätig und nützlich zu sein, und fand alle Ursache, seine Reise zu Serlo zu beschleunigen. Er packte nunmehr seine Sachen zusammen und eilte, ohne seine völlige Genesung abzuwarten, ohne auf den Rat des Pastors und Wundarztes zu hören, in der wunderbaren Gesellschaft Mignons und des Alten, der Untätigkeit zu entfliehen, in der ihn sein Schicksal abermals nur zu lange gehalten hatte.

Dreizehntes Kapitel

Serlo empfing ihn mit offenen Armen und rief ihm entgegen: »Seh ich Sie? Erkenn ich Sie wieder? Sie haben sich wenig oder nicht geändert. Ist Ihre Liebe zur edelsten Kunst noch immer so stark und lebendig? So sehr erfreu ich mich über Ihre Ankunft, daß ich selbst das Mißtrauen nicht mehr fühle, das Ihre letzten Briefe bei mir erregt haben.«

Wilhelm bat betroffen um eine nähere Erklärung.

»Sie haben sich«, versetzte Serlo, »gegen mich nicht wie ein alter Freund betragen; Sie haben mich wie einen großen Herrn behandelt, dem man mit gutem Gewissen unbrauchbare Leute empfehlen darf. Unser Schicksal hängt von der Meinung des Publikums ab, und ich fürchte, daß Ihr Herr Melina mit den Seinigen schwerlich bei uns wohl aufgenommen werden dürfte.«

Wilhelm wollte etwas zu ihren Gunsten sprechen, aber Serlo fing an, eine so unbarmherzige Schilderung von ihnen zu machen, daß unser Freund sehr zufrieden war, als ein Frauenzimmer in das Zimmer trat, das Gespräch unterbrach und ihm sogleich als Schwester Aurelia von seinem Freunde vorgestellt ward. Sie empfing ihn auf das freundschaftlichste, und ihre Unterhaltung war so angenehm, daß er nicht einmal einen entschiedenen Zug des Kummers gewahr wurde, der ihrem geistreichen Gesicht noch ein besonderes Interesse gab.

Zum erstenmal seit langer Zeit fand sich Wilhelm wieder in seinem Elemente. Bei seinen Gesprächen hatte er sonst nur notdürftig gefällige Zuhörer gefunden, da er gegenwärtig mit Künstlern und Kennern zu sprechen das Glück hatte, die ihn nicht allein vollkommen verstanden, sondern die auch sein Gespräch belehrend erwiderten. Mit welcher Geschwindigkeit ging man die neusten Stücke durch! Mit welcher Sicherheit beurteilte man sie! Wie wußte man das Urteil des Publikums zu prüfen und zu schätzen! In welcher Geschwindigkeit klärte man einander auf!

Nun mußte sich bei Wilhelms Vorliebe für Shakespearen das Gespräch notwendig auf diesen Schriftsteller lenken. Er zeigte die lebhafteste Hoffnung auf die Epoche, welche diese vortrefflichen Stücke in Deutschland machen müßten, und bald brachte er seinen »Hamlet« vor, der ihn so sehr beschäftigt hatte.

Serlo versicherte, daß er das Stück längst, wenn es nur möglich gewesen wäre, gegeben hätte, daß er gern die Rolle des Polonius übernehmen wolle. Dann setzte er mit Lächeln hinzu: »Und Ophelien finden sich wohl auch, wenn wir nur erst den Prinzen haben.«

Wilhelm bemerkte nicht, daß Aurelien dieser Scherz des Bruders zu mißfallen schien; er ward vielmehr nach seiner Art weitläufig und lehrreich, in welchem Sinne er den Hamlet gespielt haben wolle. Er legte ihnen die Resultate umständlich dar, mit welchen wir ihn oben beschäftigt gesehn, und gab sich alle Mühe, seine Meinung annehmlich zu machen, soviel Zweifel auch Serlo gegen seine Hypothese erregte. »Nun gut«, sagte dieser zuletzt, »wir geben Ihnen alles zu; was wollen Sie weiter daraus erklären?«

»Vieles, alles«, versetzte Wilhelm. »Denken Sie sich einen Prinzen, wie ich ihn geschildert habe, dessen Vater unvermutet stirbt. Ehrgeiz und Herrschsucht sind nicht die Leidenschaften, die ihn beleben; er hatte sich’s gefallen lassen, Sohn eines Königs zu sein; aber nun ist er erst genötigt, auf den Abstand aufmerksamer zu werden, der den König vom Untertanen scheidet. Das Recht zur Krone war nicht erblich, und doch hätte ein längeres Leben seines Vaters die Ansprüche seines einzigen Sohnes mehr befestigt und die Hoffnung zur Krone gesichert. Dagegen sieht er sich nun durch seinen Oheim, ungeachtet scheinbarer Versprechungen, vielleicht auf immer ausgeschlossen; er fühlt sich nun so arm an Gnade, an Gütern und fremd in dem, was er von Jugend auf als sein Eigentum betrachten konnte. Hier nimmt sein Gemüt die erste traurige Richtung. Er fühlt, daß er nicht mehr, ja nicht soviel ist als jeder Edelmann; er gibt sich für einen Diener eines jeden, er ist nicht höflich, nicht herablassend, nein, herabgesunken und bedürftig.

Nach seinem vorigen Zustande blickt er nur wie nach einem verschwundnen Traume. Vergebens, daß sein Oheim ihn aufmuntern, ihm seine Lage aus einem andern Gesichtspunkte zeigen will; die Empfindung seines Nichts verläßt ihn nie.

Der zweite Schlag, der ihn traf, verletzte tiefer, beugte noch mehr. Es ist die Heirat seiner Mutter. Ihm, einem treuen und zärtlichen Sohne, blieb, da sein Vater starb, eine Mutter noch übrig; er hoffte, in Gesellschaft seiner hinterlassenen edlen Mutter die Heldengestalt jenes großen Abgeschiedenen zu verehren; aber auch seine Mutter verliert er, und es ist schlimmer, als wenn sie ihm der Tod geraubt hätte. Das zuverlässige Bild, das sich ein wohlgeratenes Kind so gern von seinen Eltern macht, verschwindet; bei dem Toten ist keine Hülfe und an der Lebendigen kein Halt. Sie ist auch ein Weib, und unter dem allgemeinen Geschlechtsnamen Gebrechlichkeit ist auch sie begriffen.

Nun erst fühlt er sich recht gebeugt, nun erst verwaist, und kein Glück der Welt kann ihm wieder ersetzen, was er verloren hat. Nicht traurig, nicht nachdenklich von Natur, wird ihm Trauer und Nachdenken zur schweren Bürde. So sehen wir ihn auftreten. Ich glaube nicht, daß ich etwas in das Stück hineinlege oder einen Zug übertreibe.«

Serlo sah seine Schwester an und sagte: »Habe ich dir ein falsches Bild von unserm Freunde gemacht? Er fängt gut an und wird uns noch manches vorerzählen und viel überreden.« Wilhelm schwur hoch und teuer, daß er nicht überreden, sondern überzeugen wolle, und bat nur noch um einen Augenblick Geduld.

»Denken Sie sich«, rief er aus, »diesen Jüngling, diesen Fürstensohn recht lebhaft, vergegenwärtigen Sie sich seine Lage, und dann beobachten Sie ihn, wenn er erfährt, die Gestalt seines Vaters erscheine; stehen Sie ihm bei in der schrecklichen Nacht, wenn der ehrwürdige Geist selbst vor ihm auftritt. Ein ungeheures Entsetzen ergreift ihn; er redet die Wundergestalt an, sieht sie winken, folgt und hört. – Die schreckliche Anklage wider seinen Oheim ertönt in seinen Ohren, Aufforderung zur Rache und die dringende, wiederholte Bitte: ›Erinnere dich meiner!‹

Und da der Geist verschwunden ist, wen sehen wir vor uns stehen? Einen jungen Helden, der nach Rache schnaubt? Einen gebornen Fürsten, der sich glücklich fühlt, gegen den Usurpator seiner Krone aufgefordert zu werden? Nein! Staunen und Trübsinn überfällt den Einsamen; er wird bitter gegen die lächelnden Bösewichter, schwört, den Abgeschiedenen nicht zu vergessen, und schließt mit dem bedeutenden Seufzer: ›Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboren ward, sie wieder einzurichten.‹

In diesen Worten, dünkt mich, liegt der Schlüssel zu Hamlets ganzem Betragen, und mir ist deutlich, daß Shakespeare habe schildern wollen: eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist. Und in diesem Sinne find ich das Stück durchgängig gearbeitet. Hier wird ein Eichbaum in ein köstliches Gefäß gepflanzt, das nur liebliche Blumen in seinen Schoß hätte aufnehmen sollen; die Wurzeln dehnen aus, das Gefäß wird zernichtet.

Ein schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde, die es weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer. Das Unmögliche wird von ihm gefordert, nicht das Unmögliche an sich, sondern das, was ihm unmöglich ist. Wie er sich windet, dreht, ängstigt, vor- und zurücktritt, immer erinnert wird, sich immer erinnert und zuletzt fast seinen Zweck aus dem Sinne verliert, ohne doch jemals wieder froh zu werden.«

Vierzehntes Kapitel

Verschiedene Personen traten herein, die das Gespräch unterbrachen. Es waren Virtuosen, die sich bei Serlo gewöhnlich einmal die Woche zu einem kleinen Konzerte versammelten. Er liebte die Musik sehr und behauptete, daß ein Schauspieler ohne diese Liebe niemals zu einem deutlichen Begriff und Gefühl seiner eigenen Kunst gelangen könne. So wie man viel leichter und anständiger agiere, wenn die Gebärden durch eine Melodie begleitet und geleitet werden, so müsse der Schauspieler sich auch seine prosaische Rolle gleichsam im Sinne komponieren, daß er sie nicht etwa eintönig nach seiner individuellen Art und Weise hinsudele, sondern sie in gehöriger Abwechselung nach Takt und Maß behandle.

Aurelie schien an allem, was vorging, wenig Anteil zu nehmen, vielmehr führte sie zuletzt unsern Freund in ein Seitenzimmer, und indem sie ans Fenster trat und den gestirnten Himmel anschaute, sagte sie zu ihm: »Sie sind uns manches über Hamlet schuldig geblieben; ich will zwar nicht voreilig sein und wünsche, daß mein Bruder auch mit anhören möge, was Sie uns noch zu sagen haben, doch lassen Sie mich Ihre Gedanken über Ophelien hören.«

»Von ihr läßt sich nicht viel sagen«, versetzte Wilhelm, »denn nur mit wenig Meisterzügen ist ihr Charakter vollendet. Ihr ganzes Wesen schwebt in reifer, süßer Sinnlichkeit. Ihre Neigung zu dem Prinzen, auf dessen Hand sie Anspruch machen darf, fließt so aus der Quelle, das gute Herz überläßt sich so ganz seinem Verlangen, daß Vater und Bruder beide fürchten, beide geradezu und unbescheiden warnen. Der Wohlstand, wie der leichte Flor auf ihrem Busen, kann die Bewegung ihres Herzens nicht verbergen, er wird vielmehr ein Verräter dieser leisen Bewegung. Ihre Einbildungskraft ist angesteckt, ihre stille Bescheidenheit atmet eine liebevolle Begierde, und sollte die bequeme Göttin Gelegenheit das Bäumchen schütteln, so würde die Frucht sogleich herabfallen.«

»Und nun«, sagte Aurelie, »wenn sie sich verlassen sieht, verstoßen und verschmäht, wenn in der Seele ihres wahnsinnigen Geliebten sich das Höchste zum Tiefsten umwendet und er ihr statt des süßen Bechers der Liebe den bittern Kelch der Leiden hinreicht –«

»Ihr Herz bricht«, rief Wilhelm aus, »das ganze Gerüst ihres Daseins rückt aus seinen Fugen, der Tod ihres Vaters stürmt herein, und das schöne Gebäude stürzt völlig zusammen.«

Wilhelm hatte nicht bemerkt, mit welchem Ausdruck Aurelie die letzten Worte aussprach. Nur auf das Kunstwerk, dessen Zusammenhang und Vollkommenheit gerichtet, ahnete er nicht, daß seine Freundin eine ganz andere Wirkung empfand; nicht, daß ein eigner tiefer Schmerz durch diese dramatischen Schattenbilder in ihr lebhaft erregt ward.

Noch immer hatte Aurelie ihr Haupt von ihren Armen unterstützt und ihre Augen, die sich mit Tränen füllten, gen Himmel gewendet. Endlich hielt sie nicht länger ihren verborgnen Schmerz zurück; sie faßte des Freundes beide Hände und rief, indem er erstaunt vor ihr stand: »Verzeihen Sie, verzeihen Sie einem geängstigten Herzen! Die Gesellschaft schnürt und preßt mich zusammen; vor meinem unbarmherzigen Bruder muß ich mich zu verbergen suchen; nun hat Ihre Gegenwart alle Bande aufgelöst. Mein Freund!« fuhr sie fort, »seit einem Augenblicke sind wir erst bekannt, und schon werden Sie mein Vertrauter.« Sie konnte die Worte kaum aussprechen und sank an seine Schulter. »Denken Sie nicht übler von mir«, sagte sie schluchzend, »daß ich mich Ihnen so schnell eröffne, daß Sie mich so schwach sehen. Sein Sie, bleiben Sie mein Freund, ich verdiene es.« Er redete ihr auf das herzlichste zu; umsonst! ihre Tränen flossen und erstickten ihre Worte.

In diesem Augenblicke trat Serlo sehr unwillkommen herein und sehr unerwartet Philine, die er bei der Hand hielt. »Hier ist Ihr Freund«, sagte er zu ihr; »er wird sich freun, Sie zu begrüßen.«

»Wie!« rief Wilhelm erstaunt, »muß ich Sie hier sehen?« Mit einem bescheidnen, gesetzten Wesen ging sie auf ihn los, hieß ihn willkommen, rühmte Serlos Güte, der sie ohne ihr Verdienst, bloß in Hoffnung, daß sie sich bilden werde, unter seine treffliche Truppe aufgenommen habe. Sie tat dabei gegen Wilhelmen freundlich, doch aus einer ehrerbietigen Entfernung.

Diese Verstellung währte aber nicht länger, als die beiden zugegen waren. Denn als Aurelie, ihren Schmerz zu verbergen, wegging und Serlo abgerufen ward, sah Philine erst recht genau nach den Türen, ob beide auch gewiß fort seien, dann hüpfte sie wie töricht in der Stube herum, setzte sich an die Erde und wollte vor Kichern und Lachen ersticken. Dann sprang sie auf, schmeichelte unserm Freunde und freute sich über alle Maßen, daß sie so klug gewesen sei, vorauszugehen, das Terrain zu rekognoszieren und sich einzunisten.

»Hier geht es bunt zu«, sagte sie, »gerade so, wie mir’s recht ist. Aurelie hat einen unglücklichen Liebeshandel mit einem Edelmanne gehabt, der ein prächtiger Mensch sein muß und den ich selbst wohl einmal sehen möchte. Er hat ihr ein Andenken hinterlassen, oder ich müßte mich sehr irren. Es läuft da ein Knabe herum, ungefähr von drei Jahren, schön wie die Sonne; der Papa mag allerliebst sein. Ich kann sonst die Kinder nicht leiden, aber dieser Junge freut mich. Ich habe ihr nachgerechnet. Der Tod ihres Mannes, die neue Bekanntschaft, das Alter des Kindes, alles trifft zusammen.

Nun ist der Freund seiner Wege gegangen; seit einem Jahre sieht er sie nicht mehr. Sie ist darüber außer sich und untröstlich. Die Närrin! – Der Bruder hat unter der Truppe eine Tänzerin, mit der er schöntut, ein Aktricchen, mit der er vertraut ist, in der Stadt noch einige Frauen, denen er aufwartet, und nun steh ich auch auf der Liste. Der Narr! – Vom übrigen Volke sollst du morgen hören. Und nun noch ein Wörtchen von Philinen, die du kennst; die Erznärrin ist in dich verliebt.« Sie schwur, daß es wahr sei, und beteuerte, daß es ein rechter Spaß sei. Sie bat Wilhelmen inständig, er möchte sich in Aurelien verlieben, dann werde die Hetze erst recht angehen. »Sie läuft ihrem Ungetreuen, du ihr, ich dir und der Bruder mir nach. Wenn das nicht eine Lust auf ein halbes Jahr gibt, so will ich an der ersten Episode sterben, die sich zu diesem vierfach verschlungenen Romane hinzuwirft.« Sie bat ihn, er möchte ihr den Handel nicht verderben und ihr so viel Achtung bezeigen, als sie durch ihr öffentliches Betragen verdienen wolle.

Funfzehntes Kapitel

Den nächsten Morgen gedachte Wilhelm Madame Melina zu besuchen; er fand sie nicht zu Hause, fragte nach den übrigen Gliedern der wandernden Gesellschaft und erfuhr, Philine habe sie zum Frühstück eingeladen. Aus Neugier eilte er hin und traf sie alle sehr aufgeräumt und getröstet. Das kluge Geschöpf hatte sie versammelt, sie mit Schokolade bewirtet und ihnen zu verstehen gegeben, noch sei nicht alle Aussicht versperrt; sie hoffe durch ihren Einfluß den Direktor zu überzeugen, wie vorteilhaft es ihm sei, so geschickte Leute in seine Gesellschaft aufzunehmen. Sie hörten ihr aufmerksam zu, schlürften eine Tasse nach der andern hinunter, fanden das Mädchen gar nicht übel und nahmen sich vor, das Beste von ihr zu reden.

»Glauben Sie denn«, sagte Wilhelm, der mit Philinen allein geblieben war, »daß Serlo sich noch entschließen werde, unsre Gefährten zu behalten?« – »Mitnichten«, versetzte Philine, »es ist mir auch gar nichts daran gelegen; ich wollte, sie wären je eher je lieber fort! Den einzigen Laertes wünscht ich zu behalten; die übrigen wollen wir schon nach und nach beiseite bringen.«

Hierauf gab sie ihrem Freunde zu verstehen, daß sie gewiß überzeugt sei, er werde nunmehr sein Talent nicht länger vergraben, sondern unter Direktion eines Serlo aufs Theater gehen. Sie konnte die Ordnung, den Geschmack, den Geist, der hier herrsche, nicht genug rühmen; sie sprach so schmeichelnd zu unserm Freunde, so schmeichelhaft von seinen Talenten, daß sein Herz und seine Einbildungskraft sich ebensosehr diesem Vorschlage näherten, als sein Verstand und seine Vernunft sich davon entfernten. Er verbarg seine Neigung vor sich selbst und vor Philinen und brachte einen unruhigen Tag zu, an dem er sich nicht entschließen konnte, zu seinen Handelskorrespondenten zu gehen und die Briefe, die dort für ihn liegen möchten, abzuholen. Denn ob er sich gleich die Unruhe der Seinigen diese Zeit über vorstellen konnte, so scheute er sich doch, ihre Sorgen und Vorwürfe umständlich zu erfahren, um so mehr, da er sich einen großen und reinen Genuß diesen Abend von der Aufführung eines neuen Stücks versprach.

Serlo hatte sich geweigert, ihn bei der Probe zuzulassen. »Sie müssen uns«, sagte er, »erst von der besten Seite kennenlernen, eh wir zugeben, daß Sie uns in die Karte sehen.«

Mit der größten Zufriedenheit wohnte aber auch unser Freund den Abend darauf der Vorstellung bei. Es war das erste Mal, daß er ein Theater in solcher Vollkommenheit sah. Man traute sämtlichen Schauspielern fürtreffliche Gaben, glückliche Anlagen und einen hohen und klaren Begriff von ihrer Kunst zu, und doch waren sie einander nicht gleich; aber sie hielten und trugen sich wechselsweise, feuerten einander an und waren in ihrem ganzen Spiele sehr bestimmt und genau. Man fühlte bald, daß Serlo die Seele des Ganzen war, und er zeichnete sich sehr zu seinem Vorteil aus. Eine heitere Laune, eine gemäßigte Lebhaftigkeit, ein bestimmtes Gefühl des Schicklichen bei einer großen Gabe der Nachahmung mußte man an ihm, wie er aufs Theater trat, wie er den Mund öffnete, bewundern. Die innere Behaglichkeit seines Daseins schien sich über alle Zuhörer auszubreiten, und die geistreiche Art, mit der er die feinsten Schattierungen der Rollen leicht und gefällig ausdrückte, erweckte um soviel mehr Freude, als er die Kunst zu verbergen wußte, die er sich durch eine anhaltende Übung eigen gemacht hatte.

Seine Schwester Aurelie blieb nicht hinter ihm und erhielt noch größeren Beifall, indem sie die Gemüter der Menschen rührte, die er zu erheitern und zu erfreuen so sehr imstande war.

Nach einigen Tagen, die auf eine angenehme Weise zugebracht wurden, verlangte Aurelie nach unserm Freund. Er eilte zu ihr und fand sie auf dem Kanapee liegen; sie schien an Kopfweh zu leiden, und ihr ganzes Wesen konnte eine fieberhafte Bewegung nicht verbergen. Ihr Auge erheiterte sich, als sie den Hereintretenden ansah. »Vergeben Sie!« rief sie ihm entgegen; »das Zutrauen, das Sie mir einflößten, hat mich schwach gemacht. Bisher konnt ich mich mit meinen Schmerzen im stillen unterhalten, ja sie gaben mir Stärke und Trost; nun haben Sie, ich weiß nicht, wie es zugegangen ist, die Bande der Verschwiegenheit gelöst, und Sie werden nun selbst wider Willen teil an dem Kampfe nehmen, den ich gegen mich selbst streite.«

Wilhelm antwortete ihr freundlich und verbindlich. Er versicherte, daß ihr Bild und ihre Schmerzen ihm beständig vor der Seele geschwebt, daß er sie um ihr Vertrauen bitte, daß er sich ihr zum Freund widme.

Indem er so sprach, wurden seine Augen von dem Knaben angezogen, der vor ihr auf der Erde saß und allerlei Spielwerk durcheinanderwarf. Er mochte, wie Philine schon angegeben, ungefähr drei Jahre alt sein, und Wilhelm verstand nun erst, warum das leichtfertige, in ihren Ausdrücken selten erhabene Mädchen den Knaben der Sonne verglichen. Denn um die offnen Augen und das volle Gesicht kräuselten sich die schönsten goldnen Locken, an einer blendendweißen Stirne zeigten sich zarte, dunkle, sanftgebogene Augenbrauen, und die lebhafte Farbe der Gesundheit glänzte auf seinen Wangen. »Setzen Sie sich zu mir«, sagte Aurelie; »Sie sehen das glückliche Kind mit Verwunderung an; gewiß, ich habe es mit Freuden auf meine Arme genommen, ich bewahre es mit Sorgfalt; nur kann ich auch recht an ihm den Grad meiner Schmerzen erkennen, denn sie lassen mich den Wert einer solchen Gabe nur selten empfinden.

Erlauben Sie mir«, fuhr sie fort, »daß ich nun auch von mir und meinem Schicksale rede; denn es ist mir sehr daran gelegen, daß Sie mich nicht verkennen. Ich glaubte einige gelassene Augenblicke zu haben, darum ließ ich Sie rufen; Sie sind nun da, und ich habe meinen Faden verloren.

›Ein verlaßnes Geschöpf mehr in der Welt!‹ werden Sie sagen. Sie sind ein Mann und denken: ›Wie gebärdet sie sich bei einem notwendigen Übel, das gewisser als der Tod über einem Weibe schwebt, bei der Untreue eines Mannes, die Törin!‹ – O mein Freund, wäre mein Schicksal gemein, ich wollte gern gemeines Übel ertragen; aber es ist so außerordentlich; warum kann ich’s Ihnen nicht im Spiegel zeigen, warum nicht jemand auftragen, es Ihnen zu erzählen! O wäre, wäre ich verführt, überrascht und dann verlassen, dann würde in der Verzweiflung noch Trost sein; aber ich bin weit schlimmer daran, ich habe mich selbst hintergangen, mich selbst wider Wissen betrogen, das ist’s, was ich mir niemals verzeihen kann.«

»Bei edlen Gesinnungen, wie die Ihrigen sind«, versetzte der Freund, »können Sie nicht ganz unglücklich sein.«

»Und wissen Sie, wem ich meine Gesinnung schuldig bin?« fragte Aurelie, »der allerschlechtesten Erziehung, durch die jemals ein Mädchen hätte verderbt werden sollen, dem schlimmsten Beispiele, um Sinne und Neigung zu verführen.

Nach dem frühzeitigen Tode meiner Mutter bracht ich die schönsten Jahre der Entwicklung bei einer Tante zu, die sich zum Gesetz machte, die Gesetze der Ehrbarkeit zu verachten. Blindlings überließ sie sich einer jeden Neigung, sie mochte über den Gegenstand gebieten oder sein Sklav‘ sein, wenn sie nur im wilden Genuß ihrer selbst vergessen konnte.

Was mußten wir Kinder mit dem reinen und deutlichen Blick der Unschuld uns für Begriffe von dem männlichen Geschlechte machen? Wie dumpf, dringend, dreist, ungeschickt war jeder, den sie herbeireizte; wie satt, übermütig, leer und abgeschmackt dagegen, sobald er seiner Wünsche Befriedigung gefunden hatte. So hab ich diese Frau jahrelang unter dem Gebote der schlechtesten Menschen erniedrigt gesehen; was für Begegnungen mußte sie erdulden, und mit welcher Stirne wußte sie sich in ihr Schicksal zu finden, ja mit welcher Art diese schändlichen Fesseln zu tragen!

So lernte ich Ihr Geschlecht kennen, mein Freund, und wie rein haßte ich’s, da ich zu bemerken schien, daß selbst leidliche Männer im Verhältnis gegen das unsrige jedem guten Gefühl zu entsagen schienen, zu dem sie die Natur sonst noch mochte fähig gemacht haben.

Leider mußt ich auch bei solchen Gelegenheiten viel traurige Erfahrungen über mein eigen Geschlecht machen, und wahrhaftig, als Mädchen von sechzehn Jahren war ich klüger, als ich jetzt bin, jetzt, da ich mich selbst kaum verstehe. Warum sind wir so klug, wenn wir jung sind, so klug, um immer törichter zu werden!«

Der Knabe machte Lärm, Aurelie ward ungeduldig und klingelte. Ein altes Weib kam herein, ihn wegzuholen. »Hast du noch immer Zahnweh?« sagte Aurelie zu der Alten, die das Gesicht verbunden hatte. »Fast unleidliches«, versetzte diese mit dumpfer Stimme, hob den Knaben auf, der gerne mitzugehen schien, und brachte ihn weg.

Kaum war das Kind beiseite, als Aurelie bitterlich zu weinen anfing. »Ich kann nichts als jammern und klagen«, rief sie aus, »und ich schäme mich, wie ein armer Wurm vor Ihnen zu liegen. Meine Besonnenheit ist schon weg, und ich kann nicht mehr erzählen.« Sie stockte und schwieg. Ihr Freund, der nichts Allgemeines sagen wollte und nichts Besonderes zu sagen wußte, drückte ihre Hand und sah sie eine Zeitlang an. Endlich nahm er in der Verlegenheit ein Buch auf, das er vor sich auf dem Tischchen liegen fand; es waren Shakespeares Werke und »Hamlet« aufgeschlagen.

Serlo, der eben zur Tür hereinkam, nach dem Befinden seiner Schwester fragte, schaute in das Buch, das unser Freund in der Hand hielt, und rief aus: »Find ich Sie wieder über Ihrem ›Hamlet‹? Eben recht! Es sind mir gar manche Zweifel aufgestoßen, die das kanonische Ansehn, das Sie dem Stücke so gerne geben möchten, sehr zu vermindern scheinen. Haben doch die Engländer selbst bekannt, daß das Hauptinteresse sich mit dem dritten Akt schlösse, daß die zwei letzten Akte nur kümmerlich das Ganze zusammenhielten; und es ist doch wahr, das Stück will gegen das Ende weder gehen noch rücken.«

»Es ist sehr möglich«, sagte Wilhelm, »daß einige Glieder einer Nation, die so viel Meisterstücke aufzuweisen hat, durch Vorurteile und Beschränktheit auf falsche Urteile geleitet werden; aber das kann uns nicht hindern, mit eignen Augen zu sehen und gerecht zu sein. Ich bin weit entfernt, den Plan dieses Stücks zu tadeln, ich glaube vielmehr, daß kein größerer ersonnen worden sei; ja, er ist nicht ersonnen, es ist so.«

»Wie wollen Sie das auslegen?« fragte Serlo.

»Ich will nichts auslegen«, versetzte Wilhelm, »ich will Ihnen nur vorstellen, was ich mir denke.«

Aurelie hob sich von ihrem Kissen auf, stützte sich auf ihre Hand und sah unsern Freund an, der mit der größten Versicherung, daß er recht habe, also zu reden fortfuhr: »Es gefällt uns so wohl, es schmeichelt so sehr, wenn wir einen Helden sehen, der durch sich selbst handelt, der liebt und haßt, wenn es ihm sein Herz gebietet, der unternimmt und ausführt, alle Hindernisse abwendet und zu einem großen Zwecke gelangt. Geschichtschreiber und Dichter möchten uns gerne überreden, daß ein so stolzes Los dem Menschen fallen könne. Hier werden wir anders belehrt; der Held hat keinen Plan, aber das Stück ist planvoll. Hier wird nicht etwa nach einer starr und eigensinnig durchgeführten Idee von Rache ein Bösewicht bestraft, nein, es geschieht eine ungeheure Tat, sie wälzt sich in ihren Folgen fort, reißt Unschuldige mit; der Verbrecher scheint dem Abgrunde, der ihm bestimmt ist, ausweichen zu wollen und stürzt hinein, eben da, wo er seinen Weg glücklich auszulaufen gedenkt. Denn das ist die Eigenschaft der Greueltat, daß sie auch Böses über den Unschuldigen, wie der guten Handlung, daß sie viele Vorteile auch über den Unverdienten ausbreitet, ohne daß der Urheber von beiden oft weder bestraft noch belohnt wird. Hier in unserm Stücke wie wunderbar! Das Fegefeuer sendet seinen Geist und fordert Rache, aber vergebens. Alle Umstände kommen zusammen und treiben die Rache, vergebens! Weder Irdischen noch Unterirdischen kann gelingen, was dem Schicksal allein vorbehalten ist. Die Gerichtsstunde kommt. Der Böse fällt mit dem Guten. Ein Geschlecht wird weggemäht, und das andere sproßt auf.«

Nach einer Pause, in der sie einander ansahen, nahm Serlo das Wort: »Sie machen der Vorsehung kein sonderlich Kompliment, indem Sie den Dichter erheben, und dann scheinen Sie mir wieder zu Ehren Ihres Dichters, wie andere zu Ehren der Vorsehung, ihm Endzweck und Plane unterzuschieben, an die er nicht gedacht hat.«

Sechzehntes Kapitel

»Lassen Sie mich«, sagte Aurelie, »nun auch eine Frage tun. Ich habe Opheliens Rolle wieder angesehen, ich bin zufrieden damit und getraue mir, sie unter gewissen Umständen zu spielen. Aber sagen Sie mir, hätte der Dichter seiner Wahnsinnigen nicht andere Liedchen unterlegen sollen? Könnte man nicht Fragmente aus melancholischen Balladen wählen? Was sollen Zweideutigkeiten und lüsterne Albernheiten in dem Munde dieses edlen Mädchens?«

»Beste Freundin«, versetzte Wilhelm, »ich kann auch hier nicht ein Jota nachgeben. Auch in diesen Sonderbarkeiten, auch in dieser anscheinenden Unschicklichkeit liegt ein großer Sinn. Wissen wir doch gleich zu Anfange des Stücks, womit das Gemüt des guten Kindes beschäftigt ist. Stille lebte sie vor sich hin, aber kaum verbarg sie ihre Sehnsucht, ihre Wünsche. Heimlich klangen die Töne der Lüsternheit in ihrer Seele, und wie oft mag sie versucht haben, gleich einer unvorsichtigen Wärterin, ihre Sinnlichkeit zur Ruhe zu singen mit Liedchen, die sie nur mehr wachhalten mußten. Zuletzt, da ihr jede Gewalt über sich selbst entrissen ist, da ihr Herz auf der Zunge schwebt, wird diese Zunge ihre Verräterin, und in der Unschuld des Wahnsinns ergötzt sie sich vor König und Königin an dem Nachklange ihrer geliebten losen Lieder: vom Mädchen, das gewonnen ward; vom Mädchen, das zum Knaben schleicht, und so weiter.«

Er hatte noch nicht ausgeredet, als auf einmal eine wunderbare Szene vor seinen Augen entstand, die er sich auf keine Weise erklären konnte.

Serlo war einigemal in der Stube auf und ab gegangen, ohne daß er irgendeine Absicht merken ließ. Auf einmal trat er an Aureliens Putztisch, griff schnell nach etwas, das darauf lag, und eilte mit seiner Beute der Türe zu. Aurelie bemerkte kaum seine Handlung, als sie auffuhr, sich ihm in den Weg warf, ihn mit unglaublicher Leidenschaft angriff und geschickt genug war, ein Ende des geraubten Gegenstandes zu fassen. Sie rangen und balgten sich sehr hartnäckig, drehten und wanden sich sehr lebhaft miteinander herum; er lachte, sie ereiferte sich, und als Wilhelm hinzueilte, sie auseinanderzubringen und zu besänftigen, sah er auf einmal Aurelien mit einem bloßen Dolch in der Hand auf die Seite springen, indem Serlo die Scheide, die ihm zurückgeblieben war, verdrießlich auf den Boden warf. Wilhelm trat erstaunt zurück, und seine stumme Verwunderung schien nach der Ursache zu fragen, warum ein so sonderbarer Streit über einen so wunderbaren Hausrat habe unter ihnen entstehen können.

»Sie sollen«, sprach Serlo, »Schiedsrichter zwischen uns beiden sein. Was hat sie mit dem scharfen Stahle zu tun? Lassen Sie sich ihn zeigen. Dieser Dolch ziemt keiner Schauspielerin; spitz und scharf wie Nadel und Messer! Zu was die Posse? Heftig, wie sie ist, tut sie sich noch einmal von ungefähr ein Leides. Ich habe einen innerlichen Haß gegen solche Sonderbarkeiten: ein ernstlicher Gedanke dieser Art ist toll, und ein so gefährliches Spielwerk ist abgeschmackt.«

»Ich habe ihn wieder!« rief Aurelie, indem sie die blanke Klinge in die Höhe hielt; »ich will meinen treuen Freund nun besser verwahren. Verzeih mir«, rief sie aus, indem sie den Stahl küßte, »daß ich dich so vernachlässigt habe!«

Serlo schien im Ernste böse zu werden. »Nimm es, wie du willst, Bruder«, fuhr sie fort; »kannst du denn wissen, ob mir nicht etwa unter dieser Form ein köstlicher Talisman beschert ist; ob ich nicht Hülfe und Rat zur schlimmsten Zeit bei ihm finde; muß denn alles schädlich sein, was gefährlich aussieht?«

»Dergleichen Reden, in denen kein Sinn ist, können mich toll machen!« sagte Serlo und verließ mit heimlichem Grimme das Zimmer. Aurelie verwahrte den Dolch sorgfältig in der Scheide und steckte ihn zu sich. »Lassen Sie uns das Gespräch fortsetzen, das der unglückliche Bruder gestört hat«, fiel sie ein, als Wilhelm einige Fragen über den sonderbaren Streit vorbrachte.

»Ich muß Ihre Schilderung Opheliens wohl gelten lassen«, fuhr sie fort, »ich will die Absicht des Dichters nicht verkennen; nur kann ich sie mehr bedauern als mit ihr empfinden. Nun aber erlauben Sie mir eine Betrachtung, zu der Sie mir in der kurzen Zeit oft Gelegenheit gegeben haben. Mit Bewunderung bemerke ich an Ihnen den tiefen und richtigen Blick, mit dem Sie Dichtung und besonders dramatische Dichtung beurteilen; die tiefsten Abgründe der Erfindung sind Ihnen nicht verborgen, und die feinsten Züge der Ausführung sind Ihnen bemerkbar. Ohne die Gegenstände jemals in der Natur erblickt zu haben, erkennen Sie die Wahrheit im Bilde; es scheint eine Vorempfindung der ganzen Welt in Ihnen zu liegen, welche durch die harmonische Berührung der Dichtkunst erregt und entwickelt wird. Denn wahrhaftig«, fuhr sie fort, »von außen kommt nichts in Sie hinein; ich habe nicht leicht jemanden gesehen, der die Menschen, mit denen er lebt, so wenig kennt, so von Grund aus verkennt wie Sie. Erlauben Sie mir, es zu sagen: wenn man Sie Ihren Shakespeare erklären hört, glaubt man, Sie kämen eben aus dem Rate der Götter und hätten zugehört, wie man sich daselbst beredet, Menschen zu bilden; wenn Sie dagegen mit Leuten umgehen, seh ich in Ihnen gleichsam das erste, groß geborne Kind der Schöpfung, das mit sonderlicher Verwunderung und erbaulicher Gutmütigkeit Löwen und Affen, Schafe und Elefanten anstaunt und sie treuherzig als seinesgleichen anspricht, weil sie eben auch da sind und sich bewegen.«

»Die Ahnung meines schülerhaften Wesens, werte Freundin«, versetzte er, »ist mir öfters lästig, und ich werde Ihnen danken, wenn Sie mir über die Welt zu mehrerer Klarheit verhelfen wollen. Ich habe von Jugend auf die Augen meines Geistes mehr nach innen als nach außen gerichtet, und da ist es sehr natürlich, daß ich den Menschen bis auf einen gewissen Grad habe kennenlernen, ohne die Menschen im mindesten zu verstehen und zu begreifen.«

»Gewiß«, sagte Aurelie, »ich hatte Sie anfangs in Verdacht, als wollten Sie uns zum besten haben, da Sie von den Leuten, die Sie meinem Bruder zugeschickt haben, so manches Gute sagten, wenn ich Ihre Briefe mit den Verdiensten dieser Menschen zusammenhielt.«

Die Bemerkung Aureliens, so wahr sie sein mochte und so gern ihr Freund diesen Mangel bei sich gestand, führte doch etwas Drückendes, ja sogar Beleidigendes mit sich, daß er still ward und sich zusammennahm, teils um keine Empfindlichkeit merken zu lassen, teils in seinem Busen nach der Wahrheit dieses Vorwurfs zu forschen.

»Sie dürfen nicht darüber betreten sein«, fuhr Aurelie fort, »zum Lichte des Verstandes können wir immer gelangen; aber die Fülle des Herzens kann uns niemand geben. Sind Sie zum Künstler bestimmt, so können Sie diese Dunkelheit und Unschuld nicht lange genug bewahren; sie ist die schöne Hülle über der jungen Knospe; Unglücks genug, wenn wir zu früh herausgetrieben werden. Gewiß, es ist gut, wenn wir die nicht immer kennen, für die wir arbeiten.

Oh! ich war auch einmal in diesem glücklichen Zustande, als ich mit dem höchsten Begriff von mir selbst und meiner Nation die Bühne betrat. Was waren die Deutschen nicht in meiner Einbildung, was konnten sie nicht sein! Zu dieser Nation sprach ich, über die mich ein kleines Gerüst erhob, von welcher mich eine Reihe Lampen trennte, deren Glanz und Dampf mich hinderte, die Gegenstände vor mir genau zu unterscheiden. Wie willkommen war mir der Klang des Beifalls, der aus der Menge herauftönte; wie dankbar nahm ich das Geschenk an, das mir einstimmig von so vielen Händen dargebracht wurde! Lange wiegte ich mich so hin; wie ich wirkte, wirkte die Menge wieder auf mich zurück; ich war mit meinem Publikum in dem besten Vernehmen; ich glaubte eine vollkommene Harmonie zu fühlen und jederzeit die Edelsten und Besten der Nation vor mir zu sehen.

Unglücklicherweise war es nicht die Schauspielerin allein, deren Naturell und Kunst die Theaterfreunde interessierte, sie machten auch Ansprüche an das junge, lebhafte Mädchen. Sie gaben mir nicht undeutlich zu verstehen, daß meine Pflicht sei, die Empfindungen, die ich in ihnen rege gemacht, auch persönlich mit ihnen zu teilen. Leider war das nicht meine Sache; ich wünschte ihre Gemüter zu erheben, aber an das, was sie ihr Herz nannten, hatte ich nicht den mindesten Anspruch; und nun wurden mir alle Stände, Alter und Charaktere einer um den andern zur Last, und nichts war mir verdrießlicher, als daß ich mich nicht wie ein anderes ehrliches Mädchen in mein Zimmer verschließen und so mir manche Mühe ersparen konnte.

Die Männer zeigten sich meist, wie ich sie bei meiner Tante zu sehen gewohnt war, und sie würden mir auch diesmal nur wieder Abscheu erregt haben, wenn mich nicht ihre Eigenheiten und Albernheiten unterhalten hätten. Da ich nicht vermeiden konnte, sie bald auf dem Theater, bald an öffentlichen Orten, bald zu Hause zu sehen, nahm ich mir vor, sie alle auszulauern, und mein Bruder half mir wacker dazu. Und wenn Sie denken, daß vom beweglichen Ladendiener und dem eingebildeten Kaufmannssohn bis zum gewandten, abwiegenden Weltmann, dem kühnen Soldaten und dem raschen Prinzen alle nach und nach bei mir vorbeigegangen sind und jeder nach seiner Art seinen Roman anzuknüpfen gedachte, so werden Sie mir verzeihen, wenn ich mir einbildete, mit meiner Nation ziemlich bekannt zu sein.

Den phantastisch aufgestutzten Studenten, den demütig-stolz verlegenen Gelehrten, den schwankfüßigen, genügsamen Domherrn, den steifen, aufmerksamen Geschäftsmann, den derben Landbaron, den freundlich glatt-platten Hofmann, den jungen, aus der Bahn schreitenden Geistlichen, den gelassenen sowie den schnellen und tätig spekulierenden Kaufmann, alle habe ich in Bewegung gesehen, und beim Himmel! wenige fanden sich darunter, die mir nur ein gemeines Interesse einzuflößen imstande gewesen wären; vielmehr war es mir äußerst verdrießlich, den Beifall der Toren im einzelnen mit Beschwerlichkeit und Langerweile einzukassieren, der mir im ganzen so wohl behagt hatte, den ich mir im großen so gerne zueignete.

Wenn ich über mein Spiel ein vernünftiges Kompliment erwartete, wenn ich hoffte, sie sollten einen Autor loben, den ich hochschätzte, so machten sie eine alberne Anmerkung über die andere und nannten ein abgeschmacktes Stück, in welchem sie wünschten mich spielen zu sehen. Wenn ich in der Gesellschaft herumhorchte, ob nicht etwa ein edler, geistreicher, witziger Zug nachklänge und zur rechten Zeit wieder zum Vorschein käme, konnte ich selten eine Spur vernehmen. Ein Fehler, der vorgekommen war, wenn ein Schauspieler sich versprach oder irgendeinen Provinzialism hören ließ, das waren die wichtigen Punkte, an denen sie sich festhielten, von denen sie nicht loskommen konnten. Ich wußte zuletzt nicht, wohin ich mich wenden sollte; sie dünkten sich zu klug, sich unterhalten zu lassen, und sie glaubten mich wundersam zu unterhalten, wenn sie an mir herumtätschelten. Ich fing an, sie alle von Herzen zu verachten, und es war mir eben, als wenn die ganze Nation sich recht vorsätzlich bei mir durch ihre Abgesandten habe prostituieren wollen. Sie kam mir im ganzen so linkisch vor, so übel erzogen, so schlecht unterrichtet, so leer von gefälligem Wesen, so geschmacklos. Oft rief ich aus: ›Es kann doch kein Deutscher einen Schuh zuschnallen, der es nicht von einer fremden Nation gelernt hat!‹

Sie sehen, wie verblendet, wie hypochondrisch ungerecht ich war, und je länger es währte, desto mehr nahm meine Krankheit zu. Ich hätte mich umbringen können; allein ich verfiel auf ein ander Extrem: ich verheiratete mich, oder vielmehr ich ließ mich verheiraten. Mein Bruder, der das Theater übernommen hatte, wünschte sehr, einen Gehülfen zu haben. Seine Wahl fiel auf einen jungen Mann, der mir nicht zuwider war, dem alles mangelte, was mein Bruder besaß: Genie, Leben, Geist und rasches Wesen; an dem sich aber auch alles fand, was jenem abging: Liebe zur Ordnung, Fleiß, eine köstliche Gabe, hauszuhalten und mit Gelde umzugehen.

Er ist mein Mann geworden, ohne daß ich weiß, wie; wir haben zusammen gelebt, ohne daß ich recht weiß, warum. Genug, unsre Sachen gingen gut. Wir nahmen viel ein, davon war die Tätigkeit meines Bruders Ursache; wir kamen gut aus, und das war das Verdienst meines Mannes. Ich dachte nicht mehr an Welt und Nation. Mit der Welt hatte ich nichts zu teilen, und den Begriff von Nation hatte ich verloren. Wenn ich auftrat, tat ich’s, um zu leben; ich öffnete den Mund nur, weil ich nicht schweigen durfte, weil ich doch herausgekommen war, um zu reden.

Doch, daß ich es nicht zu arg mache, eigentlich hatte ich mich ganz in die Absicht meines Bruders ergeben; ihm war um Beifall und Geld zu tun: denn, unter uns, er hört sich gerne loben und braucht viel. Ich spielte nun nicht mehr nach meinem Gefühl, nach meiner Überzeugung, sondern wie er mich anwies, und wenn ich es ihm zu Danke gemacht hatte, war ich zufrieden. Er richtete sich nach allen Schwächen des Publikums; es ging Geld ein, er konnte nach seiner Willkür leben, und wir hatten gute Tage mit ihm.

Ich war indessen in einen handwerksmäßigen Schlendrian gefallen. Ich zog meine Tage ohne Freude und Anteil hin, meine Ehe war kinderlos und dauerte nur kurze Zeit. Mein Mann ward krank, seine Kräfte nahmen sichtbar ab, die Sorge für ihn unterbrach meine allgemeine Gleichgültigkeit. In diesen Tagen machte ich eine Bekanntschaft, mit der ein neues Leben für mich anfing, ein neues und schnelleres, denn es wird bald zu Ende sein.«

Sie schwieg eine Zeitlang stille, dann fuhr sie fort: »Auf einmal stockt meine geschwätzige Laune, und ich getraue mir den Mund nicht weiter aufzutun. Lassen Sie mich ein wenig ausruhen; Sie sollen nicht weggehen, ohne ausführlich all mein Unglück zu wissen. Rufen Sie doch indessen Mignon herein und hören, was sie will.«

Das Kind war während Aureliens Erzählung einigemal im Zimmer gewesen. Da man bei seinem Eintritt leiser sprach, war es wieder weggeschlichen, saß auf dem Saale still und wartete. Als man sie wieder hereinkommen hieß, brachte sie ein Buch mit, das man bald an Form und Einband für einen kleinen geographischen Atlas erkannte. Sie hatte bei dem Pfarrer unterwegs mit großer Verwunderung die ersten Landkarten gesehen, ihn viel darüber gefragt und sich, soweit es gehen wollte, unterrichtet. Ihr Verlangen, etwas zu lernen, schien durch diese neue Kenntnis noch viel lebhafter zu werden. Sie bat Wilhelmen inständig, ihr das Buch zu kaufen. Sie habe dem Bildermann ihre großen silbernen Schnallen dafür eingesetzt und wolle sie, weil es heute abend so spät geworden, morgen früh wieder einlösen. Es ward ihr bewilligt, und sie fing nun an, dasjenige, was sie wußte, teils herzusagen, teils nach ihrer Art die wunderlichsten Fragen zu tun. Man konnte auch hier wieder bemerken, daß bei einer großen Anstrengung sie nur schwer und mühsam begriff. So war auch ihre Handschrift, mit der sie sich viele Mühe gab. Sie sprach noch immer sehr gebrochen Deutsch, und nur wenn sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither rührte, schien sie sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Innerstes aufschließen und mitteilen konnte.

Wir müssen, da wir gegenwärtig von ihr sprechen, auch der Verlegenheit gedenken, in die sie seit einiger Zeit unsern Freund öfters versetzte. Wenn sie kam oder ging, guten Morgen oder gute Nacht sagte, schloß sie ihn so fest in ihre Arme und küßte ihn mit solcher Inbrunst, daß ihm die Heftigkeit dieser aufkeimenden Natur oft angst und bange machte. Die zuckende Lebhaftigkeit schien sich in ihrem Betragen täglich zu vermehren, und ihr ganzes Wesen bewegte sich in einer rastlosen Stille. Sie konnte nicht sein, ohne einen Bindfaden in den Händen zu drehen, ein Tuch zu kneten, Papier oder Hölzchen zu kauen. Jedes ihrer Spiele schien nur eine innere heftige Erschütterung abzuleiten. Das einzige, was ihr einige Heiterkeit zu geben schien, war die Nähe des kleinen Felix, mit dem sie sich sehr artig abzugeben wußte.

Aurelie, die nach einiger Ruhe gestimmt war, sich mit ihrem Freunde über einen Gegenstand, der ihr so sehr am Herzen lag, endlich zu erklären, ward über die Beharrlichkeit der Kleinen diesmal ungeduldig und gab ihr zu verstehen, daß sie sich wegbegeben sollte, und man mußte sie endlich, da alles nicht helfen wollte, ausdrücklich und wider ihren Willen fortschicken.

»Jetzt oder niemals«, sagte Aurelie, »muß ich Ihnen den Rest meiner Geschichte erzählen. Wäre mein zärtlich geliebter, ungerechter Freund nur wenige Meilen von hier, ich würde sagen: ›Setzen Sie sich zu Pferde, suchen Sie auf irgendeine Weise Bekanntschaft mit ihm, und wenn Sie zurückkehren, so haben Sie mir gewiß verziehen und bedauern mich von Herzen.‹ Jetzt kann ich Ihnen nur mit Worten sagen, wie liebenswürdig er war und wie sehr ich ihn liebte.

Eben zu der kritischen Zeit, da ich für die Tage meines Mannes besorgt sein mußte, lernt ich ihn kennen. Er war eben aus Amerika zurückgekommen, wo er in Gesellschaft einiger Franzosen mit vieler Distinktion unter den Fahnen der Vereinigten Staaten gedient hatte.

Er begegnete mir mit einem gelaßnen Anstande, mit einer offnen Gutmütigkeit, sprach über mich selbst, meine Lage, mein Spiel wie ein alter Bekannter, so teilnehmend und so deutlich, daß ich mich zum erstenmal freuen konnte, meine Existenz in einem andern Wesen so klar wiederzuerkennen. Seine Urteile waren richtig, ohne absprechend, treffend, ohne lieblos zu sein. Er zeigte keine Härte, und sein Mutwille war zugleich gefällig. Er schien des guten Glücks bei Frauen gewohnt zu sein, das machte mich aufmerksam; er war keinesweges schmeichelnd und andringend, das machte mich sorglos.

In der Stadt ging er mit wenigen um, war meist zu Pferde, besuchte seine vielen Bekannten in der Gegend und besorgte die Geschäfte seines Hauses. Kam er zurück, so stieg er bei mir ab, behandelte meinen immer kränkern Mann mit warmer Sorge, schaffte dem Leidenden durch einen geschickten Arzt Linderung, und wie er an allem, was mich betraf, teilnahm, ließ er mich auch an seinem Schicksale teilnehmen. Er erzählte mir die Geschichte seiner Kampagne, seiner unüberwindlichen Neigung zum Soldatenstande, seine Familienverhältnisse; er vertraute mir seine gegenwärtigen Beschäftigungen. Genug, er hatte nichts Geheimes vor mir; er entwickelte mir sein Innerstes, ließ mich in die verborgensten Winkel seiner Seele sehen; ich lernte seine Fähigkeiten, seine Leidenschaften kennen. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich eines herzlichen, geistreichen Umgangs genoß. Ich war von ihm angezogen, von ihm hingerissen, eh ich über mich selbst Betrachtungen anstellen konnte.

Inzwischen verlor ich meinen Mann, ungefähr wie ich ihn genommen hatte. Die Last der theatralischen Geschäfte fiel nun ganz auf mich. Mein Bruder, unverbesserlich auf dem Theater, war in der Haushaltung niemals nütze; ich besorgte alles und studierte dabei meine Rollen fleißiger als jemals. Ich spielte wieder wie vor alters, ja mit ganz anderer Kraft und neuem Leben, zwar durch ihn und um seinetwillen, doch nicht immer gelang es mir zum besten, wenn ich meinen edlen Freund im Schauspiel wußte; aber einigemal behorchte er mich, und wie angenehm mich sein unvermuteter Beifall überraschte, können Sie denken.

Gewiß, ich bin ein seltsames Geschöpf. Bei jeder Rolle, die ich spielte, war es mir eigentlich nur immer zumute, als wenn ich ihn lobte und zu seinen Ehren spräche; denn das war die Stimmung meines Herzens, die Worte mochten übrigens sein, wie sie wollten. Wußt ich ihn unter den Zuhörern, so getraute ich mich nicht, mit der ganzen Gewalt zu sprechen, eben als wenn ich ihm meine Liebe, mein Lob nicht geradezu ins Gesicht aufdringen wollte; war er abwesend, dann hatte ich freies Spiel, ich tat mein Bestes mit einer gewissen Ruhe, mit einer unbeschreiblichen Zufriedenheit. Der Beifall freute mich wieder, und wenn ich dem Publikum Vergnügen machte, hätte ich immer zugleich hinunterrufen mögen: ›Das seid ihr ihm schuldig!‹

Ja, mir war wie durch ein Wunder das Verhältnis zum Publikum, zur ganzen Nation verändert. Sie erschien mir auf einmal wieder in dem vorteilhaftesten Lichte, und ich erstaunte recht über meine bisherige Verblendung.

›Wie unverständig‹, sagt ich oft zu mir selbst, ›war es, als du ehemals auf eine Nation schaltest, eben weil es eine Nation ist. Müssen denn, können denn einzelne Menschen so interessant sein? Keinesweges! Es fragt sich, ob unter der großen Masse eine Menge von Anlagen, Kräften und Fähigkeiten verteilt sei, die durch günstige Umstände entwickelt, durch vorzügliche Menschen zu einem gemeinsamen Endzwecke geleitet werden können.‹ Ich freute mich nun, so wenig hervorstechende Originalität unter meinen Landsleuten zu finden; ich freute mich, daß sie eine Richtung von außen anzunehmen nicht verschmähten; ich freute mich, einen Anführer gefunden zu haben.

Lothar – lassen Sie mich meinen Freund mit seinem geliebten Vornamen nennen – hatte mir immer die Deutschen von der Seite der Tapferkeit vorgestellt und mir gezeigt, daß keine bravere Nation in der Welt sei, wenn sie recht geführt werde, und ich schämte mich, an die erste Eigenschaft eines Volks niemals gedacht zu haben. Ihm war die Geschichte bekannt, und mit den meisten verdienstvollen Männern seines Zeitalters stand er in Verhältnissen. So jung er war, hatte er ein Auge auf die hervorkeimende hoffnungsvolle Jugend seines Vaterlandes, auf die stillen Arbeiten in so vielen Fächern beschäftigter und tätiger Männer. Er ließ mich einen Überblick über Deutschland tun, was es sei und was es sein könne, und ich schämte mich, eine Nation nach der verworrenen Menge beurteilt zu haben, die sich in eine Theatergarderobe drängen mag. Er machte mir’s zur Pflicht, auch in meinem Fache wahr, geistreich und belebend zu sein. Nun schien ich mir selbst inspiriert, sooft ich auf das Theater trat. Mittelmäßige Stellen wurden zu Gold in meinem Munde, und hätte mir damals ein Dichter zweckmäßig beigestanden, ich hätte die wunderbarsten Wirkungen hervorgebracht.

So lebte die junge Witwe monatelang fort. Er konnte mich nicht entbehren, und ich war höchst unglücklich, wenn er außenblieb. Er zeigte mir die Briefe seiner Verwandten, seiner vortrefflichen Schwester. Er nahm an den kleinsten Umständen meiner Verhältnisse teil; inniger, vollkommener ist keine Einigkeit zu denken. Der Name der Liebe ward nicht genannt. Er ging und kam, kam und ging – und nun, mein Freund, ist es hohe Zeit, daß Sie auch gehen.«

Siebzehntes Kapitel

Wilhelm konnte nun nicht länger den Besuch bei seinen Handelsfreunden aufschieben. Er ging nicht ohne Verlegenheit dahin; denn er wußte, daß er Briefe von den Seinigen daselbst antreffen werde. Er fürchtete sich vor den Vorwürfen, die sie enthalten mußten; wahrscheinlich hatte man auch dem Handelshause Nachricht von der Verlegenheit gegeben, in der man sich seinetwegen befand. Er scheute sich nach so vielen ritterlichen Abenteuern vor dem schülerhaften Ansehen, in dem er erscheinen würde, und nahm sich vor, recht trotzig zu tun und auf diese Weise seine Verlegenheit zu verbergen.

Allein zu seiner großen Verwunderung und Zufriedenheit ging alles sehr gut und leidlich ab. In dem großen, lebhaften und beschäftigten Comptoir hatte man kaum Zeit, seine Briefe aufzusuchen; seines längern Außenbleibens ward nur im Vorbeigehn gedacht. Und als er die Briefe seines Vaters und seines Freundes Werner eröffnete, fand er sie sämtlich sehr leidlichen Inhalts. Der Alte, in Hoffnung eines weitläufigen Journals, dessen Führung er dem Sohne beim Abschiede sorgfältig empfohlen und wozu er ihm ein tabellarisches Schema mitgegeben, schien über das Stillschweigen der ersten Zeit ziemlich beruhigt, so wie er sich nur über das Rätselhafte des ersten und einzigen, vom Schlosse des Grafen noch abgesandten Briefes beschwerte. Werner scherzte nur auf seine Art, erzählte lustige Stadtgeschichten und bat sich Nachricht von Freunden und Bekannten aus, die Wilhelm nunmehr in der großen Handelsstadt häufig würde kennenlernen. Unser Freund, der außerordentlich erfreut war, um einen so wohlfeilen Preis loszukommen, antwortete sogleich in einigen sehr muntern Briefen und versprach dem Vater ein ausführliches Reisejournal mit allen verlangten geographischen, statistischen und merkantilischen Bemerkungen. Er hatte vieles auf der Reise gesehen und hoffte, daraus ein leidliches Heft zusammenschreiben zu können. Er merkte nicht, daß er beinah in ebendem Falle war, in dem er sich befand, als er, um ein Schauspiel, das weder geschrieben, noch weniger memoriert war, aufzuführen, Lichter angezündet und Zuschauer herbeigerufen hatte. Als er daher wirklich anfing, an seine Komposition zu gehen, ward er leider gewahr, daß er von Empfindungen und Gedanken, von manchen Erfahrungen des Herzens und Geistes sprechen und erzählen konnte, nur nicht von äußern Gegenständen, denen er, wie er nun merkte, nicht die mindeste Aufmerksamkeit geschenkt hatte.

In dieser Verlegenheit kamen die Kenntnisse seines Freundes Laertes ihm gut zustatten. Die Gewohnheit hatte beide jungen Leute, so unähnlich sie sich waren, zusammen verbunden, und jener war, bei allen seinen Fehlern, mit seinen Sonderbarkeiten wirklich ein interessanter Mensch. Mit einer heitern, glücklichen Sinnlichkeit begabt, hätte er alt werden können, ohne über seinen Zustand irgend nachzudenken. Nun hatte ihm aber sein Unglück und seine Krankheit das reine Gefühl der Jugend geraubt und ihm dagegen einen Blick auf die Vergänglichkeit, auf das Zerstückelte unsers Daseins eröffnet. Daraus war eine launichte, rhapsodische Art, über die Gegenstände zu denken oder vielmehr ihre unmittelbaren Eindrücke zu äußern, entstanden. Er war nicht gern allein, trieb sich auf allen Kaffeehäusern, an allen Wirtstischen herum, und wenn er ja zu Hause blieb, waren Reisebeschreibungen seine liebste, ja seine einzige Lektüre. Diese konnte er nun, da er eine große Leihbibliothek fand, nach Wunsch befriedigen, und bald spukte die halbe Welt in seinem guten Gedächtnisse.

Wie leicht konnte er daher seinem Freunde Mut einsprechen, als dieser ihm den völligen Mangel an Vorrat zu der von ihm so feierlich versprochenen Relation entdeckte. »Da wollen wir ein Kunststück machen«, sagte jener, »das seinesgleichen nicht haben soll.

Ist nicht Deutschland von einem Ende zum andern durchreist, durchkreuzt, durchzogen, durchkrochen und durchflogen? Und hat nicht jeder deutsche Reisende den herrlichen Vorteil, sich seine großen oder kleinen Ausgaben vom Publikum wiedererstatten zu lassen? Gib mir nur deine Reiseroute, ehe du zu uns kamst: das andere weiß ich. Die Quellen und Hülfsmittel zu deinem Werke will ich dir aufsuchen; an Quadratmeilen, die nicht gemessen sind, und an Volksmenge, die nicht gezählt ist, müssen wir’s nicht fehlen lassen. Die Einkünfte der Länder nehmen wir aus Taschenbüchern und Tabellen, die, wie bekannt, die zuverlässigsten Dokumente sind. Darauf gründen wir unsre politischen Raisonnements; an Seitenblicken auf die Regierungen soll’s nicht fehlen. Ein paar Fürsten beschreiben wir als wahre Väter des Vaterlandes, damit man uns desto eher glaubt, wenn wir einigen andern etwas anhängen; und wenn wir nicht geradezu durch den Wohnort einiger berühmten Leute durchreisen, so begegnen wir ihnen in einem Wirtshause, lassen sie uns im Vertrauen das albernste Zeug sagen. Besonders vergessen wir nicht, eine Liebesgeschichte mit irgendeinem naiven Mädchen auf das anmutigste einzuflechten, und es soll ein Werk geben, das nicht allein Vater und Mutter mit Entzücken erfüllen soll, sondern das dir auch jeder Buchhändler mit Vergnügen bezahlt.«

Man schritt zum Werke, und beide Freunde hatten viel Lust an ihrer Arbeit, indes Wilhelm abends im Schauspiel und in dem Umgange mit Serlo und Aurelien die größte Zufriedenheit fand und seine Ideen, die nur zu lange sich in einem engen Kreise herumgedreht hatten, täglich weiter ausbreitete.

Achtzehntes Kapitel

Nicht ohne das größte Interesse vernahm er stückweise den Lebenslauf Serlos: denn es war nicht die Art dieses seltnen Mannes, vertraulich zu sein und über irgend etwas im Zusammenhange zu sprechen. Er war, man darf sagen, auf dem Theater geboren und gesäugt. Schon als stummes Kind mußte er durch seine bloße Gegenwart die Zuschauer rühren, weil auch schon damals die Verfasser diese natürlichen und unschuldigen Hülfsmittel kannten, und sein erstes »Vater« und »Mutter« brachte in beliebten Stücken ihm schon den größten Beifall zuwege, ehe er wußte, was das Händeklatschen bedeute. Als Amor kam er zitternd mehr als einmal im Flugwerke herunter, entwickelte sich als Harlekin aus dem Ei und machte als kleiner Essenkehrer schon früh die artigsten Streiche.

Leider mußte er den Beifall, den er an glänzenden Abenden erhielt, in den Zwischenzeiten sehr teuer bezahlen. Sein Vater, überzeugt, daß nur durch Schläge die Aufmerksamkeit der Kinder erregt und festgehalten werden könne, prügelte ihn beim Einstudieren einer jeden Rolle zu abgemessenen Zeiten; nicht, weil das Kind ungeschickt war, sondern damit es sich desto gewisser und anhaltender geschickt zeigen möge. So gab man ehemals, indem ein Grenzstein gesetzt wurde, den umstehenden Kindern tüchtige Ohrfeigen, und die ältesten Leute erinnern sich noch genau des Ortes und der Stelle. Er wuchs heran und zeigte außerordentliche Fähigkeiten des Geistes und Fertigkeiten des Körpers und dabei eine große Biegsamkeit sowohl in seiner Vorstellungsart als in Handlungen und Gebärden. Seine Nachahmungsgabe überstieg allen Glauben. Schon als Knabe ahmte er Personen nach, so daß man sie zu sehen glaubte, ob sie ihm schon an Gestalt, Alter und Wesen völlig unähnlich und untereinander verschieden waren. Dabei fehlte es ihm nicht an der Gabe, sich in die Welt zu schicken, und sobald er sich einigermaßen seiner Kräfte bewußt war, fand er nichts natürlicher, als seinem Vater zu entfliehen, der, wie die Vernunft des Knaben zunahm und seine Geschicklichkeit sich vermehrte, ihnen noch durch harte Begegnung nachzuhelfen für nötig fand.

Wie glücklich fühlte sich der lose Knabe nun in der freien Welt, da ihm seine Eulenspiegelspossen überall eine gute Aufnahme verschafften. Sein guter Stern führte ihn zuerst in der Fastnachtszeit in ein Kloster, wo er, weil eben der Pater, der die Umgänge zu besorgen und durch geistliche Maskeraden die christliche Gemeinde zu ergötzen hatte, gestorben war, als ein hülfreicher Schutzengel auftrat. Auch übernahm er sogleich die Rolle Gabriels in der Verkündigung und mißfiel dem hübschen Mädchen nicht, die als Maria seinen obligeanten Gruß mit äußerlicher Demut und innerlichem Stolze sehr zierlich aufnahm. Er spielte darauf sukzessive in den Mysterien die wichtigsten Rollen und wußte sich nicht wenig, da er endlich gar als Heiland der Welt verspottet, geschlagen und ans Kreuz geheftet wurde.

Einige Kriegsknechte mochten bei dieser Gelegenheit ihre Rollen gar zu natürlich spielen; daher er sie, um sich auf die schicklichste Weise an ihnen zu rächen, bei Gelegenheit des Jüngsten Gerichts in die prächtigsten Kleider von Kaisern und Königen steckte und ihnen in dem Augenblicke, da sie, mit ihren Rollen sehr wohl zufrieden, auch in dem Himmel allen andern vorauszugehen den Schritt nahmen, unvermutet in Teufelsgestalt begegnete und sie mit der Ofengabel, zur herzlichsten Erbauung sämtlicher Zuschauer und Bettler, weidlich durchdrosch und unbarmherzig zurück in die Grube stürzte, wo sie sich von einem hervordringenden Feuer aufs übelste empfangen sahen.

Er war klug genug, einzusehen, daß die gekrönten Häupter sein freches Unternehmen nicht wohl vermerken und selbst vor seinem privilegierten Ankläger- und Schergenamte keinen Respekt haben würden; er machte sich daher, noch ehe das Tausendjährige Reich anging, in aller Stille davon und ward in einer benachbarten Stadt von einer Gesellschaft, die man damals »Kinder der Freude« nannte, mit offnen Armen aufgenommen. Es waren verständige, geistreiche, lebhafte Menschen, die wohl einsahen, daß die Summe unsrer Existenz, durch Vernunft dividiert, niemals rein aufgehe, sondern daß immer ein wunderlicher Bruch übrigbleibe. Diesen hinderlichen und, wenn er sich in die ganze Masse verteilt, gefährlichen Bruch suchten sie zu bestimmten Zeiten vorsätzlich loszuwerden. Sie waren einen Tag der Woche recht ausführlich Narren und straften an demselben wechselseitig durch allegorische Vorstellungen, was sie während der übrigen Tage an sich und andern Närrisches bemerkt hatten. War diese Art gleich roher als eine Folge von Ausbildung, in welcher der sittliche Mensch sich täglich zu bemerken, zu warnen und zu strafen pflegt, so war sie doch lustiger und sicherer: denn indem man einen gewissen Schoßnarren nicht verleugnete, so traktierte man ihn auch nur für das, was er war, anstatt daß er auf dem andern Wege, durch Hülfe des Selbstbetrugs, oft im Hause zur Herrschaft gelangt und die Vernunft zur heimlichen Knechtschaft zwingt, die sich einbildet, ihn lange verjagt zu haben. Die Narrenmaske ging in der Gesellschaft herum, und jedem war erlaubt, sie an seinem Tage mit eigenen oder fremden Attributen charakteristisch auszuzieren. In der Karnavalszeit nahm man sich die größte Freiheit und wetteiferte mit der Bemühung der Geistlichen, das Volk zu unterhalten und anzuziehen. Die feierlichen und allegorischen Aufzüge von Tugenden und Lastern, Künsten und Wissenschaften, Weltteilen und Jahrszeiten versinnlichten dem Volke eine Menge Begriffe und gaben ihm Ideen entfernter Gegenstände, und so waren diese Scherze nicht ohne Nutzen, da von einer andern Seite die geistlichen Mummereien nur einen abgeschmackten Aberglauben noch mehr befestigten.

Der junge Serlo war auch hier wieder ganz in seinem Elemente; eigentliche Erfindungskraft hatte er nicht, dagegen aber das größte Geschick, was er vor sich fand zu nutzen, zurechtzustellen und scheinbar zu machen. Seine Einfälle, seine Nachahmungsgabe, ja sein beißender Witz, den er wenigstens einen Tag in der Woche völlig frei, selbst gegen seine Wohltäter, üben durfte, machte ihn der ganzen Gesellschaft wert, ja unentbehrlich.

Doch trieb ihn seine Unruhe bald aus dieser vorteilhaften Lage in andere Gegenden seines Vaterlandes, wo er wieder eine neue Schule durchzugehen hatte. Er kam in den gebildeten, aber auch bildlosen Teil von Deutschland, wo es zur Verehrung des Guten und Schönen zwar nicht an Wahrheit, aber oft an Geist gebricht; er konnte mit seinen Masken nichts mehr ausrichten; er mußte suchen, auf Herz und Gemüt zu wirken. Nur kurze Zeit hielt er sich bei kleinen und großen Gesellschaften auf und merkte bei dieser Gelegenheit sämtlichen Stücken und Schauspielern ihre Eigenheiten ab. Die Monotonie, die damals auf dem deutschen Theater herrschte, den albernen Fall und Klang der Alexandriner, den geschraubt-platten Dialog, die Trockenheit und Gemeinheit der unmittelbaren Sittenprediger hatte er bald gefaßt und zugleich bemerkt, was rührte und gefiel.

Nicht eine Rolle der gangbaren Stücke, sondern die ganzen Stücke blieben leicht in seinem Gedächtnis und zugleich der eigentümliche Ton des Schauspielers, der sie mit Beifall vorgetragen hatte. Nun kam er zufälligerweise auf seinen Streifereien, da ihm das Geld völlig ausgegangen war, zu dem Einfall, allein ganze Stücke besonders auf Edelhöfen und in Dörfern vorzustellen und sich dadurch überall sogleich Unterhalt und Nachtquartier zu verschaffen. In jeder Schenke, jedem Zimmer und Garten war sein Theater gleich aufgeschlagen; mit einem schelmischen Ernst und anscheinenden Enthusiasmus wußte er die Einbildungskraft seiner Zuschauer zu gewinnen, ihre Sinne zu täuschen und vor ihren offenen Augen einen alten Schrank zu einer Burg und einen Fächer zum Dolche umzuschaffen. Seine Jugendwärme ersetzte den Mangel eines tiefen Gefühls; seine Heftigkeit schien Stärke und seine Schmeichelei Zärtlichkeit. Diejenigen, die das Theater schon kannten, erinnerte er an alles, was sie gesehen und gehört hatten, und in den übrigen erregte er eine Ahnung von etwas Wunderbarem und den Wunsch, näher damit bekannt zu werden. Was an einem Orte Wirkung tat, verfehlte er nicht am andern zu wiederholen und hatte die herzlichste Schadenfreude, wenn er alle Menschen auf gleiche Weise aus dem Stegreife zum besten haben konnte.

Bei seinem lebhaften, freien und durch nichts gehinderten Geist verbesserte er sich, indem er Rollen und Stücke oft wiederholte, sehr geschwind. Bald rezitierte und spielte er dem Sinne gemäßer als die Muster, die er anfangs nur nachgeahmt hatte. Auf diesem Wege kam er nach und nach dazu, natürlich zu spielen und doch immer verstellt zu sein. Er schien hingerissen und lauerte auf den Effekt, und sein größter Stolz war, die Menschen stufenweise in Bewegung zu setzen. Selbst das tolle Handwerk, das er trieb, nötigte ihn bald, mit einer gewissen Mäßigung zu verfahren, und so lernte er, teils gezwungen, teils aus Instinkt, das, wovon so wenig Schauspieler einen Begriff zu haben scheinen: mit Organ und Gebärden ökonomisch zu sein.

So wußte er selbst rohe und unfreundliche Menschen zu bändigen und für sich zu interessieren. Da er überall mit Nahrung und Obdach zufrieden war, jedes Geschenk dankbar annahm, das man ihm reichte, ja manchmal gar das Geld, wenn er dessen nach seiner Meinung genug hatte, ausschlug, so schickte man ihn mit Empfehlungsschreiben einander zu, und so wanderte er eine ganze Zeit von einem Edelhofe zum andern, wo er manches Vergnügen erregte, manches genoß und nicht ohne die angenehmsten und artigsten Abenteuer blieb.

Bei der innerlichen Kälte seines Gemütes liebte er eigentlich niemand; bei der Klarheit seines Blicks konnte er niemand achten, denn er sah nur immer die äußern Eigenheiten der Menschen und trug sie in seine mimische Sammlung ein. Dabei aber war seine Selbstigkeit äußerst beleidigt, wenn er nicht jedem gefiel und wenn er nicht überall Beifall erregte. Wie dieser zu erlangen sei, darauf hatte er nach und nach so genau achtgegeben und hatte seinen Sinn so geschärft, daß er nicht allein bei seinen Darstellungen, sondern auch im gemeinen Leben nicht mehr anders als schmeicheln konnte. Und so arbeitete seine Gemütsart, sein Talent und seine Lebensart dergestalt wechselsweise gegeneinander, daß er sich unvermerkt zu einem vollkommnen Schauspieler ausgebildet sah. Ja, durch eine seltsam scheinende, aber ganz natürliche Wirkung und Gegenwirkung stieg durch Einsicht und Übung seine Rezitation, Deklamation und sein Gebärdenspiel zu einer hohen Stufe von Wahrheit, Freiheit und Offenheit, indem er im Leben und Umgang immer heimlicher, künstlicher, ja verstellt und ängstlich zu werden schien.

Von seinen Schicksalen und Abenteuern sprechen wir vielleicht an einem andern Orte und bemerken hier nur soviel: daß er in spätern Zeiten, da er schon ein gemachter Mann, im Besitz von entschiedenem Namen und in einer sehr guten, obgleich nicht festen Lage war, sich angewöhnt hatte, im Gespräch auf eine feine Weise teils ironisch, teils spöttisch den Sophisten zu machen und dadurch fast jede ernsthafte Unterhaltung zu zerstören. Besonders gebrauchte er diese Manier gegen Wilhelm, sobald dieser, wie es ihm oft begegnete, ein allgemeines theoretisches Gespräch anzuknüpfen Lust hatte. Dessenungeachtet waren sie sehr gern beisammen, indem durch ihre beiderseitige Denkart die Unterhaltung lebhaft werden mußte. Wilhelm wünschte alles aus den Begriffen, die er gefaßt hatte, zu entwickeln und wollte die Kunst in einem Zusammenhange behandelt haben. Er wollte ausgesprochene Regeln festsetzen, bestimmen, was recht, schön und gut sei und was Beifall verdiene; genug, er behandelte alles auf das ernstlichste. Serlo hingegen nahm die Sache sehr leicht, und indem er niemals direkt auf eine Frage antwortete, wußte er durch eine Geschichte oder einen Schwank die artigste und vergnüglichste Erläuterung beizubringen und die Gesellschaft zu unterrichten, indem er sie erheiterte.

Neunzehntes Kapitel

Indem nun Wilhelm auf diese Weise sehr angenehme Stunden zubrachte, befanden sich Melina und die übrigen in einer desto verdrießlichern Lage. Sie erschienen unserm Freunde manchmal wie böse Geister und machten ihm nicht bloß durch ihre Gegenwart, sondern auch oft durch flämische Gesichter und bittre Reden einen verdrießlichen Augenblick. Serlo hatte sie nicht einmal zu Gastrollen gelassen, geschweige daß er ihnen Hoffnung zum Engagement gemacht hätte, und hatte dessenungeachtet nach und nach ihre sämtlichen Fähigkeiten kennengelernt. Sooft sich Schauspieler bei ihm gesellig versammelten, hatte er die Gewohnheit, lesen zu lassen und manchmal selbst mitzulesen. Er nahm Stücke vor, die noch gegeben werden sollten, die lange nicht gegeben waren, und zwar meistens nur teilweise. So ließ er auch nach einer ersten Aufführung Stellen, bei denen er etwas zu erinnern hatte, wiederholen, vermehrte dadurch die Einsicht der Schauspieler und verstärkte ihre Sicherheit, den rechten Punkt zu treffen. Und wie ein geringer aber richtiger Verstand mehr als ein verworrenes und ungeläutertes Genie zur Zufriedenheit anderer wirken kann, so erhub er mittelmäßige Talente durch die deutliche Einsicht, die er ihnen unmerklich verschaffte, zu einer bewundernswürdigen Fähigkeit. Nicht wenig trug dazu bei, daß er auch Gedichte lesen ließ und in ihnen das Gefühl jenes Reizes erhielt, den ein wohlvorgetragener Rhythmus in unsrer Seele erregt, anstatt daß man bei andern Gesellschaften schon anfing, nur diejenige Prosa vorzutragen, wozu einem jeden der Schnabel gewachsen war.

Bei solchen Gelegenheiten hatte er auch die sämtlichen angekommenen Schauspieler kennenlernen, das, was sie waren und was sie werden konnten, beurteilt und sich in der Stille vorgenommen, von ihren Talenten bei einer Revolution, die seiner Gesellschaft drohete, sogleich Vorteil zu ziehen. Er ließ die Sache eine Weile auf sich beruhen, lehnte alle Interzessionen Wilhelms für sie mit Achselzucken ab, bis er seine Zeit ersah und seinem jungen Freunde ganz unerwartet den Vorschlag tat: er solle doch selbst bei ihm aufs Theater gehen, und unter dieser Bedingung wolle er auch die übrigen engagieren.

»Die Leute müssen also doch so unbrauchbar nicht sein, wie Sie mir solche bisher geschildert haben«, versetzte ihm Wilhelm, »wenn sie jetzt auf einmal zusammen angenommen werden können, und ich dächte, ihre Talente müßten auch ohne mich dieselbigen bleiben.«

Serlo eröffnete ihm darauf unter dem Siegel der Verschwiegenheit seine Lage: wie sein erster Liebhaber Miene mache, ihn bei der Erneuerung des Kontrakts zu steigern, und wie er nicht gesinnt sei, ihm nachzugeben, besonders da die Gunst des Publikums gegen ihn so groß nicht mehr sei. Ließe er diesen gehen, so würde sein ganzer Anhang ihm folgen, wodurch denn die Gesellschaft einige gute, aber auch einige mittelmäßige Glieder verlöre. Hierauf zeigte er Wilhelmen, was er dagegen an ihm, an Laertes, dem alten Polterer und selbst an Frau Melina zu gewinnen hoffe. Ja, er versprach, dem armen Pedanten als Juden, Minister und überhaupt als Bösewicht einen entschiedenen Beifall zu verschaffen.

Wilhelm stutzte und vernahm den Vortrag nicht ohne Unruhe, und nur, um etwas zu sagen, versetzte er, nachdem er tief Atem geholt hatte: »Sie sprechen auf eine sehr freundliche Weise nur von dem Guten, was Sie an uns finden und von uns hoffen; wie sieht es denn aber mit den schwachen Seiten aus, die Ihrem Scharfsinne gewiß nicht entgangen sind?«

»Die wollen wir bald durch Fleiß, Übung und Nachdenken zu starken Seiten machen«, versetzte Serlo. »Es ist unter euch allen, die ihr denn doch nur Naturalisten und Pfuscher seid, keiner, der nicht mehr oder weniger Hoffnung von sich gäbe; denn soviel ich alle beurteilen kann, so ist kein einziger Stock darunter, und Stöcke allein sind die Unverbesserlichen, sie mögen nun aus Eigendünkel, Dummheit oder Hypochondrie ungelenk und unbiegsam sein.«

Serlo legte darauf mit wenigen Worten die Bedingungen dar, die er machen könne und wolle, bat Wilhelmen um schleunige Entscheidung und verließ ihn in nicht geringer Unruhe.

Bei der wunderlichen und gleichsam nur zum Scherz unternommenen Arbeit jener fingierten Reisebeschreibung, die er mit Laertes zusammensetzte, war er auf die Zustände und das tägliche Leben der wirklichen Welt aufmerksamer geworden, als er sonst gewesen war. Er begriff jetzt selbst erst die Absicht des Vaters, als er ihm die Führung des Journals so lebhaft empfohlen. Er fühlte zum ersten Male, wie angenehm und nützlich es sein könne, sich zur Mittelsperson so vieler Gewerbe und Bedürfnisse zu machen und bis in die tiefsten Gebirge und Wälder des festen Landes Leben und Tätigkeit verbreiten zu helfen. Die lebhafte Handelsstadt, in der er sich befand, gab ihm bei der Unruhe des Laertes, der ihn überall mit herumschleppte, den anschaulichsten Begriff eines großen Mittelpunktes, woher alles ausfließt und wohin alles zurückkehrt, und es war das erste Mal, daß sein Geist im Anschauen dieser Art von Tätigkeit sich wirklich ergötzte. In diesem Zustande hatte ihm Serlo den Antrag getan und seine Wünsche, seine Neigung, sein Zutrauen auf ein angebornes Talent und seine Verpflichtung gegen die hülflose Gesellschaft wieder rege gemacht.

»Da steh ich nun«, sagte er zu sich selbst, »abermals am Scheidewege zwischen den beiden Frauen, die mir in meiner Jugend erschienen. Die eine sieht nicht mehr so kümmerlich aus wie damals, und die andere nicht so prächtig. Der einen wie der andern zu folgen, fühlst du eine Art von innerm Beruf, und von beiden Seiten sind die äußern Anlässe stark genug; es scheint dir unmöglich, dich zu entscheiden; du wünschest, daß irgendein Übergewicht von außen deine Wahl bestimmen möge, und doch, wenn du dich recht untersuchst, so sind es nur äußere Umstände, die dir eine Neigung zu Gewerb, Erwerb und Besitz einflößen, aber dein innerstes Bedürfnis erzeugt und nährt den Wunsch, die Anlagen, die in dir zum Guten und Schönen ruhen mögen, sie seien körperlich oder geistig, immer mehr zu entwickeln und auszubilden. Und muß ich nicht das Schicksal verehren, das mich ohne mein Zutun hierher an das Ziel aller meiner Wünsche führt? Geschieht nicht alles, was ich mir ehemals ausgedacht und vorgesetzt, nun zufällig, ohne mein Mitwirken? Sonderbar genug! Der Mensch scheint mit nichts vertrauter zu sein als mit seinen Hoffnungen und Wünschen, die er lange im Herzen nährt und bewahrt, und doch, wenn sie ihm nun begegnen, wenn sie sich ihm gleichsam aufdringen, erkennt er sie nicht und weicht vor ihnen zurück. Alles, was ich mir vor jener unglücklichen Nacht, die mich von Marianen entfernte, nur träumen ließ, steht vor mir und bietet sich mir selbst an. Hierher wollte ich flüchten und bin sachte hergeleitet worden; bei Serlo wollte ich unterzukommen suchen, er sucht nun mich und bietet mir Bedingungen an, die ich als Anfänger nie erwarten konnte. War es denn bloß Liebe zu Marianen, die mich ans Theater fesselte? oder war es Liebe zur Kunst, die mich an das Mädchen festknüpfte? War jene Aussicht, jener Ausweg nach der Bühne bloß einem unordentlichen, unruhigen Menschen willkommen, der ein Leben fortzusetzen wünschte, das ihm die Verhältnisse der bürgerlichen Welt nicht gestatteten, oder war es alles anders, reiner, würdiger? Und was sollte dich bewegen können, deine damaligen Gesinnungen zu ändern? Hast du nicht vielmehr bisher selbst unwissend deinen Plan verfolgt? Ist nicht jetzt der letzte Schritt noch mehr zu billigen, da keine Nebenabsichten dabei im Spiele sind und da du zugleich ein feierlich gegebenes Wort halten und dich auf eine edle Weise von einer schweren Schuld befreien kannst?«

Alles, was in seinem Herzen und seiner Einbildungskraft sich bewegte, wechselte nun auf das lebhafteste gegeneinander ab. Daß er seine Mignon behalten könne, daß er den Harfner nicht zu verstoßen brauche, war kein kleines Gewicht auf der Waagschale, und doch schwankte sie noch hin und wider, als er seine Freundin Aurelie gewohnterweise zu besuchen ging.

Zwanzigstes Kapitel

Er fand sie auf ihrem Ruhebette; sie schien stille. »Glauben Sie noch, morgen spielen zu können?« fragte er. »O ja«, versetzte sie lebhaft; »Sie wissen, daran hindert mich nichts. – Wenn ich nur ein Mittel wüßte, den Beifall unsers Parterres von mir abzulehnen; sie meinen es gut und werden mich noch umbringen. Vorgestern dacht ich, das Herz müßte mir reißen! Sonst konnt ich es wohl leiden, wenn ich mir selbst gefiel; wenn ich lange studiert und mich vorbereitet hatte, dann freute ich mich, wenn das willkommene Zeichen, nun sei es gelungen, von allen Enden widertönte. Jetzo sag ich nicht, was ich will, nicht, wie ich’s will; ich werde hingerissen; ich verwirre mich, und mein Spiel macht einen weit größern Eindruck. Der Beifall wird lauter, und ich denke: Wüßtet ihr, was euch entzückt! Die dunkeln, heftigen, unbestimmten Anklänge rühren euch, zwingen euch Bewundrung ab, und ihr fühlt nicht, daß es die Schmerzenstöne der Unglücklichen sind, der ihr euer Wohlwollen geschenkt habt.

Heute früh hab ich gelernt, jetzt wiederholt und versucht. Ich bin müde, zerbrochen, und morgen geht es wieder von vorn an. Morgen abend soll gespielt werden. So schlepp ich mich hin und her; es ist mir langweilig aufzustehen und verdrießlich, zu Bette zu gehen. Alles macht einen ewigen Zirkel in mir. Dann treten die leidigen Tröstungen vor mir auf, dann werf ich sie weg und verwünsche sie. Ich will mich nicht ergeben, nicht der Notwendigkeit ergeben – warum soll das notwendig sein, was mich zugrunde richtet? Könnte es nicht auch anders sein? Ich muß es eben bezahlen, daß ich eine Deutsche bin; es ist der Charakter der Deutschen, daß sie über allem schwer werden, daß alles über ihnen schwer wird.«

»O meine Freundin«, fiel Wilhelm ein, »könnten Sie doch aufhören, selbst den Dolch zu schärfen, mit dem Sie sich unablässig verwunden! Bleibt Ihnen denn nichts? Ist denn Ihre Jugend, Ihre Gestalt, Ihre Gesundheit, sind Ihre Talente nichts? Wenn Sie ein Gut ohne Ihr Verschulden verloren haben, müssen Sie denn alles übrige hinterdreinwerfen? Ist das auch notwendig?«

Sie schwieg einige Augenblicke, dann fuhr sie auf: »Ich weiß es wohl, daß es Zeitverderb ist, nichts als Zeitverderb ist die Liebe! Was hätte ich nicht tun können! tun sollen! Nun ist alles rein zu nichts geworden. Ich bin ein armes verliebtes Geschöpf, nichts als verliebt! Haben Sie Mitleiden mit mir, bei Gott, ich bin ein armes Geschöpf!«

Sie versank in sich, und nach einer kurzen Pause rief sie heftig aus: »Ihr seid gewohnt, daß sich euch alles an den Hals wirft. Nein, ihr könnt es nicht fühlen, kein Mann ist imstande, den Wert eines Weibes zu fühlen, das sich zu ehren weiß! Bei allen heiligen Engeln, bei allen Bildern der Seligkeit, die sich ein reines, gutmütiges Herz erschafft, es ist nichts Himmlischeres als ein weibliches Wesen, das sich dem geliebten Manne hingibt! Wir sind kalt, stolz, hoch, klar, klug, wenn wir verdienen, Weiber zu heißen, und alle diese Vorzüge legen wir euch zu Füßen, sobald wir lieben, sobald wir hoffen, Gegenliebe zu erwerben. O wie hab ich mein ganzes Dasein so mit Wissen und Willen weggeworfen! Aber nun will ich auch verzweifeln, absichtlich verzweifeln. Es soll kein Blutstropfen in mir sein, der nicht gestraft wird, keine Faser, die ich nicht peinigen will. Lächeln Sie nur, lachen Sie nur über den theatralischen Aufwand von Leidenschaft!«

Fern war von unserm Freunde jede Anwandlung des Lachens. Der entsetzliche, halb natürliche, halb erzwungene Zustand seiner Freundin peinigte ihn nur zu sehr. Er empfand die Foltern der unglücklichen Anspannung mit: sein Gehirn zerrüttete sich, und sein Blut war in einer fieberhaften Bewegung.

Sie war aufgestanden und ging in der Stube hin und wider. »Ich sage mir alles vor«, rief sie aus, »warum ich ihn nicht lieben sollte. Ich weiß auch, daß er es nicht wert ist; ich wende mein Gemüt ab, dahin und dorthin, beschäftige mich, wie es nur gehen will. Bald nehm ich eine Rolle vor, wenn ich sie auch nicht zu spielen habe; ich übe die alten, die ich durch und durch kenne, fleißiger und fleißiger ins einzelne und übe und übe – mein Freund, mein Vertrauter, welche entsetzliche Arbeit ist es, sich mit Gewalt von sich selbst zu entfernen! Mein Verstand leidet, mein Gehirn ist so angespannt; um mich vom Wahnsinne zu retten, überlaß ich mich wieder dem Gefühle, daß ich ihn liebe. – Ja, ich liebe ihn, ich liebe ihn!« rief sie unter tausend Tränen, »ich liebe ihn, und so will ich sterben.«

Er faßte sie bei der Hand und bat sie auf das inständigste, sich nicht selbst aufzureiben. »Oh«, sagte er, »wie sonderbar ist es, daß dem Menschen nicht allein so manches Unmögliche, sondern auch so manches Mögliche versagt ist. Sie waren nicht bestimmt, ein treues Herz zu finden, das Ihre ganze Glückseligkeit würde gemacht haben. Ich war dazu bestimmt, das ganze Heil meines Lebens an eine Unglückliche festzuknüpfen, die ich durch die Schwere meiner Treue wie ein Rohr zu Boden zog, ja vielleicht gar zerbrach.«

Er hatte Aurelien seine Geschichte mit Marianen vertraut und konnte sich also jetzt darauf beziehen. Sie sah ihm starr in die Augen und fragte: »Können Sie sagen, daß Sie noch niemals ein Weib betrogen, daß Sie keiner mit leichtsinniger Galanterie, mit frevelhafter Beteurung, mit herzlockenden Schwüren ihre Gunst abzuschmeicheln gesucht?«

»Das kann ich«, versetzte Wilhelm, »und zwar ohne Ruhmredigkeit: denn mein Leben war sehr einfach, und ich bin selten in die Versuchung geraten zu versuchen. Und welche Warnung, meine schöne, meine edle Freundin, ist mir der traurige Zustand, in den ich Sie versetzt sehe! Nehmen Sie ein Gelübde von mir, das meinem Herzen ganz angemessen ist, das durch die Rührung, die Sie mir einflößten, sich bei mir zur Sprache und Form bestimmt und durch diesen Augenblick geheiligt wird: Jeder flüchtigen Neigung will ich widerstehen und selbst die ernstlichsten in meinem Busen bewahren; kein weibliches Geschöpf soll ein Bekenntnis der Liebe von meinen Lippen vernehmen, dem ich nicht mein ganzes Leben widmen kann!«

Sie sah ihn mit einer wilden Gleichgültigkeit an und entfernte sich, als er ihr die Hand reichte, um einige Schritte. »Es ist nichts daran gelegen!« rief sie, »so viel Weibertränen mehr oder weniger, die See wird darum doch nicht wachsen. Doch«, fuhr sie fort, »unter Tausenden eine gerettet, das ist doch etwas, unter Tausenden einen Redlichen gefunden, das ist anzunehmen! Wissen Sie auch, was Sie versprechen?«

»Ich weiß es«, versetzte Wilhelm lächelnd und hielt seine Hand hin.

»Ich nehm es an«, versetzte sie und machte eine Bewegung mit ihrer Rechten, so daß er glaubte, sie würde die seine fassen; aber schnell fuhr sie in die Tasche, riß den Dolch blitzgeschwind heraus und fuhr mit Spitze und Schneide ihm rasch über die Hand weg. Er zog sie schnell zurück, aber schon lief das Blut herunter.

»Man muß euch Männer scharf zeichnen, wenn ihr merken sollt!« rief sie mit einer wilden Heiterkeit aus, die bald in eine hastige Geschäftigkeit überging. Sie nahm ihr Schnupftuch und umwickelte seine Hand damit, um das erste hervordringende Blut zu stillen. »Verzeihen Sie einer Halbwahnsinnigen«, rief sie aus, »und lassen Sie sich diese Tropfen Bluts nicht reuen. Ich bin versöhnt, ich bin wieder bei mir selber. Auf meinen Knien will ich Abbitte tun, lassen Sie mir den Trost, Sie zu heilen.«

Sie eilte nach ihrem Schranke, holte Leinwand und einiges Gerät, stillte das Blut und besah die Wunde sorgfältig. Der Schnitt ging durch den Ballen gerade unter dem Daumen, teilte die Lebenslinie und lief gegen den kleinen Finger aus. Sie verband ihn still und mit einer nachdenklichen Bedeutsamkeit in sich gekehrt. Er fragte einigemal: »Beste, wie konnten Sie Ihren Freund verletzen?«

»Still«, erwiderte sie, indem sie den Finger auf den Mund legte, »still!«

Fünftes Buch

Erstes Kapitel

So hatte Wilhelm zu seinen zwei kaum geheilten Wunden abermals eine frische dritte, die ihm nicht wenig unbequem war. Aurelie wollte nicht zugeben, daß er sich eines Wundarztes bediente; sie selbst verband ihn unter allerlei wunderlichen Reden, Zeremonien und Sprüchen und setzte ihn dadurch in eine sehr peinliche Lage. Doch nicht er allein, sondern alle Personen, die sich in ihrer Nähe befanden, litten durch ihre Unruhe und Sonderbarkeit; niemand aber mehr als der kleine Felix. Das lebhafte Kind war unter einem solchen Druck höchst ungeduldig und zeigte sich immer unartiger, je mehr sie es tadelte und zurechtwies.

Der Knabe gefiel sich in gewissen Eigenheiten, die man auch Unarten zu nennen pflegt und die sie ihm keinesweges nachzusehen gedachte. Er trank zum Beispiel lieber aus der Flasche als aus dem Glase, und offenbar schmeckten ihm die Speisen aus der Schüssel besser als von dem Teller. Eine solche Unschicklichkeit wurde nicht übersehen, und wenn er nun gar die Türe aufließ oder zuschlug und, wenn ihm etwas befohlen wurde, entweder nicht von der Stelle wich oder ungestüm davonrannte, so mußte er eine große Lektion anhören, ohne daß er darauf je einige Besserung hätte spüren lassen. Vielmehr schien die Neigung zu Aurelien sich täglich mehr zu verlieren; in seinem Tone war nichts Zärtliches, wenn er sie Mutter nannte, er hing vielmehr leidenschaftlich an der alten Amme, die ihm denn freilich allen Willen ließ.

Aber auch diese war seit einiger Zeit so krank geworden, daß man sie aus dem Hause in ein stilles Quartier bringen mußte, und Felix hätte sich ganz allein gesehen, wäre nicht Mignon auch ihm als ein liebevoller Schutzgeist erschienen. Auf das artigste unterhielten sich beide Kinder miteinander; sie lehrte ihm kleine Lieder, und er, der ein sehr gutes Gedächtnis hatte, rezitierte sie oft zur Verwunderung der Zuhörer. Auch wollte sie ihm die Landkarten erklären, mit denen sie sich noch immer sehr abgab, wobei sie jedoch nicht mit der besten Methode verfuhr. Denn eigentlich schien sie bei den Ländern kein besonderes Interesse zu haben, als ob sie kalt oder warm seien. Von den Weltpolen, von dem schrecklichen Eise daselbst und von der zunehmenden Wärme, je mehr man sich von ihnen entfernte, wußte sie sehr gut Rechenschaft zu geben. Wenn jemand reiste, fragte sie nur, ob er nach Norden oder nach Süden gehe, und bemühte sich, die Wege auf ihren kleinen Karten aufzufinden. Besonders wenn Wilhelm von Reisen sprach, war sie sehr aufmerksam und schien sich immer zu betrüben, sobald das Gespräch auf eine andere Materie überging. Sowenig man sie bereden konnte, eine Rolle zu übernehmen oder auch nur, wenn gespielt wurde, auf das Theater zu gehen, so gern und fleißig lernte sie Oden und Lieder auswendig und erregte, wenn sie ein solches Gedicht, gewöhnlich von der ernsten und feierlichen Art, oft unvermutet wie aus dem Stegreife deklamierte, bei jedermann Erstaunen.

Serlo, der auf jede Spur eines aufkeimenden Talentes zu achten gewohnt war, suchte sie aufzumuntern; am meisten aber empfahl sie sich ihm durch einen sehr artigen, mannigfaltigen und manchmal selbst muntern Gesang, und auf ebendiesem Wege hatte sich der Harfenspieler seine Gunst erworben.

Serlo, ohne selbst Genie zur Musik zu haben oder irgendein Instrument zu spielen, wußte ihren hohen Wert zu schätzen; er suchte sich sooft als möglich diesen Genuß, der mit keinem andern verglichen werden kann, zu verschaffen. Er hatte wöchentlich einmal Konzert, und nun hatte sich ihm durch Mignon, den Harfenspieler und Laertes, der auf der Violine nicht ungeschickt war, eine wunderliche kleine Hauskapelle gebildet.

Er pflegte zu sagen: »Der Mensch ist so geneigt, sich mit dem Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne stumpfen sich so leicht gegen die Eindrücke des Schönen und Vollkommenen ab, daß man die Fähigkeit, es zu empfinden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte. Denn einen solchen Genuß kann niemand ganz entbehren, und nur die Ungewohntheit, etwas Gutes zu genießen, ist Ursache, daß viele Menschen schon am Albernen und Abgeschmackten, wenn es nur neu ist, Vergnügen finden. Man sollte«, sagte er, »alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.«

Bei diesen Gesinnungen, die Serlo gewissermaßen natürlich waren, konnte es den Personen, die ihn umgaben, nicht an angenehmer Unterhaltung fehlen. Mitten in diesem vergnüglichen Zustande brachte man Wilhelmen eines Tags einen schwarzgesiegelten Brief. Werners Petschaft deutete auf eine traurige Nachricht, und er erschrak nicht wenig, als er den Tod seines Vaters nur mit einigen Worten angezeigt fand. Nach einer unerwarteten, kurzen Krankheit war er aus der Welt gegangen und hatte seine häuslichen Angelegenheiten in der besten Ordnung hinterlassen.

Diese unvermutete Nachricht traf Wilhelmen im Innersten. Er fühlte tief, wie unempfindlich man oft Freunde und Verwandte, solange sie sich mit uns des irdischen Aufenthaltes erfreuen, vernachlässigt und nur dann erst die Versäumnis bereut, wenn das schöne Verhältnis wenigstens für diesmal aufgehoben ist. Auch konnte der Schmerz über das zeitige Absterben des braven Mannes nur durch das Gefühl gelindert werden, daß er auf der Welt wenig geliebt, und durch die Überzeugung, daß er wenig genossen habe.

Wilhelms Gedanken wandten sich nun bald auf seine eigenen Verhältnisse, und er fühlte sich nicht wenig beunruhigt. Der Mensch kann in keine gefährlichere Lage versetzt werden, als wenn durch äußere Umstände eine große Veränderung seines Zustandes bewirkt wird, ohne daß seine Art zu empfinden und zu denken darauf vorbereitet ist. Es gibt alsdann eine Epoche ohne Epoche, und es entsteht nur ein desto größerer Widerspruch, je weniger der Mensch bemerkt, daß er zu dem neuen Zustande noch nicht ausgebildet sei.

Wilhelm sah sich in einem Augenblicke frei, in welchem er mit sich selbst noch nicht einig werden konnte. Seine Gesinnungen waren edel, seine Absichten lauter, und seine Vorsätze schienen nicht verwerflich. Das alles durfte er sich mit einigem Zutrauen selbst bekennen; allein er hatte Gelegenheit genug gehabt zu bemerken, daß es ihm an Erfahrung fehle, und er legte daher auf die Erfahrung anderer und auf die Resultate, die sie daraus mit Überzeugung ableiteten, einen übermäßigen Wert und kam dadurch nur immer mehr in die Irre. Was ihm fehlte, glaubte er am ersten zu erwerben, wenn er alles Denkwürdige, was ihm in Büchern und im Gespräch vorkommen mochte, zu erhalten und zu sammeln unternähme. Er schrieb daher fremde und eigene Meinungen und Ideen, ja ganze Gespräche, die ihm interessant waren, auf und hielt leider auf diese Weise das Falsche so gut als das Wahre fest, blieb viel zu lange an einer Idee, ja man möchte sagen an einer Sentenz hängen und verließ dabei seine natürliche Denk- und Handelsweise, indem er oft fremden Lichtern als Leitsternen folgte. Aureliens Bitterkeit und seines Freundes Laertes kalte Verachtung der Menschen bestachen öfter als billig war sein Urteil: niemand aber war ihm gefährlicher gewesen als Jarno, ein Mann, dessen heller Verstand von gegenwärtigen Dingen ein richtiges, strenges Urteil fällte, dabei aber den Fehler hatte, daß er diese einzelnen Urteile mit einer Art von Allgemeinheit aussprach, da doch die Aussprüche des Verstandes eigentlich nur einmal, und zwar in dem bestimmtesten Falle gelten und schon unrichtig werden, wenn man sie auf den nächsten anwendet.

So entfernte sich Wilhelm, indem er mit sich selbst einig zu werden strebte, immer mehr von der heilsamen Einheit, und bei dieser Verwirrung ward es seinen Leidenschaften um so leichter, alle Zurüstungen zu ihrem Vorteil zu gebrauchen und ihn über das, was er zu tun hatte, nur noch mehr zu verwirren.

Serlo benutzte die Todespost zu seinem Vorteil, und wirklich hatte er auch täglich immer mehr Ursache, an eine andere Einrichtung seines Schauspiels zu denken. Er mußte entweder seine alten Kontrakte erneuern, wozu er keine große Lust hatte, indem mehrere Mitglieder, die sich für unentbehrlich hielten, täglich unleidlicher wurden; oder er mußte, wohin auch sein Wunsch ging, der Gesellschaft eine ganz neue Gestalt geben.

Ohne selbst in Wilhelmen zu dringen, regte er Aurelien und Philinen auf; und die übrigen Gesellen, die sich nach Engagement sehnten, ließen unserm Freunde gleichfalls keine Ruhe, so daß er mit ziemlicher Verlegenheit an einem Scheidewege stand. Wer hätte gedacht, daß ein Brief von Wernern, der ganz im entgegengesetzten Sinne geschrieben war, ihn endlich zu einer Entschließung hindrängen sollte. Wir lassen nur den Eingang weg und geben übrigens das Schreiben mit weniger Veränderung.

Zweites Kapitel

»– So war es, und so muß es denn auch wohl recht sein, daß jeder bei jeder Gelegenheit seinem Gewerbe nachgeht und seine Tätigkeit zeigt. Der gute Alte war kaum verschieden, als auch in der nächsten Viertelstunde schon nichts mehr nach seinem Sinne im Hause geschah. Freunde, Bekannte und Verwandte drängten sich zu, besonders aber alle Menschenarten, die bei solchen Gelegenheiten etwas zu gewinnen haben. Man brachte, man trug, man zahlte, schrieb und rechnete; die einen holten Wein und Kuchen, die andern tranken und aßen; niemanden sah ich aber ernsthafter beschäftigt als die Weiber, indem sie die Trauer aussuchten.

Du wirst mir also verzeihen, mein Lieber, wenn ich bei dieser Gelegenheit auch an meinen Vorteil dachte, mich deiner Schwester so hilfreich und tätig als möglich zeigte und ihr, sobald es nur einigermaßen schicklich war, begreiflich machte, daß es nunmehr unsre Sache sei, eine Verbindung zu beschleunigen, die unsre Väter aus allzugroßer Umständlichkeit bisher verzögert hatten.

Nun mußt du aber ja nicht denken, daß es uns eingefallen sei, das große, leere Haus in Besitz zu nehmen. Wir sind bescheidner und vernünftiger; unsern Plan sollst du hören. Deine Schwester zieht nach der Heirat gleich in unser Haus herüber, und sogar auch deine Mutter mit.

›Wie ist das möglich?‹ wirst du sagen; ›ihr habt ja selbst in dem Neste kaum Platz.‹ Das ist eben die Kunst, mein Freund! Die geschickte Einrichtung macht alles möglich, und du glaubst nicht, wieviel Platz man findet, wenn man wenig Raum braucht. Das große Haus verkaufen wir, wozu sich sogleich eine gute Gelegenheit darbietet; das daraus gelöste Geld soll hundertfältige Zinsen tragen.

Ich hoffe, du bist damit einverstanden, und wünsche, daß du nichts von den unfruchtbaren Liebhabereien deines Vaters und Großvaters geerbt haben mögest. Dieser setzte seine höchste Glückseligkeit in eine Anzahl unscheinbarer Kunstwerke, die niemand, ich darf wohl sagen niemand, mit ihm genießen konnte: jener lebte in einer kostbaren Einrichtung, die er niemand mit sich genießen ließ. Wir wollen es anders machen, und ich hoffe deine Beistimmung.

Es ist wahr, ich selbst behalte in unserm ganzen Hause keinen Platz als den an meinem Schreibepulte, und noch seh ich nicht ab, wo man künftig eine Wiege hinsetzen will; aber dafür ist der Raum außer dem Hause desto größer. Die Kaffeehäuser und Klubs für den Mann, die Spaziergänge und Spazierfahrten für die Frau, und die schönen Lustörter auf dem Lande für beide. Dabei ist der größte Vorteil, daß auch unser runder Tisch ganz besetzt ist und es dem Vater unmöglich wird, Freunde zu sehen, die sich nur desto leichtfertiger über ihn aufhalten, je mehr er sich Mühe gegeben hat, sie zu bewirten.

Nur nichts Überflüssiges im Hause! nur nicht zu viel Möbeln, Gerätschaften, nur keine Kutsche und Pferde! Nichts als Geld, und dann auf eine vernünftige Weise jeden Tag getan, was dir beliebt. Nur keine Garderobe, immer das Neueste und Beste auf dem Leibe; der Mann mag seinen Rock abtragen und die Frau den ihrigen vertrödeln, sobald er nur einigermaßen aus der Mode kömmt. Es ist mir nichts unerträglicher als so ein alter Kram von Besitztum. Wenn man mir den kostbarsten Edelstein schenken wollte mit der Bedingung, ihn täglich am Finger zu tragen, ich würde ihn nicht annehmen; denn wie läßt sich bei einem toten Kapital nur irgendeine Freude denken? Das ist also mein lustiges Glaubensbekenntnis: seine Geschäfte verrichtet, Geld geschafft, sich mit den Seinigen lustig gemacht und um die übrige Welt sich nicht mehr bekümmert, als insofern man sie nutzen kann.

Nun wirst du aber sagen: ›Wie ist denn in eurem saubern Plane an mich gedacht? Wo soll ich unterkommen, wenn ihr mir das väterliche Haus verkauft und in dem eurigen nicht der mindeste Raum übrigbleibt?‹

Das ist freilich der Hauptpunkt, Brüderchen, und auf den werde ich dir gleich dienen können, wenn ich dir vorher das gebührende Lob über deine vortrefflich angewendete Zeit werde entrichtet haben.

Sage nur, wie hast du es angefangen, in so wenigen Wochen ein Kenner aller nützlichen und interessanten Gegenstände zu werden? Soviel Fähigkeiten ich an dir kenne, hätte ich dir doch solche Aufmerksamkeit und solchen Fleiß nicht zugetraut. Dein Tagebuch hat uns überzeugt, mit welchem Nutzen du die Reise gemacht hast; die Beschreibung der Eisen- und Kupferhämmer ist vortrefflich und zeigt von vieler Einsicht in die Sache. Ich habe sie ehemals auch besucht; aber meine Relation, wenn ich sie dagegenhalte, sieht sehr stümpermäßig aus. Der ganze Brief über die Leinwandfabrikation ist lehrreich und die Anmerkung über die Konkurrenz sehr treffend. An einigen Orten hast du Fehler in der Addition gemacht, die jedoch sehr verzeihlich sind.

Was aber mich und meinen Vater am meisten und höchsten freut, sind deine gründlichen Einsichten in die Bewirtschaftung und besonders in die Verbesserung der Feldgüter. Wir haben Hoffnung, ein großes Gut, das in Sequestration liegt, in einer sehr fruchtbaren Gegend zu erkaufen. Wir wenden das Geld, das wir aus dem väterlichen Hause lösen, dazu an; ein Teil wird geborgt, und ein Teil kann stehenbleiben; und wir rechnen auf dich, daß du dahin ziehst, den Verbesserungen vorstehst, und so kann, um nicht zuviel zu sagen, das Gut in einigen Jahren um ein Drittel an Wert steigen; man verkauft es wieder, sucht ein größeres, verbessert und handelt wieder, und dazu bist du der Mann. Unsere Federn sollen indes zu Hause nicht müßig sein, und wir wollen uns bald in einen beneidenswerten Zustand versetzen.

Jetzt lebe wohl! Genieße das Leben auf der Reise und ziehe hin, wo du es vergnüglich und nützlich findest. Vor dem ersten halben Jahre bedürfen wir deiner nicht; du kannst dich also nach Belieben in der Welt umsehen: denn die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen. Lebe wohl, ich freue mich, so nahe mit dir verbunden, auch nunmehr im Geist der Tätigkeit mit dir vereint zu werden.«

So gut dieser Brief geschrieben war und soviel ökonomische Wahrheiten er enthalten mochte, mißfiel er doch Wilhelmen auf mehr als eine Weise. Das Lob, das er über seine fingierten statistischen, technologischen und ruralischen Kenntnisse erhielt, war ihm ein stiller Vorwurf; und das Ideal, das ihm sein Schwager vom Glück des bürgerlichen Lebens vorzeichnete, reizte ihn keineswegs; vielmehr ward er durch einen heimlichen Geist des Widerspruchs mit Heftigkeit auf die entgegengesetzte Seite getrieben. Er überzeugte sich, daß er nur auf dem Theater die Bildung, die er sich zu geben wünschte, vollenden könne, und schien in seinem Entschlusse nur desto mehr bestärkt zu werden, je lebhafter Werner, ohne es zu wissen, sein Gegner geworden war. Er faßte darauf alle seine Argumente zusammen und bestätigte bei sich seine Meinung nur um desto mehr, je mehr er Ursache zu haben glaubte, sie dem klugen Werner in einem günstigen Lichte darzustellen, und auf diese Weise entstand eine Antwort, die wir gleichfalls einrücken.

Drittes Kapitel

»Dein Brief ist so wohl geschrieben und so gescheit und klug gedacht, daß sich nichts mehr dazusetzen läßt. Du wirst mir aber verzeihen, wenn ich sage, daß man gerade das Gegenteil davon meinen, behaupten und tun und doch auch recht haben kann. Deine Art, zu sein und zu denken, geht auf einen unbeschränkten Besitz und auf eine leichte, lustige Art zu genießen hinaus, und ich brauche dir kaum zu sagen, daß ich daran nichts, was mich reizte, finden kann.

Zuerst muß ich dir leider bekennen, daß mein Tagebuch aus Not, um meinem Vater gefällig zu sein, mit Hülfe eines Freundes aus mehreren Büchern zusammengeschrieben ist und daß ich wohl die darin enthaltenen Sachen und noch mehrere dieser Art weiß, aber keineswegs verstehe noch mich damit abgeben mag. Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren, wenn mein eigenes Inneres voller Schlacken ist? und was, ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber uneins bin?

Daß ich dir’s mit einem Worte sage: mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht. Noch hege ich ebendiese Gesinnungen, nur daß mir die Mittel, die mir es möglich machen werden, etwas deutlicher sind. Ich habe mehr Welt gesehen, als du glaubst, und sie besser benutzt, als du denkst. Schenke deswegen dem, was ich sage, einige Aufmerksamkeit, wenn es gleich nicht ganz nach deinem Sinne sein sollte.

Wäre ich ein Edelmann, so wäre unser Streit bald abgetan; da ich aber nur ein Bürger bin, so muß ich einen eigenen Weg nehmen, und ich wünsche, daß du mich verstehen mögest. Ich weiß nicht, wie es in fremden Ländern ist, aber in Deutschland ist nur dem Edelmann eine gewisse allgemeine, wenn ich sagen darf personelle Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienst erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden; seine Persönlichkeit geht aber verloren, er mag sich stellen, wie er will. Indem es dem Edelmann, der mit den Vornehmsten umgeht, zur Pflicht wird, sich selbst einen vornehmen Anstand zu geben, indem dieser Anstand, da ihm weder Tür noch Tor verschlossen ist, zu einem freien Anstand wird, da er mit seiner Figur, mit seiner Person, es sei bei Hofe oder bei der Armee, bezahlen muß: so hat er Ursache, etwas auf sie zu halten und zu zeigen, daß er etwas auf sie hält. Eine gewisse feierliche Grazie bei gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen läßt, daß er überall im Gleichgewicht steht. Er ist eine öffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer seine Stimme, je gehaltner und gemessener sein ganzes Wesen ist, desto vollkommner ist er. Wenn er gegen Hohe und Niedre, gegen Freunde und Verwandte immer ebenderselbe bleibt, so ist nichts an ihm auszusetzen, man darf ihn nicht anders wünschen. Er sei kalt, aber verständig; verstellt, aber klug. Wenn er sich äußerlich in jedem Momente seines Lebens zu beherrschen weiß, so hat niemand eine weitere Forderung an ihn zu machen, und alles übrige, was er an und um sich hat, Fähigkeit, Talent, Reichtum, alles scheinen nur Zugaben zu sein.

Nun denke dir irgendeinen Bürger, der an jene Vorzüge nur einigen Anspruch zu machen gedächte; durchaus muß es ihm mißlingen, und er müßte desto unglücklicher werden, je mehr sein Naturell ihm zu jener Art zu sein Fähigkeit und Trieb gegeben hätte.

Wenn der Edelmann im gemeinen Leben gar keine Grenzen kennt, wenn man aus ihm Könige oder königähnliche Figuren erschaffen kann, so darf er überall mit einem stillen Bewußtsein vor seinesgleichen treten; er darf überall vorwärtsdringen, anstatt daß dem Bürger nichts besser ansteht als das reine, stille Gefühl der Grenzlinie, die ihm gezogen ist. Er darf nicht fragen: ›Was bist du?‹ sondern nur: ›Was hast du? welche Einsicht, welche Kenntnis, welche Fähigkeit, wieviel Vermögen?‹ Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine Persönlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und was er scheinen will, ist lächerlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten und schaffen; er soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon vorausgesetzt, daß in seinem Wesen keine Harmonie sei noch sein dürfe, weil er, um sich auf eine Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß.

An diesem Unterschiede ist nicht etwa die Anmaßung der Edelleute und die Nachgiebigkeit der Bürger, sondern die Verfassung der Gesellschaft selbst schuld; ob sich daran einmal etwas ändern wird und was sich ändern wird, bekümmert mich wenig; genug, ich habe, wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken und wie ich mich selbst und das, was mir ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette und erreiche.

Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. Ich habe, seit ich dich verlassen, durch Leibesübung viel gewonnen; ich habe viel von meiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt und stelle mich so ziemlich dar. Ebenso habe ich meine Sprache und Stimme ausgebildet, und ich darf ohne Eitelkeit sagen, daß ich in Gesellschaften nicht mißfalle. Nun leugne ich dir nicht, daß mein Trieb täglich unüberwindlicher wird, eine öffentliche Person zu sein und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken. Dazu kömmt meine Neigung zur Dichtkunst und zu allem, was mit ihr in Verbindung steht, und das Bedürfnis, meinen Geist und Geschmack auszubilden, damit ich nach und nach auch bei dem Genuß, den ich nicht entbehren kann, nur das Gute wirklich für gut, und das Schöne für schön halte. Du siehst wohl, daß das alles für mich nur auf dem Theater zu finden ist und daß ich mich in diesem einzigen Elemente nach Wunsch rühren und ausbilden kann. Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen; Geist und Körper müssen bei jeder Bemühung gleichen Schritt gehen, und ich werde da so gut sein und scheinen können als irgend anderswo. Suche ich daneben noch Beschäftigungen, so gibt es dort mechanische Quälereien genug, und ich kann meiner Geduld tägliche Übung verschaffen.

Disputiere mit mir nicht darüber; denn eh du mir schreibst, ist der Schritt schon geschehen. Wegen der herrschenden Vorurteile will ich meinen Namen verändern, weil ich mich ohnehin schäme, als Meister aufzutreten. Lebe wohl. Unser Vermögen ist in so guter Hand, daß ich mich darum gar nicht bekümmere; was ich brauche, verlange ich gelegentlich von dir; es wird nicht viel sein, denn ich hoffe, daß mich meine Kunst auch nähren soll.«

Der Brief war kaum abgeschickt, als Wilhelm auf der Stelle Wort hielt und zu Serlos und der übrigen großen Verwunderung sich auf einmal erklärte: daß er sich zum Schauspieler widme und einen Kontrakt auf billige Bedingungen eingehen wolle. Man war hierüber bald einig, denn Serlo hatte schon früher sich so erklärt, daß Wilhelm und die übrigen damit gar wohl zufrieden sein konnten. Die ganze verunglückte Gesellschaft, mit der wir uns so lange unterhalten haben, ward auf einmal angenommen, ohne daß jedoch, außer etwa Laertes, sich einer gegen Wilhelmen dankbar erzeigt hätte. Wie sie ohne Zutrauen gefordert hatten, so empfingen sie ohne Dank. Die meisten wollten lieber ihre Anstellung dem Einflusse Philinens zuschreiben und richteten ihre Danksagungen an sie. Indessen wurden die ausgefertigten Kontrakte unterschrieben, und durch eine unerklärliche Verknüpfung von Ideen entstand vor Wilhelms Einbildungskraft in dem Augenblicke, als er seinen fingierten Namen unterzeichnete, das Bild jenes Waldplatzes, wo er verwundet in Philinens Schoß gelegen. Auf einem Schimmel kam die liebenswürdige Amazone aus den Büschen, nahte sich ihm und stieg ab. Ihr menschenfreundliches Bemühen hieß sie gehen und kommen; endlich stand sie vor ihm. Das Kleid fiel von ihren Schultern; ihr Gesicht, ihre Gestalt fing an zu glänzen, und sie verschwand. So schrieb er seinen Namen nur mechanisch hin, ohne zu wissen, was er tat, und fühlte erst, nachdem er unterzeichnet hatte, daß Mignon an seiner Seite stand, ihn am Arm hielt und ihm die Hand leise wegzuziehen versucht hatte.

Viertes Kapitel

Eine der Bedingungen, unter denen Wilhelm sich aufs Theater begab, war von Serlo nicht ohne Einschränkung zugestanden worden. Jener verlangte, daß »Hamlet« ganz und unzerstückt aufgeführt werden sollte, und dieser ließ sich das wunderliche Begehren insofern gefallen, als es möglich sein würde. Nun hatten sie hierüber bisher manchen Streit gehabt; denn was möglich oder nicht möglich sei und was man von dem Stück weglassen könne, ohne es zu zerstücken, darüber waren beide sehr verschiedener Meinung.

Wilhelm befand sich noch in den glücklichen Zeiten, da man nicht begreifen kann, daß an einem geliebten Mädchen, an einem verehrten Schriftsteller irgend etwas mangelhaft sein könne. Unsere Empfindung von ihnen ist so ganz, so mit sich selbst übereinstimmend, daß wir uns auch in ihnen eine solche vollkommene Harmonie denken müssen. Serlo hingegen sonderte gern und beinah zuviel; sein scharfer Verstand wollte in einem Kunstwerke gewöhnlich nur ein mehr oder weniger unvollkommenes Ganze erkennen. Er glaubte, so wie man die Stücke finde, habe man wenig Ursache, mit ihnen so gar bedächtig umzugehen, und so mußte auch Shakespeare, so mußte besonders »Hamlet« vieles leiden.

Wilhelm wollte gar nicht hören, wenn jener von der Absonderung der Spreu von dem Weizen sprach. »Es ist nicht Spreu und Weizen durcheinander«, rief dieser, »es ist ein Stamm, Äste, Zweige, Blätter, Knospen, Blüten und Früchte. Ist nicht eins mit dem andern und durch das andere?« Jener behauptete, man bringe nicht den ganzen Stamm auf den Tisch; der Künstler müsse goldene Äpfel in silbernen Schalen seinen Gästen reichen. Sie erschöpften sich in Gleichnissen, und ihre Meinungen schienen sich immer weiter voneinander zu entfernen.

Gar verzweifeln wollte unser Freund, als Serlo ihm einst nach langem Streit das einfachste Mittel anriet, sich kurz zu resolvieren, die Feder zu ergreifen und in dem Trauerspiele, was eben nicht gehen wolle noch könne, abzustreichen, mehrere Personen in eine zu drängen, und wenn er mit dieser Art noch nicht bekannt genug sei oder noch nicht Herz genug dazu habe, so solle er ihm die Arbeit überlassen, und er wolle bald fertig sein.

»Das ist nicht unserer Abrede gemäß«, versetzte Wilhelm. »Wie können Sie bei soviel Geschmack so leichtsinnig sein?«

»Mein Freund«, rief Serlo aus, »Sie werden es auch schon werden. Ich kenne das Abscheuliche dieser Manier nur zu wohl, die vielleicht noch auf keinem Theater in der Welt stattgefunden hat. Aber wo ist auch eins so verwahrlost als das unsere? Zu dieser ekelhaften Verstümmelung zwingen uns die Autoren, und das Publikum erlaubt sie. Wieviel Stücke haben wir denn, die nicht über das Maß des Personals, der Dekorationen und Theatermechanik, der Zeit, des Dialogs und der physischen Kräfte des Akteurs hinausschritten? Und doch sollen wir spielen und immer spielen und immer neu spielen. Sollen wir uns dabei nicht unsers Vorteils bedienen, da wir mit zerstückelten Werken ebensoviel ausrichten als mit ganzen? Setzt uns das Publikum doch selbst in den Vorteil! Wenig Deutsche, und vielleicht nur wenige Menschen aller neuern Nationen haben Gefühl für ein ästhetisches Ganze; sie loben und tadeln nur stellenweise; sie entzücken sich nur stellenweise: und für wen ist das ein größeres Glück als für den Schauspieler, da das Theater immer nur ein gestoppeltes und gestückeltes Wesen bleibt.«

»Ist!« versetzte Wilhelm; »aber muß es denn auch so bleiben, muß denn alles bleiben, was ist? Überzeugen Sie mich ja nicht, daß Sie recht haben; denn keine Macht in der Welt würde mich bewegen können, einen Kontrakt zu halten, den ich nur im gröbsten Irrtum geschlossen hätte.«

Serlo gab der Sache eine lustige Wendung und ersuchte Wilhelmen, ihre öftern Gespräche über »Hamlet« nochmals zu bedenken und selbst die Mittel zu einer glücklichen Bearbeitung zu ersinnen.

Nach einigen Tagen, die er in der Einsamkeit zugebracht hatte, kam Wilhelm mit frohem Blicke zurück. »Ich müßte mich sehr irren«, rief er aus, »wenn ich nicht gefunden hätte, wie dem Ganzen zu helfen ist; ja ich bin überzeugt, daß Shakespeare es selbst so würde gemacht haben, wenn sein Genie nicht auf die Hauptsache so sehr gerichtet und nicht vielleicht durch die Novellen, nach denen er arbeitete, verführt worden wäre.«

»Lassen Sie hören«, sagte Serlo, indem er sich gravitätisch aufs Kanapee setzte; »ich werde ruhig aufhorchen, aber auch desto strenger richten.«

Wilhelm versetzte: »Mir ist nicht bange; hören Sie nur. Ich unterscheide nach der genausten Untersuchung, nach der reiflichsten Überlegung in der Komposition dieses Stücks zweierlei: das erste sind die großen innern Verhältnisse der Personen und der Begebenheiten, die mächtigen Wirkungen, die aus den Charakteren und Handlungen der Hauptfiguren entstehen, und diese sind einzeln vortrefflich und die Folge, in der sie aufgestellt sind, unverbesserlich. Sie können durch keine Art von Behandlung zerstört, ja kaum verunstaltet werden. Diese sind’s, die jedermann zu sehen verlangt, die niemand anzutasten wagt, die sich tief in die Seele eindrücken und die man, wie ich höre, beinahe alle auf das deutsche Theater gebracht hat. Nur hat man, wie ich glaube, darin gefehlt, daß man das zweite, was bei diesem Stück zu bemerken ist, ich meine die äußern Verhältnisse der Personen, wodurch sie von einem Orte zum andern gebracht oder auf diese und jene Weise durch gewisse zufällige Begebenheiten verbunden werden, für allzu unbedeutend angesehen, nur im Vorbeigehn davon gesprochen oder sie gar weggelassen hat. Freilich sind diese Fäden nur dünn und lose, aber sie gehen doch durch’s ganze Stück und halten zusammen, was sonst auseinanderfiele, auch wirklich auseinanderfällt, wenn man sie wegschneidet und ein übriges getan zu haben glaubt, daß man die Enden stehenläßt.

Zu diesen äußern Verhältnissen zähle ich die Unruhen in Norwegen, den Krieg mit dem jungen Fortinbras, die Gesandtschaft an den alten Oheim, den geschlichteten Zwist, den Zug des jungen Fortinbras nach Polen und seine Rückkehr am Ende; ingleichen die Rückkehr des Horatio von Wittenberg, die Lust Hamlets, dahin zu gehen, die Reise des Laertes nach Frankreich, seine Rückkunft, die Verschickung Hamlets nach England, seine Gefangenschaft beim Seeräuber, der Tod der beiden Hofleute auf den Uriasbrief: alles dieses sind Umstände und Begebenheiten, die einen Roman weit und breit machen können, die aber der Einheit dieses Stücks, in dem besonders der Held keinen Plan hat, auf das äußerste schaden und höchst fehlerhaft sind.«

»So höre ich Sie einmal gerne!« rief Serlo.

»Fallen Sie mir nicht ein«, versetzte Wilhelm, »Sie möchten mich nicht immer loben. Diese Fehler sind wie flüchtige Stützen eines Gebäudes, die man nicht wegnehmen darf, ohne vorher eine feste Mauer unterzuziehen. Mein Vorschlag ist also, an jenen ersten, großen Situationen gar nicht zu rühren, sondern sie sowohl im ganzen als einzelnen möglichst zu schonen, aber diese äußern, einzelnen, zerstreuten und zerstreuenden Motive alle auf einmal wegzuwerfen und ihnen ein einziges zu substituieren.«

»Und das wäre?« fragte Serlo, indem er sich aus seiner ruhigen Stellung aufhob.

»Es liegt auch schon im Stücke«, erwiderte Wilhelm, »nur mache ich den rechten Gebrauch davon. Es sind die Unruhen in Norwegen. Hier haben Sie meinen Plan zur Prüfung.

Nach dem Tode des alten Hamlet werden die erst eroberten Norweger unruhig. Der dortige Statthalter schickt seinen Sohn Horatio, einen alten Schulfreund Hamlets, der aber an Tapferkeit und Lebensklugheit allen andern vorgelaufen ist, nach Dänemark, auf die Ausrüstung der Flotte zu dringen, welche unter dem neuen, der Schwelgerei ergebenen König nur saumselig vonstatten geht. Horatio kennt den alten König, denn er hat seinen letzten Schlachten beigewohnt, hat bei ihm in Gunsten gestanden, und die erste Geisterszene wird dadurch nicht verlieren. Der neue König gibt sodann dem Horatio Audienz und schickt den Laertes nach Norwegen mit der Nachricht, daß die Flotte bald anlanden werde, indes Horatio den Auftrag erhält, die Rüstung derselben zu beschleunigen; dagegen will die Mutter nicht einwilligen, daß Hamlet, wie er wünschte, mit Horatio zur See gehe.«

»Gott sei Dank!« rief Serlo, »so werden wir auch Wittenberg und die hohe Schule los, die mir immer ein leidiger Anstoß war. Ich finde Ihren Gedanken recht gut: denn außer den zwei einzigen fernen Bildern, Norwegen und der Flotte, braucht der Zuschauer sich nichts zu denken; das übrige sieht er alles, das übrige geht alles vor, anstatt daß sonst seine Einbildungskraft in der ganzen Welt herumgejagt würde.«

»Sie sehen leicht«, versetzte Wilhelm, »wie ich nunmehr auch das übrige zusammenhalten kann. Wenn Hamlet dem Horatio die Missetat seines Stiefvaters entdeckt, so rät ihm dieser, mit nach Norwegen zu gehen, sich der Armee zu versichern und mit gewaffneter Hand zurückzukehren. Da Hamlet dem König und der Königin zu gefährlich wird, haben sie kein näheres Mittel, ihn loszuwerden, als ihn nach der Flotte zu schicken und ihm Rosenkranz und Güldenstern zu Beobachtern mitzugeben; und da indes Laertes zurückkommt, soll dieser bis zum Meuchelmord erhitzte Jüngling ihm nachgeschickt werden. Die Flotte bleibt wegen ungünstigen Windes liegen; Hamlet kehrt nochmals zurück, seine Wanderung über den Kirchhof kann vielleicht glücklich motiviert werden; sein Zusammentreffen mit Laertes in Opheliens Grabe ist ein großer, unentbehrlicher Moment. Hierauf mag der König bedenken, daß es besser sei, Hamlet auf der Stelle loszuwerden; das Fest der Abreise, der scheinbaren Versöhnung mit Laertes wird nun feierlich begangen, wobei man Ritterspiele hält und auch Hamlet und Laertes fechten. Ohne die vier Leichen kann ich das Stück nicht schließen; es darf niemand übrigbleiben. Hamlet gibt, da nun das Wahlrecht des Volks wieder eintritt, seine Stimme sterbend dem Horatio.«

»Nur geschwind«, versetzte Serlo, »setzen Sie sich hin und arbeiten das Stück aus; die Idee hat völlig meinen Beifall; nur daß die Lust nicht verraucht.«

Fünftes Kapitel

Wilhelm hatte sich schon lange mit einer Übersetzung »Hamlets« abgegeben; er hatte sich dabei der geistvollen Wielandschen Arbeit bedient, durch die er überhaupt Shakespearen zuerst kennenlernte. Was in derselben ausgelassen war, fügte er hinzu, und so war er im Besitz eines vollständigen Exemplars in dem Augenblicke, da er mit Serlo über die Behandlung so ziemlich einig geworden war. Er fing nun an, nach seinem Plane auszuheben und einzuschieben, zu trennen und zu verbinden, zu verändern und oft wiederherzustellen; denn so zufrieden er auch mit seiner Idee war, so schien ihm doch bei der Ausführung immer, daß das Original nur verdorben werde.

Sobald er fertig war, las er es Serlo und der übrigen Gesellschaft vor. Sie bezeugten sich sehr zufrieden damit; besonders machte Serlo manche günstige Bemerkung.

»Sie haben«, sagte er unter anderm, »sehr richtig empfunden, daß äußere Umstände dieses Stück begleiten, aber einfacher sein müssen, als sie uns der große Dichter gegeben hat. Was außer dem Theater vorgeht, was der Zuschauer nicht sieht, was er sich vorstellen muß, ist wie ein Hintergrund, vor dem die spielenden Figuren sich bewegen. Die große, einfache Aussicht auf die Flotte und Norwegen wird dem Stücke sehr gut tun; nähme man sie ganz weg, so ist es nur eine Familienszene, und der große Begriff, daß hier ein ganzes königliches Haus durch innere Verbrechen und Ungeschicklichkeiten zugrunde geht, wird nicht in seiner ganzen Würde dargestellt. Bliebe aber jener Hintergrund selbst mannigfaltig, beweglich, konfus: so täte er dem Eindrucke der Figuren Schaden.«

Wilhelm nahm nun wieder die Partie Shakespeares und zeigte, daß er für Insulaner geschrieben habe, für Engländer, die selbst im Hintergrunde nur Schiffe und Seereisen, die Küste von Frankreich und Kaper zu sehen gewohnt sind, und daß, was jenen etwas ganz Gewöhnliches sei, uns schon zerstreue und verwirre.

Serlo mußte nachgeben, und beide stimmten darin überein, daß, da das Stück nun einmal auf das deutsche Theater solle, dieser ernstere, einfachere Hintergrund für unsre Vorstellungsart am besten passen werde.

Die Rollen hatte man schon früher ausgeteilt; den Polonius übernahm Serlo; Aurelie Ophelien; Laertes war durch seinen Namen schon bezeichnet; ein junger, untersetzter, muntrer, neuangekommener Jüngling erhielt die Rolle des Horatio; nur wegen des Königs und des Geistes war man in einiger Verlegenheit. Für beide Rollen war nur der alte Polterer da. Serlo schlug den Pedanten zum Könige vor; wogegen Wilhelm aber aufs äußerste protestierte. Man konnte sich nicht entschließen.

Ferner hatte Wilhelm in seinem Stücke die beiden Rollen von Rosenkranz und Güldenstern stehenlassen. »Warum haben Sie diese nicht in eine verbunden?« fragte Serlo, »diese Abbreviatur ist doch so leicht gemacht.«

»Gott bewahre mich vor solchen Verkürzungen, die zugleich Sinn und Wirkung aufheben!« versetzte Wilhelm. »Das, was diese beiden Menschen sind und tun, kann nicht durch einen vorgestellt werden. In solchen Kleinigkeiten zeigt sich Shakespeares Größe. Dieses leise Auftreten, dieses Schmiegen und Biegen, dies Jasagen, Streicheln und Schmeicheln, diese Behendigkeit, dies Schwänzeln, diese Allheit und Leerheit, diese rechtliche Schurkerei, diese Unfähigkeit, wie kann sie durch einen Menschen ausgedrückt werden? Es sollten ihrer wenigstens ein Dutzend sein, wenn man sie haben könnte; denn sie sind bloß in Gesellschaft etwas, sie sind die Gesellschaft, und Shakespeare war sehr bescheiden und weise, daß er nur zwei solche Repräsentanten auftreten ließ. Überdies brauche ich sie in meiner Bearbeitung als ein Paar, das mit dem einen, guten, trefflichen Horatio kontrastiert.«

»Ich verstehe Sie«, sagte Serlo, »und wir können uns helfen. Den einen geben wir Elmiren (so nannte man die älteste Tochter des Polterers); es kann nicht schaden, wenn sie gut aussehen, und ich will die Puppen putzen und dressieren, daß es eine Lust sein soll.«

Philine freute sich außerordentlich, daß sie die Herzogin in der kleinen Komödie spielen sollte. »Das will ich so natürlich machen«, rief sie aus, »wie man in der Geschwindigkeit einen zweiten heiratet, nachdem man den ersten ganz außerordentlich geliebt hat. Ich hoffe mir den größten Beifall zu erwerben, und jeder Mann soll wünschen, der dritte zu werden.«

Aurelie machte ein verdrießliches Gesicht bei diesen Äußerungen; ihr Widerwille gegen Philinen nahm mit jedem Tage zu.

»Es ist recht schade«, sagte Serlo, »daß wir kein Ballett haben; sonst sollten Sie mir mit Ihrem ersten und zweiten Manne ein Pas de deux tanzen, und der Alte sollte nach dem Takt einschlafen, und Ihre Füßchen und Wädchen würden sich dort hinten auf dem Kindertheater ganz allerliebst ausnehmen.«

»Von meinen Wädchen wissen Sie ja wohl nicht viel«, versetzte sie schnippisch, »und was meine Füßchen betrifft«, rief sie, indem sie schnell unter den Tisch reichte, ihre Pantöffelchen heraufholte und nebeneinander vor Serlo hinstellte: »hier sind die Stelzchen, und ich gebe Ihnen auf, niedlichere zu finden.«

»Es war Ernst!« sagte er, als er die zierlichen Halbschuhe betrachtete. Gewiß, man konnte nicht leicht etwas Artigers sehen.

Sie waren Pariser Arbeit; Philine hatte sie von der Gräfin zum Geschenk erhalten, einer Dame, deren schöner Fuß berühmt war.

»Ein reizender Gegenstand!« rief Serlo, »das Herz hüpft mir, wenn ich sie ansehe.«

»Welche Verzuckungen!« sagte Philine.

»Es geht nichts über ein Paar Pantöffelchen von so feiner, schöner Arbeit«, rief Serlo; »doch ist ihr Klang noch reizender als ihr Anblick.« Er hub sie auf und ließ sie einigemal hintereinander wechselsweise auf den Tisch fallen.

»Was soll das heißen? Nur wieder her damit!« rief Philine.

»Darf ich sagen«, versetzte er mit verstellter Bescheidenheit und schalkhaftem Ernst, »wir andern Junggesellen, die wir nachts meist allein sind und uns doch wie andre Menschen fürchten und im Dunkeln uns nach Gesellschaft sehnen, besonders in Wirtshäusern und fremden Orten, wo es nicht ganz geheuer ist, wir finden es gar tröstlich, wenn ein gutherziges Kind uns Gesellschaft und Beistand leisten will. Es ist Nacht, man liegt im Bette, es raschelt, man schaudert, die Türe tut sich auf, man erkennt ein liebes, pisperndes Stimmchen, es schleicht was herbei, die Vorhänge rauschen, klipp! klapp! die Pantoffeln fallen, und husch! man ist nicht mehr allein. Ach der liebe, der einzige Klang, wenn die Absätzchen auf den Boden aufschlagen! Je zierlicher sie sind, je feiner klingt’s. Man spreche mir von Philomelen, von rauschenden Bächen, vom Säuseln der Winde und von allem, was je georgelt und gepfiffen worden ist, ich halte mich an das Klipp! Klapp! – Klipp! Klapp! ist das schönste Thema zu einem Rondeau, das man immer wieder von vorne zu hören wünscht.«

Philine nahm ihm die Pantoffeln aus den Händen und sagte: »Wie ich sie krummgetreten habe! Sie sind mir viel zu weit.« Dann spielte sie damit und rieb die Sohlen gegeneinander. »Was das heiß wird!« rief sie aus, indem sie die eine Sohle flach an die Wange hielt, dann wieder rieb und sie gegen Serlo hinreichte. Er war gutmütig genug, nach der Wärme zu fühlen, und »Klipp! Klapp!« rief sie, indem sie ihm einen derben Schlag mit dem Absatz versetzte, daß er schreiend die Hand zurückzog. »Ich will euch lehren, bei meinen Pantoffeln was anders denken!« sagte Philine lachend.

»Und ich will dich lehren, alte Leute wie Kinder anführen!« rief Serlo dagegen, sprang auf, faßte sie mit Heftigkeit und raubte ihr manchen Kuß, deren jeden sie sich mit ernstlichem Widerstreben gar künstlich abzwingen ließ. Über dem Balgen fielen ihre langen Haare herunter und wickelten sich um die Gruppe, der Stuhl schlug an den Boden, und Aurelie, die von diesem Unwesen innerlich beleidigt war, stand mit Verdruß auf.

Sechstes Kapitel

Obgleich bei der neuen Bearbeitung »Hamlets« manche Personen weggefallen waren, so blieb die Anzahl derselben doch immer noch groß genug, und fast wollte die Gesellschaft nicht hinreichen.

»Wenn das so fortgeht«, sagte Serlo, »wird unser Souffleur auch noch aus dem Loche hervorsteigen müssen, unter uns wandeln und zur Person werden.«

»Schon oft habe ich ihn an seiner Stelle bewundert«, versetzte Wilhelm.

»Ich glaube nicht, daß es einen vollkommenern Einhelfer gibt«, sagte Serlo. »Kein Zuschauer wird ihn jemals hören; wir auf dem Theater verstehen jede Silbe. Er hat sich gleichsam ein eigen Organ dazu gemacht und ist wie ein Genius, der uns in der Not vernehmlich zulispelt. Er fühlt, welchen Teil seiner Rolle der Schauspieler vollkommen innehat, und ahnet von weitem, wenn ihn das Gedächtnis verlassen will. In einigen Fällen, da ich die Rolle kaum überlesen konnte, da er sie mir Wort vor Wort vorsagte, spielte ich sie mit Glück; nur hat er Sonderbarkeiten, die jeden andern unbrauchbar machen würden: er nimmt so herzlichen Anteil an den Stücken, daß er pathetische Stellen nicht eben deklamiert, aber doch affektvoll rezitiert. Mit dieser Unart hat er mich mehr als einmal irregemacht.«

»So wie er mich«, sagte Aurelie, »mit einer andern Sonderbarkeit einst an einer sehr gefährlichen Stelle steckenließ.«

»Wie war das bei seiner Aufmerksamkeit möglich?« fragte Wilhelm.

»Er wird«, versetzte Aurelie, »bei gewissen Stellen so gerührt, daß er heiße Tränen weint und einige Augenblicke ganz aus der Fassung kommt; und es sind eigentlich nicht die sogenannten rührenden Stellen, die ihn in diesen Zustand versetzen; es sind, wenn ich mich deutlich ausdrücke, die schönen Stellen, aus welchen der reine Geist des Dichters gleichsam aus hellen, offenen Augen hervorsieht, Stellen, bei denen wir andern uns nur höchstens freuen und worüber viele Tausende wegsehen.«

»Und warum erscheint er mit dieser zarten Seele nicht auf dem Theater?«

»Ein heiseres Organ und ein steifes Betragen schließen ihn von der Bühne und seine hypochondrische Natur von der Gesellschaft aus«, versetzte Serlo. »Wieviel Mühe habe ich mir gegeben, ihn an mich zu gewöhnen! aber vergebens. Er liest vortrefflich, wie ich nicht wieder habe lesen hören; niemand hält wie er die zarte Grenzlinie zwischen Deklamation und affektvoller Rezitation.«

»Gefunden!« rief Wilhelm, »gefunden! Welch eine glückliche Entdeckung! Nun haben wir den Schauspieler, der uns die Stelle vom rauhen Pyrrhus rezitieren soll.«

»Man muß so viel Leidenschaft haben wie Sie«, versetzte Serlo, »um alles zu seinem Endzwecke zu nutzen.«

»Gewiß, ich war in der größten Sorge«, rief Wilhelm, »daß vielleicht diese Stelle wegbleiben müßte, und das ganze Stück würde dadurch gelähmt werden.«

»Das kann ich doch nicht einsehen«, versetzte Aurelie.

»Ich hoffe, Sie werden bald meiner Meinung sein«, sagte Wilhelm. »Shakespeare führt die ankommenden Schauspieler zu einem doppelten Endzweck herein. Erst macht der Mann, der den Tod des Priamus mit so viel eigner Rührung deklamiert, tiefen Eindruck auf den Prinzen selbst; er schärft das Gewissen des jungen, schwankenden Mannes: und so wird diese Szene das Präludium zu jener, in welcher das kleine Schauspiel so große Wirkung auf den König tut. Hamlet fühlt sich durch den Schauspieler beschämt, der an fremden, an fingierten Leiden so großen Teil nimmt; und der Gedanke, auf ebendie Weise einen Versuch auf das Gewissen seines Stiefvaters zu machen, wird dadurch bei ihm sogleich erregt. Welch ein herrlicher Monolog ist’s, der den zweiten Akt schließt! Wie freue ich mich darauf, ihn zu rezitieren:

›Oh! welch ein Schurke, welch ein niedriger Sklave bin ich! – Ist es nicht ungeheuer, daß dieser Schauspieler hier, nur durch Erdichtung, durch einen Traum von Leidenschaft seine Seele so nach seinem Willen zwingt, daß ihre Wirkung sein ganzes Gesicht entfärbt: – Tränen im Auge! Verwirrung im Betragen! Gebrochene Stimme! Sein ganzes Wesen von einem Gefühl durchdrungen! und das alles um nichts – um Hekuba! – Was ist Hekuba für ihn oder er für Hekuba, daß er um sie weinen sollte?‹«

»Wenn wir nur unsern Mann auf das Theater bringen können!« sagte Aurelie.

»Wir müssen«, versetzte Serlo, »ihn nach und nach hineinführen. Bei den Proben mag er die Stelle lesen, und wir sagen, daß wir einen Schauspieler, der sie spielen soll, erwarten, und so sehen wir, wie wir ihm näherkommen.«

Nachdem sie darüber einig waren, wendete sich das Gespräch auf den Geist. Wilhelm konnte sich nicht entschließen, die Rolle des lebenden Königs dem Pedanten zu überlassen, damit der Polterer den Geist spielen könne, und meinte vielmehr, daß man noch einige Zeit warten sollte, indem sich doch noch einige Schauspieler gemeldet hätten und sich unter ihnen der rechte Mann finden könnte.

Man kann sich daher denken, wie verwundert Wilhelm war, als er unter der Adresse seines Theaternamens abends folgendes Billett mit wunderbaren Zügen versiegelt auf seinem Tische fand:

»Du bist, o sonderbarer Jüngling, wir wissen es, in großer Verlegenheit. Du findest kaum Menschen zu deinem ›Hamlet‹, geschweige Geister. Dein Eifer verdient ein Wunder; Wunder können wir nicht tun, aber etwas Wunderbares soll geschehen. Hast du Vertrauen, so soll zur rechten Stunde der Geist erscheinen! Habe Mut und bleibe gefaßt! Es bedarf keiner Antwort; dein Entschluß wird uns bekannt werden.«

Mit diesem seltsamen Blatte eilte er zu Serlo zurück, der es las und wieder las und endlich mit bedenklicher Miene versicherte: die Sache sei von Wichtigkeit; man müsse wohl überlegen, ob man es wagen dürfe und könne. Sie sprachen vieles hin und wider; Aurelie war still und lächelte von Zeit zu Zeit, und als nach einigen Tagen wieder davon die Rede war, gab sie nicht undeutlich zu verstehen, daß sie es für einen Scherz von Serlo halte. Sie bat Wilhelmen, völlig außer Sorge zu sein und den Geist geduldig zu erwarten.

Überhaupt war Serlo von dem besten Humor; denn die abgehenden Schauspieler gaben sich alle mögliche Mühe, gut zu spielen, damit man sie ja recht vermissen sollte, und von der Neugierde auf die neue Gesellschaft konnte er auch die beste Einnahme erwarten.

Sogar hatte der Umgang Wilhelms auf ihn einigen Einfluß gehabt. Er fing an, mehr über Kunst zu sprechen, denn er war am Ende doch ein Deutscher, und diese Nation gibt sich gern Rechenschaft von dem, was sie tut. Wilhelm schrieb sich manche solche Unterredung auf; und wir werden, da die Erzählung hier nicht so oft unterbrochen werden darf, denjenigen unsrer Leser, die sich dafür interessieren, solche dramaturgische Versuche bei einer andern Gelegenheit vorlegen.

Besonders war Serlo eines Abends sehr lustig, als er von der Rolle des Polonius sprach, wie er sie zu fassen gedachte. »Ich verspreche«, sagte er, »diesmal einen recht würdigen Mann zum besten zu geben; ich werde die gehörige Ruhe und Sicherheit, Leerheit und Bedeutsamkeit, Annehmlichkeit und geschmackloses Wesen, Freiheit und Aufpassen, treuherzige Schalkheit und erlogene Wahrheit da, wo sie hingehören, recht zierlich aufstellen. Ich will einen solchen grauen, redlichen, ausdauernden, der Zeit dienenden Halbschelm aufs allerhöflichste vorstellen und vortragen, und dazu sollen mir die etwas rohen und groben Pinselstriche unsers Autors gute Dienste leisten. Ich will reden wie ein Buch, wenn ich mich vorbereitet habe, und wie ein Tor, wenn ich bei guter Laune bin. Ich werde abgeschmackt sein, um jedem nach dem Maule zu reden, und immer so fein, es nicht zu merken, wenn mich die Leute zum besten haben. Nicht leicht habe ich eine Rolle mit solcher Lust und Schalkheit übernommen.«

»Wenn ich nur auch von der meinigen soviel hoffen könnte«, sagte Aurelie. »Ich habe weder Jugend noch Weichheit genug, um mich in diesen Charakter zu finden. Nur eins weiß ich leider: das Gefühl, das Ophelien den Kopf verrückt, wird mich nicht verlassen.«

»Wir wollen es ja nicht so genau nehmen«, sagte Wilhelm; »denn eigentlich hat mein Wunsch, den Hamlet zu spielen, mich bei allem Studium des Stücks aufs äußerste irregeführt. Je mehr ich mich in die Rolle studiere, desto mehr sehe ich, daß in meiner ganzen Gestalt kein Zug der Physiognomie ist, wie Shakespeare seinen Hamlet aufstellt. Wenn ich es recht überlege, wie genau in der Rolle alles zusammenhängt, so getraue ich mir kaum, eine leidliche Wirkung hervorzubringen.«

»Sie treten mit großer Gewissenhaftigkeit in Ihre Laufbahn«, versetzte Serlo. »Der Schauspieler schickt sich in die Rolle, wie er kann, und die Rolle richtet sich nach ihm, wie sie muß. Wie hat aber Shakespeare seinen Hamlet vorgezeichnet? Ist er Ihnen denn so ganz unähnlich?«

»Zuvörderst ist Hamlet blond«, erwiderte Wilhelm.

»Das heiß ich weit gesucht«, sagte Aurelie. »Woher schließen Sie das?«

»Als Däne, als Nordländer ist er blond von Hause aus und hat blaue Augen.«

»Sollte Shakespeare daran gedacht haben?«

»Bestimmt find ich es nicht ausgedrückt, aber in Verbindung mit andern Stellen scheint es mir unwidersprechlich. Ihm wird das Fechten sauer, der Schweiß läuft ihm vom Gesichte, und die Königin spricht: ›Er ist fett, laßt ihn zu Atem kommen.‹ Kann man sich ihn da anders als blond und wohlbehäglich vorstellen? Denn braune Leute sind in ihrer Jugend selten in diesem Falle. Paßt nicht auch seine schwankende Melancholie, seine weiche Trauer, seine tätige Unentschlossenheit besser zu einer solchen Gestalt, als wenn Sie sich einen schlanken, braunlockigen Jüngling denken, von dem man mehr Entschlossenheit und Behendigkeit erwartet?«

»Sie verderben mir die Imagination«, rief Aurelie, »weg mit Ihrem fetten Hamlet! Stellen Sie uns ja nicht Ihren wohlbeleibten Prinzen vor! Geben Sie uns lieber irgendein Quiproquo, das uns reizt, das uns rührt. Die Intention des Autors liegt uns nicht so nahe als unser Vergnügen, und wir verlangen einen Reiz, der uns homogen ist.«

Siebentes Kapitel

Einen Abend stritt die Gesellschaft, ob der Roman oder das Drama den Vorzug verdiene. Serlo versicherte, es sei ein vergeblicher, mißverstandener Streit; beide könnten in ihrer Art vortrefflich sein, nur müßten sie sich in den Grenzen ihrer Gattung halten.

»Ich bin selbst noch nicht ganz im klaren darüber«, versetzte Wilhelm.

»Wer ist es auch?« sagte Serlo, »und doch wäre es der Mühe wert, daß man der Sache näherkäme.«

Sie sprachen viel herüber und hinüber, und endlich war folgendes ungefähr das Resultat ihrer Unterhaltung:

Im Roman wie im Drama sehen wir menschliche Natur und Handlung. Der Unterschied beider Dichtungsarten liegt nicht bloß in der äußern Form, nicht darin, daß die Personen in dem einen sprechen und daß in dem andern gewöhnlich von ihnen erzählt wird. Leider viele Dramen sind nur dialogierte Romane, und es wäre nicht unmöglich, ein Drama in Briefen zu schreiben.

Im Roman sollen vorzüglich Gesinnungen und Begebenheiten vorgestellt werden; im Drama Charaktere und Taten. Der Roman muß langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf welche Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung aufhalten. Das Drama soll eilen, und der Charakter der Hauptfigur muß sich nach dem Ende drängen und nur aufgehalten werden. Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht im hohen Grade wirkend sein; von dem dramatischen verlangt man Wirkung und Tat. Grandison, Clarisse, Pamela, der Landpriester von Wakefield, Tom Jones selbst sind, wo nicht leidende, doch retardierende Personen, und alle Begebenheiten werden gewissermaßen nach ihren Gesinnungen gemodelt. Im Drama modelt der Held nichts nach sich, alles widersteht ihm, und er räumt und rückt die Hindernisse aus dem Wege oder unterliegt ihnen.

So vereinigte man sich auch darüber, daß man dem Zufall im Roman gar wohl sein Spiel erlauben könne; daß er aber immer durch die Gesinnungen der Personen gelenkt und geleitet werden müsse; daß hingegen das Schicksal, das die Menschen ohne ihr Zutun durch unzusammenhängende äußere Umstände zu einer unvorgesehenen Katastrophe hindrängt, nur im Drama statthabe; daß der Zufall wohl pathetische, niemals aber tragische Situationen hervorbringen dürfe; das Schicksal hingegen müsse immer fürchterlich sein und werde im höchsten Sinne tragisch, wenn es schuldige und unschuldige, voneinander unabhängige Taten in eine unglückliche Verknüpfung bringt.

Diese Betrachtungen führten wieder auf den wunderlichen »Hamlet« und auf die Eigenheiten dieses Stücks. Der Held, sagte man, hat eigentlich auch nur Gesinnungen; es sind nur Begebenheiten, die zu ihm stoßen, und deswegen hat das Stück etwas von dem Gedehnten des Romans; weil aber das Schicksal den Plan gezeichnet hat, weil das Stück von einer fürchterlichen Tat ausgeht und der Held immer vorwärts zu einer fürchterlichen Tat gedrängt wird, so ist es im höchsten Sinne tragisch und leidet keinen andern als einen tragischen Ausgang.

Nun sollte Leseprobe gehalten werden, welche Wilhelm eigentlich als ein Fest ansah. Er hatte die Rollen vorher kollationiert, daß also von dieser Seite kein Anstoß sein konnte. Die sämtlichen Schauspieler waren mit dem Stücke bekannt, und er suchte sie nur, ehe sie anfingen, von der Wichtigkeit einer Leseprobe zu überzeugen. Wie man von jedem Musikus verlange, daß er bis auf einen gewissen Grad vom Blatte spielen könne, so solle auch jeder Schauspieler, ja jeder wohlerzogene Mensch sich üben, vom Blatte zu lesen, einem Drama, einem Gedicht, einer Erzählung sogleich ihren Charakter abzugewinnen und sie mit Fertigkeit vorzutragen. Alles Memorieren helfe nichts, wenn der Schauspieler nicht vorher in den Geist und Sinn des guten Schriftstellers eingedrungen sei; der Buchstabe könne nichts wirken.

Serlo versicherte, daß er jeder andern Probe, ja der Hauptprobe nachsehen wolle, sobald der Leseprobe ihr Recht widerfahren sei: »Denn gewöhnlich«, sagte er, »ist nichts lustiger, als wenn Schauspieler von Studieren sprechen; es kommt mir ebenso vor, als wenn die Freimäurer von Arbeiten reden.«

Die Probe lief nach Wunsch ab, und man kann sagen, daß der Ruhm und die gute Einnahme der Gesellschaft sich auf diese wenigen wohlangewandten Stunden gründete.

»Sie haben wohlgetan, mein Freund«, sagte Serlo, nachdem sie wieder allein waren, »daß Sie unsern Mitarbeitern so ernstlich zusprachen, wenn ich gleich fürchte, daß sie Ihre Wünsche schwerlich erfüllen werden.«

»Wieso?« versetzte Wilhelm.

»Ich habe gefunden«, sagte Serlo, »daß, so leicht man der Menschen Imagination in Bewegung setzen kann, so gern sie sich Märchen erzählen lassen, ebenso selten ist es, eine Art von produktiver Imagination bei ihnen zu finden. Bei den Schauspielern ist dieses sehr auffallend. Jeder ist sehr wohl zufrieden, eine schöne, lobenswürdige, brillante Rolle zu übernehmen; selten aber tut einer mehr, als sich mit Selbstgefälligkeit an die Stelle des Helden setzen, ohne sich im mindesten zu bekümmern, ob ihn auch jemand dafür halten werde. Aber mit Lebhaftigkeit zu umfassen, was sich der Autor beim Stück gedacht hat, was man von seiner Individualität hingeben müsse, um einer Rolle genugzutun, wie man durch eigene Überzeugung, man sei ein ganz anderer Mensch, den Zuschauer gleichfalls zur Überzeugung hinreiße, wie man durch eine innere Wahrheit der Darstellungskraft diese Bretter in Tempel, diese Pappen in Wälder verwandelt, ist wenigen gegeben. Diese innere Stärke des Geistes, wodurch ganz allein der Zuschauer getäuscht wird, diese erlogene Wahrheit, die ganz allein Wirkung hervorbringt, wodurch ganz allein die Illusion erzielt wird, wer hat davon einen Begriff?

Lassen Sie uns daher ja nicht zu sehr auf Geist und Empfindung dringen! Das sicherste Mittel ist, wenn wir unsern Freunden mit Gelassenheit zuerst den Sinn des Buchstabens erklären und ihnen den Verstand eröffnen. Wer Anlage hat, eilt alsdann selbst dem geistreichen und empfindungsvollen Ausdrucke entgegen; und wer sie nicht hat, wird wenigstens niemals ganz falsch spielen und rezitieren. Ich habe aber bei Schauspielern, so wie überhaupt, keine schlimmere Anmaßung gefunden, als wenn jemand Ansprüche an Geist macht, solange ihm der Buchstabe noch nicht deutlich und geläufig ist.«

Achtes Kapitel

Wilhelm kam zur ersten Theaterprobe sehr zeitig und fand sich auf den Brettern allein. Das Lokal überraschte ihn und gab ihm die wunderbarsten Erinnerungen. Die Wald- und Dorfdekoration stand genau so wie auf der Bühne seiner Vaterstadt auch bei einer Probe, als ihm an jenem Morgen Mariane lebhaft ihre Liebe bekannte und ihm die erste glückliche Nacht zusagte. Die Bauernhäuser glichen sich auf dem Theater wie auf dem Lande; die wahre Morgensonne beschien, durch einen halb offenen Fensterladen hereinfallend, einen Teil der Bank, die neben der Türe schlecht befestigt war; nur leider schien sie nicht wie damals auf Marianens Schoß und Busen. Er setzte sich nieder, dachte dieser wunderbaren Übereinstimmung nach und glaubte zu ahnen, daß er sie vielleicht auf diesem Platze bald wiedersehen werde. Ach, und es war weiter nichts, als daß ein Nachspiel, zu welchem diese Dekoration gehörte, damals auf dem deutschen Theater sehr oft gegeben wurde.

In diesen Betrachtungen störten ihn die übrigen ankommenden Schauspieler, mit denen zugleich zwei Theater- und Garderobenfreunde hereintraten und Wilhelmen mit Enthusiasmus begrüßten. Der eine war gewissermaßen an Madame Melina attachiert; der andere aber ein ganz reiner Freund der Schauspielkunst und beide von der Art, wie sich jede gute Gesellschaft Freunde wünschen sollte. Man wußte nicht zu sagen, ob sie das Theater mehr kannten oder liebten. Sie liebten es zu sehr, um es recht zu kennen; sie kannten es genug, um das Gute zu schätzen und das Schlechte zu verbannen. Aber bei ihrer Neigung war ihnen das Mittelmäßige nicht unerträglich, und der herrliche Genuß, mit dem sie das Gute vor und nach kosteten, war über allen Ausdruck. Das Mechanische machte ihnen Freude, das Geistige entzückte sie, und ihre Neigung war so groß, daß auch eine zerstückelte Probe sie in eine Art von Illusion versetzte. Die Mängel schienen ihnen jederzeit in die Ferne zu treten, das Gute berührte sie wie ein naher Gegenstand. Kurz, sie waren Liebhaber, wie sie sich der Künstler in seinem Fache wünscht. Ihre liebste Wanderung war von den Kulissen ins Parterre, vom Parterre in die Kulissen, ihr angenehmster Aufenthalt in der Garderobe, ihre emsigste Beschäftigung, an der Stellung, Kleidung, Rezitation und Deklamation der Schauspieler etwas zuzustutzen, ihr lebhaftestes Gespräch über den Effekt, den man hervorgebracht hatte, und ihre beständigste Bemühung, den Schauspieler aufmerksam, tätig und genau zu erhalten, ihm etwas zugute oder zuliebe zu tun und ohne Verschwendung der Gesellschaft manchen Genuß zu verschaffen. Sie hatten sich beide das ausschließliche Recht verschafft, bei Proben und Aufführungen auf dem Theater zu erscheinen. Sie waren, was die Aufführung »Hamlets« betraf, mit Wilhelmen nicht bei allen Stellen einig; hie und da gab er nach, meistens aber behauptete er seine Meinung, und im ganzen diente diese Unterhaltung sehr zur Bildung seines Geschmacks. Er ließ die beiden Freunde sehen, wie sehr er sie schätze, und sie dagegen weissagten nichts weniger von diesen vereinten Bemühungen als eine neue Epoche fürs deutsche Theater.

Die Gegenwart dieser beiden Männer war bei den Proben sehr nützlich. Besonders überzeugten sie unsre Schauspieler, daß man bei der Probe Stellung und Aktion, wie man sie bei der Aufführung zu zeigen gedenke, immerfort mit der Rede verbinden und alles zusammen durch Gewohnheit mechanisch vereinigen müsse. Besonders mit den Händen solle man ja bei der Probe einer Tragödie keine gemeine Bewegung vornehmen; ein tragischer Schauspieler, der in der Probe Tabak schnupft, mache sie immer bange: denn höchstwahrscheinlich werde er an einer solchen Stelle bei der Aufführung die Prise vermissen. Ja sie hielten dafür, daß niemand in Stiefeln probieren solle, wenn die Rolle in Schuhen zu spielen sei. Nichts aber, versicherten sie, schmerze sie mehr, als wenn die Frauenzimmer in den Proben ihre Hände in die Rockfalten versteckten.

Außerdem ward durch das Zureden dieser Männer noch etwas sehr Gutes bewirkt, daß nämlich alle Mannspersonen exerzieren lernten. »Da so viele Militärrollen vorkommen«, sagten sie, »sieht nichts betrübter aus, als Menschen, die nicht die mindeste Dressur zeigen, in Hauptmanns- und Majorsuniform auf dem Theater herumschwanken zu sehen.«

Wilhelm und Laertes waren die ersten, die sich der Pädagogik eines Unteroffiziers unterwarfen, und setzten dabei ihre Fechtübungen mit großer Anstrengung fort.

So viel Mühe gaben sich beide Männer mit der Ausbildung einer Gesellschaft, die sich so glücklich zusammengefunden hatte. Sie sorgten für die künftige Zufriedenheit des Publikums, indes sich dieses über ihre entschiedene Liebhaberei gelegentlich aufhielt. Man wußte nicht, wieviel Ursache man hatte, ihnen dankbar zu sein, besonders da sie nicht versäumten, den Schauspielern oft den Hauptpunkt einzuschärfen, daß es nämlich ihre Pflicht sei, laut und vernehmlich zu sprechen. Sie fanden hierbei mehr Widerstand und Unwillen, als sie anfangs gedacht hatten. Die meisten wollten so gehört sein, wie sie sprachen, und wenige bemühten sich, so zu sprechen, daß man sie hören könnte. Einige schoben den Fehler aufs Gebäude, andere sagten, man könne doch nicht schreien, wenn man natürlich, heimlich oder zärtlich zu sprechen habe.

Unsre Theaterfreunde, die eine unsägliche Geduld hatten, suchten auf alle Weise diese Verwirrung zu lösen, diesem Eigensinne beizukommen. Sie sparten weder Gründe noch Schmeicheleien und erreichten zuletzt doch ihren Endzweck, wobei ihnen das gute Beispiel Wilhelms besonders zustatten kam. Er bat sich aus, daß sie sich bei den Proben in die entferntesten Ecken setzen und, sobald sie ihn nicht vollkommen verstünden, mit dem Schlüssel auf die Bank pochen möchten. Er artikulierte gut, sprach gemäßigt aus, steigerte den Ton stufenweise und überschrie sich nicht in den heftigsten Stellen. Die pochenden Schlüssel hörte man bei jeder Probe weniger; nach und nach ließen sich die andern dieselbe Operation gefallen, und man konnte hoffen, daß das Stück endlich in allen Winkeln des Hauses von jedermann würde verstanden werden.

Man sieht aus diesem Beispiel, wie gern die Menschen ihren Zweck nur auf ihre eigene Weise erreichen möchten, wieviel Not man hat, ihnen begreiflich zu machen, was sich eigentlich von selbst versteht, und wie schwer es ist, denjenigen, der etwas zu leisten wünscht, zur Erkenntnis der ersten Bedingungen zu bringen, unter denen sein Vorhaben allein möglich wird.

Neuntes Kapitel

Man fuhr nun fort, die nötigen Anstalten zu Dekorationen und Kleidern, und was sonst erforderlich war, zu machen. Über einige Szenen und Stellen hatte Wilhelm besondere Grillen, denen Serlo nachgab, teils in Rücksicht auf den Kontrakt, teils aus Überzeugung und weil er hoffte, Wilhelmen durch diese Gefälligkeit zu gewinnen und in der Folge desto mehr nach seinen Absichten zu lenken.

So sollte zum Beispiel König und Königin bei der ersten Audienz auf dem Throne sitzend erscheinen, die Hofleute an den Seiten und Hamlet unbedeutend unter ihnen stehen. »Hamlet«, sagte er, »muß sich ruhig verhalten; seine schwarze Kleidung unterscheidet ihn schon genug. Er muß sich eher verbergen als zum Vorschein kommen. Nur dann, wenn die Audienz geendigt ist, wenn der König mit ihm als Sohn spricht, dann mag er herbeitreten und die Szene ihren Gang gehen.«

Noch eine Hauptschwierigkeit machten die beiden Gemälde, auf die sich Hamlet in der Szene mit seiner Mutter so heftig bezieht. »Mir sollen«, sagte Wilhelm, »in Lebensgröße beide im Grunde des Zimmers neben der Haupttüre sichtbar sein, und zwar muß der alte König in völliger Rüstung, wie der Geist, auf ebender Seite hängen, wo dieser hervortritt. Ich wünsche, daß die Figur mit der rechten Hand eine befehlende Stellung annehme, etwas gewandt sei und gleichsam über die Schulter sehe, damit sie dem Geiste völlig gleiche in dem Augenblicke, da dieser zur Türe hinausgeht. Es wird eine sehr große Wirkung tun, wenn in diesem Augenblick Hamlet nach dem Geiste und die Königin nach dem Bilde sieht. Der Stiefvater mag dann im königlichen Ornat, doch unscheinbarer als jener, vorgestellt werden.«

So gab es noch verschiedene Punkte, von denen wir zu sprechen vielleicht Gelegenheit haben.

»Sind Sie auch unerbittlich, daß Hamlet am Ende sterben muß?« fragte Serlo.

»Wie kann ich ihn am Leben erhalten«, sagte Wilhelm, »da ihn das ganze Stück zu Tode drückt? Wir haben ja schon so weitläufig darüber gesprochen.«

»Aber das Publikum wünscht ihn lebendig.«

»Ich will ihm gern jeden andern Gefallen tun, nur diesmal ist’s unmöglich. Wir wünschen auch, daß ein braver, nützlicher Mann, der an einer chronischen Krankheit stirbt, noch länger leben möge. Die Familie weint und beschwört den Arzt, der ihn nicht halten kann: und sowenig als dieser einer Naturnotwendigkeit zu widerstehen vermag, sowenig können wir einer anerkannten Kunstnotwendigkeit gebieten. Es ist eine falsche Nachgiebigkeit gegen die Menge, wenn man ihnen die Empfindungen erregt, die sie haben wollen, und nicht, die sie haben sollen.«

»Wer das Geld bringt, kann die Ware nach seinem Sinne verlangen.«

»Gewissermaßen; aber ein großes Publikum verdient, daß man es achte, daß man es nicht wie Kinder, denen man das Geld abnehmen will, behandle. Man bringe ihm nach und nach durch das Gute Gefühl und Geschmack für das Gute bei, und es wird sein Geld mit doppeltem Vergnügen einlegen, weil ihm der Verstand, ja die Vernunft selbst bei dieser Ausgabe nichts vorzuwerfen hat. Man kann ihm schmeicheln wie einem geliebten Kinde, schmeicheln, um es zu bessern, um es künftig aufzuklären; nicht wie einem Vornehmen und Reichen, um den Irrtum, den man nutzt, zu verewigen.«

So handelten sie noch manches ab, das sich besonders auf die Frage bezog: was man noch etwa an dem Stücke verändern dürfe und was unberührt bleiben müsse. Wir lassen uns hierauf nicht weiter ein, sondern legen vielleicht künftig die neue Bearbeitung »Hamlets« selbst demjenigen Teile unsrer Leser vor, der sich etwa dafür interessieren könnte.

Zehntes Kapitel

Die Hauptprobe war vorbei; sie hatte übermäßig lange gedauert. Serlo und Wilhelm fanden noch manches zu besorgen: denn ungeachtet der vielen Zeit, die man zur Vorbereitung verwendet hatte, waren doch sehr notwendige Anstalten bis auf den letzten Augenblick verschoben worden.

So waren zum Beispiel die Gemälde der beiden Könige noch nicht fertig, und die Szene zwischen Hamlet und seiner Mutter, von der man einen so großen Effekt hoffte, sah noch sehr mager aus, indem weder der Geist noch sein gemaltes Ebenbild dabei gegenwärtig war. Serlo scherzte bei dieser Gelegenheit und sagte: »Wir wären doch im Grunde recht übel angeführt, wenn der Geist ausbliebe, die Wache wirklich mit der Luft fechten und unser Souffleur aus der Kulisse den Vortrag des Geistes supplieren müßte.«

»Wir wollen den wunderbaren Freund nicht durch unsern Unglauben verscheuchen«, versetzte Wilhelm; »er kommt gewiß zur rechten Zeit und wird uns so gut als die Zuschauer überraschen.«

»Gewiß«, rief Serlo, »ich werde froh sein, wenn das Stück morgen gegeben ist: es macht uns mehr Umstände, als ich geglaubt habe.«

»Aber niemand in der Welt wird froher sein als ich, wenn das Stück morgen gespielt ist«, versetzte Philine, »sowenig mich meine Rolle drückt. Denn immer und ewig von einer Sache reden zu hören, wobei doch nichts weiter herauskommt als eine Repräsentation, die, wie so viele hundert andere, vergessen werden wird, dazu will meine Geduld nicht hinreichen. Macht doch in Gottes Namen nicht soviel Umstände! Die Gäste, die vom Tische aufstehen, haben nachher an jedem Gerichte was auszusetzen; ja wenn man sie zu Hause reden hört, so ist es ihnen kaum begreiflich, wie sie eine solche Not haben ausstehen können.«

»Lassen Sie mich Ihr Gleichnis zu meinem Vorteile brauchen, schönes Kind«, versetzte Wilhelm. »Bedenken Sie, was Natur und Kunst, was Handel, Gewerke und Gewerbe zusammen schaffen müssen, bis ein Gastmahl gegeben werden kann. Wieviel Jahre muß der Hirsch im Walde, der Fisch im Fluß oder Meere zubringen, bis er unsre Tafel zu besetzen würdig ist, und was hat die Hausfrau, die Köchin nicht alles in der Küche zu tun! Mit welcher Nachlässigkeit schlürft man die Sorge des entferntesten Winzers, des Schiffers, des Kellermeisters beim Nachtische hinunter, als müsse es nur so sein. Und sollten deswegen alle diese Menschen nicht arbeiten, nicht schaffen und bereiten, sollte der Hausherr das alles nicht sorgfältig zusammenbringen und zusammenhalten, weil am Ende der Genuß nur vorübergehend ist? Aber kein Genuß ist vorübergehend: denn der Eindruck, den er zurückläßt, ist bleibend, und was man mit Fleiß und Anstrengung tut, teilt dem Zuschauer selbst eine verborgene Kraft mit, von der man nicht wissen kann, wie weit sie wirkt.«

»Mir ist alles einerlei«, versetzte Philine, »nur muß ich auch diesmal erfahren, daß Männer immer im Widerspruch mit sich selbst sind. Bei all eurer Gewissenhaftigkeit, den großen Autor nicht verstümmeln zu wollen, laßt ihr doch den schönsten Gedanken aus dem Stücke.«

»Den schönsten?« rief Wilhelm.

»Gewiß den schönsten, auf den sich Hamlet selbst was zugute tut.«

»Und der wäre?« rief Serlo.

»Wenn Sie eine Perücke aufhätten«, versetzte Philine, »würde ich sie Ihnen ganz säuberlich abnehmen: denn es scheint nötig, daß man Ihnen das Verständnis eröffne.«

Die andern dachten nach, und die Unterhaltung stockte. Man war aufgestanden, es war schon spät, man schien auseinandergehen zu wollen. Als man so unentschlossen dastand, fing Philine ein Liedchen, auf eine sehr zierliche und gefällige Melodie, zu singen an:

Singet nicht in Trauertönen

Von der Einsamkeit der Nacht;

Nein, sie ist, o holde Schönen,

Zur Geselligkeit gemacht. Wie das Weib dem Mann gegeben

Als die schönste Hälfte war,

Ist die Nacht das halbe Leben,

Und die schönste Hälfte zwar. Könnt ihr euch des Tages freuen,

Der nur Freuden unterbricht?

Er ist gut, sich zu zerstreuen;

Zu was anderm taugt er nicht. Aber wenn in nächt’ger Stunde

Süßer Lampe Dämmrung fließt

Und vom Mund zum nahen Munde

Scherz und Liebe sich ergießt; Wenn der rasche, lose Knabe,

Der sonst wild und feurig eilt,

Oft bei einer kleinen Gabe

Unter leichten Spielen weilt; Wenn die Nachtigall Verliebten

Liebevoll ein Liedchen singt,

Das Gefangnen und Betrübten

Nur wie Ach und Wehe klingt: Mit wie leichtem Herzensregen

Horchet ihr der Glocke nicht,

Die mit zwölf bedächt’gen Schlägen

Ruh und Sicherheit verspricht! Darum an dem langen Tage

Merke dir es, liebe Brust:

Jeder Tag hat seine Plage,

Und die Nacht hat ihre Lust.

Sie machte eine leichte Verbeugung, als sie geendigt hatte, und Serlo rief ihr ein lautes Bravo zu. Sie sprang zur Tür hinaus und eilte mit Gelächter fort. Man hörte sie die Treppe hinunter singen und mit den Absätzen klappern.

Serlo ging in das Seitenzimmer, und Aurelie blieb vor Wilhelmen, der ihr eine gute Nacht wünschte, noch einige Augenblicke stehen und sagte:

»Wie sie mir zuwider ist! recht meinem innern Wesen zuwider! bis auf die kleinsten Zufälligkeiten. Die rechte braune Augenwimper bei den blonden Haaren, die der Bruder so reizend findet, mag ich gar nicht ansehn, und die Schramme auf der Stirne hat mir so was Widriges, so was Niedriges, daß ich immer zehn Schritte von ihr zurücktreten möchte. Sie erzählte neulich als einen Scherz, ihr Vater habe ihr in ihrer Kindheit einen Teller an den Kopf geworfen, davon sie noch das Zeichen trage. Wohl ist sie recht an Augen und Stirne gezeichnet, daß man sich vor ihr hüten möge.«

Wilhelm antwortete nichts, und Aurelie schien mit mehr Unwillen fortzufahren:

»Es ist mir beinahe unmöglich, ein freundliches, höfliches Wort mit ihr zu reden, so sehr hasse ich sie, und doch ist sie so anschmiegend. Ich wollte, wir wären sie los. Auch Sie, mein Freund, haben eine gewisse Gefälligkeit gegen dieses Geschöpf, ein Betragen, das mich in der Seele kränkt, eine Aufmerksamkeit, die an Achtung grenzt und die sie, bei Gott, nicht verdient!«

»Wie sie ist, bin ich ihr Dank schuldig«, versetzte Wilhelm; »ihre Aufführung ist zu tadeln; ihrem Charakter muß ich Gerechtigkeit widerfahren lassen.«

»Charakter!« rief Aurelie, »glauben Sie, daß so eine Kreatur einen Charakter hat? O ihr Männer, daran erkenne ich euch! Solcher Frauen seid ihr wert!«

»Sollten Sie mich in Verdacht haben, meine Freundin?« versetzte Wilhelm. »Ich will von jeder Minute Rechenschaft geben, die ich mit ihr zugebracht habe.«

»Nun, nun«, sagte Aurelie, »es ist spät, wir wollen nicht streiten. Alle wie einer, einer wie alle! Gute Nacht, mein Freund! gute Nacht, mein feiner Paradiesvogel!«

Wilhelm fragte, wie er zu diesem Ehrentitel komme.

»Ein andermal«, versetzte Aurelie, »ein andermal. Man sagt, sie hätten keine Füße, sie schwebten in der Luft und nährten sich vom Äther. Es ist aber ein Märchen«, fuhr sie fort, »eine poetische Fiktion. Gute Nacht, laßt Euch was Schönes träumen, wenn Ihr Glück habt.«

Sie ging in ihr Zimmer und ließ ihn allein; er eilte auf das seinige.

Halb unwillig ging er auf und nieder. Der scherzende, aber entschiedne Ton Aureliens hatte ihn beleidigt: er fühlte tief, wie unrecht sie ihm tat. Philine konnte er nicht widrig, nicht unhold begegnen; sie hatte nichts gegen ihn verbrochen, und dann fühlte er sich so fern von jeder Neigung zu ihr, daß er recht stolz und standhaft vor sich selbst bestehen konnte.

Eben war er im Begriffe, sich auszuziehen, nach seinem Lager zu gehen und die Vorhänge aufzuschlagen, als er zu seiner größten Verwunderung ein Paar Frauenpantoffeln vor dem Bett erblickte; der eine stand, der andere lag. – Es waren Philinens Pantoffeln, die er nur zu gut erkannte; er glaubte auch eine Unordnung an den Vorhängen zu sehen, ja es schien, als bewegten sie sich; er stand und sah mit unverwandten Augen hin.

Eine neue Gemütsbewegung, die er für Verdruß hielt, versetzte ihm den Atem; und nach einer kurzen Pause, in der er sich erholt hatte, rief er gefaßt:

»Stehen Sie auf, Philine! Was soll das heißen? Wo ist Ihre Klugheit, Ihr gutes Betragen? Sollen wir morgen das Märchen des Hauses werden?«

Es rührte sich nichts.

»Ich scherze nicht«, fuhr er fort, »diese Neckereien sind bei mir übel angewandt.«

Kein Laut! Keine Bewegung!

Entschlossen und unmutig ging er endlich auf das Bette zu und riß die Vorhänge voneinander. »Stehen Sie auf«, sagte er, »wenn ich Ihnen nicht das Zimmer diese Nacht überlassen soll.«

Mit großem Erstaunen fand er sein Bette leer, die Kissen und Decken in schönster Ruhe. Er sah sich um, suchte nach, suchte alles durch und fand keine Spur von dem Schalk. Hinter dem Bette, dem Ofen, den Schränken war nichts zu sehen; er suchte emsiger und emsiger; ja ein boshafter Zuschauer hätte glauben mögen, er suche, um zu finden.

Kein Schlaf stellte sich ein; er setzte die Pantoffeln auf seinen Tisch, ging auf und nieder, blieb manchmal bei dem Tische stehen, und ein schelmischer Genius, der ihn belauschte, will versichern: er habe sich einen großen Teil der Nacht mit den allerliebsten Stelzchen beschäftigt; er habe sie mit einem gewissen Interesse angesehen, behandelt, damit gespielt und sich erst gegen Morgen in seinen Kleidern aufs Bette geworfen, wo er unter den seltsamsten Phantasien einschlummerte.

Und wirklich schlief er noch, als Serlo hereintrat und rief: »Wo sind Sie? Noch im Bette? Unmöglich! Ich suchte Sie auf dem Theater, wo noch so mancherlei zu tun ist.«

Eilftes Kapitel

Vor- und Nachmittag verflossen eilig. Das Haus war schon voll, und Wilhelm eilte, sich anzuziehen. Nicht mit der Behaglichkeit, mit der er die Maske zum erstenmal anprobierte, konnte er sie gegenwärtig anlegen; er zog sich an, um fertig zu werden. Als er zu den Frauen ins Versammlungszimmer kam, beriefen sie ihn einstimmig, daß nichts recht sitze; der schöne Federbusch sei verschoben, die Schnalle passe nicht; man fing wieder an, aufzutrennen, zu nähen, zusammenzustecken. Die Symphonie ging an, Philine hatte etwas gegen die Krause einzuwenden, Aurelie viel an dem Mantel auszusetzen. »Laßt mich, ihr Kinder!« rief er, »diese Nachlässigkeit wird mich erst recht zum Hamlet machen.« Die Frauen ließen ihn nicht los und fuhren fort zu putzen. Die Symphonie hatte aufgehört, und das Stück war angegangen. Er besah sich im Spiegel, drückte den Hut tiefer ins Gesicht und erneuerte die Schminke.

In diesem Augenblick stürzte jemand herein und rief: »Der Geist! der Geist!«

Wilhelm hatte den ganzen Tag nicht Zeit gehabt, an die Hauptsorge zu denken, ob der Geist auch kommen werde. Nun war sie ganz weggenommen, und man hatte die wunderlichste Gastrolle zu erwarten. Der Theatermeister kam und fragte über dieses und jenes; Wilhelm hatte nicht Zeit, sich nach dem Gespenst umzusehen, und eilte nur, sich am Throne einzufinden, wo König und Königin schon von ihrem Hofe umgeben in aller Herrlichkeit glänzten; er hörte nur noch die letzten Worte des Horatio, der über die Erscheinung des Geistes ganz verwirrt sprach und fast seine Rolle vergessen zu haben schien.

Der Zwischenvorhang ging in die Höhe, und er sah das volle Haus vor sich. Nachdem Horatio seine Rede gehalten und vom Könige abgefertigt war, drängte er sich an Hamlet, und als ob er sich ihm, dem Prinzen, präsentiere, sagte er: »Der Teufel steckt in dem Harnische! Er hat uns alle in Furcht gejagt.«

In der Zwischenzeit sah man nur zwei große Männer in weißen Mänteln und Kapuzen in den Kulissen stehen, und Wilhelm, dem in der Zerstreuung, Unruhe und Verlegenheit der erste Monolog, wie er glaubte, mißglückt war, trat, ob ihn gleich ein lebhafter Beifall beim Abgehen begleitete, in der schauerlichen dramatischen Winternacht wirklich recht unbehaglich auf. Doch nahm er sich zusammen und sprach die so zweckmäßig angebrachte Stelle über das Schmausen und Trinken der Nordländer mit der gehörigen Gleichgültigkeit, vergaß, so wie die Zuschauer, darüber des Geistes und erschrak wirklich, als Horatio ausrief: »Seht her, es kommt!« Er fuhr mit Heftigkeit herum, und die edle, große Gestalt, der leise, unhörbare Tritt, die leichte Bewegung in der schwer scheinenden Rüstung machten einen so starken Eindruck auf ihn, daß er wie versteinert dastand und nur mit halber Stimme: »Ihr Engel und himmlischen Geister, beschützt uns!« ausrufen konnte. Er starrte ihn an, holte einigemal Atem und brachte die Anrede an den Geist so verwirrt, zerstückt und gezwungen vor, daß die größte Kunst sie nicht so trefflich hätte ausdrücken können.

Seine Übersetzung dieser Stelle kam ihm sehr zustatten. Er hatte sich nahe an das Original gehalten, dessen Wortstellung ihm die Verfassung eines überraschten, erschreckten, von Entsetzen ergriffenen Gemüts einzig auszudrücken schien.

»Sei du ein guter Geist, sei ein verdammter Kobold, bringe Düfte des Himmels mit dir oder Dämpfe der Hölle, sei Gutes oder Böses dein Beginnen, du kommst in einer so würdigen Gestalt, ja ich rede mit dir, ich nenne dich Hamlet, König, Vater, o antworte mir!« –

Man spürte im Publiko die größte Wirkung. Der Geist winkte, der Prinz folgte ihm unter dem lautesten Beifall.

Das Theater verwandelte sich, und als sie auf den entfernten Platz kamen, hielt der Geist unvermutet inne und wandte sich um; dadurch kam ihm Hamlet etwas zu nahe zu stehen. Mit Verlangen und Neugierde sah Wilhelm sogleich zwischen das niedergelassene Visier hinein, konnte aber nur tiefliegende Augen neben einer wohlgebildeten Nase erblicken. Furchtsam ausspähend stand er vor ihm; allein als die ersten Töne aus dem Helme hervordrangen, als eine wohlklingende, nur ein wenig rauhe Stimme sich in den Worten hören ließ: »Ich bin der Geist deines Vaters«, trat Wilhelm einige Schritte schaudernd zurück, und das ganze Publikum schauderte. Die Stimme schien jedermann bekannt, und Wilhelm glaubte eine Ähnlichkeit mit der Stimme seines Vaters zu bemerken. Diese wunderbaren Empfindungen und Erinnerungen, die Neugierde, den seltsamen Freund zu entdecken, und die Sorge, ihn zu beleidigen, selbst die Unschicklichkeit, ihm als Schauspieler in dieser Situation zu nahe zu treten, bewegten Wilhelmen nach entgegengesetzten Seiten. Er veränderte während der langen Erzählung des Geistes seine Stellung so oft, schien so unbestimmt und verlegen, so aufmerksam und so zerstreut, daß sein Spiel eine allgemeine Bewunderung so wie der Geist ein allgemeines Entsetzen erregte. Dieser sprach mehr mit einem tiefen Gefühl des Verdrusses als des Jammers, aber eines geistigen, langsamen und unübersehlichen Verdrusses. Es war der Mißmut einer großen Seele, die von allem Irdischen getrennt ist und doch unendlichen Leiden unterliegt. Zuletzt versank der Geist, aber auf eine sonderbare Art: denn ein leichter, grauer, durchsichtiger Flor, der wie ein Dampf aus der Versenkung zu steigen schien, legte sich über ihn weg und zog sich mit ihm hinunter.

Nun kamen Hamlets Freunde zurück und schwuren auf das Schwert. Da war der alte Maulwurf so geschäftig unter der Erde, daß er ihnen, wo sie auch stehen mochten, immer unter den Füßen rief: »Schwört!« und sie, als ob der Boden unter ihnen brennte, schnell von einem Ort zum andern eilten. Auch erschien da, wo sie standen, jedesmal eine kleine Flamme aus dem Boden, vermehrte die Wirkung und hinterließ bei allen Zuschauern den tiefsten Eindruck.

Nun ging das Stück unaufhaltsam seinen Gang fort, nichts mißglückte, alles geriet; das Publikum bezeigte seine Zufriedenheit; die Lust und der Mut der Schauspieler schien mit jeder Szene zuzunehmen.

Zwölftes Kapitel

Der Vorhang fiel, und der lebhafteste Beifall erscholl aus allen Ecken und Enden. Die vier fürstlichen Leichen sprangen behend in die Höhe und umarmten sich vor Freuden. Polonius und Ophelia kamen auch aus ihren Gräbern hervor und hörten noch mit lebhaftem Vergnügen, wie Horatio, als er zum Ankündigen heraustrat, auf das heftigste beklatscht wurde. Man wollte ihn zu keiner Anzeige eines andern Stücks lassen, sondern begehrte mit Ungestüm die Wiederholung des heutigen.

»Nun haben wir gewonnen«, rief Serlo, »aber auch heute abend kein vernünftig Wort mehr! Alles kommt auf den ersten Eindruck an. Man soll ja keinem Schauspieler übelnehmen, wenn er bei seinen Debüts vorsichtig und eigensinnig ist.«

Der Kassier kam und überreichte ihm eine schwere Kasse. »Wir haben gut debütiert«, rief er aus, »und das Vorurteil wird uns zustatten kommen. Wo ist denn nun das versprochene Abendessen? Wir dürfen es uns heute schmecken lassen.«

Sie hatten ausgemacht, daß sie in ihren Theaterkleidern beisammen bleiben und sich selbst ein Fest feiern wollten. Wilhelm hatte unternommen, das Lokal, und Madame Melina, das Essen zu besorgen.

Ein Zimmer, worin man sonst zu malen pflegte, war aufs beste gesäubert, mit allerlei kleinen Dekorationen umstellt und so herausgeputzt worden, daß es halb einem Garten, halb einem Säulengange ähnlich sah. Beim Hereintreten wurde die Gesellschaft von dem Glanz vieler Lichter geblendet, die einen feierlichen Schein durch den Dampf des süßesten Räucherwerks, das man nicht gespart hatte, über eine wohl geschmückte und bestellte Tafel verbreiteten. Mit Ausrufungen lobte man die Anstalten und nahm wirklich mit Anstand Platz; es schien, als wenn eine königliche Familie im Geisterreiche zusammenkäme. Wilhelm saß zwischen Aurelien und Madame Melina; Serlo zwischen Philinen und Elmiren; niemand war mit sich selbst noch mit seinem Platze unzufrieden.

Die beiden Theaterfreunde, die sich gleichfalls eingefunden hatten, vermehrten das Glück der Gesellschaft. Sie waren einigemal während der Vorstellung auf die Bühne gekommen und konnten nicht genug von ihrer eignen und von des Publikums Zufriedenheit sprechen; nunmehr ging’s aber ans Besondere; jedes ward für seinen Teil reichlich belohnt.

Mit einer unglaublichen Lebhaftigkeit ward ein Verdienst nach dem andern, eine Stelle nach der andern herausgehoben. Dem Souffleur, der bescheiden am Ende der Tafel saß, ward ein großes Lob über seinen rauhen Pyrrhus; die Fechtübung Hamlets und Laertes‘ konnte man nicht genug erheben; Opheliens Trauer war über allen Ausdruck schön und erhaben; von Polonius‘ Spiel durfte man gar nicht sprechen; jeder Gegenwärtige hörte sein Lob in dem andern und durch ihn.

Aber auch der abwesende Geist nahm seinen Teil Lob und Bewunderung hinweg. Er hatte die Rolle mit einem sehr glücklichen Organ und in einem großen Sinne gesprochen, und man wunderte sich am meisten, daß er von allem, was bei der Gesellschaft vorgegangen war, unterrichtet schien. Er glich völlig dem gemalten Bilde, als wenn er dem Künstler gestanden hätte, und die Theaterfreunde konnten nicht genug rühmen, wie schauerlich es ausgesehen habe, als er unfern von dem Gemälde hervorgetreten und vor seinem Ebenbilde vorbeigeschritten sei. Wahrheit und Irrtum habe sich dabei so sonderbar vermischt, und man habe wirklich sich überzeugt, daß die Königin die eine Gestalt nicht sehe. Madame Melina ward bei dieser Gelegenheit sehr gelobt, daß sie bei dieser Stelle in die Höhe nach dem Bilde gestarrt, indes Hamlet nieder auf den Geist gewiesen.

Man erkundigte sich, wie das Gespenst habe hereinschleichen können, und erfuhr vom Theatermeister, daß zu einer hintern Türe, die sonst immer mit Dekorationen verstellt sei, diesen Abend aber, weil man den gotischen Saal gebraucht, frei geworden, zwei große Figuren in weißen Mänteln und Kapuzen hereingekommen, die man voneinander nicht unterscheiden können, und so seien sie nach geendigtem dritten Akt wahrscheinlich auch wieder hinausgegangen.

Serlo lobte besonders an ihm, daß er nicht so schneidermäßig gejammert und sogar am Ende eine Stelle, die einem so großen Helden besser zieme, seinen Sohn zu befeuern, angebracht habe. Wilhelm hatte sie im Gedächtnis behalten und versprach, sie ins Manuskript nachzutragen.

Man hatte in der Freude des Gastmahls nicht bemerkt, daß die Kinder und der Harfenspieler fehlten; bald aber machten sie eine sehr angenehme Erscheinung. Denn sie traten zusammen herein, sehr abenteuerlich ausgeputzt; Felix schlug den Triangel, Mignon das Tamburin, und der Alte hatte die schwere Harfe umgehangen und spielte sie, indem er sie vor sich trug. Sie zogen um den Tisch und sangen allerlei Lieder. Man gab ihnen zu essen, und die Gäste glaubten den Kindern eine Wohltat zu erzeigen, wenn sie ihnen so viel süßen Wein gäben, als sie nur trinken wollten; denn die Gesellschaft selbst hatte die köstlichen Flaschen nicht geschont, welche diesen Abend als ein Geschenk der Theaterfreunde in einigen Körben angekommen waren. Die Kinder sprangen und sangen fort, und besonders war Mignon ausgelassen, wie man sie niemals gesehen. Sie schlug das Tamburin mit aller möglichen Zierlichkeit und Lebhaftigkeit, indem sie bald mit druckendem Finger auf dem Felle schnell hin und her schnurrte, bald mit dem Rücken der Hand, bald mit den Knöcheln daraufpochte, ja mit abwechselnden Rhythmen das Pergament bald wider die Knie, bald wider den Kopf schlug, bald schüttelnd die Schellen allein klingen ließ und so aus dem einfachsten Instrumente gar verschiedene Töne hervorlockte. Nachdem sie lange gelärmt hatten, setzten sie sich in einen Lehnsessel, der gerade Wilhelmen gegenüber am Tische leer geblieben war.

»Bleibt von dem Sessel weg!« rief Serlo, »er steht vermutlich für den Geist da; wenn er kommt, kann’s euch übel gehen.«

»Ich fürchte ihn nicht«, rief Mignon; »kommt er, so stehen wir auf. Es ist mein Oheim, er tut mir nichts zuleide.« Diese Rede verstand niemand, als wer wußte, daß sie ihren vermeintlichen Vater den »Großen Teufel« genannt hatte.

Die Gesellschaft sah einander an und ward noch mehr in dem Verdacht bestärkt, daß Serlo um die Erscheinung des Geistes wisse. Man schwatzte und trank, und die Mädchen sahen von Zeit zu Zeit furchtsam nach der Türe.

Die Kinder, die, in dem großen Sessel sitzend, nur wie Pulcinellpuppen aus dem Kasten über den Tisch hervorragten, fingen an, auf diese Weise ein Stück aufzuführen. Mignon machte den schnarrenden Ton sehr artig nach, und sie stießen zuletzt die Köpfe dergestalt zusammen und auf die Tischkante, wie es eigentlich nur Holzpuppen aushalten können. Mignon ward bis zur Wut lustig, und die Gesellschaft, sosehr sie anfangs über den Scherz gelacht hatte, mußte zuletzt Einhalt tun. Aber wenig half das Zureden, denn nun sprang sie auf und raste, die Schellentrommel in der Hand, um den Tisch herum. Ihre Haare flogen, und indem sie den Kopf zurück und alle ihre Glieder gleichsam in die Luft warf, schien sie einer Mänade ähnlich, deren wilde und beinah unmögliche Stellungen uns auf alten Monumenten noch oft in Erstaunen setzen.

Durch das Talent der Kinder und ihren Lärm aufgereizt, suchte jedermann zur Unterhaltung der Gesellschaft etwas beizutragen. Die Frauenzimmer sangen einige Kanons, Laertes ließ eine Nachtigall hören, und der Pedant gab ein Konzert pianissimo auf der Maultrommel. Indessen spielten die Nachbarn und Nachbarinnen allerlei Spiele, wobei sich die Hände begegnen und vermischen, und es fehlte manchem Paare nicht am Ausdruck einer hoffnungsvollen Zärtlichkeit. Madame Melina besonders schien eine lebhafte Neigung zu Wilhelmen nicht zu verhehlen. Es war spät in der Nacht, und Aurelie, die fast allein noch Herrschaft über sich behalten hatte, ermahnte die übrigen, indem sie aufstand, auseinanderzugehen.

Serlo gab noch zum Abschied ein Feuerwerk, indem er mit dem Munde auf eine fast unbegreifliche Weise den Ton der Raketen, Schwärmer und Feuerräder nachzuahmen wußte. Man durfte die Augen nur zumachen, so war die Täuschung vollkommen. Indessen war jedermann aufgestanden, und man reichte den Frauenzimmern den Arm, sie nach Hause zu führen. Wilhelm ging zuletzt mit Aurelien. Auf der Treppe begegnete ihnen der Theatermeister und sagte: »Hier ist der Schleier, worin der Geist verschwand. Er ist an der Versenkung hängengeblieben, und wir haben ihn eben gefunden.« – »Eine wunderbare Reliquie!« rief Wilhelm und nahm ihn ab.

In dem Augenblicke fühlte er sich am linken Arme ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte sich versteckt gehabt, hatte ihn angefaßt und ihn in den Arm gebissen. Sie fuhr an ihm die Treppe hinunter und verschwand.

Als die Gesellschaft in die freie Luft kam, merkte fast jedes, daß man für diesen Abend des Guten zuviel genossen hatte. Ohne Abschied zu nehmen, verlor man sich auseinander.

Wilhelm hatte kaum seine Stube erreicht, als er seine Kleider abwarf und nach ausgelöschtem Licht ins Bett eilte. Der Schlaf wollte sogleich sich seiner bemeistern; allein ein Geräusch, das in seiner Stube hinter dem Ofen zu entstehen schien, machte ihn aufmerksam. Eben schwebte vor seiner erhitzten Phantasie das Bild des geharnischten Königs; er richtete sich auf, das Gespenst anzureden, als er sich von zarten Armen umschlungen, seinen Mund mit lebhaften Küssen verschlossen und eine Brust an der seinigen fühlte, die er wegzustoßen nicht Mut hatte.

Dreizehntes Kapitel

Wilhelm fuhr des andern Morgens mit einer unbehaglichen Empfindung in die Höhe und fand sein Bett leer. Von dem nicht völlig ausgeschlafenen Rausche war ihm der Kopf düster, und die Erinnerung an den unbekannten nächtlichen Besuch machte ihn unruhig. Sein erster Verdacht fiel auf Philinen, und doch schien der liebliche Körper, den er in seine Arme geschlossen hatte, nicht der ihrige gewesen zu sein. Unter lebhaften Liebkosungen war unser Freund an der Seite dieses seltsamen, stummen Besuches eingeschlafen, und nun war weiter keine Spur mehr davon zu entdecken. Er sprang auf, und indem er sich anzog, fand er seine Türe, die er sonst zu verriegeln pflegte, nur angelehnt und wußte sich nicht zu erinnern, ob er sie gestern abend zugeschlossen hatte.

Am wunderbarsten aber erschien ihm der Schleier des Geistes, den er auf seinem Bette fand. Er hatte ihn mit heraufgebracht und wahrscheinlich selbst dahin geworfen. Es war ein grauer Flor, an dessen Saum er eine Schrift mit schwarzen Buchstaben gestickt sah. Er entfaltete sie und las die Worte: »Zum ersten- und letztenmal! Flieh! Jüngling, flieh!« Er war betroffen und wußte nicht, was er sagen sollte.

In eben dem Augenblick trat Mignon herein und brachte ihm das Frühstück. Wilhelm erstaunte über den Anblick des Kindes, ja man kann sagen, er erschrak. Sie schien diese Nacht größer geworden zu sein; sie trat mit einem hohen, edlen Anstand vor ihn hin und sah ihm sehr ernsthaft in die Augen, so daß er den Blick nicht ertragen konnte. Sie rührte ihn nicht an wie sonst, da sie gewöhnlich ihm die Hand drückte, seine Wange, seinen Mund, seinen Arm oder seine Schulter küßte, sondern ging, nachdem sie seine Sachen in Ordnung gebracht, stillschweigend wieder fort.

Die Zeit einer angesetzten Leseprobe kam nun herbei; man versammelte sich, und alle waren durch das gestrige Fest verstimmt. Wilhelm nahm sich zusammen, so gut er konnte, um nicht gleich anfangs gegen seine so lebhaft gepredigten Grundsätze zu verstoßen. Seine große Übung half ihm durch; denn Übung und Gewohnheit müssen in jeder Kunst die Lücken ausfüllen, welche Genie und Laune so oft lassen würden.

Eigentlich aber konnte man bei dieser Gelegenheit die Bemerkung recht wahr finden, daß man keinen Zustand, der länger dauern, ja der eigentlich ein Beruf, eine Lebensweise werden soll, mit einer Feierlichkeit anfangen dürfe. Man feire nur, was glücklich vollendet ist; alle Zeremonien zum Anfange erschöpfen Lust und Kräfte, die das Streben hervorbringen und uns bei einer fortgesetzten Mühe beistehen sollen. Unter allen Festen ist das Hochzeitfest das unschicklichste; keines sollte mehr in Stille, Demut und Hoffnung begangen werden als dieses.

So schlich der Tag nun weiter, und Wilhelmen war noch keiner jemals so alltäglich vorgekommen. Statt der gewöhnlichen Unterhaltung abends fing man zu gähnen an; das Interesse an »Hamlet« war erschöpft, und man fand eher unbequem, daß er des folgenden Tages zum zweitenmal vorgestellt werden sollte. Wilhelm zeigte den Schleier des Geistes vor; man mußte daraus schließen, daß er nicht wiederkommen werde. Serlo war besonders dieser Meinung; er schien mit den Ratschlägen der wunderbaren Gestalt sehr vertraut zu sein; dagegen ließen sich aber die Worte: »Flieh! Jüngling, flieh!« nicht erklären. Wie konnte Serlo mit jemanden einstimmen, der den vorzüglichsten Schauspieler seiner Gesellschaft zu entfernen die Absicht zu haben schien.

Notwendig war es nunmehr, die Rolle des Geistes dem Polterer und die Rolle des Königs dem Pedanten zu geben. Beide erklärten, daß sie schon einstudiert seien, und es war kein Wunder, denn bei den vielen Proben und der weitläufigen Behandlung dieses Stücks waren alle so damit bekannt geworden, daß sie sämtlich gar leicht mit den Rollen hätten wechseln können. Doch probierte man einiges in der Geschwindigkeit, und als man spät genug auseinanderging, flüsterte Philine beim Abschiede Wilhelmen leise zu: »Ich muß meine Pantoffeln holen; du schiebst doch den Riegel nicht vor?« Diese Worte setzten ihn, als er auf seine Stube kam, in ziemliche Verlegenheit; denn die Vermutung, daß der Gast der vorigen Nacht Philine gewesen, ward dadurch bestärkt, und wir sind auch genötigt, uns zu dieser Meinung zu schlagen, besonders da wir die Ursachen, welche ihn hierüber zweifelhaft machten und ihm einen andern, sonderbaren Argwohn einflößen mußten, nicht entdecken können. Er ging unruhig einigemal in seinem Zimmer auf und ab und hatte wirklich den Riegel noch nicht vorgeschoben.

Auf einmal stürzte Mignon in das Zimmer, faßte ihn an und rief: »Meister! Rette das Haus! Es brennt!« Wilhelm sprang vor die Türe, und ein gewaltiger Rauch drängte sich die obere Treppe herunter ihm entgegen. Auf der Gasse hörte man schon das Feuergeschrei, und der Harfenspieler kam, sein Instrument in der Hand, durch den Rauch atemlos die Treppe herunter. Aurelie stürzte aus ihrem Zimmer und warf den kleinen Felix in Wilhelms Arme.

»Retten Sie das Kind!« rief sie, »wir wollen nach dem übrigen greifen.«

Wilhelm, der die Gefahr nicht für so groß hielt, gedachte zuerst nach dem Ursprunge des Brandes hinzudringen, um ihn vielleicht noch im Anfange zu ersticken. Er gab dem Alten das Kind und befahl ihm, die steinerne Wendeltreppe hinunter, die durch ein kleines Gartengewölbe in den Garten führte, zu eilen und mit den Kindern im Freien zu bleiben. Mignon nahm ein Licht, ihm zu leuchten. Wilhelm bat darauf Aurelien, ihre Sachen auf ebendiesem Wege zu retten. Er selbst drang durch den Rauch hinauf; aber vergebens setzte er sich der Gefahr aus. Die Flamme schien von dem benachbarten Hause herüberzudringen und hatte schon das Holzwerk des Bodens und eine leichte Treppe gefaßt; andre, die zur Rettung herbeieilten, litten wie er vom Qualm und Feuer. Doch sprach er ihnen Mut ein und rief nach Wasser; er beschwor sie, der Flamme nur Schritt vor Schritt zu weichen, und versprach, bei ihnen zu bleiben. In diesem Augenblick sprang Mignon herauf und rief: »Meister! Rette deinen Felix! Der Alte ist rasend! Der Alte bringt ihn um!« Wilhelm sprang, ohne sich zu besinnen, die Treppe hinab, und Mignon folgte ihm an den Fersen.

Auf den letzten Stufen, die ins Gartengewölbe führten, blieb er mit Entsetzen stehen. Große Bündel Stroh und Reisholz, die man daselbst aufgehäuft hatte, brannten mit heller Flamme; Felix lag am Boden und schrie; der Alte stand mit niedergesenktem Haupte seitwärts an der Wand. »Was machst du, Unglücklicher?« rief Wilhelm. Der Alte schwieg, Mignon hatte den Felix aufgehoben und schleppte mit Mühe den Knaben in den Garten, indes Wilhelm das Feuer auseinanderzuzerren und zu dämpfen strebte, aber dadurch nur die Gewalt und Lebhaftigkeit der Flamme vermehrte. Endlich mußte er mit verbrannten Augenwimpern und Haaren auch in den Garten fliehen, indem er den Alten mit durch die Flamme riß, der ihm mit versengtem Barte unwillig folgte.

Wilhelm eilte sogleich, die Kinder im Garten zu suchen. Auf der Schwelle eines entfernten Lusthäuschens fand er sie, und Mignon tat ihr möglichstes, den Kleinen zu beruhigen. Wilhelm nahm ihn auf den Schoß, fragte ihn, befühlte ihn und konnte nichts Zusammenhängendes aus beiden Kindern herausbringen.

Indessen hatte das Feuer gewaltsam mehrere Häuser ergriffen und erhellte die ganze Gegend. Wilhelm besah das Kind beim roten Schein der Flamme; er konnte keine Wunde, kein Blut, ja keine Beule wahrnehmen. Er betastete es überall, es gab kein Zeichen von Schmerz von sich, es beruhigte sich vielmehr nach und nach und fing an, sich über die Flamme zu verwundern, ja sich über die schönen, der Ordnung nach, wie eine Illumination, brennenden Sparren und Gebälke zu erfreuen.

Wilhelm dachte nicht an die Kleider und was er sonst verloren haben konnte; er fühlte stark, wie wert ihm diese beiden menschlichen Geschöpfe seien, die er einer so großen Gefahr entronnen sah. Er drückte den Kleinen mit einer ganz neuen Empfindung an sein Herz und wollte auch Mignon mit freudiger Zärtlichkeit umarmen, die es aber sanft ablehnte, ihn bei der Hand nahm und sie festhielt.

»Meister«, sagte sie (noch niemals als diesen Abend hatte sie ihm diesen Namen gegeben, denn anfangs pflegte sie ihn Herr und nachher Vater zu nennen), »Meister! wir sind einer großen Gefahr entronnen: dein Felix war am Tode.«

Durch viele Fragen erfuhr endlich Wilhelm, daß der Harfenspieler, als sie in das Gewölbe gekommen, ihr das Licht aus der Hand gerissen und das Stroh sogleich angezündet habe. Darauf habe er den Felix niedergesetzt, mit wunderlichen Gebärden die Hände auf des Kindes Kopf gelegt und ein Messer gezogen, als wenn er ihn opfern wolle. Sie sei zugesprungen und habe ihm das Messer aus der Hand gerissen; sie habe geschrien, und einer vom Hause, der einige Sachen nach dem Garten zu gerettet, sei ihr zu Hülfe gekommen, der müsse aber in der Verwirrung wieder weggegangen sein und den Alten und das Kind allein gelassen haben.

Zwei bis drei Häuser standen in vollen Flammen. In den Garten hatte sich niemand retten können wegen des Brandes im Gartengewölbe. Wilhelm war verlegen wegen seiner Freunde, weniger wegen seiner Sachen. Er getraute sich nicht, die Kinder zu verlassen, und sah das Unglück sich immer vergrößern.

Er brachte einige Stunden in einer bänglichen Lage zu. Felix war auf seinem Schoße eingeschlafen, Mignon lag neben ihm und hielt seine Hand fest. Endlich hatten die getroffenen Anstalten dem Feuer Einhalt getan. Die ausgebrannten Gebäude stürzten zusammen, der Morgen kam herbei, die Kinder fingen an zu frieren, und ihm selbst ward in seiner leichten Kleidung der fallende Tau fast unerträglich. Er führte sie zu den Trümmern des zusammengestürzten Gebäudes, und sie fanden neben einem Kohlen- und Aschenhaufen eine sehr behagliche Wärme.

Der anbrechende Tag brachte nun alle Freunde und Bekannte nach und nach zusammen. Jedermann hatte sich gerettet, niemand hatte viel verloren.

Wilhelms Koffer fand sich auch wieder, und Serlo trieb, als es gegen zehn Uhr ging, zur Probe von »Hamlet«, wenigstens einiger Szenen, die mit neuen Schauspielern besetzt waren. Er hatte darauf noch einige Debatten mit der Polizei. Die Geistlichkeit verlangte: daß nach einem solchen Strafgerichte Gottes das Schauspielhaus geschlossen bleiben sollte, und Serlo behauptete: daß teils zum Ersatz dessen, was er diese Nacht verloren, teils zur Aufheiterung der erschreckten Gemüter die Aufführung eines interessanten Stückes mehr als jemals am Platz sei. Diese letzte Meinung drang durch, und das Haus war gefüllt. Die Schauspieler spielten mit seltenem Feuer und mit mehr leidenschaftlicher Freiheit als das erstemal. Die Zuschauer, deren Gefühl durch die schreckliche nächtliche Szene erhöht und durch die Langeweile eines zerstreuten und verdorbenen Tages noch mehr auf eine interessante Unterhaltung gespannt war, hatten mehr Empfänglichkeit für das Außerordentliche. Der größte Teil waren neue, durch den Ruf des Stücks herbeigezogene Zuschauer, die keine Vergleichung mit dem ersten Abend anstellen konnten. Der Polterer spielte ganz im Sinne des unbekannten Geistes, und der Pedant hatte seinem Vorgänger gleichfalls gut aufgepaßt; daneben kam ihm seine Erbärmlichkeit sehr zustatten, daß ihm Hamlet wirklich nicht unrecht tat, wenn er ihn, trotz seines Purpurmantels und Hermelinkragens, einen zusammengeflickten Lumpenkönig schalt.

Sonderbarer als er war vielleicht niemand zum Throne gelangt; und obgleich die übrigen, besonders aber Philine, sich über seine neue Würde äußerst lustig machten, so ließ er doch merken, daß der Graf, als ein großer Kenner, das und noch viel mehr von ihm beim ersten Anblick vorausgesagt habe; dagegen ermahnte ihn Philine zur Demut und versicherte: sie werde ihm gelegentlich die Rockärmel pudern, damit er sich jener unglücklichen Nacht im Schlosse erinnern und die Krone mit Bescheidenheit tragen möge.

Vierzehntes Kapitel

Man hatte sich in der Geschwindigkeit nach Quartieren umgesehen, und die Gesellschaft war dadurch sehr zerstreut worden. Wilhelm hatte das Lusthaus in dem Garten, bei dem er die Nacht zugebracht, liebgewonnen; er erhielt leicht die Schlüssel dazu und richtete sich daselbst ein; da aber Aurelie in ihrer neuen Wohnung sehr eng war, mußte er den Felix bei sich behalten, und Mignon wollte den Knaben nicht verlassen.

Die Kinder hatten ein artiges Zimmer in dem ersten Stocke eingenommen, Wilhelm hatte sich in dem untern Saale eingerichtet. Die Kinder schliefen, aber er konnte keine Ruhe finden.

Neben dem anmutigen Garten, den der eben aufgegangene Vollmond herrlich erleuchtete, standen die traurigen Ruinen, von denen hier und da noch Dampf aufstieg; die Luft war angenehm und die Nacht außerordentlich schön. Philine hatte beim Herausgehen aus dem Theater ihn mit dem Ellenbogen angestrichen und ihm einige Worte zugelispelt, die er aber nicht verstanden hatte. Er war verwirrt und verdrießlich und wußte nicht, was er erwarten oder tun sollte. Philine hatte ihn einige Tage gemieden und ihm nur diesen Abend wieder ein Zeichen gegeben. Leider war nun die Türe verbrannt, die er nicht zuschließen sollte, und die Pantöffelchen waren in Rauch aufgegangen. Wie die Schöne in den Garten kommen wollte, wenn es ihre Absicht war, wußte er nicht. Er wünschte sie nicht zu sehen, und doch hätte er sich gar zu gern mit ihr erklären mögen.

Was ihm aber noch schwerer auf dem Herzen lag, war das Schicksal des Harfenspielers, den man nicht wieder gesehen hatte. Wilhelm fürchtete, man würde ihn beim Aufräumen tot unter dem Schutte finden. Wilhelm hatte gegen jedermann den Verdacht verborgen, den er hegte, daß der Alte schuld an dem Brande sei. Denn er kam ihm zuerst von dem brennenden und rauchenden Boden entgegen, und die Verzweiflung im Gartengewölbe schien die Folge eines solchen unglücklichen Ereignisses zu sein. Doch war es bei der Untersuchung, welche die Polizei sogleich anstellte, wahrscheinlich geworden, daß nicht in dem Hause, wo sie wohnten, sondern in dem dritten davon der Brand entstanden sei, der sich auch sogleich unter den Dächern weggeschlichen hatte.

Wilhelm überlegte das alles in einer Laube sitzend, als er in einem nahen Gange jemanden schleichen hörte. An dem traurigen Gesange, der sogleich angestimmt ward, erkannte er den Harfenspieler. Das Lied, das er sehr wohl verstehen konnte, enthielt den Trost eines Unglücklichen, der sich dem Wahnsinne ganz nahe fühlt. Leider hat Wilhelm davon nur die letzte Strophe behalten.

An die Türen will ich schleichen,

Still und sittsam will ich stehn,

Fromme Hand wird Nahrung reichen,

Und ich werde weitergehn.

Jeder wird sich glücklich scheinen,

Wenn mein Bild vor ihm erscheint,

Eine Träne wird er weinen,

Und ich weiß nicht, was er weint.

Unter diesen Worten war er an die Gartentüre gekommen, die nach einer entlegenen Straße ging; er wollte, da er sie verschlossen fand, an den Spalieren übersteigen; allein Wilhelm hielt ihn zurück und redete ihn freundlich an. Der Alte bat ihn, aufzuschließen, weil er fliehen wolle und müsse. Wilhelm stellte ihm vor, daß er wohl aus dem Garten, aber nicht aus der Stadt könne, und zeigte ihm, wie sehr er sich durch einen solchen Schritt verdächtig mache; allein vergebens! Der Alte bestand auf seinem Sinne. Wilhelm gab nicht nach und drängte ihn endlich halb mit Gewalt ins Gartenhaus, schloß sich daselbst mit ihm ein und führte ein wunderbares Gespräch mit ihm, das wir aber, um unsere Leser nicht mit unzusammenhängenden Ideen und bänglichen Empfindungen zu quälen, lieber verschweigen als ausführlich mitteilen.

Funfzehntes Kapitel

Aus der großen Verlegenheit, worin sich Wilhelm befand, was er mit dem unglücklichen Alten beginnen sollte, der so deutliche Spuren des Wahnsinns zeigte, riß ihn Laertes noch am selbigen Morgen. Dieser, der nach seiner alten Gewohnheit überall zu sein pflegte, hatte auf dem Kaffeehaus einen Mann gesehen, der vor einiger Zeit die heftigsten Anfälle von Melancholie erduldete. Man hatte ihn einem Landgeistlichen anvertraut, der sich ein besonders Geschäft daraus machte, dergleichen Leute zu behandeln. Auch diesmal war es ihm gelungen; noch war er in der Stadt, und die Familie des Wiederhergestellten erzeigte ihm große Ehre.

Wilhelm eilte sogleich, den Mann aufzusuchen, vertraute ihm den Fall und ward mit ihm einig. Man wußte unter gewissen Vorwänden ihm den Alten zu übergeben. Die Scheidung schmerzte Wilhelmen tief, und nur die Hoffnung, ihn wiederhergestellt zu sehen, konnte sie ihm einigermaßen erträglich machen, so sehr war er gewohnt, den Mann um sich zu sehen und seine geistreichen und herzlichen Töne zu vernehmen. Die Harfe war mit verbrannt; man suchte eine andere, die man ihm auf die Reise mitgab.

Auch hatte das Feuer die kleine Garderobe Mignons verzehrt, und als man ihr wieder etwas Neues schaffen wollte, tat Aurelie den Vorschlag, daß man sie doch endlich als Mädchen kleiden solle.

»Nun gar nicht!« rief Mignon aus und bestand mit großer Lebhaftigkeit auf ihrer alten Tracht, worin man ihr denn auch willfahren mußte.

Die Gesellschaft hatte nicht viel Zeit, sich zu besinnen; die Vorstellungen gingen ihren Gang.

Wilhelm horchte oft ins Publikum, und nur selten kam ihm eine Stimme entgegen, wie er sie zu hören wünschte, ja öfters vernahm er, was ihn betrübte oder verdroß. So erzählte zum Beispiel gleich nach der ersten Aufführung »Hamlets« ein junger Mensch mit großer Lebhaftigkeit, wie zufrieden er an jenem Abend im Schauspielhause gewesen. Wilhelm lauschte und hörte zu seiner großen Beschämung, daß der junge Mann zum Verdruß seiner Hintermänner den Hut aufbehalten und ihn hartnäckig das ganze Stück hindurch nicht abgetan hatte, welcher Heldentat er sich mit dem größten Vergnügen erinnerte.

Ein anderer versicherte: Wilhelm habe die Rolle des Laertes sehr gut gespielt; hingegen mit dem Schauspieler, der den Hamlet unternommen, könne man nicht ebenso zufrieden sein. Diese Verwechslung war nicht ganz unnatürlich, denn Wilhelm und Laertes glichen sich, wiewohl in einem sehr entfernten Sinne.

Ein dritter lobte sein Spiel, besonders in der Szene mit der Mutter, aufs lebhafteste und bedauerte nur: daß eben in diesem feurigen Augenblick ein weißes Band unter der Weste hervorgesehen habe, wodurch die Illusion äußerst gestört worden sei.

In dem Innern der Gesellschaft gingen indessen allerlei Veränderungen vor. Philine hatte seit jenem Abend nach dem Brande Wilhelmen auch nicht das geringste Zeichen einer Annäherung gegeben. Sie hatte, wie es schien vorsätzlich, ein entfernteres Quartier gemietet, vertrug sich mit Elmiren und kam seltener zu Serlo, womit Aurelie wohl zufrieden war. Serlo, der ihr immer gewogen blieb, besuchte sie manchmal, besonders da er Elmiren bei ihr zu finden hoffte, und nahm eines Abends Wilhelmen mit sich. Beide waren im Hereintreten sehr verwundert, als sie Philinen in dem zweiten Zimmer in den Armen eines jungen Offiziers sahen, der eine rote Uniform und weiße Unterkleider anhatte, dessen abgewendetes Gesicht sie aber nicht sehen konnten. Philine kam ihren besuchenden Freunden in das Vorzimmer entgegen und verschloß das andere. »Sie überraschen mich bei einem wunderbaren Abenteuer!« rief sie aus.

»So wunderbar ist es nicht«, sagte Serlo; »lassen Sie uns den hübschen, jungen, beneidenswerten Freund sehen; Sie haben uns ohnedem schon so zugestutzt, daß wir nicht eifersüchtig sein dürfen.«

»Ich muß Ihnen diesen Verdacht noch eine Zeitlang lassen«, sagte Philine scherzend; »doch kann ich Sie versichern, daß es nur eine gute Freundin ist, die sich einige Tage unbekannt bei mir aufhalten will. Sie sollen ihre Schicksale künftig erfahren, ja vielleicht das interessante Mädchen selbst kennenlernen, und ich werde wahrscheinlich alsdann Ursache haben, meine Bescheidenheit und Nachsicht zu üben; denn ich fürchte, die Herren werden über ihre neue Bekanntschaft ihre alte Freundin vergessen.«

Wilhelm stand versteinert da; denn gleich beim ersten Anblick hatte ihn die rote Uniform an den so sehr geliebten Rock Marianens erinnert; es war ihre Gestalt, es waren ihre blonden Haare, nur schien ihm der gegenwärtige Offizier etwas größer zu sein.

»Um des Himmels willen!« rief er aus, »lassen Sie uns mehr von Ihrer Freundin wissen, lassen Sie uns das verkleidete Mädchen sehen. Wir sind nun einmal Teilnehmer des Geheimnisses; wir wollen versprechen, wir wollen schwören, aber lassen Sie uns das Mädchen sehen!«

»O wie er in Feuer ist!« rief Philine, »nur gelassen, nur geduldig, heute wird einmal nichts draus.«

»So lassen Sie uns nur ihren Namen wissen!« rief Wilhelm.

»Das wäre alsdann ein schönes Geheimnis«, versetzte Philine.

»Wenigstens nur den Vornamen.«

»Wenn Sie ihn raten, meinetwegen. Dreimal dürfen Sie raten, aber nicht öfter; Sie könnten mich sonst durch den ganzen Kalender durchführen.«

»Gut«, sagte Wilhelm; »Cecilie also?«

»Nichts von Cecilien!«

»Henriette?«

»Keineswegs! Nehmen Sie sich in acht! Ihre Neugierde wird ausschlafen müssen.«

Wilhelm zauderte und zitterte; er wollte seinen Mund auftun, aber die Sprache versagte ihm. »Mariane?« stammelte er endlich, »Mariane!«

»Bravo!« rief Philine, »getroffen!« indem sie sich nach ihrer Gewohnheit auf dem Absatze herumdrehte.

Wilhelm konnte kein Wort hervorbringen, und Serlo, der seine Gemütsbewegung nicht bemerkte, fuhr fort, in Philinen zu dringen, daß sie die Türe öffnen sollte.

Wie verwundert waren daher beide, als Wilhelm auf einmal heftig ihre Neckerei unterbrach, sich Philinen zu Füßen warf und sie mit dem lebhaftesten Ausdrucke der Leidenschaft bat und beschwor. »Lassen Sie mich das Mädchen sehen«, rief er aus, »sie ist mein, es ist meine Mariane! Sie, nach der ich mich alle Tage meines Lebens gesehnt habe, sie, die mir noch immer statt aller andern Weiber in der Welt ist! Gehen Sie wenigstens zu ihr hinein, sagen Sie ihr, daß ich hier bin, daß der Mensch hier ist, der seine erste Liebe und das ganze Glück seiner Jugend an sie knüpfte. Er will sich rechtfertigen, daß er sie unfreundlich verließ, er will sie um Verzeihung bitten, er will ihr vergeben, was sie auch gegen ihn gefehlt haben mag, er will sogar keine Ansprüche an sie mehr machen, wenn er sie nur noch einmal sehen kann, wenn er nur sehen kann, daß sie lebt und glücklich ist!«

Philine schüttelte den Kopf und sagte: »Mein Freund, reden Sie leise! Betriegen wir uns nicht; und ist das Frauenzimmer wirklich Ihre Freundin, so müssen wir sie schonen, denn sie vermutet keinesweges, Sie hier zu sehen. Ganz andere Angelegenheiten führen sie hierher, und das wissen Sie doch, man möchte oft lieber ein Gespenst als einen alten Liebhaber zur unrechten Zeit vor Augen sehen. Ich will sie fragen, ich will sie vorbereiten, und wir wollen überlegen, was zu tun ist. Ich schreibe Ihnen morgen ein Billett, zu welcher Stunde Sie kommen sollen, oder ob Sie kommen dürfen; gehorchen Sie mir pünktlich, denn ich schwöre, niemand soll gegen meinen und meiner Freundin Willen dieses liebenswürdige Geschöpf mit Augen sehen. Meine Türen werde ich besser verschlossen halten, und mit Axt und Beil werden Sie mich nicht besuchen wollen.«

Wilhelm beschwor sie, Serlo redete ihr zu; vergebens! Beide Freunde mußten zuletzt nachgeben, das Zimmer und das Haus räumen.

Welche unruhige Nacht Wilhelm zubrachte, wird sich jedermann denken. Wie langsam die Stunden des Tages dahinzogen, in denen er Philinens Billett erwartete, läßt sich begreifen. Unglücklicherweise mußte er selbigen Abend spielen; er hatte niemals eine größere Pein ausgestanden. Nach geendigtem Stücke eilte er zu Philinen, ohne nur zu fragen, ob er eingeladen worden. Er fand ihre Türe verschlossen, und die Hausleute sagten: Mademoiselle sei heute früh mit einem jungen Offizier weggefahren; sie habe zwar gesagt, daß sie in einigen Tagen wiederkomme, man glaube es aber nicht, weil sie alles bezahlt und ihre Sachen mitgenommen habe.

Wilhelm war außer sich über diese Nachricht. Er eilte zu Laertes und schlug ihm vor, ihr nachzusetzen und, es koste, was es wolle, über ihren Begleiter Gewißheit zu erlangen. Laertes dagegen verwies seinem Freunde seine Leidenschaft und Leichtgläubigkeit. »Ich will wetten«, sagte er, »es ist niemand anders als Friedrich. Der Junge ist von gutem Hause, ich weiß es recht wohl; er ist unsinnig in das Mädchen verliebt und hat wahrscheinlich seinen Verwandten so viel Geld abgelockt, daß er wieder eine Zeitlang mit ihr leben kann.«

Durch diese Einwendungen ward Wilhelm nicht überzeugt, doch zweifelhaft. Laertes stellte ihm vor, wie unwahrscheinlich das Märchen sei, das Philine ihnen vorgespiegelt hatte, wie Figur und Haar sehr gut auf Friedrichen passe, wie sie bei zwölf Stunden Vorsprung so leicht nicht einzuholen sein würden und hauptsächlich, wie Serlo keinen von ihnen beiden beim Schauspiele entbehren könne.

Durch all diese Gründe wurde Wilhelm endlich nur so weit gebracht, daß er Verzicht darauf tat, selbst nachzusetzen. Laertes wußte noch in selbiger Nacht einen tüchtigen Mann zu schaffen, dem man den Auftrag geben konnte. Es war ein gesetzter Mann, der mehreren Herrschaften auf Reisen als Kurier und Führer gedient hatte und eben jetzt ohne Beschäftigung stillelag. Man gab ihm Geld, man unterrichtete ihn von der ganzen Sache, mit dem Auftrage, daß er die Flüchtlinge aufsuchen und einholen, sie alsdann nicht aus den Augen lassen und die Freunde sogleich, wo und wie er sie fände, benachrichtigen solle. Er setzte sich in derselbigen Stunde zu Pferde und ritt dem zweideutigen Paare nach, und Wilhelm war durch diese Anstalt wenigstens einigermaßen beruhigt.

Sechzehntes Kapitel

Die Entfernung Philinens machte keine auffallende Sensation weder auf dem Theater noch im Publiko. Es war ihr mit allem wenig Ernst; die Frauen haßten sie durchgängig, und die Männer hätten sie lieber unter vier Augen als auf dem Theater gesehen, und so war ihr schönes und für die Bühne selbst glückliches Talent verloren. Die übrigen Glieder der Gesellschaft gaben sich desto mehr Mühe; Madame Melina besonders tat sich durch Fleiß und Aufmerksamkeit sehr hervor. Sie merkte, wie sonst, Wilhelmen seine Grundsätze ab, richtete sich nach seiner Theorie und seinem Beispiel und hatte zeither ein ich weiß nicht was in ihrem Wesen, das sie interessanter machte. Sie erlangte bald ein richtiges Spiel und gewann den natürlichen Ton der Unterhaltung vollkommen und den der Empfindung bis auf einen gewissen Grad. Sie wußte sich in Serlos Launen zu schicken und befliß sich des Singens ihm zu Gefallen, worin sie auch bald so weit kam, als man dessen zur geselligen Unterhaltung bedarf.

Durch einige neu angenommene Schauspieler ward die Gesellschaft noch vollständiger, und indem Wilhelm und Serlo jeder in seiner Art wirkte, jener bei jedem Stücke auf den Sinn und Ton des Ganzen drang, dieser die einzelnen Teile gewissenhaft durcharbeitete, belebte ein lobenswürdiger Eifer auch die Schauspieler, und das Publikum nahm an ihnen einen lebhaften Anteil.

»Wir sind auf einem guten Wege«, sagte Serlo einst, »und wenn wir so fortfahren, wird das Publikum auch bald auf dem rechten sein. Man kann die Menschen sehr leicht durch tolle und unschickliche Darstellungen irremachen; aber man lege ihnen das Vernünftige und Schickliche auf eine interessante Weise vor, so werden sie gewiß darnach greifen.

Was unserm Theater hauptsächlich fehlt und warum weder Schauspieler noch Zuschauer zur Besinnung kommen, ist, daß es darauf im ganzen zu bunt aussieht und daß man nirgends eine Grenze hat, woran man sein Urteil anlehnen könnte. Es scheint mir kein Vorteil zu sein, daß wir unser Theater gleichsam zu einem unendlichen Naturschauplatze ausgeweitet haben; doch kann jetzt weder Direktor noch Schauspieler sich in die Enge ziehen, bis vielleicht der Geschmack der Nation in der Folge den rechten Kreis selbst bezeichnet. Eine jede gute Sozietät existiert nur unter gewissen Bedingungen, so auch ein gutes Theater. Gewisse Manieren und Redensarten, gewisse Gegenstände und Arten des Betragens müssen ausgeschlossen sein. Man wird nicht ärmer, wenn man sein Hauswesen zusammenzieht.«

Sie waren hierüber mehr oder weniger einig und uneinig. Wilhelm und die meisten waren auf der Seite des englischen, Serlo und einige auf der Seite des französischen Theaters.

Man ward einig, in leeren Stunden, deren ein Schauspieler leider so viele hat, in Gesellschaft die berühmtesten Schauspiele beider Theater durchzugehen und das Beste und Nachahmenswerte derselben zu bemerken. Man machte auch wirklich einen Anfang mit einigen französischen Stücken. Aurelie entfernte sich jedesmal, sobald die Vorlesung anging. Anfangs hielt man sie für krank; einst aber fragte sie Wilhelm darüber, dem es aufgefallen war.

»Ich werde bei keiner solchen Vorlesung gegenwärtig sein«, sagte sie, »denn wie soll ich hören und urteilen, wenn mir das Herz zerrissen ist? Ich hasse die französische Sprache von ganzer Seele.«

»Wie kann man einer Sprache feind sein«, rief Wilhelm aus, »der man den größten Teil seiner Bildung schuldig ist und der wir noch viel schuldig werden müssen, ehe unser Wesen eine Gestalt gewinnen kann?«

»Es ist kein Vorurteil!« versetzte Aurelie, »ein unglücklicher Eindruck, eine verhaßte Erinnerung an meinen treulosen Freund hat mir die Lust an dieser schönen und ausgebildeten Sprache geraubt. Wie ich sie jetzt von ganzem Herzen hasse! Während der Zeit unserer freundschaftlichen Verbindung schrieb er Deutsch, und welch ein herzliches, wahres, kräftiges Deutsch! Nun, da er mich los sein wollte, fing er an, Französisch zu schreiben, das vorher manchmal nur im Scherze geschehen war. Ich fühlte, ich merkte, was es bedeuten sollte. Was er in seiner Muttersprache zu sagen errötete, konnte er nun mit gutem Gewissen hinschreiben. Zu Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es eine treffliche Sprache; sie ist eine perfide Sprache! Ich finde, Gott sei Dank! kein deutsches Wort, um ›perfid‹ in seinem ganzen Umfange auszudrücken. Unser armseliges treulos ist ein unschuldiges Kind dagegen. Perfid ist treulos mit Genuß, mit Übermut und Schadenfreude. Oh, die Ausbildung einer Nation ist zu beneiden, die so feine Schattierungen in einem Worte auszudrücken weiß! Französisch ist recht die Sprache der Welt, wert, die allgemeine Sprache zu sein, damit sie sich nur alle untereinander recht betrügen und belügen können! Seine französischen Briefe ließen sich noch immer gut genug lesen. Wenn man sich’s einbilden wollte, klangen sie warm und selbst leidenschaftlich; doch genau besehen waren es Phrasen, vermaledeite Phrasen! Er hat mir alle Freude an der ganzen Sprache, an der französischen Literatur, selbst an dem schönen und köstlichen Ausdruck edler Seelen in dieser Mundart verdorben; mich schaudert, wenn ich ein französisches Wort höre!«

Auf diese Weise konnte sie stundenlang fortfahren, ihren Unmut zu zeigen und jede andere Unterhaltung zu unterbrechen oder zu verstimmen. Serlo machte früher oder später ihren launischen Äußerungen mit einiger Bitterkeit ein Ende; aber gewöhnlich war für diesen Abend das Gespräch zerstört.

Überhaupt ist es leider der Fall, daß alles, was durch mehrere zusammentreffende Menschen und Umstände hervorgebracht werden soll, keine lange Zeit sich vollkommen erhalten kann. Von einer Theatergesellschaft so gut wie von einem Reiche, von einem Zirkel Freunde so gut wie von einer Armee läßt sich gewöhnlich der Moment angeben, wenn sie auf der höchsten Stufe ihrer Vollkommenheit, ihrer Übereinstimmung, ihrer Zufriedenheit und Tätigkeit standen; oft aber verändert sich schnell das Personal, neue Glieder treten hinzu, die Personen passen nicht mehr zu den Umständen, die Umstände nicht mehr zu den Personen; es wird alles anders, und was vorher verbunden war, fällt nunmehr bald auseinander. So konnte man sagen, daß Serlos Gesellschaft eine Zeitlang so vollkommen war, als irgend eine deutsche sich hätte rühmen können. Die meisten Schauspieler standen an ihrem Platze; alle hatten genug zu tun, und alle taten gern, was zu tun war. Ihre persönlichen Verhältnisse waren leidlich, und jedes schien in seiner Kunst viel zu versprechen, weil jedes die ersten Schritte mit Feuer und Munterkeit tat. Bald aber entdeckte sich, daß ein Teil doch nur Automaten waren, die nur das erreichen konnten, wohin man ohne Gefühl gelangen kann, und bald mischten sich die Leidenschaften dazwischen, die gewöhnlich jeder guten Einrichtung im Wege stehen und alles so leicht auseinanderzerren, was vernünftige und wohldenkende Menschen zusammenzuhalten wünschen.

Philinens Abgang war nicht so unbedeutend, als man anfangs glaubte. Sie hatte mit großer Geschicklichkeit Serlo zu unterhalten und die übrigen mehr oder weniger zu reizen gewußt. Sie ertrug Aureliens Heftigkeit mit großer Geduld, und ihr eigenstes Geschäft war, Wilhelmen zu schmeicheln. So war sie eine Art von Bindungsmittel fürs Ganze, und ihr Verlust mußte bald fühlbar werden.

Serlo konnte ohne eine kleine Liebschaft nicht leben. Elmire, die in weniger Zeit herangewachsen und, man könnte beinahe sagen, schön geworden war, hatte schon lange seine Aufmerksamkeit erregt, und Philine war klug genug, diese Leidenschaft, die sie merkte, zu begünstigen. »Man muß sich«, pflegte sie zu sagen, »beizeiten aufs Kuppeln legen; es bleibt uns doch weiter nichts übrig, wenn wir alt werden.« Dadurch hatten sich Serlo und Elmire dergestalt genähert, daß sie nach Philinens Abschiede bald einig wurden, und der kleine Roman interessierte sie beide um so mehr, als sie ihn vor dem Alten, der über eine solche Unregelmäßigkeit keinen Scherz verstanden hätte, geheimzuhalten alle Ursache hatten. Elmirens Schwester war mit im Verständnis, und Serlo mußte beiden Mädchen daher vieles nachsehen. Eine ihrer größten Untugenden war eine unmäßige Näscherei, ja, wenn man will, eine unleidliche Gefräßigkeit, worin sie Philinen keinesweges glichen, die dadurch einen neuen Schein von Liebenswürdigkeit erhielt, daß sie gleichsam nur von der Luft lebte, sehr wenig aß und nur den Schaum eines Champagnerglases mit der größten Zierlichkeit wegschlürfte.

Nun aber mußte Serlo, wenn er seiner Schönen gefallen wollte, das Frühstück mit dem Mittagessen verbinden und an dieses durch ein Vesperbrot das Abendessen anknüpfen. Dabei hatte Serlo einen Plan, dessen Ausführung ihn beunruhigte. Er glaubte eine gewisse Neigung zwischen Wilhelmen und Aurelien zu entdecken und wünschte sehr, daß sie ernstlich werden möchte. Er hoffte den ganzen mechanischen Teil der Theaterwirtschaft Wilhelmen aufzubürden und an ihm, wie an seinem ersten Schwager, ein treues und fleißiges Werkzeug zu finden. Schon hatte er ihm nach und nach den größten Teil der Besorgung unmerklich übertragen, Aurelie führte die Kasse, und Serlo lebte wieder wie in früheren Zeiten ganz nach seinem Sinne. Doch war etwas, was sowohl ihn als seine Schwester heimlich kränkte.

Das Publikum hat eine eigene Art, gegen öffentliche Menschen von anerkanntem Verdienste zu verfahren; es fängt nach und nach an, gleichgültig gegen sie zu werden, und begünstigt viel geringere, aber neu erscheinende Talente; es macht an jene übertriebene Forderungen und läßt sich von diesen alles gefallen.

Serlo und Aurelie hatten Gelegenheit genug, hierüber Betrachtungen anzustellen. Die neuen Ankömmlinge, besonders die jungen und wohlgebildeten, hatten alle Aufmerksamkeit, allen Beifall auf sich gezogen, und beide Geschwister mußten die meiste Zeit, nach ihren eifrigsten Bemühungen, ohne den willkommenen Klang der zusammenschlagenden Hände abtreten. Freilich kamen dazu noch besondere Ursachen. Aureliens Stolz war auffallend, und von ihrer Verachtung des Publikums waren viele unterrichtet. Serlo schmeichelte zwar jedermann im einzelnen, aber seine spitzen Reden über das Ganze waren doch auch öfters herumgetragen und wiederholt worden. Die neuen Glieder hingegen waren teils fremd und unbekannt, teils jung, liebenswürdig und hülfsbedürftig und hatten also auch sämtlich Gönner gefunden.

Nun gab es auch bald innerliche Unruhen und manches Mißvergnügen; denn kaum bemerkte man, daß Wilhelm die Beschäftigung eines Regisseurs übernommen hatte, so fingen die meisten Schauspieler um desto mehr an, unartig zu werden, als er nach seiner Weise etwas mehr Ordnung und Genauigkeit in das Ganze zu bringen wünschte und besonders darauf bestand, daß alles Mechanische vor allen Dingen pünktlich und ordentlich gehen solle.

In kurzer Zeit war das ganze Verhältnis, das wirklich eine Zeitlang beinahe idealisch gehalten hatte, so gemein, als man es nur irgend bei einem herumreisenden Theater finden mag. Und leider in dem Augenblicke, als Wilhelm durch Mühe, Fleiß und Anstrengung sich mit allen Erfordernissen des Metiers bekannt gemacht und seine Person sowohl als seine Geschäftigkeit vollkommen dazu gebildet hatte, schien es ihm endlich in trüben Stunden, daß dieses Handwerk weniger als irgendein anders den nötigen Aufwand von Zeit und Kräften verdiene. Das Geschäft war lästig und die Belohnung gering. Er hätte jedes andere lieber übernommen, bei dem man doch, wenn es vorbei ist, der Ruhe des Geistes genießen kann, als dieses, wo man nach überstandenen mechanischen Mühseligkeiten noch durch die höchste Anstrengung des Geistes und der Empfindung erst das Ziel seiner Tätigkeit erreichen soll. Er mußte die Klagen Aureliens über die Verschwendung des Bruders hören, er mußte die Winke Serlos mißverstehen, wenn dieser ihn zu einer Heirat mit der Schwester von ferne zu leiten suchte. Er hatte dabei seinen Kummer zu verbergen, der ihn auf das tiefste drückte, indem der nach dem zweideutigen Offizier fortgeschickte Bote nicht zurückkam, auch nichts von sich hören ließ und unser Freund daher seine Mariane zum zweitenmal verloren zu haben fürchten mußte.

Zu eben der Zeit fiel eine allgemeine Trauer ein, wodurch man genötigt ward, das Theater auf einige Wochen zu schließen. Er ergriff diese Zwischenzeit, um jenen Geistlichen zu besuchen, bei welchem der Harfenspieler in der Kost war. Er fand ihn in einer angenehmen Gegend, und das erste, was er in dem Pfarrhofe erblickte, war der Alte, der einem Knaben auf seinem Instrumente Lektion gab. Er bezeugte viel Freude, Wilhelmen wiederzusehen, stand auf und reichte ihm die Hand und sagte: »Sie sehen, daß ich in der Welt doch noch zu etwas nütze bin; Sie erlauben, daß ich fortfahre, denn die Stunden sind eingeteilt.«

Der Geistliche begrüßte Wilhelmen auf das freundlichste und erzählte ihm, daß der Alte sich schon recht gut anlasse und daß man Hoffnung zu seiner völligen Genesung habe.

Ihr Gespräch fiel natürlich auf die Methode, Wahnsinnige zu kurieren.

»Außer dem Physischen«, sagte der Geistliche, »das uns oft unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg legt und worüber ich einen denkenden Arzt zu Rate ziehe, finde ich die Mittel, vom Wahnsinne zu heilen, sehr einfach. Es sind ebendieselben, wodurch man gesunde Menschen hindert, wahnsinnig zu werden. Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem Gewöhnlichen sind; so wird sich kein Wahnsinn einschleichen und, wenn er da ist, nach und nach wieder verschwinden. Ich habe des alten Mannes Stunden eingeteilt, er unterrichtet einige Kinder auf der Harfe, er hilft im Garten arbeiten und ist schon viel heiterer. Er wünscht von dem Kohle zu genießen, den er pflanzt, und wünscht meinen Sohn, dem er die Harfe auf den Todesfall geschenkt hat, recht emsig zu unterrichten, damit sie der Knabe ja auch brauchen könne. Als Geistlicher suche ich ihm über seine wunderbaren Skrupel nur wenig zu sagen, aber ein tätiges Leben führt so viele Ereignisse herbei, daß er bald fühlen muß, daß jede Art von Zweifel nur durch Wirksamkeit gehoben werden kann. Ich gehe sachte zu Werke; wenn ich ihm aber noch seinen Bart und seine Kutte wegnehmen kann, so habe ich viel gewonnen: denn es bringt uns nichts näher dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor andern auszeichnen, und nichts erhält so sehr den gemeinen Verstand, als im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen zu leben. Wie vieles ist leider nicht in unserer Erziehung und in unsern bürgerlichen Einrichtungen, wodurch wir uns und unsere Kinder zur Tollheit vorbereiten.«

Wilhelm verweilte bei diesem vernünftigen Manne einige Tage und erfuhr die interessantesten Geschichten, nicht allein von verrückten Menschen, sondern auch von solchen, die man für klug, ja für weise zu halten pflegt und deren Eigentümlichkeiten nahe an den Wahnsinn grenzen.

Dreifach belebt aber ward die Unterhaltung, als der Medikus eintrat, der den Geistlichen, seinen Freund, öfters zu besuchen und ihm bei seinen menschenfreundlichen Bemühungen beizustehen pflegte. Es war ein ältlicher Mann, der bei einer schwächlichen Gesundheit viele Jahre in Ausübung der edelsten Pflichten zugebracht hatte. Er war ein großer Freund vom Landleben und konnte fast nicht anders als in freier Luft sein; dabei war er äußerst gesellig und tätig und hatte seit vielen Jahren eine besondere Neigung, mit allen Landgeistlichen Freundschaft zu stiften. Jedem, an dem er eine nützliche Beschäftigung kannte, suchte er auf alle Weise beizustehen; andern, die noch unbestimmt waren, suchte er eine Liebhaberei einzureden; und da er zugleich mit den Edelleuten, Amtmännern und Gerichtshaltern in Verbindung stand, so hatte er in Zeit von zwanzig Jahren sehr viel im stillen zur Kultur mancher Zweige der Landwirtschaft beigetragen und alles, was dem Felde, Tieren und Menschen ersprießlich ist, in Bewegung gebracht und so die wahrste Aufklärung befördert. Für den Menschen, sagte er, sei nur das eine ein Unglück, wenn sich irgendeine Idee bei ihm festsetze, die keinen Einfluß ins tätige Leben habe oder ihn wohl gar vom tätigen Leben abziehe. »Ich habe«, sagte er, »gegenwärtig einen solchen Fall an einem vornehmen und reichen Ehepaar, wo mir bis jetzt noch alle Kunst mißglückt ist; fast gehört der Fall in Ihr Fach, lieber Pastor, und dieser junge Mann wird ihn nicht weitererzählen.

In der Abwesenheit eines vornehmen Mannes verkleidete man, mit einem nicht ganz lobenswürdigen Scherze, einen jungen Menschen in die Hauskleidung dieses Herrn. Seine Gemahlin sollte dadurch angeführt werden, und ob man mir es gleich nur als eine Posse erzählt hat, so fürchte ich doch sehr, man hatte die Absicht, die edle, liebenswürdige Dame vom rechten Wege abzuleiten. Der Gemahl kommt unvermutet zurück, tritt in sein Zimmer, glaubt sich selbst zu sehen und fällt von der Zeit an in eine Melancholie, in der er die Überzeugung nährt, daß er bald sterben werde.

Er überläßt sich Personen, die ihm mit religiösen Ideen schmeicheln, und ich sehe nicht, wie er abzuhalten ist, mit seiner Gemahlin unter die Herrenhuter zu gehen und den größten Teil seines Vermögens, da er keine Kinder hat, seinen Verwandten zu entziehen.«

»Mit seiner Gemahlin?« rief Wilhelm, den diese Erzählung nicht wenig erschreckt hatte, ungestüm aus.

»Und leider«, versetzte der Arzt, der in Wilhelms Ausrufung nur eine menschenfreundliche Teilnahme zu hören glaubte, »ist diese Dame mit einem noch tiefern Kummer behaftet, der ihr eine Entfernung von der Welt nicht widerlich macht. Eben dieser junge Mensch nimmt Abschied von ihr, sie ist nicht vorsichtig genug, eine aufkeimende Neigung zu verbergen; er wird kühn, schließt sie in seine Arme und drückt ihr das große, mit Brillanten besetzte Porträt ihres Gemahls gewaltsam wider die Brust. Sie empfindet einen heftigen Schmerz, der nach und nach vergeht, erst eine kleine Röte und dann keine Spur zurückläßt. Ich bin als Mensch überzeugt, daß sie sich nichts weiter vorzuwerfen hat; ich bin als Arzt gewiß, daß dieser Druck keine üblen Folgen haben werde, aber sie läßt sich nicht ausreden, es sei eine Verhärtung da, und wenn man ihr durch das Gefühl den Wahn benehmen will, so behauptet sie, nur in diesem Augenblick sei nichts zu fühlen; sie hat sich fest eingebildet, es werde dieses Übel mit einem Krebsschaden sich endigen, und so ist ihre Jugend, ihre Liebenswürdigkeit für sie und andere völlig verloren.«

»Ich Unglückseliger!« rief Wilhelm, indem er sich vor die Stirne schlug und aus der Gesellschaft ins Feld lief. Er hatte sich noch nie in einem solchen Zustande befunden.

 

Der Arzt und der Geistliche, über diese seltsame Entdeckung höchlich erstaunt, hatten abends genug mit ihm zu tun, als er zurückkam und bei dem umständlichern Bekenntnis dieser Begebenheit sich aufs lebhafteste anklagte. Beide Männer nahmen den größten Anteil an ihm, besonders da er ihnen seine übrige Lage nun auch mit schwarzen Farben der augenblicklichen Stimmung malte.

Den andern Tag ließ sich der Arzt nicht lange bitten, mit ihm nach der Stadt zu gehen, um ihm Gesellschaft zu leisten, um Aurelien, die ihr Freund in bedenklichen Umständen zurückgelassen hatte, wo möglich Hülfe zu verschaffen.

Sie fanden sie auch wirklich schlimmer, als sie vermuteten. Sie hatte eine Art von überspringendem Fieber, dem um so weniger beizukommen war, als sie die Anfälle nach ihrer Art vorsätzlich unterhielt und verstärkte. Der Fremde ward nicht als Arzt eingeführt und betrug sich sehr gefällig und klug. Man sprach über den Zustand ihres Körpers und ihres Geistes, und der neue Freund erzählte manche Geschichten, wie Personen ungeachtet einer solchen Kränklichkeit ein hohes Alter erreichen könnten; nichts aber sei schädlicher in solchen Fällen als eine vorsätzliche Erneuerung leidenschaftlicher Empfindungen. Besonders verbarg er nicht, daß er diejenigen Personen sehr glücklich gefunden habe, die bei einer nicht ganz herzustellenden kränklichen Anlage wahrhaft religiöse Gesinnungen bei sich zu nähren bestimmt gewesen wären. Er sagte das auf eine sehr bescheidene Weise und gleichsam historisch und versprach dabei, seinen neuen Freunden eine sehr interessante Lektüre an einem Manuskript zu verschaffen, das er aus den Händen einer nunmehr abgeschiedenen vortrefflichen Freundin erhalten habe. »Es ist mir unendlich wert«, sagte er, »und ich vertraue Ihnen das Original selbst an. Nur der Titel ist von meiner Hand: ›Bekenntnisse einer schönen Seele‹.«

Über diätetische und medizinische Behandlung der unglücklichen, aufgespannten Aurelie vertraute der Arzt Wilhelmen noch seinen besten Rat, versprach zu schreiben und womöglich selbst wiederzukommen.

Inzwischen hatte sich in Wilhelms Abwesenheit eine Veränderung vorbereitet, die er nicht vermuten konnte. Wilhelm hatte während der Zeit seiner Regie das ganze Geschäft mit einer gewissen Freiheit und Liberalität behandelt, vorzüglich auf die Sache gesehen und besonders bei Kleidungen, Dekorationen und Requisiten alles reichlich und anständig angeschafft, auch, um den guten Willen der Leute zu erhalten, ihrem Eigennutze geschmeichelt, da er ihnen durch edlere Motive nicht beikommen konnte; und er fand sich hierzu um so mehr berechtigt, als Serlo selbst keine Ansprüche machte, ein genauer Wirt zu sein, den Glanz seines Theaters gerne loben hörte und zufrieden war, wenn Aurelie, welche die ganze Haushaltung führte, nach Abzug aller Kosten versicherte, daß sie keine Schulden habe, und noch soviel hergab, als nötig war, die Schulden abzutragen, die Serlo unterdessen durch außerordentliche Freigebigkeit gegen seine Schönen und sonst etwa auf sich geladen haben mochte.

Melina, der indessen die Garderobe besorgte, hatte, kalt und heimtückisch wie er war, der Sache im stillen zugesehen und wußte bei der Entfernung Wilhelms und bei der zunehmenden Krankheit Aureliens Serlo fühlbar zu machen, daß man eigentlich mehr einnehmen, weniger ausgeben und entweder etwas zurücklegen oder doch am Ende nach Willkür noch lustiger leben könne. Serlo hörte das gern, und Melina wagte sich mit seinem Plane hervor.

»Ich will«, sagte er, »nicht behaupten, daß einer von den Schauspielern gegenwärtig zuviel Gage hat: es sind verdienstvolle Leute, und sie würden an jedem Orte willkommen sein; allein für die Einnahme, die sie uns verschaffen, erhalten sie doch zuviel. Mein Vorschlag wäre, eine Oper einzurichten, und was das Schauspiel betrifft, so muß ich Ihnen sagen, Sie sind der Mann, allein ein ganzes Schauspiel auszumachen. Müssen Sie jetzt nicht selbst erfahren, daß man Ihre Verdienste verkennt? Nicht, weil Ihre Mitspieler vortrefflich, sondern weil sie gut sind, läßt man Ihrem außerordentlichen Talente keine Gerechtigkeit mehr widerfahren.

Stellen Sie sich, wie wohl sonst geschehen ist, nur allein hin, suchen Sie mittelmäßige, ja ich darf sagen: schlechte Leute für geringe Gage an sich zu ziehen, stutzen Sie das Volk, wie Sie es so sehr verstehen, im Mechanischen zu, wenden Sie das übrige an die Oper, und Sie werden sehen, daß Sie mit derselben Mühe und mit denselben Kosten mehr Zufriedenheit erregen und ungleich mehr Geld als bisher gewinnen werden.«

Serlo war zu sehr geschmeichelt, als daß seine Einwendungen einige Stärke hätten haben sollen. Er gestand Melinan gern zu, daß er bei seiner Liebhaberei zur Musik längst so etwas gewünscht habe; doch sehe er freilich ein, daß die Neigung des Publikums dadurch noch mehr auf Abwege geleitet und daß bei so einer Vermischung eines Theaters, das nicht recht Oper, nicht recht Schauspiel sei, notwendig der Überrest von Geschmack an einem bestimmten und ausführlichen Kunstwerke sich völlig verlieren müsse.

Melina scherzte nicht ganz fein über Wilhelms pedantische Ideale dieser Art, über die Anmaßung, das Publikum zu bilden, statt sich von ihm bilden zu lassen, und beide vereinigten sich mit großer Überzeugung, daß man nur Geld einnehmen, reich werden oder sich lustig machen solle, und verbargen sich kaum, daß sie nur jener Personen los zu sein wünschten, die ihrem Plane im Wege standen. Melina bedauerte, daß die schwächliche Gesundheit Aureliens ihr kein langes Leben verspreche, dachte aber gerade das Gegenteil. Serlo schien zu beklagen, daß Wilhelm nicht Sänger sei, und gab dadurch zu verstehen, daß er ihn für bald entbehrlich halte. Melina trat mit einem ganzen Register von Ersparnissen, die zu machen seien, hervor, und Serlo sah in ihm seinen ersten Schwager dreifach ersetzt. Sie fühlten wohl, daß sie sich über diese Unterredung das Geheimnis zuzusagen hatten, wurden dadurch nur noch mehr aneinandergeknüpft und nahmen Gelegenheit, insgeheim über alles, was vorkam, sich zu besprechen, was Aurelie und Wilhelm unternahmen, zu tadeln und ihr neues Projekt in Gedanken immer mehr auszuarbeiten.

So verschwiegen auch beide über ihren Plan sein mochten und sowenig sie durch Worte sich verrieten, so waren sie doch nicht politisch genug, in dem Betragen ihre Gesinnungen zu verbergen. Melina widersetzte sich Wilhelmen in manchen Fällen, die in seinem Kreise lagen, und Serlo, der niemals glimpflich mit seiner Schwester umgegangen war, ward nur bitterer, je mehr ihre Kränklichkeit zunahm und je mehr sie bei ihren ungleichen, leidenschaftlichen Launen Schonung verdient hätte.

Zu eben dieser Zeit nahm man »Emilie Galotti« vor. Dieses Stück war sehr glücklich besetzt, und alle konnten in dem beschränkten Kreise dieses Trauerspiels die ganze Mannigfaltigkeit ihres Spieles zeigen. Serlo war als Marinelli an seinem Platze, Odoardo ward sehr gut vorgetragen, Madame Melina spielte die Mutter mit vieler Einsicht, Elmire zeichnete sich in der Rolle Emiliens zu ihrem Vorteil aus, Laertes trat als Appiani mit vielem Anstand auf, und Wilhelm hatte ein Studium von mehreren Monaten auf die Rolle des Prinzen verwendet. Bei dieser Gelegenheit hatte er sowohl mit sich selbst als mit Serlo und Aurelien die Frage oft abgehandelt: welch ein Unterschied sich zwischen einem edlen und vornehmen Betragen zeige und inwiefern jenes in diesem, dieses aber nicht in jenem enthalten zu sein brauche.

Serlo, der selbst als Marinelli den Hofmann rein, ohne Karikatur vorstellte, äußerte über diesen Punkt manchen guten Gedanken. »Der vornehme Anstand«, sagte er, »ist schwer nachzuahmen, weil er eigentlich negativ ist und eine lange anhaltende Übung voraussetzt. Denn man soll nicht etwa in seinem Benehmen etwas darstellen, das Würde anzeigt: denn leicht fällt man dadurch in ein förmliches, stolzes Wesen; man soll vielmehr nur alles vermeiden, was unwürdig, was gemein ist; man soll sich nie vergessen, immer auf sich und andere achthaben, sich nichts vergeben, andern nicht zuviel, nicht zuwenig tun, durch nichts gerührt scheinen, durch nichts bewegt werden, sich niemals übereilen, sich in jedem Momente zu fassen wissen und so ein äußeres Gleichgewicht erhalten, innerlich mag es stürmen, wie es will. Der edle Mensch kann sich in Momenten vernachlässigen, der vornehme nie. Dieser ist wie ein sehr wohlgekleideter Mann: er wird sich nirgends anlehnen, und jedermann wird sich hüten, an ihn zu streichen; er unterscheidet sich vor andern, und doch darf er nicht allein stehenbleiben; denn wie in jeder Kunst, also auch in dieser, soll zuletzt das Schwerste mit Leichtigkeit ausgeführt werden; so soll der Vornehme ungeachtet aller Absonderung immer mit andern verbunden scheinen, nirgends steif, überall gewandt sein, immer als der Erste erscheinen und sich nie als ein solcher aufdringen.

Man sieht also, daß man, um vornehm zu scheinen, wirklich vornehm sein müsse; man sieht, warum Frauen im Durchschnitt sich eher dieses Ansehen geben können als Männer, warum Hofleute und Soldaten am schnellsten zu diesem Anstande gelangen.«

Wilhelm verzweifelte nun fast an seiner Rolle, allein Serlo half ihm wieder auf, indem er ihm über das Einzelne die feinsten Bemerkungen mitteilte und ihn dergestalt ausstattete daß er bei der Aufführung, wenigstens in den Augen der Menge, einen recht feinen Prinzen darstellte.

Serlo hatte versprochen, ihm nach der Vorstellung die Bemerkungen mitzuteilen, die er noch allenfalls über ihn machen würde; allein ein unangenehmer Streit zwischen Bruder und Schwester hinderte jede kritische Unterhaltung. Aurelie hatte die Rolle der Orsina auf eine Weise gespielt, wie man sie wohl niemals wieder sehen wird. Sie war mit der Rolle überhaupt sehr bekannt und hatte sie in den Proben gleichgültig behandelt; bei der Aufführung selbst aber zog sie, möchte man sagen, alle Schleusen ihres individuellen Kummers auf, und es ward dadurch eine Darstellung, wie sie sich kein Dichter in dem ersten Feuer der Empfindung hätte denken können. Ein unmäßiger Beifall des Publikums belohnte ihre schmerzlichen Bemühungen, aber sie lag auch halb ohnmächtig in einem Sessel, als man sie nach der Aufführung aufsuchte.

Serlo hatte schon über ihr übertriebenes Spiel, wie er es nannte, und über die Entblößung ihres innersten Herzens vor dem Publikum, das doch mehr oder weniger mit jener fatalen Geschichte bekannt war, seinen Unwillen zu erkennen gegeben und, wie er es im Zorn zu tun pflegte, mit den Zähnen geknirscht und mit den Füßen gestampft. »Laßt sie«, sagte er, als er sie von den übrigen umgeben in dem Sessel fand, »sie wird noch ehstens ganz nackt auf das Theater treten, und dann wird erst der Beifall recht vollkommen sein.«

»Undankbarer!« rief sie aus, »Unmenschlicher! Man wird mich bald nackt dahin tragen, wo kein Beifall mehr zu unsern Ohren kommt!« Mit diesen Worten sprang sie auf und eilte nach der Türe. Die Magd hatte versäumt, ihr den Mantel zu bringen, die Portechaise war nicht da; es hatte geregnet, und ein sehr rauher Wind zog durch die Straßen. Man redete ihr vergebens zu, denn sie war übermäßig erhitzt; sie ging vorsätzlich langsam und lobte die Kühlung, die sie recht begierig einzusaugen schien. Kaum war sie zu Hause, als sie vor Heiserkeit kaum ein Wort mehr sprechen konnte; sie gestand aber nicht, daß sie im Nacken und den Rücken hinab eine völlige Steifigkeit fühlte. Nicht lange, so überfiel sie eine Art von Lähmung der Zunge, so daß sie ein Wort fürs andere sprach; man brachte sie zu Bette, durch häufig angewandte Mittel legte sich ein Übel, indem sich das andere zeigte. Das Fieber ward stark und ihr Zustand gefährlich.

Den andern Morgen hatte sie eine ruhige Stunde. Sie ließ Wilhelm rufen und übergab ihm einen Brief. »Dieses Blatt«, sagte sie, »wartet schon lange auf diesen Augenblick. Ich fühle, daß das Ende meines Lebens bald herannaht; versprechen Sie mir, daß Sie es selbst abgeben und daß Sie durch wenige Worte meine Leiden an dem Ungetreuen rächen wollen. Er ist nicht fühllos, und wenigstens soll ihn mein Tod einen Augenblick schmerzen.«

Wilhelm übernahm den Brief, indem er sie jedoch tröstete und den Gedanken des Todes von ihr entfernen wollte.

»Nein«, versetzte sie, »benehmen Sie mir nicht meine nächste Hoffnung. Ich habe ihn lange erwartet und will ihn freudig in die Arme schließen.«

Kurz darauf kam das vom Arzt versprochene Manuskript an. Sie ersuchte Wilhelmen, ihr daraus vorzulesen, und die Wirkung, die es tat, wird der Leser am besten beurteilen können, wenn er sich mit dem folgenden Buche bekannt gemacht hat. Das heftige und trotzige Wesen unsrer armen Freundin ward auf einmal gelindert. Sie nahm den Brief zurück und schrieb einen andern, wie es schien in sehr sanfter Stimmung; auch forderte sie Wilhelmen auf, ihren Freund, wenn er irgend durch die Nachricht ihres Todes betrübt werden sollte, zu trösten, ihn zu versichern, daß sie ihm verziehen habe und daß sie ihm alles Glück wünsche.

Von dieser Zeit an war sie sehr still und schien sich nur mit wenigen Ideen zu beschäftigen, die sie sich aus dem Manuskript eigen zu machen suchte, woraus ihr Wilhelm von Zeit zu Zeit vorlesen mußte. Die Abnahme ihrer Kräfte war nicht sichtbar, und unvermutet fand sie Wilhelm eines Morgens tot, als er sie besuchen wollte.

Bei der Achtung, die er für sie gehabt, und bei der Gewohnheit, mit ihr zu leben, war ihm ihr Verlust sehr schmerzlich. Sie war die einzige Person, die es eigentlich gut mit ihm meinte, und die Kälte Serlos in der letzten Zeit hatte er nur allzusehr gefühlt. Er eilte daher, die aufgetragene Botschaft auszurichten, und wünschte sich auf einige Zeit zu entfernen. Von der andern Seite war für Melina diese Abreise sehr erwünscht: denn dieser hatte sich bei der weitläufigen Korrespondenz, die er unterhielt, gleich mit einem Sänger und einer Sängerin eingelassen, die das Publikum einstweilen durch Zwischenspiele zur künftigen Oper vorbereiten sollten. Der Verlust Aureliens und Wilhelms Entfernung sollten auf diese Weise in der ersten Zeit übertragen werden, und unser Freund war mit allem zufrieden, was ihm seinen Urlaub auf einige Wochen erleichterte.

Er hatte sich eine sonderbar wichtige Idee von seinem Auftrage gemacht. Der Tod seiner Freundin hatte ihn tief gerührt, und da er sie so frühzeitig von dem Schauplatze abtreten sah, mußte er notwendig gegen den, der ihr Leben verkürzt und dieses kurze Leben ihr so qualvoll gemacht, feindselig gesinnt sein.

Ungeachtet der letzten gelinden Worte der Sterbenden nahm er sich doch vor, bei Überreichung des Briefs ein strenges Gericht über den ungetreuen Freund ergehen zu lassen, und da er sich nicht einer zufälligen Stimmung vertrauen wollte, dachte er an eine Rede, die in der Ausarbeitung pathetischer als billig ward. Nachdem er sich völlig von der guten Komposition seines Aufsatzes überzeugt hatte, machte er, indem er ihn auswendig lernte, Anstalt zu seiner Abreise. Mignon war beim Einpacken gegenwärtig und fragte ihn, ob er nach Süden oder nach Norden reise, und als sie das letzte von ihm erfuhr, sagte sie: »So will ich dich hier wieder erwarten.« Sie bat ihn um die Perlenschnur Marianens, die er dem lieben Geschöpf nicht versagen konnte; das Halstuch hatte sie schon. Dagegen steckte sie ihm den Schleier des Geistes in den Mantelsack, ob er ihr gleich sagte, daß ihm dieser Flor zu keinem Gebrauch sei.

Melina übernahm die Regie, und seine Frau versprach, auf die Kinder ein mütterliches Auge zu haben, von denen sich Wilhelm ungern losriß. Felix war sehr lustig beim Abschied, und als man ihn fragte, was er wolle mitgebracht haben, sagte er: »Höre! bringe mir einen Vater mit.« Mignon nahm den Scheidenden bei der Hand, und indem sie, auf die Zehen gehoben, ihm einen treuherzigen und lebhaften Kuß, doch ohne Zärtlichkeit, auf die Lippen drückte, sagte sie: »Meister! vergiß uns nicht und komm bald wieder.«

Und so lassen wir unsern Freund unter tausend Gedanken und Empfindungen seine Reise antreten und zeichnen hier noch zum Schlusse ein Gedicht auf, das Mignon mit großem Ausdruck einigemal rezitiert hatte und das wir früher mitzuteilen durch den Drang so mancher sonderbaren Ereignisse verhindert wurden.

Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,

Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht;

Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,

Allein das Schicksal will es nicht. Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf

Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen,

Der harte Fels schließt seinen Busen auf,

Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen. Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,

Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen;

Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu,

Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.

Sechstes Buch

Bekenntnisse einer schönen Seele

Bis in mein achtes Jahr war ich ein ganz gesundes Kind, weiß mich aber von dieser Zeit so wenig zu erinnern als von dem Tage meiner Geburt. Mit dem Anfange des achten Jahres bekam ich einen Blutsturz, und in dem Augenblick war meine Seele ganz Empfindung und Gedächtnis. Die kleinsten Umstände dieses Zufalls stehn mir noch vor Augen, als hätte er sich gestern ereignet.

Während des neunmonatlichen Krankenlagers, das ich mit Geduld aushielt, ward, so wie mich dünkt, der Grund zu meiner ganzen Denkart gelegt, indem meinem Geiste die ersten Hülfsmittel gereicht wurden, sich nach seiner eigenen Art zu entwickeln.

Ich litt und liebte, das war die eigentliche Gestalt meines Herzens. In dem heftigsten Husten und abmattenden Fieber war ich stille wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus zieht; sobald ich ein wenig Luft hatte, wollte ich etwas Angenehmes fühlen, und da mir aller übrige Genuß versagt war, suchte ich mich durch Augen und Ohren schadlos zu halten. Man brachte mir Puppenwerk und Bilderbücher, und wer Sitz an meinem Bette haben wollte, mußte mir etwas erzählen.

Von meiner Mutter hörte ich die biblischen Geschichten gern an; der Vater unterhielt mich mit Gegenständen der Natur. Er besaß ein artiges Kabinett. Davon brachte er gelegentlich eine Schublade nach der andern herunter, zeigte mir die Dinge und erklärte sie mir nach der Wahrheit. Getrocknete Pflanzen und Insekten und manche Arten von anatomischen Präparaten, Menschenhaut, Knochen, Mumien und dergleichen kamen auf das Krankenbette der Kleinen; Vögel und Tiere, die er auf der Jagd erlegte, wurden mir vorgezeigt, ehe sie nach der Küche gingen; und damit doch auch der Fürst der Welt eine Stimme in dieser Versammlung behielte, erzählte mir die Tante Liebesgeschichten und Feenmärchen. Alles ward angenommen, und alles faßte Wurzel. Ich hatte Stunden, in denen ich mich lebhaft mit dem unsichtbaren Wesen unterhielt; ich weiß noch einige Verse, die ich der Mutter damals in die Feder diktierte.

Oft erzählte ich dem Vater wieder, was ich von ihm gelernt hatte. Ich nahm nicht leicht eine Arzenei, ohne zu fragen: »Wo wachsen die Dinge, aus denen sie gemacht ist? wie sehen sie aus? wie heißen sie?« Aber die Erzählungen meiner Tante waren auch nicht auf einen Stein gefallen. Ich dachte mich in schöne Kleider und begegnete den allerliebsten Prinzen, die nicht ruhen noch rasten konnten, bis sie wußten, wer die unbekannte Schöne war. Ein ähnliches Abenteuer mit einem reizenden kleinen Engel, der in weißem Gewand und goldnen Flügeln sich sehr um mich bemühte, setzte ich so lange fort, daß meine Einbildungskraft sein Bild fast bis zur Erscheinung erhöhte.

Nach Jahresfrist war ich ziemlich wiederhergestellt; aber es war mir aus der Kindheit nichts Wildes übriggeblieben. Ich konnte nicht einmal mit Puppen spielen, ich verlangte nach Wesen, die meine Liebe erwiderten. Hunde, Katzen und Vögel, dergleichen mein Vater von allen Arten ernährte, vergnügten mich sehr; aber was hätte ich nicht gegeben, ein Geschöpf zu besitzen, das in einem der Märchen meiner Tante eine sehr wichtige Rolle spielte. Es war ein Schäfchen, das von einem Bauermädchen in dem Walde aufgefangen und ernährt worden war, aber in diesem artigen Tiere stak ein verwünschter Prinz, der sich endlich wieder als schöner Jüngling zeigte und seine Wohltäterin durch seine Hand belohnte. So ein Schäfchen hätte ich gar zu gerne besessen!

Nun wollte sich aber keines finden, und da alles neben mir so ganz natürlich zuging, mußte mir nach und nach die Hoffnung auf einen so köstlichen Besitz fast vergehen. Unterdessen tröstete ich mich, indem ich solche Bücher las, in denen wunderbare Begebenheiten beschrieben wurden. Unter allen war mir der »Christliche deutsche Herkules« der liebste; die andächtige Liebesgeschichte war ganz nach meinem Sinne. Begegnete seiner Valiska irgend etwas, und es begegneten ihr grausame Dinge, so betete er erst, eh er ihr zu Hülfe eilte, und die Gebete standen ausführlich im Buche. Wie wohl gefiel mir das! Mein Hang zu dem Unsichtbaren, den ich immer auf eine dunkle Weise fühlte, ward dadurch nur vermehrt; denn ein für allemal sollte Gott auch mein Vertrauter sein.

Als ich weiter heranwuchs, las ich, der Himmel weiß was, alles durcheinander; aber die »Römische Oktavia« behielt vor allen den Preis. Die Verfolgungen der ersten Christen, in einen Roman gekleidet, erregten bei mir das lebhafteste Interesse.

Nun fing die Mutter an, über das stete Lesen zu schmälen; der Vater nahm ihr zuliebe mir einen Tag die Bücher aus der Hand und gab sie mir den andern wieder. Sie war klug genug zu bemerken, daß hier nichts auszurichten war, und drang nur darauf, daß auch die Bibel ebenso fleißig gelesen wurde. Auch dazu ließ ich mich nicht treiben, und ich las die heiligen Bücher mit vielem Anteil. Dabei war meine Mutter immer sorgfältig, daß keine verführerischen Bücher in meine Hände kämen, und ich selbst würde jede schändliche Schrift aus der Hand geworfen haben; denn meine Prinzen und Prinzessinnen waren alle äußerst tugendhaft, und ich wußte übrigens von der natürlichen Geschichte des menschlichen Geschlechts mehr, als ich merken ließ, und hatte es meistens aus der Bibel gelernt. Bedenkliche Stellen hielt ich mit Worten und Dingen, die mir vor Augen kamen, zusammen und brachte bei meiner Wißbegierde und Kombinationsgabe die Wahrheit glücklich heraus. Hätte ich von Hexen gehört, so hätte ich auch mit der Hexerei bekannt werden müssen.

Meiner Mutter und dieser Wißbegierde hatte ich es zu danken, daß ich bei dem heftigen Hang zu Büchern doch kochen lernte; aber dabei war etwas zu sehen. Ein Huhn, ein Ferkel aufzuschneiden war für mich ein Fest. Dem Vater brachte ich die Eingeweide, und er redete mit mir darüber wie mit einem jungen Studenten und pflegte mich oft mit inniger Freude seinen mißratenen Sohn zu nennen.

Nun war das zwölfte Jahr zurückgelegt. Ich lernte Französisch, Tanzen und Zeichnen und erhielt den gewöhnlichen Religionsunterricht. Bei dem letzten wurden manche Empfindungen und Gedanken rege, aber nichts, was sich auf meinen Zustand bezogen hätte. Ich hörte gern von Gott reden, ich war stolz darauf, besser als meinesgleichen von ihm reden zu können; ich las nun mit Eifer manche Bücher, die mich in den Stand setzten, von Religion zu schwatzen, aber nie fiel es mir ein zu denken, wie es denn mit mir stehe, ob meine Seele auch so gestaltet sei, ob sie einem Spiegel gleiche, von dem die ewige Sonne widerglänzen könnte; das hatte ich ein für allemal schon vorausgesetzt.

Französisch lernte ich mit vieler Begierde. Mein Sprachmeister war ein wackerer Mann. Er war nicht ein leichtsinniger Empiriker, nicht ein trockner Grammatiker; er hatte Wissenschaften, er hatte die Welt gesehen. Zugleich mit dem Sprachunterrichte sättigte er meine Wißbegierde auf mancherlei Weise. Ich liebte ihn so sehr, daß ich seine Ankunft immer mit Herzklopfen erwartete. Das Zeichnen fiel mir nicht schwer, und ich würde es weiter gebracht haben, wenn mein Meister Kopf und Kenntnisse gehabt hätte; er hatte aber nur Hände und Übung.

Tanzen war anfangs nur meine geringste Freude; mein Körper war zu empfindlich, und ich lernte nur in der Gesellschaft meiner Schwester. Durch den Einfall unsers Tanzmeisters, allen seinen Schülern und Schülerinnen einen Ball zu geben, ward aber die Lust zu dieser Übung ganz anders belebt.

Unter vielen Knaben und Mädchen zeichneten sich zwei Söhne des Hofmarschalls aus: der jüngste so alt wie ich, der andere zwei Jahre älter, Kinder von einer solchen Schönheit, daß sie nach dem allgemeinen Geständnis alles übertrafen, was man je von schönen Kindern gesehen hatte. Auch ich hatte sie kaum erblickt, so sah ich niemand mehr vom ganzen Haufen. In dem Augenblicke tanzte ich mit Aufmerksamkeit und wünschte schön zu tanzen. Wie es kam, daß auch diese Knaben unter allen andern mich vorzüglich bemerkten? – Genug, in der ersten Stunde waren wir die besten Freunde, und die kleine Lustbarkeit ging noch nicht zu Ende, so hatten wir schon ausgemacht, wo wir uns nächstens wiedersehen wollten. Eine große Freude für mich! Aber ganz entzückt war ich, als beide den andern Morgen, jeder in einem galanten Billett, das mit einem Blumenstrauß begleitet war, sich nach meinem Befinden erkundigten. So fühlte ich nie mehr, wie ich da fühlte! Artigkeiten wurden mit Artigkeiten, Briefchen mit Briefchen erwidert. Kirche und Promenaden wurden von nun an zu Rendezvous; unsre jungen Bekannten luden uns schon jederzeit zusammen ein, wir aber waren schlau genug, die Sache dergestalt zu verdecken, daß die Eltern nicht mehr davon einsahen, als wir für gut hielten.

Nun hatte ich auf einmal zwei Liebhaber bekommen. Ich war für keinen entschieden; sie gefielen mir beide, und wir standen aufs beste zusammen. Auf einmal ward der ältere sehr krank; ich war selbst schon oft sehr krank gewesen und wußte den Leidenden durch Übersendung mancher Artigkeiten und für einen Kranken schicklicher Leckerbissen zu erfreuen, daß seine Eltern die Aufmerksamkeit dankbar erkannten, der Bitte des lieben Sohns Gehör gaben und mich samt meinen Schwestern, sobald er nur das Bette verlassen hatte, zu ihm einluden. Die Zärtlichkeit, womit er mich empfing, war nicht kindisch, und von dem Tage an war ich für ihn entschieden. Er warnte mich gleich, vor seinem Bruder geheim zu sein; allein das Feuer war nicht mehr zu verbergen, und die Eifersucht des Jüngern machte den Roman vollkommen. Er spielte uns tausend Streiche; mit Lust vernichtete er unsre Freude und vermehrte dadurch die Leidenschaft, die er zu zerstören suchte.

Nun hatte ich denn wirklich das gewünschte Schäfchen gefunden, und diese Leidenschaft hatte, wie sonst eine Krankheit, die Wirkung auf mich, daß sie mich still machte und mich von der schwärmenden Freude zurückzog. Ich war einsam und gerührt, und Gott fiel mir wieder ein. Er blieb mein Vertrauter, und ich weiß wohl, mit welchen Tränen ich für den Knaben, der fortkränkelte, zu beten anhielt.

Soviel Kindisches in dem Vorgang war, soviel trug er zur Bildung meines Herzens bei. Unserm französischen Sprachmeister mußten wir täglich statt der sonst gewöhnlichen Übersetzung Briefe von unsrer eignen Erfindung schreiben. Ich brachte meine Liebesgeschichte unter dem Namen Phyllis und Damon zu Markte. Der Alte sah bald durch, und um mich treuherzig zu machen, lobte er meine Arbeit gar sehr. Ich wurde immer kühner, ging offenherzig heraus und war bis ins Detail der Wahrheit getreu. Ich weiß nicht mehr, bei welcher Stelle er einst Gelegenheit nahm zu sagen: »Wie das artig, wie das natürlich ist! Aber die gute Phyllis mag sich in acht nehmen, es kann bald ernsthaft werden.«

Mich verdroß, daß er die Sache nicht schon für ernsthaft hielt, und fragte ihn pikiert, was er unter ernsthaft verstehe? Er ließ sich nicht zweimal fragen und erklärte sich so deutlich, daß ich meinen Schrecken kaum verbergen konnte. Doch da sich gleich darauf bei mir der Verdruß einstellte und ich ihm übelnahm, daß er solche Gedanken hegen könne, faßte ich mich, wollte meine Schöne rechtfertigen und sagte mit feuerroten Wangen: »Aber, mein Herr, Phyllis ist ein ehrbares Mädchen!«

Nun war er boshaft genug, mich mit meiner ehrbaren Heldin aufzuziehen und, indem wir Französisch sprachen, mit dem »honnête« zu spielen, um die Ehrbarkeit der Phyllis durch alle Bedeutungen durchzuführen. Ich fühlte das Lächerliche und war äußerst verwirrt. Er, der mich nicht furchtsam machen wollte, brach ab, brachte aber das Gespräch bei andern Gelegenheiten wieder auf die Bahn. Schauspiele und kleine Geschichten, die ich bei ihm las und übersetzte, gaben ihm oft Anlaß zu zeigen, was für ein schwacher Schutz die sogenannte Tugend gegen die Aufforderungen eines Affekts sei. Ich widersprach nicht mehr, ärgerte mich aber immer heimlich, und seine Anmerkungen wurden mir zur Last.

Mit meinem guten Damon kam ich auch nach und nach aus aller Verbindung. Die Schikanen des Jüngern hatten unsern Umgang zerrissen. Nicht lange Zeit darauf starben beide blühende Jünglinge. Es tat mir weh, aber bald waren sie vergessen.

Phyllis wuchs nun schnell heran, war ganz gesund und fing an, die Welt zu sehen. Der Erbprinz vermählte sich und trat bald darauf nach dem Tode seines Vaters die Regierung an. Hof und Stadt waren in lebhafter Bewegung. Nun hatte meine Neugierde mancherlei Nahrung. Nun gab es Komödien, Bälle und was sich daran anschließt, und ob uns gleich die Eltern soviel als möglich zurückhielten, so mußte man doch bei Hof, wo ich eingeführt war, erscheinen. Die Fremden strömten herbei, in allen Häusern war große Welt, an uns selbst waren einige Kavaliere empfohlen und andre introduziert, und bei meinem Oheim waren alle Nationen anzutreffen.

Mein ehrlicher Mentor fuhr fort, mich auf eine bescheidene und doch treffende Weise zu warnen, und ich nahm es ihm immer heimlich übel. Ich war keinesweges von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt, und vielleicht hatte ich auch damals recht, vielleicht hatte er unrecht, die Frauen unter allen Umständen für so schwach zu halten; aber er redete zugleich so zudringlich, daß mir einst bange wurde, er möchte recht haben, da ich denn sehr lebhaft zu ihm sagte: »Weil die Gefahr so groß und das menschliche Herz so schwach ist, so will ich Gott bitten, daß er mich bewahre.«

Die naive Antwort schien ihn zu freuen, er lobte meinen Vorsatz; aber es war bei mir nichts weniger als ernstlich gemeint; diesmal war es nur ein leeres Wort: denn die Empfindungen für den Unsichtbaren waren bei mir fast ganz verloschen. Der große Schwarm, mit dem ich umgeben war, zerstreute mich und riß mich wie ein starker Strom mit fort. Es waren die leersten Jahre meines Lebens. Tagelang von nichts zu reden, keinen gesunden Gedanken zu haben und nur zu schwärmen, das war meine Sache. Nicht einmal der geliebten Bücher wurde gedacht. Die Leute, mit denen ich umgeben war, hatten keine Ahnung von Wissenschaften; es waren deutsche Hofleute, und diese Klasse hatte damals nicht die mindeste Kultur.

Ein solcher Umgang, sollte man denken, hätte mich an den Rand des Verderbens führen müssen. Ich lebte in sinnlicher Munterkeit nur so hin, ich sammelte mich nicht, ich betete nicht, ich dachte nicht an mich noch an Gott; aber ich seh es als eine Führung an, daß mir keiner von den vielen schönen, reichen und wohlgekleideten Männern gefiel. Sie waren liederlich und versteckten es nicht, das schreckte mich zurück; ihr Gespräch zierten sie mit Zweideutigkeiten, das beleidigte mich, und ich hielt mich kalt gegen sie; ihre Unart überstieg manchmal allen Glauben, und ich erlaubte mir, grob zu sein.

Überdies hatte mir mein Alter einmal vertraulich eröffnet, daß mit den meisten dieser leidigen Bursche nicht allein die Tugend, sondern auch die Gesundheit eines Mädchens in Gefahr sei. Nun graute mir erst vor ihnen, und ich war schon besorgt, wenn mir einer auf irgendeine Weise zu nahe kam. Ich hütete mich vor Gläsern und Tassen wie vor dem Stuhle, von dem einer aufgestanden war. Auf diese Weise war ich moralisch und physisch sehr isoliert, und alle die Artigkeiten, die sie mir sagten, nahm ich stolz für schuldigen Weihrauch auf.

Unter den Fremden, die sich damals bei uns aufhielten, zeichnete sich ein junger Mann besonders aus, den wir im Scherz Narziß nannten. Er hatte sich in der diplomatischen Laufbahn guten Ruf erworben und hoffte bei verschiedenen Veränderungen, die an unserm neuen Hofe vorgingen, vorteilhaft plaziert zu werden. Er ward mit meinem Vater bald bekannt, und seine Kenntnisse und sein Betragen öffneten ihm den Weg in eine geschlossene Gesellschaft der würdigsten Männer. Mein Vater sprach viel zu seinem Lobe, und seine schöne Gestalt hätte noch mehr Eindruck gemacht, wenn sein ganzes Wesen nicht eine Art von Selbstgefälligkeit gezeigt hätte. Ich hatte ihn gesehen, dachte gut von ihm, aber wir hatten uns nie gesprochen.

Auf einem großen Balle, auf dem er sich auch befand, tanzten wir eine Menuett zusammen; auch das ging ohne nähere Bekanntschaft ab. Als die heftigen Tänze angingen, die ich meinem Vater zuliebe, der für meine Gesundheit besorgt war, zu vermeiden pflegte, begab ich mich in ein Nebenzimmer und unterhielt mich mit ältern Freundinnen, die sich zum Spiele gesetzt hatten.

 

Narziß, der eine Weile mit herumgesprungen war, kam auch einmal in das Zimmer, in dem ich mich befand, und fing, nachdem er sich von einem Nasenbluten, das ihn beim Tanzen überfiel, erholt hatte, mit mir über mancherlei zu sprechen an. Binnen einer halben Stunde war der Diskurs so interessant, ob sich gleich keine Spur von Zärtlichkeit dreinmischte, daß wir nun beide das Tanzen nicht mehr vertragen konnten. Wir wurden bald von den andern darüber geneckt, ohne daß wir uns dadurch irremachen ließen. Den andern Abend konnten wir unser Gespräch wieder anknüpfen und schonten unsre Gesundheit sehr.

Nun war die Bekanntschaft gemacht. Narziß wartete mir und meinen Schwestern auf, und nun fing ich erst wieder an gewahr zu werden, was ich alles wußte, worüber ich gedacht, was ich empfunden hatte und worüber ich mich im Gespräche auszudrücken verstand. Mein neuer Freund, der von jeher in der besten Gesellschaft gewesen war, hatte außer dem historischen und politischen Fache, das er ganz übersah, sehr ausgebreitete literarische Kenntnisse, und ihm blieb nichts Neues, besonders was in Frankreich herauskam, unbekannt. Er brachte und sendete mir manch angenehmes Buch, doch das mußte geheimer als ein verbotenes Liebesverständnis gehalten werden. Man hatte die gelehrten Weiber lächerlich gemacht, und man wollte auch die unterrichteten nicht leiden, wahrscheinlich weil man für unhöflich hielt, so viel unwissende Männer beschämen zu lassen. Selbst mein Vater, dem diese neue Gelegenheit, meinen Geist auszubilden, sehr erwünscht war, verlangte ausdrücklich, daß dieses literarische Kommerz ein Geheimnis bleiben sollte.

So währte unser Umgang beinahe Jahr und Tag, und ich konnte nicht sagen, daß Narziß auf irgendeine Weise Liebe oder Zärtlichkeit gegen mich geäußert hätte. Er blieb artig und verbindlich, aber zeigte keinen Affekt; vielmehr schien der Reiz meiner jüngsten Schwester, die damals außerordentlich schön war, ihn nicht gleichgültig zu lassen. Er gab ihr im Scherze allerlei freundliche Namen aus fremden Sprachen, deren mehrere er sehr gut sprach und deren eigentümliche Redensarten er gern ins deutsche Gespräch mischte. Sie erwiderte seine Artigkeiten nicht sonderlich; sie war von einem andern Fädchen gebunden, und da sie überhaupt sehr rasch und er empfindlich war, so wurden sie nicht selten über Kleinigkeiten uneins. Mit der Mutter und den Tanten wußte er sich gut zu halten, und so war er nach und nach ein Glied der Familie geworden.

Wer weiß, wie lange wir noch auf diese Weise fortgelebt hätten, wären durch einen sonderbaren Zufall unsere Verhältnisse nicht auf einmal verändert worden. Ich ward mit meinen Schwestern in ein gewisses Haus gebeten, wohin ich nicht gerne ging. Die Gesellschaft war zu gemischt, und es fanden sich dort oft Menschen, wo nicht vom rohsten, doch vom plattsten Schlage mit ein. Diesmal war Narziß auch mit geladen, und um seinetwillen war ich geneigt hinzugehen: denn ich war doch gewiß, jemanden zu finden, mit dem ich mich auf meine Weise unterhalten konnte. Schon bei Tafel hatten wir manches auszustehen, denn einige Männer hatten stark getrunken; nach Tische sollten und mußten Pfänder gespielt werden. Es ging dabei sehr rauschend und lebhaft zu. Narziß hatte ein Pfand zu lösen; man gab ihm auf, der ganzen Gesellschaft etwas ins Ohr zu sagen, das jedermann angenehm wäre. Er mochte sich bei meiner Nachbarin, der Frau eines Hauptmanns, zu lange verweilen. Auf einmal gab ihm dieser eine Ohrfeige, daß mir, die ich gleich daran saß, der Puder in die Augen flog. Als ich die Augen ausgewischt und mich vom Schrecken einigermaßen erholt hatte, sah ich beide Männer mit bloßen Degen. Narziß blutete, und der andere, außer sich von Wein, Zorn und Eifersucht, konnte kaum von der ganzen übrigen Gesellschaft zurückgehalten werden. Ich nahm Narzissen beim Arm und führte ihn zur Türe hinaus, eine Treppe hinauf in ein ander Zimmer, und weil ich meinen Freund vor seinem tollen Gegner nicht sicher glaubte, riegelte ich die Türe sogleich zu.

Wir hielten beide die Wunde nicht für ernsthaft, denn wir sahen nur einen leichten Hieb über die Hand; bald aber wurden wir einen Strom von Blut, der den Rücken hinunterfloß, gewahr, und es zeigte sich eine große Wunde auf dem Kopfe. Nun ward mir bange. Ich eilte auf den Vorplatz, um nach Hülfe zu schicken, konnte aber niemand ansichtig werden, denn alles war unten geblieben, den rasenden Menschen zu bändigen. Endlich kam eine Tochter des Hauses heraufgesprungen, und ihre Munterkeit ängstigte mich nicht wenig, da sie sich über den tollen Spektakel und über die verfluchte Komödie fast zu Tode lachen wollte. Ich bat sie dringend, mir einen Wundarzt zu schaffen, und sie, nach ihrer wilden Art, sprang gleich die Treppe hinunter, selbst einen zu holen.

Ich ging wieder zu meinem Verwundeten, band ihm mein Schnupftuch um die Hand und ein Handtuch, das an der Türe hing, um den Kopf. Er blutete noch immer heftig: der Verwundete erblaßte und schien in Ohnmacht zu sinken. Niemand war in der Nähe, der mir hätte beistehen können; ich nahm ihn sehr ungezwungen in den Arm und suchte ihn durch Streicheln und Schmeicheln aufzumuntern. Es schien die Wirkung eines geistigen Heilmittels zu tun; er blieb bei sich, aber saß totenbleich da.

Nun kam endlich die tätige Hausfrau, und wie erschrak sie, als sie den Freund in dieser Gestalt in meinen Armen liegen und uns alle beide mit Blut überströmt sah: denn niemand hatte sich vorgestellt, daß Narziß verwundet sei; alle meinten, ich habe ihn glücklich hinausgebracht.

Nun war Wein, wohlriechendes Wasser, und was nur erquicken und erfrischen konnte, im Überfluß da, nun kam auch der Wundarzt, und ich hätte wohl abtreten können; allein Narziß hielt mich fest bei der Hand, und ich wäre, ohne gehalten zu werden, stehengeblieben. Ich fuhr während des Verbandes fort, ihn mit Wein anzustreichen, und achtete es wenig, daß die ganze Gesellschaft nunmehr umherstand. Der Wundarzt hatte geendigt, der Verwundete nahm einen stummen, verbindlichen Abschied von mir und wurde nach Hause getragen.

Nun führte mich die Hausfrau in ihr Schlafzimmer; sie mußte mich ganz auskleiden, und ich darf nicht verschweigen, daß ich, da man sein Blut von meinem Körper abwusch, zum erstenmal zufällig im Spiegel gewahr wurde, daß ich mich auch ohne Hülle für schön halten durfte. Ich konnte keines meiner Kleidungsstücke wieder anziehn, und da die Personen im Hause alle kleiner oder stärker waren als ich, so kam ich in einer seltsamen Verkleidung zum größten Erstaunen meiner Eltern nach Hause. Sie waren über mein Schrecken, über die Wunden des Freundes, über den Unsinn des Hauptmanns, über den ganzen Vorfall äußerst verdrießlich. Wenig fehlte, so hätte mein Vater selbst, seinen Freund auf der Stelle zu rächen, den Hauptmann herausgefordert. Er schalt die anwesenden Herren, daß sie ein solches meuchlerisches Beginnen nicht auf der Stelle geahndet; denn es war nur zu offenbar, daß der Hauptmann sogleich, nachdem er geschlagen, den Degen gezogen und Narzissen von hinten verwundet habe; der Hieb über die Hand war erst geführt worden, als Narziß selbst zum Degen griff. Ich war unbeschreiblich alteriert und affiziert, oder wie soll ich es ausdrücken; der Affekt, der im tiefsten Grunde des Herzens ruhte, war auf einmal losgebrochen wie eine Flamme, welche Luft bekömmt. Und wenn Lust und Freude sehr geschickt sind, die Liebe zuerst zu erzeugen und im stillen zu nähren, so wird sie, die von Natur herzhaft ist, durch den Schrecken am leichtesten angetrieben, sich zu entscheiden und zu erklären. Man gab dem Töchterchen Arznei ein und legte es zu Bette. Mit dem frühesten Morgen eilte mein Vater zu dem verwundeten Freund, der an einem starken Wundfieber recht krank darniederlag.

Mein Vater sagte mir wenig von dem, was er mit ihm geredet hatte, und suchte mich wegen der Folgen, die dieser Vorfall haben könnte, zu beruhigen. Es war die Rede, ob man sich mit einer Abbitte begnügen könne, ob die Sache gerichtlich werden müsse, und was dergleichen mehr war. Ich kannte meinen Vater zu wohl, als daß ich ihm geglaubt hätte, daß er diese Sache ohne Zweikampf geendigt zu sehen wünschte; allein ich blieb still, denn ich hatte von meinem Vater früh gelernt, daß Weiber in solche Händel sich nicht zu mischen hätten. Übrigens schien es nicht, als wenn zwischen den beiden Freunden etwas vorgefallen wäre, das mich betroffen hätte; doch bald vertraute mein Vater den Inhalt seiner weitern Unterredung meiner Mutter. Narziß, sagte er, sei äußerst gerührt von meinem geleisteten Beistand, habe ihn umarmt, sich für meinen ewigen Schuldner erklärt, bezeigt, er verlange kein Glück, wenn er es nicht mit mir teilen sollte; er habe sich die Erlaubnis ausgebeten, ihn als Vater ansehn zu dürfen. Mama sagte mir das alles treulich wieder, hängte aber die wohlmeinende Erinnerung daran, auf so etwas, das in der ersten Bewegung gesagt worden, dürfe man so sehr nicht achten. »Ja freilich«, antwortete ich mit angenommener Kälte und fühlte der Himmel weiß was und wieviel dabei.

Narziß blieb zwei Monate krank, konnte wegen der Wunde an der rechten Hand nicht einmal schreiben, bezeigte mir aber inzwischen sein Andenken durch die verbindlichste Aufmerksamkeit. Alle diese mehr als gewöhnlichen Höflichkeiten hielt ich mit dem, was ich von der Mutter erfahren hatte, zusammen, und beständig war mein Kopf voller Grillen. Die ganze Stadt unterhielt sich von der Begebenheit. Man sprach mit mir davon in einem besondern Tone, man zog Folgerungen daraus, die, sosehr ich sie abzulehnen suchte, mir immer sehr nahegingen. Was vorher Tändelei und Gewohnheit gewesen war, ward nun Ernst und Neigung. Die Unruhe, in der ich lebte, war um so heftiger, je sorgfältiger ich sie vor allen Menschen zu verbergen suchte. Der Gedanke, ihn zu verlieren, erschreckte mich, und die Möglichkeit einer nähern Verbindung machte mich zittern. Der Gedanke des Ehestandes hat für ein halbkluges Mädchen gewiß etwas Schreckhaftes.

Durch diese heftigen Erschütterungen ward ich wieder an mich selbst erinnert. Die bunten Bilder eines zerstreuten Lebens, die mir sonst Tag und Nacht vor den Augen schwebten, waren auf einmal weggeblasen. Meine Seele fing wieder an, sich zu regen; allein die sehr unterbrochene Bekanntschaft mit dem unsichtbaren Freunde war so leicht nicht wiederhergestellt. Wir blieben noch immer in ziemlicher Entfernung; es war wieder etwas, aber gegen sonst ein großer Unterschied.

Ein Zweikampf, worin der Hauptmann stark verwundet wurde, war vorüber, ohne daß ich etwas davon erfahren hatte, und die öffentliche Meinung war in jedem Sinne auf der Seite meines Geliebten, der endlich wieder auf dem Schauplatze erschien. Vor allen Dingen ließ er sich mit verbundnem Haupt und eingewickelter Hand in unser Haus tragen. Wie klopfte mir das Herz bei diesem Besuche! Die ganze Familie war gegenwärtig; es blieb auf beiden Seiten nur bei allgemeinen Danksagungen und Höflichkeiten; doch fand er Gelegenheit, mir einige geheime Zeichen seiner Zärtlichkeit zu geben, wodurch meine Unruhe nur zu sehr vermehrt ward. Nachdem er sich völlig wieder erholt, besuchte er uns den ganzen Winter auf ebendem Fuß wie ehemals, und bei allen leisen Zeichen von Empfindung und Liebe, die er mir gab, blieb alles unerörtert.

Auf diese Weise ward ich in steter Übung gehalten. Ich konnte mich keinem Menschen vertrauen, und von Gott war ich zu weit entfernt. Ich hatte diesen während vier wilder Jahre ganz vergessen; nun dachte ich dann und wann wieder an ihn, aber die Bekanntschaft war erkaltet; es waren nur Zeremonienvisiten, die ich ihm machte, und da ich überdies, wenn ich vor ihm erschien, immer schöne Kleider anlegte, meine Tugend, Ehrbarkeit und Vorzüge, die ich vor andern zu haben glaubte, ihm mit Zufriedenheit vorwies, so schien er mich in dem Schmucke gar nicht zu bemerken.

Ein Höfling würde, wenn sein Fürst, von dem er sein Glück erwartet, sich so gegen ihn betrüge, sehr beunruhigt werden; mir aber war nicht übel dabei zumute. Ich hatte, was ich brauchte, Gesundheit und Bequemlichkeit; wollte sich Gott mein Andenken gefallen lassen, so war es gut; wo nicht, so glaubte ich doch meine Schuldigkeit getan zu haben.

So dachte ich freilich damals nicht von mir; aber es war doch die wahrhafte Gestalt meiner Seele. Meine Gesinnungen zu ändern und zu reinigen, waren aber auch schon Anstalten gemacht.

Der Frühling kam heran, und Narziß besuchte mich unangemeldet zu einer Zeit, da ich ganz allein zu Hause war. Nun erschien er als Liebhaber und fragte mich, ob ich ihm mein Herz und, wenn er eine ehrenvolle, wohlbesoldete Stelle erhielte, auch dereinst meine Hand schenken wollte.

Man hatte ihn zwar in unsre Dienste genommen; allein anfangs hielt man ihn, weil man sich vor seinem Ehrgeiz fürchtete, mehr zurück, als daß man ihn schnell emporgehoben hätte, und ließ ihn, weil er eignes Vermögen hatte, bei einer kleinen Besoldung.

Bei aller meiner Neigung zu ihm wußte ich, daß er der Mann nicht war, mit dem man ganz gerade handeln konnte. Ich nahm mich daher zusammen und verwies ihn an meinen Vater, an dessen Einwilligung er nicht zu zweifeln schien und mit mir erst auf der Stelle einig sein wollte. Endlich sagte ich ja, indem ich die Beistimmung meiner Eltern zur notwendigen Bedingung machte. Er sprach alsdann mit beiden förmlich; sie zeigten ihre Zufriedenheit, man gab sich das Wort auf den bald zu hoffenden Fall, daß man ihn weiter avancieren werde. Schwestern und Tanten wurden davon benachrichtigt und ihnen das Geheimnis auf das strengste anbefohlen.

Nun war aus einem Liebhaber ein Bräutigam geworden. Die Verschiedenheit zwischen beiden zeigte sich sehr groß. Könnte jemand die Liebhaber aller wohldenkenden Mädchen in Bräutigame verwandeln, so wäre es eine große Wohltat für unser Geschlecht, selbst wenn auf dieses Verhältnis keine Ehe erfolgen sollte. Die Liebe zwischen beiden Personen nimmt dadurch nicht ab, aber sie wird vernünftiger. Unzählige kleine Torheiten, alle Koketterien und Launen fallen gleich hinweg. Äußert uns der Bräutigam, daß wir ihm in einer Morgenhaube besser als in dem schönsten Aufsatze gefallen, dann wird einem wohldenkenden Mädchen gewiß die Frisur gleichgültig, und es ist nichts natürlicher, als daß er auch solid denkt und lieber sich eine Hausfrau als der Welt eine Putzdocke zu bilden wünscht. Und so geht es durch alle Fächer durch.

Hat ein solches Mädchen dabei das Glück, daß ihr Bräutigam Verstand und Kenntnisse besitzt, so lernt sie mehr, als hohe Schulen und fremde Länder geben können. Sie nimmt nicht nur alle Bildung gern an, die er ihr gibt, sondern sie sucht sich auch auf diesem Wege so immer weiterzubringen. Die Liebe macht vieles Unmögliche möglich, und endlich geht die dem weiblichen Geschlecht so nötige und anständige Unterwerfung sogleich an; der Bräutigam herrscht nicht wie der Ehemann; er bittet nur, und seine Geliebte sucht ihm abzumerken, was er wünscht, um es noch eher zu vollbringen, als er bittet.

So hat mich die Erfahrung gelehrt, was ich nicht um vieles missen möchte. Ich war glücklich, wahrhaft glücklich, wie man es in der Welt sein kann, das heißt auf kurze Zeit.

Ein Sommer ging unter diesen stillen Freuden hin. Narziß gab mir nicht die mindeste Gelegenheit zu Beschwerden; er ward mir immer lieber, meine ganze Seele hing an ihm, das wußte er wohl und wußte es zu schätzen. Inzwischen entspann sich aus anscheinenden Kleinigkeiten etwas, das unserm Verhältnisse nach und nach schädlich wurde.

Narziß ging als Bräutigam mit mir um, und nie wagte er es, das von mir zu begehren, was uns noch verboten war. Allein über die Grenzen der Tugend und Sittsamkeit waren wir sehr verschiedener Meinung. Ich wollte sichergehen und erlaubte durchaus keine Freiheit, als welche allenfalls die ganze Welt hätte wissen dürfen. Er, an Näschereien gewöhnt, fand diese Diät sehr streng; hier setzte es nun beständigen Widerspruch; er lobte mein Verhalten und suchte meinen Entschluß zu untergraben.

Mir fiel das »ernsthaft« meines alten Sprachmeisters wieder ein und zugleich das Hülfsmittel, das ich damals dagegen angegeben hatte.

Mit Gott war ich wieder ein wenig bekannter geworden. Er hatte mir so einen lieben Bräutigam gegeben, und dafür wußte ich ihm Dank. Die irdische Liebe selbst konzentrierte meinen Geist und setzte ihn in Bewegung, und meine Beschäftigung mit Gott widersprach ihr nicht. Ganz natürlich klagte ich ihm, was mich bange machte, und bemerkte nicht, daß ich selbst das, was mich bange machte, wünschte und begehrte. Ich kam mir sehr stark vor und betete nicht etwa: »Bewahre mich vor Versuchung!« Über die Versuchung war ich meinen Gedanken nach weit hinaus. In diesem losen Flitterschmuck eigner Tugend erschien ich dreist vor Gott; er stieß mich nicht weg; auf die geringste Bewegung zu ihm hinterließ er einen sanften Eindruck in meiner Seele, und dieser Eindruck bewegte mich, ihn immer wieder aufzusuchen.

 

Die ganze Welt war mir außer Narzissen tot, nichts hatte außer ihm einen Reiz für mich. Selbst meine Liebe zum Putz hatte nur den Zweck, ihm zu gefallen; wußte ich, daß er mich nicht sah, so konnte ich keine Sorgfalt darauf wenden. Ich tanzte gern; wenn er aber nicht dabei war, so schien mir, als wenn ich die Bewegung nicht vertragen könnte. Auf ein brillantes Fest, bei dem er nicht zugegen war, konnte ich mir weder etwas Neues anschaffen noch das Alte der Mode gemäß aufstutzen. Einer war mir so lieb als der andere, doch möchte ich lieber sagen: einer so lästig als der andere. Ich glaubte meinen Abend recht gut zugebracht zu haben, wenn ich mir mit ältern Personen ein Spiel ausmachen konnte, wozu ich sonst nicht die mindeste Lust hatte, und wenn ein alter, guter Freund mich etwa scherzhaft darüber aufzog, lächelte ich vielleicht das erstemal den ganzen Abend. So ging es mit Promenaden und allen gesellschaftlichen Vergnügungen, die sich nur denken lassen:

Ich hatt ihn einzig mir erkoren;

Ich schien mir nur für ihn geboren,

Begehrte nichts als seine Gunst.

So war ich oft in der Gesellschaft einsam, und die völlige Einsamkeit war mir meistens lieber. Allein mein geschäftiger Geist konnte weder schlafen noch träumen; ich fühlte und dachte und erlangte nach und nach eine Fertigkeit, von meinen Empfindungen und Gedanken mit Gott zu reden. Da entwickelten sich Empfindungen anderer Art in meiner Seele, die jenen nicht widersprachen. Denn meine Liebe zu Narziß war dem ganzen Schöpfungsplane gemäß und stieß nirgend gegen meine Pflichten an. Sie widersprachen sich nicht und waren doch unendlich verschieden. Narziß war das einzige Bild, das mir vorschwebte, auf das sich meine ganze Liebe bezog; aber das andere Gefühl bezog sich auf kein Bild und war unaussprechlich angenehm. Ich habe es nicht mehr und kann es mir nicht mehr geben.

Mein Geliebter, der sonst alle meine Geheimnisse wußte, erfuhr nichts hiervon. Ich merkte bald, daß er anders dachte; er gab mir öfters Schriften, die alles, was man Zusammenhang mit dem Unsichtbaren heißen kann, mit leichten und schweren Waffen bestritten. Ich las die Bücher, weil sie von ihm kamen, und wußte am Ende kein Wort von allem dem, was darin gestanden hatte.

Über Wissenschaften und Kenntnisse ging es auch nicht ohne Widerspruch ab; er machte es wie alle Männer, spottete über gelehrte Frauen und bildete unaufhörlich an mir. Über alle Gegenstände, die Rechtsgelehrsamkeit ausgenommen, pflegte er mit mir zu sprechen, und indem er mir Schriften von allerlei Art beständig zubrachte, wiederholte er oft die bedenkliche Lehre: daß ein Frauenzimmer sein Wissen heimlicher halten müsse als der Kalvinist seinen Glauben im katholischen Lande; und indem ich wirklich auf eine ganz natürliche Weise vor der Welt mich nicht klüger und unterrichteter als sonst zu zeigen pflegte, war er der erste, der gelegentlich der Eitelkeit nicht widerstehen konnte, von meinen Vorzügen zu sprechen.

Ein berühmter und damals wegen seines Einflusses, seiner Talente und seines Geistes sehr geschätzter Weltmann fand an unserm Hofe großen Beifall. Er zeichnete Narzissen besonders aus und hatte ihn beständig um sich. Sie stritten auch über die Tugend der Frauen. Narziß vertraute mir weitläufig ihre Unterredung; ich blieb mit meinen Anmerkungen nicht dahinten, und mein Freund verlangte von mir einen schriftlichen Aufsatz. Ich schrieb ziemlich geläufig Französisch: ich hatte bei meinem Alten einen guten Grund gelegt. Die Korrespondenz mit meinem Freunde war in dieser Sprache geführt, und eine feinere Bildung konnte man überhaupt damals nur aus französischen Büchern nehmen. Mein Aufsatz hatte dem Grafen gefallen; ich mußte einige kleine Lieder hergeben, die ich vor kurzem gedichtet hatte. Genug, Narziß schien sich auf seine Geliebte ohne Rückhalt etwas zugute zu tun, und die Geschichte endigte zu seiner großen Zufriedenheit mit einer geistreichen Epistel in französischen Versen, die ihm der Graf bei seiner Abreise zusandte, worin ihres freundschaftlichen Streites gedacht war und mein Freund am Ende glücklich gepriesen wurde, daß er, nach so manchen Zweifeln und Irrtümern, in den Armen einer reizenden und tugendhaften Gattin, was Tugend sei, am sichersten erfahren würde.

Dieses Gedicht ward mir vor allen und dann aber auch fast jedermann gezeigt, und jeder dachte dabei, was er wollte. So ging es in mehreren Fällen, und so mußten alle Fremden, die er schätzte, in unserm Hause bekannt werden.

Eine gräfliche Familie hielt sich wegen unsres geschickten Arztes eine Zeitlang hier auf. Auch in diesem Hause war Narziß wie ein Sohn gehalten; er führte mich daselbst ein, man fand bei diesen würdigen Personen eine angenehme Unterhaltung für Geist und Herz, und selbst die gewöhnlichen Zeitvertreibe der Gesellschaft schienen in diesem Hause nicht so leer wie anderwärts. Jedermann wußte, wie wir zusammen standen; man behandelte uns, wie es die Umstände mit sich brachten, und ließ das Hauptverhältnis unberührt. Ich erwähne dieser einen Bekanntschaft, weil sie in der Folge meines Lebens manchen Einfluß auf mich hatte.

Nun war fast ein Jahr unserer Verbindung verstrichen, und mit ihm war auch unser Frühling dahin. Der Sommer kam, und alles wurde ernsthafter und heißer.

Durch einige unerwartete Todesfälle waren Ämter erledigt, auf die Narziß Anspruch machen konnte. Der Augenblick war nahe, in dem sich mein ganzes Schicksal entscheiden sollte, und indes Narziß und alle Freunde sich bei Hofe die möglichste Mühe gaben, gewisse Eindrücke, die ihm ungünstig waren, zu vertilgen und ihm den erwünschten Platz zu verschaffen, wendete ich mich mit meinem Anliegen zu dem unsichtbaren Freunde. Ich ward so freundlich aufgenommen, daß ich gern wiederkam. Ganz frei gestand ich meinen Wunsch, Narziß möchte zu der Stelle gelangen; allein meine Bitte war nicht ungestüm, und ich forderte nicht, daß es um meines Gebets willen geschehen sollte.

Die Stelle ward durch einen viel geringern Konkurrenten besetzt. Ich erschrak heftig über die Zeitung und eilte in mein Zimmer, das ich fest hinter mir zumachte. Der erste Schmerz löste sich in Tränen auf; der nächste Gedanke war: Es ist aber doch nicht von ungefähr geschehen, und sogleich folgte die Entschließung, es mir recht wohl gefallen zu lassen, weil auch dieses anscheinende Übel zu meinem wahren Besten gereichen würde. Nun drangen die sanftesten Empfindungen, die alle Wolken des Kummers zerteilten, herbei; ich fühlte, daß sich mit dieser Hülfe alles ausstehen ließ. Ich ging heiter zu Tische, zum Erstaunen meiner Hausgenossen.

Narziß hatte weniger Kraft als ich, und ich mußte ihn trösten. Auch in seiner Familie begegneten ihm Widerwärtigkeiten, die ihn sehr drückten, und bei dem wahren Vertrauen, das unter uns statthatte, vertraute er mir alles. Seine Negoziationen, in fremde Dienste zu gehen, waren auch nicht glücklicher; alles fühlte ich tief um seinet- und meinetwillen, und alles trug ich zuletzt an den Ort, wo mein Anliegen so wohl aufgenommen wurde.

Je sanfter diese Erfahrungen waren, desto öfter suchte ich sie zu erneuern und den Trost immer da, wo ich ihn so oft gefunden hatte; allein ich fand ihn nicht immer: es war mir wie einem, der sich an der Sonne wärmen will und dem etwas im Wege steht, das Schatten macht. »Was ist das?« fragte ich mich selbst. Ich spürte der Sache eifrig nach und bemerkte deutlich, daß alles von der Beschaffenheit meiner Seele abhing; wenn die nicht ganz in der geradesten Richtung zu Gott gekehrt war, so blieb ich kalt; ich fühlte seine Rückwirkung nicht und konnte seine Antwort nicht vernehmen. Nun war die zweite Frage: Was verhindert diese Richtung? Hier war ich in einem weiten Feld und verwickelte mich in eine Untersuchung, die beinahe das ganze zweite Jahr meiner Liebesgeschichte fortdauerte. Ich hätte sie früher endigen können, denn ich kam bald auf die Spur; aber ich wollte es nicht gestehen und suchte tausend Ausflüchte.

Ich fand sehr bald, daß die gerade Richtung meiner Seele durch törichte Zerstreuung und Beschäftigung mit unwürdigen Sachen gestört werde; das Wie und Wo war mir bald klar genug. Nun aber wie herauskommen in einer Welt, wo alles gleichgültig oder toll ist? Gern hätte ich die Sache an ihren Ort gestellt sein lassen und hätte auf Geratewohl hingelebt wie andere Leute auch, die ich ganz wohlauf sah; allein ich durfte nicht: mein Inneres widersprach mir zu oft. Wollte ich mich der Gesellschaft entziehen und meine Verhältnisse verändern, so konnte ich nicht. Ich war nun einmal in einen Kreis hineingesperrt; gewisse Verbindungen konnte ich nicht loswerden, und in der mir so angelegenen Sache drängten und häuften sich die Fatalitäten. Ich legte mich oft mit Tränen zu Bette und stand nach einer schlaflosen Nacht auch wieder so auf; ich bedurfte einer kräftigen Unterstützung, und die verlieh mir Gott nicht, wenn ich mit der Schellenkappe herumlief.

Nun ging es an ein Abwiegen aller und jeder Handlungen; Tanzen und Spielen wurden am ersten in Untersuchung genommen. Nie ist etwas für oder gegen diese Dinge geredet, gedacht oder geschrieben worden, das ich nicht aufsuchte, besprach, las, erwog, vermehrte, verwarf und mich unerhört herumplagte. Unterließ ich diese Dinge, so war ich gewiß, Narzissen zu beleidigen; denn er fürchtete sich äußerst vor dem Lächerlichen, das uns der Anschein ängstlicher Gewissenhaftigkeit vor der Welt gibt. Weil ich nun das, was ich für Torheit, für schädliche Torheit hielt, nicht einmal aus Geschmack, sondern bloß um seinetwillen tat, so wurde mir alles entsetzlich schwer.

Ohne unangenehme Weitläufigkeiten und Wiederholungen würde ich die Bemühungen nicht darstellen können, welche ich anwendete, um jene Handlungen, die mich nun einmal zerstreuten und meinen innern Frieden störten, so zu verrichten, daß dabei mein Herz für die Einwirkungen des unsichtbaren Wesens offenbliebe, und wie schmerzlich ich empfinden mußte, daß der Streit auf diese Weise nicht beigelegt werden könne. Denn sobald ich mich in das Gewand der Torheit kleidete, blieb es nicht bloß bei der Maske, sondern die Narrheit durchdrang mich sogleich durch und durch.

Darf ich hier das Gesetz einer bloß historischen Darstellung überschreiten und einige Betrachtungen über dasjenige machen, was in mir vorging? Was konnte das sein, das meinen Geschmack und meine Sinnesart so änderte, daß ich im zweiundzwanzigsten Jahre, ja früher, kein Vergnügen an Dingen fand, die Leute von diesem Alter unschuldig belustigen können? Warum waren sie mir nicht unschuldig? Ich darf wohl antworten: eben weil sie mir nicht unschuldig waren, weil ich nicht wie andre meinesgleichen unbekannt mit meiner Seele war. Nein, ich wußte aus Erfahrungen, die ich ungesucht erlangt hatte, daß es höhere Empfindungen gebe, die uns ein Vergnügen wahrhaftig gewährten, das man vergebens bei Lustbarkeiten sucht, und daß in diesen höhern Freuden zugleich ein geheimer Schatz zur Stärkung im Unglück aufbewahrt sei.

Aber die geselligen Vergnügungen und Zerstreuungen der Jugend mußten doch notwendig einen starken Reiz für mich haben, weil es mir nicht möglich war, sie zu tun, als täte ich sie nicht. Wie manches könnte ich jetzt mit großer Kälte tun, wenn ich nur wollte, was mich damals irremachte, ja Meister über mich zu werden drohte. Hier konnte kein Mittelweg gehalten werden: ich mußte entweder die reizenden Vergnügungen oder die erquickenden innerlichen Empfindungen entbehren.

Aber schon war der Streit in meiner Seele ohne mein eigentliches Bewußtsein entschieden. Wenn auch etwas in mir war, das sich nach den sinnlichen Freuden hinsehnte, so konnte ich sie doch nicht mehr genießen. Wer den Wein noch so sehr liebt, dem wird alle Lust zum Trinken vergehen, wenn er sich bei vollen Fässern in einem Keller befände, in welchem die verdorbene Luft ihn zu ersticken drohte. Reine Luft ist mehr als Wein, das fühlte ich nur zu lebhaft, und es hätte gleich von Anfang an wenig Überlegung bei mir gekostet, das Gute dem Reizenden vorzuziehen, wenn mich die Furcht, Narzissens Gunst zu verlieren, nicht abgehalten hätte. Aber da ich endlich nach tausendfältigem Streit, nach immer wiederholter Betrachtung auch scharfe Blicke auf das Band warf, das mich an ihm festhielt, entdeckte ich, daß es nur schwach war, daß es sich zerreißen lasse. Ich erkannte auf einmal, daß es nur eine Glasglocke sei, die mich in den luftleeren Raum sperrte; nur noch so viel Kraft, sie entzweizuschlagen, und du bist gerettet!

Gedacht, gewagt. Ich zog die Maske ab und handelte jedesmal, wie mir’s ums Herz war. Narzissen hatte ich immer zärtlich lieb; aber das Thermometer, das vorher im heißen Wasser gestanden, hing nun an der natürlichen Luft; es konnte nicht höher steigen, als die Atmosphäre warm war.

Unglücklicherweise erkältete sie sich sehr. Narziß fing an, sich zurückzuziehen und fremd zu tun; das stand ihm frei; aber mein Thermometer fiel, so wie er sich zurückzog. Meine Familie bemerkte es, man befragte mich, man wollte sich verwundern. Ich erklärte mit männlichem Trotz, daß ich mich bisher genug aufgeopfert habe, daß ich bereit sei, noch ferner und bis ans Ende meines Lebens alle Widerwärtigkeiten mit ihm zu teilen; daß ich aber für meine Handlungen völlige Freiheit verlange, daß mein Tun und Lassen von meiner Überzeugung abhängen müsse; daß ich zwar niemals eigensinnig auf meiner Meinung beharren, vielmehr jede Gründe gerne anhören wolle, aber da es mein eignes Glück betreffe, müsse die Entscheidung von mir abhängen, und keine Art von Zwang würde ich dulden. Sowenig das Räsonnement des größten Arztes mich bewegen würde, eine sonst vielleicht ganz gesunde und von vielen sehr geliebte Speise zu mir zu nehmen, sobald mir meine Erfahrung bewiese, daß sie mir jederzeit schädlich sei, wie ich den Gebrauch des Kaffees zum Beispiel anführen könnte, sowenig und noch viel weniger würde ich mir irgend eine Handlung, die mich verwirrte, als für mich moralisch zuträglich aufdemonstrieren lassen.

Da ich mich so lange im stillen vorbereitet hatte, so waren mir die Debatten hierüber eher angenehm als verdrießlich. Ich machte meinem Herzen Luft und fühlte den ganzen Wert meines Entschlusses. Ich wich nicht ein Haar breit, und wem ich nicht kindlichen Respekt schuldig war, der wurde derb abgefertigt. In meinem Hause siegte ich bald. Meine Mutter hatte von Jugend auf ähnliche Gesinnungen, nur waren sie bei ihr nicht zur Reife gediehen; keine Not hatte sie gedrängt und den Mut, ihre Überzeugung durchzusetzen, erhöht. Sie freute sich, durch mich ihre stillen Wünsche erfüllt zu sehen. Die jüngere Schwester schien sich an mich anzuschließen; die zweite war aufmerksam und still. Die Tante hatte am meisten einzuwenden. Die Gründe, die sie vorbrachte, schienen ihr unwiderleglich und waren es auch, weil sie ganz gemein waren. Ich war endlich genötigt, ihr zu zeigen, daß sie in keinem Sinne eine Stimme in dieser Sache habe, und sie ließ nur selten merken, daß sie auf ihrem Sinne verharre. Auch war sie die einzige, die diese Begebenheit von nahem ansah und ganz ohne Empfindung blieb. Ich tue ihr nicht zuviel, wenn ich sage, daß sie kein Gemüt und die eingeschränktesten Begriffe hatte.

Der Vater benahm sich ganz seiner Denkart gemäß. Er sprach weniges, aber öfter mit mir über die Sache, und seine Gründe waren verständig und als seine Gründe unwiderleglich; nur das tiefe Gefühl meines Rechts gab mir Stärke, gegen ihn zu disputieren. Aber bald veränderten sich die Szenen; ich mußte an sein Herz Anspruch machen. Gedrängt von seinem Verstande, brach ich in die affektvollsten Vorstellungen aus. Ich ließ meiner Zunge und meinen Tränen freien Lauf. Ich zeigte ihm, wie sehr ich Narzissen liebte und welchen Zwang ich mir seit zwei Jahren angetan hatte, wie gewiß ich sei, daß ich recht handle, daß ich bereit sei, diese Gewißheit mit dem Verlust des geliebten Bräutigams und anscheinenden Glücks, ja wenn es nötig wäre, mit Hab und Gut zu versiegeln; daß ich lieber mein Vaterland, Eltern und Freunde verlassen und mein Brot in der Fremde verdienen als gegen meine Einsichten handeln wolle. Er verbarg seine Rührung, schwieg einige Zeit stille und erklärte sich endlich öffentlich für mich.

Narziß vermied seit jener Zeit unser Haus, und nun gab mein Vater die wöchentliche Gesellschaft auf, in der sich dieser befand. Die Sache machte Aufsehn bei Hofe und in der Stadt. Man sprach darüber wie gewöhnlich in solchen Fällen, an denen das Publikum heftigen Teil zu nehmen pflegt, weil es verwöhnt ist, auf die Entschließungen schwacher Gemüter einigen Einfluß zu haben. Ich kannte die Welt genug und wußte, daß man oft von ebenden Personen über das getadelt wird, wozu man sich durch sie hat bereden lassen, und auch ohne das würden mir bei meiner innern Verfassung alle solche vorübergehende Meinungen weniger als nichts gewesen sein.

 

Dagegen versagte ich mir nicht, meiner Neigung zu Narzissen nachzuhängen. Er war mir unsichtbar geworden, und mein Herz hatte sich nicht gegen ihn geändert. Ich liebte ihn zärtlich, gleichsam auf das neue und viel gesetzter als vorher. Wollte er meine Überzeugung nicht stören, so war ich die Seine; ohne diese Bedingung hätte ich ein Königreich mit ihm ausgeschlagen. Mehrere Monate lang trug ich diese Empfindungen und Gedanken mit mir herum, und da ich mich endlich still und stark genug fühlte, um ruhig und gesetzt zu Werke zu gehen, so schrieb ich ihm ein höfliches, nicht zärtliches Billett und fragte ihn, warum er nicht mehr zu mir komme.

Da ich seine Art kannte, sich selbst in geringern Dingen nicht gern zu erklären, sondern stillschweigend zu tun, was ihm gut deuchte, so drang ich gegenwärtig mit Vorsatz in ihn. Ich erhielt eine lange und, wie mir schien, abgeschmackte Antwort in einem weitläufigen Stil und unbedeutenden Phrasen: daß er ohne bessere Stellen sich nicht einrichten und mir seine Hand anbieten könne, daß ich am besten wisse, wie hinderlich es ihm bisher gegangen, daß er glaube, ein so lang fortgesetzter fruchtloser Umgang könne meiner Renommée schaden, ich würde ihm erlauben, sich in der bisherigen Entfernung zu halten; sobald er imstande wäre, mich glücklich zu machen, würde ihm das Wort, das er mir gegeben, heilig sein.

Ich antwortete ihm auf der Stelle: da die Sache aller Welt bekannt sei, möge es zu spät sein, meine Renommée zu menagieren, und für diese wären mir mein Gewissen und meine Unschuld die sichersten Bürgen; ihm aber gäbe ich hiermit sein Wort ohne Bedenken zurück und wünschte, daß er dabei sein Glück finden möchte. In ebender Stunde erhielt ich eine kurze Antwort, die im wesentlichen mit der ersten völlig gleichlautend war. Er blieb dabei, daß er nach erhaltener Stelle bei mir anfragen würde, ob ich sein Glück mit ihm teilen wollte.

Mir hieß das nun soviel als nichts gesagt. Ich erklärte meinen Verwandten und Bekannten, die Sache sei abgetan, und sie war es auch wirklich. Denn als er neun Monate hernach auf das erwünschteste befördert wurde, ließ er mir seine Hand nochmals antragen, freilich mit der Bedingung, daß ich als Gattin eines Mannes, der ein Haus machen müßte, meine Gesinnungen würde zu ändern haben. Ich dankte höflich und eilte mit Herz und Sinn von dieser Geschichte weg, wie man sich aus dem Schauspielhause heraussehnt, wenn der Vorhang gefallen ist. Und da er kurze Zeit darauf, wie es ihm nun sehr leicht war, eine reiche und ansehnliche Partie gefunden hatte und ich ihn nach seiner Art glücklich wußte, so war meine Beruhigung ganz vollkommen.

Ich darf nicht mit Stillschweigen übergehen, daß einigemal, noch eh er eine Bedienung erhielt, auch nachher, ansehnliche Heiratsanträge an mich getan wurden, die ich aber ganz ohne Bedenken ausschlug, sosehr Vater und Mutter mehr Nachgiebigkeit von meiner Seite gewünscht hätten.

Nun schien mir nach einem stürmischen März und April das schönste Maiwetter beschert zu sein. Ich genoß bei einer guten Gesundheit eine unbeschreibliche Gemütsruhe; ich mochte mich umsehen, wie ich wollte, so hatte ich bei meinem Verluste noch gewonnen. Jung und voll Empfindung, wie ich war, deuchte mir die Schöpfung tausendmal schöner als vorher, da ich Gesellschaften und Spiele haben mußte, damit mir die Weile in dem schönen Garten nicht zu lang wurde. Da ich mich einmal meiner Frömmigkeit nicht schämte, so hatte ich Herz, meine Liebe zu Künsten und Wissenschaften nicht zu verbergen. Ich zeichnete, malte, las und fand Menschen genug, die mich unterstützten; statt der großen Welt, die ich verlassen hatte, oder vielmehr die mich verließ, bildete sich eine kleinere um mich her, die weit reicher und unterhaltender war. Ich hatte eine Neigung zum gesellschaftlichen Leben, und ich leugne nicht, daß mir, als ich meine ältern Bekanntschaften aufgab, vor der Einsamkeit grauete. Nun fand ich mich hinlänglich, ja vielleicht zu sehr entschädigt. Meine Bekanntschaften wurden erst recht weitläufig, nicht nur mit Einheimischen, deren Gesinnungen mit den meinigen übereinstimmten, sondern auch mit Fremden. Meine Geschichte war ruchtbar geworden, und es waren viele Menschen neugierig, das Mädchen zu sehen, die Gott mehr schätzte als ihren Bräutigam. Es war damals überhaupt eine gewisse religiöse Stimmung in Deutschland bemerkbar. In mehreren fürstlichen und gräflichen Häusern war eine Sorge für das Heil der Seele lebendig. Es fehlte nicht an Edelleuten, die gleiche Aufmerksamkeit hegten, und in den geringern Ständen war durchaus diese Gesinnung verbreitet.

Die gräfliche Familie, deren ich oben erwähnt, zog mich nun näher an sich. Sie hatte sich indessen verstärkt, indem sich einige Verwandte in die Stadt gewendet hatten. Diese schätzbaren Personen suchten meinen Umgang wie ich den ihrigen. Sie hatten große Verwandtschaft, und ich lernte in diesem Hause einen großen Teil der Fürsten, Grafen und Herren des Reichs kennen. Meine Gesinnungen waren niemanden ein Geheimnis, und man mochte sie ehren oder auch nur schonen, so erlangte ich doch meinen Zweck und blieb ohne Anfechtung.

Noch auf eine andere Weise sollte ich wieder in die Welt geführt werden. Zu eben der Zeit verweilte ein Stiefbruder meines Vaters, der uns sonst nur im Vorbeigehn besucht hatte, länger bei uns. Er hatte die Dienste seines Hofes, wo er geehrt und von Einfluß war, nur deswegen verlassen, weil nicht alles nach seinem Sinne ging. Sein Verstand war richtig und sein Charakter streng, und er war darin meinem Vater sehr ähnlich; nur hatte dieser dabei einen gewissen Grad von Weichheit, wodurch ihm leichter ward, in Geschäften nachzugeben und etwas gegen seine Überzeugung nicht zu tun, aber geschehen zu lassen und den Unwillen darüber alsdann entweder in der Stille für sich oder vertraulich mit seiner Familie zu verkochen. Mein Oheim war um vieles jünger, und seine Selbständigkeit ward durch seine äußern Umstände nicht wenig bestätigt. Er hatte eine sehr reiche Mutter gehabt und hatte von ihren nahen und fernen Verwandten noch ein großes Vermögen zu hoffen; er bedurfte keines fremden Zuschusses, anstatt daß mein Vater bei seinem mäßigen Vermögen durch Besoldung an den Dienst fest geknüpft war.

Noch unbiegsamer war mein Oheim durch häusliches Unglück geworden. Er hatte eine liebenswürdige Frau und einen hoffnungsvollen Sohn früh verloren, und er schien von der Zeit an alles von sich entfernen zu wollen, was nicht von seinem Willen abhing.

In der Familie sagte man sich gelegentlich mit einiger Selbstgefälligkeit in die Ohren, daß er wahrscheinlich nicht wieder heiraten werde und daß wir Kinder uns schon als Erben seines großen Vermögens ansehen könnten. Ich achtete nicht weiter darauf; allein das Betragen der übrigen ward nach diesen Hoffnungen nicht wenig gestimmt. Bei der Festigkeit seines Charakters hatte er sich gewöhnt, in der Unterredung niemand zu widersprechen, vielmehr die Meinung eines jeden freundlich anzuhören und die Art, wie sich jeder eine Sache dachte, noch selbst durch Argumente und Beispiele zu erheben. Wer ihn nicht kannte, glaubte stets mit ihm einerlei Meinung zu sein; denn er hatte einen überwiegenden Verstand und konnte sich in alle Vorstellungsarten versetzen. Mit mir ging es ihm nicht so glücklich, denn hier war von Empfindungen die Rede, von denen er gar keine Ahnung hatte, und so schonend, teilnehmend und verständig er mit mir über meine Gesinnungen sprach, so war es mir doch auffallend, daß er von dem, worin der Grund aller meiner Handlungen lag, offenbar keinen Begriff hatte.

So geheim er übrigens war, entdeckte sich doch der Endzweck seines ungewöhnlichen Aufenthalts bei uns nach einiger Zeit. Er hatte, wie man endlich bemerken konnte, sich unter uns die jüngste Schwester ausersehen, um sie nach seinem Sinne zu verheiraten und glücklich zu machen; und gewiß, sie konnte nach ihren körperlichen und geistigen Gaben, besonders wenn sich ein ansehnliches Vermögen noch mit auf die Schale legte, auf die ersten Partien Anspruch machen. Seine Gesinnungen gegen mich gab er gleichfalls pantomimisch zu erkennen, indem er mir den Platz einer Stiftsdame verschaffte, wovon ich sehr bald auch die Einkünfte zog.

Meine Schwester war mit seiner Fürsorge nicht so zufrieden und nicht so dankbar wie ich. Sie entdeckte mir eine Herzensangelegenheit, die sie bisher sehr weislich verborgen hatte: denn sie fürchtete wohl, was auch wirklich geschah, daß ich ihr auf alle mögliche Weise die Verbindung mit einem Manne, der ihr nicht hätte gefallen sollen, widerraten würde. Ich tat mein möglichstes, und es gelang mir. Die Absichten des Oheims waren zu ernsthaft und zu deutlich und die Aussicht für meine Schwester bei ihrem Weltsinne zu reizend, als daß sie nicht eine Neigung, die ihr Verstand selbst mißbilligte, aufzugeben Kraft hätte haben sollen.

Da sie nun den sanften Leitungen des Oheims nicht mehr wie bisher auswich, so war der Grund zu seinem Plane bald gelegt. Sie ward Hofdame an einem benachbarten Hofe, wo er sie einer Freundin, die als Oberhofmeisterin in großem Ansehn stand, zur Aufsicht und Ausbildung übergeben konnte. Ich begleitete sie zu dem Ort ihres neuen Aufenthaltes. Wir konnten beide mit der Aufnahme, die wir erfuhren, sehr zufrieden sein, und manchmal mußte ich über die Person, die ich nun als Stiftsdame, als junge und fromme Stiftsdame, in der Welt spielte, heimlich lächeln.

In frühern Zeiten würde ein solches Verhältnis mich sehr verwirrt, ja mir vielleicht den Kopf verrückt haben; nun aber war ich bei allem, was mich umgab, sehr gelassen. Ich ließ mich in großer Stille ein paar Stunden frisieren, putzte mich und dachte nichts dabei, als daß ich in meinem Verhältnisse diese Galalivree anzuziehen schuldig sei. In den angefüllten Sälen sprach ich mit allen und jeden, ohne daß mir irgendeine Gestalt oder ein Wesen einen starken Eindruck zurückgelassen hätte. Wenn ich wieder nach Hause kam, waren müde Beine meist alles Gefühl, was ich mit zurückbrachte. Meinem Verstande nützten die vielen Menschen, die ich sah; und als Muster aller menschlichen Tugenden, eines guten und edlen Betragens lernte ich einige Frauen, besonders die Oberhofmeisterin, kennen, unter der meine Schwester sich zu bilden das Glück hatte.

Doch fühlte ich bei meiner Rückkunft nicht so glückliche körperliche Folgen von dieser Reise. Bei der größten Enthaltsamkeit und der genausten Diät war ich doch nicht wie sonst Herr von meiner Zeit und meinen Kräften. Nahrung, Bewegung, Aufstehn und Schlafengehn, Ankleiden und Ausfahren hing nicht wie zu Hause von meinem Willen und meinem Empfinden ab. Im Laufe des geselligen Kreises darf man nicht stocken, ohne unhöflich zu sein, und alles, was nötig war, leistete ich gern, weil ich es für Pflicht hielt, weil ich wußte, daß es bald vorübergehen würde, und weil ich mich gesunder als jemals fühlte. Dessenungeachtet mußte dieses fremde, unruhige Leben auf mich stärker, als ich fühlte, gewirkt haben. Denn kaum war ich zu Hause angekommen und hatte meine Eltern mit einer befriedigenden Erzählung erfreut, so überfiel mich ein Blutsturz, der, ob er gleich nicht gefährlich war und schnell vorüberging, doch lange Zeit eine merkliche Schwachheit hinterließ.

Hier hatte ich nun wieder eine neue Lektion aufzusagen. Ich tat es freudig. Nichts fesselte mich an die Welt, und ich war überzeugt, daß ich hier das Rechte niemals finden würde, und so war ich in dem heitersten und ruhigsten Zustande und ward, indem ich Verzicht aufs Leben getan hatte, beim Leben erhalten.

Eine neue Prüfung hatte ich auszustehen, da meine Mutter mit einer drückenden Beschwerde überfallen wurde, die sie noch fünf Jahre trug, ehe sie die Schuld der Natur bezahlte. In dieser Zeit gab es manche Übung. Oft, wenn ihr die Bangigkeit zu stark wurde, ließ sie uns des Nachts alle vor ihr Bette rufen, um wenigstens durch unsre Gegenwart zerstreut, wo nicht gebessert zu werden. Schwerer, ja kaum zu tragen war der Druck, als mein Vater auch elend zu werden anfing. Von Jugend auf hatte er öfters heftige Kopfschmerzen, die aber aufs längste nur sechsunddreißig Stunden anhielten. Nun aber wurden sie bleibend, und wenn sie auf einen hohen Grad stiegen, so zerriß der Jammer mir das Herz. Bei diesen Stürmen fühlte ich meine körperliche Schwäche am meisten, weil sie mich hinderte, meine heiligsten, liebsten Pflichten zu erfüllen, oder mir doch ihre Ausübung äußerst beschwerlich machte.

Nun konnte ich mich prüfen, ob auf dem Wege, den ich eingeschlagen, Wahrheit oder Phantasie sei, ob ich vielleicht nur nach andern gedacht oder ob der Gegenstand meines Glaubens eine Realität habe, und zu meiner größten Unterstützung fand ich immer das letztere. Die gerade Richtung meines Herzens zu Gott, den Umgang mit den »beloved ones« hatte ich gesucht und gefunden, und das war, was mir alles erleichterte. Wie der Wanderer in den Schatten, so eilte meine Seele nach diesem Schutzort, wenn mich alles von außen drückte, und kam niemals leer zurück.

In der neuern Zeit haben einige Verfechter der Religion, die mehr Eifer als Gefühl für dieselbe zu haben scheinen, ihre Mitgläubigen aufgefordert, Beispiele von wirklichen Gebetserhörungen bekanntzumachen, wahrscheinlich weil sie sich Brief und Siegel wünschten, um ihren Gegnern recht diplomatisch und juristisch zu Leibe zu gehen. Wie unbekannt muß ihnen das wahre Gefühl sein, und wie wenig echte Erfahrungen mögen sie selbst gemacht haben!

Ich darf sagen, ich kam nie leer zurück, wenn ich unter Druck und Not Gott gesucht hatte. Es ist unendlich viel gesagt, und doch kann und darf ich nicht mehr sagen. So wichtig jede Erfahrung in dem kritischen Augenblicke für mich war, so matt, so unbedeutend, unwahrscheinlich würde die Erzählung werden, wenn ich einzelne Fälle anführen wollte. Wie glücklich war ich, daß tausend kleine Vorgänge zusammen, so gewiß als das Atemholen Zeichen meines Lebens ist, mir bewiesen, daß ich nicht ohne Gott auf der Welt sei. Er war mir nahe, ich war vor ihm. Das ist’s, was ich mit geflissentlicher Vermeidung aller theologischen Systemsprache mit größter Wahrheit sagen kann.

Wie sehr wünschte ich, daß ich mich auch damals ganz ohne System befunden hätte; aber wer kommt früh zu dem Glücke, sich seines eignen Selbsts, ohne fremde Formen, in reinem Zusammenhang bewußt zu sein? Mir war es Ernst mit meiner Seligkeit. Bescheiden vertraute ich fremdem Ansehn; ich ergab mich völlig dem Hallischen Bekehrungssystem, und mein ganzes Wesen wollte auf keine Wege hineinpassen.

Nach diesem Lehrplan muß die Veränderung des Herzens mit einem tiefen Schrecken über die Sünde anfangen; das Herz muß in dieser Not bald mehr, bald weniger die verschuldete Strafe erkennen und den Vorschmack der Hölle kosten, der die Lust der Sünde verbittert. Endlich muß man eine sehr merkliche Versicherung der Gnade fühlen, die aber im Fortgange sich oft versteckt und mit Ernst wieder gesucht werden muß.

Das alles traf bei mir weder nahe noch ferne zu. Wenn ich Gott aufrichtig suchte, so ließ er sich finden und hielt mir von vergangenen Dingen nichts vor. Ich sah hintennach wohl ein, wo ich unwürdig gewesen, und wußte auch, wo ich es noch war; aber die Erkenntnis meiner Gebrechen war ohne alle Angst. Nicht einen Augenblick ist mir eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja die Idee eines bösen Geistes und eines Straf- und Quälortes nach dem Tode konnte keinesweges in dem Kreise meiner Ideen Platz finden. Ich fand die Menschen, die ohne Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und der Liebe gegen den Unsichtbaren zugeschlossen war, schon so unglücklich, daß eine Hölle und äußere Strafen mir eher für sie eine Linderung zu versprechen als eine Schärfung der Strafe zu drohen schienen. Ich durfte nur Menschen auf dieser Welt ansehen, die gehässigen Gefühlen in ihrem Busen Raum geben, die sich gegen das Gute von irgendeiner Art verstocken und sich und andern das Schlechte aufdringen wollen, die lieber bei Tage die Augen zuschließen, um nur behaupten zu können, die Sonne gebe keinen Schein von sich – wie über allen Ausdruck schienen mir diese Menschen elend! Wer hätte eine Hölle schaffen können, um ihren Zustand zu verschlimmern!

Diese Gemütsbeschaffenheit blieb mir, einen Tag wie den andern, zehn Jahre lang. Sie erhielt sich durch viele Proben, auch am schmerzhaften Sterbebette meiner geliebten Mutter. Ich war offen genug, um bei dieser Gelegenheit meine heitere Gemütsverfassung frommen, aber ganz schulgerechten Leuten nicht zu verbergen, und ich mußte darüber manchen freundschaftlichen Verweis erdulden. Man meinte mir eben zur rechten Zeit vorzustellen, welchen Ernst man anzuwenden hätte, um in gesunden Tagen einen guten Grund zu legen.

An Ernst wollte ich es auch nicht fehlen lassen. Ich ließ mich für den Augenblick überzeugen und wäre um mein Leben gern traurig und voll Schrecken gewesen. Wie verwundert war ich aber, da es ein für allemal nicht möglich war. Wenn ich an Gott dachte, war ich heiter und vergnügt; auch bei meiner lieben Mutter schmerzensvollem Ende graute mir vor dem Tode nicht. Doch lernte ich vieles und ganz andere Sachen, als meine unberufenen Lehrmeister glaubten, in diesen großen Stunden.

 

Nach und nach ward ich an den Einsichten so mancher hochberühmten Leute zweifelhaft und bewahrte meine Gesinnungen in der Stille. Eine gewisse Freundin, der ich erst zuviel eingeräumt hatte, wollte sich immer in meine Angelegenheiten mengen; auch von dieser war ich genötigt mich loszumachen, und einst sagte ich ihr ganz entschieden, sie solle ohne Mühe bleiben, ich brauche ihren Rat nicht; ich kenne meinen Gott und wolle ihn ganz allein zum Führer haben. Sie fand sich sehr beleidigt, und ich glaube, sie hat mir’s nie ganz verziehen.

Dieser Entschluß, mich dem Rate und der Einwirkung meiner Freunde in geistlichen Sachen zu entziehen, hatte die Folge, daß ich auch in äußerlichen Verhältnissen meinen eigenen Weg zu gehen Mut gewann. Ohne den Beistand meines treuen unsichtbaren Führers hätte es mir übel geraten können, und noch muß ich über diese weise und glückliche Leitung erstaunen. Niemand wußte eigentlich, worauf es bei mir ankam, und ich wußte es selbst nicht.

Das Ding, das noch nie erklärte böse Ding, das uns von dem Wesen trennt, dem wir das Leben verdanken, von dem Wesen, aus dem alles, was Leben genannt werden soll, sich unterhalten muß, das Ding, das man Sünde nennt, kannte ich noch gar nicht.

In dem Umgange mit dem unsichtbaren Freunde fühlte ich den süßesten Genuß aller meiner Lebenskräfte. Das Verlangen, dieses Glück immer zu genießen, war so groß, daß ich gern unterließ, was diesen Umgang störte, und hierin war die Erfahrung mein bester Lehrmeister. Allein es ging mir wie Kranken, die keine Arznei haben und sich mit der Diät zu helfen suchen. Es tut etwas, aber lange nicht genug.

In der Einsamkeit konnte ich nicht immer bleiben, ob ich gleich in ihr das beste Mittel gegen die mir so eigene Zerstreuung der Gedanken fand. Kam ich nachher in Getümmel, so machte es einen desto größern Eindruck auf mich. Mein eigentlichster Vorteil bestand darin, daß die Liebe zur Stille herrschend war und ich mich am Ende immer dahin wieder zurückzog. Ich erkannte, wie in einer Art von Dämmerung, mein Elend und meine Schwäche, und ich suchte mir dadurch zu helfen, daß ich mich schonte, daß ich mich nicht aussetzte.

Sieben Jahre lang hatte ich meine diätetische Vorsicht ausgeübt. Ich hielt mich nicht für schlimm und fand meinen Zustand wünschenswert. Ohne sonderbare Umstände und Verhältnisse wäre ich auf dieser Stufe stehengeblieben, und ich kam nur auf einem sonderbaren Wege weiter. Gegen den Rat aller meiner Freunde knüpfte ich ein neues Verhältnis an. Ihre Einwendungen machten mich anfangs stutzig. Sogleich wandte ich mich an meinen unsichtbaren Führer, und da dieser es mir vergönnte, ging ich ohne Bedenken auf meinem Wege fort.

Ein Mann von Geist, Herz und Talenten hatte sich in der Nachbarschaft angekauft. Unter den Fremden, die ich kennenlernte, war auch er und seine Familie. Wir stimmten in unsern Sitten, Hausverfassungen und Gewohnheiten sehr überein und konnten uns daher bald aneinander anschließen.

Philo, so will ich ihn nennen, war schon in gewissen Jahren und meinem Vater, dessen Kräfte abzunehmen anfingen, in gewissen Geschäften von der größten Beihülfe. Er ward bald der innige Freund unsers Hauses, und da er, wie er sagte, an mir eine Person fand, die nicht das Ausschweifende und Leere der großen Welt und nicht das Trockne und Ängstliche der »Stillen im Lande« habe, so waren wir bald vertraute Freunde. Er war mir sehr angenehm und sehr brauchbar.

Ob ich gleich nicht die mindeste Anlage noch Neigung hatte, mich in weltliche Geschäfte zu mischen und irgendeinen Einfluß zu suchen, so hörte ich doch gerne davon und wußte gern, was in der Nähe und Ferne vorging. Von weltlichen Dingen liebte ich mir eine gefühllose Deutlichkeit zu verschaffen; Empfindung, Innigkeit, Neigung bewahrte ich für meinen Gott, für die Meinigen und für meine Freunde.

Diese letzten waren, wenn ich so sagen darf, auf meine neue Verbindung mit Philo eifersüchtig und hatten dabei von mehr als einer Seite recht, wenn sie mich hierüber warnten. Ich litt viel in der Stille, denn ich konnte selbst ihre Einwendungen nicht ganz für leer oder eigennützig halten. Ich war von jeher gewohnt, meine Einsichten unterzuordnen, und doch wollte diesmal meine Überzeugung nicht nach. Ich flehte zu meinem Gott, auch hier mich zu warnen, zu hindern, zu leiten, und da mich hierauf mein Herz nicht abmahnte, so ging ich meinen Pfad getrost fort.

Philo hatte im ganzen eine entfernte Ähnlichkeit mit Narzissen; nur hatte eine fromme Erziehung sein Gefühl mehr zusammengehalten und belebt. Er hatte weniger Eitelkeit, mehr Charakter, und wenn jener in weltlichen Geschäften fein, genau, anhaltend und unermüdlich war, so war dieser klar, scharf, schnell und arbeitete mit einer unglaublichen Leichtigkeit. Durch ihn erfuhr ich die innersten Verhältnisse fast aller der vornehmen Personen, deren Äußeres ich in der Gesellschaft hatte kennenlernen, und ich war froh, von meiner Warte dem Getümmel von weiten zuzusehen. Philo konnte mir nichts mehr verhehlen: er vertraute mir nach und nach seine äußern und innern Verbindungen. Ich fürchtete für ihn, denn ich sah gewisse Umstände und Verwickelungen voraus, und das Übel kam schneller, als ich vermutet hatte; denn er hatte mit gewissen Bekenntnissen immer zurückgehalten, und auch zuletzt entdeckte er mir nur so viel, daß ich das Schlimmste vermuten konnte.

Welche Wirkung hatte das auf mein Herz! Ich gelangte zu Erfahrungen, die mir ganz neu waren. Ich sah mit unbeschreiblicher Wehmut einen Agathon, der, in den Hainen von Delphi erzogen, das Lehrgeld noch schuldig war und es nun mit schweren, rückständigen Zinsen abzahlte, und dieser Agathon war mein genau verbundener Freund. Meine Teilnahme war lebhaft und vollkommen; ich litt mit ihm, und wir befanden uns beide in dem sonderbarsten Zustande.

Nachdem ich mich lange mit seiner Gemütsverfassung beschäftigt hatte, wendete sich meine Betrachtung auf mich selbst. Der Gedanke: »Du bist nicht besser als er«, stieg wie eine kleine Wolke vor mir auf, breitete sich nach und nach aus und verfinsterte meine ganze Seele.

Nun dachte ich nicht mehr bloß: »Du bist nicht besser als er«; ich fühlte es und fühlte es so, daß ich es nicht noch einmal fühlen möchte: und es war kein schneller Übergang. Mehr als ein Jahr mußte ich empfinden, daß, wenn mich eine unsichtbare Hand nicht umschränkt hätte, ich ein Girard, ein Cartouche, ein Damiens, und welches Ungeheuer man nennen will, hätte werden können: die Anlage dazu fühlte ich deutlich in meinem Herzen. Gott, welche Entdeckung!

Hatte ich nun bisher die Wirklichkeit der Sünde in mir durch die Erfahrung nicht einmal auf das leiseste gewahr werden können, so war mir jetzt die Möglichkeit derselben in der Ahnung aufs schrecklichste deutlich geworden, und doch kannte ich das Übel nicht, ich fürchtete es nur; ich fühlte, daß ich schuldig sein könnte, und hatte mich nicht anzuklagen.

So tief ich überzeugt war, daß eine solche Geistesbeschaffenheit, wofür ich die meinige anerkennen mußte, sich nicht zu einer Vereinigung mit dem höchsten Wesen, die ich nach dem Tode hoffte, schicken könne, so wenig fürchtete ich, in eine solche Trennung zu geraten. Bei allem Bösen, das ich in mir entdeckte, hatte ich ihn lieb und haßte, was ich fühlte, ja ich wünschte es noch ernstlicher zu hassen, und mein ganzer Wunsch war, von dieser Krankheit und dieser Anlage zur Krankheit erlöst zu werden, und ich war gewiß, daß mir der große Arzt seine Hülfe nicht versagen würde.

Die einzige Frage war: Was heilt diesen Schaden? Tugendübungen? An die konnte ich nicht einmal denken; denn zehn Jahre hatte ich schon mehr als nur bloße Tugend geübt, und die nun erkannten Greuel hatten dabei tief in meiner Seele verborgen gelegen. Hätten sie nicht auch wie bei David losbrechen können, als er Bathseba erblickte, und war er nicht auch ein Freund Gottes, und war ich nicht im Innersten überzeugt, daß Gott mein Freund sei?

Sollte es also wohl eine unvermeidliche Schwäche der Menschheit sein? Müssen wir uns nun gefallen lassen, daß wir irgendeinmal die Herrschaft unsrer Neigung empfinden, und bleibt uns bei dem besten Willen nichts andres übrig, als den Fall, den wir getan, zu verabscheuen und bei einer ähnlichen Gelegenheit wieder zu fallen?

Aus der Sittenlehre konnte ich keinen Trost schöpfen. Weder ihre Strenge, wodurch sie unsre Neigung meistern will, noch ihre Gefälligkeit, mit der sie unsre Neigungen zu Tugenden machen möchte, konnte mir genügen. Die Grundbegriffe, die mir der Umgang mit dem unsichtbaren Freunde eingeflößt hatte, hatten für mich schon einen viel entschiedenern Wert.

Indem ich einst die Lieder studierte, welche David nach jener häßlichen Katastrophe gedichtet hatte, war mir sehr auffallend, daß er das in ihm wohnende Böse schon in dem Stoff, woraus er geworden war, erblickte, daß er aber entsündigt sein wollte und daß er auf das dringendste um ein reines Herz flehte.

Wie nun aber dazu zu gelangen? Die Antwort aus den symbolischen Büchern wußte ich wohl: es war mir auch eine Bibelwahrheit, daß das Blut Jesu Christi uns von allen Sünden reinige. Nun aber bemerkte ich erst, daß ich diesen so oft wiederholten Spruch noch nie verstanden hatte. Die Fragen: Was heißt das? Wie soll das zugehen? arbeiteten Tag und Nacht in mir sich durch. Endlich glaubte ich bei einem Schimmer zu sehen, daß das, was ich suchte, in der Menschwerdung des ewigen Worts, durch das alles und auch wir erschaffen sind, zu suchen sei. Daß der Uranfängliche sich in die Tiefen, in denen wir stecken, die er durchschaut und umfaßt, einstmal als Bewohner begeben habe, durch unser Verhältnis von Stufe zu Stufe, von der Empfängnis und Geburt bis zu dem Grabe, durchgegangen sei, daß er durch diesen sonderbaren Umweg wieder zu den lichten Höhen aufgestiegen, wo wir auch wohnen sollten, um glücklich zu sein: das ward mir, wie in einer dämmernden Ferne, offenbart.

O warum müssen wir, um von solchen Dingen zu reden, Bilder gebrauchen, die nur äußere Zustände anzeigen! Wo ist vor ihm etwas Hohes oder Tiefes, etwas Dunkles oder Helles? Wir nur haben ein Oben und Unten, einen Tag und eine Nacht. Und eben darum ist er uns ähnlich geworden, weil wir sonst keinen Teil an ihm haben könnten.

Wie können wir aber an dieser unschätzbaren Wohltat teilnehmen? »Durch den Glauben«, antwortet uns die Schrift. Was ist denn Glauben? Die Erzählung einer Begebenheit für wahr halten, was kann mir das helfen? Ich muß mir ihre Wirkungen, ihre Folgen zueignen können. Dieser zueignende Glaube muß ein eigener, dem natürlichen Menschen ungewöhnlicher Zustand des Gemüts sein.

»Nun, Allmächtiger! so schenke mir Glauben!« flehte ich einst in dem größten Druck des Herzens. Ich lehnte mich auf einen kleinen Tisch, an dem ich saß, und verbarg mein beträntes Gesicht in meinen Händen. Hier war ich in der Lage, in der man sein muß, wenn Gott auf unser Gebet achten soll, und in der man selten ist.

Ja, wer nur schildern könnte, was ich da fühlte! Ein Zug brachte meine Seele nach dem Kreuze hin, an dem Jesus einst erblaßte; ein Zug war es, ich kann es nicht anders nennen, demjenigen völlig gleich, wodurch unsre Seele zu einem abwesenden Geliebten geführt wird, ein Zunahen, das vermutlich viel wesentlicher und wahrhafter ist, als wir vermuten. So nahte meine Seele dem Menschgewordnen und am Kreuz Gestorbenen, und in dem Augenblicke wußte ich, was Glauben war.

»Das ist Glauben!« sagte ich und sprang wie halb erschreckt in die Höhe. Ich suchte nun, meiner Empfindung, meines Anschauens gewiß zu werden, und in kurzem war ich überzeugt, daß mein Geist eine Fähigkeit sich aufzuschwingen erhalten habe, die ihm ganz neu war.

Bei diesen Empfindungen verlassen uns die Worte. Ich konnte sie ganz deutlich von aller Phantasie unterscheiden; sie waren ganz ohne Phantasie, ohne Bild, und gaben doch ebendie Gewißheit eines Gegenstandes, auf den sie sich bezogen, als die Einbildungskraft, indem sie uns die Züge eines abwesenden Geliebten vormalt.

Als das erste Entzücken vorüber war, bemerkte ich, daß mir dieser Zustand der Seele schon vorher bekannt gewesen; allein ich hatte ihn nie in dieser Stärke empfunden. Ich hatte ihn niemals festhalten, nie zu eigen behalten können. Ich glaube überhaupt, daß jede Menschenseele ein und das andere Mal davon etwas empfunden hat. Ohne Zweifel ist er das, was einem jeden lehrt, daß ein Gott ist.

Mit dieser mich ehemals von Zeit zu Zeit nur anwandelnden Kraft war ich bisher sehr zufrieden gewesen, und wäre mir nicht durch sonderbare Schickung seit Jahr und Tag die unerwartete Plage widerfahren, wäre nicht dabei mein Können und Vermögen bei mir selbst außer allen Kredit gekommen, so wäre ich vielleicht mit jenem Zustande immer zufrieden geblieben.

Nun hatte ich aber seit jenem großen Augenblicke Flügel bekommen. Ich konnte mich über das, was mich vorher bedrohete, aufschwingen, wie ein Vogel singend über den schnellsten Strom ohne Mühe fliegt, vor welchem das Hündchen ängstlich bellend stehenbleibt.

Meine Freude war unbeschreiblich, und ob ich gleich niemand etwas davon entdeckte, so merkten doch die Meinigen eine ungewöhnliche Heiterkeit an mir, ohne begreifen zu können, was die Ursache meines Vergnügens wäre. Hätte ich doch immer geschwiegen und die reine Stimmung in meiner Seele zu erhalten gesucht! Hätte ich mich doch nicht durch Umstände verleiten lassen, mit meinem Geheimnisse hervorzutreten! dann hätte ich mir abermals einen großen Umweg ersparen können.

Da in meinem vorhergehenden zehnjährigen Christenlauf diese notwendige Kraft nicht in meiner Seele war, so hatte ich mich in dem Fall anderer redlichen Leute auch befunden; ich hatte mir dadurch geholfen, daß ich die Phantasie immer mit Bildern erfüllte, die einen Bezug auf Gott hatten, und auch dieses ist schon wahrhaft nützlich: denn schädliche Bilder und ihre bösen Folgen werden dadurch abgehalten. Sodann ergreift unsre Seele oft ein und das andere von den geistigen Bildern und schwingt sich ein wenig damit in die Höhe, wie ein junger Vogel von einem Zweige auf den andern flattert. Solange man nichts Besseres hat, ist doch diese Übung nicht ganz zu verwerfen.

Auf Gott zielende Bilder und Eindrücke verschaffen uns kirchliche Anstalten, Glocken, Orgeln und Gesänge und besonders die Vorträge unsrer Lehrer. Auf sie war ich ganz unsäglich begierig; keine Witterung, keine körperliche Schwäche hielt mich ab, die Kirchen zu besuchen, und nur das sonntägige Geläute konnte mir auf meinem Krankenlager einige Ungeduld verursachen. Unsern Oberhofprediger, der ein trefflicher Mann war, hörte ich mit großer Neigung; auch seine Kollegen waren mir wert, und ich wußte die goldnen Äpfel des göttlichen Wortes auch aus irdenen Schalen unter gemeinem Obste herauszufinden. Den öffentlichen Übungen wurden alle möglichen Privaterbauungen, wie man sie nennt, hinzugefügt und auch dadurch nur Phantasie und feinere Sinnlichkeit genährt. Ich war so an diesen Gang gewöhnt, ich respektierte ihn so sehr, daß mir auch jetzt nichts Höheres einfiel. Denn meine Seele hat nur Fühlhörner und keine Augen; sie tastet nur und sieht nicht; ach! daß sie Augen bekäme und schauen dürfte!

Auch jetzt ging ich voll Verlangen in die Predigten; aber ach, wie geschah mir! Ich fand das nicht mehr, was ich sonst gefunden. Diese Prediger stumpften sich die Zähne an den Schalen ab, indessen ich den Kern genoß. Ich mußte ihrer nun bald müde werden; aber mich an den allein zu halten, den ich doch zu finden wußte, dazu war ich zu verwöhnt. Bilder wollte ich haben, äußere Eindrücke bedurfte ich und glaubte ein reines geistiges Bedürfnis zu fühlen.

 

Philos Eltern hatten mit der herrnhutischen Gemeinde in Verbindung gestanden; in seiner Bibliothek fanden sich noch viele Schriften des Grafen. Er hatte mir einigemal sehr klar und billig darüber gesprochen und mich ersucht, einige dieser Schriften durchzublättern, und wäre es auch nur, um ein psychologisches Phänomen kennenzulernen. Ich hielt den Grafen für einen gar zu argen Ketzer; so ließ ich auch das Ebersdorfer Gesangbuch bei mir liegen, das mir der Freund in ähnlicher Absicht gleichsam aufgedrungen hatte.

In dem völligen Mangel aller äußeren Ermunterungsmittel ergriff ich wie von ungefähr das gedachte Gesangbuch und fand zu meinem Erstaunen wirklich Lieder darin, die, freilich unter sehr seltsamen Formen, auf dasjenige zu deuten schienen, was ich fühlte; die Originalität und Naivetät der Ausdrücke zog mich an. Eigene Empfindungen schienen auf eine eigene Weise ausgedrückt; keine Schulterminologie erinnerte an etwas Steifes oder Gemeines. Ich ward überzeugt, die Leute fühlten, was ich fühlte, und ich fand mich nun sehr glücklich, ein solches Verschen ins Gedächtnis zu fassen und mich einige Tage damit zu tragen.

Seit jenem Augenblick, in welchem mir das Wahre geschenkt worden war, verflossen auf diese Weise ungefähr drei Monate. Endlich faßte ich den Entschluß, meinem Freunde Philo alles zu entdecken und ihn um die Mitteilung jener Schriften zu bitten, auf die ich nun über die Maßen neugierig geworden war. Ich tat es auch wirklich, ungeachtet mir ein Etwas im Herzen ernstlich davon abriet.

Ich erzählte Philo die ganze Geschichte umständlich, und da er selbst darin eine Hauptperson war, da meine Erzählung auch für ihn die strengste Bußpredigt enthielt, war er äußerst betroffen und gerührt. Er zerfloß in Tränen. Ich freute mich und glaubte, auch bei ihm sei eine völlige Sinnesänderung bewirkt worden.

Er versorgte mich mit allen Schriften, die ich nur verlangte, und nun hatte ich überflüssige Nahrung für meine Einbildungskraft. Ich machte große Fortschritte in der Zinzendorfischen Art, zu denken und zu sprechen. Man glaube nicht, daß ich die Art und Weise des Grafen nicht auch gegenwärtig zu schätzen wisse; ich lasse ihm gern Gerechtigkeit widerfahren; er ist kein leerer Phantast; er spricht von großen Wahrheiten meist in einem kühnen Fluge der Einbildungskraft, und die ihn geschmäht haben, wußten seine Eigenschaften weder zu schätzen noch zu unterscheiden.

Ich gewann ihn unbeschreiblich lieb. Wäre ich mein eigner Herr gewesen, so hätte ich gewiß Vaterland und Freunde verlassen, wäre zu ihm gezogen; unfehlbar hätten wir uns verstanden, und schwerlich hätten wir uns lange vertragen.

Dank sei meinem Genius, der mich damals in meiner häuslichen Verfassung so eingeschränkt hielt! Es war schon eine große Reise, wenn ich nur in den Hausgarten gehen konnte. Die Pflege meines alten und schwächlichen Vaters machte mir Arbeit genug, und in den Ergötzungsstunden war die edle Phantasie mein Zeitvertreib. Der einzige Mensch, den ich sah, war Philo, den mein Vater sehr liebte, dessen offnes Verhältnis zu mir aber durch die letzte Erklärung einigermaßen gelitten hatte. Bei ihm war die Rührung nicht tief gedrungen, und da ihm einige Versuche, in meiner Sprache zu reden, nicht gelungen waren, so vermied er diese Materie um so leichter, als er durch seine ausgebreiteten Kenntnisse immer neue Gegenstände des Gesprächs herbeizuführen wußte.

Ich war also eine herrnhutische Schwester auf meine eigene Hand und hatte diese neue Wendung meines Gemüts und meiner Neigungen besonders vor dem Oberhofprediger zu verbergen, den ich als meinen Beichtvater zu schätzen sehr Ursache hatte und dessen große Verdienste auch gegenwärtig durch seine äußerste Abneigung gegen die herrnhutische Gemeinde in meinen Augen nicht geschmälert wurden. Leider sollte dieser würdige Mann an mir und andern viele Betrübnis erleben!

Er hatte vor mehreren Jahren auswärts einen Kavalier als einen redlichen, frommen Mann kennenlernen und war mit ihm als einem, der Gott ernstlich suchte, in einem ununterbrochenen Briefwechsel geblieben. Wie schmerzhaft war es daher für seinen geistlichen Führer, als dieser Kavalier sich in der Folge mit der herrnhutischen Gemeinde einließ und sich lange unter den Brüdern aufhielt; wie angenehm dagegen, als sein Freund sich mit den Brüdern wieder entzweite, in seiner Nähe zu wohnen sich entschloß und sich seiner Leitung aufs neue völlig zu überlassen schien.

Nun wurde der Neuangekommene gleichsam im Triumph allen besonders geliebten Schäfchen des Oberhirten vorgestellt. Nur in unser Haus ward er nicht eingeführt, weil mein Vater niemand mehr zu sehen pflegte. Der Kavalier fand große Approbation; er hatte das Gesittete des Hofs und das Einnehmende der Gemeinde, dabei viel schöne natürliche Eigenschaften und ward bald der große Heilige für alle, die ihn kennenlernten, worüber sich sein geistlicher Gönner äußerst freute. Leider war jener nur über äußere Umstände mit der Gemeine brouilliert und im Herzen noch ganz Herrnhuter. Er hing zwar wirklich an der Realität der Sache; allein auch ihm war das Tändelwerk, das der Graf darumgehängt hatte, höchst angemessen. Er war an jene Vorstellungs- und Redensarten nun einmal gewöhnt, und wenn er sich nunmehr vor seinem alten Freunde sorgfältig verbergen mußte, so war es ihm desto notwendiger, sobald er ein Häufchen vertrauter Personen um sich erblickte, mit seinen Verschen, Litaneien und Bilderchen hervorzurücken, und er fand, wie man denken kann, großen Beifall.

Ich wußte von der ganzen Sache nichts und tändelte auf meine eigene Art fort. Lange Zeit blieben wir uns unbekannt.

Einst besuchte ich in einer freien Stunde eine kranke Freundin. Ich traf mehrere Bekannte dort an und merkte bald, daß ich sie in einer Unterredung gestört hatte. Ich ließ mir nichts merken, erblickte aber zu meiner großen Verwunderung an der Wand einige herrnhutische Bilder, in zierlichen Rahmen. Ich faßte geschwinde, was in der Zeit, da ich nicht im Hause gewesen, vorgegangen sein mochte, und bewillkommte diese neue Erscheinung mit einigen angemessenen Versen.

Man denke sich das Erstaunen meiner Freundinnen. Wir erklärten uns und waren auf der Stelle einig und vertraut.

Ich suchte nun öfter Gelegenheit auszugehn. Leider fand ich sie nur alle drei bis vier Wochen, ward mit dem adeligen Apostel und nach und nach mit der ganzen heimlichen Gemeinde bekannt. Ich besuchte, wenn ich konnte, ihre Versammlungen, und bei meinem geselligen Sinn war es mir unendlich angenehm, das von andern zu vernehmen und andern mitzuteilen, was ich nur bisher in und mit mir selbst ausgearbeitet hatte.

Ich war nicht so eingenommen, daß ich nicht bemerkt hätte, wie nur wenige den Sinn der zarten Worte und Ausdrücke fühlten und wie sie dadurch auch nicht mehr als ehemals durch die kirchlich symbolische Sprache gefördert waren. Dessenungeachtet ging ich mit ihnen fort und ließ mich nicht irremachen. Ich dachte, daß ich nicht zur Untersuchung und Herzensprüfung berufen sei. War ich doch auch durch manche unschuldige Übung zum Besseren vorbereitet worden. Ich nahm meinen Teil hinweg, drang, wo ich zur Rede kam, auf den Sinn, der bei so zarten Gegenständen eher durch Worte versteckt als angedeutet wird, und ließ übrigens mit stiller Verträglichkeit einen jeden nach seiner Art gewähren.

Auf diese ruhigen Zeiten des heimlichen gesellschaftlichen Genusses folgten bald die Stürme öffentlicher Streitigkeiten und Widerwärtigkeiten, die am Hofe und in der Stadt große Bewegungen erregten und, ich möchte beinahe sagen, manches Skandal verursachten. Der Zeitpunkt war gekommen, in welchem unser Oberhofprediger, dieser große Widersacher der herrnhutischen Gemeinde, zu seiner gesegneten Demütigung entdecken sollte, daß seine besten und sonst anhänglichsten Zuhörer sich sämtlich auf die Seite der Gemeinde neigten. Er war äußerst gekränkt, vergaß im ersten Augenblicke alle Mäßigung und konnte in der Folge sich nicht, selbst wenn er gewollt hätte, zurückziehn. Es gab heftige Debatten, bei denen ich glücklicherweise nicht genannt wurde, da ich nur ein zufälliges Mitglied der so sehr verhaßten Zusammenkünfte war und unser eifriger Führer meinen Vater und meinen Freund in bürgerlichen Angelegenheiten nicht entbehren konnte. Ich erhielt meine Neutralität mit stiller Zufriedenheit; denn mich von solchen Empfindungen und Gegenständen selbst mit wohlwollenden Menschen zu unterhalten war mir schon verdrießlich, wenn sie den tiefsten Sinn nicht fassen konnten und nur auf der Oberfläche verweilten. Nun aber gar über das mit Widersachern zu streiten, worüber man sich kaum mit Freunden verstand, schien mir unnütz, ja verderblich. Denn bald konnte ich bemerken, daß liebevolle, edle Menschen, die in diesem Falle ihr Herz von Widerwillen und Haß nicht rein halten konnten, gar bald zur Ungerechtigkeit übergingen und, um eine äußere Form zu verteidigen, ihr bestes Innerste beinahe zerstörten.

Sosehr auch der würdige Mann in diesem Fall unrecht haben mochte und sosehr man mich auch gegen ihn aufzubringen suchte, konnte ich ihm doch niemals eine herzliche Achtung versagen. Ich kannte ihn genau; ich konnte mich in seine Art, diese Sachen anzusehen, mit Billigkeit versetzen. Ich hatte niemals einen Menschen ohne Schwäche gesehen; nur ist sie auffallender bei vorzüglichen Menschen. Wir wünschen und wollen nun ein für allemal, daß die, die so sehr privilegiert sind, auch gar keinen Tribut, keine Abgaben zahlen sollen. Ich ehrte ihn als einen vorzüglichen Mann und hoffte den Einfluß meiner stillen Neutralität, wo nicht zu einem Frieden, doch zu einem Waffenstillstande zu nutzen. Ich weiß nicht, was ich bewirkt hätte; Gott faßte die Sache kürzer und nahm ihn zu sich. Bei seiner Bahre weinten alle, die noch kurz vorher um Worte mit ihm gestritten hatten. Seine Rechtschaffenheit, seine Gottesfurcht hatte niemals jemand bezweifelt.

Auch ich mußte um diese Zeit das Puppenwerk aus den Händen legen, das mir durch diese Streitigkeiten gewissermaßen in einem andern Lichte erschienen war. Der Oheim hatte seine Plane auf meine Schwester in der Stille durchgeführt. Er stellte ihr einen jungen Mann von Stande und Vermögen als ihren Bräutigam vor und zeigte sich in einer reichlichen Aussteuer, wie man es von ihm erwarten konnte. Mein Vater willigte mit Freuden ein; die Schwester war frei und vorbereitet und veränderte gerne ihren Stand. Die Hochzeit wurde auf des Oheims Schloß ausgerichtet, Familie und Freunde waren eingeladen, und wir kamen alle mit heiterm Geiste.

Zum erstenmal in meinem Leben erregte mir der Eintritt in ein Haus Bewunderung. Ich hatte wohl oft von des Oheims Geschmack, von seinem italienischen Baumeister, von seinen Sammlungen und seiner Bibliothek reden hören; ich verglich aber das alles mit dem, was ich schon gesehen hatte, und machte mir ein sehr buntes Bild davon in Gedanken. Wie verwundert war ich daher über den ernsten und harmonischen Eindruck, den ich beim Eintritt in das Haus empfand und der sich in jedem Saal und Zimmer verstärkte. Hatte Pracht und Zierat mich sonst nur zerstreut, so fühlte ich mich hier gesammelt und auf mich selbst zurückgeführt. Auch in allen Anstalten zu Feierlichkeiten und Festen erregten Pracht und Würde ein stilles Gefallen, und es war mir ebenso unbegreiflich, daß ein Mensch das alles hätte erfinden und anordnen können, als daß mehrere sich vereinigen könnten, um in einem so großen Sinne zusammenzuwirken. Und bei dem allen schienen der Wirt und die Seinigen so natürlich; es war keine Spur von Steifheit noch von leerem Zeremoniell zu bemerken.

Die Trauung selbst ward unvermutet auf eine herzliche Art eingeleitet; eine vortreffliche Vokalmusik überraschte uns, und der Geistliche wußte dieser Zeremonie alle Feierlichkeit der Wahrheit zu geben. Ich stand neben Philo, und statt mir Glück zu wünschen, sagte er mit einem tiefen Seufzer: »Als ich die Schwester sah die Hand hingeben, war mir’s, als ob man mich mit siedheißem Wasser begossen hätte.« – »Warum?« fragte ich. »Es ist mir allezeit so, wenn ich eine Kopulation ansehe«, versetzte er. Ich lachte über ihn und habe nachher oft genug an seine Worte zu denken gehabt.

Die Heiterkeit der Gesellschaft, worunter viel junge Leute waren, schien noch einmal so glänzend, indem alles, was uns umgab, würdig und ernsthaft war. Aller Hausrat, Tafelzeug, Service und Tischaufsätze stimmten zu dem Ganzen, und wenn mir sonst die Baumeister mit den Konditoren aus einer Schule entsprungen zu sein schienen, so war hier Konditor und Tafeldecker bei dem Architekten in die Schule gegangen.

Da man mehrere Tage zusammenblieb, hatte der geistreiche und verständige Wirt für die Unterhaltung der Gesellschaft auf das mannigfaltigste gesorgt. Ich wiederholte hier nicht die traurige Erfahrung, die ich so oft in meinem Leben gehabt hatte, wie übel eine große gemischte Gesellschaft sich befinde, die, sich selbst überlassen, zu den allgemeinsten und schalsten Zeitvertreiben greifen muß, damit ja eher die guten als die schlechten Subjekte Mangel der Unterhaltung fühlen.

Ganz anders hatte es der Oheim veranstaltet. Er hatte zwei bis drei Marschälle, wenn ich sie so nennen darf, bestellt; der eine hatte für die Freuden der jungen Welt zu sorgen: Tänze, Spazierfahrten, kleine Spiele waren von seiner Erfindung und standen unter seiner Direktion, und da junge Leute gern im Freien leben und die Einflüsse der Luft nicht scheuen, so war ihnen der Garten und der große Gartensaal übergeben, an den zu diesem Endzwecke noch einige Galerien und Pavillons angebauet waren, zwar nur von Brettern und Leinwand, aber in so edlen Verhältnissen, daß man nur an Stein und Marmor dabei erinnert ward.

Wie selten ist eine Fete, wobei derjenige, der die Gäste zusammenberuft, auch die Schuldigkeit empfindet, für ihre Bedürfnisse und Bequemlichkeiten auf alle Weise zu sorgen!

Jagd und Spielpartien, kurze Promenaden, Gelegenheiten zu vertraulichen, einsamen Gesprächen waren für die ältern Personen bereitet, und derjenige, der am frühsten zu Bette ging, war auch gewiß am weitesten von allem Lärm einquartiert.

Durch diese gute Ordnung schien der Raum, in dem wir uns befanden, eine kleine Welt zu sein, und doch, wenn man es bei nahem betrachtete, war das Schloß nicht groß, und man würde ohne genaue Kenntnis desselben und ohne den Geist des Wirtes wohl schwerlich so viele Leute darin beherbergt und jeden nach seiner Art bewirtet haben.

So angenehm uns der Anblick eines wohlgestalteten Menschen ist, so angenehm ist uns eine ganze Einrichtung, aus der uns die Gegenwart eines verständigen, vernünftigen Wesens fühlbar wird. Schon in ein reinliches Haus zu kommen ist eine Freude, wenn es auch sonst geschmacklos gebauet und verziert ist: denn es zeigt uns die Gegenwart wenigstens von einer Seite gebildeter Menschen. Wie doppelt angenehm ist es uns also, wenn aus einer menschlichen Wohnung uns der Geist einer höhern, obgleich auch nur sinnlichen Kultur entgegenspricht.

Mit vieler Lebhaftigkeit ward mir dieses auf dem Schlosse meines Oheims anschaulich. Ich hatte vieles von Kunst gehört und gelesen; Philo selbst war ein großer Liebhaber von Gemälden und hatte eine schöne Sammlung; auch ich selbst hatte viel gezeichnet; aber teils war ich zu sehr mit meinen Empfindungen beschäftigt und trachtete nur, das eine, was not ist, erst recht ins reine zu bringen, teils schienen doch alle die Sachen, die ich gesehen hatte, mich wie die übrigen weltlichen Dinge zu zerstreuen. Nun war ich zum erstenmal durch etwas Äußerliches auf mich selbst zurückgeführt, und ich lernte den Unterschied zwischen dem natürlichen, vortrefflichen Gesang der Nachtigall und einem vierstimmigen Halleluja aus gefühlvollen Menschenkehlen zu meiner größten Verwunderung erst kennen.

Ich verbarg meine Freude über diese neue Anschauung meinem Oheim nicht, der, wenn alles andere in sein Teil gegangen war, sich mit mir besonders zu unterhalten pflegte. Er sprach mit großer Bescheidenheit von dem, was er besaß und hervorgebracht hatte, mit großer Sicherheit von dem Sinne, in dem es gesammelt und aufgestellt worden war, und ich konnte wohl merken, daß er mit Schonung für mich redete, indem er nach seiner alten Art das Gute, wovon er Herr und Meister zu sein glaubte, demjenigen unterzuordnen schien, was nach meiner Überzeugung das Rechte und Beste war.

 

»Wenn wir uns«, sagte er einmal, »als möglich denken können, daß der Schöpfer der Welt selbst die Gestalt seiner Kreatur angenommen und auf ihre Art und Weise sich eine Zeitlang auf der Welt befunden habe, so muß uns dieses Geschöpf schon unendlich vollkommen erscheinen, weil sich der Schöpfer so innig damit vereinigen konnte. Es muß also in dem Begriff des Menschen kein Widerspruch mit dem Begriff der Gottheit liegen; und wenn wir auch oft eine gewisse Unähnlichkeit und Entfernung von ihr empfinden, so ist es doch um desto mehr unsere Schuldigkeit, nicht immer wie der Advokat des bösen Geistes nur auf die Blößen und Schwächen unserer Natur zu sehen, sondern eher alle Vollkommenheiten aufzusuchen, wodurch wir die Ansprüche unsrer Gottähnlichkeit bestätigen können.«

Ich lächelte und versetzte: »Beschämen Sie mich nicht zu sehr, lieber Oheim, durch die Gefälligkeit, in meiner Sprache zu reden! Das, was Sie mir zu sagen haben, ist für mich von so großer Wichtigkeit, daß ich es in Ihrer eigensten Sprache zu hören wünschte, und ich will alsdann, was ich mir davon nicht ganz zueignen kann, schon zu übersetzen suchen.«

»Ich werde«, sagte er darauf, »auch auf meine eigenste Weise ohne Veränderung des Tons fortfahren können. Des Menschen größtes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände soviel als möglich bestimmt und sich sowenig als möglich von ihnen bestimmen läßt. Das ganze Weltwesen liegt vor uns wie ein großer Steinbruch vor dem Baumeister, der nur dann den Namen verdient, wenn er aus diesen zufälligen Naturmassen ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmäßigkeit und Festigkeit zusammenstellt. Alles außer uns ist nur Element, ja ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise, dargestellt haben. Sie, liebe Nichte, haben vielleicht das beste Teil erwählt; Sie haben Ihr sittliches Wesen, Ihre tiefe, liebevolle Natur mit sich selbst und mit dem höchsten Wesen übereinstimmend zu machen gesucht, indes wir andern wohl auch nicht zu tadeln sind, wenn wir den sinnlichen Menschen in seinem Umfange zu kennen und tätig in Einheit zu bringen suchen.«

Durch solche Gespräche wurden wir nach und nach vertrauter, und ich erlangte von ihm, daß er mit mir ohne Kondeszendenz wie mit sich selbst sprach. »Glauben Sie nicht«, sagte der Oheim zu mir, »daß ich Ihnen schmeichle, wenn ich Ihre Art zu denken und zu handeln lobe. Ich verehre den Menschen, der deutlich weiß, was er will, unablässig vorschreitet, die Mittel zu seinem Zwecke kennt und sie zu ergreifen und zu brauchen weiß; inwiefern sein Zweck groß oder klein sei, Lob oder Tadel verdiene, das kommt bei mir erst nachher in Betrachtung. Glauben Sie mir, meine Liebe, der größte Teil des Unheils und dessen, was man bös in der Welt nennt, entsteht bloß, weil die Menschen zu nachlässig sind, ihre Zwecke recht kennenzulernen und, wenn sie solche kennen, ernsthaft darauf loszuarbeiten. Sie kommen mir vor wie Leute, die den Begriff haben, es könne und müsse ein Turm gebauet werden, und die doch an den Grund nicht mehr Steine und Arbeit verwenden, als man allenfalls einer Hütte unterschlüge. Hätten Sie, meine Freundin, deren höchstes Bedürfnis war, mit Ihrer innern sittlichen Natur ins reine zu kommen, anstatt der großen und kühnen Aufopferungen sich zwischen Ihrer Familie, einem Bräutigam, vielleicht einem Gemahl nur so hin beholfen, Sie würden, in einem ewigen Widerspruch mit sich selbst, niemals einen zufriedenen Augenblick genossen haben.«

»Sie brauchen«, versetzte ich hier, »das Wort Aufopferung, und ich habe manchmal gedacht, wie wir einer höhern Absicht gleichsam wie einer Gottheit das Geringere zum Opfer darbringen, ob es uns schon am Herzen liegt, wie man ein geliebtes Schaf für die Gesundheit eines verehrten Vaters gern und willig zum Altar führen würde.«

»Was es auch sei«, versetzte er, »der Verstand oder die Empfindung, das uns eins für das andere hingeben, eins vor dem andern wählen heißt, so ist Entschiedenheit und Folge nach meiner Meinung das Verehrungswürdigste am Menschen. Man kann die Ware und das Geld nicht zugleich haben; und der ist ebenso übel daran, dem es immer nach der Ware gelüstet, ohne daß er das Herz hat, das Geld hinzugeben, als der, den der Kauf reut, wenn er die Ware in Händen hat. Aber ich bin weit entfernt, die Menschen deshalb zu tadeln; denn sie sind eigentlich nicht schuld, sondern die verwickelte Lage, in der sie sich befinden und in der sie sich nicht zu regieren wissen. So werden Sie zum Beispiel im Durchschnitt weniger üble Wirte auf dem Lande als in den Städten finden und wieder in kleinen Städten weniger als in großen; und warum? Der Mensch ist zu einer beschränkten Lage geboren; einfache, nahe, bestimmte Zwecke vermag er einzusehen, und er gewöhnt sich, die Mittel zu benutzen, die ihm gleich zur Hand sind; sobald er aber ins Weite kommt, weiß er weder, was er will noch was er soll, und es ist ganz einerlei, ob er durch die Menge der Gegenstände zerstreut oder ob er durch die Höhe und Würde derselben außer sich gesetzt werde. Es ist immer sein Unglück, wenn er veranlaßt wird, nach etwas zu streben, mit dem er sich durch eine regelmäßige Selbsttätigkeit nicht verbinden kann.

Fürwahr«, fuhr er fort, »ohne Ernst ist in der Welt nichts möglich, und unter denen, die wir gebildete Menschen nennen, ist eigentlich wenig Ernst zu finden; sie gehen, ich möchte sagen, gegen Arbeiten und Geschäfte, gegen Künste, ja gegen Vergnügungen nur mit einer Art von Selbstverteidigung zu Werke; man lebt, wie man ein Pack Zeitungen liest, nur damit man sie loswerde, und es fällt mir dabei jener junge Engländer in Rom ein, der abends in einer Gesellschaft sehr zufrieden erzählte: daß er doch heute sechs Kirchen und zwei Galerien beiseite gebracht habe. Man will mancherlei wissen und kennen, und gerade das, was einen am wenigsten angeht, und man bemerkt nicht, daß kein Hunger dadurch gestillt wird, wenn man nach der Luft schnappt. Wenn ich einen Menschen kennenlerne, frage ich sogleich: womit beschäftigt er sich? und wie? und in welcher Folge? und mit der Beantwortung der Frage ist auch mein Interesse an ihm auf zeitlebens entschieden.«

»Sie sind, lieber Oheim«, versetzte ich darauf, »vielleicht zu strenge und entziehen manchem guten Menschen, dem Sie nützlich sein könnten, Ihre hülfreiche Hand.«

»Ist es dem zu verdenken«, antwortete er, »der so lange vergebens an ihnen und um sie gearbeitet hat? Wie sehr leidet man nicht in der Jugend von Menschen, die uns zu einer angenehmen Lustpartie einzuladen glauben, wenn sie uns in die Gesellschaft der Danaiden oder des Sisyphus zu bringen versprechen. Gott sei Dank, ich habe mich von ihnen losgemacht, und wenn einer unglücklicherweise in meinen Kreis kommt, suche ich ihn auf die höflichste Art hinauszukomplimentieren: denn gerade von diesen Leuten hört man die bittersten Klagen über den verworrenen Lauf der Welthändel, über die Seichtigkeit der Wissenschaften, über den Leichtsinn der Künstler, über die Leerheit der Dichter und was alles noch mehr ist. Sie bedenken am wenigsten, daß eben sie selbst und die Menge, die ihnen gleich ist, gerade das Buch nicht lesen würden, das geschrieben wäre, wie sie es fordern, daß ihnen die echte Dichtung fremd sei und daß selbst ein gutes Kunstwerk nur durch Vorurteil ihren Beifall erlangen könne. Doch lassen Sie uns abbrechen, es ist hier keine Zeit zu schelten noch zu klagen.«

Er leitete meine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Gemälde, die an der Wand aufgehängt waren; mein Auge hielt sich an die, deren Anblick reizend oder deren Gegenstand bedeutend war; er ließ es eine Weile geschehen, dann sagte er: »Gönnen Sie nun auch dem Genius, der diese Werke hervorgebracht hat, einige Aufmerksamkeit. Gute Gemüter sehen so gerne den Finger Gottes in der Natur; warum sollte man nicht auch der Hand seines Nachahmers einige Betrachtung schenken?« Er machte mich sodann auf unscheinbare Bilder aufmerksam und suchte mir begreiflich zu machen, daß eigentlich die Geschichte der Kunst allein uns den Begriff von dem Wert und der Würde eines Kunstwerks geben könne, daß man erst die beschwerlichen Stufen des Mechanismus und des Handwerks, an denen der fähige Mensch sich jahrhundertelang hinaufarbeitet, kennen müsse, um zu begreifen, wie es möglich sei, daß das Genie auf dem Gipfel, bei dessen bloßem Anblick uns schwindelt, sich frei und fröhlich bewege.

Er hatte in diesem Sinne eine schöne Reihe zusammengebracht, und ich konnte mich nicht enthalten, als er mir sie auslegte, die moralische Bildung hier wie im Gleichnisse vor mir zu sehen. Als ich ihm meine Gedanken äußerte, versetzte er: »Sie haben vollkommen recht, und wir sehen daraus, daß man nicht wohltut, der sittlichen Bildung einsam, in sich selbst verschlossen nachzuhängen; vielmehr wird man finden, daß derjenige, dessen Geist nach einer moralischen Kultur strebt, alle Ursache hat, seine feinere Sinnlichkeit zugleich mit auszubilden, damit er nicht in Gefahr komme, von seiner moralischen Höhe herabzugleiten, indem er sich den Lockungen einer regellosen Phantasie übergibt und in den Fall kommt, seine edlere Natur durch Vergnügen an geschmacklosen Tändeleien, wo nicht an etwas Schlimmerem herabzuwürdigen.«

Ich hatte ihn nicht im Verdacht, daß er auf mich ziele, aber ich fühlte mich getroffen, wenn ich zurückdachte, daß unter den Liedern, die mich erbauet hatten, manches abgeschmackte mochte gewesen sein und daß die Bildchen, die sich an meine geistlichen Ideen anschlossen, wohl schwerlich vor den Augen des Oheims würden Gnade gefunden haben.

Philo hatte sich indessen öfters in der Bibliothek aufgehalten und führte mich nunmehr auch in selbiger ein. Wir bewunderten die Auswahl und dabei die Menge der Bücher. Sie waren in jenem Sinne gesammelt: denn es waren beinahe auch nur solche darin zu finden, die uns zur deutlichen Erkenntnis führen oder uns zur rechten Ordnung anweisen, die uns entweder rechte Materialien geben oder uns von der Einheit unsers Geistes überzeugen.

Ich hatte in meinem Leben unsäglich gelesen, und in gewissen Fächern war mir fast kein Buch unbekannt; um desto angenehmer war mir’s, hier von der Übersicht des Ganzen zu sprechen und Lücken zu bemerken, wo ich sonst nur eine beschränkte Verwirrung oder eine unendliche Ausdehnung gesehen hatte.

Zugleich machten wir die Bekanntschaft eines sehr interessanten, stillen Mannes. Er war Arzt und Naturforscher und schien mehr zu den Penaten als zu den Bewohnern des Hauses zu gehören. Er zeigte uns das Naturalienkabinett, das, wie die Bibliothek, in verschlossenen Glasschränken zugleich die Wände der Zimmer verzierte und den Raum veredelte, ohne ihn zu verengen. Hier erinnerte ich mich mit Freuden meiner Jugend und zeigte meinem Vater mehrere Gegenstände, die er ehemals auf das Krankenbette seines kaum in die Welt blickenden Kindes gebracht hatte. Dabei verhehlte der Arzt so wenig als bei folgenden Unterredungen, daß er sich mir in Absicht auf religiöse Gesinnungen nähere, lobte dabei den Oheim außerordentlich wegen seiner Toleranz und Schätzung von allem, was den Wert und die Einheit der menschlichen Natur anzeige und befördere, nur verlange er freilich von allen andern Menschen ein Gleiches und pflege nichts so sehr als individuellen Dünkel und ausschließende Beschränktheit zu verdammen oder zu fliehen.

Seit der Trauung meiner Schwester sah dem Oheim die Freude aus den Augen, und er sprach verschiedenemal mit mir über das, was er für sie und ihre Kinder zu tun denke. Er hatte schöne Güter, die er selbst bewirtschaftete und die er in dem besten Zustande seinen Neffen zu übergeben hoffte. Wegen des kleinen Gutes, auf dem wir uns befanden, schien er besondere Gedanken zu hegen: »Ich werde es«, sagte er, »nur einer Person überlassen, die zu kennen, zu schätzen und zu genießen weiß, was es enthält, und die einsieht, wie sehr ein Reicher und Vornehmer, besonders in Deutschland, Ursache habe, etwas Mustermäßiges aufzustellen.«

Schon war der größte Teil der Gäste nach und nach verflogen; wir bereiteten uns zum Abschied und glaubten die letzte Szene der Feierlichkeit erlebt zu haben, als wir aufs neue durch seine Aufmerksamkeit, uns ein würdiges Vergnügen zu machen, überrascht wurden. Wir hatten ihm das Entzücken nicht verbergen können, das wir fühlten, als bei meiner Schwester Trauung ein Chor Menschenstimmen sich ohne alle Begleitung irgendeines Instruments hören ließ. Wir legten es ihm nahe genug, uns das Vergnügen noch einmal zu verschaffen; er schien nicht darauf zu merken. Wie überrascht waren wir daher, als er eines Abends zu uns sagte: »Die Tanzmusik hat sich entfernt; die jungen, flüchtigen Freunde haben uns verlassen; das Ehepaar selbst sieht schon ernsthafter aus als vor einigen Tagen, und in einer solchen Epoche voneinander zu scheiden, da wir uns vielleicht nie, wenigstens anders wiedersehen, regt uns zu einer feierlichen Stimmung, die ich nicht edler nähren kann als durch eine Musik, deren Wiederholung Sie schon früher zu wünschen schienen.«

Er ließ durch das indes verstärkte und im stillen noch mehr geübte Chor uns vier- und achtstimmige Gesänge vortragen, die uns, ich darf wohl sagen, wirklich einen Vorschmack der Seligkeit gaben. Ich hatte bisher nur den frommen Gesang gekannt, in welchem gute Seelen oft mit heiserer Kehle wie die Waldvögelein Gott zu loben glauben, weil sie sich selbst eine angenehme Empfindung machen; dann die eitle Musik der Konzerte, in denen man allenfalls zur Bewunderung eines Talents, selten aber auch nur zu einem vorübergehenden Vergnügen hingerissen wird. Nun vernahm ich eine Musik, aus dem tiefsten Sinne der trefflichsten menschlichen Naturen entsprungen, die durch bestimmte und geübte Organe in harmonischer Einheit wieder zum tiefsten, besten Sinne des Menschen sprach und ihn wirklich in diesem Augenblicke seine Gottähnlichkeit lebhaft empfinden ließ. Alles waren lateinische geistliche Gesänge, die sich wie Juwelen in dem goldnen Ringe einer gesitteten weltlichen Gesellschaft ausnahmen und mich ohne Anforderung einer sogenannten Erbauung auf das geistigste erhoben und glücklich machten.

Bei unserer Abreise wurden wir alle auf das edelste beschenkt. Mir überreichte er das Ordenskreuz meines Stiftes, kunstmäßiger und schöner gearbeitet und emailliert, als man es sonst zu sehen gewohnt war. Es hing an einem großen Brillanten, wodurch es zugleich an das Band befestigt wurde, und den er als den edelsten Stein einer Naturaliensammlung anzusehen bat.

Meine Schwester zog nun mit ihrem Gemahl auf seine Güter, wir andern kehrten alle nach unsern Wohnungen zurück und schienen uns, was unsere äußren Umstände anbetraf, in ein ganz gemeines Leben zurückgekehrt zu sein. Wir waren wie aus einem Feenschloß auf die platte Erde gesetzt und mußten uns wieder nach unsrer Weise benehmen und behelfen.

Die sonderbaren Erfahrungen, die ich in jenem neuen Kreise gemacht hatte, ließen einen schönen Eindruck bei mir zurück; doch blieb er nicht lange in seiner ganzen Lebhaftigkeit, obgleich der Oheim ihn zu unterhalten und zu erneuern suchte, indem er mir von Zeit zu Zeit von seinen besten und gefälligsten Kunstwerken zusandte und, wenn ich sie lange genug genossen hatte, wieder mit andern vertauschte.

Ich war zu sehr gewohnt, mich mit mir selbst zu beschäftigen, die Angelegenheiten meines Herzens und meines Gemütes in Ordnung zu bringen und mich davon mit ähnlich gesinnten Personen zu unterhalten, als daß ich mit Aufmerksamkeit ein Kunstwerk hätte betrachten sollen, ohne bald auf mich selbst zurückzukehren. Ich war gewohnt, ein Gemälde und einen Kupferstich nur anzusehen wie die Buchstaben eines Buchs. Ein schöner Druck gefällt wohl; aber wer wird ein Buch des Druckes wegen in die Hand nehmen? So sollte mir auch eine bildliche Darstellung etwas sagen, sie sollte mich belehren, rühren, bessern; und der Oheim mochte in seinen Briefen, mit denen er seine Kunstwerke erläuterte, reden, was er wollte, so blieb es mit mir doch immer beim alten.

Doch mehr als meine eigene Natur zogen mich äußere Begebenheiten, die Veränderungen in meiner Familie von solchen Betrachtungen, ja eine Weile von mir selbst ab; ich mußte dulden und wirken, mehr, als meine schwachen Kräfte zu ertragen schienen.

Meine ledige Schwester war bisher mein rechter Arm gewesen; gesund, stark und unbeschreiblich gütig hatte sie die Besorgung der Haushaltung über sich genommen, wie mich die persönliche Pflege des alten Vaters beschäftigte. Es überfällt sie ein Katarrh, woraus eine Brustkrankheit wird, und in drei Wochen liegt sie auf der Bahre; ihr Tod schlug mir Wunden, deren Narben ich jetzt noch nicht gerne ansehe.

Ich lag krank zu Bette, ehe sie noch beerdiget war; der alte Schaden auf meiner Brust schien aufzuwachen, ich hustete heftig und war so heiser, daß ich keinen lauten Ton hervorbringen konnte.

Die verheiratete Schwester kam vor Schrecken und Betrübnis zu früh in die Wochen. Mein alter Vater fürchtete, seine Kinder und die Hoffnung seiner Nachkommenschaft auf einmal zu verlieren; seine gerechten Tränen vermehrten meinen Jammer; ich flehte zu Gott um Herstellung einer leidlichen Gesundheit und bat ihn nur, mein Leben bis nach dem Tode des Vaters zu fristen. Ich genas und war nach meiner Art wohl, konnte wieder meine Pflichten, obgleich nur auf eine kümmerliche Weise, erfüllen.

 

Meine Schwester ward wieder guter Hoffnung. Mancherlei Sorgen, die in solchen Fällen der Mutter anvertraut werden, wurden mir mitgeteilt; sie lebte nicht ganz glücklich mit ihrem Manne, das sollte dem Vater verborgen bleiben; ich mußte Schiedsrichter sein und konnte es um so eher, da mein Schwager Zutrauen zu mir hatte und beide wirklich gute Menschen waren, nur daß beide, anstatt einander nachzusehen, miteinander rechteten und aus Begierde, völlig miteinander überein zu leben, niemals einig werden konnten. Nun lernte ich auch die weltlichen Dinge mit Ernst angreifen und das ausüben, was ich sonst nur gesungen hatte.

Meine Schwester gebar einen Sohn; die Unpäßlichkeit meines Vaters verhinderte ihn nicht, zu ihr zu reisen. Beim Anblick des Kindes war er unglaublich heiter und froh, und bei der Taufe erschien er mir gegen seine Art wie begeistert, ja ich möchte sagen, als ein Genius mit zwei Gesichtern. Mit dem einen blickte er freudig vorwärts in jene Regionen, in die er bald einzugehen hoffte, mit dem andern auf das neue, hoffnungsvolle irdische Leben, das in dem Knaben entsprungen war, der von ihm abstammte. Er ward nicht müde, auf dem Rückwege mich von dem Kinde zu unterhalten, von seiner Gestalt, seiner Gesundheit und dem Wunsche, daß die Anlagen dieses neuen Weltbürgers glücklich ausgebildet werden möchten. Seine Betrachtungen hierüber dauerten fort, als wir zu Hause anlangten, und erst nach einigen Tagen bemerkte man eine Art Fieber, das sich nach Tisch ohne Frost durch eine etwas ermattende Hitze äußerte. Er legte sich jedoch nicht nieder, fuhr des Morgens aus und versah treulich seine Amtsgeschäfte, bis ihn endlich anhaltende, ernsthafte Symptome davon abhielten.

Nie werde ich die Ruhe des Geistes, die Klarheit und Deutlichkeit vergessen, womit er die Angelegenheiten seines Hauses, die Besorgung seines Begräbnisses, als wie das Geschäft eines andern, mit der größten Ordnung vornahm.

Mit einer Heiterkeit, die ihm sonst nicht eigen war und die bis zu einer lebhaften Freude stieg, sagte er zu mir: »Wo ist die Todesfurcht hingekommen, die ich sonst noch wohl empfand? Sollt ich zu sterben scheuen? Ich habe einen gnädigen Gott, das Grab erweckt mir kein Grauen, ich habe ein ewiges Leben.«

Mir die Umstände seines Todes zurückzurufen, der bald darauf erfolgte, ist in meiner Einsamkeit eine meiner angenehmsten Unterhaltungen, und die sichtbaren Wirkungen einer höhern Kraft dabei wird mir niemand wegräsonieren.

Der Tod meines lieben Vaters veränderte meine bisherige Lebensart. Aus dem strengsten Gehorsam, aus der größten Einschränkung kam ich in die größte Freiheit, und ich genoß ihrer wie einer Speise, die man lange entbehrt hat. Sonst war ich selten zwei Stunden außer dem Hause; nun verlebte ich kaum einen Tag in meinem Zimmer. Meine Freunde, bei denen ich sonst nur abgerissene Besuche machen konnte, wollten sich meines anhaltenden Umgangs sowie ich mich des ihrigen erfreuen; öfters wurde ich zu Tische geladen, Spazierfahrten und kleine Lustreisen kamen hinzu, und ich blieb nirgends zurück. Als aber der Zirkel durchlaufen war, sah ich, daß das unschätzbare Glück der Freiheit nicht darin besteht, daß man alles tut, was man tun mag und wozu uns die Umstände einladen, sondern daß man das ohne Hindernis und Rückhalt auf dem geraden Wege tun kann, was man für recht und schicklich hält, und ich war alt genug, in diesem Falle ohne Lehrgeld zu der schönen Überzeugung zu gelangen.

Was ich mir nicht versagen konnte, war, so bald als nur möglich den Umgang mit den Gliedern der herrnhutischen Gemeine fortzusetzen und fester zu knüpfen, und ich eilte, eine ihrer nächsten Einrichtungen zu besuchen: aber auch da fand ich keinesweges, was ich mir vorgestellt hatte. Ich war ehrlich genug, meine Meinung merken zu lassen, und man suchte mir hinwieder beizubringen: diese Verfassung sei gar nichts gegen eine ordentlich eingerichtete Gemeine. Ich konnte mir das gefallen lassen; doch hätte nach meiner Überzeugung der wahre Geist aus einer kleinen so gut als aus einer großen Anstalt hervorblicken sollen.

Einer ihrer Bischöfe, der gegenwärtig war, ein unmittelbarer Schüler des Grafen, beschäftigte sich viel mit mir; er sprach vollkommen Englisch, und weil ich es ein wenig verstand, meinte er, es sei ein Wink, daß wir zusammengehörten; ich meinte es aber ganz und gar nicht; sein Umgang konnte mir nicht im geringsten gefallen. Er war ein Messerschmied, ein geborner Mähre; seine Art zu denken konnte das Handwerksmäßige nicht verleugnen. Besser verstand ich mich mit dem Herrn von L***, der Major in französischen Diensten gewesen war; aber zu der Untertänigkeit, die er gegen seine Vorgesetzten bezeigte, fühlte ich mich niemals fähig; ja es war mir, als wenn man mir eine Ohrfeige gäbe, wenn ich die Majorin und andere mehr oder weniger angesehene Frauen dem Bischof die Hand küssen sah. Indessen wurde doch eine Reise nach Holland verabredet, die aber, und gewiß zu meinem Besten, niemals zustande kam.

Meine Schwester war mit einer Tochter niedergekommen, und nun war die Reihe an uns Frauen, zufrieden zu sein und zu denken, wie sie dereinst uns ähnlich erzogen werden sollte. Mein Schwager war dagegen sehr unzufrieden, als in dem Jahr darauf abermals eine Tochter erfolgte; er wünschte bei seinen großen Gütern Knaben um sich zu sehen, die ihm einst in der Verwaltung beistehen könnten.

Ich hielt mich bei meiner schwachen Gesundheit still und bei einer ruhigen Lebensart ziemlich im Gleichgewicht; ich fürchtete den Tod nicht, ja ich wünschte zu sterben, aber ich fühlte in der Stille, daß mir Gott Zeit gebe, meine Seele zu untersuchen und ihm immer näherzukommen. In den vielen schlaflosen Nächten habe ich besonders etwas empfunden, das ich eben nicht deutlich beschreiben kann.

Es war, als wenn meine Seele ohne Gesellschaft des Körpers dächte; sie sah den Körper selbst als ein ihr fremdes Wesen an, wie man etwa ein Kleid ansieht. Sie stellte sich mit einer außerordentlichen Lebhaftigkeit die vergangenen Zeiten und Begebenheiten vor und fühlte daraus, was folgen werde. Alle diese Zeiten sind dahin; was folgt, wird auch dahingehen: der Körper wird wie ein Kleid zerreißen, aber ich, das wohlbekannte Ich, ich bin.

Diesem großen, erhabenen und tröstlichen Gefühle sowenig als nur möglich nachzuhängen, lehrte mich ein edler Freund, der sich mir immer näher verband; es war der Arzt, den ich in dem Hause meines Oheims hatte kennenlernen und der sich von der Verfassung meines Körpers und meines Geistes sehr gut unterrichtet hatte; er zeigte mir, wie sehr diese Empfindungen, wenn wir sie unabhängig von äußern Gegenständen in uns nähren, uns gewissermaßen aushöhlen und den Grund unseres Daseins untergraben. »Tätig zu sein«, sagte er, »ist des Menschen erste Bestimmung, und alle Zwischenzeiten, in denen er auszuruhen genötiget ist, sollte er anwenden, eine deutliche Erkenntnis der äußerlichen Dinge zu erlangen, die ihm in der Folge abermals seine Tätigkeit erleichtert.«

Da der Freund meine Gewohnheit kannte, meinen eigenen Körper als einen äußern Gegenstand anzusehn, und da er wußte, daß ich meine Konstitution, mein Übel und die medizinischen Hülfsmittel ziemlich kannte und ich wirklich durch anhaltende eigene und fremde Leiden ein halber Arzt geworden war, so leitete er meine Aufmerksamkeit von der Kenntnis des menschlichen Körpers und der Spezereien auf die übrigen nachbarlichen Gegenstände der Schöpfung und führte mich wie im Paradiese umher, und nur zuletzt, wenn ich mein Gleichnis fortsetzen darf, ließ er mich den in der Abendkühle im Garten wandelnden Schöpfer aus der Entfernung ahnen.

Wie gerne sah ich nunmehr Gott in der Natur, da ich ihn mit solcher Gewißheit im Herzen trug; wie interessant war mir das Werk seiner Hände, und wie dankbar war ich, daß er mich mit dem Atem seines Mundes hatte beleben wollen!

Wir hofften aufs neue mit meiner Schwester auf einen Knaben, dem mein Schwager so sehnlich entgegensah und dessen Geburt er leider nicht erlebte. Der wackere Mann starb an den Folgen eines unglücklichen Sturzes vom Pferde, und meine Schwester folgte ihm, nachdem sie der Welt einen schönen Knaben gegeben hatte. Ihre vier hinterlassenen Kinder konnte ich nur mit Wehmut ansehn. So manche gesunde Person war vor mir, der Kranken, hingegangen; sollte ich nicht vielleicht von diesen hoffnungsvollen Blüten manche abfallen sehen? Ich kannte die Welt genug, um zu wissen, unter wie vielen Gefahren ein Kind, besonders in dem höheren Stande, heraufwächst, und es schien mir, als wenn sie seit der Zeit meiner Jugend sich für die gegenwärtige Welt noch vermehrt hätten. Ich fühlte, daß ich bei meiner Schwäche wenig oder nichts für die Kinder zu tun imstande sei; um desto erwünschter war mir des Oheims Entschluß, der natürlich aus seiner Denkungsart entsprang, seine ganze Aufmerksamkeit auf die Erziehung dieser liebenswürdigen Geschöpfe zu verwenden. Und gewiß, sie verdienten es in jedem Sinne, sie waren wohlgebildet und versprachen bei ihrer großen Verschiedenheit sämtlich gutartige und verständige Menschen zu werden.

Seitdem mein guter Arzt mich aufmerksam gemacht hatte, betrachtete ich gern die Familienähnlichkeit in Kindern und Verwandten. Mein Vater hatte sorgfältig die Bilder seiner Vorfahren aufbewahrt, sich selbst und seine Kinder von leidlichen Meistern malen lassen, auch war meine Mutter und ihre Verwandten nicht vergessen worden. Wir kannten die Charaktere der ganzen Familie genau, und da wir sie oft untereinander verglichen hatten, so suchten wir nun bei den Kindern die Ähnlichkeiten des Äußern und Innern wieder auf. Der älteste Sohn meiner Schwester schien seinem Großvater väterlicher Seite zu gleichen, von dem ein jugendliches Bild, sehr gut gemalt, in der Sammlung unseres Oheims aufgestellt war; auch liebte er wie jener, der sich immer als ein braver Offizier gezeigt hatte, nichts so sehr als das Gewehr, womit er sich immer, sooft er mich besuchte, beschäftigte. Denn mein Vater hatte einen sehr schönen Gewehrschrank hinterlassen, und der Kleine hatte nicht eher Ruhe, bis ich ihm ein paar Pistolen und eine Jagdflinte schenkte und bis er herausgebracht hatte, wie ein deutsches Schloß aufzuziehen sei. Übrigens war er in seinen Handlungen und seinem ganzen Wesen nichts weniger als rauh, sondern vielmehr sanft und verständig.

Die älteste Tochter hatte meine ganze Neigung gefesselt, und es mochte wohl daher kommen, weil sie mir ähnlich sah und weil sie sich von allen vieren am meisten zu mir hielt. Aber ich kann wohl sagen, je genauer ich sie beobachtete, da sie heranwuchs, desto mehr beschämte sie mich, und ich konnte das Kind nicht ohne Bewunderung, ja ich darf beinahe sagen, nicht ohne Verehrung ansehn. Man sah nicht leicht eine edlere Gestalt, ein ruhiger Gemüt und eine immer gleiche, auf keinen Gegenstand eingeschränkte Tätigkeit. Sie war keinen Augenblick ihres Lebens unbeschäftigt, und jedes Geschäft ward unter ihren Händen zur würdigen Handlung. Alles schien ihr gleich, wenn sie nur das verrichten konnte, was in der Zeit und am Platz war, und ebenso konnte sie ruhig, ohne Ungeduld bleiben, wenn sich nichts zu tun fand. Diese Tätigkeit ohne Bedürfnis einer Beschäftigung habe ich in meinem Leben nicht wieder gesehen. Unnachahmlich war von Jugend auf ihr Betragen gegen Notleidende und Hülfsbedürftige. Ich gestehe gern, daß ich niemals das Talent hatte, mir aus der Wohltätigkeit ein Geschäft zu machen; ich war nicht karg gegen Arme, ja ich gab oft in meinem Verhältnisse zuviel dahin, aber gewissermaßen kaufte ich mich nur los, und es mußte mir jemand angeboren sein, wenn er mir meine Sorgfalt abgewinnen wollte. Gerade das Gegenteil lobe ich an meiner Nichte. Ich habe sie niemals einem Armen Geld geben sehen, und was sie von mir zu diesem Endzweck erhielt, verwandelte sie immer erst in das nächste Bedürfnis. Niemals erschien sie mir liebenswürdiger, als wenn sie meine Kleider- und Wäschschränke plünderte; immer fand sie etwas, das ich nicht trug und nicht brauchte, und diese alten Sachen zusammenzuschneiden und sie irgendeinem zerlumpten Kinde anzupassen war ihre größte Glückseligkeit.

Die Gesinnungen ihrer Schwester zeigten sich schon anders; sie hatte vieles von der Mutter, versprach schon frühe sehr zierlich und reizend zu werden und scheint ihr Versprechen halten zu wollen; sie ist sehr mit ihrem Äußern beschäftigt und wußte sich von früher Zeit an auf eine in die Augen fallende Weise zu putzen und zu tragen. Ich erinnere mich noch immer, mit welchem Entzücken sie sich als ein kleines Kind im Spiegel besah, als ich ihr die schönen Perlen, die mir meine Mutter hinterlassen hatte und die sie von ungefähr bei mir fand, umbinden mußte.

Wenn ich diese verschiedenen Neigungen betrachtete, war es mir angenehm zu denken, wie meine Besitzungen nach meinem Tode unter sie zerfallen und durch sie wieder lebendig werden würden. Ich sah die Jagdflinten meines Vaters schon wieder auf dem Rücken des Neffen im Felde herumwandeln und aus seiner Jagdtasche schon wieder Hühner herausfallen; ich sah meine sämtliche Garderobe bei der Osterkonfirmation, lauter kleinen Mädchen angepaßt, aus der Kirche herauskommen und mit meinen besten Stoffen ein sittsames Bürgermädchen an ihrem Brauttage geschmückt: denn zu Ausstattung solcher Kinder und ehrbarer armer Mädchen hatte Natalie eine besondere Neigung, ob sie gleich, wie ich hier bemerken muß, selbst keine Art von Liebe und, wenn ich so sagen darf, kein Bedürfnis einer Anhänglichkeit an ein sichtbares oder unsichtbares Wesen, wie es sich bei mir in meiner Jugend so lebhaft gezeigt hatte, auf irgendeine Weise merken ließ.

Wenn ich nun dachte, daß die Jüngste an ebendemselben Tage meine Perlen und Juwelen nach Hofe tragen werde, so sah ich mit Ruhe meine Besitzungen wie meinen Körper den Elementen wiedergegeben.

Die Kinder wuchsen heran und sind zu meiner Zufriedenheit gesunde, schöne und wackre Geschöpfe. Ich ertrage es mit Geduld, daß der Oheim sie von mir entfernt hält, und sehe sie, wenn sie in der Nähe oder auch wohl gar in der Stadt sind, selten.

Ein wunderbarer Mann, den man für einen französischen Geistlichen hält, ohne daß man recht von seiner Herkunft unterrichtet ist, hat die Aufsicht über die sämtlichen Kinder, welche an verschiedenen Orten erzogen werden und bald hier, bald da in der Kost sind.

Ich konnte anfangs keinen Plan in dieser Erziehung sehn, bis mir mein Arzt zuletzt eröffnete: der Oheim habe sich durch den Abbé überzeugen lassen, daß, wenn man an der Erziehung des Menschen etwas tun wolle, müsse man sehen, wohin seine Neigungen und Wünsche gehen. Sodann müsse man ihn in die Lage versetzen, jene so bald als möglich zu befriedigen, diese so bald als möglich zu erreichen, damit der Mensch, wenn er sich geirret habe, früh genug seinen Irrtum gewahr werde, und wenn er das getroffen hat, was für ihn paßt, desto eifriger daran halte und sich desto emsiger fortbilde. Ich wünsche, daß dieser sonderbare Versuch gelingen möge; bei so guten Naturen ist es vielleicht möglich.

Aber das, was ich nicht an diesen Erziehern billigen kann, ist, daß sie alles von den Kindern zu entfernen suchen, was sie zu dem Umgange mit sich selbst und mit dem unsichtbaren, einzigen treuen Freunde führen könne. Ja, es verdrießt mich oft von dem Oheim, daß er mich deshalb für die Kinder für gefährlich hält. Im Praktischen ist doch kein Mensch tolerant! Denn wer auch versichert, daß er jedem seine Art und Wesen gerne lassen wolle, sucht doch immer diejenigen von der Tätigkeit auszuschließen, die nicht so denken wie er.

Diese Art, die Kinder von mir zu entfernen, betrübt mich desto mehr, je mehr ich von der Realität meines Glaubens überzeugt sein kann. Warum sollte er nicht einen göttlichen Ursprung, nicht einen wirklichen Gegenstand haben, da er sich im Praktischen so wirksam erweiset? Werden wir durchs Praktische doch unseres eigenen Daseins selbst erst recht gewiß, warum sollten wir uns nicht auch auf ebendem Wege von jenem Wesen überzeugen können, das uns zu allem Guten die Hand reicht?

Daß ich immer vorwärts, nie rückwärts gehe, daß meine Handlungen immer mehr der Idee ähnlich werden, die ich mir von der Vollkommenheit gemacht habe, daß ich täglich mehr Leichtigkeit fühle, das zu tun, was ich für recht halte, selbst bei der Schwäche meines Körpers, der mir so manchen Dienst versagt; läßt sich das alles aus der menschlichen Natur, deren Verderben ich so tief eingesehen habe, erklären? Für mich nun einmal nicht.

Ich erinnere mich kaum eines Gebotes; nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes; es ist ein Trieb, der mich leitet und mich immer recht führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen und weiß sowenig von Einschränkung als von Reue. Gott sei Dank, daß ich erkenne, wem ich dieses Glück schuldig bin und daß ich an diese Vorzüge nur mit Demut denken darf. Denn niemals werde ich in Gefahr kommen, auf mein eignes Können und Vermögen stolz zu werden, da ich so deutlich erkannt habe, welch Ungeheuer in jedem menschlichen Busen, wenn eine höhere Kraft uns nicht bewahrt, sich erzeugen und nähren könne.

Siebentes Buch

Erstes Kapitel

Der Frühling war in seiner völligen Herrlichkeit erschienen; ein frühzeitiges Gewitter, das den ganzen Tag gedrohet hatte, ging stürmisch an den Bergen nieder, der Regen zog nach dem Lande, die Sonne trat wieder in ihrem Glanze hervor, und auf dem grauen Grunde erschien der herrliche Bogen. Wilhelm ritt ihm entgegen und sah ihn mit Wehmut an. »Ach!« sagte er zu sich selbst, »erscheinen uns denn eben die schönsten Farben des Lebens nur auf dunklem Grunde? Und müssen Tropfen fallen, wenn wir entzückt werden sollen? Ein heiterer Tag ist wie ein grauer, wenn wir ihn ungerührt ansehen, und was kann uns rühren als die stille Hoffnung, daß die angeborne Neigung unsers Herzens nicht ohne Gegenstand bleiben werde? Uns rührt die Erzählung jeder guten Tat, uns rührt das Anschauen jedes harmonischen Gegenstandes; wir fühlen dabei, daß wir nicht ganz in der Fremde sind, wir wähnen einer Heimat näher zu sein, nach der unser Bestes, Innerstes ungeduldig hinstrebt.«

Inzwischen hatte ihn ein Fußgänger eingeholt, der sich zu ihm gesellte, mit starkem Schritte neben dem Pferde blieb und nach einigen gleichgültigen Reden zu dem Reiter sagte: »Wenn ich mich nicht irre, so muß ich Sie irgendwo schon gesehen haben.«

»Ich erinnere mich Ihrer auch«, versetzte Wilhelm; »haben wir nicht zusammen eine lustige Wasserfahrt gemacht?« – »Ganz recht!« erwiderte der andere.

Wilhelm betrachtete ihn genauer und sagte nach einigem Stillschweigen: »Ich weiß nicht, was für eine Veränderung mit Ihnen vorgegangen sein mag; damals hielt ich Sie für einen lutherischen Landgeistlichen, und jetzt sehen Sie mir eher einem katholischen ähnlich.«

»Heute betriegen Sie sich wenigstens nicht«, sagte der andere, indem er den Hut abnahm und die Tonsur sehen ließ. »Wo ist denn Ihre Gesellschaft hingekommen? Sind Sie noch lange bei ihr geblieben?«

»Länger als billig: denn leider wenn ich an jene Zeit zurückdenke, die ich mit ihr zugebracht habe, so glaube ich in ein unendliches Leere zu sehen; es ist mir nichts davon übriggeblieben.«

»Darin irren Sie sich; alles, was uns begegnet, läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei; doch es ist gefährlich, sich davon Rechenschaft geben zu wollen. Wir werden dabei entweder stolz und lässig oder niedergeschlagen und kleinmütig, und eins ist für die Folge so hinderlich als das andere. Das Sicherste bleibt immer, nur das Nächste zu tun, was vor uns liegt, und das ist jetzt«, fuhr er mit einem Lächeln fort, »daß wir eilen, ins Quartier zu kommen.«

Wilhelm fragte, wie weit noch der Weg nach Lotharios Gut sei, der andere versetzte, daß es hinter dem Berge liege. »Vielleicht treffe ich Sie dort an«, fuhr er fort, »ich habe nur in der Nachbarschaft noch etwas zu besorgen. Leben Sie solange wohl!« Und mit diesen Worten ging er einen steilen Pfad, der schneller über den Berg hinüberzuführen schien.

»Ja wohl hat er recht!« sagte Wilhelm vor sich, indem er weiterritt. »An das Nächste soll man denken, und für mich ist wohl jetzt nichts Näheres als der traurige Auftrag, den ich ausrichten soll. Laß sehen, ob ich die Rede noch ganz im Gedächtnis habe, die den grausamen Freund beschämen soll.«

Er fing darauf an, sich dieses Kunstwerk vorzusagen; es fehlte ihm auch nicht eine Silbe, und je mehr ihm sein Gedächtnis zustatten kam, desto mehr wuchs seine Leidenschaft und sein Mut. Aureliens Leiden und Tod waren lebhaft vor seiner Seele gegenwärtig.

»Geist meiner Freundin!« rief er aus, »umschwebe mich! und wenn es dir möglich ist, so gib mir ein Zeichen, daß du besänftigt, daß du versöhnt seist!«

Unter diesen Worten und Gedanken war er auf die Höhe des Berges gekommen und sah an dessen Abhang an der andern Seite ein wunderliches Gebäude liegen, das er sogleich für Lotharios Wohnung hielt. Ein altes, unregelmäßiges Schloß mit einigen Türmen und Giebeln schien die erste Anlage dazu gewesen zu sein; allein noch unregelmäßiger waren die neuen Angebäude, die, teils nah, teils in einiger Entfernung davon errichtet, mit dem Hauptgebäude durch Galerien und bedeckte Gänge zusammenhingen. Alle äußere Symmetrie, jedes architektonische Ansehn schien dem Bedürfnis der innern Bequemlichkeit aufgeopfert zu sein. Keine Spur von Wall und Graben war zu sehen, ebensowenig als von künstlichen Gärten und großen Alleen. Ein Gemüse- und Baumgarten drang bis an die Häuser hinan, und kleine nutzbare Gärten waren selbst in den Zwischenräumen angelegt. Ein heiteres Dörfchen lag in einiger Entfernung; Gärten und Felder schienen durchaus in dem besten Zustande.

In seine eignen leidenschaftlichen Betrachtungen vertieft, ritt Wilhelm weiter, ohne viel über das, was er sah, nachzudenken, stellte sein Pferd in einem Gasthofe ein und eilte nicht ohne Bewegung nach dem Schlosse zu.

Ein alter Bedienter empfing ihn an der Türe und berichtete ihm mit vieler Gutmütigkeit, daß er heute wohl schwerlich vor den Herren kommen werde; der Herr habe viel Briefe zu schreiben und schon einige seiner Geschäftsleute abweisen lassen. Wilhelm ward dringender, und endlich mußte der Alte nachgeben und ihn melden. Er kam zurück und führte Wilhelmen in einen großen, alten Saal. Dort ersuchte er ihn, sich zu gedulden, weil der Herr vielleicht noch eine Zeitlang ausbleiben werde. Wilhelm ging unruhig auf und ab und warf einige Blicke auf die Ritter und Frauen, deren alte Abbildungen an der Wand umher hingen, er wiederholte den Anfang seiner Rede, und sie schien ihm in Gegenwart dieser Harnische und Kragen erst recht am Platz. Sooft er etwas rauschen hörte, setzte er sich in Positur, um seinen Gegner mit Würde zu empfangen, ihm erst den Brief zu überreichen und ihn dann mit den Waffen des Vorwurfs anzufallen.

Mehrmals war er schon getäuscht worden und fing wirklich an, verdrießlich und verstimmt zu werden, als endlich aus einer Seitentür ein wohlgebildeter Mann in Stiefeln und einem schlichten Überrocke heraustrat. »Was bringen Sie mir Gutes?« sagte er mit freundlicher Stimme zu Wilhelmen, »verzeihen Sie, daß ich Sie habe warten lassen.«

Er faltete, indem er dieses sprach, einen Brief, den er in der Hand hielt. Wilhelm, nicht ohne Verlegenheit, überreichte ihm das Blatt Aureliens und sagte: »Ich bringe die letzten Worte einer Freundin, die Sie nicht ohne Rührung lesen werden.«

Lothario nahm den Brief und ging sogleich in das Zimmer zurück, wo er, wie Wilhelm recht gut durch die offne Türe sehen konnte, erst noch einige Briefe siegelte und überschrieb, dann Aureliens Brief eröffnete und las. Er schien das Blatt einigemal durchgelesen zu haben, und Wilhelm, obgleich seinem Gefühl nach die pathetische Rede zu dem natürlichen Empfang nicht recht passen wollte, nahm sich doch zusammen, ging auf die Schwelle los und wollte seinen Spruch beginnen, als eine Tapetentüre des Kabinetts sich öffnete und der Geistliche hereintrat.

»Ich erhalte die wunderlichste Depesche von der Welt«, rief Lothario ihm entgegen; »verzeihn Sie mir«, fuhr er fort, indem er sich gegen Wilhelmen wandte, »wenn ich in diesem Augenblicke nicht gestimmt bin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Sie bleiben heute nacht bei uns! Und Sie sorgen für unsern Gast, Abbé, daß ihm nichts abgeht.«

Mit diesen Worten machte er eine Verbeugung gegen Wilhelmen, der Geistliche nahm unsern Freund bei der Hand, der nicht ohne Widerstreben folgte.

Stillschweigend gingen sie durch wunderliche Gänge und kamen in ein gar artiges Zimmer. Der Geistliche führte ihn ein und verließ ihn ohne weitere Entschuldigung. Bald darauf erschien ein munterer Knabe, der sich bei Wilhelmen als seine Bedienung ankündigte und das Abendessen brachte, bei der Aufwartung von der Ordnung des Hauses, wie man zu frühstücken, zu speisen, zu arbeiten und sich zu vergnügen pflegte, manches erzählte und besonders zu Lotharios Ruhm gar vieles vorbrachte.

So angenehm auch der Knabe war, so suchte ihn Wilhelm doch bald loszuwerden. Er wünschte allein zu sein, denn er fühlte sich in seiner Lage äußerst gedrückt und beklommen. Er machte sich Vorwürfe, seinen Vorsatz so schlecht vollführt, seinen Auftrag nur halb ausgerichtet zu haben. Bald nahm er sich vor, den andern Morgen das Versäumte nachzuholen, bald ward er gewahr, daß Lotharios Gegenwart ihn zu ganz andern Gefühlen stimmte. Das Haus, worin er sich befand, kam ihm auch so wunderbar vor, er wußte sich in seine Lage nicht zu finden. Er wollte sich ausziehen und öffnete seinen Mantelsack; mit seinen Nachtsachen brachte er zugleich den Schleier des Geistes hervor, den Mignon eingepackt hatte. Der Anblick vermehrte seine traurige Stimmung. »›Flieh! Jüngling, flieh!‹« rief er aus, »was soll das mystische Wort heißen? was fliehen? wohin fliehen? Weit besser hätte der Geist mir zugerufen: ›Kehre in dich selbst zurück!‹« Er betrachtete die englischen Kupfer, die an der Wand in Rahmen hingen; gleichgültig sah er über die meisten hinweg, endlich fand er auf dem einen ein unglücklich strandendes Schiff vorgestellt: ein Vater mit seinen schönen Töchtern erwartete den Tod von den hereindringenden Wellen. Das eine Frauenzimmer schien Ähnlichkeit mit jener Amazone zu haben; ein unaussprechliches Mitleiden ergriff unsern Freund, er fühlte ein unwiderstehliches Bedürfnis, seinem Herzen Luft zu machen, Tränen drangen aus seinem Auge, und er konnte sich nicht wieder erholen, bis ihn der Schlaf überwältigte.

Sonderbare Traumbilder erschienen ihm gegen Morgen. Er fand sich in einem Garten, den er als Knabe öfters besucht hatte, und sah mit Vergnügen die bekannten Alleen, Hecken und Blumenbeete wieder; Mariane begegnete ihm, er sprach liebevoll mit ihr und ohne Erinnerung irgendeines vergangenen Mißverhältnisses. Gleich darauf trat sein Vater zu ihnen, im Hauskleide; und mit vertraulicher Miene, die ihm selten war, hieß er den Sohn zwei Stühle aus dem Gartenhause holen, nahm Marianen bei der Hand und führte sie nach einer Laube.

Wilhelm eilte nach dem Gartensaale, fand ihn aber ganz leer, nur sah er Aurelien an dem entgegengesetzten Fenster stehen; er ging, sie anzureden, allein sie blieb unverwandt, und ob er sich gleich neben sie stellte, konnte er doch ihr Gesicht nicht sehen. Er blickte zum Fenster hinaus und sah in einem fremden Garten viele Menschen beisammen, von denen er einige sogleich erkannte. Frau Melina saß unter einem Baum und spielte mit einer Rose, die sie in der Hand hielt; Laertes stand neben ihr und zählte Gold aus einer Hand in die andere. Mignon und Felix lagen im Grase, jene ausgestreckt auf dem Rücken, dieser auf dem Gesichte. Philine trat hervor und klatschte über den Kindern in die Hände, Mignon blieb unbeweglich, Felix sprang auf und floh vor Philinen. Erst lachte er im Laufen, als Philine ihn verfolgte, dann schrie er ängstlich, als der Harfenspieler mit großen, langsamen Schritten ihm nachging. Das Kind lief grade auf einen Teich los; Wilhelm eilte ihm nach, aber zu spät, das Kind lag im Wasser! Wilhelm stand wie eingewurzelt. Nun sah er die schöne Amazone an der andern Seite des Teichs, sie streckte ihre rechte Hand gegen das Kind aus und ging am Ufer hin, das Kind durchstrich das Wasser in gerader Richtung auf den Finger zu und folgte ihr nach, wie sie ging, endlich reichte sie ihm ihre Hand und zog es aus dem Teiche. Wilhelm war indessen näher gekommen, das Kind brannte über und über, und es fielen feurige Tropfen von ihm herab. Wilhelm war noch besorgter, doch die Amazone nahm schnell einen weißen Schleier vom Haupte und bedeckte das Kind damit. Das Feuer war sogleich gelöscht. Als sie den Schleier aufhob, sprangen zwei Knaben hervor, die zusammen mutwillig hin und her spielten, als Wilhelm mit der Amazone Hand in Hand durch den Garten ging und in der Entfernung seinen Vater und Marianen in einer Allee spazieren sah, die mit hohen Bäumen den ganzen Garten zu umgeben schien. Er richtete seinen Weg auf beide zu und machte mit seiner schönen Begleiterin den Durchschnitt des Gartens, als auf einmal der blonde Friedrich ihnen in den Weg trat und sie mit großem Gelächter und allerlei Possen aufhielt. Sie wollten demungeachtet ihren Weg weiter fortsetzen; da eilte er weg und lief auf jenes entfernte Paar zu; der Vater und Mariane schienen vor ihm zu fliehen, er lief nur desto schneller, und Wilhelm sah jene fast im Fluge durch die Allee hinschweben. Natur und Neigung forderten ihn auf, jenen zu Hülfe zu kommen, aber die Hand der Amazone hielt ihn zurück. Wie gern ließ er sich halten! Mit dieser gemischten Empfindung wachte er auf und fand sein Zimmer schon von der hellen Sonne erleuchtet.

Zweites Kapitel

Der Knabe lud Wilhelmen zum Frühstück ein; dieser fand den Abbé schon im Saale; Lothario, hieß es, sei ausgeritten; der Abbé war nicht sehr gesprächig und schien eher nachdenklich zu sein; er fragte nach Aureliens Tode und hörte mit Teilnahme der Erzählung Wilhelms zu. »Ach!« rief er aus, »wem es lebhaft und gegenwärtig ist, welche unendliche Operationen Natur und Kunst machen müssen, bis ein gebildeter Mensch dasteht, wer selbst soviel als möglich an der Bildung seiner Mitbrüder teilnimmt, der möchte verzweifeln, wenn er sieht, wie freventlich sich oft der Mensch zerstört und so oft in den Fall kommt, mit oder ohne Schuld, zerstört zu werden. Wenn ich das bedenke, so scheint mir das Leben selbst eine so zufällige Gabe, daß ich jeden loben möchte, der sie nicht höher als billig schätzt.«

Er hatte kaum ausgesprochen, als die Türe mit Heftigkeit sich aufriß, ein junges Frauenzimmer hereinstürzte und den alten Bedienten, der sich ihr in den Weg stellte, zurückstieß. Sie eilte gerade auf den Abbé zu und konnte, indem sie ihn beim Arm faßte, vor Weinen und Schluchzen kaum die wenigen Worte hervorbringen: »Wo ist er? Wo habt ihr ihn? Es ist eine entsetzliche Verräterei! Gesteht nur! Ich weiß, was vorgeht! Ich will ihm nach! Ich will wissen, wo er ist.«

»Beruhigen Sie sich, mein Kind«, sagte der Abbé mit angenommener Gelassenheit, »kommen Sie auf Ihr Zimmer, Sie sollen alles erfahren, nur müssen Sie hören können, wenn ich Ihnen erzählen soll.« Er bot ihr die Hand an im Sinne, sie wegzuführen. »Ich werde nicht auf mein Zimmer gehen«, rief sie aus, »ich hasse die Wände, zwischen denen ihr mich schon so lange gefangenhaltet! Und doch habe ich alles erfahren, der Obrist hat ihn herausgefordert, er ist hinausgeritten, seinen Gegner aufzusuchen, und vielleicht jetzt eben in diesem Augenblicke – es war mir etlichemal, als hörte ich schießen. Lassen Sie anspannen und fahren Sie mit mir, oder ich fülle das Haus, das ganze Dorf mit meinem Geschrei.«

Sie eilte unter den heftigsten Tränen nach dem Fenster, der Abbé hielt sie zurück und suchte vergebens, sie zu besänftigen.

Man hörte einen Wagen fahren, sie riß das Fenster auf: »Er ist tot!« rief sie, »da bringen sie ihn.« – »Er steigt aus!« sagte der Abbé. »Sie sehen, er lebt.« – »Er ist verwundet«, versetzte sie heftig, »sonst käm er zu Pferde! Sie führen ihn! Er ist gefährlich verwundet!« Sie rannte zur Türe hinaus und die Treppe hinunter, der Abbé eilte ihr nach, und Wilhelm folgte ihnen; er sah, wie die Schöne ihrem heraufkommenden Geliebten begegnete.

Lothario lehnte sich auf seinen Begleiter, welchen Wilhelm sogleich für seinen alten Gönner Jarno erkannte, sprach dem trostlosen Frauenzimmer gar liebreich und freundlich zu, und indem er sich auch auf sie stützte, kam er die Treppe langsam herauf; er grüßte Wilhelmen und ward in sein Kabinett geführt.

Nicht lange darauf kam Jarno wieder heraus und trat zu Wilhelmen: »Sie sind, wie es scheint«, sagte er, »prädestiniert, überall Schauspieler und Theater zu finden; wir sind eben in einem Drama begriffen, das nicht ganz lustig ist.«

»Ich freue mich«, versetzte Wilhelm, »Sie in diesem sonderbaren Augenblicke wiederzufinden; ich bin verwundert, erschrocken, und Ihre Gegenwart macht mich gleich ruhig und gefaßt. Sagen Sie mir, hat es Gefahr? Ist der Baron schwer verwundet?« – »Ich glaube nicht«, versetzte Jarno.

Nach einiger Zeit trat der junge Wundarzt aus dem Zimmer. »Nun, was sagen Sie?« rief ihm Jarno entgegen. »Daß es sehr gefährlich steht«, versetzte dieser und steckte einige Instrumente in seine lederne Tasche zusammen.

Wilhelm betrachtete das Band, das von der Tasche herunterhing, er glaubte es zu kennen. Lebhafte, widersprechende Farben, ein seltsames Muster, Gold und Silber in wunderlichen Figuren zeichneten dieses Band vor allen Bändern der Welt aus. Wilhelm war überzeugt, die Instrumententasche des alten Chirurgus vor sich zu sehen, der ihn in jenem Walde verbunden hatte, und die Hoffnung, nach so langer Zeit wieder eine Spur seiner Amazone zu finden, schlug wie eine Flamme durch sein ganzes Wesen.

»Wo haben Sie die Tasche her?« rief er aus. »Wem gehörte sie vor Ihnen? Ich bitte, sagen Sie mir’s.« – »Ich habe sie in einer Auktion gekauft«, versetzte jener; »was kümmert’s mich, wem sie angehörte?« Mit diesen Worten entfernte er sich, und Jarno sagte: »Wenn diesem jungen Menschen nur ein wahres Wort aus dem Munde ginge.« – »So hat er also diese Tasche nicht erstanden?« versetzte Wilhelm. »Sowenig, als es Gefahr mit Lothario hat«, antwortete Jarno.

Wilhelm stand in ein vielfaches Nachdenken versenkt, als Jarno ihn fragte, wie es ihm zeither gegangen sei. Wilhelm erzählte seine Geschichte im allgemeinen, und als er zuletzt von Aureliens Tod und seiner Botschaft gesprochen hatte, rief jener aus: »Es ist doch sonderbar, sehr sonderbar!«

Der Abbé trat aus dem Zimmer, winkte Jarno zu, an seiner Statt hineinzugehen, und sagte zu Wilhelmen: »Der Baron läßt Sie ersuchen, hierzubleiben, einige Tage die Gesellschaft zu vermehren und zu seiner Unterhaltung unter diesen Umständen beizutragen. Haben Sie nötig, etwas an die Ihrigen zu bestellen, so soll Ihr Brief gleich besorgt werden, und damit Sie diese wunderbare Begebenheit verstehen, von der Sie Augenzeuge sind, muß ich Ihnen erzählen, was eigentlich kein Geheimnis ist. Der Baron hatte ein kleines Abenteuer mit einer Dame, das mehr Aufsehen machte, als billig war, weil sie den Triumph, ihn einer Nebenbuhlerin entrissen zu haben, allzu lebhaft genießen wollte. Leider fand er nach einiger Zeit bei ihr nicht die nämliche Unterhaltung, er vermied sie; allein bei ihrer heftigen Gemütsart war es ihr unmöglich, ihr Schicksal mit gesetztem Mute zu tragen. Bei einem Balle gab es einen öffentlichen Bruch, sie glaubte sich äußerst beleidigt und wünschte gerächt zu werden; kein Ritter fand sich, der sich ihrer angenommen hätte, bis endlich ihr Mann, von dem sie sich lange getrennt hatte, die Sache erfuhr und sich ihrer annahm, den Baron herausforderte und heute verwundete; doch ist der Obrist, wie ich höre, noch schlimmer dabei gefahren.«

Von diesem Augenblicke an ward unser Freund im Hause, als gehöre er zur Familie, behandelt.

Drittes Kapitel

Man hatte einigemal dem Kranken vorgelesen; Wilhelm leistete diesen kleinen Dienst mit Freuden. Lydie kam nicht vom Bette hinweg, ihre Sorgfalt für den Verwundeten verschlang alle ihre übrige Aufmerksamkeit, aber heute schien auch Lothario zerstreut, ja er bat, daß man nicht weiterlesen möchte.

»Ich fühle heute so lebhaft«, sagte er, »wie töricht der Mensch seine Zeit verstreichen läßt! Wie manches habe ich mir vorgenommen, wie manches durchdacht, und wie zaudert man nicht bei seinen besten Vorsätzen! Ich habe die Vorschläge über die Veränderungen gelesen, die ich auf meinen Gütern machen will, und ich kann sagen, ich freue mich vorzüglich dieserwegen, daß die Kugel keinen gefährlichern Weg genommen hat.«

Lydie sah ihn zärtlich, ja mit Tränen in den Augen an, als wollte sie fragen, ob denn sie, ob seine Freunde nicht auch Anteil an der Lebensfreude fordern könnten. Jarno dagegen versetzte: »Veränderungen, wie Sie vorhaben, werden billig erst von allen Seiten überlegt, bis man sich dazu entschließt.«

»Lange Überlegungen«, versetzte Lothario, »zeigen gewöhnlich, daß man den Punkt nicht im Auge hat, von dem die Rede ist, übereilte Handlungen, daß man ihn gar nicht kennt. Ich übersehe sehr deutlich, daß ich in vielen Stücken bei der Wirtschaft meiner Güter die Dienste meiner Landleute nicht entbehren kann und daß ich auf gewissen Rechten strack und streng halten muß; ich sehe aber auch, daß andere Befugnisse mir zwar vorteilhaft, aber nicht ganz unentbehrlich sind, so daß ich davon meinen Leuten auch was gönnen kann. Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt. Nutze ich nicht meine Güter weit besser als mein Vater? Werde ich meine Einkünfte nicht noch höher treiben? Und soll ich diesen wachsenden Vorteil allein genießen? Soll ich dem, der mit mir und für mich arbeitet, nicht auch in dem Seinigen Vorteile gönnen, die uns erweiterte Kenntnisse, die uns eine vorrückende Zeit darbietet?«

»Der Mensch ist nun einmal so!« rief Jarno, »und ich tadle mich nicht, wenn ich mich auch in dieser Eigenheit ertappe; der Mensch begehrt, alles an sich zu reißen, um nur nach Belieben damit schalten und walten zu können; das Geld, das er nicht selbst ausgibt, scheint ihm selten wohl angewendet.«

»O ja!« versetzte Lothario, »wir könnten manches vom Kapital entbehren, wenn wir mit den Interessen weniger willkürlich umgingen.«

»Das einzige, was ich zu erinnern habe«, sagte Jarno, »und warum ich nicht raten kann, daß Sie eben jetzt diese Veränderungen machen, wodurch Sie wenigstens im Augenblicke verlieren, ist, daß Sie selbst noch Schulden haben, deren Abzahlung Sie einengt. Ich würde raten, Ihren Plan aufzuschieben, bis Sie völlig im reinen wären.«

»Und indessen einer Kugel oder einem Dachziegel zu überlassen, ob er die Resultate meines Lebens und meiner Tätigkeit auf immer vernichten wollte! Oh, mein Freund!« fuhr Lothario fort, »das ist ein Hauptfehler gebildeter Menschen, daß sie alles an eine Idee, wenig oder nichts an einen Gegenstand wenden mögen. Wozu habe ich Schulden gemacht? Warum habe ich mich mit meinem Oheim entzweit? meine Geschwister so lange sich selbst überlassen? als um einer Idee willen. In Amerika glaubte ich zu wirken, über dem Meere glaubte ich nützlich und notwendig zu sein; war eine Handlung nicht mit tausend Gefahren umgeben, so schien sie mir nicht bedeutend, nicht würdig. Wie anders seh ich jetzt die Dinge, und wie ist mir das Nächste so wert, so teuer geworden.«

»Ich erinnere mich wohl des Briefes«, versetzte Jarno, »den ich noch über das Meer erhielt. Sie schrieben mir: ›Ich werde zurückkehren und in meinem Hause, in meinem Baumgarten, mitten unter den Meinigen sagen: Hier oder nirgend ist Amerika!‹«

»Ja, mein Freund, und ich wiederhole noch immer dasselbe, und doch schelte ich mich zugleich, daß ich hier nicht so tätig wie dort bin. Zu einer gewissen gleichen, fortdauernden Gegenwart brauchen wir nur Verstand, und wir werden auch nur zu Verstand, so daß wir das Außerordentliche, was jeder gleichgültige Tag von uns fordert, nicht mehr sehen und, wenn wir es erkennen, doch tausend Entschuldigungen finden, es nicht zu tun. Ein verständiger Mensch ist viel für sich, aber fürs Ganze ist er wenig.«

»Wir wollen«, sagte Jarno, »dem Verstande nicht zu nahe treten und bekennen, daß das Außerordentliche, was geschieht, meistens töricht ist.«

»Ja, und zwar eben deswegen, weil die Menschen das Außerordentliche außer der Ordnung tun. So gibt mein Schwager sein Vermögen, insofern er es veräußern kann, der Brüdergemeinde und glaubt seiner Seele Heil dadurch zu befördern; hätte er einen geringen Teil seiner Einkünfte aufgeopfert, so hätte er viel glückliche Menschen machen und sich und ihnen einen Himmel auf Erden schaffen können. Selten sind unsere Aufopferungen tätig, wir tun gleich Verzicht auf das, was wir weggeben. Nicht entschlossen, sondern verzweifelt entsagen wir dem, was wir besitzen. Diese Tage, ich gesteh es, schwebt mir der Graf immer vor Augen, und ich bin fest entschlossen, das aus Überzeugung zu tun, wozu ihn ein ängstlicher Wahn treibt; ich will meine Genesung nicht abwarten. Hier sind die Papiere, sie dürfen nur ins reine gebracht werden. Nehmen Sie den Gerichtshalter dazu, unser Gast hilft Ihnen auch, Sie wissen so gut als ich, worauf es ankommt, und ich will hier genesend oder sterbend dabei bleiben und ausrufen: ›Hier oder nirgend ist Herrnhut!‹«

Als Lydie ihren Freund von Sterben reden hörte, stürzte sie vor seinem Bette nieder, hing an seinen Armen und weinte bitterlich. Der Wundarzt kam herein, Jarno gab Wilhelmen die Papiere und nötigte Lydien, sich zu entfernen.

»Um ’s Himmels willen!« rief Wilhelm, als sie in dem Saal allein waren, »was ist das mit dem Grafen? Welch ein Graf ist das, der sich unter die Brüdergemeinde begibt?«

»Den Sie sehr wohl kennen«, versetzte Jarno. »Sie sind das Gespenst, das ihn in die Arme der Frömmigkeit jagt, Sie sind der Bösewicht, der sein artiges Weib in einen Zustand versetzt, in dem sie erträglich findet, ihrem Manne zu folgen.«

»Und sie ist Lotharios Schwester?« rief Wilhelm.

»Nicht anders.«

»Und Lothario weiß –?«

»Alles.«

»O lassen Sie mich fliehen!« rief Wilhelm aus, »wie kann ich vor ihm stehen? Was kann er sagen?«

»Daß niemand einen Stein gegen den andern aufheben soll und daß niemand lange Reden komponieren soll, um die Leute zu beschämen, er müßte sie denn vor dem Spiegel halten wollen.«

»Auch das wissen Sie?«

»Wie manches andere«, versetzte Jarno lächelnd; »doch diesmal«, fuhr er fort, »werde ich Sie so leicht nicht wie das vorige Mal loslassen, und vor meinem Werbesold haben Sie sich auch nicht mehr zu fürchten. Ich bin kein Soldat mehr, und auch als Soldat hätte ich Ihnen diesen Argwohn nicht einflößen sollen. Seit der Zeit, daß ich Sie nicht gesehen habe, hat sich vieles geändert. Nach dem Tode meines Fürsten, meines einzigen Freundes und Wohltäters, habe ich mich aus der Welt und aus allen weltlichen Verhältnissen herausgerissen. Ich beförderte gern, was vernünftig war, verschwieg nicht, wenn ich etwas abgeschmackt fand, und man hatte immer von meinem unruhigen Kopf und von meinem bösen Maule zu reden. Das Menschenpack fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstande; vor der Dummheit sollten sie sich fürchten, wenn sie begriffen, was fürchterlich ist; aber jener ist unbequem, und man muß ihn beiseite schaffen, diese ist nur verderblich, und das kann man abwarten. Doch es mag hingehen, ich habe zu leben, und von meinem Plane sollen Sie weiter hören. Sie sollen teil daran nehmen, wenn Sie mögen; aber sagen Sie mir, wie ist es Ihnen ergangen? Ich sehe, ich fühle Ihnen an, auch Sie haben sich verändert. Wie steht’s mit Ihrer alten Grille, etwas Schönes und Gutes in Gesellschaft von Zigeunern hervorzubringen?«

»Ich bin gestraft genug!« rief Wilhelm aus, »erinnern Sie mich nicht, woher ich komme und wohin ich gehe. Man spricht viel vom Theater, aber wer nicht selbst darauf war, kann sich keine Vorstellung davon machen. Wie völlig diese Menschen mit sich selbst unbekannt sind, wie sie ihr Geschäft ohne Nachdenken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Begriff. Nicht allein will jeder der erste, sondern auch der einzige sein, jeder möchte gerne alle übrigen ausschließen und sieht nicht, daß er mit ihnen zusammen kaum etwas leistet; jeder dünkt sich wunderoriginal zu sein und ist unfähig, sich in etwas zu finden, was außer dem Schlendrian ist; dabei eine immerwährende Unruhe nach etwas Neuem. Mit welcher Heftigkeit wirken sie gegeneinander! Und nur die kleinlichste Eigenliebe, der beschränkteste Eigennutz macht, daß sie sich miteinander verbinden. Vom wechselseitigen Betragen ist gar die Rede nicht; ein ewiges Mißtrauen wird durch heimliche Tücke und schändliche Reden unterhalten; wer nicht liederlich lebt, lebt albern. Jeder macht Anspruch auf die unbedingteste Achtung, jeder ist empfindlich gegen den mindesten Tadel. Das hat er selbst alles schon besser gewußt! Und warum hat er denn immer das Gegenteil getan? Immer bedürftig und immer ohne Zutrauen, scheint es, als wenn sie sich vor nichts so sehr fürchteten als vor Vernunft und gutem Geschmack und nichts so sehr zu erhalten suchten als das Majestätsrecht ihrer persönlichen Willkür.«

Wilhelm holte Atem, um seine Litanei noch weiter fortzusetzen, als ein unmäßiges Gelächter Jarnos ihn unterbrach. »Die armen Schauspieler!« rief er aus, warf sich in einen Sessel und lachte fort: »die armen, guten Schauspieler! Wissen Sie denn, mein Freund«, fuhr er fort, nachdem er sich einigermaßen wieder erholt hatte, »daß Sie nicht das Theater, sondern die Welt beschrieben haben und daß ich Ihnen aus allen Ständen genug Figuren und Handlungen zu Ihren harten Pinselstrichen finden wollte? Verzeihen Sie mir, ich muß wieder lachen, daß Sie glaubten, diese schönen Qualitäten seien nur auf die Bretter gebannt.«

Wilhelm faßte sich, denn wirklich hatte ihn das unbändige und unzeitige Gelächter Jarnos verdrossen. »Sie können«, sagte er, »Ihren Menschenhaß nicht ganz verbergen, wenn Sie behaupten, daß diese Fehler allgemein seien.«

»Und es zeugt von Ihrer Unbekanntschaft mit der Welt, wenn Sie diese Erscheinungen dem Theater so hoch anrechnen. Wahrhaftig, ich verzeihe dem Schauspieler jeden Fehler, der aus dem Selbstbetrug und aus der Begierde zu gefallen entspringt; denn wenn er sich und andern nicht etwas scheint, so ist er nichts. Zum Schein ist er berufen, er muß den augenblicklichen Beifall hochschätzen, denn er erhält keinen andern Lohn; er muß zu glänzen suchen, denn deswegen steht er da.«

»Sie erlauben«, versetzte Wilhelm, »daß ich von meiner Seite wenigstens lächele. Nie hätte ich geglaubt, daß Sie so billig, so nachsichtig sein könnten.«

»Nein, bei Gott! dies ist mein völliger, wohlbedachter Ernst. Alle Fehler des Menschen verzeih ich dem Schauspieler, keine Fehler des Schauspielers verzeih ich dem Menschen. Lassen Sie mich meine Klaglieder hierüber nicht anstimmen, sie würden heftiger klingen als die Ihrigen.«

Der Chirurgus kam aus dem Kabinett, und auf Befragen, wie sich der Kranke befinde, sagte er mit lebhafter Freundlichkeit: »Recht sehr wohl, ich hoffe, ihn bald völlig wiederhergestellt zu sehen.« Sogleich eilte er zum Saal hinaus und erwartete Wilhelms Frage nicht, der schon den Mund öffnete, sich nochmals und dringender nach der Brieftasche zu erkundigen. Das Verlangen, von seiner Amazone etwas zu erfahren, gab ihm Vertrauen zu Jarno; er entdeckte ihm seinen Fall und bat ihn um seine Beihülfe. »Sie wissen so viel«, sagte er, »sollten Sie nicht auch das erfahren können?«

Jarno war einen Augenblick nachdenkend, dann sagte er zu seinem jungen Freunde: »Seien Sie ruhig, und lassen Sie sich weiter nichts merken, wir wollen der Schönen schon auf die Spur kommen. Jetzt beunruhigt mich nur Lotharios Zustand, die Sache steht gefährlich, das sagt mir die Freundlichkeit und der gute Trost des Wundarztes. Ich hätte Lydien schon gerne weggeschafft, denn sie nutzt hier gar nichts, aber ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Heute abend, hoff ich, soll unser alter Medikus kommen, und dann wollen wir weiter ratschlagen.«

Viertes Kapitel

Der Medikus kam; es war der gute, alte, kleine Arzt, den wir schon kennen und dem wir die Mitteilung des interessanten Manuskripts verdanken. Er besuchte vor allen Dingen den Verwundeten und schien mit dessen Befinden keinesweges zufrieden. Dann hatte er mit Jarno eine lange Unterredung, doch ließen sie nichts merken, als sie abends zu Tische kamen.

Wilhelm begrüßte ihn aufs freundlichste und erkundigte sich nach seinem Harfenspieler. »Wir haben noch Hoffnung, den Unglücklichen zurechtezubringen«, versetzte der Arzt. »Dieser Mensch war eine traurige Zugabe zu Ihrem eingeschränkten und wunderlichen Leben«, sagte Jarno. »Wie ist es ihm weiter ergangen? Lassen Sie mich es wissen.«

Nachdem man Jarnos Neugierde befriediget hatte, fuhr der Arzt fort: »Nie habe ich ein Gemüt in einer so sonderbaren Lage gesehen. Seit vielen Jahren hat er an nichts, was außer ihm war, den mindesten Anteil genommen, ja fast auf nichts gemerkt; bloß in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unermeßlicher Abgrund erschien. Wie rührend war es, wenn er von diesem traurigen Zustande sprach! ›Ich sehe nichts vor mir, nichts hinter mir‹, rief er aus, ›als eine unendliche Nacht, in der ich mich in der schrecklichsten Einsamkeit befinde; kein Gefühl bleibt mir als das Gefühl meiner Schuld, die doch auch nur wie ein entferntes, unförmliches Gespenst sich rückwärts sehen läßt. Doch da ist keine Höhe, keine Tiefe, kein Vor noch Zurück, kein Wort drückt diesen immer gleichen Zustand aus. Manchmal ruf ich in der Not dieser Gleichgültigkeit: ‚Ewig! ewig!‘ mit Heftigkeit aus, und dieses seltsame, unbegreifliche Wort ist hell und klar gegen die Finsternis meines Zustandes. Kein Strahl einer Gottheit erscheint mir in dieser Nacht, ich weine meine Tränen alle mir selbst und um mich selbst. Nichts ist mir grausamer als Freundschaft und Liebe, denn sie allein locken mir den Wunsch ab, daß die Erscheinungen, die mich umgeben, wirklich sein möchten. Aber auch diese beiden Gespenster sind nur aus dem Abgrunde gestiegen, um mich zu ängstigen und um mir zuletzt auch das teure Bewußtsein dieses ungeheuren Daseins zu rauben.‹

Sie sollten ihn hören«, fuhr der Arzt fort, »wenn er in vertraulichen Stunden auf diese Weise sein Herz erleichtert; mit der größten Rührung habe ich ihm einigemal zugehört. Wenn sich ihm etwas aufdringt, das ihn nötigt, einen Augenblick zu gestehen, eine Zeit sei vergangen, so scheint er wie erstaunt, und dann verwirft er wieder die Veränderung an den Dingen als eine Erscheinung der Erscheinungen. Eines Abends sang er ein Lied über seine grauen Haare; wir saßen alle um ihn her und weinten.«

»O schaffen Sie es mir!« rief Wilhelm aus.

»Haben Sie denn aber«, fragte Jarno, »nichts entdeckt von dem, was er sein Verbrechen nennt, nicht die Ursache seiner sonderbaren Tracht, sein Betragen beim Brande, seine Wut gegen das Kind?«

»Nur durch Mutmaßungen können wir seinem Schicksale näherkommen; ihn unmittelbar zu fragen würde gegen unsere Grundsätze sein. Da wir wohl merken, daß er katholisch erzogen ist, haben wir geglaubt, ihm durch eine Beichte Linderung zu verschaffen; aber er entfernt sich auf eine sonderbare Weise jedesmal, wenn wir ihn dem Geistlichen näher zu bringen suchen. Daß ich aber Ihren Wunsch, etwas von ihm zu wissen, nicht ganz unbefriedigt lasse, will ich Ihnen wenigstens unsere Vermutungen entdecken. Er hat seine Jugend in dem geistlichen Stande zugebracht; daher scheint er sein langes Gewand und seinen Bart erhalten zu wollen. Die Freuden der Liebe blieben ihm die größte Zeit seines Lebens unbekannt. Erst spät mag eine Verirrung mit einem sehr nahe verwandten Frauenzimmer, es mag ihr Tod, der einem unglücklichen Geschöpfe das Dasein gab, sein Gehirn völlig zerrüttet haben.

Sein größter Wahn ist, daß er überall Unglück bringe und daß ihm der Tod durch einen unschuldigen Knaben bevorstehe. Erst fürchtete er sich vor Mignon, eh er wußte, daß es ein Mädchen war; nun ängstigte ihn Felix, und da er das Leben bei alle seinem Elend unendlich liebt, scheint seine Abneigung gegen das Kind daher entstanden zu sein.«

»Was haben Sie denn zu seiner Besserung für Hoffnung?« fragte Wilhelm.

»Es geht langsam vorwärts«, versetzte der Arzt, »aber doch nicht zurück. Seine bestimmten Beschäftigungen treibt er fort, und wir haben ihn gewöhnt, die Zeitungen zu lesen, die er jetzt immer mit großer Begierde erwartet.«

»Ich bin auf seine Lieder neugierig«, sagte Jarno.

»Davon werde ich Ihnen verschiedene geben können«, sagte der Arzt. »Der älteste Sohn des Geistlichen, der seinem Vater die Predigten nachzuschreiben gewohnt ist, hat manche Strophe, ohne von dem Alten bemerkt zu werden, aufgezeichnet und mehrere Lieder nach und nach zusammengesetzt.«

Den andern Morgen kam Jarno zu Wilhelmen und sagte ihm: »Sie müssen uns einen Gefallen tun; Lydie muß einige Zeit entfernt werden; ihre heftige und, ich darf wohl sagen, unbequeme Liebe und Leidenschaft hindert des Barons Genesung. Seine Wunde verlangt Ruhe und Gelassenheit, ob sie gleich bei seiner guten Natur nicht gefährlich ist. Sie haben gesehen, wie ihn Lydie mit stürmischer Sorgfalt, unbezwinglicher Angst und nie versiegenden Tränen quält, und – genug«, setzte er nach einer Pause mit einem Lächeln hinzu, »der Medikus verlangt ausdrücklich, daß sie das Haus auf einige Zeit verlassen solle. Wir haben ihr eingebildet, eine sehr gute Freundin halte sich in der Nähe auf, verlange sie zu sehen und erwarte sie jeden Augenblick. Sie hat sich bereden lassen, zu dem Gerichtshalter zu fahren, der nur zwei Stunden von hier wohnt. Dieser ist unterrichtet und wird herzlich bedauern, daß Fräulein Therese soeben weggefahren sei; er wird wahrscheinlich machen, daß man sie noch einholen könne, Lydie wird ihr nacheilen, und wenn das Glück gut ist, wird sie von einem Orte zum andern geführt werden. Zuletzt, wenn sie drauf besteht, wieder umzukehren, darf man ihr nicht widersprechen; man muß die Nacht zu Hülfe nehmen, der Kutscher ist ein gescheiter Kerl, mit dem man noch Abrede nehmen muß. Sie setzen sich zu ihr in den Wagen, unterhalten sie und dirigieren das Abenteuer.«

»Sie geben mir einen sonderbaren und bedenklichen Auftrag«, versetzte Wilhelm, »wie ängstlich ist die Gegenwart einer gekränkten treuen Liebe! Und ich soll selbst dazu das Werkzeug sein? Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich jemanden auf diese Weise hintergehe: denn ich habe immer geglaubt, daß es uns zu weit führen könne, wenn wir einmal um des Guten und Nützlichen willen zu betriegen anfangen.«

»Können wir doch Kinder nicht anders erziehen als auf diese Weise«, versetzte Jarno.

»Bei Kindern möchte es noch hingehen«, sagte Wilhelm, »indem wir sie so zärtlich lieben und offenbar übersehen; aber bei unsersgleichen, für die uns nicht immer das Herz so laut um Schonung anruft, möchte es oft gefährlich werden. Doch glauben Sie nicht«, fuhr er nach einem kurzen Nachdenken fort, »daß ich deswegen diesen Auftrag ablehne. Bei der Ehrfurcht, die mir Ihr Verstand einflößt, bei der Neigung, die ich für Ihren trefflichen Freund fühle, bei dem lebhaften Wunsch, seine Genesung, durch welche Mittel sie auch möglich sei, zu befördern, mag ich mich gerne selbst vergessen. Es ist nicht genug, daß man sein Leben für einen Freund wagen könne, man muß auch im Notfall seine Überzeugung für ihn verleugnen. Unsere liebste Leidenschaft, unsere besten Wünsche sind wir für ihn aufzuopfern schuldig. Ich übernehme den Auftrag, ob ich gleich schon die Qual voraussehe, die ich von Lydiens Tränen, von ihrer Verzweiflung werde zu erdulden haben.«

»Dagegen erwartet Sie auch keine geringe Belohnung«, versetzte Jarno, »indem Sie Fräulein Theresen kennenlernen, ein Frauenzimmer, wie es ihrer wenige gibt; sie beschämt hundert Männer, und ich möchte sie eine wahre Amazone nennen, wenn andere nur als artige Hermaphroditen in dieser zweideutigen Kleidung herumgehen.«

Wilhelm war betroffen, er hoffte in Theresen seine Amazone wiederzufinden, um so mehr, als Jarno, von dem er einige Auskunft verlangte, kurz abbrach und sich entfernte.

Die neue, nahe Hoffnung, jene verehrte und geliebte Gestalt wiederzusehen, brachte in ihm die sonderbarsten Bewegungen hervor. Er hielt nunmehr den Auftrag, der ihm gegeben worden war, für ein Werk einer ausdrücklichen Schickung, und der Gedanke, daß er ein armes Mädchen von dem Gegenstande ihrer aufrichtigsten und heftigsten Liebe hinterlistig zu entfernen im Begriff war, erschien ihm nur im Vorübergehen, wie der Schatten eines Vogels über die erleuchtete Erde wegfliegt.

Der Wagen stand vor der Türe, Lydie zauderte einen Augenblick hineinzusteigen. »Grüßt Euren Herrn nochmals«, sagte sie zu dem alten Bedienten, »vor Abend bin ich wieder zurück.« Tränen standen ihr im Auge, als sie im Fortfahren sich nochmals umwendete. Sie kehrte sich darauf zu Wilhelmen, nahm sich zusammen und sagte: »Sie werden an Fräulein Theresen eine sehr interessante Person finden. Mich wundert, wie sie in diese Gegend kommt: denn Sie werden wohl wissen, daß sie und der Baron sich heftig liebten. Ungeachtet der Entfernung war Lothario oft bei ihr; ich war damals um sie, es schien, als ob sie nur füreinander leben würden. Auf einmal aber zerschlug sich’s, ohne daß ein Mensch begreifen konnte, warum. Er hatte mich kennenlernen, und ich leugne nicht, daß ich Theresen herzlich beneidete, daß ich meine Neigung zu ihm kaum verbarg und daß ich ihn nicht zurückstieß, als er auf einmal mich statt Theresen zu wählen schien. Sie betrug sich gegen mich, wie ich es nicht besser wünschen konnte, ob es gleich beinahe scheinen mußte, als hätte ich ihr einen so werten Liebhaber geraubt. Aber auch wieviel tausend Tränen und Schmerzen hat mich diese Liebe schon gekostet! Erst sahen wir uns nur zuweilen am dritten Orte verstohlen, aber lange konnte ich das Leben nicht ertragen; nur in seiner Gegenwart war ich glücklich, ganz glücklich! Fern von ihm hatte ich kein trocknes Auge, keinen ruhigen Pulsschlag. Einst verzog er mehrere Tage, ich war in Verzweiflung, machte mich auf den Weg und überraschte ihn hier. Er nahm mich liebevoll auf, und wäre nicht dieser unglückselige Handel dazwischengekommen, so hätte ich ein himmlisches Leben geführt; und was ich ausgestanden habe, seitdem er in Gefahr ist, seitdem er leidet, sag ich nicht, und noch in diesem Augenblicke mache ich mir lebhafte Vorwürfe, daß ich mich nur einen Tag von ihm habe entfernen können.«

Wilhelm wollte sich eben näher nach Theresen erkundigen, als sie bei dem Gerichtshalter vorfuhren, der an den Wagen kam und von Herzen bedauerte, daß Fräulein Therese schon abgefahren sei. Er bot den Reisenden ein Frühstück an, sagte aber zugleich, der Wagen würde noch im nächsten Dorfe einzuholen sein. Man entschloß sich nachzufahren, und der Kutscher säumte nicht; man hatte schon einige Dörfer zurückgelegt und niemand angetroffen. Lydie bestand nun darauf, man solle umkehren; der Kutscher fuhr zu, als verstünde er es nicht. Endlich verlangte sie es mit größter Heftigkeit; Wilhelm rief ihm zu und gab ihm das verabredete Zeichen. Der Kutscher erwiderte: »Wir haben nicht nötig, denselben Weg zurückzufahren; ich weiß einen nähern, der zugleich viel bequemer ist.« Er fuhr nun seitwärts durch einen Wald und über lange Triften weg. Endlich, da kein bekannter Gegenstand zum Vorschein kam, gestand der Kutscher, er sei unglücklicherweise irregefahren, wolle sich aber bald wieder zurechtefinden, indem er dort ein Dorf sehe. Die Nacht kam herbei, und der Kutscher machte seine Sache so geschickt, daß er überall fragte und nirgends die Antwort abwartete. So fuhr man die ganze Nacht, Lydie schloß kein Auge; bei Mondschein fand sie überall Ähnlichkeiten, und immer verschwanden sie wieder. Morgens schienen ihr die Gegenstände bekannt, aber desto unerwarteter. Der Wagen hielt vor einem kleinen, artig gebauten Landhause stille; ein Frauenzimmer trat aus der Türe und öffnete den Schlag. Lydie sah sie starr an, sah sich um, sah sie wieder an und lag ohnmächtig in Wilhelms Armen.

Fünftes Kapitel

Wilhelm ward in ein Mansardzimmerchen geführt; das Haus war neu und so klein, als es beinah nur möglich war, äußerst reinlich und ordentlich. In Theresen, die ihn und Lydien an der Kutsche empfangen hatte, fand er seine Amazone nicht, es war ein anderes, ein himmelweit von ihr unterschiedenes Wesen. Wohlgebaut, ohne groß zu sein, bewegte sie sich mit viel Lebhaftigkeit, und ihren hellen, blauen, offnen Augen schien nichts verborgen zu bleiben, was vorging.

Sie trat in Wilhelms Stube und fragte, ob er etwas bedürfe. »Verzeihen Sie«, sagte sie, »daß ich Sie in ein Zimmer logiere, das der Ölgeruch noch unangenehm macht; mein kleines Haus ist eben fertig geworden, und Sie weihen dieses Stübchen ein, das meinen Gästen bestimmt ist. Wären Sie nur bei einem angenehmern Anlaß hier! Die arme Lydie wird uns keine guten Tage machen, und überhaupt müssen Sie vorliebnehmen; meine Köchin ist mir eben zur ganz unrechten Zeit aus dem Dienste gelaufen, und ein Knecht hat sich die Hand zerquetscht. Es täte not, ich verrichtete alles selbst, und am Ende, wenn man sich darauf einrichtete, müßte es auch gehen. Man ist mit niemand mehr geplagt als mit den Dienstboten; es will niemand dienen, nicht einmal sich selbst.«

Sie sagte noch manches über verschiedene Gegenstände, überhaupt schien sie gern zu sprechen. Wilhelm fragte nach Lydien, ob er das gute Mädchen nicht sehen und sich bei ihr entschuldigen könnte.

»Das wird jetzt nicht bei ihr wirken«, versetzte Therese; »die Zeit entschuldigt, wie sie tröstet, Worte sind in beiden Fällen von wenig Kraft. Lydie will Sie nicht sehen. ›Lassen Sie mir ihn ja nicht vor die Augen kommen‹, rief sie, als ich sie verließ, ›ich möchte an der Menschheit verzweifeln! So ein ehrlich Gesicht, so ein offnes Betragen und diese heimliche Tücke!‹ Lothario ist ganz bei ihr entschuldigt, auch sagt er in einem Briefe an das gute Mädchen: ›Meine Freunde beredeten mich, meine Freunde nötigten mich!‹ Zu diesen rechnet Lydie Sie auch und verdammt Sie mit den übrigen.«

»Sie erzeigt mir zuviel Ehre, indem sie mich schilt«, versetzte Wilhelm, »ich darf an die Freundschaft dieses trefflichen Mannes noch keinen Anspruch machen und bin diesmal nur ein unschuldiges Werkzeug. Ich will meine Handlung nicht loben; genug, ich konnte sie tun! Es war von der Gesundheit, es war von dem Leben eines Mannes die Rede, den ich höher schätzen muß als irgend jemand, den ich vorher kannte. O welch ein Mann ist das, Fräulein! und welche Menschen umgeben ihn! In dieser Gesellschaft hab ich, so darf ich wohl sagen, zum erstenmal ein Gespräch geführt, zum erstenmal kam mir der eigenste Sinn meiner Worte aus dem Munde eines andern reichhaltiger, voller und in einem größern Umfang wieder entgegen; was ich ahnete, ward mir klar, und was ich meinte, lernte ich anschauen. Leider ward dieser Genuß erst durch allerlei Sorgen und Grillen, dann durch den unangenehmen Auftrag unterbrochen. Ich übernahm ihn mit Ergebung: denn ich hielt für Schuldigkeit, selbst mit Aufopferung meines Gefühls diesem trefflichen Kreise von Menschen meinen Einstand abzutragen.«

Therese hatte unter diesen Worten ihren Gast sehr freundlich angesehen. »O wie süß ist es«, rief sie aus, »seine eigne Überzeugung aus einem fremden Munde zu hören! Wie werden wir erst recht wir selbst, wenn uns ein anderer vollkommen recht gibt. Auch ich denke über Lothario vollkommen wie Sie; nicht jedermann läßt ihm Gerechtigkeit widerfahren, dafür schwärmen aber auch alle die für ihn, die ihn näher kennen, und das schmerzliche Gefühl, das sich in meinem Herzen zu seinem Andenken mischt, kann mich nicht abhalten, täglich an ihn zu denken.« Ein Seufzer erweiterte ihre Brust, indem sie dieses sagte, und in ihrem rechten Auge blinkte eine schöne Träne. »Glauben Sie nicht«, fuhr sie fort, »daß ich so weich, so leicht zu rühren bin! Es ist nur das Auge, das weint. Ich hatte eine kleine Warze am untern Augenlid, man hat mir sie glücklich abgebunden, aber das Auge ist seit der Zeit immer schwach geblieben, der geringste Anlaß drängt mir eine Träne hervor. Hier saß das Wärzchen, Sie sehen keine Spur mehr davon.«

Er sah keine Spur, aber er sah ihr ins Auge, es war klar wie Kristall, er glaubte bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen.

»Wir haben«, sagte sie, »nun das Losungswort unserer Verbindung ausgesprochen; lassen Sie uns so bald als möglich miteinander völlig bekannt werden. Die Geschichte des Menschen ist sein Charakter. Ich will Ihnen erzählen, wie es mir ergangen ist; schenken Sie mir ein gleiches Vertrauen, und lassen Sie uns auch in der Ferne verbunden bleiben. Die Welt ist so leer, wenn man nur Berge, Flüsse und Städte darin denkt, aber hie und da jemand zu wissen, der mit uns übereinstimmt, mit dem wir auch stillschweigend fortleben, das macht uns dieses Erdenrund erst zu einem bewohnten Garten.«

Sie eilte fort und versprach, ihn bald zum Spaziergange abzuholen. Ihre Gegenwart hatte sehr angenehm auf ihn gewirkt, er wünschte ihr Verhältnis zu Lothario zu erfahren. Er ward gerufen, sie kam ihm aus ihrem Zimmer entgegen.

Als sie die enge und beinah steile Treppe einzeln hinuntergehen mußten, sagte sie: »Das könnte alles weiter und breiter sein, wenn ich auf das Anerbieten Ihres großmütigen Freundes hätte hören wollen; doch um seiner wert zu bleiben, muß ich das an mir erhalten, was mich ihm so wert machte. Wo ist der Verwalter?« fragte sie, indem sie die Treppe völlig herunterkam. »Sie müssen nicht denken«, fuhr sie fort, »daß ich so reich bin, um einen Verwalter zu brauchen; die wenigen Äcker meines Freigütchens kann ich wohl selbst bestellen. Der Verwalter gehört meinem neuen Nachbar, der das schöne Gut gekauft hat, das ich in- und auswendig kenne; der gute alte Mann liegt krank am Podagra, seine Leute sind in dieser Gegend neu, und ich helfe ihnen gerne sich einrichten.«

Sie machten einen Spaziergang durch Äcker, Wiesen und einige Baumgärten. Therese bedeutete den Verwalter in allem, sie konnte ihm von jeder Kleinigkeit Rechenschaft geben, und Wilhelm hatte Ursache genug, sich über ihre Kenntnis, ihre Bestimmtheit und über die Gewandtheit, wie sie in jedem Falle Mittel anzugeben wußte, zu verwundern. Sie hielt sich nirgends auf, eilte immer zu den bedeutenden Punkten, und so war die Sache bald abgetan. »Grüßt Euren Herrn«, sagte sie, als sie den Mann verabschiedete; »ich werde ihn so bald als möglich besuchen und wünsche vollkommene Besserung. Da könnte ich nun auch«, sagte sie mit Lächeln, als er weg war, »bald reich und vielhabend werden; denn mein guter Nachbar wäre nicht abgeneigt, mir seine Hand zu geben.«

»Der Alte mit dem Podagra?« rief Wilhelm, »ich wüßte nicht, wie Sie in Ihren Jahren zu so einem verzweifelten Entschluß kommen könnten.« – »Ich bin auch gar nicht versucht!« versetzte Therese. »Wohlhabend ist jeder, der dem, was er besitzt, vorzustehen weiß; vielhabend zu sein ist eine lästige Sache, wenn man es nicht versteht.«

Wilhelm zeigte seine Verwunderung über ihre Wirtschaftskenntnisse. »Entschiedene Neigung, frühe Gelegenheit, äußerer Antrieb und eine fortgesetzte Beschäftigung in einer nützlichen Sache machen in der Welt noch viel mehr möglich«, versetzte Therese, »und wenn Sie erst erfahren werden, was mich dazu belebt hat, so werden Sie sich über das sonderbar scheinende Talent nicht mehr wundern.«

Sie ließ ihn, als sie zu Hause anlangten, in ihrem kleinen Garten, in welchem er sich kaum herumdrehen konnte; so eng waren die Wege, und so reichlich war alles bepflanzt. Er mußte lächeln, als er über den Hof zurückkehrte, denn da lag das Brennholz so akkurat gesägt, gespalten und geschränkt, als wenn es ein Teil des Gebäudes wäre und immer so liegenbleiben sollte. Rein standen alle Gefäße an ihren Plätzen, das Häuschen war weiß und rot angestrichen und lustig anzusehen. Was das Handwerk hervorbringen kann, das keine schönen Verhältnisse kennt, aber für Bedürfnis, Dauer und Heiterkeit arbeitet, schien auf dem Platze vereinigt zu sein. Man brachte ihm das Essen auf sein Zimmer, und er hatte Zeit genug, Betrachtungen anzustellen. Besonders fiel ihm auf, daß er nun wieder eine so interessante Person kennenlernte, die mit Lothario in einem nahen Verhältnisse gestanden hatte. »Billig ist es«, sagte er zu sich selbst, »daß so ein trefflicher Mann auch treffliche Weiberseelen an sich ziehe! Wie weit verbreitet sich die Wirkung der Männlichkeit und Würde. Wenn nur andere nicht so sehr dabei zu kurz kämen! Ja, gestehe dir nur deine Furcht. Wenn du dereinst deine Amazone wieder antriffst, diese Gestalt aller Gestalten, du findest sie trotz aller deiner Hoffnungen und Träume zu deiner Beschämung und Demütigung doch noch am Ende – als seine Braut.«

Sechstes Kapitel

Wilhelm hatte einen unruhigen Nachmittag nicht ganz ohne Langeweile zugebracht, als sich gegen Abend seine Tür öffnete und ein junger, artiger Jägerbursche mit einem Gruße hereintrat. »Wollen wir nun spazierengehen?« sagte der junge Mensch, und in dem Augenblicke erkannte Wilhelm Theresen an ihren schönen Augen.

»Verzeihn Sie mir diese Maskerade«, fing sie an, »denn leider ist es jetzt nur Maskerade. Doch da ich Ihnen einmal von der Zeit erzählen soll, in der ich mich so gerne in dieser Weste sah, will ich mir auch jene Tage auf alle Weise vergegenwärtigen. Kommen Sie! selbst der Platz, an dem wir so oft von unsern Jagden und Spaziergängen ausruhten, soll dazu beitragen.«

Sie gingen, und auf dem Wege sagte Therese zu ihrem Begleiter: »Es ist nicht billig, daß Sie mich allein reden lassen; schon wissen Sie genug von mir, und ich weiß noch nicht das mindeste von Ihnen; erzählen Sie mir indessen etwas von sich, damit ich Mut bekomme, Ihnen auch meine Geschichte und meine Verhältnisse vorzulegen.« – »Leider hab ich«, versetzte Wilhelm, »nichts zu erzählen als Irrtümer auf Irrtümer, Verirrungen auf Verirrungen, und ich wüßte nicht, wem ich die Verworrenheiten, in denen ich mich befand und befinde, lieber verbergen möchte als Ihnen. Ihr Blick und alles, was Sie umgibt, Ihr ganzes Wesen und Ihr Betragen zeigt mir, daß Sie sich Ihres vergangenen Lebens freuen können, daß Sie auf einem schönen, reinen Wege in einer sichern Folge gegangen sind, daß Sie keine Zeit verloren, daß Sie sich nichts vorzuwerfen haben.«

Therese lächelte und versetzte: »Wir müssen abwarten, ob Sie auch noch so denken, wenn Sie meine Geschichte hören.« Sie gingen weiter, und unter einigen allgemeinen Gesprächen fragte ihn Therese. »Sind Sie frei?« – »Ich glaube es zu sein«, versetzte er, »aber ich wünsche es nicht.« – »Gut!« sagte sie, »das deutet auf einen komplizierten Roman und zeigt mir, daß Sie auch etwas zu erzählen haben.«

Unter diesen Worten stiegen sie den Hügel hinan und lagerten sich bei einer großen Eiche, die ihren Schatten weit umher verbreitete. »Hier«, sagte Therese, »unter diesem deutschen Baume will ich Ihnen die Geschichte eines deutschen Mädchens erzählen, hören Sie mich geduldig an.

Mein Vater war ein wohlhabender Edelmann dieser Provinz, ein heiterer, klarer, tätiger, wackrer Mann, ein zärtlicher Vater, ein redlicher Freund, ein trefflicher Wirt, an dem ich nur den einzigen Fehler kannte, daß er gegen eine Frau zu nachsichtig war, die ihn nicht zu schätzen wußte. Leider muß ich das von meiner eigenen Mutter sagen! Ihr Wesen war dem seinigen ganz entgegengesetzt. Sie war rasch, unbeständig, ohne Neigung weder für ihr Haus noch für mich, ihr einziges Kind; verschwenderisch, aber schön, geistreich, voller Talente, das Entzücken eines Zirkels, den sie um sich zu versammeln wußte. Freilich war ihre Gesellschaft niemals groß oder blieb es nicht lange. Dieser Zirkel bestand meist aus Männern, denn keine Frau befand sich wohl neben ihr, und noch weniger konnte sie das Verdienst irgendeines Weibes dulden. Ich glich meinem Vater an Gestalt und Gesinnungen. Wie eine junge Ente gleich das Wasser sucht, so waren von der ersten Jugend an die Küche, die Vorratskammer, die Scheunen und Böden mein Element. Die Ordnung und Reinlichkeit des Hauses schien, selbst da ich noch spielte, mein einziger Instinkt, mein einziges Augenmerk zu sein. Mein Vater freute sich darüber und gab meinem kindischen Bestreben stufenweise die zweckmäßigsten Beschäftigungen; meine Mutter dagegen liebte mich nicht und verhehlte es keinen Augenblick.

Ich wuchs heran, mit den Jahren vermehrte sich meine Tätigkeit und die Liebe meines Vaters zu mir. Wenn wir allein waren, auf die Felder gingen, wenn ich ihm die Rechnungen durchsehen half, dann konnte ich ihm recht anfühlen, wie glücklich er war. Wenn ich ihm in die Augen sah, so war es, als wenn ich in mich selbst hineinsähe, denn eben die Augen waren es, die mich ihm vollkommen ähnlich machten. Aber nicht ebenden Mut, nicht ebenden Ausdruck behielt er in der Gegenwart meiner Mutter; er entschuldigte mich gelind, wenn sie mich heftig und ungerecht tadelte; er nahm sich meiner an, nicht als wenn er mich beschützen, sondern als wenn er meine guten Eigenschaften nur entschuldigen könnte. So setzte er auch keiner von ihren Neigungen Hindernisse entgegen; sie fing an, mit größter Leidenschaft sich auf das Schauspiel zu werfen, ein Theater ward erbauet, an Männern fehlte es nicht von allen Altern und Gestalten, die sich mit ihr auf der Bühne darstellten, an Frauen hingegen mangelte es oft. Lydie, ein artiges Mädchen, das mit mir erzogen worden war und das gleich in ihrer ersten Jugend reizend zu werden versprach, mußte die zweiten Rollen übernehmen und eine alte Kammerfrau die Mütter und Tanten vorstellen, indes meine Mutter sich die ersten Liebhaberinnen, Heldinnen und Schäferinnen aller Art vorbehielt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie lächerlich mir es vorkam, wenn die Menschen, die ich alle recht gut kannte, sich verkleidet hatten, da droben standen und für etwas anders, als sie waren, gehalten sein wollten. Ich sah immer nur meine Mutter und Lydien, diesen Baron und jenen Sekretär, sie mochten nun als Fürsten und Grafen oder als Bauern erscheinen, und ich konnte nicht begreifen, wie sie mir zumuten wollten zu glauben, daß es ihnen wohl oder wehe sei, daß sie verliebt oder gleichgültig, geizig oder freigebig seien, da ich doch meist von dem Gegenteile genau unterrichtet war. Deswegen blieb ich auch sehr selten unter den Zuschauern; ich putzte ihnen immer die Lichter, damit ich nur etwas zu tun hatte, besorgte das Abendessen und hatte des andern Morgens, wenn sie noch lange schliefen, schon ihre Garderobe in Ordnung gebracht, die sie des Abends gewöhnlich übereinandergeworfen zurückließen.

Meiner Mutter schien diese Tätigkeit ganz recht zu sein, aber ihre Neigung konnte ich nicht erwerben; sie verachtete mich, und ich weiß noch recht gut, daß sie mehr als einmal mit Bitterkeit wiederholte: ›Wenn die Mutter so ungewiß sein könnte als der Vater, so würde man wohl schwerlich diese Magd für meine Tochter halten.‹ Ich leugnete nicht, daß ihr Betragen mich nach und nach ganz von ihr entfernte, ich betrachtete ihre Handlungen wie die Handlungen einer fremden Person, und da ich gewohnt war, wie ein Falke das Gesinde zu beobachten – denn, im Vorbeigehen gesagt, darauf beruht eigentlich der Grund aller Haushaltung – so fielen mir natürlich auch die Verhältnisse meiner Mutter und ihrer Gesellschaft auf. Es ließ sich wohl bemerken, daß sie nicht alle Männer mit ebendenselben Augen ansah, ich gab schärfer acht und bemerkte bald, daß Lydie Vertraute war und bei dieser Gelegenheit selbst mit einer Leidenschaft bekannter wurde, die sie von ihrer ersten Jugend an so oft vorgestellt hatte. Ich wußte alle ihre Zusammenkünfte, aber ich schwieg und sagte meinem Vater nichts, den ich zu betrüben fürchtete; endlich aber ward ich dazu genötigt. Manches konnten sie nicht unternehmen, ohne das Gesinde zu bestechen. Dieses fing an, mir zu trotzen, die Anordnungen meines Vaters zu vernachlässigen und meine Befehle nicht zu vollziehen; die Unordnungen, die daraus entstanden, waren mir unerträglich, ich entdeckte, ich klagte alles meinem Vater.

Er hörte mich gelassen an. ›Gutes Kind!‹ sagte er zuletzt mit Lächeln, ›ich weiß alles; sei ruhig, ertrag es mit Geduld, denn es ist nur um deinetwillen, daß ich es leide.‹

Ich war nicht ruhig, ich hatte keine Geduld. Ich schalt meinen Vater im stillen; denn ich glaubte nicht, daß er um irgendeiner Ursache willen so etwas zu dulden brauche; ich bestand auf der Ordnung, und ich war entschlossen, die Sache aufs Äußerste kommen zu lassen.

Meine Mutter war reich von sich, verzehrte aber doch mehr, als sie sollte, und dies gab, wie ich wohl merkte, manche Erklärung zwischen meinen Eltern. Lange war der Sache nicht geholfen, bis die Leidenschaften meiner Mutter selbst eine Art von Entwickelung hervorbrachten.

Der erste Liebhaber ward auf eine eklatante Weise ungetreu; das Haus, die Gegend, ihre Verhältnisse waren ihr zuwider. Sie wollte auf ein anderes Gut ziehen, da war es ihr zu einsam; sie wollte nach der Stadt, da galt sie nicht genug. Ich weiß nicht, was alles zwischen ihr und meinem Vater vorging; genug, er entschloß sich endlich unter Bedingungen, die ich nicht erfuhr, in eine Reise, die sie nach dem südlichen Frankreich tun wollte, einzuwilligen.

Wir waren nun frei und lebten wie im Himmel; ja ich glaube, daß mein Vater nichts verloren hat, wenn er ihre Gegenwart auch schon mit einer ansehnlichen Summe abkaufte. Alles unnütze Gesinde ward abgeschafft, und das Glück schien unsere Ordnung zu begünstigen; wir hatten einige sehr gute Jahre, alles gelang nach Wunsch. Aber leider dauerte dieser frohe Zustand nicht lange; ganz unvermutet ward mein Vater von einem Schlagflusse befallen, der ihm die rechte Seite lähmte und den reinen Gebrauch der Sprache benahm. Man mußte alles erraten, was er verlangte, denn er brachte nie das Wort hervor, das er im Sinne hatte. Sehr ängstlich waren mir daher manche Augenblicke, in denen er mit mir ausdrücklich allein sein wollte; er deutete mit heftiger Gebärde, daß jedermann sich entfernen sollte, und wenn wir uns allein sahen, war er nicht imstande, das rechte Wort hervorzubringen. Seine Ungeduld stieg aufs äußerste, und sein Zustand betrübte mich im innersten Herzen. Soviel schien mir gewiß, daß er mir etwas zu vertrauen hatte, das mich besonders anging. Welches Verlangen fühlt ich nicht, es zu erfahren! Sonst konnt ich ihm alles an den Augen ansehen; aber jetzt war es vergebens. Selbst seine Augen sprachen nicht mehr. Nur soviel war mir deutlich: er wollte nichts, er begehrte nichts, er strebte nur, mir etwas zu entdecken, das ich leider nicht erfuhr. Sein Übel wiederholte sich, er ward bald darauf ganz untätig und unfähig; und nicht lange, so war er tot.

Ich weiß nicht, wie sich bei mir der Gedanke festgesetzt hatte, daß er irgendwo einen Schatz niedergelegt habe, den er mir nach seinem Tode lieber als meiner Mutter gönnen wollte; ich suchte schon bei seinen Lebzeiten nach, allein ich fand nichts; nach seinem Tode ward alles versiegelt. Ich schrieb meiner Mutter und bot ihr an, als Verwalter im Hause zu bleiben; sie schlug es aus, und ich mußte das Gut räumen. Es kam ein wechselseitiges Testament zum Vorschein, wodurch sie im Besitz und Genuß von allem und ich, wenigstens ihre ganze Lebenszeit über, von ihr abhängig blieb. Nun glaubte ich erst recht die Winke meines Vaters zu verstehn; ich bedauerte ihn, daß er so schwach gewesen war, auch nach seinem Tode ungerecht gegen mich zu sein. Denn einige meiner Freunde wollten sogar behaupten, es sei beinah nicht besser, als ob er mich enterbt hätte, und verlangten, ich sollte das Testament angreifen, wozu ich mich aber nicht entschließen konnte. Ich verehrte das Andenken meines Vaters zu sehr; ich vertraute dem Schicksal, ich vertraute mir selbst.

Ich hatte mit einer Dame in der Nachbarschaft, die große Güter besaß, immer in gutem Verhältnisse gestanden; sie nahm mich mit Vergnügen auf, und es ward mir leicht, bald ihrer Haushaltung vorzustehn. Sie lebte sehr regelmäßig und liebte die Ordnung in allem, und ich half ihr treulich in dem Kampf mit Verwalter und Gesinde. Ich bin weder geizig noch mißgünstig, aber wir Weiber bestehn überhaupt viel ernsthafter als selbst ein Mann darauf, daß nichts verschleudert werde. Jeder Unterschleif ist uns unerträglich; wir wollen, daß jeder nur genieße, insofern er dazu berechtigt ist.

Nun war ich wieder in meinem Elemente und trauerte still über den Tod meines Vaters. Meine Beschützerin war mit mir zufrieden, nur ein kleiner Umstand störte meine Ruhe. Lydie kam zurück; meine Mutter war grausam genug, das arme Mädchen abzustoßen, nachdem sie aus dem Grunde verdorben war. Sie hatte bei meiner Mutter gelernt, Leidenschaften als Bestimmung anzusehen; sie war gewöhnt, sich in nichts zu mäßigen. Als sie unvermutet wieder erschien, nahm meine Wohltäterin auch sie auf; sie wollte mir an die Hand gehn und konnte sich in nichts schicken.

Um diese Zeit kamen die Verwandten und künftigen Erben meiner Dame oft ins Haus und belustigten sich mit der Jagd. Auch Lothario war manchmal mit ihnen; ich bemerkte gar bald, wie sehr er sich vor allen andern auszeichnete, jedoch ohne die mindeste Beziehung auf mich selbst. Er war gegen alle höflich, und bald schien Lydie seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich hatte immer zu tun und war selten bei der Gesellschaft; in seiner Gegenwart sprach ich weniger als gewöhnlich: denn ich will nicht leugnen, daß eine lebhafte Unterhaltung von jeher mir die Würze des Lebens war. Ich sprach mit meinem Vater gern viel über alles, was begegnete. Was man nicht bespricht, bedenkt man nicht recht. Keinem Menschen hatte ich jemals lieber zugehört als Lothario, wenn er von seinen Reisen, von seinen Feldzügen erzählte. Die Welt lag ihm so klar, so offen da wie mir die Gegend, in der ich gewirtschaftet hatte. Ich hörte nicht etwa die wunderlichen Schicksale des Abenteurers, die übertriebenen Halbwahrheiten eines beschränkten Reisenden, der immer nur seine Person an die Stelle des Landes setzt, wovon er uns ein Bild zu geben verspricht; er erzählte nicht, er führte uns an die Orte selbst; ich habe nicht leicht ein so reines Vergnügen empfunden.

Aber unaussprechlich war meine Zufriedenheit, als ich ihn eines Abends über die Frauen reden hörte. Das Gespräch machte sich ganz natürlich; einige Damen aus der Nachbarschaft hatten uns besucht und über die Bildung der Frauen die gewöhnlichen Gespräche geführt. Man sei ungerecht gegen unser Geschlecht, hieß es, die Männer wollten alle höhere Kultur für sich behalten, man wolle uns zu keinen Wissenschaften zulassen, man verlange, daß wir nur Tändelpuppen oder Haushälterinnen sein sollten. Lothario sprach wenig zu all diesem; als aber die Gesellschaft kleiner ward, sagte er auch hierüber offen seine Meinung. ›Es ist sonderbar‹, rief er aus, ›daß man es dem Manne verargt, der eine Frau an die höchste Stelle setzen will, die sie einzunehmen fähig ist: und welche ist höher als das Regiment des Hauses? Wenn der Mann sich mit äußern Verhältnissen quält, wenn er die Besitztümer herbeischaffen und beschützen muß, wenn er sogar an der Staatsverwaltung Anteil nimmt, überall von Umständen abhängt und, ich möchte sagen, nichts regiert, indem er zu regieren glaubt, immer nur politisch sein muß, wo er gern vernünftig wäre, versteckt, wo er offen, falsch, wo er redlich zu sein wünschte; wenn er um des Zieles willen, das er nie erreicht, das schönste Ziel, die Harmonie mit sich selbst, in jedem Augenblicke aufgeben muß; indessen herrscht eine vernünftige Hausfrau im Innern wirklich und macht einer ganzen Familie jede Tätigkeit, jede Zufriedenheit möglich. Was ist das höchste Glück des Menschen, als daß wir das ausführen, was wir als recht und gut einsehen? daß wir wirklich Herren über die Mittel zu unsern Zwecken sind? Und wo sollen, wo können unsere nächsten Zwecke liegen als innerhalb des Hauses? Alle immer wiederkehrenden, unentbehrlichen Bedürfnisse, wo erwarten wir, wo fordern wir sie als da, wo wir aufstehn und uns niederlegen, wo Küche und Keller und jede Art von Vorrat für uns und die Unsrigen immer bereit sein soll? Welche regelmäßige Tätigkeit wird erfordert, um diese immer wiederkehrende Ordnung in einer unverrückten, lebendigen Folge durchzuführen! Wie wenig Männern ist es gegeben, gleichsam als ein Gestirn regelmäßig wiederzukehren und dem Tage so wie der Nacht vorzustehn! sich ihre häuslichen Werkzeuge zu bilden, zu pflanzen und zu ernten, zu verwahren und auszuspenden und den Kreis immer mit Ruhe, Liebe und Zweckmäßigkeit zu durchwandeln! Hat ein Weib einmal diese innere Herrschaft ergriffen, so macht sie den Mann, den sie liebt, erst allein dadurch zum Herrn; ihre Aufmerksamkeit erwirbt alle Kenntnisse, und ihre Tätigkeit weiß sie alle zu benutzen. So ist sie von niemand abhängig und verschafft ihrem Manne die wahre Unabhängigkeit, die häusliche, die innere; das, was er besitzt, sieht er gesichert, das, was er erwirbt, gut benutzt, und so kann er sein Gemüt nach großen Gegenständen wenden und, wenn das Glück gut ist, das dem Staate sein, was seiner Gattin zu Hause so wohl ansteht.‹

Er machte darauf eine Beschreibung, wie er sich eine Frau wünsche. Ich ward rot, denn er beschrieb mich, wie ich leibte und lebte. Ich genoß im stillen meinen Triumph, um so mehr, da ich aus allen Umständen sah, daß er mich persönlich nicht gemeint hatte, daß er mich eigentlich nicht kannte. Ich erinnere mich keiner angenehmern Empfindung in meinem ganzen Leben, als daß ein Mann, den ich so sehr schätzte, nicht meiner Person, sondern meiner innersten Natur den Vorzug gab. Welche Belohnung fühlte ich! Welche Aufmunterung war mir geworden!

Als sie weg waren, sagte meine würdige Freundin lächelnd zu mir: ›Schade, daß die Männer oft denken und reden, was sie doch nicht zur Ausführung kommen lassen, sonst wäre eine treffliche Partie für meine liebe Therese geradezu gefunden.‹ Ich scherzte über ihre Äußerung und fügte hinzu, daß zwar der Verstand der Männer sich nach Haushälterinnen umsehe, daß aber ihr Herz und ihre Einbildungskraft sich nach andern Eigenschaften sehne und daß wir Haushälterinnen eigentlich gegen die liebenswürdigen und reizenden Mädchen keinen Wettstreit aushalten können. Diese Worte sagte ich Lydien zum Gehör: denn sie verbarg nicht, daß Lothario großen Eindruck auf sie gemacht habe, und auch er schien bei jedem neuen Besuche immer aufmerksamer auf sie zu werden. Sie war arm, sie war nicht von Stande, sie konnte an keine Heirat mit ihm denken; aber sie konnte der Wonne nicht widerstehen, zu reizen und gereizt zu werden. Ich hatte nie geliebt und liebte auch jetzt nicht; allein ob es mir schon unendlich angenehm war zu sehen, wohin meine Natur von einem so verehrten Manne gestellt und gerechnet werde, will ich doch nicht leugnen, daß ich damit nicht ganz zufrieden war. Ich wünschte nun auch, daß er mich kennen, daß er persönlich Anteil an mir nehmen möchte. Es entstand bei mir dieser Wunsch ohne irgendeinen bestimmten Gedanken, was daraus folgen könnte.

Der größte Dienst, den ich meiner Wohltäterin leistete, war, daß ich die schönen Waldungen ihrer Güter in Ordnung zu bringen suchte. In diesen köstlichen Besitzungen, deren großen Wert Zeit und Umstände immer vermehren, ging es leider nur immer nach dem alten Schlendrian fort, nirgends war Plan und Ordnung und des Stehlens und des Unterschleifs kein Ende. Manche Berge standen öde, und einen gleichen Wuchs hatten nur noch die ältesten Schläge. Ich beging alles selbst mit einem geschickten Forstmann, ich ließ die Waldungen messen, ich ließ schlagen, säen, pflanzen, und in kurzer Zeit war alles im Gange. Ich hatte mir, um leichter zu Pferde fortzukommen und auch zu Fuße nirgends gehindert zu sein, Mannskleider machen lassen, ich war an vielen Orten, und man fürchtete mich überall.

 

Ich hörte, daß die Gesellschaft junger Freunde mit Lothario wieder ein Jagen angestellt hatte; zum erstenmal in meinem Leben fiel mir’s ein zu scheinen oder, daß ich mir nicht unrecht tue, in den Augen des trefflichen Mannes für das zu gelten, was ich war. Ich zog meine Mannskleider an, nahm die Flinte auf den Rücken und ging mit unserm Jäger hinaus, um die Gesellschaft an der Grenze zu erwarten. Sie kam, Lothario kannte mich nicht gleich; einer von den Neffen meiner Wohltäterin stellte mich ihm als einen geschickten Forstmann vor, scherzte über meine Jugend und trieb sein Spiel zu meinem Lobe so lange, bis endlich Lothario mich erkannte. Der Neffe sekundierte meine Absicht, als wenn wir es abgeredet hätten. Umständlich erzählte er und dankbar, was ich für die Güter der Tante und also auch für ihn getan hatte.

Lothario hörte mit Aufmerksamkeit zu, unterhielt sich mit mir, fragte nach allen Verhältnissen der Güter und der Gegend, und ich war froh, meine Kenntnisse vor ihm ausbreiten zu können; ich bestand in meinem Examen sehr gut, ich legte ihm einige Vorschläge zu gewissen Verbesserungen zur Prüfung vor, er billigte sie, erzählte mir ähnliche Beispiele und verstärkte meine Gründe durch den Zusammenhang, den er ihnen gab. Meine Zufriedenheit wuchs mit jedem Augenblick. Aber glücklicherweise wollte ich nur gekannt, wollte nicht geliebt sein: denn – wir kamen nach Hause, und ich bemerkte mehr als sonst, daß die Aufmerksamkeit, die er Lydien bezeigte, eine heimliche Neigung zu verraten schien. Ich hatte meinen Endzweck erreicht und war doch nicht ruhig; er zeigte von dem Tage an eine wahre Achtung und ein schönes Vertrauen gegen mich, er redete mich in Gesellschaft gewöhnlich an, fragte mich um meine Meinung und schien besonders in Haushaltungssachen das Zutrauen zu mir zu haben, als wenn ich alles wisse. Seine Teilnahme munterte mich außerordentlich auf; sogar wenn von allgemeiner Landesökonomie und von Finanzen die Rede war, zog er mich ins Gespräch, und ich suchte in seiner Abwesenheit mehr Kenntnisse von der Provinz, ja von dem ganzen Lande zu erlangen. Es ward mir leicht, denn es wiederholte sich nur im großen, was ich im kleinen so genau wußte und kannte.

Er kam von dieser Zeit an öfter in unser Haus. Es ward, ich kann wohl sagen, von allem gesprochen, aber gewissermaßen ward unser Gespräch zuletzt immer ökonomisch, wenn auch nur im uneigentlichen Sinne. Was der Mensch durch konsequente Anwendung seiner Kräfte, seiner Zeit, seines Geldes, selbst durch gering scheinende Mittel für ungeheure Wirkungen hervorbringen könne, darüber ward viel gesprochen.

Ich widerstand der Neigung nicht, die mich zu ihm zog, und ich fühlte leider nur zu bald, wie sehr, wie herzlich, wie rein und aufrichtig meine Liebe war, da ich immer mehr zu bemerken glaubte, daß seine öftern Besuche Lydien und nicht mir galten. Sie wenigstens war auf das lebhafteste davon überzeugt; sie machte mich zu ihrer Vertrauten, und dadurch fand ich mich noch einigermaßen getröstet. Das, was sie so sehr zu ihrem Vorteil auslegte, fand ich keinesweges bedeutend; von der Absicht einer ernsthaften, dauernden Verbindung zeigte sich keine Spur, um so deutlicher sah ich den Hang des leidenschaftlichen Mädchens, um jeden Preis die Seinige zu werden.

So standen die Sachen, als mich die Frau vom Hause mit einem unvermuteten Antrag überraschte. ›Lothario‹, sagte sie, ›bietet Ihnen seine Hand an und wünscht Sie in seinem Leben immer zur Seite zu haben.‹ Sie verbreitete sich über meine Eigenschaften und sagte mir, was ich so gerne anhörte: daß Lothario überzeugt sei, in mir die Person gefunden zu haben, die er so lange gewünscht hatte.

Das höchste Glück war nun für mich erreicht: ein Mann verlangte mich, den ich so sehr schätzte, bei dem und mit dem ich eine völlige, freie, ausgebreitete, nützliche Wirkung meiner angebornen Neigung, meines durch Übung erworbenen Talents vor mir sah; die Summe meines ganzen Daseins schien sich ins Unendliche vermehrt zu haben. Ich gab meine Einwilligung, er kam selbst, er sprach mit mir allein, er reichte mir seine Hand, er sah mir in die Augen, er umarmte mich und drückte einen Kuß auf meine Lippen. Es war der erste und letzte. Er vertraute mir seine ganze Lage, was ihn sein amerikanischer Feldzug gekostet, welche Schulden er auf seine Güter geladen, wie er sich mit seinem Großoheim einigermaßen darüber entzweit habe, wie dieser würdige Mann für ihn zu sorgen denke, aber freilich auf seine eigene Art: er wolle ihm eine reiche Frau geben, da einem wohldenkenden Manne doch nur mit einer haushältischen gedient sei; er hoffe durch seine Schwester den Alten zu bereden. Er legte mir den Zustand seines Vermögens, seine Plane, seine Aussichten vor und erbat sich meine Mitwirkung. Nur bis zur Einwilligung seines Oheims sollte es ein Geheimnis bleiben.

Kaum hatte er sich entfernt, so fragte mich Lydie, ob er etwa von ihr gesprochen habe. Ich sagte nein und machte ihr Langeweile mit Erzählung von ökonomischen Gegenständen. Sie war unruhig, mißlaunig, und sein Betragen, als er wiederkam, verbesserte ihren Zustand nicht.

Doch ich sehe, daß die Sonne sich zu ihrem Untergange neigt! Es ist Ihr Glück, mein Freund, Sie hätten sonst die Geschichte, die ich mir so gerne selbst erzähle, mit allen ihren kleinen Umständen durchhören müssen. Lassen Sie mich eilen, wir nahen einer Epoche, bei der nicht gut zu verweilen ist.

Lothario machte mich mit seiner trefflichen Schwester bekannt, und diese wußte mich auf eine schickliche Weise beim Oheim einzuführen; ich gewann den Alten, er willigte in unsre Wünsche, und ich kehrte mit einer glücklichen Nachricht zu meiner Wohltäterin zurück. Die Sache war im Hause nun kein Geheimnis mehr, Lydie erfuhr sie, sie glaubte etwas Unmögliches zu vernehmen. Als sie endlich daran nicht mehr zweifeln konnte, verschwand sie auf einmal, und man wußte nicht, wohin sie sich verloren hatte.

Der Tag unserer Verbindung nahte heran; ich hatte ihn schon oft um sein Bildnis gebeten, und ich erinnerte ihn, eben als er wegreiten wollte, nochmals an sein Versprechen. ›Sie haben vergessen‹, sagte er, ›mir das Gehäuse zu geben, wohinein Sie es gepaßt wünschen.‹ Es war so: ich hatte ein Geschenk von einer Freundin, das ich sehr wert hielt. Von ihren Haaren war ein verzogener Name unter dem äußern Glase befestigt, inwendig blieb ein leeres Elfenbein, worauf eben ihr Bild gemalt werden sollte, als sie mir unglücklicherweise durch den Tod entrissen wurde. Lotharios Neigung beglückte mich in dem Augenblicke, da ihr Verlust mir noch sehr schmerzhaft war, und ich wünschte die Lücke, die sie mir in ihrem Geschenk zurückgelassen hatte, durch das Bild meines Freundes auszufüllen.

Ich eile nach meinem Zimmer, hole mein Schmuckkästchen und eröffne es in seiner Gegenwart; kaum sieht er hinein, so erblickt er ein Medaillon mit dem Bilde eines Frauenzimmers, er nimmt es in die Hand, betrachtet es mit Aufmerksamkeit und fragt hastig: ›Wen soll dies Porträt vorstellen?‹ – ›Meine Mutter‹, versetzte ich. ›Hätt ich doch geschworen‹, rief er aus, ›es sei das Porträt einer Frau von Saint-Alban, die ich vor einigen Jahren in der Schweiz antraf.‹ – ›Es ist einerlei Person‹, versetzte ich lächelnd, ›und Sie haben also Ihre Schwiegermutter, ohne es zu wissen, kennengelernt. Saint-Alban ist der romantische Name, unter dem meine Mutter reist; sie befindet sich unter demselben noch gegenwärtig in Frankreich.‹

›Ich bin der unglücklichste aller Menschen!‹ rief er aus, indem er das Bild in das Kästchen zurückwarf, seine Augen mit der Hand bedeckte und sogleich das Zimmer verließ. Er warf sich auf sein Pferd, ich lief auf den Balkon und rief ihm nach; er kehrte sich um, warf mir eine Hand zu; entfernte sich eilig – und ich habe ihn nicht wieder gesehen.«

Die Sonne ging unter, Therese sah mit unverwandtem Blicke in die Glut, und ihre beiden schönen Augen füllten sich mit Tränen.

Therese schwieg und legte auf ihres neuen Freundes Hände ihre Hand; er küßte sie mit Teilnehmung, sie trocknete ihre Tränen und stand auf. »Lassen Sie uns zurückgehen«, sagte sie, »und für die Unsrigen sorgen!«

Das Gespräch auf dem Wege war nicht lebhaft; sie kamen zur Gartentüre herein und sahen Lydien auf einer Bank sitzen; sie stand auf, wich ihnen aus und begab sich ins Haus zurück; sie hatte ein Papier in der Hand, und zwei kleine Mädchen waren bei ihr. »Ich sehe«, sagte Therese, »sie trägt ihren einzigen Trost, den Brief Lotharios, noch immer bei sich. Ihr Freund verspricht ihr, daß sie gleich, sobald er sich wohl befindet, wieder an seiner Seite leben soll; er bittet sie, so lange ruhig bei mir zu verweilen. An diesen Worten hängt sie, mit diesen Zeilen tröstet sie sich, aber seine Freunde sind übel bei ihr angeschrieben.«

Indessen waren die beiden Kinder herangekommen, begrüßten Theresen und gaben ihr Rechenschaft von allem, was in ihrer Abwesenheit im Hause vorgegangen war. »Sie sehen hier noch einen Teil meiner Beschäftigung«, sagte Therese. »Ich habe mit Lotharios trefflicher Schwester einen Bund gemacht; wir erziehen eine Anzahl Kinder gemeinschaftlich: ich bilde die lebhaften und dienstfertigen Haushälterinnen, und sie übernimmt diejenigen, an denen sich ein ruhigeres und feineres Talent zeigt; denn es ist billig, daß man auf jede Weise für das Glück der Männer und der Haushaltung sorge. Wenn Sie meine edle Freundin kennenlernen, so werden Sie ein neues Leben anfangen: ihre Schönheit, ihre Güte macht sie der Anbetung einer ganzen Welt würdig.« Wilhelm getraute sich nicht zu sagen, daß er leider die schöne Gräfin schon kenne und daß ihn sein vorübergehendes Verhältnis zu ihr auf ewig schmerzen werde: er war sehr zufrieden, daß Therese das Gespräch nicht fortsetzte und daß ihre Geschäfte sie in das Haus zurückzugehen nötigten. Er befand sich nun allein, und die letzte Nachricht, daß die junge, schöne Gräfin auch schon genötigt sei, durch Wohltätigkeit den Mangel an eignem Glück zu ersetzen, machte ihn äußerst traurig; er fühlte, daß es bei ihr nur eine Notwendigkeit war, sich zu zerstreuen und an die Stelle eines frohen Lebensgenusses die Hoffnung fremder Glückseligkeit zu setzen. Er pries Theresen glücklich, daß selbst bei jener unerwarteten traurigen Veränderung keine Veränderung in ihr selbst vorzugehen brauchte. »Wie glücklich ist der über alles«, rief er aus, »der, um sich mit dem Schicksal in Einigkeit zu setzen, nicht sein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwerfen braucht!«

Therese kam auf sein Zimmer und bat um Verzeihung, daß sie ihn störe. »Hier in dem Wandschrank«, sagte sie, »steht meine ganze Bibliothek; es sind eher Bücher, die ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Lydie verlangt ein geistliches Buch, es findet sich wohl auch eins und das andere darunter. Die Menschen, die das ganze Jahr weltlich sind, bilden sich ein, sie müßten zur Zeit der Not geistlich sein; sie sehen alles Gute und Sittliche wie eine Arzenei an, die man mit Widerwillen zu sich nimmt, wenn man sich schlecht befindet; sie sehen in einem Geistlichen, einem Sittenlehrer nur einen Arzt, den man nicht geschwind genug aus dem Hause loswerden kann: ich aber gestehe gern, ich habe vom Sittlichen den Begriff als von einer Diät, die eben dadurch nur Diät ist, wenn ich sie zur Lebensregel mache, wenn ich sie das ganze Jahr nicht außer Augen lasse.«

Sie suchten unter den Büchern und fanden einige sogenannte Erbauungsschriften. »Die Zuflucht zu diesen Büchern«, sagte Therese, »hat Lydie von meiner Mutter gelernt: Schauspiele und Romane waren ihr Leben, solange der Liebhaber treu blieb; seine Entfernung brachte sogleich diese Bücher wieder in Kredit. Ich kann überhaupt nicht begreifen«, fuhr sie fort, »wie man hat glauben können, daß Gott durch Bücher und Geschichten zu uns spreche. Wem die Welt nicht unmittelbar eröffnet, was sie für ein Verhältnis zu ihm hat, wem sein Herz nicht sagt, was er sich und andern schuldig ist, der wird es wohl schwerlich aus Büchern erfahren, die eigentlich nur geschickt sind, unsern Irrtümern Namen zu geben.«

Sie ließ Wilhelmen allein, und er brachte seinen Abend mit Revision der kleinen Bibliothek zu; sie war wirklich bloß durch Zufall zusammengekommen.

Therese blieb die wenigen Tage, die Wilhelm bei ihr verweilte, sich immer gleich; sie erzählte ihm die Folgen ihrer Begebenheit in verschiedenen Absätzen sehr umständlich. Ihrem Gedächtnis war Tag und Stunde, Platz und Name gegenwärtig, und wir ziehen, was unsern Lesern zu wissen nötig ist, hier ins Kurze zusammen.

Die Ursache von Lotharios rascher Entfernung ließ sich leider leicht erklären: er war Theresens Mutter auf ihrer Reise begegnet, ihre Reize zogen ihn an, sie war nicht karg gegen ihn, und nun entfernte ihn dieses unglückliche, schnell vorübergegangene Abenteuer von der Verbindung mit einem Frauenzimmer, das die Natur selbst für ihn gebildet zu haben schien. Therese blieb in dem reinen Kreise ihrer Beschäftigung und ihrer Pflicht. Man erfuhr, daß Lydie sich heimlich in der Nachbarschaft aufgehalten habe. Sie war glücklich, als die Heirat, obgleich aus unbekannten Ursachen, nicht vollzogen wurde; sie suchte sich Lothario zu nähern, und es schien, daß er mehr aus Verzweiflung als aus Neigung, mehr überrascht als mit Überlegung, mehr aus Langerweile als aus Vorsatz ihren Wünschen begegnet sei.

Therese war ruhig darüber, sie machte keine weitern Ansprüche auf ihn, und selbst wenn er ihr Gatte gewesen wäre, hätte sie vielleicht Mut genug gehabt, ein solches Verhältnis zu ertragen, wenn es nur ihre häusliche Ordnung nicht gestört hätte; wenigstens äußerte sie oft, daß eine Frau, die das Hauswesen recht zusammenhalte, ihrem Manne jede kleine Phantasie nachsehen und von seiner Rückkehr jederzeit gewiß sein könne.

Theresens Mutter hatte bald die Angelegenheiten ihres Vermögens in Unordnung gebracht; ihre Tochter mußte es entgelten, denn sie erhielt wenig von ihr; die alte Dame, Theresens Beschützerin, starb, hinterließ ihr das kleine Freigut und ein artiges Kapital zum Vermächtnis. Therese wußte sich sogleich in den engen Kreis zu finden, Lothario bot ihr ein besseres Besitztum an, Jarno machte den Unterhändler, sie schlug es aus. »Ich will«, sagte sie, »im kleinen zeigen, daß ich wert war, das Große mit ihm zu teilen; aber das behalte ich mir vor, daß, wenn der Zufall mich um meiner oder anderer willen in Verlegenheit setzt, ich zuerst zu meinem werten Freund ohne Bedenken die Zuflucht nehmen könne.«

Nichts bleibt weniger verborgen und ungenutzt als zweckmäßige Tätigkeit. Kaum hatte sie sich auf ihrem kleinen Gute eingerichtet, so suchten die Nachbarn schon ihre nähere Bekanntschaft und ihren Rat, und der neue Besitzer der angrenzenden Güter gab nicht undeutlich zu verstehen, daß es nur auf sie ankomme, ob sie seine Hand annehmen und Erbe des größten Teils seines Vermögens werden wolle. Sie hatte schon gegen Wilhelmen dieses Verhältnisses erwähnt und scherzte gelegentlich über Heiraten und Mißheiraten mit ihm.

»Es gibt«, sagte sie, »den Menschen nichts mehr zu reden, als wenn einmal eine Heirat geschieht, die sie nach ihrer Art eine Mißheirat nennen können, und doch sind die Mißheiraten viel gewöhnlicher als die Heiraten, denn es sieht leider nach einer kurzen Zeit mit den meisten Verbindungen gar mißlich aus. Die Vermischung der Stände durch Heiraten verdienen nur insofern Mißheiraten genannt zu werden, als der eine Teil an der angebornen, angewohnten und gleichsam notwendig gewordenen Existenz des andern keinen Teil nehmen kann. Die verschiedenen Klassen haben verschiedene Lebensweisen, die sie nicht miteinander teilen noch verwechseln können, und das ist’s, warum Verbindungen dieser Art besser nicht geschlossen werden; aber Ausnahmen und recht glückliche Ausnahmen sind möglich. So ist die Heirat eines jungen Mädchens mit einem bejahrten Manne immer mißlich, und doch habe ich sie recht gut ausschlagen sehen. Für mich kenne ich nur eine Mißheirat, wenn ich feiern und repräsentieren müßte; ich wollte lieber jedem ehrbaren Pächterssohn aus der Nachbarschaft meine Hand geben.«

Wilhelm gedachte nunmehr zurückzukehren und bat seine neue Freundin, ihm noch ein Abschiedswort bei Lydien zu verschaffen. Das leidenschaftliche Mädchen ließ sich bewegen, er sagte ihr einige freundliche Worte, sie versetzte: »Den ersten Schmerz hab ich überwunden, Lothario wird mir ewig teuer sein; aber seine Freunde kenne ich, es ist mir leid, daß er so umgeben ist. Der Abbé wäre fähig, wegen einer Grille die Menschen in Not zu lassen oder sie gar hineinzustürzen; der Arzt möchte gern alles ins gleiche bringen; Jarno hat kein Gemüt und Sie – wenigstens keinen Charakter! Fahren Sie nur so fort, und lassen Sie sich als Werkzeug dieser drei Menschen brauchen, man wird Ihnen noch manche Exekution auftragen. Lange, mir ist es recht wohl bekannt, war ihnen meine Gegenwart zuwider; ich hatte ihr Geheimnis nicht entdeckt, aber ich hatte beobachtet, daß sie ein Geheimnis verbargen. Wozu diese verschlossenen Zimmer? diese wunderlichen Gänge? Warum kann niemand zu dem großen Turm gelangen? Warum verbannten sie mich, sooft sie nur konnten, in meine Stube? Ich will gestehen, daß Eifersucht zuerst mich auf diese Entdeckung brachte, ich fürchtete, eine glückliche Nebenbuhlerin sei irgendwo versteckt. Nun glaube ich das nicht mehr, ich bin überzeugt, daß Lothario mich liebt, daß er es redlich mit mir meint, aber ebenso gewiß bin ich überzeugt, daß er von seinen künstlichen und falschen Freunden betrogen wird. Wenn Sie sich um ihn verdient machen wollen, wenn Ihnen verziehen werden soll, was Sie an mir verbrochen haben, so befreien Sie ihn aus den Händen dieser Menschen. Doch was hoffe ich! Überreichen Sie ihm diesen Brief, wiederholen Sie, was er enthält: daß ich ihn ewig lieben werde, daß ich mich auf sein Wort verlasse. Ach!« rief sie aus, indem sie aufstand und am Halse Theresens weinte, »er ist von meinen Feinden umgeben, sie werden ihn zu bereden suchen, daß ich ihm nichts aufgeopfert habe; oh! der beste Mann mag gerne hören, daß er jedes Opfer wert ist, ohne dafür dankbar sein zu dürfen.«

Wilhelms Abschied von Theresen war heiterer; sie wünschte ihn bald wiederzusehen. »Sie kennen mich ganz!« sagte sie, »Sie haben mich immer reden lassen; es ist das nächste Mal Ihre Pflicht, meine Aufrichtigkeit zu erwidern.«

Auf seiner Rückreise hatte er Zeit genug, diese neue, helle Erscheinung lebhaft in der Erinnerung zu betrachten. Welch ein Zutrauen hatte sie ihm eingeflößt! Er dachte an Mignon und Felix, wie glücklich die Kinder unter einer solchen Aufsicht werden könnten; dann dachte er an sich selbst und fühlte, welche Wonne es sein müsse, in der Nähe eines so ganz klaren menschlichen Wesens zu leben. Als er sich dem Schloß näherte, fiel ihm der Turm mit den vielen Gängen und Seitengebäuden mehr als sonst auf; er nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit Jarno oder den Abbé darüber zur Rede zu stellen.

Siebentes Kapitel

Als Wilhelm nach dem Schlosse kam, fand er den edlen Lothario auf dem Wege der völligen Besserung; der Arzt und der Abbé waren nicht zugegen, Jarno allein war geblieben. In kurzer Zeit ritt der Genesende schon wieder aus, bald allein, bald mit seinen Freunden. Sein Gespräch war ernsthaft und gefällig, seine Unterhaltung belehrend und erquickend; oft bemerkte man Spuren einer zarten Fühlbarkeit, ob er sie gleich zu verbergen suchte und, wenn sie sich wider seinen Willen zeigte, beinah zu mißbilligen schien.

So war er eines Abends still bei Tische, ob er gleich heiter aussah.

»Sie haben heute gewiß ein Abenteuer gehabt«, sagte endlich Jarno, »und zwar ein angenehmes.«

»Wie Sie sich auf Ihre Leute verstehen!« versetzte Lothario. »Ja, es ist mir ein sehr angenehmes Abenteuer begegnet. Zu einer andern Zeit hätte ich es vielleicht nicht so reizend gefunden als diesmal, da es mich so empfänglich antraf. Ich ritt gegen Abend jenseit des Wassers durch die Dörfer, einen Weg, den ich oft genug in frühern Jahren besucht hatte. Mein körperliches Leiden muß mich mürber gemacht haben, als ich selbst glaubte: ich fühlte mich weich und bei wieder auflebenden Kräften wie neugeboren. Alle Gegenstände erschienen mir in ebendem Lichte, wie ich sie in frühern Jahren gesehen hatte, alle so lieblich, so anmutig, so reizend, wie sie mir lange nicht erschienen sind. Ich merkte wohl, daß es Schwachheit war; ich ließ mir sie aber ganz wohl gefallen, ritt sachte hin, und es wurde mir ganz begreiflich, wie Menschen eine Krankheit liebgewinnen können, welche uns zu süßen Empfindungen stimmt. Sie wissen vielleicht, was mich ehemals so oft diesen Weg führte?«

»Wenn ich mich recht erinnere«, versetzte Jarno, »so war es ein kleiner Liebeshandel, der sich mit der Tochter eines Pachters entsponnen hatte.«

»Man dürfte es wohl einen großen nennen«, versetzte Lothario; »denn wir hatten uns beide sehr lieb, recht im Ernste, und auch ziemlich lange. Zufälligerweise traf heute alles zusammen, mir die ersten Zeiten unserer Liebe recht lebhaft darzustellen. Die Knaben schüttelten eben wieder Maikäfer von den Bäumen, und das Laub der Eschen war eben nicht weiter als an dem Tage, als ich sie zum erstenmal sah. Nun war es lange, daß ich Margareten nicht gesehen habe, denn sie ist weit weg verheiratet, nun hörte ich zufällig, sie sei mit ihren Kindern vor wenigen Wochen gekommen, ihren Vater zu besuchen.«

»So war ja wohl dieser Spazierritt nicht so ganz zufällig?«

»Ich leugne nicht«, sagte Lothario, »daß ich sie anzutreffen wünschte. Als ich nicht weit von dem Wohnhaus war, sah ich ihren Vater vor der Türe sitzen; ein Kind von ungefähr einem Jahre stand bei ihm. Als ich mich näherte, sah eine Frauensperson schnell oben zum Fenster heraus, und als ich gegen die Türe kam, hörte ich jemand die Treppe herunterspringen. Ich dachte gewiß, sie sei es, und, ich will’s nur gestehen, ich schmeichelte mir, sie habe mich erkannt und sie komme mir eilig entgegen. Aber wie beschämt war ich, als sie zur Türe heraussprang, das Kind, dem die Pferde näher kamen, anfaßte und in das Haus hineintrug. Es war mir eine unangenehme Empfindung, und nur wurde meine Eitelkeit ein wenig getröstet, als ich, wie sie hinwegeilte, an ihrem Nacken und an dem freistehenden Ohr eine merkliche Röte zu sehen glaubte.

Ich hielt still und sprach mit dem Vater und schielte indessen an den Fenstern herum, ob sie sich nicht hier oder da blicken ließe; allein ich bemerkte keine Spur von ihr. Fragen wollt ich auch nicht, und so ritt ich vorbei. Mein Verdruß wurde durch Verwunderung einigermaßen gemildert: denn ob ich gleich kaum das Gesicht gesehen hatte, so schien sie mir fast gar nicht verändert, und zehn Jahre sind doch eine Zeit! ja sie schien mir jünger, ebenso schlank, ebenso leicht auf den Füßen, der Hals womöglich noch zierlicher als vorher, ihre Wange ebenso leicht der liebenswürdigen Röte empfänglich, dabei Mutter von sechs Kindern, vielleicht noch von mehrern. Es paßte diese Erscheinung so gut in die übrige Zauberwelt, die mich umgab, daß ich um so mehr mit einem verjüngten Gefühl weiterritt und an dem nächsten Walde erst umkehrte, als die Sonne im Untergehen war. Sosehr mich auch der fallende Tau an die Vorschrift des Arztes erinnerte und es wohl rätlicher gewesen wäre, gerade nach Hause zu kehren, so nahm ich doch wieder meinen Weg nach der Seite des Pachthofs zurück. Ich bemerkte, daß ein weibliches Geschöpf in dem Garten auf und nieder ging, der mit einer leichten Hecke umzogen ist. Ich ritt auf dem Fußpfade nach der Hecke zu, und ich fand mich eben nicht weit von der Person, nach der ich verlangte.

Ob mir gleich die Abendsonne in den Augen lag, sah ich doch, daß sie sich am Zaune beschäftigte, der sie nur leicht bedeckte. Ich glaubte meine alte Geliebte zu erkennen. Da ich an sie kam, hielt ich still, nicht ohne Regung des Herzens. Einige hohe Zweige wilder Rosen, die eine leise Luft hin und her wehte, machten mir ihre Gestalt undeutlich. Ich redete sie an und fragte, wie sie lebe. Sie antwortete mir mit halber Stimme: ›Ganz wohl‹. Indes bemerkte ich, daß ein Kind hinter dem Zaune beschäftigt war, Blumen auszureißen, und nahm die Gelegenheit, sie zu fragen, wo denn ihre übrigen Kinder seien. ›Es ist nicht mein Kind‹, sagte sie, ›das wäre früh!‹ und in diesem Augenblick schickte sich’s, daß ich durch die Zweige ihr Gesicht genau sehen konnte, und ich wußte nicht, was ich zu der Erscheinung sagen sollte. Es war meine Geliebte und war es nicht. Fast jünger, fast schöner, als ich sie vor zehen Jahren gekannt hatte. ›Sind Sie denn nicht die Tochter des Pachters?‹ fragte ich halb verwirrt. ›Nein‹, sagte sie, ›ich bin ihre Muhme.‹

›Aber Sie gleichen einander so außerordentlich‹, versetzte ich.

›Das sagt jedermann, der sie vor zehen Jahren gekannt hat.‹

Ich fuhr fort, sie verschiedenes zu fragen; mein Irrtum war mir angenehm, ob ich ihn gleich schon entdeckt hatte. Ich konnte mich von dem lebendigen Bilde voriger Glückseligkeit, das vor mir stand, nicht losreißen. Das Kind hatte sich indessen von ihr entfernt und war, Blumen zu suchen, nach dem Teiche gegangen. Sie nahm Abschied und eilte dem Kinde nach.

Indessen hatte ich doch erfahren, daß meine alte Geliebte noch wirklich in dem Hause ihres Vaters sei, und indem ich ritt, beschäftigte ich mich mit Mutmaßungen, ob sie selbst oder die Muhme das Kind vor den Pferden gesichert habe. Ich wiederholte mir die ganze Geschichte mehrmals im Sinne, und ich wüßte nicht leicht, daß irgend etwas angenehmer auf mich gewirkt hätte. Aber ich fühle wohl, ich bin noch krank, und wir wollen den Doktor bitten, daß er uns von dem Überreste dieser Stimmung erlöse.«

Es pflegt in vertraulichen Bekenntnissen anmutiger Liebesbegebenheiten wie mit Gespenstergeschichten zu gehen: ist nur erst eine erzählt, so fließen die übrigen von selbst zu.

Unsere kleine Gesellschaft fand in der Rückerinnerung vergangener Zeiten manchen Stoff dieser Art. Lothario hatte am meisten zu erzählen. Jarnos Geschichten trugen alle einen eigenen Charakter, und was Wilhelm zu gestehen hatte, wissen wir schon. Indessen war ihm bange, daß man ihn an die Geschichte mit der Gräfin erinnern möchte; allein niemand dachte derselben auch nur auf die entfernteste Weise.

»Es ist wahr«, sagte Lothario, »angenehmer kann keine Empfindung in der Welt sein, als wenn das Herz nach einer gleichgültigen Pause sich der Liebe zu einem neuen Gegenstande wieder öffnet, und doch wollt ich diesem Glück für mein Leben entsagt haben, wenn mich das Schicksal mit Theresen hätte verbinden wollen. Man ist nicht immer Jüngling, und man sollte nicht immer Kind sein. Dem Manne, der die Welt kennt, der weiß, was er darin zu tun, was er von ihr zu hoffen hat, was kann ihm erwünschter sein, als eine Gattin zu finden, die überall mit ihm wirkt und die ihm alles vorzubereiten weiß, deren Tätigkeit dasjenige aufnimmt, was die seinige liegenlassen muß, deren Geschäftigkeit sich nach allen Seiten verbreitet, wenn die seinige nur einen geraden Weg fortgehen darf. Welchen Himmel hatte ich mir mit Theresen geträumt! nicht den Himmel eines schwärmerischen Glücks, sondern eines sichern Lebens auf der Erde: Ordnung im Glück, Mut im Unglück, Sorge für das Geringste, und eine Seele, fähig, das Größte zu fassen und wieder fahrenzulassen. Oh! ich sah in ihr gar wohl die Anlagen, deren Entwickelung wir bewundern, wenn wir in der Geschichte Frauen sehen, die uns weit vorzüglicher als alle Männer erscheinen: diese Klarheit über die Umstände, diese Gewandtheit in allen Fällen, diese Sicherheit im einzelnen, wodurch das Ganze sich immer so gut befindet, ohne daß sie jemals daran zu denken scheinen. Sie können wohl«, fuhr er fort, indem er sich lächelnd gegen Wilhelmen wendete, »mir verzeihen, wenn Therese mich Aurelien entführte: mit jener konnte ich ein heitres Leben hoffen, da bei dieser auch nicht an eine glückliche Stunde zu denken war.«

»Ich leugne nicht«, versetzte Wilhelm, »daß ich mit großer Bitterkeit im Herzen gegen Sie hierhergekommen bin und daß ich mir vorgenommen hatte, Ihr Betragen gegen Aurelien sehr streng zu tadeln.«

»Auch verdient es Tadel«, sagte Lothario; »ich hätte meine Freundschaft zu ihr nicht mit dem Gefühl der Liebe verwechseln sollen, ich hätte nicht an die Stelle der Achtung, die sie verdiente, eine Neigung eindrängen sollen, die sie weder erregen noch erhalten konnte. Ach! sie war nicht liebenswürdig, wenn sie liebte, und das ist das größte Unglück, das einem Weibe begegnen kann.«

»Es sei drum«, erwiderte Wilhelm, »wir können nicht immer das Tadelnswerte vermeiden, nicht vermeiden, daß unsere Gesinnungen und Handlungen auf eine sonderbare Weise von ihrer natürlichen und guten Richtung abgelenkt werden; aber gewisse Pflichten sollten wir niemals aus den Augen setzen. Die Asche der Freundin ruhe sanft; wir wollen, ohne uns zu schelten und sie zu tadeln, mitleidig Blumen auf ihr Grab streuen. Aber bei dem Grabe, in welchem die unglückliche Mutter ruht, lassen Sie mich fragen, warum Sie sich des Kindes nicht annehmen? eines Sohnes, dessen sich jedermann erfreuen würde und den Sie ganz und gar zu vernachlässigen scheinen. Wie können Sie bei Ihren reinen und zarten Gefühlen das Herz eines Vaters gänzlich verleugnen? Sie haben diese ganze Zeit noch mit keiner Silbe an das köstliche Geschöpf gedacht, von dessen Anmut so viel zu erzählen wäre.«

»Von wem reden Sie?« versetzte Lothario, »ich verstehe Sie nicht.«

»Von wem anders als von Ihrem Sohne, dem Sohne Aureliens, dem schönen Kinde, dem zu seinem Glücke nichts fehlt, als daß ein zärtlicher Vater sich seiner annimmt?«

»Sie irren sehr, mein Freund«, rief Lothario; »Aurelie hatte keinen Sohn, am wenigsten von mir, ich weiß von keinem Kinde, sonst würde ich mich dessen mit Freuden annehmen; aber auch im gegenwärtigen Falle will ich gern das kleine Geschöpf als eine Verlassenschaft von ihr ansehen und für seine Erziehung sorgen. Hat sie sich denn irgend etwas merken lassen, daß der Knabe ihr, daß er mir zugehöre?«

»Nicht daß ich mich erinnere, ein ausdrückliches Wort von ihr gehört zu haben, es war aber einmal so angenommen, und ich habe nicht einen Augenblick daran gezweifelt.«

»Ich kann«, fiel Jarno ein, »einigen Aufschluß hierüber geben. Ein altes Weib, das Sie oft müssen gesehen haben, brachte das Kind zu Aurelien, sie nahm es mit Leidenschaft auf und hoffte ihre Leiden durch seine Gegenwart zu lindern: auch hat es ihr manchen vergnügten Augenblick gemacht.«

Wilhelm war durch diese Entdeckung sehr unruhig geworden, er gedachte der guten Mignon neben dem schönen Felix auf das lebhafteste, er zeigte seinen Wunsch, die beiden Kinder aus der Lage, in der sie sich befanden, herauszuziehen.

»Wir wollen damit bald fertig sein«, versetzte Lothario. »Das wunderliche Mädchen übergeben wir Theresen, sie kann unmöglich in bessere Hände geraten, und was den Knaben betrifft, den, dächt ich, nähmen Sie selbst zu sich: denn was sogar die Frauen an uns ungebildet zurücklassen, das bilden die Kinder aus, wenn wir uns mit ihnen abgeben.«

»Überhaupt dächte ich«, versetzte Jarno, »Sie entsagten kurz und gut dem Theater, zu dem Sie doch einmal kein Talent haben.«

Wilhelm war betroffen; er mußte sich zusammennehmen, denn Jarnos harte Worte hatten seine Eigenliebe nicht wenig verletzt. »Wenn Sie mich davon überzeugen«, versetzte er mit gezwungenem Lächeln, »so werden Sie mir einen Dienst erweisen, ob es gleich nur ein trauriger Dienst ist, wenn man uns aus einem Lieblingstraume aufschüttelt.«

»Ohne viel weiter darüber zu reden«, versetzte Jarno, »möchte ich Sie nur antreiben, erst die Kinder zu holen; das übrige wird sich schon geben.«

»Ich bin bereit dazu«, versetzte Wilhelm, »ich bin unruhig und neugierig, ob ich nicht von dem Schicksal des Knaben etwas Näheres entdecken kann; ich verlange das Mädchen wiederzusehen, das sich mit so vieler Eigenheit an mich angeschlossen hat.«

Man ward einig, daß er bald abreisen sollte.

Den andern Tag hatte er sich dazu vorbereitet, das Pferd war gesattelt, nur wollte er noch von Lothario Abschied nehmen. Als die Eßzeit herbeikam, setzte man sich wie gewöhnlich zu Tische, ohne auf den Hausherrn zu warten; er kam erst spät und setzte sich zu ihnen.

»Ich wollte wetten«, sagte Jarno, »Sie haben heute Ihr zärtliches Herz wieder auf die Probe gestellt, Sie haben der Begierde nicht widerstehen können, Ihre ehemalige Geliebte wiederzusehen.«

»Erraten!« versetzte Lothario.

»Lassen Sie uns hören«, sagte Jarno, »wie ist es abgelaufen? Ich bin äußerst neugierig.«

»Ich leugne nicht«, versetzte Lothario, »daß mir das Abenteuer mehr als billig auf dem Herzen lag; ich faßte daher den Entschluß, nochmals hinzureiten und die Person wirklich zu sehen, deren verjüngtes Bild mir eine so angenehme Illusion gemacht hatte. Ich stieg schon in einiger Entfernung vom Hause ab und ließ die Pferde beiseite führen, um die Kinder nicht zu stören, die vor dem Tore spielten. Ich ging in das Haus, und von ungefähr kam sie mir entgegen, denn sie war es selbst, und ich erkannte sie ungeachtet der großen Veränderung wieder. Sie war stärker geworden und schien größer zu sein; ihre Anmut blickte durch ein gesetztes Wesen hindurch, und ihre Munterkeit war in ein stilles Nachdenken übergegangen. Ihr Kopf, den sie sonst so leicht und frei trug, hing ein wenig gesenkt, und leise Falten waren über ihre Stirne gezogen.

Sie schlug die Augen nieder, als sie mich sah, aber keine Röte verkündigte eine innere Bewegung des Herzens. Ich reichte ihr die Hand, sie gab mir die ihrige; ich fragte nach ihrem Manne, er war abwesend; nach ihren Kindern, sie trat an die Türe und rief sie herbei, alle kamen und versammelten sich um sie. Es ist nichts reizender, als eine Mutter zu sehen mit einem Kinde auf dem Arme, und nichts ehrwürdiger als eine Mutter unter vielen Kindern. Ich fragte nach den Namen der Kleinen, um doch nur etwas zu sagen; sie bat mich, hineinzutreten und auf ihren Vater zu warten. Ich nahm es an; sie führte mich in die Stube, wo ich beinahe noch alles auf dem alten Platze fand, und – sonderbar! die schöne Muhme, ihr Ebenbild, saß auf ebendem Schemel hinter dem Spinnrocken, wo ich meine Geliebte in ebender Gestalt so oft gefunden hatte. Ein kleines Mädchen, das seiner Mutter vollkommen glich, war uns nachgefolgt, und so stand ich in der sonderbarsten Gegenwart, zwischen der Vergangenheit und Zukunft, wie in einem Orangenwalde, wo in einem kleinen Bezirk Blüten und Früchte stufenweis nebeneinander leben. Die Muhme ging hinaus, einige Erfrischung zu holen, ich gab dem ehemals so geliebten Geschöpfe die Hand und sagte zu ihr: ›Ich habe eine rechte Freude, Sie wiederzusehen.‹ – ›Sie sind sehr gut, mir das zu sagen‹, versetzte sie; ›aber auch ich kann Ihnen versichern, daß ich eine unaussprechliche Freude habe. Wie oft habe ich mir gewünscht, Sie nur noch einmal in meinem Leben wiederzusehen; ich habe es in Augenblicken gewünscht, die ich für meine letzten hielt.‹ Sie sagte das mit einer gesetzten Stimme, ohne Rührung, mit jener Natürlichkeit, die mich ehemals so sehr an ihr entzückte. Die Muhme kam wieder, ihr Vater dazu – und ich überlasse euch zu denken, mit welchem Herzen ich blieb und mit welchem ich mich entfernte.«

Achtes Kapitel

Wilhelm hatte auf seinem Wege nach der Stadt die edlen weiblichen Geschöpfe, die er kannte und von denen er gehört hatte, im Sinne; ihre sonderbaren Schicksale, die wenig Erfreuliches enthielten, waren ihm schmerzlich gegenwärtig. »Ach!« rief er aus, »arme Mariane! was werde ich noch von dir erfahren müssen? Und dich, herrliche Amazone, edler Schutzgeist, dem ich so viel schuldig bin, dem ich überall zu begegnen hoffe und den ich leider nirgends finde, in welchen traurigen Umständen treff ich dich vielleicht, wenn du mir einst wieder begegnest!«

In der Stadt war niemand von seinen Bekannten zu Hause; er eilte auf das Theater, er glaubte sie in der Probe zu finden; alles war still, das Haus schien leer, doch sah er einen Laden offen. Als er auf die Bühne kam, fand er Aureliens alte Dienerin beschäftigt, Leinwand zu einer neuen Dekoration zusammenzunähen; es fiel nur so viel Licht herein, als nötig war, ihre Arbeit zu erhellen. Felix und Mignon saßen neben ihr auf der Erde; beide hielten ein Buch, und indem Mignon laut las, sagte ihr Felix alle Worte nach, als wenn er die Buchstaben kennte, als wenn er auch zu lesen verstünde.

Die Kinder sprangen auf und begrüßten den Ankommenden: er umarmte sie aufs zärtlichste und führte sie näher zu der Alten. »Bist du es«, sagte er zu ihr mit Ernst, »die dieses Kind Aurelien zugeführt hatte?« Sie sah von ihrer Arbeit auf und wendete ihr Gesicht zu ihm; er sah sie in vollem Lichte, erschrak, trat einige Schritte zurück; es war die alte Barbara.

»Wo ist Mariane?« rief er aus. »Weit von hier«, versetzte die Alte.

»Und Felix? . . .«

»Ist der Sohn dieses unglücklichen, nur allzu zärtlich liebenden Mädchens. Möchten Sie niemals empfinden, was Sie uns gekostet haben! Möchte der Schatz, den ich Ihnen überliefere, Sie so glücklich machen, als er uns unglücklich gemacht hat!«

Sie stand auf, um wegzugehen. Wilhelm hielt sie fest. »Ich denke Ihnen nicht zu entlaufen«, sagte sie, »lassen Sie mich ein Dokument holen, das Sie erfreuen und schmerzen wird.« Sie entfernte sich, und Wilhelm sah den Knaben mit einer ängstlichen Freude an; er durfte sich das Kind noch nicht zueignen. »Er ist dein«, rief Mignon, »er ist dein!« und drückte das Kind an Wilhelms Knie.

Die Alte kam und überreichte ihm einen Brief. »Hier sind Marianens letzte Worte«, sagte sie.

»Sie ist tot!« rief er aus.

»Tot!« sagte die Alte; »möchte ich Ihnen doch alle Vorwürfe ersparen können.«

Überrascht und verwirrt erbrach Wilhelm den Brief; er hatte aber kaum die ersten Worte gelesen, als ihn ein bittrer Schmerz ergriff; er ließ den Brief fallen, stürzte auf eine Rasenbank und blieb eine Zeitlang liegen. Mignon bemühte sich um ihn. Indessen hatte Felix den Brief aufgehoben und zerrte seine Gespielin so lange, bis diese nachgab und zu ihm kniete und ihm vorlas. Felix wiederholte die Worte, und Wilhelm war genötigt, sie zweimal zu hören. »Wenn dieses Blatt jemals zu dir kommt, so bedaure deine unglückliche Geliebte, deine Liebe hat ihr den Tod gegeben. Der Knabe, dessen Geburt ich nur wenige Tage überlebe, ist dein; ich sterbe dir treu, sosehr der Schein auch gegen mich sprechen mag; mit dir verlor ich alles, was mich an das Leben fesselte. Ich sterbe zufrieden, da man mir versichert, das Kind sei gesund und werde leben. Höre die alte Barbara, verzeih ihr, leb wohl und vergiß mich nicht!«

Welch ein schmerzlicher und noch zu seinem Troste halb rätselhafter Brief! dessen Inhalt ihm erst recht fühlbar ward, da ihn die Kinder stockend und stammelnd vortrugen und wiederholten.

»Da haben Sie es nun!« rief die Alte, ohne abzuwarten, bis er sich erholt hatte; »danken Sie dem Himmel, daß nach dem Verluste eines so guten Mädchens Ihnen noch so ein vortreffliches Kind übrigbleibt. Nichts wird Ihrem Schmerze gleichen, wenn Sie vernehmen, wie das gute Mädchen Ihnen bis ans Ende treu geblieben, wie unglücklich sie geworden ist und was sie Ihnen alles aufgeopfert hat.«

»Laß mich den Becher des Jammers und der Freuden«, rief Wilhelm aus, »auf einmal trinken! Überzeuge mich, ja überrede mich nur, daß sie ein gutes Mädchen war, daß sie meine Achtung wie meine Liebe verdiente, und überlaß mich dann meinen Schmerzen über ihren unersetzlichen Verlust.«

»Es ist jetzt nicht Zeit«, versetzte die Alte, »ich habe zu tun und wünschte nicht, daß man uns beisammen fände. Lassen Sie es ein Geheimnis sein, daß Felix Ihnen angehört; ich hätte über meine bisherige Verstellung zuviel Vorwürfe von der Gesellschaft zu erwarten. Mignon verrät uns nicht, sie ist gut und verschwiegen.«

»Ich wußte es lange und sagte nichts«, versetzte Mignon. »Wie ist es möglich?« rief die Alte. »Woher?« fiel Wilhelm ein.

»Der Geist hat mir’s gesagt.«

»Wie? wo?«

»Im Gewölbe, da der Alte das Messer zog, rief mir’s zu: ›Rufe seinen Vater!‹ und da fielst du mir ein.«

»Wer rief denn?«

»Ich weiß nicht, im Herzen, im Kopfe, ich war so angst, ich zitterte, ich betete, da rief’s, und ich verstand’s.«

Wilhelm drückte sie an sein Herz, empfahl ihr Felix und entfernte sich. Er bemerkte erst zuletzt, daß sie viel blässer und magerer geworden war, als er sie verlassen hatte. Madame Melina fand er von seinen Bekannten zuerst; sie begrüßte ihn aufs freundlichste. »Oh! daß Sie doch alles«, rief sie aus, »bei uns finden möchten, wie Sie wünschten!«

»Ich zweifle daran«, sagte Wilhelm, »und erwartete es nicht. Gestehen Sie es nur, man hat alle Anstalten gemacht, mich entbehren zu können.«

»Warum sind Sie auch weggegangen?« versetzte die Freundin.

»Man kann die Erfahrung nicht früh genug machen, wie entbehrlich man in der Welt ist. Welche wichtige Personen glauben wir zu sein! Wir denken allein den Kreis zu beleben, in welchem wir wirken; in unserer Abwesenheit muß, bilden wir uns ein, Leben, Nahrung und Atem stocken, und die Lücke, die entsteht, wird kaum bemerkt, sie füllt sich so geschwind wieder aus, ja sie wird oft nur der Platz, wo nicht für etwas Besseres, doch für etwas Angenehmeres.«

»Und die Leiden unserer Freunde bringen wir nicht in Anschlag?«

»Auch unsere Freunde tun wohl, wenn sie sich bald finden, wenn sie sich sagen: ›Da, wo du bist, da, wo du bleibst, wirke, was du kannst, sei tätig und gefällig, und laß dir die Gegenwart heiter sein‹.«

Bei näherer Erkundigung fand Wilhelm, was er vermutet hatte: die Oper war eingerichtet und zog die ganze Aufmerksamkeit des Publikums an sich. Seine Rollen waren inzwischen durch Laertes und Horatio besetzt worden, und beide lockten den Zuschauern einen weit lebhaftern Beifall ab, als er jemals hatte erlangen können.

Laertes trat herein, und Madame Melina rief aus: »Sehn Sie hier diesen glücklichen Menschen, der bald ein Kapitalist oder Gott weiß was werden wird!« Wilhelm umarmte ihn und fühlte ein vortrefflich feines Tuch an seinem Rocke; seine übrige Kleidung war einfach, aber alles vom besten Zeuge.

»Lösen Sie mir das Rätsel!« rief Wilhelm aus.

»Es ist noch Zeit genug«, versetzte Laertes, »um zu erfahren, daß mir mein Hin- und Herlaufen nunmehr bezahlt wird, daß ein Patron eines großen Handelshauses von meiner Unruhe, meinen Kenntnissen und Bekanntschaften Vorteil zieht und mir einen Teil davon abläßt; ich wollte viel drum geben, wenn ich mir dabei auch Zutrauen gegen die Weiber ermäkeln könnte: denn es ist eine hübsche Nichte im Hause, und ich merke wohl, wenn ich wollte, könnte ich bald ein gemachter Mann sein.«

»Sie wissen wohl noch nicht«, sagte Madame Melina, »daß sich indessen auch unter uns eine Heirat gemacht hat? Serlo ist wirklich mit der schönen Elmire öffentlich getraut, da der Vater ihre heimliche Vertraulichkeit nicht gutheißen wollte.«

So unterhielten sie sich über manches, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte, und er konnte gar wohl bemerken, daß er, dem Geist und dem Sinne der Gesellschaft nach, wirklich längst verabschiedet war.

Mit Ungeduld erwartete er die Alte, die ihm tief in der Nacht ihren sonderbaren Besuch angekündigt hatte. Sie wollte kommen, wenn alles schlief, und verlangte solche Vorbereitungen, eben als wenn das jüngste Mädchen sich zu einem Geliebten schleichen wollte. Er las indes Marianens Brief wohl hundertmal durch, las mit unaussprechlichem Entzücken das Wort Treue von ihrer geliebten Hand und mit Entsetzen die Ankündigung ihres Todes, dessen Annäherung sie nicht zu fürchten schien.

Mitternacht war vorbei, als etwas an der halboffnen Türe rauschte und die Alte mit einem Körbchen hereintrat. »Ich soll Euch«, sagte sie, »die Geschichte unserer Leiden erzählen, und ich muß erwarten, daß Ihr ungerührt dabeisitzt, daß Ihr nur, um Eure Neugierde zu befriedigen, mich so sorgsam erwartet und daß Ihr Euch jetzt wie damals in Eure kalte Eigenliebe hüllet, wenn uns das Herz bricht. Aber seht her! so brachte ich an jenem glücklichen Abend die Champagnerflasche hervor, so stellte ich drei Gläser auf den Tisch, und so fingt Ihr an, uns mit gutmütigen Kindergeschichten zu täuschen und einzuschläfern, wie ich Euch jetzt mit traurigen Wahrheiten aufklären und wach erhalten muß.«

Wilhelm wußte nicht, was er sagen sollte, als die Alte wirklich den Stöpsel springen ließ und die drei Gläser vollschenkte.

»Trinkt!« rief sie, nachdem sie ihr schäumendes Glas schnell ausgeleert hatte, »trinkt, eh der Geist verraucht! Dieses dritte Glas soll zum Andenken meiner unglücklichen Freundin ungenossen verschäumen. Wie rot waren ihre Lippen, als sie Euch damals Bescheid tat! Ach! und nun auf ewig verblaßt und erstarrt!«

»Sibylle! Furie!« rief Wilhelm aus, indem er aufsprang und mit der Faust auf den Tisch schlug, »welch ein böser Geist besitzt und treibt dich? Für wen hältst du mich, daß du denkst, die einfachste Geschichte von Marianens Tod und Leiden werde mich nicht empfindlich genug kränken, daß du noch solche höllische Kunstgriffe brauchst, um meine Marter zu schärfen? Geht deine unersättliche Völlerei so weit, daß du beim Totenmahle schwelgen mußt, so trink und rede! Ich habe dich von jeher verabscheut, und noch kann ich mir Marianen nicht unschuldig denken, wenn ich dich, ihre Gesellschafterin, nur ansehe.«

»Gemach, mein Herr!« versetzte die Alte, »Sie werden mich nicht aus meiner Fassung bringen. Sie sind uns noch sehr verschuldet, und von einem Schuldner läßt man sich nicht übel begegnen. Aber Sie haben recht, auch meine einfachste Erzählung ist Strafe genug für Sie. So hören Sie denn den Kampf und den Sieg Marianens, um die Ihrige zu bleiben.«

»Die Meinige?« rief Wilhelm aus, »welch ein Märchen willst du beginnen?«

»Unterbrechen Sie mich nicht«, fiel sie ein, »hören Sie mich, und dann glauben Sie, was Sie wollen, es ist ohnedies jetzt ganz einerlei. Haben Sie nicht am letzten Abend, als Sie bei uns waren, ein Billett gefunden und mitgenommen?«

»Ich fand das Blatt erst, als ich es mitgenommen hatte; es war in das Halstuch verwickelt, das ich aus inbrünstiger Liebe ergriff und zu mir steckte.«

»Was enthielt das Papier?«

»Die Aussichten eines verdrießlichen Liebhabers, in der nächsten Nacht besser als gestern aufgenommen zu werden. Und daß man ihm Wort gehalten hat, habe ich mit eignen Augen gesehen, denn er schlich früh vor Tage aus eurem Hause hinweg.«

»Sie können ihn gesehen haben; aber was bei uns vorging, wie traurig Mariane diese Nacht, wie verdrießlich ich sie zubrachte, das werden Sie erst jetzt erfahren. Ich will ganz aufrichtig sein, weder leugnen noch beschönigen, daß ich Marianen beredete, sich einem gewissen Norberg zu ergeben; sie folgte, ja ich kann sagen, sie gehorchte mir mit Widerwillen. Er war reich, er schien verliebt, und ich hoffte, er werde beständig sein. Gleich darauf mußte er eine Reise machen, und Mariane lernte Sie kennen. Was hatte ich da nicht auszustehen! was zu hindern! was zu erdulden! ›Oh!‹ rief sie manchmal, ›hättest du meiner Jugend, meiner Unschuld nur noch vier Wochen geschont, so hätte ich einen würdigen Gegenstand meiner Liebe gefunden, ich wäre seiner würdig gewesen, und die Liebe hätte das mit einem ruhigen Bewußtsein geben dürfen, was ich jetzt wider Willen verkauft habe.‹ Sie überließ sich ganz ihrer Neigung, und ich darf nicht fragen, ob Sie glücklich waren. Ich hatte eine uneingeschränkte Gewalt über ihren Verstand, denn ich kannte alle Mittel, ihre kleinen Neigungen zu befriedigen; ich hatte keine Macht über ihr Herz, denn niemals billigte sie, was ich für sie tat, wozu ich sie bewegte, wenn ihr Herz widersprach: nur der unbezwinglichen Not gab sie nach, und die Not erschien ihr bald sehr drückend. In den ersten Zeiten ihrer Jugend hatte es ihr an nichts gemangelt; ihre Familie verlor durch eine Verwickelung von Umständen ihr Vermögen, das arme Mädchen war an mancherlei Bedürfnisse gewöhnt, und ihrem kleinen Gemüt waren gewisse gute Grundsätze eingeprägt, die sie unruhig machten, ohne ihr viel zu helfen. Sie hatte nicht die mindeste Gewandtheit in weltlichen Dingen, sie war unschuldig im eigentlichen Sinne; sie hatte keinen Begriff, daß man kaufen könne, ohne zu bezahlen; vor nichts war ihr mehr bange, als wenn sie schuldig war; sie hätte immer lieber gegeben als genommen, und nur eine solche Lage machte es möglich, daß sie genötigt ward, sich selbst hinzugeben, um eine Menge kleiner Schulden loszuwerden.«

»Und hättest du«, fuhr Wilhelm auf, »sie nicht retten können?«

»O ja«, versetzte die Alte, »mit Hunger und Not, mit Kummer und Entbehrung, und darauf war ich niemals eingerichtet.«

»Abscheuliche, niederträchtige Kupplerin! so hast du das unglückliche Geschöpf geopfert? so hast du sie deiner Kehle, deinem unersättlichen Heißhunger hingegeben?«

»Ihr tätet besser, Euch zu mäßigen und mit Schimpfreden innezuhalten«, versetzte die Alte. »Wenn Ihr schimpfen wollt, so geht in Eure großen, vornehmen Häuser, da werdet Ihr Mütter finden, die recht ängstlich besorgt sind, wie sie für ein liebenswürdiges, himmlisches Mädchen den allerabscheulichsten Menschen auffinden wollen, wenn er nur zugleich der reichste ist. Seht das arme Geschöpf vor seinem Schicksale zittern und beben und nirgends Trost finden, als bis ihr irgendeine erfahrne Freundin begreiflich macht, daß sie durch den Ehestand das Recht erwerbe, über ihr Herz und ihre Person nach Gefallen disponieren zu können.«

»Schweig!« rief Wilhelm, »glaubst du denn, daß ein Verbrechen durch das andere entschuldigt werden könne? Erzähle, ohne weitere Anmerkungen zu machen!«

»So hören Sie, ohne mich zu tadeln! Mariane ward wider meinen Willen die Ihre. Bei diesem Abenteuer habe ich mir wenigstens nichts vorzuwerfen. Norberg kam zurück, er eilte, Marianen zu sehen, die ihn kalt und verdrießlich aufnahm und ihm nicht einen Kuß erlaubte. Ich brauchte meine ganze Kunst, um ihr Betragen zu entschuldigen; ich ließ ihn merken, daß ein Beichtvater ihr das Gewissen geschärft habe und daß man ein Gewissen, solange es spricht, respektieren müsse. Ich brachte ihn dahin, daß er ging, und versprach ihm, mein Bestes zu tun. Er war reich und roh, aber er hatte einen Grund von Gutmütigkeit und liebte Marianen auf das äußerste. Er versprach mir Geduld, und ich arbeitete desto lebhafter, um ihn nicht zu sehr zu prüfen. Ich hatte mit Marianen einen harten Stand; ich überredete sie, ja ich kann sagen, ich zwang sie endlich durch die Drohung, daß ich sie verlassen würde, an ihren Liebhaber zu schreiben und ihn auf die Nacht einzuladen. Sie kamen und rafften zufälligerweise seine Antwort in dem Halstuch auf. Ihre unvermutete Gegenwart hatte mir ein böses Spiel gemacht. Kaum waren Sie weg, so ging die Qual von neuem an; sie schwur, daß sie Ihnen nicht untreu werden könne, und war so leidenschaftlich, so außer sich, daß sie mir ein herzliches Mitleid ablockte. Ich versprach ihr endlich, daß ich auch diese Nacht Norbergen beruhigen und ihn unter allerlei Vorwänden entfernen wollte; ich bat sie, zu Bette zu gehen, allein sie schien mir nicht zu trauen: sie blieb angezogen und schlief zuletzt, bewegt und ausgeweint, wie sie war, in ihren Kleidern ein.

Norberg kam; ich suchte ihn abzuhalten, ich stellte ihm ihre Gewissensbisse, ihre Reue mit den schwärzesten Farben vor; er wünschte sie nur zu sehen, und ich ging in das Zimmer, um sie vorzubereiten; er schritt mir nach, und wir traten beide zu gleicher Zeit vor ihr Bette. Sie erwachte, sprang mit Wut auf und entriß sich unsern Armen; sie beschwur und bat, sie flehte, drohte und versicherte, daß sie nicht nachgeben würde. Sie war unvorsichtig genug, über ihre wahre Leidenschaft einige Worte fallenzulassen, die der arme Norberg im geistlichen Sinne deuten mußte. Endlich verließ er sie, und sie schloß sich ein. Ich behielt ihn noch lange bei mir und sprach mit ihm über ihren Zustand, daß sie guter Hoffnung sei und daß man das arme Mädchen schonen müsse. Er fühlte sich so stolz auf seine Vaterschaft, er freute sich so sehr auf einen Knaben, daß er alles einging, was sie von ihm verlangte, und daß er versprach, lieber einige Zeit zu verreisen, als seine Geliebte zu ängstigen und ihr durch diese Gemütsbewegungen zu schaden. Mit diesen Gesinnungen schlich er morgens früh von mir weg, und Sie, mein Herr, wenn Sie Schildwache gestanden haben, so hätte es zu Ihrer Glückseligkeit nichts weiter bedurft, als in den Busen Ihres Nebenbuhlers zu sehen, den Sie so begünstigt, so glücklich hielten und dessen Erscheinung Sie zur Verzweiflung brachte.«

»Redest du wahr?« sagte Wilhelm.

»So wahr«, sagte die Alte, »als ich noch hoffe, Sie zur Verzweiflung zu bringen.

Ja gewiß, Sie würden verzweifeln, wenn ich Ihnen das Bild unsers nächsten Morgens recht lebhaft darstellen könnte. Wie heiter wachte sie auf! wie freundlich rief sie mich herein! wie lebhaft dankte sie mir! wie herzlich drückte sie mich an ihren Busen! ›Nun‹, sagte sie, indem sie lächelnd vor den Spiegel trat, ›darf ich mich wieder an mir selbst, mich an meiner Gestalt freuen, da ich wieder mir, da ich meinem einzig geliebten Freund angehöre. Wie ist es so süß, überwunden zu haben! welch eine himmlische Empfindung ist es, seinem Herzen zu folgen! Wie dank ich dir, daß du dich meiner angenommen, daß du deine Klugheit, deinen Verstand auch einmal zu meinem Vorteil angewendet hast! Steh mir bei, und ersinne, was mich ganz glücklich machen kann!‹

Ich gab ihr nach, ich wollte sie nicht reizen, ich schmeichelte ihrer Hoffnung, und sie liebkoste mich auf das anmutigste. Entfernte sie sich einen Augenblick vom Fenster, so mußte ich Wache stehen: denn Sie sollten nun ein für allemal vorbeigehen, man wollte Sie wenigstens sehen; so ging der ganze Tag unruhig hin. Nachts zur gewöhnlichen Stunde erwarteten wir Sie ganz gewiß. Ich paßte schon an der Treppe, die Zeit ward mir lang, ich ging wieder zu ihr hinein. Ich fand sie zu meiner Verwunderung in ihrer Offizierstracht, sie sah unglaublich heiter und reizend aus. ›Verdien ich nicht‹, sagte sie, ›heute in Mannstracht zu erscheinen? Habe ich mich nicht brav gehalten? Mein Geliebter soll mich heute wie das erstemal sehen, ich will ihn so zärtlich und mit mehr Freiheit an mein Herz drücken als damals: denn bin ich jetzt nicht viel mehr die Seine als damals, da mich ein edler Entschluß noch nicht frei gemacht hatte? Aber‹, fügte sie nach einigem Nachdenken hinzu, ›noch hab ich nicht ganz gewonnen, noch muß ich erst das Äußerste wagen, um seiner wert, um seines Besitzes gewiß zu sein; ich muß ihm alles entdecken, meinen ganzen Zustand offenbaren und ihm alsdann überlassen, ob er mich behalten oder verstoßen will. Diese Szene bereite ich ihm, bereite ich mir zu; und wäre sein Gefühl mich zu verstoßen fähig, so würde ich alsdann ganz wieder mir selbst angehören, ich würde in meiner Strafe meinen Trost finden und alles erdulden, was das Schicksal mir auferlegen wollte.‹

Mit diesen Gesinnungen, mit diesen Hoffnungen, mein Herr, erwartete Sie das liebenswürdige Mädchen; Sie kamen nicht. Oh! wie soll ich den Zustand des Wartens und Hoffens beschreiben? Ich sehe dich noch vor mir, mit welcher Liebe, mit welcher Inbrunst du von dem Manne sprachst, dessen Grausamkeit du noch nicht erfahren hattest!«

»Gute, liebe Barbara!« rief Wilhelm, indem er aufsprang und die Alte bei der Hand faßte, »es ist nun genug der Verstellung, genug der Vorbereitung! Dein gleichgültiger, dein ruhiger, dein zufriedner Ton hat dich verraten. Gib mir Marianen wieder! Sie lebt, sie ist in der Nähe. Nicht umsonst hast du diese späte, einsame Stunde zu deinem Besuche gewählt, nicht umsonst hast du mich durch diese entzückende Erzählung vorbereitet. Wo hast du sie? Wo verbirgst du sie? Ich glaube dir alles, ich verspreche dir alles zu glauben, wenn du mir sie zeigst, wenn du sie meinen Armen wiedergibst. Ihren Schatten habe ich schon im Fluge gesehen, laß mich sie wieder in meine Arme fassen! Ich will vor ihr auf den Knien liegen, ich will sie um Vergebung bitten, ich will ihr zu ihrem Kampfe, zu ihrem Siege über sich und dich Glück wünschen, ich will ihr meinen Felix zuführen. Komm! Wo hast du sie versteckt? Laß sie, laß mich nicht länger in Ungewißheit! Dein Endzweck ist erreicht. Wo hast du sie verborgen? Komm, daß ich sie mit diesem Licht beleuchte! daß ich wieder ihr holdes Angesicht sehe!«

Er hatte die Alte vom Stuhl aufgezogen, sie sah ihn starr an, die Tränen stürzten ihr aus den Augen, und ein ungeheurer Schmerz ergriff sie. »Welch ein unglücklicher Irrtum«, rief sie aus, »läßt Sie noch einen Augenblick hoffen! – Ja, ich habe sie verborgen, aber unter die Erde; weder das Licht der Sonne noch eine vertrauliche Kerze wird ihr holdes Angesicht jemals wieder erleuchten. Führen Sie den guten Felix an ihr Grab, und sagen Sie ihm: ›Da liegt deine Mutter, die dein Vater ungehört verdammt hat.‹ Das liebe Herz schlägt nicht mehr vor Ungeduld, Sie zu sehen, nicht etwa in einer benachbarten Kammer wartet sie auf den Ausgang meiner Erzählung oder meines Märchens; die dunkle Kammer hat sie aufgenommen, wohin kein Bräutigam folgt, woraus man keinem Geliebten entgegengeht.«

Sie warf sich auf die Erde an einem Stuhle nieder und weinte bitterlich; Wilhelm war zum erstenmal völlig überzeugt, daß Mariane tot sei; er befand sich in einem traurigen Zustande. Die Alte richtete sich auf. »Ich habe Ihnen weiter nichts zu sagen«, rief sie und warf ein Paket auf den Tisch. »Hier diese Briefschaften mögen völlig Ihre Grausamkeit beschämen; lesen Sie diese Blätter mit trocknen Augen durch, wenn es Ihnen möglich ist.« Sie schlich leise fort, und Wilhelm hatte diese Nacht das Herz nicht, die Brieftasche zu öffnen, er hatte sie selbst Marianen geschenkt, er wußte, daß sie jedes Blättchen, das sie von ihm erhalten hatte, sorgfältig darin aufhob. Den andern Morgen vermochte er es über sich; er löste das Band, und es fielen ihm kleine Zettelchen, mit Bleistift von seiner eigenen Hand geschrieben, entgegen und riefen ihm jede Situation von dem ersten Tage ihrer anmutigen Bekanntschaft bis zu dem letzten ihrer grausamen Trennung wieder herbei. Allein nicht ohne die lebhaftesten Schmerzen durchlas er eine kleine Sammlung von Billetten, die an ihn geschrieben waren und die, wie er aus dem Inhalt sah, von Wernern waren zurückgewiesen worden.

»Keines meiner Blätter hat bis zu dir durchdringen können, mein Bitten und Flehen hat dich nicht erreicht; hast du selbst diese grausamen Befehle gegeben? Soll ich dich nie wiedersehen? Noch einmal versuch ich es, ich bitte dich: komm, o komm! ich verlange dich nicht zu behalten, wenn ich dich nur noch einmal an mein Herz drücken kann.«

»Wenn ich sonst bei dir saß, deine Hände hielt, dir in die Augen sah und mit vollem Herzen der Liebe und des Zutrauens zu dir sagte: ›Lieber, lieber, guter Mann!‹ das hörtest du so gern, ich mußt es dir so oft wiederholen, ich wiederhole es noch einmal – Lieber, lieber, guter Mann! sei gut, wie du warst, komm und laß mich nicht in meinem Elende verderben!«

»Du hältst mich für schuldig, ich bin es auch, aber nicht, wie du denkst. Komm, damit ich nur den einzigen Trost habe, von dir ganz gekannt zu sein, es gehe mir nachher, wie es wolle.«

»Nicht um meinetwillen allein, auch um dein selbst willen fleh ich dich an zu kommen. Ich fühle die unerträglichen Schmerzen, die du leidest, indem du mich fliehst; komm, daß unsere Trennung weniger grausam werde! Ich war vielleicht nie deiner würdig als eben in dem Augenblick, da du mich in ein grenzenloses Elend zurückstößest.«

»Bei allem, was heilig ist, bei allem, was ein menschliches Herz rühren kann, ruf ich dich an! Es ist um eine Seele, es ist um ein Leben zu tun, um zwei Leben, von denen dir eins ewig teuer sein muß. Dein Argwohn wird auch das nicht glauben, und doch werde ich es in der Stunde des Todes aussprechen: das Kind, das ich unter dem Herzen trage, ist dein. Seitdem ich dich liebe, hat kein anderer mir auch nur die Hand gedrückt; o daß deine Liebe, daß deine Rechtschaffenheit die Gefährten meiner Jugend gewesen wären!«

»Du willst mich nicht hören? So muß ich denn zuletzt wohl verstummen, aber diese Blätter sollen nicht untergehen, vielleicht können sie noch zu dir sprechen, wenn das Leichentuch schon meine Lippe bedeckt und wenn die Stimme deiner Reue nicht mehr zu meinem Ohre reichen kann. Durch mein trauriges Leben bis an den letzten Augenblick wird das mein einziger Trost sein: daß ich ohne Schuld gegen dich war, wenn ich mich auch nicht unschuldig nennen durfte.«

Wilhelm konnte nicht weiter; er überließ sich ganz seinem Schmerz, aber noch mehr war er bedrängt, als Laertes hereintrat, dem er seine Empfindungen zu verbergen suchte. Dieser brachte einen Beutel mit Dukaten hervor, zählte und rechnete und versicherte Wilhelmen: es sei nichts Schöneres in der Welt, als wenn man eben auf dem Wege sei, reich zu werden; es könne uns auch alsdann nichts stören oder abhalten. Wilhelm erinnerte sich seines Traums und lächelte; aber zugleich gedachte er auch mit Schaudern: daß in jenem Traumgesichte Mariane ihn verlassen, um seinem verstorbenen Vater zu folgen, und daß beide zuletzt wie Geister schwebend sich um den Garten bewegt hatten.

Laertes riß ihn aus seinem Nachdenken und führte ihn auf ein Kaffeehaus, wo sich sogleich mehrere Personen um ihn versammelten, die ihn sonst gern auf dem Theater gesehen hatten; sie freuten sich seiner Gegenwart, bedauerten aber, daß er, wie sie hörten, die Bühne verlassen wolle; sie sprachen so bestimmt und vernünftig von ihm und seinem Spiele, von dem Grade seines Talents, von ihren Hoffnungen, daß Wilhelm nicht ohne Rührung zuletzt ausrief: »O wie unendlich wert wäre mir diese Teilnahme vor wenig Monaten gewesen! Wie belehrend und wie erfreuend! Niemals hätte ich mein Gemüt so ganz von der Bühne abgewendet, und niemals wäre ich so weit gekommen, am Publiko zu verzweifeln.«

»Dazu sollte es überhaupt nicht kommen«, sagte ein ältlicher Mann, der hervortrat; »das Publikum ist groß, wahrer Verstand und wahres Gefühl sind nicht so selten, als man glaubt; nur muß der Künstler niemals einen unbedingten Beifall für das, was er hervorbringt, verlangen: denn eben der unbedingte ist am wenigsten wert, und den bedingten wollen die Herren nicht gerne. Ich weiß wohl, im Leben wie in der Kunst muß man mit sich zu Rate gehen, wenn man etwas tun und hervorbringen soll; wenn es aber getan und vollendet ist, so darf man mit Aufmerksamkeit nur viele hören, und man kann sich mit einiger Übung aus diesen vielen Stimmen gar bald ein ganzes Urteil zusammensetzen: denn diejenigen, die uns diese Mühe ersparen könnten, halten sich meist stille genug.«

»Das sollten sie eben nicht«, sagte Wilhelm. »Ich habe so oft gehört, daß Menschen, die selbst über gute Werke schwiegen, doch beklagten und bedauerten, daß geschwiegen wird.«

»So wollen wir heute laut werden«, rief ein junger Mann, »Sie müssen mit uns speisen, und wir wollen alles einholen, was wir Ihnen und manchmal der guten Aurelie schuldig geblieben sind.«

Wilhelm lehnte die Einladung ab und begab sich zu Madame Melina, die er wegen der Kinder sprechen wollte, indem er sie von ihr wegzunehmen gedachte.

 

Das Geheimnis der Alten war nicht zum besten bei ihm verwahrt. Er verriet sich, als er den schönen Felix wieder ansichtig ward. »O mein Kind!« rief er aus, »mein liebes Kind!« Er hub ihn auf und drückte ihn an sein Herz. »Vater! was hast du mir mitgebracht?« rief das Kind. Mignon sah beide an, als wenn sie warnen wollte, sich nicht zu verraten.

»Was ist das für eine neue Erscheinung?« sagte Madame Melina. Man suchte die Kinder beiseite zu bringen, und Wilhelm, der der Alten das strengste Geheimnis nicht schuldig zu sein glaubte, entdeckte seiner Freundin das ganze Verhältnis. Madame Melina sah ihn lächelnd an. »O über die leichtgläubigen Männer!« rief sie aus, »wenn nur etwas auf ihrem Wege ist, so kann man es ihnen sehr leicht aufbürden; aber dafür sehen sie sich auch ein andermal weder rechts noch links um und wissen nichts zu schätzen, als was sie vorher mit dem Stempel einer willkürlichen Leidenschaft bezeichnet haben.« Sie konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, und wenn Wilhelm nicht ganz blind gewesen wäre, so hätte er eine nie ganz besiegte Neigung in ihrem Betragen erkennen müssen.

Er sprach nunmehr mit ihr von den Kindern, wie er Felix bei sich zu behalten und Mignon auf das Land zu tun gedächte. Frau Melina, ob sie sich gleich ungerne von beiden zugleich trennte, fand doch den Vorschlag gut, ja notwendig. Felix verwilderte bei ihr, und Mignon schien einer freien Luft und anderer Verhältnisse zu bedürfen; das gute Kind war kränklich und konnte sich nicht erholen.

»Lassen Sie sich nicht irren«, fuhr Madame Melina fort, »daß ich einige Zweifel, ob Ihnen der Knabe wirklich zugehöre, leichtsinnig geäußert habe. Der Alten ist freilich wenig zu trauen, doch wer Unwahrheit zu seinem Nutzen ersinnt, kann auch einmal wahr reden, wenn ihm die Wahrheiten nützlich scheinen. Aurelien hatte die Alte vorgespiegelt, Felix sei ein Sohn Lotharios, und die Eigenheit haben wir Weiber, daß wir die Kinder unserer Liebhaber recht herzlich lieben, wenn wir schon die Mutter nicht kennen oder sie von Herzen hassen.« Felix kam hereingesprungen, sie drückte ihn an sich, mit einer Lebhaftigkeit, die ihr sonst nicht gewöhnlich war.

Wilhelm eilte nach Hause und bestellte die Alte, die ihn, jedoch nicht eher als in der Dämmerung, zu besuchen versprach; er empfing sie verdrießlich und sagte zu ihr: »Es ist nichts Schändlichers in der Welt, als sich auf Lügen und Märchen einzurichten! Schon hast du viel Böses damit gestiftet, und jetzt, da dein Wort das Glück meines Lebens entscheiden könnte, jetzt steh ich zweifelhaft und wage nicht, das Kind in meine Arme zu schließen, dessen ungetrübter Besitz mich äußerst glücklich machen würde. Ich kann dich, schändliche Kreatur, nicht ohne Haß und Verachtung ansehen.«

»Euer Betragen kommt mir, wenn ich aufrichtig reden soll«, versetzte die Alte, »ganz unerträglich vor. Und wenn’s nun Euer Sohn nicht wäre, so ist es das schönste, angenehmste Kind von der Welt, das man gern für jeden Preis kaufen möchte, um es nur immer um sich zu haben. Ist es nicht wert, daß Ihr Euch seiner annehmt? Verdiene ich für meine Sorgfalt, für meine Mühe mit ihm nicht einen kleinen Unterhalt für mein künftiges Leben? Oh! ihr Herren, denen nichts abgeht, ihr habt gut von Wahrheit und Geradheit reden; aber wie eine arme Kreatur, deren geringstem Bedürfnis nichts entgegenkommt, die in ihren Verlegenheiten keinen Freund, keinen Rat, keine Hülfe sieht, wie die sich durch die selbstischen Menschen durchdrücken und im stillen darben muß – davon würde manches zu sagen sein, wenn ihr hören wolltet und könntet. Haben Sie Marianens Briefe gelesen? Es sind dieselben, die sie zu jener unglücklichen Zeit schrieb. Vergebens suchte ich mich Ihnen zu nähern, vergebens Ihnen diese Blätter zuzustellen; Ihr grausamer Schwager hatte Sie so umlagert, daß alle List und Klugheit vergebens war, und zuletzt, als er mir und Marianen mit dem Gefängnis drohte, mußte ich wohl alle Hoffnung aufgeben. Trifft nicht alles mit dem überein, was ich erzählt habe? Und setzt nicht Norbergs Brief die ganze Geschichte außer allen Zweifel?«

»Was für ein Brief?« fragte Wilhelm.

»Haben Sie ihn nicht in der Brieftasche gefunden?« versetzte die Alte.

»Ich habe noch nicht alles durchlesen.«

»Geben Sie nur die Brieftasche her; auf dieses Dokument kommt alles an. Norbergs unglückliches Billett hat die traurige Verwirrung gemacht, ein anderes von seiner Hand mag auch den Knoten lösen, insofern am Faden noch etwas gelegen ist.« Sie nahm ein Blatt aus der Brieftasche, Wilhelm erkannte jene verhaßte Hand, er nahm sich zusammen und las:

»Sag mir nur, Mädchen, wie vermagst du das über mich? Hätt ich doch nicht geglaubt, daß eine Göttin selbst mich zum seufzenden Liebhaber umschaffen könnte. Anstatt mir mit offenen Armen entgegenzueilen, ziehst du dich zurück; man hätte es wahrhaftig für Abscheu nehmen können, wie du dich betrugst. Ist’s erlaubt, daß ich die Nacht mit der alten Barbara auf einem Koffer in einer Kammer zubringen mußte? Und mein geliebtes Mädchen war nur zwei Türen davon. Es ist zu toll, sag ich dir! Ich habe versprochen, dir einige Bedenkzeit zu lassen, nicht gleich in dich zu dringen, und ich möchte rasend werden über jede verlorne Viertelstunde. Habe ich dir nicht geschenkt, was ich wußte und konnte? Zweifelst du noch an meiner Liebe? Was willst du haben? sag es mir! Es soll dir an nichts fehlen. Ich wollte, der Pfaffe müßte verstummen und verblinden, der dir solches Zeug in den Kopf gesetzt hat. Mußtest du auch gerade an so einen kommen! Es gibt so viele, die jungen Leuten etwas nachzusehen wissen. Genug, ich sage dir, es muß anders werden, in ein paar Tagen muß ich Antwort wissen, denn ich gehe bald wieder weg, und wenn du nicht wieder freundlich und gefällig bist, so sollst du mich nicht wiedersehen…«

In dieser Art ging der Brief noch lange fort, drehte sich zu Wilhelms schmerzlicher Zufriedenheit immer um denselben Punkt herum und zeugte für die Wahrheit der Geschichte, die er von Barbara vernommen hatte. Ein zweites Blatt bewies deutlich, daß Mariane auch in der Folge nicht nachgegeben hatte, und Wilhelm vernahm aus diesen und mehreren Papieren nicht ohne tiefen Schmerz die Geschichte des unglücklichen Mädchens bis zur Stunde ihres Todes.

Die Alte hatte den rohen Menschen nach und nach zahm gemacht, indem sie ihm den Tod Marianens meldete und ihm den Glauben ließ, als wenn Felix sein Sohn sei; er hatte ihr einigemal Geld geschickt, das sie aber für sich behielt, da sie Aurelien die Sorge für des Kindes Erziehung aufgeschwatzt hatte. Aber leider dauerte dieser heimliche Erwerb nicht lange. Norberg hatte durch ein wildes Leben den größten Teil seines Vermögens verzehrt und wiederholte Liebesgeschichten sein Herz gegen seinen ersten, eingebildeten Sohn verhärtet.

So wahrscheinlich das alles lautete und so schön es zusammentraf, traute Wilhelm doch noch nicht, sich der Freude zu überlassen; er schien sich vor einem Geschenke zu fürchten, das ihm ein böser Genius darreichte.

»Ihre Zweifelsucht«, sagte die Alte, die seine Gemütsstimmung erriet, »kann nur die Zeit heilen. Sehen Sie das Kind als ein fremdes an, und geben Sie desto genauer auf ihn acht, bemerken Sie seine Gaben, seine Natur, seine Fähigkeiten, und wenn Sie nicht nach und nach sich selbst wiedererkennen, so müssen Sie schlechte Augen haben. Denn das versichre ich Sie, wenn ich ein Mann wäre, mir sollte niemand ein Kind unterschieben; aber es ist ein Glück für die Weiber, daß die Männer in diesen Fällen nicht so scharfsichtig sind.«

Nach allem diesen setzte sich Wilhelm mit der Alten auseinander; er wollte den Felix mit sich nehmen, sie sollte Mignon zu Theresen bringen und hernach eine kleine Pension, die er ihr versprach, wo sie wollte, verzehren.

Er ließ Mignon rufen, um sie auf diese Veränderung vorzubereiten. »Meister!« sagte sie, »behalte mich bei dir, es wird mir wohltun und weh.«

Er stellte ihr vor, daß sie nun herangewachsen sei und daß doch etwas für ihre weitere Bildung getan werden müsse. »Ich bin gebildet genug«, versetzte sie, »um zu lieben und zu trauern.«

Er machte sie auf ihre Gesundheit aufmerksam, daß sie eine anhaltende Sorgfalt und die Leitung eines geschickten Arztes bedürfe. »Warum soll man für mich sorgen«, sagte sie, »da so viel zu sorgen ist?«

Nachdem er sich viele Mühe gegeben, sie zu überzeugen, daß er sie jetzt nicht mit sich nehmen könne, daß er sie zu Personen bringen wolle, wo er sie öfters sehen werde, schien sie von alledem nichts gehört zu haben. »Du willst mich nicht bei dir?« sagte sie. »Vielleicht ist es besser, schicke mich zum alten Harfenspieler, der arme Mann ist so allein.«

Wilhelm suchte ihr begreiflich zu machen, daß der Alte gut aufgehoben sei. »Ich sehne mich jede Stunde nach ihm«, versetzte das Kind.

»Ich habe aber nicht bemerkt«, sagte Wilhelm, »daß du ihm so geneigt seist, als er noch mit uns lebte.«

»Ich fürchtete mich vor ihm, wenn er wachte; ich konnte nur seine Augen nicht sehen, aber wenn er schlief, setzte ich mich gern zu ihm, ich wehrte ihm die Fliegen und konnte mich nicht satt an ihm sehen. Oh! er hat mir in schrecklichen Augenblicken beigestanden, es weiß niemand, was ich ihm schuldig bin. Hätt ich nur den Weg gewußt, ich wäre schon zu ihm gelaufen.«

Wilhelm stellte ihr die Umstände weitläufig vor und sagte: sie sei so ein vernünftiges Kind, sie möchte doch auch diesmal seinen Wünschen folgen. »Die Vernunft ist grausam«, versetzte sie, »das Herz ist besser. Ich will hingehen, wohin du willst, aber laß mir deinen Felix!«

Nach vielem Hin- und Widerreden war sie immer auf ihrem Sinne geblieben, und Wilhelm mußte sich zuletzt entschließen, die beiden Kinder der Alten zu übergeben und sie zusammen an Fräulein Therese zu schicken. Es ward ihm das um so leichter, als er sich noch immer fürchtete, den schönen Felix sich als seinen Sohn zuzueignen. Er nahm ihn auf den Arm und trug ihn herum; das Kind mochte gern vor den Spiegel gehoben sein, und ohne sich es zu gestehen, trug Wilhelm ihn gern vor den Spiegel und suchte dort Ähnlichkeiten zwischen sich und dem Kinde auszuspähen. Ward es ihm dann einen Augenblick recht wahrscheinlich, so drückte er den Knaben an seine Brust, aber auf einmal, erschreckt durch den Gedanken, daß er sich betriegen könne, setzte er das Kind nieder und ließ es hinlaufen. »Oh!« rief er aus, »wenn ich mir dieses unschätzbare Gut zueignen könnte und es würde mir dann entrissen, so wäre ich der unglücklichste aller Menschen!«

Die Kinder waren weggefahren, und Wilhelm wollte nun seinen förmlichen Abschied vom Theater nehmen, als er fühlte, daß er schon abgeschieden sei und nur zu gehen brauchte. Mariane war nicht mehr, seine zwei Schutzgeister hatten sich entfernt, und seine Gedanken eilten ihnen nach. Der schöne Knabe schwebte wie eine reizende ungewisse Erscheinung vor seiner Einbildungskraft, er sah ihn an Theresens Hand durch Felder und Wälder laufen, in der freien Luft und neben einer freien und heitern Begleiterin sich bilden; Therese war ihm noch viel werter geworden, seitdem er das Kind in ihrer Gesellschaft dachte. Selbst als Zuschauer im Theater erinnerte er sich ihrer mit Lächeln; beinahe war er in ihrem Falle, die Vorstellungen machten ihm keine Illusion mehr.

Serlo und Melina waren äußerst höflich gegen ihn, sobald sie merkten, daß er an seinen vorigen Platz keinen weitern Anspruch machte. Ein Teil des Publikums wünschte ihn nochmals auftreten zu sehen; es wäre ihm unmöglich gewesen, und bei der Gesellschaft wünschte es niemand als allenfalls Frau Melina.

Er nahm nun wirklich Abschied von dieser Freundin, er war gerührt und sagte: »Wenn doch der Mensch sich nicht vermessen wollte, irgend etwas für die Zukunft zu versprechen! Das Geringste vermag er nicht zu halten, geschweige wenn sein Vorsatz von Bedeutung ist. Wie schäme ich mich, wenn ich denke, was ich Ihnen allen zusammen in jener unglücklichen Nacht versprach, da wir beraubt, krank, verletzt und verwundet in eine elende Schenke zusammengedrängt waren. Wie erhöhte damals das Unglück meinen Mut, und welchen Schatz glaubte ich in meinem guten Willen zu finden; nun ist aus allem dem nichts, gar nichts geworden! Ich verlasse Sie als Ihr Schuldner, und mein Glück ist, daß man mein Versprechen nicht mehr achtete, als es wert war, und daß niemand mich jemals deshalb gemahnt hat.«

»Sein Sie nicht ungerecht gegen sich selbst«, versetzte Frau Melina; »wenn niemand erkennt, was Sie für uns getan hatten, so werde ich es nicht verkennen: denn unser ganzer Zustand wäre völlig anders, wenn wir Sie nicht besessen hätten. Geht es doch unsern Vorsätzen wie unsern Wünschen. Sie sehen sich gar nicht mehr ähnlich, wenn sie ausgeführt, wenn sie erfüllt sind, und wir glauben nichts getan, nichts erlangt zu haben.«

»Sie werden«, versetzte Wilhelm, »durch Ihre freundschaftliche Auslegung mein Gewissen nicht beruhigen, und ich werde mir immer als Ihr Schuldner vorkommen.«

»Es ist auch wohl möglich, daß Sie es sind«, versetzte Madame Melina, »nur nicht auf die Art, wie Sie es denken. Wir rechnen uns zur Schande, ein Versprechen nicht zu erfüllen, das wir mit dem Munde getan haben. Oh, mein Freund, ein guter Mensch verspricht durch seine Gegenwart nur immer zuviel! Das Vertrauen, das er hervorlockt, die Neigung, die er einflößt, die Hoffnungen, die er erregt, sind unendlich; er wird und bleibt ein Schuldner, ohne es zu wissen. Leben Sie wohl! Wenn unsere äußeren Umstände sich unter Ihrer Leitung recht glücklich hergestellt haben, so entsteht in meinem Innern durch Ihren Abschied eine Lücke, die sich so leicht nicht wieder ausfüllen wird.«

Wilhelm schrieb vor seiner Abreise aus der Stadt noch einen weitläufigen Brief an Wernern. Sie hatten zwar einige Briefe gewechselt, aber weil sie nicht einig werden konnten, hörten sie zuletzt auf zu schreiben. Nun hatte sich Wilhelm wieder genähert, er war im Begriff, dasjenige zu tun, was jener so sehr wünschte, er konnte sagen: »Ich verlasse das Theater und verbinde mich mit Männern, deren Umgang mich in jedem Sinne zu einer reinen und sichern Tätigkeit führen muß.« Er erkundigte sich nach seinem Vermögen, und es schien ihm nunmehr sonderbar, daß er so lange sich nicht darum bekümmert hatte. Er wußte nicht, daß es die Art aller der Menschen sei, denen an ihrer innern Bildung viel gelegen ist, daß sie die äußeren Verhältnisse ganz und gar vernachlässigen. Wilhelm hatte sich in diesem Falle befunden; er schien nunmehr zum erstenmal zu merken, daß er äußerer Hülfsmittel bedürfe, um nachhaltig zu wirken. Er reiste fort mit einem ganz andern Sinn als das erstemal; die Aussichten, die sich ihm zeigten, waren reizend, und er hoffte auf seinem Wege etwas Frohes zu erleben.

Neuntes Kapitel

Als er nach Lotharios Gut zurückkam, fand er eine große Veränderung. Jarno kam ihm entgegen mit der Nachricht, daß der Oheim gestorben, daß Lothario hingegangen sei, die hinterlassenen Güter in Besitz zu nehmen. »Sie kommen eben zur rechten Zeit«, sagte er, »um mir und dem Abbé beizustehn. Lothario hat uns den Handel um wichtige Güter in unserer Nachbarschaft aufgetragen; es war schon lange vorbereitet, und nun finden wir Geld und Kredit eben zur rechten Stunde. Das einzige war dabei bedenklich, daß ein auswärtiges Handelshaus auch schon auf dieselben Güter Absicht hatte; nun sind wir kurz und gut entschlossen, mit jenem gemeine Sache zu machen, denn sonst hätten wir uns ohne Not und Vernunft hinaufgetrieben. Wir haben, so scheint es, mit einem klugen Manne zu tun. Nun machen wir Kalküls und Anschläge; auch muß ökonomisch überlegt werden, wie wir die Güter teilen können, so daß jeder ein schönes Besitztum erhält.« Es wurden Wilhelmen die Papiere vorgelegt, man besah die Felder, Wiesen, Schlösser, und obgleich Jarno und der Abbé die Sache sehr gut zu verstehen schienen, so wünschte Wilhelm doch, daß Fräulein Therese von der Gesellschaft sein möchte.

Sie brachten mehrere Tage mit diesen Arbeiten zu, und Wilhelm hatte kaum Zeit, seine Abenteuer und seine zweifelhafte Vaterschaft den Freunden zu erzählen, die eine ihm so wichtige Begebenheit gleichgültig und leichtsinnig behandelten.

Er hatte bemerkt, daß sie manchmal in vertrauten Gesprächen, bei Tische und auf Spaziergängen, auf einmal innehielten, ihren Worten eine andere Wendung gaben und dadurch wenigstens anzeigten, daß sie unter sich manches abzutun hatten, das ihm verborgen sei. Er erinnerte sich an das, was Lydie gesagt hatte, und glaubte um so mehr daran, als eine ganze Seite des Schlosses vor ihm immer unzugänglich gewesen war. Zu gewissen Galerien und besonders zu dem alten Turm, den er von außen recht gut kannte, hatte er bisher vergebens Weg und Eingang gesucht.

Eines Abends sagte Jarno zu ihm: »Wir können Sie nun so sicher als den Unsern ansehen, daß es unbillig wäre, wenn wir Sie nicht tiefer in unsere Geheimnisse einführten. Es ist gut, daß der Mensch, der erst in die Welt tritt, viel von sich halte, daß er sich viele Vorzüge zu erwerben denke, daß er alles möglich zu machen suche; aber wenn seine Bildung auf einem gewissen Grade steht, dann ist es vorteilhaft, wenn er sich in einer größern Masse verlieren lernt, wenn er lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen. Da lernt er erst sich selbst kennen, denn das Handeln eigentlich vergleicht uns mit andern. Sie sollen bald erfahren, welch eine kleine Welt sich in Ihrer Nähe befindet und wie gut Sie in dieser kleinen Welt gekannt sind; morgen früh vor Sonnenaufgang sein Sie angezogen und bereit.«

Jarno kam zur bestimmten Stunde und führte ihn durch bekannte und unbekannte Zimmer des Schlosses, dann durch einige Galerien, und sie gelangten endlich vor eine große, alte Türe, die stark mit Eisen beschlagen war. Jarno pochte, die Türe tat sich ein wenig auf, so daß eben ein Mensch hineinschlüpfen konnte. Jarno schob Wilhelmen hinein, ohne ihm zu folgen. Dieser fand sich in einem dunkeln und engen Behältnisse, es war finster um ihn, und als er einen Schritt vorwärts gehen wollte, stieß er schon wider. Eine nicht ganz unbekannte Stimme rief ihm zu: »Tritt herein!«, und nun bemerkte er erst, daß die Seiten des Raums, in dem er sich befand, nur mit Teppichen behangen waren, durch welche ein schwaches Licht hindurchschimmerte. »Tritt herein!« rief es nochmals; er hob den Teppich auf und trat hinein.

Der Saal, in dem er sich nunmehr befand, schien ehemals eine Kapelle gewesen zu sein; anstatt des Altars stand ein großer Tisch auf einigen Stufen, mit einem grünen Teppich behangen, darüber schien ein zugezogener Vorhang ein Gemälde zu bedecken; an den Seiten waren schön gearbeitete Schränke, mit feinen Drahtgittern verschlossen, wie man sie in Bibliotheken zu sehen pflegt, nur sah er anstatt der Bücher viele Rollen aufgestellt. Niemand befand sich in dem Saal; die aufgehende Sonne fiel durch die farbigen Fenster Wilhelmen grade entgegen und begrüßte ihn freundlich.

»Setze dich!« rief eine Stimme, die von dem Altar her zu tönen schien. Wilhelm setzte sich auf einen kleinen Armstuhl, der wider den Verschlag des Eingangs stand; es war kein anderer Sitz im ganzen Zimmer, er mußte sich darein ergeben, ob ihn schon die Morgensonne blendete; der Sessel stand fest, er konnte nur die Hand vor die Augen halten.

Indem eröffnete sich mit einem kleinen Geräusche der Vorhang über dem Altar und zeigte innerhalb eines Rahmens eine leere, dunkle Öffnung. Es trat ein Mann hervor in gewöhnlicher Kleidung, der ihn begrüßte und zu ihm sagte: »Sollten Sie mich nicht wiedererkennen? Sollten Sie unter andern Dingen, die Sie wissen möchten, nicht auch zu erfahren wünschen, wo die Kunstsammlung Ihres Großvaters sich gegenwärtig befindet? Erinnern Sie sich des Gemäldes nicht mehr, das Ihnen so reizend war? Wo mag der kranke Königssohn wohl jetzo schmachten?« Wilhelm erkannte leicht den Fremden, der in jener bedeutenden Nacht sich mit ihm im Gasthause unterhalten hatte. »Vielleicht«, fuhr dieser fort, »können wir jetzt über Schicksal und Charakter eher einig werden.«

Wilhelm wollte eben antworten, als der Vorhang sich wieder rasch zusammenzog. »Sonderbar!« sagte er bei sich selbst, »sollten zufällige Ereignisse einen Zusammenhang haben? Und das, was wir Schicksal nennen, sollte es bloß Zufall sein? Wo mag sich meines Großvaters Sammlung befinden? Und warum erinnert man mich in diesen feierlichen Augenblicken daran?«

Er hatte nicht Zeit, weiterzudenken, denn der Vorhang öffnete sich wieder, und ein Mann stand vor seinen Augen, den er sogleich für den Landgeistlichen erkannte, der mit ihm und der lustigen Gesellschaft jene Wasserfahrt gemacht hatte; er glich dem Abbé, ob er gleich nicht dieselbe Person schien. Mit einem heitern Gesichte und einem würdigen Ausdruck fing der Mann an: »Nicht vor Irrtum zu bewahren ist die Pflicht des Menschenerziehers, sondern den Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen zu lassen, das ist Weisheit der Lehrer. Wer seinen Irrtum nur kostet, hält lange damit haus, er freuet sich dessen als eines seltenen Glücks, aber wer ihn ganz erschöpft, der muß ihn kennenlernen, wenn er nicht wahnsinnig ist.« Der Vorhang schloß sich abermals, und Wilhelm hatte Zeit nachzudenken. »Von welchem Irrtum kann der Mann sprechen?« sagte er zu sich selbst, »als von dem, der mich mein ganzes Leben verfolgt hat, daß ich da Bildung suchte, wo keine zu finden war, daß ich mir einbildete, ein Talent erwerben zu können, zu dem ich nicht die geringste Anlage hatte.«

Der Vorhang riß sich schneller auf, ein Offizier trat hervor und sagte nur im Vorbeigehen: »Lernen Sie die Menschen kennen, zu denen man Zutrauen haben kann!« Der Vorhang schloß sich, und Wilhelm brauchte sich nicht lange zu besinnen, um diesen Offizier für denjenigen zu erkennen, der ihn in des Grafen Park umarmt hatte und schuld gewesen war, daß er Jarno für einen Werber hielt. Wie dieser hierhergekommen und wer er sei, war Wilhelmen völlig ein Rätsel. »Wenn so viele Menschen an dir teilnahmen, deinen Lebensweg kannten und wußten, was darauf zu tun sei, warum führten sie dich nicht strenger? warum nicht ernster? warum begünstigten sie deine Spiele, anstatt dich davon wegzuführen?«

»Rechte nicht mit uns!« rief eine Stimme. »Du bist gerettet und auf dem Wege zum Ziel. Du wirst keine deiner Torheiten bereuen und keine zurückwünschen, kein glücklicheres Schicksal kann einem Menschen werden.« Der Vorhang riß sich voneinander, und in voller Rüstung stand der alte König von Dänemark in dem Raume. »Ich bin der Geist deines Vaters«, sagte das Bildnis, »und scheide getrost, da meine Wünsche für dich, mehr als ich sie selbst begriff, erfüllt sind. Steile Gegenden lassen sich nur durch Umwege erklimmen, auf der Ebene führen gerade Wege von einem Ort zum andern. Lebe wohl, und gedenke mein, wenn du genießest, was ich dir vorbereitet habe.«

Wilhelm war äußerst betroffen, er glaubte die Stimme seines Vaters zu hören, und doch war sie es auch nicht; er befand sich durch die Gegenwart und die Erinnerung in der verworrensten Lage.

Nicht lange konnte er nachdenken, als der Abbé hervortrat und sich hinter den grünen Tisch stellte. »Treten Sie herbei!« rief er seinem verwunderten Freunde zu. Er trat herbei und stieg die Stufen hinan. Auf dem Teppiche lag eine kleine Rolle. »Hier ist Ihr Lehrbrief«, sagte der Abbé, »beherzigen Sie ihn, er ist von wichtigem Inhalt.« Wilhelm nahm ihn auf, öffnete ihn und las:

Lehrbrief Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil schwierig, die Gelegenheit flüchtig. Handeln ist leicht, Denken schwer; nach dem Gedanken handeln unbequem. Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung. Der Knabe staunt, der Eindruck bestimmt ihn, er lernt spielend, der Ernst überrascht ihn. Die Nachahmung ist uns angeboren, das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt. Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge, wandeln wir gerne auf der Ebene. Nur ein Teil der Kunst kann gelehrt werden, der Künstler braucht sie ganz. Wer sie halb kennt, ist immer irre und redet viel; wer sie ganz besitzt, mag nur tun und redet selten oder spät. Jene haben keine Geheimnisse und keine Kraft, ihre Lehre ist wie gebackenes Brot schmackhaft und sättigend für einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden. Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt. Niemand weiß, was er tut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten sind wir uns immer bewußt. Wer bloß mit Zeichen wirkt, ist ein Pedant, ein Heuchler oder ein Pfuscher. Es sind ihrer viel, und es wird ihnen wohl zusammen. Ihr Geschwätz hält den Schüler zurück, und ihre beharrliche Mittelmäßigkeit ängstigt die Besten. Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat. Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nähert sich dem Meister.

»Genug!« rief der Abbé, »das übrige zu seiner Zeit. Jetzt sehen Sie sich in jenen Schränken um!«

Wilhelm ging hin und las die Aufschriften der Rollen. Er fand mit Verwunderung Lotharios Lehrjahre, Jarnos Lehrjahre und seine eignen Lehrjahre daselbst aufgestellt, unter vielen andern, deren Namen ihm unbekannt waren.

»Darf ich hoffen, in diese Rollen einen Blick zu werfen?«

»Es ist für Sie nunmehr in diesem Zimmer nichts verschlossen.«

»Darf ich eine Frage tun?«

»Ohne Bedenken! und Sie können entscheidende Antwort erwarten, wenn es eine Angelegenheit betrifft, die Ihnen zunächst am Herzen liegt und am Herzen liegen soll.«

»Gut denn! Ihr sonderbaren und weisen Menschen, deren Blick in so viel Geheimnisse dringt, könnt ihr mir sagen, ob Felix wirklich mein Sohn sei?«

»Heil Ihnen über diese Frage!« rief der Abbé, indem er vor Freuden die Hände zusammenschlug, »Felix ist Ihr Sohn! Bei dem Heiligsten, was unter uns verborgen liegt, schwör ich Ihnen: Felix ist Ihr Sohn! und der Gesinnung nach war seine abgeschiedne Mutter Ihrer nicht unwert. Empfangen Sie das liebliche Kind aus unserer Hand, kehren Sie sich um, und wagen Sie es, glücklich zu sein!«

Wilhelm hörte ein Geräusch hinter sich, er kehrte sich um und sah ein Kindergesicht schalkhaft durch die Teppiche des Eingangs hervorgucken: es war Felix. Der Knabe versteckte sich sogleich scherzend, als er gesehen wurde. »Komm hervor!« rief der Abbé. Er kam gelaufen, sein Vater stürzte ihm entgegen, nahm ihn in die Arme und drückte ihn an sein Herz. »Ja, ich fühl’s«, rief er aus, »du bist mein! Welche Gabe des Himmels habe ich meinen Freunden zu verdanken! Wo kommst du her, mein Kind, gerade in diesem Augenblick?«

»Fragen Sie nicht«, sagte der Abbé. »Heil dir, junger Mann! deine Lehrjahre sind vorüber; die Natur hat dich losgesprochen.«

Achtes Buch

Erstes Kapitel

Felix war in den Garten gesprungen, Wilhelm folgte ihm mit Entzücken, der schönste Morgen zeigte jeden Gegenstand mit neuen Reizen, und Wilhelm genoß den heitersten Augenblick. Felix war neu in der freien und herrlichen Welt, und sein Vater nicht viel bekannter mit den Gegenständen, nach denen der Kleine wiederholt und unermüdet fragte. Sie gesellten sich endlich zum Gärtner, der die Namen und den Gebrauch mancher Pflanzen hererzählen mußte; Wilhelm sah die Natur durch ein neues Organ, und die Neugierde, die Wißbegierde des Kindes ließen ihn erst fühlen, welch ein schwaches Interesse er an den Dingen außer sich genommen hatte, wie wenig er kannte und wußte. An diesem Tage, dem vergnügtesten seines Lebens, schien auch seine eigne Bildung erst anzufangen; er fühlte die Notwendigkeit, sich zu belehren, indem er zu lehren aufgefordert ward.

Jarno und der Abbé hatten sich nicht wieder sehen lassen; abends kamen sie und brachten einen Fremden mit. Wilhelm ging ihm mit Erstaunen entgegen, er traute seinen Augen nicht: es war Werner, der gleichfalls einen Augenblick anstand, ihn anzuerkennen. Beide umarmten sich aufs zärtlichste, und beide konnten nicht verbergen, daß sie sich wechselsweise verändert fanden. Werner behauptete, sein Freund sei größer, stärker, gerader, in seinem Wesen gebildeter und in seinem Betragen angenehmer geworden. »Etwas von seiner alten Treuherzigkeit vermiß ich«, setzte er hinzu. »Sie wird sich auch schon wieder zeigen, wenn wir uns nur von der ersten Verwunderung erholt haben«, sagte Wilhelm.

Es fehlte viel, daß Werner einen gleich vorteilhaften Eindruck auf Wilhelmen gemacht hätte. Der gute Mann schien eher zurück- als vorwärtsgegangen zu sein. Er war viel magerer als ehemals, sein spitzes Gesicht schien feiner, seine Nase länger zu sein, seine Stirn und sein Scheitel waren von Haaren entblößt, seine Stimme hell, heftig und schreiend, und seine eingedrückte Brust, seine vorfallenden Schultern, seine farblosen Wangen ließen keinen Zweifel übrig, daß ein arbeitsamer Hypochondrist gegenwärtig sei.

Wilhelm war bescheiden genug, um sich über diese große Veränderung sehr mäßig zu erklären, da der andere hingegen seiner freundschaftlichen Freude völligen Lauf ließ. »Wahrhaftig!« rief er aus, »wenn du deine Zeit schlecht angewendet und, wie ich vermute, nichts gewonnen hast, so bist du doch indessen ein Persönchen geworden, das sein Glück machen kann und muß; verschlendere und verschleudere nur auch das nicht wieder: du sollst mir mit dieser Figur eine reiche und schöne Erbin erkaufen.« – »Du wirst doch«, versetzte Wilhelm lächelnd, »deinen Charakter nicht verleugnen! Kaum findest du nach langer Zeit deinen Freund wieder, so siehst du ihn schon als eine Ware, als einen Gegenstand deiner Spekulation an, mit dem sich etwas gewinnen läßt.«

Jarno und der Abbé schienen über diese Erkennung keinesweges verwundert und ließen beide Freunde sich nach Belieben über das Vergangene und Gegenwärtige ausbreiten. Werner ging um seinen Freund herum, drehte ihn hin und her, so daß er ihn fast verlegen machte. »Nein! nein!« rief er aus, »so was ist mir noch nicht vorgekommen, und doch weiß ich wohl, daß ich mich nicht betriege. Deine Augen sind tiefer, deine Stirn ist breiter, deine Nase feiner und dein Mund liebreicher geworden. Seht nur einmal, wie er steht! wie das alles paßt und zusammenhängt! Wie doch das Faulenzen gedeihet! Ich armer Teufel dagegen« – er besah sich im Spiegel – »wenn ich diese Zeit her nicht recht viel Geld gewonnen hätte, so wäre doch auch gar nichts an mir.«

Werner hatte Wilhelms letzten Brief nicht empfangen; ihre Handlung war das fremde Haus, mit welchem Lothario die Güter in Gemeinschaft zu kaufen die Absicht hatte. Dieses Geschäft führte Wernern hierher; er hatte keine Gedanken, Wilhelmen auf seinem Wege zu finden. Der Gerichtshalter kam, die Papiere wurden vorgelegt, und Werner fand die Vorschläge billig. »Wenn Sie es mit diesem jungen Manne, wie es scheint, gut meinen«, sagte er, »so sorgen Sie selbst dafür, daß unser Teil nicht verkürzt werde; es soll von meinem Freunde abhängen, ob er das Gut annehmen und einen Teil seines Vermögens daran wenden will.« Jarno und der Abbé versicherten, daß es dieser Erinnerung nicht bedürfe. Man hatte die Sache kaum im allgemeinen verhandelt, als Werner sich nach einer Partie L’hombre sehnte, wozu sich denn auch gleich der Abbé und Jarno mit hinsetzten; er war es nun einmal so gewohnt, er konnte des Abends ohne Spiel nicht leben.

Als die beiden Freunde nach Tische allein waren, befragten und besprachen sie sich sehr lebhaft über alles, was sie sich mitzuteilen wünschten. Wilhelm rühmte seine Lage und das Glück seiner Aufnahme unter so trefflichen Menschen. Werner dagegen schüttelte den Kopf und sagte: »Man sollte doch auch nichts glauben, als was man mit Augen sieht! Mehr als ein dienstfertiger Freund hat mir versichert, du lebtest mit einem liederlichen jungen Edelmann, führtest ihm Schauspielerinnen zu, hälfest ihm sein Geld durchbringen und seiest schuld, daß er mit seinen sämtlichen Anverwandten gespannt sei.« – »Es würde mich um meinet- und um der guten Menschen willen verdrießen, daß wir so verkannt werden«, versetzte Wilhelm, »wenn mich nicht meine theatralische Laufbahn mit jeder übeln Nachrede versöhnt hätte. Wie sollten die Menschen unsere Handlungen beurteilen, die ihnen nur einzeln und abgerissen erscheinen, wovon sie das wenigste sehen, weil Gutes und Böses im verborgenen geschieht und eine gleichgültige Erscheinung meistens nur an den Tag kommt. Bringt man ihnen doch Schauspieler und Schauspielerinnen auf erhöhte Bretter, zündet von allen Seiten Licht an, das ganze Werk ist in wenig Stunden abgeschlossen, und doch weiß selten jemand eigentlich, was er daraus machen soll.«

Nun ging es an ein Fragen nach der Familie, nach den Jugendfreunden und der Vaterstadt. Werner erzählte mit großer Hast alles, was sich verändert hatte und was noch bestand und geschah. »Die Frauen im Hause«, sagte er, »sind vergnügt und glücklich, es fehlt nie an Geld. Die eine Hälfte der Zeit bringen sie zu, sich zu putzen, und die andere Hälfte, sich geputzt sehen zu lassen. Haushälterisch sind sie soviel, als billig ist. Meine Kinder lassen sich zu gescheiten Jungen an. Ich sehe sie im Geiste schon sitzen und schreiben und rechnen, laufen, handeln und trödeln; einem jeden soll so bald als möglich ein eignes Gewerbe eingerichtet werden, und was unser Vermögen betrifft, daran sollst du deine Lust sehen. Wenn wir mit den Gütern in Ordnung sind, mußt du gleich mit nach Hause: denn es sieht doch aus, als wenn du mit einiger Vernunft in die menschlichen Unternehmungen eingreifen könntest. Deine neuen Freunde sollen gepriesen sein, da sie dich auf den rechten Weg gebracht haben. Ich bin ein närrischer Teufel und merke erst, wie lieb ich dich habe, da ich mich nicht satt an dir sehen kann, daß du so wohl und so gut aussiehst. Das ist doch noch eine andere Gestalt als das Porträt, das du einmal an die Schwester schicktest und worüber im Hause großer Streit war. Mutter und Tochter fanden den jungen Herrn allerliebst mit offnem Halse, halbfreier Brust, großer Krause, herumhängendem Haar, rundem Hut, kurzem Westchen und schlotternden langen Hosen, indessen ich behauptete, das Kostüm sei nur noch zwei Finger breit vom Hanswurst. Nun siehst du doch aus wie ein Mensch, nur fehlt der Zopf, in den ich deine Haare einzubinden bitte, sonst hält man dich denn doch einmal unterwegs als Juden an und fordert Zoll und Geleite von dir.«

Felix war indessen in die Stube gekommen und hatte sich, als man auf ihn nicht achtete, aufs Kanapee gelegt und war eingeschlafen. »Was ist das für ein Wurm?« fragte Werner. Wilhelm hatte in dem Augenblicke den Mut nicht, die Wahrheit zu sagen, noch Lust, eine doch immer zweideutige Geschichte einem Manne zu erzählen, der von Natur nichts weniger als gläubig war.

Die ganze Gesellschaft begab sich nunmehr auf die Güter, um sie zu besehen und den Handel abzuschließen. Wilhelm ließ seinen Felix nicht von der Seite und freute sich um des Knaben willen recht lebhaft des Besitzes, dem man entgegensah. Die Lüsternheit des Kindes nach den Kirschen und Beeren, die bald reif werden sollten, erinnerte ihn an die Zeit seiner Jugend und an die vielfache Pflicht des Vaters, den Seinigen den Genuß vorzubereiten, zu verschaffen und zu erhalten. Mit welchem Interesse betrachtete er die Baumschulen und die Gebäude! Wie lebhaft sann er darauf, das Vernachlässigte wiederherzustellen und das Verfallene zu erneuern! Er sah die Welt nicht mehr wie ein Zugvogel an, ein Gebäude nicht mehr für eine geschwind zusammengestellte Laube, die vertrocknet, ehe man sie verläßt. Alles, was er anzulegen gedachte, sollte dem Knaben entgegenwachsen, und alles, was er herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben. In diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben. Er fühlte es, und seiner Freude konnte nichts gleichen. »O der unnötigen Strenge der Moral!« rief er aus, »da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir sein sollen. O der seltsamen Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft, die uns erst verwirrt und mißleitet und dann mehr als die Natur selbst von uns fordert! Wehe jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung zerstört und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege selbst zu beglücken!«

So manches er auch in seinem Leben schon gesehen hatte, so schien ihm doch die menschliche Natur erst durch die Beobachtung des Kindes deutlich zu werden. Das Theater war ihm, wie die Welt, nur als eine Menge ausgeschütteter Würfel vorgekommen, deren jeder einzeln auf seiner Oberfläche bald mehr, bald weniger bedeutet und die allenfalls zusammengezählt eine Summe machen. Hier im Kinde lag ihm, konnte man sagen, ein einzelner Würfel vor, auf dessen vielfachen Seiten der Wert und der Unwert der menschlichen Natur so deutlich eingegraben war.

Das Verlangen des Kindes nach Unterscheidung wuchs mit jedem Tage. Da es einmal erfahren hatte, daß die Dinge Namen haben, so wollte es auch den Namen von allem hören; es glaubte nicht anders, sein Vater müsse alles wissen, quälte ihn oft mit Fragen und gab ihm Anlaß, sich nach Gegenständen zu erkundigen, denen er sonst wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Auch der eingeborne Trieb, die Herkunft und das Ende der Dinge zu erfahren, zeigte sich frühe bei dem Knaben. Wenn er fragte, wo der Wind herkomme und wo die Flamme hinkomme, war dem Vater seine eigene Beschränkung erst recht lebendig; er wünschte zu erfahren, wie weit sich der Mensch mit seinen Gedanken wagen und wovon er hoffen dürfe sich und andern jemals Rechenschaft zu geben. Die Heftigkeit des Kindes, wenn es irgendeinem lebendigen Wesen Unrecht geschehen sah, erfreute den Vater höchlich als das Zeichen eines trefflichen Gemüts. Das Kind schlug heftig nach dem Küchenmädchen, das einige Tauben abgeschnitten hatte. Dieser schöne Begriff wurde denn freilich bald wieder zerstört, als er den Knaben fand, der ohne Barmherzigkeit Frösche totschlug und Schmetterlinge zerrupfte. Es erinnerte ihn dieser Zug an so viele Menschen, die höchst gerecht erscheinen, wenn sie ohne Leidenschaft sind und die Handlungen anderer beobachten.

Dieses angenehme Gefühl, daß der Knabe so einen schönen und wahren Einfluß auf sein Dasein habe, ward einen Augenblick gestört, als Wilhelm in kurzem bemerkte, daß wirklich der Knabe mehr ihn als er den Knaben erziehe. Er hatte an dem Kinde nichts auszusetzen, er war nicht imstande, ihm eine Richtung zu geben, die es nicht selbst nahm, und sogar die Unarten, gegen die Aurelie so viel gearbeitet hatte, waren, so schien es, nach dem Tode dieser Freundin alle wieder in ihre alten Rechte getreten. Noch machte das Kind die Türe niemals hinter sich zu, noch wollte er seinen Teller nicht abessen, und sein Behagen war niemals größer, als wenn man ihm nachsah, daß er den Bissen unmittelbar aus der Schüssel nehmen, das volle Glas stehenlassen und aus der Flasche trinken konnte. So war er auch ganz allerliebst, wenn er sich mit einem Buche in die Ecke setzte und sehr ernsthaft sagte: »Ich muß das gelehrte Zeug studieren!«, ob er gleich die Buchstaben noch lange weder unterscheiden konnte noch wollte.

Bedachte nun Wilhelm, wie wenig er bisher für das Kind getan hatte, wie wenig er zu tun fähig sei, so entstand eine Unruhe in ihm, die sein ganzes Glück aufzuwiegen imstande war. »Sind wir Männer denn«, sagte er zu sich, »so selbstisch geboren, daß wir unmöglich für ein Wesen außer uns Sorge tragen können? Bin ich mit dem Knaben nicht eben auf dem Wege, auf dem ich mit Mignon war? Ich zog das liebe Kind an, seine Gegenwart ergötzte mich, und dabei hab ich es aufs grausamste vernachlässigt. Was tat ich zu seiner Bildung, nach der es so sehr strebte? Nichts! Ich überließ es sich selbst und allen Zufälligkeiten, denen es in einer ungebildeten Gesellschaft nur ausgesetzt sein konnte; und dann für diesen Knaben, der dir so merkwürdig war, ehe er dir so wert sein konnte, hat dich denn dein Herz geheißen, auch nur jemals das geringste für ihn zu tun? Es ist nicht mehr Zeit, daß du deine eigenen Jahre und die Jahre anderer vergeudest; nimm dich zusammen, und denke, was du für dich und die guten Geschöpfe zu tun hast, welche Natur und Neigung so fest an dich knüpfte.«

Eigentlich war dieses Selbstgespräch nur eine Einleitung, sich zu bekennen, daß er schon gedacht, gesorgt, gesucht und gewählt hatte; er konnte nicht länger zögern, sich es selbst zu gestehen. Nach oft vergebens wiederholtem Schmerz über den Verlust Marianens fühlte er nur zu deutlich, daß er eine Mutter für den Knaben suchen müsse und daß er sie nicht sichrer als in Theresen finden werde. Er kannte dieses vortreffliche Frauenzimmer ganz. Eine solche Gattin und Gehülfin schien die einzige zu sein, der man sich und die Seinen anvertrauen könnte. Ihre edle Neigung zu Lothario machte ihm keine Bedenklichkeit. Sie waren durch ein sonderbares Schicksal auf ewig getrennt, Therese hielt sich für frei und hatte von einer Heirat zwar mit Gleichgültigkeit, doch als von einer Sache gesprochen, die sich von selbst versteht.

Nachdem er lange mit sich zu Rate gegangen war, nahm er sich vor, ihr von sich zu sagen, soviel er nur wußte. Sie sollte ihn kennenlernen, wie er sie kannte, und er fing nun an, seine eigene Geschichte durchzudenken; sie schien ihm an Begebenheiten so leer und im ganzen jedes Bekenntnis so wenig zu seinem Vorteil, daß er mehr als einmal von dem Vorsatz abzustehn im Begriff war. Endlich entschloß er sich, die Rolle seiner Lehrjahre aus dem Turme von Jarno zu verlangen; dieser sagte: »Es ist eben zur rechten Zeit«, und Wilhelm erhielt sie.

Es ist eine schauderhafte Empfindung, wenn ein edler Mensch mit Bewußtsein auf dem Punkte steht, wo er über sich selbst aufgeklärt werden soll. Alle Übergänge sind Krisen, und ist eine Krise nicht Krankheit? Wie ungern tritt man nach einer Krankheit vor den Spiegel! Die Besserung fühlt man, und man sieht nur die Wirkung des vergangenen Übels. Wilhelm war indessen vorbereitet genug, die Umstände hatten schon lebhaft zu ihm gesprochen, seine Freunde hatten ihn eben nicht geschont, und wenn er gleich das Pergament mit einiger Hast aufrollte, so ward er doch immer ruhiger, je weiter er las. Er fand die umständliche Geschichte seines Lebens in großen, scharfen Zügen geschildert; weder einzelne Begebenheiten noch beschränkte Empfindungen verwirrten seinen Blick, allgemeine liebevolle Betrachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschämen, und er sah zum erstenmal sein Bild außer sich, zwar nicht wie im Spiegel ein zweites Selbst, sondern wie im Porträt ein anderes Selbst: man bekennt sich zwar nicht zu allen Zügen, aber man freut sich, daß ein denkender Geist uns so hat fassen, ein großes Talent uns so hat darstellen wollen, daß ein Bild von dem, was wir waren, noch besteht und daß es länger als wir selbst dauern kann.

Wilhelm beschäftigte sich nunmehr, indem alle Umstände durch dies Manuskript in sein Gedächtnis zurückkamen, die Geschichte seines Lebens für Theresen aufzusetzen, und er schämte sich fast, daß er gegen ihre großen Tugenden nichts aufzustellen hatte, was eine zweckmäßige Tätigkeit beweisen konnte. So umständlich er in dem Aufsatze war, so kurz faßte er sich in dem Briefe, den er an sie schrieb; er bat sie um ihre Freundschaft, um ihre Liebe, wenn’s möglich wäre; er bot ihr seine Hand an und bat sie um baldige Entscheidung.

Nach einigem innerlichen Streit, ob er diese wichtige Sache noch erst mit seinen Freunden, mit Jarno und dem Abbé, beraten solle, entschied er sich zu schweigen. Er war zu fest entschlossen, die Sache war für ihn zu wichtig, als daß er sie noch hätte dem Urteil des vernünftigsten und besten Mannes unterwerfen mögen; ja sogar brauchte er die Vorsicht, seinen Brief auf der nächsten Post selbst zu bestellen. Vielleicht hatte ihm der Gedanke, daß er in so vielen Umständen seines Lebens, in denen er frei und im verborgenen zu handeln glaubte, beobachtet, ja sogar geleitet worden war, wie ihm aus der geschriebenen Rolle nicht undeutlich erschien, eine Art von unangenehmer Empfindung gegeben, und nun wollte er wenigstens zu Theresens Herzen rein vom Herzen reden und ihrer Entschließung und Entscheidung sein Schicksal schuldig sein, und so machte er sich kein Gewissen, seine Wächter und Aufseher in diesem wichtigen Punkte wenigstens zu umgehen.

Zweites Kapitel

Kaum war der Brief abgesendet, als Lothario zurückkam. Jedermann freuete sich, die vorbereiteten wichtigen Geschäfte abgeschlossen und bald geendigt zu sehen, und Wilhelm erwartete mit Verlangen, wie so viele Fäden teils neu geknüpft, teils aufgelöst und nun sein eignes Verhältnis auf die Zukunft bestimmt werden sollte. Lothario begrüßte sie alle aufs beste; er war völlig wiederhergestellt und heiter, er hatte das Ansehen eines Mannes, der weiß, was er tun soll, und dem in allem, was er tun will, nichts im Wege steht.

Wilhelm konnte ihm seinen herzlichen Gruß nicht zurückgeben. »Dies ist«, mußte er zu sich selbst sagen, »der Freund, der Geliebte, der Bräutigam Theresens, an dessen Statt du dich einzudrängen denkst. Glaubst du denn jemals einen solchen Eindruck auszulöschen oder zu verbannen?« Wäre der Brief noch nicht fort gewesen, er hätte vielleicht nicht gewagt, ihn abzusenden. Glücklicherweise war der Wurf schon getan, vielleicht war Therese schon entschieden, nur die Entfernung deckte noch eine glückliche Vollendung mit ihrem Schleier. Gewinn und Verlust mußten sich bald entscheiden. Er suchte sich durch alle diese Betrachtungen zu beruhigen, und doch waren die Bewegungen seines Herzens beinahe fieberhaft. Nur wenig Aufmerksamkeit konnte er auf das wichtige Geschäft wenden, woran gewissermaßen das Schicksal seines ganzen Vermögens hing. Ach! wie unbedeutend erscheint dem Menschen in leidenschaftlichen Augenblicken alles, was ihn umgibt, alles, was ihm angehört!

Zu seinem Glücke behandelte Lothario die Sache groß, und Werner mit Leichtigkeit. Dieser hatte bei seiner heftigen Begierde zum Erwerb eine lebhafte Freude über den schönen Besitz, der ihm oder vielmehr seinem Freunde werden sollte. Lothario von seiner Seite schien ganz andere Betrachtungen zu machen. »Ich kann mich nicht sowohl über einen Besitz freuen«, sagte er, »als über die Rechtmäßigkeit desselben.«

»Nun, beim Himmel!« rief Werner, »wird denn dieser unser Besitz nicht rechtmäßig genug?«

»Nicht ganz!« versetzte Lothario.

»Geben wir denn nicht unser bares Geld dafür?«

»Recht gut!« sagte Lothario, »auch werden Sie dasjenige, was ich zu erinnern habe, vielleicht für einen leeren Skrupel halten. Mir kommt kein Besitz ganz rechtmäßig, ganz rein vor, als der dem Staate seinen schuldigen Teil abträgt.«

»Wie?« sagte Werner, »so wollten Sie also lieber, daß unsere frei gekauften Güter steuerbar wären?«

»Ja«, versetzte Lothario, »bis auf einen gewissen Grad: denn durch diese Gleichheit mit allen übrigen Besitzungen entsteht ganz allein die Sicherheit des Besitzes. Was hat der Bauer in den neuern Zeiten, wo so viele Begriffe schwankend werden, für einen Hauptanlaß, den Besitz des Edelmanns für weniger gegründet anzusehen als den seinigen? Nur den, daß jener nicht belastet ist und auf ihn lastet.«

»Wie wird es aber mit den Zinsen unseres Kapitals aussehen?« versetzte Werner.

»Um nichts schlimmer!« sagte Lothario, »wenn uns der Staat gegen eine billige, regelmäßige Abgabe das Lehns-Hokuspokus erlassen und uns mit unsern Gütern nach Belieben zu schalten erlauben wollte, daß wir sie nicht in so großen Massen zusammenhalten müßten, daß wir sie unter unsere Kinder gleicher verteilen könnten, um alle in eine lebhafte, freie Tätigkeit zu versetzen, statt ihnen nur die beschränkten und beschränkenden Vorrechte zu hinterlassen, welche zu genießen wir immer die Geister unserer Vorfahren hervorrufen müssen. Wieviel glücklicher wären Männer und Frauen, wenn sie mit freien Augen umhersehen und bald ein würdiges Mädchen, bald einen trefflichen Jüngling ohne andere Rücksichten durch ihre Wahl erheben könnten. Der Staat würde mehr, vielleicht bessere Bürger haben und nicht so oft um Köpfe und Hände verlegen sein.«

»Ich kann Sie versichern«, sagte Werner, »daß ich in meinem Leben nie an den Staat gedacht habe; meine Abgaben, Zölle und Geleite habe ich nur so bezahlt, weil es einmal hergebracht ist.«

»Nun«, sagte Lothario, »ich hoffe Sie noch zum guten Patrioten zu machen: denn wie der nur ein guter Vater ist, der bei Tische erst seinen Kindern vorlegt, so ist der nur ein guter Bürger, der vor allen andern Ausgaben das, was er dem Staate zu entrichten hat, zurücklegt.«

Durch solche allgemeine Betrachtungen wurden ihre besondern Geschäfte nicht aufgehalten, vielmehr beschleunigt. Als sie ziemlich damit zustande waren, sagte Lothario zu Wilhelmen: »Ich muß Sie nun an einen Ort schicken, wo Sie nötiger sind als hier: meine Schwester läßt Sie ersuchen, so bald als möglich zu ihr zu kommen; die arme Mignon scheint sich zu verzehren, und man glaubt, Ihre Gegenwart könnte vielleicht noch dem Übel Einhalt tun. Meine Schwester schickte mir dieses Billett noch nach, woraus Sie sehen können, wieviel ihr daran gelegen ist.« Lothario überreichte ihm ein Blättchen. Wilhelm, der schon in der größten Verlegenheit zugehört hatte, erkannte sogleich an diesen flüchtigen Bleistiftzügen die Hand der Gräfin und wußte nicht, was er antworten sollte.

»Nehmen Sie Felix mit«, sagte Lothario, »damit die Kinder sich untereinander aufheitern. Sie müßten morgen früh beizeiten weg; der Wagen meiner Schwester, in welchem meine Leute hergefahren sind, ist noch hier, ich gebe Ihnen Pferde bis auf halben Weg, dann nehmen Sie Post. Leben Sie recht wohl und richten viele Grüße von mir aus. Sagen Sie dabei meiner Schwester, ich werde sie bald wiedersehen, und sie soll sich überhaupt auf einige Gäste vorbereiten. Der Freund unseres Großoheims, der Marchese Cipriani, ist auf dem Wege, hierherzukommen; er hoffte, den alten Mann noch am Leben anzutreffen, und sie wollten sich zusammen an der Erinnerung früherer Verhältnisse ergötzen und sich ihrer gemeinsamen Kunstliebhaberei erfreuen. Der Marchese war viel jünger als mein Oheim und verdankte ihm den besten Teil seiner Bildung; wir müssen alles aufbieten, um einigermaßen die Lücke auszufüllen, die er finden wird, und das wird am besten durch eine größere Gesellschaft geschehen.«

Lothario ging darauf mit dem Abbé in sein Zimmer, Jarno war vorher weggeritten; Wilhelm eilte auf seine Stube; er hatte niemand, dem er sich vertrauen, niemand, durch den er einen Schritt, vor dem er sich so sehr fürchtete, hätte abwenden können. Der kleine Diener kam und ersuchte ihn einzupacken, weil sie noch diese Nacht aufbinden wollten, um mit Anbruch des Tages wegzufahren. Wilhelm wußte nicht, was er tun sollte; endlich rief er aus: »Du willst nur machen, daß du aus diesem Hause kommst; unterweges überlegst du, was zu tun ist, und bleibst allenfalls auf der Hälfte des Weges liegen, schickst einen Boten zurück, schreibst, was du dir nicht zu sagen getraust, und dann mag werden, was will.« Ungeachtet dieses Entschlusses brachte er eine schlaflose Nacht zu; nur ein Blick auf den so schön ruhenden Felix gab ihm einige Erquickung. »Oh!« rief er aus, »wer weiß, was noch für Prüfungen auf mich warten, wer weiß, wie sehr mich begangene Fehler noch quälen, wie oft mir gute und vernünftige Plane für die Zukunft mißlingen sollen; aber diesen Schatz, den ich einmal besitze, erhalte mir, du erbittliches oder unerbittliches Schicksal! Wäre es möglich, daß dieser beste Teil von mir selbst vor mir zerstört, daß dieses Herz von meinem Herzen gerissen werden könnte, so lebe wohl, Verstand und Vernunft, lebe wohl, jede Sorgfalt und Vorsicht, verschwinde, du Trieb zur Erhaltung! Alles, was uns vom Tiere unterscheidet, verliere sich! Und wenn es nicht erlaubt ist, seine traurigen Tage freiwillig zu endigen, so hebe ein frühzeitiger Wahnsinn das Bewußtsein auf, ehe der Tod, der es auf immer zerstört, die lange Nacht herbeiführt!«

Er faßte den Knaben in seine Arme, küßte ihn, drückte ihn an sich und benetzte ihn mit reichlichen Tränen. Das Kind wachte auf; sein helles Auge, sein freundlicher Blick rührten den Vater aufs innigste. »Welche Szene steht mir bevor«, rief er aus, »wenn ich dich der schönen, unglücklichen Gräfin vorstellen soll, wenn sie dich an ihren Busen drückt, den dein Vater so tief verletzt hat! Muß ich nicht fürchten, sie stößt dich wieder von sich mit einem Schrei, sobald deine Berührung ihren wahren oder eingebildeten Schmerz erneuert!«

Der Kutscher ließ ihm nicht Zeit, weiter zu denken oder zu wählen, er nötigte ihn vor Tage in den Wagen; nun wickelte er seinen Felix wohl ein, der Morgen war kalt, aber heiter, das Kind sah zum erstenmal in seinem Leben die Sonne aufgehn. Sein Erstaunen über den ersten feurigen Blick, über die wachsende Gewalt des Lichts, seine Freude und seine wunderlichen Bemerkungen erfreuten den Vater und ließen ihn einen Blick in das Herz tun, vor welchem die Sonne wie über einem reinen, stillen See emporsteigt und schwebt.

In einer kleinen Stadt spannte der Kutscher aus und ritt zurück. Wilhelm nahm sogleich ein Zimmer in Besitz und fragte sich nun, ob er bleiben oder vorwärts gehen solle. In dieser Unentschlossenheit wagte er das Blättchen wieder hervorzunehmen, das er bisher nochmals anzusehen nicht getraut hatte; es enthielt folgende Worte: »Schicke mir deinen jungen Freund ja bald; Mignon hat sich diese beiden letzten Tage eher verschlimmert. So traurig diese Gelegenheit ist, so soll mich’s doch freuen, ihn kennenzulernen.«

Die letzten Worte hatte Wilhelm beim ersten Blick nicht bemerkt. Er erschrak darüber und war sogleich entschieden, daß er nicht gehen wollte. »Wie?« rief er aus, »Lothario, der das Verhältnis weiß, hat ihr nicht eröffnet, wer ich bin? Sie erwartet nicht mit gesetztem Gemüt einen Bekannten, den sie lieber nicht wiedersähe, sie erwartet einen Fremden, und ich trete hinein! Ich sehe sie zurückschaudern, ich sehe sie erröten! Nein, es ist mir unmöglich, dieser Szene entgegenzugehen.« Soeben wurden die Pferde herausgeführt und eingespannt; Wilhelm war entschlossen, abzupacken und hierzubleiben. Er war in der größten Bewegung. Als er ein Mädchen zur Treppe heraufkommen hörte, die ihm anzeigen wollte, daß alles fertig sei, sann er geschwind auf eine Ursache, die ihn hierzubleiben nötigte, und seine Augen ruhten ohne Aufmerksamkeit auf dem Billett, das er in der Hand hielt. »Um Gottes willen!« rief er aus, »was ist das? Das ist nicht die Hand der Gräfin, es ist die Hand der Amazone!«

 

Das Mädchen trat herein, bat ihn herunterzukommen und führte Felix mit sich fort. »Ist es möglich?« rief er aus, »ist es wahr? Was soll ich tun? Bleiben und abwarten und aufklären? oder eilen? eilen und mich einer Entwicklung entgegenstürzen? Du bist auf dem Wege zu ihr und kannst zaudern? Diesen Abend sollst du sie sehen und willst dich freiwillig ins Gefängnis einsperren? Es ist ihre Hand, ja sie ist’s! Diese Hand beruft dich, ihr Wagen ist angespannt, dich zu ihr zu führen; nun löst sich das Rätsel: Lothario hat zwei Schwestern. Er weiß mein Verhältnis zu der einen; wieviel ich der andern schuldig bin, ist ihm unbekannt. Auch sie weiß nicht, daß der verwundete Vagabund, der ihr, wo nicht sein Leben, doch seine Gesundheit verdankt, in dem Hause ihres Bruders so unverdient gütig aufgenommen worden ist.«

Felix, der sich unten im Wagen schaukelte, rief: »Vater, komm! o komm! sieh die schönen Wolken, die schönen Farben!« – »Ja, ich komme«, rief Wilhelm, indem er die Treppe hinuntersprang, »und alle Erscheinungen des Himmels, die du gutes Kind noch sehr bewunderst, sind nichts gegen den Anblick, den ich erwarte.«

Im Wagen sitzend, rief er nun alle Verhältnisse in sein Gedächtnis zurück. »So ist also auch diese Natalie die Freundin Theresens! welch eine Entdeckung, welche Hoffnung und welche Aussichten! Wie seltsam, daß die Furcht, von der einen Schwester reden zu hören, mir das Dasein der andern ganz und gar verbergen konnte!« Mit welcher Freude sah er seinen Felix an; er hoffte für den Knaben wie für sich die beste Aufnahme.

Der Abend kam heran, die Sonne war untergegangen, der Weg nicht der beste, der Postillon fuhr langsam, Felix war eingeschlafen, und neue Sorgen und Zweifel stiegen in dem Busen unseres Freundes auf. »Von welchem Wahn, von welchen Einfällen wirst du beherrscht!« sagte er zu sich selbst, »eine ungewisse Ähnlichkeit der Handschrift macht dich auf einmal sicher und gibt dir Gelegenheit, das wunderbarste Märchen auszudenken.« Er nahm das Billett wieder vor, und bei dem abgehenden Tageslicht glaubte er wieder die Handschrift der Gräfin zu erkennen; seine Augen wollten im einzelnen nicht wiederfinden, was ihm sein Herz im ganzen auf einmal gesagt hatte. »So ziehen dich denn doch diese Pferde zu einer schrecklichen Szene! Wer weiß, ob sie dich nicht in wenig Stunden schon wieder zurückführen werden? Und wenn du sie nur noch allein anträfest; aber vielleicht ist ihr Gemahl gegenwärtig, vielleicht die Baronesse! Wie verändert werde ich sie finden! Werde ich vor ihr auf den Füßen stehen können?«

Nur eine schwache Hoffnung, daß er seiner Amazone entgegengehe, konnte manchmal durch die trüben Vorstellungen durchblicken. Es war Nacht geworden, der Wagen rasselte in einen Hof hinein und hielt still; ein Bedienter mit einer Wachsfackel trat aus einem prächtigen Portal hervor und kam die breiten Stufen hinunter bis an den Wagen. »Sie werden schon lange erwartet«, sagte er, indem er das Leder aufschlug. Wilhelm, nachdem er ausgestiegen war, nahm den schlafenden Felix auf den Arm, und der erste Bediente rief zu einem zweiten, der mit einem Lichte in der Türe stand: »Führe den Herrn gleich zur Baronesse.«

Blitzschnell fuhr Wilhelmen durch die Seele: »Welch ein Glück! Es sei vorsätzlich oder zufällig, die Baronesse ist hier! Ich soll sie zuerst sehen! Wahrscheinlich schläft die Gräfin schon! Ihr guten Geister, helft, daß der Augenblick der größten Verlegenheit leidlich vorübergehe!«

Er trat in das Haus und fand sich an dem ernsthaftesten, seinem Gefühle nach dem heiligsten Orte, den er je betreten hatte. Eine herabhängende blendende Laterne erleuchtete eine breite, sanfte Treppe, die ihm entgegenstand und sich oben beim Umwenden in zwei Teile teilte. Marmorne Statuen und Büsten standen auf Piedestalen und in Nischen geordnet; einige schienen ihm bekannt. Jugendeindrücke verlöschen nicht, auch in ihren kleinsten Teilen. Er erkannte eine Muse, die seinem Großvater gehört hatte, zwar nicht an ihrer Gestalt und an ihrem Wert, doch an einem restaurierten Arme und an den neueingesetzten Stücken des Gewandes. Es war, als wenn er ein Märchen erlebte. Das Kind ward ihm schwer; er zauderte auf den Stufen und kniete nieder, als ob er es bequemer fassen wollte. Eigentlich aber bedurfte er einer augenblicklichen Erholung. Er konnte kaum sich wieder aufheben. Der vorleuchtende Bediente wollte ihm das Kind abnehmen, er konnte es nicht von sich lassen. Darauf trat er in den Vorsaal, und zu seinem noch größern Erstaunen erblickte er das wohlbekannte Bild vom kranken Königssohn an der Wand. Er hatte kaum Zeit, einen Blick darauf zu werfen, der Bediente nötigte ihn durch ein paar Zimmer in ein Kabinett. Dort, hinter einem Lichtschirme, der sie beschattete, saß ein Frauenzimmer und las. »O daß sie es wäre!« sagte er zu sich selbst in diesem entscheidenden Augenblick. Er setzte das Kind nieder, das aufzuwachen schien, und dachte sich der Dame zu nähern, aber das Kind sank schlaftrunken zusammen, das Frauenzimmer stand auf und kam ihm entgegen. Die Amazone war’s! Er konnte sich nicht halten, stürzte auf seine Knie und rief aus: »Sie ist’s!« Er faßte ihre Hand und küßte sie mit unendlichem Entzücken. Das Kind lag zwischen ihnen beiden auf dem Teppich und schlief sanft.

Felix ward auf das Kanapee gebracht, Natalie setzte sich zu ihm, sie hieß Wilhelmen auf den Sessel sitzen, der zunächst dabeistand. Sie bot ihm einige Erfrischungen an, die er ausschlug, indem er nur beschäftigt war, sich zu versichern, daß sie es sei, und ihre durch den Lichtschirm beschatteten Züge genau wiederzusehen und sicher wiederzuerkennen. Sie erzählte ihm von Mignons Krankheit im allgemeinen, daß das Kind von wenigen tiefen Empfindungen nach und nach aufgezehrt werde, daß es bei seiner großen Reizbarkeit, die es verberge, von einem Krampf an seinem armen Herzen oft heftig und gefährlich leide, daß dieses erste Organ des Lebens bei unvermuteten Gemütsbewegungen manchmal plötzlich stillestehe und keine Spur der heilsamen Lebensregung in dem Busen des guten Kindes gefühlt werden könne. Sei dieser ängstliche Krampf vorbei, so äußere sich die Kraft der Natur wieder in gewaltsamen Pulsen und ängstige das Kind nunmehr durch Übermaß, wie es vorher durch Mangel gelitten habe.

Wilhelm erinnerte sich einer solchen krampfhaften Szene, und Natalie bezog sich auf den Arzt, der weiter mit ihm über die Sache sprechen und die Ursache, warum man den Freund und Wohltäter des Kindes gegenwärtig herbeigerufen, umständlicher vorlegen würde. »Eine sonderbare Veränderung«, fuhr Natalie fort, »werden Sie an ihr finden; sie geht nunmehr in Frauenkleidern, vor denen sie sonst einen so großen Abscheu zu haben schien.«

»Wie haben Sie das erreicht?« fragte Wilhelm.

»Wenn es wünschenswert war, so sind wir es nur dem Zufall schuldig. Hören Sie, wie es zugegangen ist. Sie wissen vielleicht, daß ich immer eine Anzahl junger Mädchen um mich habe, deren Gesinnungen ich, indem sie neben mir aufwachsen, zum Guten und Rechten zu bilden wünsche. Aus meinem Munde hören sie nichts, als was ich selber für wahr halte, doch kann ich und will ich nicht hindern, daß sie nicht auch von andern manches vernehmen, was als Irrtum, als Vorurteil in der Welt gäng und gäbe ist. Fragen sie mich darüber, so suche ich, soviel nur möglich ist, jene fremden, ungehörigen Begriffe irgendwo an einen richtigen anzuknüpfen, um sie dadurch, wo nicht nützlich, doch unschädlich zu machen. Schon seit einiger Zeit hatten meine Mädchen aus dem Munde der Bauerkinder gar manches von Engeln, vom Knechte Ruprecht, vom Heiligen Christe vernommen, die zu gewissen Zeiten in Person erscheinen, gute Kinder beschenken und unartige bestrafen sollten. Sie hatten eine Vermutung, daß es verkleidete Personen sein müßten, worin ich sie denn auch bestärkte und, ohne mich viel auf Deutungen einzulassen, mir vornahm, ihnen bei der ersten Gelegenheit ein solches Schauspiel zu geben. Es fand sich eben, daß der Geburtstag von Zwillingsschwestern, die sich immer sehr gut betragen hatten, nahe war; ich versprach, daß ihnen diesmal ein Engel die kleinen Geschenke bringen sollte, die sie so wohl verdient hätten. Sie waren äußerst gespannt auf diese Erscheinung. Ich hatte mir Mignon zu dieser Rolle ausgesucht, und sie ward an dem bestimmten Tage in ein langes, leichtes, weißes Gewand anständig gekleidet. Es fehlte nicht an einem goldenen Gürtel um die Brust und an einem gleichen Diadem in den Haaren. Anfangs wollte ich die Flügel weglassen, doch bestanden die Frauenzimmer, die sie anputzten, auf ein Paar großer goldner Schwingen, an denen sie recht ihre Kunst zeigen wollten. So trat, mit einer Lilie in der einen Hand und mit einem Körbchen in der andern, die wundersame Erscheinung in die Mitte der Mädchen und überraschte mich selbst. ›Da kommt der Engel!‹ sagte ich. Die Kinder traten alle wie zurück; endlich riefen sie aus: ›Es ist Mignon!‹ und getrauten sich doch nicht, dem wundersamen Bilde näher zu treten.

›Hier sind eure Gaben‹, sagte sie und reichte das Körbchen hin. Man versammelte sich um sie, man betrachtete, man befühlte, man befragte sie.

›Bist du ein Engel?‹ fragte das eine Kind.

›Ich wollte, ich wär es‹, versetzte Mignon.

›Warum trägst du eine Lilie?‹

›So rein und offen sollte mein Herz sein, dann wär ich glücklich.‹

›Wie ist’s mit den Flügeln? Laß sie sehen!‹

›Sie stellen schönere vor, die noch nicht entfaltet sind.‹

Und so antwortete sie bedeutend auf jede unschuldige, leichte Frage. Als die Neugierde der kleinen Gesellschaft befriedigt war und der Eindruck dieser Erscheinung stumpf zu werden anfing, wollte man sie wieder auskleiden. Sie verwehrte es, nahm ihre Zither, setzte sich hier auf diesen hohen Schreibtisch hinauf und sang ein Lied mit unglaublicher Anmut:

So laßt mich scheinen, bis ich werde;

Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!

Ich eile von der schönen Erde

Hinab in jenes feste Haus. Dort ruh ich eine kleine Stille,

Dann öffnet sich der frische Blick,

Ich lasse dann die reine Hülle,

Den Gürtel und den Kranz zurück. Und jene himmlischen Gestalten,

Sie fragen nicht nach Mann und Weib,

Und keine Kleider, keine Falten

Umgeben den verklärten Leib. Zwar lebt ich ohne Sorg und Mühe,

Doch fühlt ich tiefen Schmerz genung;

Vor Kummer altert ich zu frühe;

Macht mich auf ewig wieder jung!

Ich entschloß mich sogleich«, fuhr Natalie fort, »ihr das Kleid zu lassen und ihr noch einige der Art anzuschaffen, in denen sie nun auch geht und in denen, wie es mir scheint, ihr Wesen einen ganz andern Ausdruck hat.«

Da es schon spät war, entließ Natalie den Ankömmling, der nicht ohne einige Bangigkeit sich von ihr trennte. »Ist sie verheiratet oder nicht?« dachte er bei sich selbst. Er hatte gefürchtet, sooft sich etwas regte, eine Türe möchte sich auftun und der Gemahl hereintreten. Der Bediente, der ihn in sein Zimmer einließ, entfernte sich schneller, als er Mut gefaßt hatte, nach diesem Verhältnis zu fragen. Die Unruhe hielt ihn noch eine Zeitlang wach, und er beschäftigte sich, das Bild der Amazone mit dem Bilde seiner neuen, gegenwärtigen Freundin zu vergleichen. Sie wollten noch nicht miteinander zusammenfließen; jenes hatte er sich gleichsam geschaffen, und dieses schien fast ihn umschaffen zu wollen.

Drittes Kapitel

Den andern Morgen, da noch alles still und ruhig war, ging er, sich im Hause umzusehen. Es war die reinste, schönste, würdigste Baukunst, die er gesehen hatte. »Ist doch wahre Kunst«, rief er aus, »wie gute Gesellschaft: sie nötigt uns auf die angenehmste Weise, das Maß zu erkennen, nach dem und zu dem unser Innerstes gebildet ist.« Unglaublich angenehm war der Eindruck, den die Statuen und Büsten seines Großvaters auf ihn machten. Mit Verlangen eilte er dem Bilde vom kranken Königssohn entgegen, und noch immer fand er es reizend und rührend. Der Bediente öffnete ihm verschiedene andere Zimmer; er fand eine Bibliothek, eine Naturaliensammlung, ein physikalisches Kabinett. Er fühlte sich so fremd vor allen diesen Gegenständen. Felix war indessen erwacht und ihm nachgesprungen; der Gedanke, wie und wann er Theresens Brief erhalten werde, machte ihm Sorge; er fürchtete sich vor dem Anblick Mignons, gewissermaßen vor dem Anblick Nataliens. Wie ungleich war sein gegenwärtiger Zustand mit jenen Augenblicken, als er den Brief an Theresen gesiegelt hatte und mit frohem Mut sich ganz einem so edlen Wesen hingab.

Natalie ließ ihn zum Frühstück einladen. Er trat in ein Zimmer, in welchem verschiedene reinlich gekleidete Mädchen, alle, wie es schien, unter zehn Jahren, einen Tisch zurechtemachten, indem eine ältliche Person verschiedene Arten von Getränken hereinbrachte.

Wilhelm beschaute ein Bild, das über dem Kanapee hing, mit Aufmerksamkeit, er mußte es für das Bild Nataliens erkennen, sowenig es ihm genugtun wollte. Natalie trat herein, und die Ähnlichkeit schien ganz zu verschwinden. Zu seinem Troste hatte es ein Ordenskreuz an der Brust, und er sah ein gleiches an der Brust Nataliens.

»Ich habe das Porträt hier angesehen«, sagte er zu ihr, »und mich verwundert, wie ein Maler zugleich so wahr und so falsch sein kann. Das Bild gleicht Ihnen im allgemeinen recht sehr gut, und doch sind es weder Ihre Züge noch Ihr Charakter.«

»Es ist vielmehr zu verwundern«, versetzte Natalie, »daß es so viel Ähnlichkeit hat; denn es ist gar mein Bild nicht; es ist das Bild einer Tante, die mir noch in ihrem Alter glich, da ich erst ein Kind war. Es ist gemalt, als sie ungefähr meine Jahre hatte, und beim ersten Anblick glaubt jedermann mich zu sehen. Sie hätten diese treffliche Person kennen sollen. Ich bin ihr so viel schuldig. Eine sehr schwache Gesundheit, vielleicht zuviel Beschäftigung mit sich selbst und dabei eine sittliche und religiöse Ängstlichkeit ließen sie das der Welt nicht sein, was sie unter andern Umständen hätte werden können. Sie war ein Licht, das nur wenigen Freunden und mir besonders leuchtete.«

»Wäre es möglich«, versetzte Wilhelm, der sich einen Augenblick besonnen hatte, indem nun auf einmal so vielerlei Umstände ihm zusammentreffend erschienen, »wäre es möglich, daß jene schöne, herrliche Seele, deren stille Bekenntnisse auch mir mitgeteilt worden sind, Ihre Tante sei?«

»Sie haben das Heft gelesen?« fragte Natalie.

»Ja!« versetzte Wilhelm, »mit der größten Teilnahme und nicht ohne Wirkung auf mein ganzes Leben. Was mir am meisten aus dieser Schrift entgegenleuchtete, war, ich möchte so sagen, die Reinlichkeit des Daseins, nicht allein ihrer selbst, sondern auch alles dessen, was sie umgab, diese Selbständigkeit ihrer Natur und die Unmöglichkeit, etwas in sich aufzunehmen, was mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht harmonisch war.«

»So sind Sie«, versetzte Natalie, »billiger, ja ich darf wohl sagen, gerechter gegen diese schöne Natur als manche anderen, denen man auch dieses Manuskript mitgeteilt hat. Jeder gebildete Mensch weiß, wie sehr er an sich und andern mit einer gewissen Roheit zu kämpfen hat, wieviel ihn seine Bildung kostet und wie sehr er doch in gewissen Fällen nur an sich selbst denkt und vergißt, was er andern schuldig ist. Wie oft macht der gute Mensch sich Vorwürfe, daß er nicht zart genug gehandelt habe; und doch, wenn nun eine schöne Natur sich allzu zart, sich allzu gewissenhaft bildet, ja, wenn man will, sich überbildet, für diese scheint keine Duldung, keine Nachsicht in der Welt zu sein. Dennoch sind die Menschen dieser Art außer uns, was die Ideale im Innern sind, Vorbilder, nicht zum Nachahmen, sondern zum Nachstreben. Man lacht über die Reinlichkeit der Holländerinnen, aber wäre Freundin Therese, was sie ist, wenn ihr nicht eine ähnliche Idee in ihrem Hauswesen immer vorschwebte?«

»So finde ich also«, rief Wilhelm aus, »in Theresens Freundin jene Natalie vor mir, an welcher das Herz jener köstlichen Verwandten hing, jene Natalie, die von Jugend an so teilnehmend, so liebevoll und hilfreich war! Nur aus einem solchen Geschlecht konnte eine solche Natur entstehen! Welch eine Aussicht eröffnet sich vor mir, da ich auf einmal Ihre Voreltern und den ganzen Kreis, dem Sie angehören, überschaue.«

»Ja!« versetzte Natalie, »Sie könnten in einem gewissen Sinne nicht besser von uns unterrichtet sein als durch den Aufsatz unserer Tante; freilich hat ihre Neigung zu mir sie zuviel Gutes von dem Kinde sagen lassen. Wenn man von einem Kinde redet, spricht man niemals den Gegenstand, immer nur seine Hoffnungen aus.«

Wilhelm hatte indessen schnell überdacht, daß er nun auch von Lotharios Herkunft und früher Jugend unterrichtet sei; die schöne Gräfin erschien ihm als Kind mit den Perlen ihrer Tante um den Hals; auch er war diesen Perlen so nahe gewesen, als ihre zarten, liebevollen Lippen sich zu den seinigen herunterneigten; er suchte diese schönen Erinnerungen durch andere Gedanken zu entfernen. Er lief die Bekanntschaften durch, die ihm jene Schrift verschafft hatte. »So bin ich denn«, rief er aus, »in dem Hause des würdigen Oheims! Es ist kein Haus, es ist ein Tempel, und Sie sind die würdige Priesterin, ja der Genius selbst; ich werde mich des Eindrucks von gestern abend zeitlebens erinnern, als ich hereintrat und die alten Kunstbilder der frühsten Jugend wieder vor mir standen. Ich erinnerte mich der mitleidigen Marmorbilder in Mignons Lied; aber diese Bilder hatten über mich nicht zu trauern, sie sahen mich mit hohem Ernst an und schlossen meine früheste Zeit unmittelbar an diesen Augenblick. Diesen unsern alten Familienschatz, diese Lebensfreude meines Großvaters finde ich hier zwischen so vielen andern würdigen Kunstwerken aufgestellt, und mich, den die Natur zum Liebling dieses guten alten Mannes gemacht hatte, mich Unwürdigen finde ich nun auch hier, o Gott! in welchen Verbindungen, in welcher Gesellschaft!«

Die weibliche Jugend hatte nach und nach das Zimmer verlassen, um ihren kleinen Beschäftigungen nachzugehn. Wilhelm, der mit Natalien allein geblieben war, mußte ihr seine letzten Worte deutlicher erklären. Die Entdeckung, daß ein schätzbarer Teil der aufgestellten Kunstwerke seinem Großvater angehört hatte, gab eine sehr heitere, gesellige Stimmung. So wie er durch jenes Manuskript mit dem Hause bekannt worden war, so fand er sich nun auch gleichsam in seinem Erbteile wieder. Nun wünschte er Mignon zu sehen; die Freundin bat ihn, sich noch so lange zu gedulden, bis der Arzt, der in die Nachbarschaft gerufen worden, wieder zurückkäme. Man kann leicht denken, daß es derselbe kleine, tätige Mann war, den wir schon kennen und dessen auch die »Bekenntnisse einer schönen Seele« erwähnten.

»Da ich mich«, fuhr Wilhelm fort, »mitten in jenem Familienkreis befinde, so ist ja wohl der Abbé, dessen jene Schrift erwähnt, auch der wunderbare, unerklärliche Mann, den ich in dem Hause Ihres Bruders nach den seltsamsten Ereignissen wiedergefunden habe? Vielleicht geben Sie mir einige nähere Aufschlüsse über ihn?«

Natalie versetzte: »Über ihn wäre vieles zu sagen; wovon ich am genauesten unterrichtet bin, ist der Einfluß, den er auf unsere Erziehung gehabt hat. Er war, wenigstens eine Zeitlang, überzeugt, daß die Erziehung sich nur an die Neigung anschließen müsse; wie er jetzt denkt, kann ich nicht sagen. Er behauptete: das Erste und Letzte am Menschen sei Tätigkeit, und man könne nichts tun, ohne die Anlage dazu zu haben, ohne den Instinkt, der uns dazu treibe. ›Man gibt zu‹, pflegte er zu sagen, ›daß Poeten geboren werden, man gibt es bei allen Künsten zu, weil man muß und weil jene Wirkungen der menschlichen Natur kaum scheinbar nachgeäfft werden können; aber wenn man es genau betrachtet, so wird jede, auch nur die geringste Fähigkeit uns angeboren, und es gibt keine unbestimmte Fähigkeit. Nur unsere zweideutige, zerstreute Erziehung macht die Menschen ungewiß; sie erregt Wünsche, statt Triebe zu beleben, und anstatt den wirklichen Anlagen aufzuhelfen, richtet sie das Streben nach Gegenständen, die so oft mit der Natur, die sich nach ihnen bemüht, nicht übereinstimmen. Ein Kind, ein junger Mensch, die auf ihrem eigenen Wege irregehen, sind mir lieber als manche, die auf fremdem Wege recht wandeln. Finden jene, entweder durch sich selbst oder durch Anleitung, den rechten Weg, das ist den, der ihrer Natur gemäß ist, so werden sie ihn nie verlassen, anstatt daß diese jeden Augenblick in Gefahr sind, ein fremdes Joch abzuschütteln und sich einer unbedingten Freiheit zu übergeben.‹«

»Es ist sonderbar«, sagte Wilhelm, »daß dieser merkwürdige Mann auch an mir teilgenommen und mich, wie es scheint, nach seiner Weise, wo nicht geleitet, doch wenigstens eine Zeitlang in meinen Irrtümern gestärkt hat. Wie er es künftig verantworten will, daß er in Verbindung mit mehreren mich gleichsam zum besten hatte, muß ich wohl mit Geduld erwarten.«

»Ich habe mich nicht über diese Grille, wenn sie eine ist, zu beklagen«, sagte Natalie; »denn ich bin freilich unter meinen Geschwistern am besten dabei gefahren. Auch seh ich nicht, wie mein Bruder Lothario hätte schöner ausgebildet werden können; nur hätte vielleicht meine gute Schwester, die Gräfin, anders behandelt werden sollen, vielleicht hätte man ihrer Natur etwas mehr Ernst und Stärke einflößen können. Was aus Bruder Friedrich werden soll, läßt sich gar nicht denken; ich fürchte, er wird das Opfer dieser pädagogischen Versuche werden.«

»Sie haben noch einen Bruder?« rief Wilhelm.

»Ja!« versetzte Natalie, »und zwar eine sehr lustige, leichtfertige Natur, und da man ihn nicht abgehalten hatte, in der Welt herumzufahren, so weiß ich nicht, was aus diesem losen, lockern Wesen werden soll. Ich habe ihn seit langer Zeit nicht gesehen. Das einzige beruhigt mich, daß der Abbé und überhaupt die Gesellschaft meines Bruders jederzeit unterrichtet sind, wo er sich aufhält und was er treibt.«

Wilhelm war eben im Begriff, Nataliens Gedanken sowohl über diese Paradoxen zu erforschen als auch über die geheimnisvolle Gesellschaft von ihr Aufschlüsse zu begehren, als der Medikus hereintrat und nach dem ersten Willkommen sogleich von Mignons Zustande zu sprechen anfing.

Natalie, die darauf den Felix bei der Hand nahm, sagte, sie wolle ihn zu Mignon führen und das Kind auf die Erscheinung seines Freundes vorbereiten.

Der Arzt war nunmehr mit Wilhelm allein und fuhr fort: »Ich habe Ihnen wunderbare Dinge zu erzählen, die Sie kaum vermuten. Natalie läßt uns Raum, damit wir freier von Dingen sprechen können, die, ob ich sie gleich nur durch sie selbst erfahren konnte, doch in ihrer Gegenwart so frei nicht abgehandelt werden dürften. Die sonderbare Natur des guten Kindes, von dem jetzt die Rede ist, besteht beinah nur aus einer tiefen Sehnsucht; das Verlangen, ihr Vaterland wiederzusehen, und das Verlangen nach Ihnen, mein Freund, ist, möchte ich fast sagen, das einzige Irdische an ihr; beides greift nur in eine unendliche Ferne, beide Gegenstände liegen unerreichbar vor diesem einzigen Gemüt. Sie mag in der Gegend von Mailand zu Hause sein und ist in sehr früher Jugend durch eine Gesellschaft Seiltänzer ihren Eltern entführt worden. Näheres kann man von ihr nicht erfahren, teils weil sie zu jung war, um Ort und Namen genau angeben zu können, besonders aber weil sie einen Schwur getan hat, keinem lebendigen Menschen ihre Wohnung und Herkunft näher zu bezeichnen. Denn eben jene Leute, die sie in der Irre fanden und denen sie ihre Wohnung so genau beschrieb mit so dringenden Bitten, sie nach Hause zu führen, nahmen sie nur desto eiliger mit sich fort und scherzten nachts in der Herberge, da sie glaubten, das Kind schlafe schon, über den guten Fang und beteuerten, daß es den Weg zurück nicht wieder finden sollte. Da überfiel das arme Geschöpf eine gräßliche Verzweiflung, in der ihm zuletzt die Mutter Gottes erschien und es versicherte, daß sie sich seiner annehmen wolle. Es schwur darauf bei sich selbst einen heiligen Eid, daß sie künftig niemand mehr vertrauen, niemand ihre Geschichte erzählen und in der Hoffnung einer unmittelbaren göttlichen Hülfe leben und sterben wolle. Selbst dieses, was ich Ihnen hier erzähle, hat sie Natalien nicht ausdrücklich vertraut; unsere werte Freundin hat es aus einzelnen Äußerungen, aus Liedern und kindlichen Unbesonnenheiten, die gerade das verraten, was sie verschweigen wollen, zusammengereiht.«

Wilhelm konnte sich nunmehr manches Lied, manches Wort dieses guten Kindes erklären. Er bat seinen Freund aufs dringendste, ihm ja nichts vorzuenthalten, was ihm von den sonderbaren Gesängen und Bekenntnissen des einzigen Wesens bekannt worden sei.

»Oh!« sagte der Arzt, »bereiten Sie sich auf ein sonderbares Bekenntnis, auf eine Geschichte, an der Sie, ohne sich zu erinnern, viel Anteil haben, die, wie ich fürchte, für Tod und Leben dieses guten Geschöpfs entscheidend ist.«

»Lassen Sie mich hören«, versetzte Wilhelm, »ich bin äußerst ungeduldig.«

»Erinnern Sie sich«, sagte der Arzt, »eines geheimen, nächtlichen, weiblichen Besuchs nach der Aufführung des ›Hamlets‹?«

»Ja, ich erinnere mich dessen wohl!« rief Wilhelm beschämt, »aber ich glaubte nicht, in diesem Augenblick daran erinnert zu werden.«

»Wissen Sie, wer es war?«

»Nein! Sie erschrecken mich! Um’s Himmels willen doch nicht Mignon? Wer war’s? Sagen Sie mir’s!«

»Ich weiß es selbst nicht.«

»Also nicht Mignon?«

»Nein, gewiß nicht! aber Mignon war im Begriff, sich zu Ihnen zu schleichen, und mußte aus einem Winkel mit Entsetzen sehen, daß eine Nebenbuhlerin ihr zuvorkam.«

»Eine Nebenbuhlerin!« rief Wilhelm aus. »Reden Sie weiter, Sie verwirren mich ganz und gar.«

»Sein Sie froh«, sagte der Arzt, »daß Sie diese Resultate so schnell von mir erfahren können. Natalie und ich, die wir doch nur einen entferntern Anteil nehmen, wir waren genug gequält, bis wir den verworrenen Zustand dieses guten Wesens, dem wir zu helfen wünschten, nur so deutlich einsehen konnten. Durch leichtsinnige Reden Philinens und der andern Mädchen, durch ein gewisses Liedchen aufmerksam gemacht, war ihr der Gedanke so reizend geworden, eine Nacht bei dem Geliebten zuzubringen, ohne daß sie dabei etwas weiter als eine vertrauliche, glückliche Ruhe zu denken wußte. Die Neigung für Sie, mein Freund, war in dem guten Herzen schon lebhaft und gewaltsam, in Ihren Armen hatte das gute Kind schon von manchem Schmerz ausgeruht, sie wünschte sich nun dieses Glück in seiner ganzen Fülle. Bald nahm sie sich vor, Sie freundlich darum zu bitten, bald hielt sie ein heimlicher Schauder wieder davon zurück. Endlich gab ihr der lustige Abend und die Stimmung des häufig genossenen Weins den Mut, das Wagestück zu versuchen und sich jene Nacht bei Ihnen einzuschleichen. Schon war sie vorausgelaufen, um sich in der unverschlossenen Stube zu verbergen, allein als sie eben die Treppe hinaufgekommen war, hörte sie ein Geräusch; sie verbarg sich und sah ein weißes, weibliches Wesen in Ihr Zimmer schleichen. Sie kamen selbst bald darauf, und sie hörte den großen Riegel zuschieben.

Mignon empfand unerhörte Qual, alle die heftigen Empfindungen einer leidenschaftlichen Eifersucht mischten sich zu dem unbekannten Verlangen einer dunkeln Begierde und griffen die halbentwickelte Natur gewaltsam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehnsucht und Erwartung lebhaft geschlagen hatte, fing auf einmal an zu stocken und drückte wie eine bleierne Last ihren Busen, sie konnte nicht zu Atem kommen, sie wußte sich nicht zu helfen, sie hörte die Harfe des Alten, eilte zu ihm unter das Dach und brachte die Nacht zu seinen Füßen unter entsetzlichen Zuckungen hin.«

Der Arzt hielt einen Augenblick inne, und da Wilhelm stilleschwieg, fuhr er fort: »Natalie hat mir versichert, es habe sie in ihrem Leben nichts so erschreckt und angegriffen als der Zustand des Kindes bei dieser Erzählung; ja unsere edle Freundin machte sich Vorwürfe, daß sie durch ihre Fragen und Anleitungen diese Bekenntnisse hervorgelockt und durch die Erinnerung die lebhaften Schmerzen des guten Mädchens so grausam erneuert habe.

›Das gute Geschöpf‹, so erzählte mir Natalie, ›war kaum auf diesem Punkte seiner Erzählung oder vielmehr seiner Antworten auf meine steigenden Fragen, als es auf einmal vor mir niederstürzte und, mit der Hand am Busen, über den wiederkehrenden Schmerz jener schrecklichen Nacht sich beklagte. Es wand sich wie ein Wurm an der Erde, und ich mußte alle meine Fassung zusammennehmen, um die Mittel, die mir für Geist und Körper unter diesen Umständen bekannt waren, zu denken und anzuwenden.‹«

»Sie setzen mich in eine bängliche Lage«, rief Wilhelm, »indem Sie mich eben im Augenblicke, da ich das liebe Geschöpf wiedersehen soll, mein vielfaches Unrecht gegen dasselbe so lebhaft fühlen lassen. Soll ich sie sehen, warum nehmen Sie mir den Mut, ihr mit Freiheit entgegenzutreten? Und soll ich Ihnen gestehen: da ihr Gemüt so gestimmt ist, so seh ich nicht ein, was meine Gegenwart helfen soll? Sind Sie als Arzt überzeugt, daß jene doppelte Sehnsucht ihre Natur so weit untergraben hat, daß sie sich vom Leben abzuscheiden droht, warum soll ich durch meine Gegenwart ihre Schmerzen erneuern und vielleicht ihr Ende beschleunigen?«

»Mein Freund!« versetzte der Arzt, »wo wir nicht helfen können, sind wir doch schuldig zu lindern, und wie sehr die Gegenwart eines geliebten Gegenstandes der Einbildungskraft ihre zerstörende Gewalt nimmt und die Sehnsucht in ein ruhiges Schauen verwandelt, davon habe ich die wichtigsten Beispiele. Alles mit Maß und Ziel! Denn ebenso kann die Gegenwart eine verlöschende Leidenschaft wieder anfachen. Sehen Sie das gute Kind, betragen Sie sich freundlich, und lassen Sie uns abwarten, was daraus entsteht.«

Natalie kam eben zurück und verlangte, daß Wilhelm ihr zu Mignon folgen sollte. »Sie scheint mit Felix ganz glücklich zu sein und wird den Freund, hoffe ich, gut empfangen.« Wilhelm folgte nicht ohne einiges Widerstreben; er war tief gerührt von dem, was er vernommen hatte, und fürchtete eine leidenschaftliche Szene. Als er hereintrat, ergab sich gerade das Gegenteil.

Mignon im langen weißen Frauengewande, teils mit lockigen, teils aufgebundenen reichen braunen Haaren, saß, hatte Felix auf dem Schoße und drückte ihn an ihr Herz; sie sah völlig aus wie ein abgeschiedner Geist, und der Knabe wie das Leben selbst; es schien, als wenn Himmel und Erde sich umarmten. Sie reichte Wilhelmen lächelnd die Hand und sagte: »Ich danke dir, daß du mir das Kind wiederbringst; sie hatten ihn, Gott weiß wie, entführt, und ich konnte nicht leben zeither. Solange mein Herz auf der Erde noch etwas bedarf, soll dieser die Lücke ausfüllen.«

Die Ruhe, womit Mignon ihren Freund empfangen hatte, versetzte die Gesellschaft in große Zufriedenheit. Der Arzt verlangte, daß Wilhelm sie öfters sehen und daß man sie sowohl körperlich als geistig im Gleichgewicht erhalten sollte. Er selbst entfernte sich und versprach, in kurzer Zeit wiederzukommen.

Wilhelm konnte nun Natalien in ihrem Kreise beobachten: man hätte sich nichts Besseres gewünscht, als neben ihr zu leben. Ihre Gegenwart hatte den reinsten Einfluß auf junge Mädchen und Frauenzimmer von verschiedenem Alter, die teils in ihrem Hause wohnten, teils aus der Nachbarschaft sie mehr oder weniger zu besuchen kamen.

»Der Gang Ihres Lebens«, sagte Wilhelm einmal zu ihr, »ist wohl immer sehr gleich gewesen? Denn die Schilderung, die Ihre Tante von Ihnen als Kind macht, scheint, wenn ich nicht irre, noch immer zu passen. Sie haben sich, man fühlt es Ihnen wohl an, nie verwirrt. Sie waren nie genötigt, einen Schritt zurück zu tun.«

»Das bin ich meinem Oheim und dem Abbé schuldig«, versetzte Natalie, »die meine Eigenheiten so gut zu beurteilen wußten. Ich erinnere mich von Jugend an kaum eines lebhaftern Eindrucks, als daß ich überall die Bedürfnisse der Menschen sah und ein unüberwindliches Verlangen empfand, sie auszugleichen. Das Kind, das noch nicht auf seinen Füßen stehen konnte, der Alte, der sich nicht mehr auf den seinigen erhielt, das Verlangen einer reichen Familie nach Kindern, die Unfähigkeit einer armen, die ihrigen zu erhalten, jedes stille Verlangen nach einem Gewerbe, den Trieb zu einem Talente, die Anlagen zu hundert kleinen, notwendigen Fähigkeiten, diese überall zu entdecken, schien mein Auge von der Natur bestimmt. Ich sah, worauf mich niemand aufmerksam gemacht hatte; ich schien aber auch nur geboren, um das zu sehen. Die Reize der leblosen Natur, für die so viele Menschen äußerst empfänglich sind, hatten keine Wirkung auf mich, beinah noch weniger die Reize der Kunst; meine angenehmste Empfindung war und ist es noch, wenn sich mir ein Mangel, ein Bedürfnis in der Welt darstellte, sogleich im Geiste einen Ersatz, ein Mittel, eine Hülfe aufzufinden.

Sah ich einen Armen in Lumpen, so fielen mir die überflüssigen Kleider ein, die ich in den Schränken der Meinigen hatte hängen sehen; sah ich Kinder, die sich ohne Sorgfalt und ohne Pflege verzehrten, so erinnerte ich mich dieser oder jener Frau, der ich, bei Reichtum und Bequemlichkeit, Langeweile abgemerkt hatte; sah ich viele Menschen in einem engen Raume eingesperrt, so dachte ich, sie müßten in die großen Zimmer mancher Häuser und Paläste einquartiert werden. Diese Art zu sehen war bei mir ganz natürlich, ohne die mindeste Reflexion, so daß ich darüber als Kind das wunderlichste Zeug von der Welt machte und mehr als einmal durch die sonderbarsten Anträge die Menschen in Verlegenheit setzte. Noch eine Eigenheit war es, daß ich das Geld nur mit Mühe und spät als ein Mittel, die Bedürfnisse zu befriedigen, ansehen konnte; alle meine Wohltaten bestanden in Naturalien, und ich weiß, daß oft genug über mich gelacht worden ist. Nur der Abbé schien mich zu verstehen, er kam mir überall entgegen, er machte mich mit mir selbst, mit diesen Wünschen und Neigungen bekannt und lehrte mich sie zweckmäßig befriedigen.«

»Haben Sie denn«, fragte Wilhelm, »bei der Erziehung Ihrer kleinen weiblichen Welt auch die Grundsätze jener sonderbaren Männer angenommen? lassen Sie denn auch jede Natur sich selbst ausbilden? lassen Sie denn auch die Ihrigen suchen und irren, Mißgriffe tun, sich glücklich am Ziele finden oder unglücklich in die Irre verlieren?«

»Nein!« sagte Natalie, »diese Art, mit Menschen zu handeln, würde ganz gegen meine Gesinnungen sein. Wer nicht im Augenblick hilft, scheint mir nie zu helfen; wer nicht im Augenblicke Rat gibt, nie zu raten. Ebenso nötig scheint es mir, gewisse Gesetze auszusprechen und den Kindern einzuschärfen, die dem Leben einen gewissen Halt geben. Ja, ich möchte beinah behaupten: es sei besser, nach Regeln zu irren, als zu irren, wenn uns die Willkür unserer Natur hin und her treibt; und wie ich die Menschen sehe, scheint mir in ihrer Natur immer eine Lücke zu bleiben, die nur durch ein entschieden ausgesprochenes Gesetz ausgefüllt werden kann.«

»So ist also Ihre Handlungsweise«, sagte Wilhelm, »völlig von jener verschieden, welche unsere Freunde beobachten?«

»Ja!« versetzte Natalie, »Sie können aber hieraus die unglaubliche Toleranz jener Männer sehen, daß sie eben auch mich auf meinem Wege, gerade deswegen, weil es mein Weg ist, keinesweges stören, sondern mir in allem, was ich nur wünschen kann, entgegenkommen.«

Einen umständlichern Bericht, wie Natalie mit ihren Kindern verfuhr, versparen wir auf eine andere Gelegenheit.

Mignon verlangte oft, in der Gesellschaft zu sein, und man vergönnte es ihr um so lieber, als sie sich nach und nach wieder an Wilhelmen zu gewöhnen, ihr Herz gegen ihn aufzuschließen und überhaupt heiterer und lebenslustiger zu werden schien. Sie hing sich beim Spazierengehen, da sie leicht müde ward, gern an seinen Arm. »Nun«, sagte sie, »Mignon klettert und springt nicht mehr, und doch fühlt sie noch immer die Begierde, über die Gipfel der Berge wegzuspazieren, von einem Hause aufs andere, von einem Baume auf den andern zu schreiten. Wie beneidenswert sind die Vögel, besonders wenn sie so artig und vertraulich ihre Nester bauen.«

Es ward nun bald zur Gewohnheit, daß Mignon ihren Freund mehr als einmal in den Garten lud. War dieser beschäftigt oder nicht zu finden, so mußte Felix die Stelle vertreten, und wenn das gute Mädchen in manchen Augenblicken ganz von der Erde los schien, so hielt sie sich in andern gleichsam wieder fest an Vater und Sohn und schien eine Trennung von diesen mehr als alles zu fürchten.

Natalie schien nachdenklich. »Wir haben gewünscht, durch Ihre Gegenwart«, sagte sie, »das arme gute Herz wieder aufzuschließen; ob wir wohlgetan haben, weiß ich nicht.« Sie schwieg und schien zu erwarten, daß Wilhelm etwas sagen sollte. Auch fiel ihm ein, daß durch seine Verbindung mit Theresen Mignon unter den gegenwärtigen Umständen aufs äußerste gekränkt werden müsse, allein er getraute sich in seiner Ungewißheit nichts von diesem Vorhaben zu sprechen, er vermutete nicht, daß Natalie davon unterrichtet sei.

Ebensowenig konnte er mit Freiheit des Geistes die Unterredung verfolgen, wenn seine edle Freundin von ihrer Schwester sprach, ihre guten Eigenschaften rühmte und ihren Zustand bedauerte. Er war nicht wenig verlegen, als Natalie ihm ankündigte, daß er die Gräfin bald hier sehen werde. »Ihr Gemahl«, sagte sie, »hat nun keinen andern Sinn, als den abgeschiedenen Grafen in der Gemeinde zu ersetzen, durch Einsicht und Tätigkeit diese große Anstalt zu unterstützen und weiter aufzubauen. Er kommt mit ihr zu uns, um eine Art von Abschied zu nehmen; er wird nachher die verschiedenen Orte besuchen, wo die Gemeinde sich niedergelassen hat; man scheint ihn nach seinen Wünschen zu behandeln, und fast glaub ich, er wagt mit meiner armen Schwester eine Reise nach Amerika, um ja seinem Vorgänger recht ähnlich zu werden; und da er einmal schon beinah überzeugt ist, daß ihm nicht viel fehle, ein Heiliger zu sein, so mag ihm der Wunsch manchmal vor der Seele schweben, womöglich zuletzt auch noch als Märtyrer zu glänzen.«

Viertes Kapitel

Oft genug hatte man bisher von Fräulein Therese gesprochen, oft genug ihrer im Vorbeigehen erwähnt, und fast jedesmal war Wilhelm im Begriff, seiner neuen Freundin zu bekennen, daß er jenem trefflichen Frauenzimmer sein Herz und seine Hand angeboten habe. Ein gewisses Gefühl, das er sich nicht erklären konnte, hielt ihn zurück; er zauderte so lange, bis endlich Natalie selbst mit dem himmlischen, bescheidnen, heitern Lächeln, das man an ihr zu sehen gewohnt war, zu ihm sagte: »So muß ich denn doch zuletzt das Stillschweigen brechen und mich in Ihr Vertrauen gewaltsam eindrängen! Warum machen Sie mir ein Geheimnis, mein Freund, aus einer Angelegenheit, die Ihnen so wichtig ist und die mich selbst so nahe angeht? Sie haben meiner Freundin Ihre Hand angeboten; ich mische mich nicht ohne Beruf in diese Sache, hier ist meine Legitimation! hier ist der Brief, den sie Ihnen schreibt, den sie durch mich Ihnen sendet.«

»Einen Brief von Theresen!« rief er aus.

»Ja, mein Herr! und Ihr Schicksal ist entschieden, Sie sind glücklich. Lassen Sie mich Ihnen und meiner Freundin Glück wünschen.«

Wilhelm verstummte und sah vor sich hin. Natalie sah ihn an; sie bemerkte, daß er blaß ward. »Ihre Freude ist stark«, fuhr sie fort, »sie nimmt die Gestalt des Schreckens an, sie raubt Ihnen die Sprache. Mein Anteil ist darum nicht weniger herzlich, weil er mich noch zum Worte kommen läßt. Ich hoffe, Sie werden dankbar sein, denn ich darf Ihnen sagen: mein Einfluß auf Theresens Entschließung war nicht gering; sie fragte mich um Rat, und sonderbarerweise waren Sie eben hier, ich konnte die wenigen Zweifel, die meine Freundin noch hegte, glücklich besiegen, die Boten gingen lebhaft hin und wider; hier ist ihr Entschluß! hier ist die Entwickelung! Und nun sollen Sie alle ihre Briefe lesen, Sie sollen in das schöne Herz Ihrer Braut einen freien, reinen Blick tun.«

Wilhelm entfaltete das Blatt, das sie ihm unversiegelt überreichte; es enthielt die freundlichen Worte:

»Ich bin die Ihre, wie ich bin und wie Sie mich kennen. Ich nenne Sie den Meinen, wie Sie sind und wie ich Sie kenne. Was an uns selbst, was an unsern Verhältnissen der Ehestand verändert, werden wir durch Vernunft, frohen Mut und guten Willen zu übertragen wissen. Da uns keine Leidenschaft, sondern Neigung und Zutrauen zusammenführt, so wagen wir weniger als tausend andere. Sie verzeihen mir gewiß, wenn ich mich manchmal meines alten Freundes herzlich erinnere; dafür will ich Ihren Sohn als Mutter an meinen Busen drücken. Wollen Sie mein kleines Haus sogleich mit mir teilen, so sind Sie Herr und Meister, indessen wird der Gutskauf abgeschlossen. Ich wünschte, daß dort keine neue Einrichtung ohne mich gemacht würde, um sogleich zu zeigen, daß ich das Zutrauen verdiene, das Sie mir schenken. Leben Sie wohl, lieber, lieber Freund! geliebter Bräutigam, verehrter Gatte! Therese drückt Sie an ihre Brust mit Hoffnung und Lebensfreude. Meine Freundin wird Ihnen mehr, wird Ihnen alles sagen.«

Wilhelm, dem dieses Blatt seine Therese wieder völlig vergegenwärtigt hatte, war auch wieder völlig zu sich selbst gekommen. Unter dem Lesen wechselten die schnellsten Gedanken in seiner Seele. Mit Entsetzen fand er lebhafte Spuren einer Neigung gegen Natalien in seinem Herzen; er schalt sich, er erklärte jeden Gedanken der Art für Unsinn, er stellte sich Theresen in ihrer ganzen Vollkommenheit vor, er las den Brief wieder, er ward heiter, oder vielmehr er erholte sich so weit, daß er heiter scheinen konnte. Natalie legte ihm die gewechselten Briefe vor, aus denen wir einige Stellen ausziehen wollen.

Nachdem Therese ihren Bräutigam nach ihrer Art geschildert hatte, fuhr sie fort:

»So stelle ich mir den Mann vor, der mir jetzt seine Hand anbietet. Wie er von sich selbst denkt, wirst du künftig aus den Papieren sehen, in welchen er sich mir ganz offen beschreibt; ich bin überzeugt, daß ich mit ihm glücklich sein werde.«

»Was den Stand betrifft, so weißt du, wie ich von jeher drüber gedacht habe. Einige Menschen fühlen die Mißverhältnisse der äußern Zustände fürchterlich und können sie nicht übertragen. Ich will niemanden überzeugen, so wie ich nach meiner Überzeugung handeln will. Ich denke kein Beispiel zu geben, wie ich doch nicht ohne Beispiel handle. Mich ängstigen nur die innern Mißverhältnisse, ein Gefäß, das sich zu dem, was es enthalten soll, nicht schickt; viel Prunk und wenig Genuß, Reichtum und Geiz, Adel und Roheit, Jugend und Pedanterei, Bedürfnis und Zeremonien, diese Verhältnisse wären’s, die mich vernichten könnten, die Welt mag sie stempeln und schätzen, wie sie will.«

»Wenn ich hoffe, daß wir zusammen passen werden, so gründe ich meinen Ausspruch vorzüglich darauf, daß er dir, liebe Natalie, die ich so unendlich schätze und verehre, daß er dir ähnlich ist. Ja, er hat von dir das edle Suchen und Streben nach dem Bessern, wodurch wir das Gute, das wir zu finden glauben, selbst hervorbringen. Wie oft habe ich dich nicht im stillen getadelt, daß du diesen oder jenen Menschen anders behandeltest, daß du in diesem oder jenem Fall dich anders betrugst, als ich würde getan haben, und doch zeigte der Ausgang meist, daß du recht hattest. ›Wenn wir‹, sagtest du, ›die Menschen nur nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.‹ Ich kann weder so sehen noch handeln, das weiß ich recht gut. Einsicht, Ordnung, Zucht, Befehl, das ist meine Sache. Ich erinnere mich noch wohl, was Jarno sagte: ›Therese dressiert ihre Zöglinge, Natalie bildet sie.‹ Ja, er ging so weit, daß er mir einst die drei schönen Eigenschaften: Glaube, Liebe und Hoffnung völlig absprach. ›Statt des Glaubens‹, sagte er, ›hat sie die Einsicht, statt der Liebe die Beharrlichkeit und statt der Hoffnung das Zutrauen.‹ Auch will ich dir gerne gestehen, eh ich dich kannte, kannte ich nichts Höheres in der Welt als Klarheit und Klugheit; nur deine Gegenwart hat mich überzeugt, belebt, überwunden, und deiner schönen, hohen Seele tret ich gerne den Rang ab. Auch meinen Freund verehre ich in ebendemselben Sinn; seine Lebensbeschreibung ist ein ewiges Suchen und Nichtfinden; aber nicht das leere Suchen, sondern das wunderbare, gutmütige Suchen begabt ihn, er wähnt, man könne ihm das geben, was nur von ihm kommen kann. So, meine Liebe, schadet mir auch diesmal meine Klarheit nichts; ich kenne meinen Gatten besser, als er sich selbst kennt, und ich achte ihn nur um desto mehr. Ich sehe ihn, aber ich übersehe ihn nicht, und alle meine Einsicht reicht nicht hin zu ahnen, was er wirken kann. Wenn ich an ihn denke, vermischt sich sein Bild immer mit dem deinigen, und ich weiß nicht, wie ich es wert bin, zwei solchen Menschen anzugehören. Aber ich will es wert sein dadurch, daß ich meine Pflicht tue, dadurch, daß ich erfülle, was man von mir erwarten und hoffen kann.«

»Ob ich Lotharios gedenke? Lebhaft und täglich. Ihn kann ich in der Gesellschaft, die mich im Geiste umgibt, nicht einen Augenblick missen. O wie bedaure ich den trefflichen Mann, der durch einen Jugendfehler mit mir verwandt ist, daß die Natur ihn dir so nahe gewollt hat. Wahrlich, ein Wesen wie du wäre seiner mehr wert als ich. Dir könnt ich, dir müßt ich ihn abtreten. Laß uns ihm sein, was nur möglich ist, bis er eine würdige Gattin findet, und auch dann laß uns zusammen sein und zusammen bleiben.«

»Was werden nun aber unsre Freunde sagen?« begann Natalie. – »Ihr Bruder weiß nichts davon?« – »Nein! sowenig als die Ihrigen, die Sache ist diesmal nur unter uns Weibern verhandelt worden. Ich weiß nicht, was Lydie Theresen für Grillen in den Kopf gesetzt hat; sie scheint dem Abbé und Jarno zu mißtrauen. Lydie hat ihr gegen gewisse geheime Verbindungen und Plane, von denen ich wohl im allgemeinen weiß, in die ich aber niemals einzudringen gedachte, wenigstens einigen Argwohn eingeflößt, und bei diesem entscheidenden Schritt ihres Lebens wollte sie niemand als mir einigen Einfluß verstatten. Mit meinem Bruder war sie schon früher übereingekommen, daß sie sich wechselsweise ihre Heirat nur melden, sich darüber nicht zu Rate ziehen wollten.«

Natalie schrieb nun einen Brief an ihren Bruder, sie lud Wilhelmen ein, einige Worte dazuzusetzen, Therese hatte sie darum gebeten. Man wollte eben siegeln, als Jarno sich unvermutet anmelden ließ. Aufs freundlichste ward er empfangen, auch schien er sehr munter und scherzhaft und konnte endlich nicht unterlassen, zu sagen: »Eigentlich komme ich hieher, um Ihnen eine sehr wunderbare, doch angenehme Nachricht zu bringen; sie betrifft unsere Therese. Sie haben uns manchmal getadelt, schöne Natalie, daß wir uns um so vieles bekümmern; nun aber sehen Sie, wie gut es ist, überall seine Spione zu haben. Raten Sie, und lassen Sie uns einmal Ihre Sagazität sehen!«

Die Selbstgefälligkeit, womit er diese Worte aussprach, die schalkhafte Miene, womit er Wilhelmen und Natalien ansah, überzeugten beide, daß ihr Geheimnis entdeckt sei. Natalie antwortete lächelnd: »Wir sind viel künstlicher, als Sie denken, wir haben die Auflösung des Rätsels, noch ehe es uns aufgegeben wurde, schon zu Papiere gebracht.«

Sie überreichte ihm mit diesen Worten den Brief an Lothario und war zufrieden, der kleinen Überraschung und Beschämung, die man ihnen zugedacht hatte, auf diese Weise zu begegnen. Jarno nahm das Blatt mit einiger Verwunderung, überlief es nur, staunte, ließ es aus der Hand sinken und sah sie beide mit großen Augen, mit einem Ausdruck der Überraschung, ja des Entsetzens an, den man auf seinem Gesichte nicht gewohnt war. Er sagte kein Wort.

Wilhelm und Natalie waren nicht wenig betroffen, Jarno ging in der Stube auf und ab. »Was soll ich sagen?« rief er aus, »oder soll ich’s sagen? Es kann kein Geheimnis bleiben, die Verwirrung ist nicht zu vermeiden. Also denn Geheimnis gegen Geheimnis! Überraschung gegen Überraschung! Therese ist nicht die Tochter ihrer Mutter! Das Hindernis ist gehoben: ich komme hierher, Sie zu bitten, das edle Mädchen zu einer Verbindung mit Lothario vorzubereiten.«

Jarno sah die Bestürzung der beiden Freunde, welche die Augen zur Erde niederschlugen. »Dieser Fall ist einer von denen«, sagte er, »die sich in Gesellschaft am schlechtesten ertragen lassen. Was jedes dabei zu denken hat, denkt es am besten in der Einsamkeit; ich wenigstens erbitte mir auf eine Stunde Urlaub.« Er eilte in den Garten, Wilhelm folgte ihm mechanisch, aber in der Ferne.

Nach Verlauf einer Stunde fanden sie sich wieder zusammen. Wilhelm nahm das Wort und sagte: »Sonst, da ich ohne Zweck und Plan leicht, ja leichtfertig lebte, kamen mir Freundschaft, Liebe, Neigung, Zutrauen mit offenen Armen entgegen, ja sie drängten sich zu mir; jetzt, da es Ernst wird, scheint das Schicksal mit mir einen andern Weg zu nehmen. Der Entschluß, Theresen meine Hand anzubieten, ist vielleicht der erste, der ganz rein aus mir selbst kommt. Mit Überlegung machte ich meinen Plan, meine Vernunft war völlig damit einig, und durch die Zusage des trefflichen Mädchens wurden alle meine Hoffnungen erfüllt. Nun drückt das sonderbarste Geschick meine ausgestreckte Hand nieder. Therese reicht mir die ihrige von ferne, wie im Traume, ich kann sie nicht fassen, und das schöne Bild verläßt mich auf ewig. So lebe denn wohl, du schönes Bild! und ihr Bilder der reichsten Glückseligkeit, die ihr euch darum her versammelt!«

Er schwieg einen Augenblick still, sah vor sich hin, und Jarno wollte reden. »Lassen Sie mich noch etwas sagen«, fiel Wilhelm ihm ein; »denn um mein ganzes Geschick wird ja doch diesmal das Los geworfen. In diesem Augenblick kommt mir der Eindruck zu Hülfe, den Lotharios Gegenwart beim ersten Anblick mir einprägte und der mir beständig geblieben ist. Dieser Mann verdient jede Art von Neigung und Freundschaft, und ohne Aufopferung läßt sich keine Freundschaft denken. Um seinetwillen war es mir leicht, ein unglückliches Mädchen zu betören, um seinetwillen soll mir möglich werden, der würdigsten Braut zu entsagen. Gehen Sie hin, erzählen Sie ihm die sonderbare Geschichte, und sagen Sie ihm, wozu ich bereit bin.«

Jarno versetzte hierauf: »In solchen Fällen, halte ich dafür ist schon alles getan, wenn man sich nur nicht übereilt. Lassen Sie uns keinen Schritt ohne Lotharios Einwilligung tun! Ich will zu ihm, erwarten Sie meine Zurückkunft oder seine Briefe ruhig.«

Er ritt weg und hinterließ die beiden Freunde in der größten Wehmut. Sie hatten Zeit, sich diese Begebenheit auf mehr als eine Weise zu wiederholen und ihre Bemerkungen darüber zu machen. Nun fiel es ihnen erst auf, daß sie diese wunderbare Erklärung so gerade von Jarno angenommen und sich nicht um die nähern Umstände erkundigt hatten. Ja Wilhelm wollte sogar einigen Zweifel hegen; aber aufs höchste stieg ihr Erstaunen, ja ihre Verwirrung, als den andern Tag ein Bote von Theresen ankam, der folgenden sonderbaren Brief an Natalien mitbrachte:

»So seltsam es auch scheinen mag, so muß ich doch meinem vorigen Briefe sogleich noch einen nachsenden und dich ersuchen, mir meinen Bräutigam eilig zu schicken. Er soll mein Gatte werden, was man auch für Plane macht, mir ihn zu rauben. Gib ihm inliegenden Brief! Nur vor keinem Zeugen, es mag gegenwärtig sein, wer will.«

Der Brief an Wilhelmen enthielt folgendes: »Was werden Sie von Ihrer Therese denken, wenn sie auf einmal leidenschaftlich auf eine Verbindung dringt, die der ruhigste Verstand nur eingeleitet zu haben schien? Lassen Sie sich durch nichts abhalten, gleich nach dem Empfang des Briefes abzureisen. Kommen Sie, lieber, lieber Freund, nun dreifach Geliebter, da man mir Ihren Besitz rauben oder wenigstens erschweren will.«

»Was ist zu tun?« rief Wilhelm aus, als er diesen Brief gelesen hatte.

»Noch in keinem Fall«, versetzte Natalie nach einigem Nachdenken, »hat mein Herz und mein Verstand so geschwiegen als in diesem; ich wüßte nichts zu tun, so wie ich nichts zu raten weiß.«

»Wäre es möglich?« rief Wilhelm mit Heftigkeit aus, »daß Lothario selbst nichts davon wüßte, oder wenn er davon weiß, daß er mit uns das Spiel versteckter Plane wäre? Hat Jarno, indem er unsern Brief gesehen, das Märchen aus dem Stegreife erfunden? Würde er uns was anders gesagt haben, wenn wir nicht zu voreilig gewesen wären? Was kann man wollen? Was für Absichten kann man haben? Was kann Therese für einen Plan meinen? Ja, es läßt sich nicht leugnen, Lothario ist von geheimen Wirkungen und Verbindungen umgeben, ich habe selbst erfahren, daß man tätig ist, daß man sich in einem gewissen Sinne um die Handlungen, um die Schicksale mehrerer Menschen bekümmert und sie zu leiten weiß. Von den Endzwecken dieser Geheimnisse verstehe ich nichts, aber diese neueste Absicht, mir Theresen zu entreißen, sehe ich nur allzu deutlich. Auf einer Seite malt man mir das mögliche Glück Lotharios, vielleicht nur zum Scheine, vor; auf der andern sehe ich meine Geliebte, meine verehrte Braut, die mich an ihr Herz ruft. Was soll ich tun? Was soll ich unterlassen?«

»Nur ein wenig Geduld!« sagte Natalie, »nur eine kurze Bedenkzeit! In dieser sonderbaren Verknüpfung weiß ich nur so viel, daß wir das, was unwiederbringlich ist, nicht übereilen sollen. Gegen ein Märchen, gegen einen künstlichen Plan stehen Beharrlichkeit und Klugheit uns bei; es muß sich bald aufklären, ob die Sache wahr oder ob sie erfunden ist. Hat mein Bruder wirklich Hoffnung, sich mit Theresen zu verbinden, so wäre es grausam, ihm ein Glück auf ewig zu entreißen in dem Augenblicke, da es ihm so freundlich erscheint. Lassen Sie uns nur abwarten, ob er etwas davon weiß, ob er selbst glaubt, ob er selbst hofft.«

Diesen Gründen ihres Rats kam glücklicherweise ein Brief von Lothario zu Hülfe: »Ich schicke Jarno nicht wieder zurück«, schrieb er; »von meiner Hand eine Zeile ist dir mehr als die umständlichsten Worte eines Boten. Ich bin gewiß, daß Therese nicht die Tochter ihrer Mutter ist, und ich kann die Hoffnung, sie zu besitzen, nicht aufgeben, bis sie auch überzeugt ist und alsdann zwischen mir und dem Freunde mit ruhiger Überlegung entscheidet. Laß ihn, ich bitte dich, nicht von deiner Seite! Das Glück, das Leben eines Bruders hängt davon ab. Ich verspreche dir, diese Ungewißheit soll nicht lange dauern.«

»Sie sehen, wie die Sache steht«, sagte sie freundlich zu Wilhelmen; »geben Sie mir Ihr Ehrenwort, nicht aus dem Hause zu gehen.«

»Ich gebe es!« rief er aus, indem er ihr die Hand reichte, »ich will dieses Haus wider Ihren Willen nicht verlassen. Ich danke Gott und meinem guten Geist, daß ich diesmal geleitet werde, und zwar von Ihnen.«

Natalie schrieb Theresen den ganzen Verlauf und erklärte, daß sie ihren Freund nicht von sich lassen werde; sie schickte zugleich Lotharios Brief mit.

Therese antwortete: »Ich bin nicht wenig verwundert, daß Lothario selbst überzeugt ist, denn gegen seine Schwester wird er sich nicht auf diesen Grad verstellen. Ich bin verdrießlich, sehr verdrießlich. Es ist besser, ich sage nichts weiter. Am besten ist’s, ich komme zu dir, wenn ich nur erst die arme Lydie untergebracht habe, mit der man grausam umgeht. Ich fürchte, wir sind alle betrogen und werden so betrogen, um nie ins klare zu kommen. Wenn der Freund meinen Sinn hätte, so entschlüpfte er dir doch und würfe sich an das Herz seiner Therese, die ihm dann niemand entreißen sollte; aber ich fürchte, ich soll ihn verlieren und Lothario nicht wiedergewinnen. Diesem entreißt man Lydien, indem man ihm die Hoffnung, mich besitzen zu können, von weitem zeigt. Ich will nichts weiter sagen, die Verwirrung wird noch größer werden. Ob nicht indessen die schönsten Verhältnisse so verschoben, so untergraben und so zerrüttet werden, daß auch dann, wenn alles im klaren sein wird, doch nicht wieder zu helfen ist, mag die Zeit lehren. Reißt sich mein Freund nicht los, so komme ich in wenigen Tagen, um ihn bei dir aufzusuchen und festzuhalten. Du wunderst dich, wie diese Leidenschaft sich deiner Therese bemächtiget hat. Es ist keine Leidenschaft, es ist Überzeugung, daß, da Lothario nicht mein werden konnte, dieser neue Freund das Glück meines Lebens machen wird. Sag ihm das im Namen des kleinen Knaben, der mit ihm unter der Eiche saß und sich seiner Teilnahme freute! Sag ihm das im Namen Theresens, die seinem Antrage mit einer herzlichen Offenheit entgegenkam! Mein erster Traum, wie ich mit Lothario leben würde, ist weit von meiner Seele weggerückt; der Traum, wie ich mit meinem neuen Freund zu leben gedachte, steht noch ganz gegenwärtig vor mir. Achtet man mich so wenig, daß man glaubt, es sei so was Leichtes, diesen mit jenem aus dem Stegreife wieder umzutauschen?«

»Ich verlasse mich auf Sie«, sagte Natalie zu Wilhelmen, indem sie ihm den Brief Theresens gab; »Sie entfliehen mir nicht. Bedenken Sie, daß Sie das Glück meines Lebens in Ihrer Hand haben! Mein Dasein ist mit dem Dasein meines Bruders so innig verbunden und verwurzelt, daß er keine Schmerzen fühlen kann, die ich nicht empfinde, keine Freude, die nicht auch mein Glück macht. Ja ich kann wohl sagen, daß ich allein durch ihn empfunden habe, daß das Herz gerührt und erhoben, daß auf der Welt Freude, Liebe und ein Gefühl sein kann, das über alles Bedürfnis hinaus befriedigt.«

Sie hielt inne, Wilhelm nahm ihre Hand und rief: »O fahren Sie fort! Es ist die rechte Zeit zu einem wahren, wechselseitigen Vertrauen; wir haben nie nötiger gehabt, uns genauer zu kennen.«

»Ja, mein Freund!« sagte sie lächelnd mit ihrer ruhigen, sanften, unbeschreiblichen Hoheit, »es ist vielleicht nicht außer der Zeit, wenn ich Ihnen sage, daß alles, was uns so manches Buch, was uns die Welt als Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als ein Märchen erschienen sei.«

»Sie haben nicht geliebt?« rief Wilhelm aus.

»Nie oder immer!« versetzte Natalie.

Fünftes Kapitel

Sie waren unter diesem Gespräch im Garten auf und ab gegangen, Natalie hatte verschiedene Blumen von seltsamer Gestalt gebrochen, die Wilhelmen völlig unbekannt waren und nach deren Namen er fragte.

»Sie vermuten wohl nicht«, sagte Natalie, »für wen ich diesen Strauß pflücke? Er ist für meinen Oheim bestimmt, dem wir einen Besuch machen wollen. Die Sonne scheint eben so lebhaft nach dem Saale der Vergangenheit, ich muß Sie diesen Augenblick hineinführen, und ich gehe niemals hin, ohne einige von den Blumen, die mein Oheim besonders begünstigte, mitzubringen. Er war ein sonderbarer Mann und der eigensten Eindrücke fähig. Für gewisse Pflanzen und Tiere, für gewisse Menschen und Gegenden, ja sogar zu einigen Steinarten hatte er eine entschiedene Neigung, die selten erklärlich war. ›Wenn ich nicht‹, pflegte er oft zu sagen, ›mir von Jugend auf so sehr widerstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt hätte, meinen Verstand ins Weite und Allgemeine auszubilden, so wäre ich der beschränkteste und unerträglichste Mensch geworden: denn nichts ist unerträglicher als abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine, gehörige Tätigkeit fordern kann.‹ Und doch mußte er selbst gestehen, daß ihm gleichsam Leben und Atem ausgehen würde, wenn er sich nicht von Zeit zu Zeit nachsähe und sich erlaubte, das mit Leidenschaft zu genießen, was er eben nicht immer loben und entschuldigen konnte. ›Meine Schuld ist es nicht‹, sagte er, ›wenn ich meine Triebe und meine Vernunft nicht völlig habe in Einstimmung bringen können.‹ Bei solchen Gelegenheiten pflegte er meist über mich zu scherzen und zu sagen: ›Natalien kann man bei Leibesleben seligpreisen, da ihre Natur nichts fordert, als was die Welt wünscht und braucht.‹«

Unter diesen Worten waren sie wieder in das Hauptgebäude gelangt. Sie führte ihn durch einen geräumigen Gang auf eine Türe zu, vor der zwei Sphinxe von Granit lagen. Die Türe selbst war auf ägyptische Weise oben ein wenig enger als unten, und ihre ehernen Flügel bereiteten zu einem ernsthaften, ja zu einem schauerlichen Anblick vor. Wie angenehm ward man daher überrascht, als diese Erwartung sich in die reinste Heiterkeit auflöste, indem man in einen Saal trat, in welchem Kunst und Leben jede Erinnerung an Tod und Grab aufhoben. In die Wände waren verhältnismäßige Bogen vertieft, in denen größere Sarkophagen standen; in den Pfeilern dazwischen sah man kleinere Öffnungen, mit Aschenkästchen und Gefäßen geschmückt; die übrigen Flächen der Wände und des Gewölbes sah man regelmäßig abgeteilt und zwischen heitern und mannigfaltigen Einfassungen, Kränzen und Zieraten heitere und bedeutende Gestalten in Feldern von verschiedener Größe gemalt. Die architektonischen Glieder waren mit dem schönen gelben Marmor, der ins Rötliche hinüberblickt, bekleidet, hellblaue Streifen von einer glücklichen chemischen Komposition ahmten den Lasurstein nach und gaben, indem sie gleichsam in einem Gegensatz das Auge befriedigten, dem Ganzen Einheit und Verbindung. Alle diese Pracht und Zierde stellte sich in reinen architektonischen Verhältnissen dar, und so schien jeder, der hineintrat, über sich selbst erhoben zu sein, indem er durch die zusammentreffende Kunst erst erfuhr, was der Mensch sei und was er sein könne.

Der Türe gegenüber sah man auf einem prächtigen Sarkophagen das Marmorbild eines würdigen Mannes, an ein Polster gelehnt. Er hielt eine Rolle vor sich und schien mit stiller Aufmerksamkeit daraufzublicken. Sie war so gerichtet, daß man die Worte, die sie enthielt, bequem lesen konnte. Es stand darauf: »Gedenke zu leben!«

Natalie, indem sie einen verwelkten Strauß wegnahm, legte den frischen vor das Bild des Oheims; denn er selbst war in der Figur vorgestellt, und Wilhelm glaubte sich noch der Züge des alten Herrn zu erinnern, den er damals im Walde gesehen hatte. »Hier brachten wir manche Stunde zu«, sagte Natalie, »bis dieser Saal fertig war. In seinen letzten Jahren hatte er einige geschickte Künstler an sich gezogen, und seine beste Unterhaltung war, die Zeichnungen und Kartone zu diesen Gemälden aussinnen und bestimmen zu helfen.«

Wilhelm konnte sich nicht genug der Gegenstände freuen, die ihn umgaben. »Welch ein Leben«, rief er aus, »in diesem Saale der Vergangenheit! Man könnte ihn ebensogut den Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen. So war alles, und so wird alles sein! Nichts ist vergänglich als der eine, der genießt und zuschaut. Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen glücklicher Mütter überleben. Nach Jahrhunderten vielleicht erfreut sich ein Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt und sich mit seinem Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen und bei ihren stillen Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er hereintreten darf.«

Wilhelms Augen schweiften auf unzählige Bilder umher. Vom ersten frohen Triebe der Kindheit, jedes Glied im Spiele nur zu brauchen und zu üben, bis zum ruhigen, abgeschiedenen Ernste des Weisen konnte man in schöner, lebendiger Folge sehen, wie der Mensch keine angeborne Neigung und Fähigkeit besitzt, ohne sie zu brauchen und zu nutzen. Von dem ersten zarten Selbstgefühl, wenn das Mädchen verweilt, den Krug aus dem klaren Wasser wieder heraufzuheben, und indessen ihr Bild gefällig betrachtet, bis zu jenen hohen Feierlichkeiten, wenn Könige und Völker zu Zeugen ihrer Verbindungen die Götter am Altare anrufen, zeigte sich alles bedeutend und kräftig.

Es war eine Welt, es war ein Himmel, der den Beschauenden an dieser Stätte umgab, und außer den Gedanken, welche jene gebildeten Gestalten erregten, außer den Empfindungen, welche sie einflößten, schien noch etwas andres gegenwärtig zu sein, wovon der ganze Mensch sich angegriffen fühlte. Auch Wilhelm bemerkte es, ohne sich davon Rechenschaft geben zu können. »Was ist das«, rief er aus, »das, unabhängig von aller Bedeutung, frei von allem Mitgefühl, das uns menschliche Begebenheiten und Schicksale einflößen, so stark und zugleich so anmutig auf mich zu wirken vermag? Es spricht aus dem Ganzen, es spricht aus jedem Teile mich an, ohne daß ich jenes begreifen, ohne daß ich diese mir besonders zueignen könnte! Welchen Zauber ahn ich in diesen Flächen, diesen Linien, diesen Höhen und Breiten, diesen Massen und Farben! Was ist es, das diese Figuren, auch nur obenhin betrachtet, schon als Zierat so erfreulich macht? Ja, ich fühle, man könnte hier verweilen, ruhen, alles mit den Augen fassen, sich glücklich finden und ganz etwas andres fühlen und denken als das, was vor Augen steht.«

Und gewiß, könnten wir beschreiben, wie glücklich alles eingeteilt war, wie an Ort und Stelle durch Verbindung oder Gegensatz, durch Einfärbigkeit oder Buntheit alles bestimmt, so und nicht anders erschien, als es erscheinen sollte, und eine so vollkommene als deutliche Wirkung hervorbrachte, so würden wir den Leser an einen Ort versetzen, von dem er sich so bald nicht zu entfernen wünschte.

Vier große marmorne Kandelaber standen in den Ecken des Saals, vier kleinere in der Mitte um einen sehr schön gearbeiteten Sarkophag, der seiner Größe nach eine junge Person von mittlerer Gestalt konnte enthalten haben.

Natalie blieb bei diesem Monumente stehen, und indem sie die Hand darauflegte, sagte sie: »Mein guter Oheim hatte große Vorliebe zu diesem Werke des Altertums. Er sagte manchmal: ›Nicht allein die ersten Blüten fallen ab, die ihr da oben in jenen kleinen Räumen verwahren könnt, sondern auch Früchte, die am Zweige hängend uns noch lange die schönste Hoffnung geben, indes ein heimlicher Wurm ihre frühere Reife und ihre Zerstörung vorbereitet.‹ Ich fürchte«, fuhr sie fort, »er hat auf das liebe Mädchen geweissagt, das sich unserer Pflege nach und nach zu entziehen und zu dieser ruhigen Wohnung zu neigen scheint.«

Als sie im Begriff waren wegzugehn, sagte Natalie: »Ich muß Sie noch auf etwas aufmerksam machen. Bemerken Sie diese halbrunden Öffnungen in der Höhe auf beiden Seiten! Hier können die Chöre der Sänger verborgen stehen, und diese ehrnen Zieraten unter dem Gesimse dienen, die Teppiche zu befestigen, die nach der Verordnung meines Oheims bei jeder Bestattung aufgehängt werden sollen. Er konnte nicht ohne Musik, besonders nicht ohne Gesang leben und hatte dabei die Eigenheit, daß er die Sänger nicht sehen wollte. Er pflegte zu sagen: ›Das Theater verwöhnt uns gar zu sehr, die Musik dient dort nur gleichsam dem Auge, sie begleitet die Bewegungen, nicht die Empfindungen. Bei Oratorien und Konzerten stört uns immer die Gestalt des Musikus; die wahre Musik ist allein fürs Ohr; eine schöne Stimme ist das Allgemeinste, was sich denken läßt, und indem das eingeschränkte Individuum, das sie hervorbringt, sich vors Auge stellt, zerstört es den reinen Effekt jener Allgemeinheit. Ich will jeden sehen, mit dem ich reden soll, denn es ist ein einzelner Mensch, dessen Gestalt und Charakter die Rede wert oder unwert macht; hingegen wer mir singt, soll unsichtbar sein; seine Gestalt soll mich nicht bestechen oder irremachen. Hier spricht nur ein Organ zum Organe, nicht der Geist zum Geiste, nicht eine tausendfältige Welt zum Auge, nicht ein Himmel zum Menschen.‹ Ebenso wollte er auch bei Instrumentalmusiken die Orchester soviel als möglich versteckt haben, weil man durch die mechanischen Bemühungen und durch die notdürftigen, immer seltsamen Gebärden der Instrumentenspieler so sehr zerstreut und verwirrt werde. Er pflegte daher eine Musik nicht anders als mit zugeschlossenen Augen anzuhören, um sein ganzes Dasein auf den einzigen, reinen Genuß des Ohrs zu konzentrieren.«

Sie wollten eben den Saal verlassen, als sie die Kinder in dem Gange heftig laufen und den Felix rufen hörten: »Nein ich! nein ich!«

Mignon warf sich zuerst zur geöffneten Türe herein; sie war außer Atem und konnte kein Wort sagen; Felix, noch in einiger Entfernung, rief: »Mutter Therese ist da!« Die Kinder hatten, so schien es, die Nachricht zu überbringen, einen Wettlauf angestellt. Mignon lag in Nataliens Armen, ihr Herz pochte gewaltsam.

»Böses Kind«, sagte Natalie, »ist dir nicht alle heftige Bewegung untersagt? Sieh, wie dein Herz schlägt!«

»Laß es brechen!« sagte Mignon mit einem tiefen Seufzer, »es schlägt schon zu lange.«

Man hatte sich von dieser Verwirrung, von dieser Art von Bestürzung kaum erholt, als Therese hereintrat. Sie flog auf Natalien zu, umarmte sie und das gute Kind. Dann wendete sie sich zu Wilhelmen, sah ihn mit ihren klaren Augen an und sagte: »Nun, mein Freund, wie steht es, Sie haben sich doch nicht irremachen lassen?« Er tat einen Schritt gegen sie, sie sprang auf ihn zu und hing an seinem Halse. »O meine Therese!« rief er aus.

»Mein Freund! mein Geliebter! mein Gatte! ja, auf ewig die Deine!« rief sie unter den lebhaftesten Küssen.

Felix zog sie am Rocke und rief: »Mutter Therese, ich bin auch da!« Natalie stand und sah vor sich hin; Mignon fuhr auf einmal mit der linken Hand nach dem Herzen, und indem sie den rechten Arm heftig ausstreckte, fiel sie mit einem Schrei zu Nataliens Füßen für tot nieder.

Der Schrecken war groß: keine Bewegung des Herzens noch des Pulses war zu spüren. Wilhelm nahm sie auf seinen Arm und trug sie eilig hinauf, der schlotternde Körper hing über seine Schultern. Die Gegenwart des Arztes gab wenig Trost; er und der junge Wundarzt, den wir schon kennen, bemühten sich vergebens. Das liebe Geschöpf war nicht ins Leben zurückzurufen.

Natalie winkte Theresen. Diese nahm ihren Freund bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. Er war stumm und ohne Sprache und hatte den Mut nicht, ihren Augen zu begegnen. So saß er neben ihr auf dem Kanapee, auf dem er Natalien zuerst angetroffen hatte. Er dachte mit großer Schnelle eine Reihe von Schicksalen durch, oder vielmehr er dachte nicht, er ließ das auf seine Seele wirken, was er nicht entfernen konnte. Es gibt Augenblicke des Lebens, in welchen die Begebenheiten gleich geflügelten Weberschiffchen vor uns sich hin und wider bewegen und unaufhaltsam ein Gewebe vollenden, das wir mehr oder weniger selbst gesponnen und angelegt haben. »Mein Freund!« sagte Therese; »mein Geliebter!« indem sie das Stillschweigen unterbrach und ihn bei der Hand nahm, »laß uns diesen Augenblick fest zusammenhalten, wie wir noch öfters, vielleicht in ähnlichen Fällen, werden zu tun haben. Dies sind die Ereignisse, welche zu ertragen man zu zweien in der Welt sein muß. Bedenke, mein Freund, fühle, daß du nicht allein bist, zeige, daß du deine Therese liebst, zuerst dadurch, daß du deine Schmerzen ihr mitteilst!« Sie umarmte ihn und schloß ihn sanft an ihren Busen; er faßte sie in seine Arme und drückte sie mit Heftigkeit an sich. »Das arme Kind«, rief er aus, »suchte in traurigen Augenblicken Schutz und Zuflucht an meinem unsichern Busen; laß die Sicherheit des deinigen mir in dieser schrecklichen Stunde zugute kommen.« Sie hielten sich fest umschlossen, er fühlte ihr Herz an seinem Busen schlagen, aber in seinem Geiste war es öde und leer; nur die Bilder Mignons und Nataliens schwebten wie Schatten vor seiner Einbildungskraft.

Natalie trat herein. »Gib uns deinen Segen!« rief Therese, »laß uns in diesem traurigen Augenblicke von dir verbunden sein.« Wilhelm hatte sein Gesicht an Theresens Halse verborgen; er war glücklich genug, weinen zu können. Er hörte Natalien nicht kommen, er sah sie nicht, nur bei dem Klang ihrer Stimme verdoppelten sich seine Tränen. »Was Gott zusammenfügt, will ich nicht scheiden«, sagte Natalie lächelnd, »aber verbinden kann ich euch nicht und kann nicht loben, daß Schmerz und Neigung die Erinnerung an meinen Bruder völlig aus euren Herzen zu verbannen scheint.« Wilhelm riß sich bei diesen Worten aus den Armen Theresens. »Wo wollen Sie hin?« riefen beide Frauen. »Lassen Sie mich das Kind sehen«, rief er aus, »das ich getötet habe! Das Unglück, das wir mit Augen sehen, ist geringer, als wenn unsere Einbildungskraft das Übel gewaltsam in unser Gemüt einsenkt; lassen Sie uns den abgeschiedenen Engel sehen! Seine heitere Miene wird uns sagen, daß ihm wohl ist!« Da die Freundinnen den bewegten Jüngling nicht abhalten konnten, folgten sie ihm; aber der gute Arzt, der mit dem Chirurgus ihnen entgegenkam, hielt sie ab, sich der Verblichenen zu nähern, und sagte: »Halten Sie sich von diesem traurigen Gegenstande entfernt, und erlauben Sie mir, daß ich den Resten dieses sonderbaren Wesens, soviel meine Kunst vermag, einige Dauer gebe. Ich will die schöne Kunst, einen Körper nicht allein zu balsamieren, sondern ihm auch ein lebendiges Ansehn zu erhalten, bei diesem geliebten Geschöpfe sogleich anwenden. Da ich ihren Tod voraussah, habe ich alle Anstalten gemacht, und mit diesem Gehülfen hier soll mir’s gelingen. Erlauben Sie mir nur noch einige Tage Zeit, und verlangen Sie das liebe Kind nicht wieder zu sehen, bis wir es in den Saal der Vergangenheit gebracht haben.«

Der junge Chirurgus hatte jene merkwürdige Instrumententasche wieder in Händen. »Von wem kann er sie wohl haben?« fragte Wilhelm den Arzt. »Ich kenne sie sehr gut«, versetzte Natalie, »er hat sie von seinem Vater, der Sie damals im Walde verband.«

»Oh, so habe ich mich nicht geirrt,« rief Wilhelm, »ich erkannte das Band sogleich! Treten Sie mir es ab! Es brachte mich zuerst wieder auf die Spur von meiner Wohltäterin. Wieviel Wohl und Wehe überdauert nicht ein solches lebloses Wesen! Bei wieviel Schmerzen war dies Band nicht schon gegenwärtig, und seine Fäden halten noch immer! Wie vieler Menschen letzten Augenblick hat es schon begleitet, und seine Farben sind noch nicht verblichen! Es war gegenwärtig in einem der schönsten Augenblicke meines Lebens, da ich verwundet auf der Erde lag und Ihre hülfreiche Gestalt vor mir erschien, als das Kind mit blutigen Haaren, mit der zärtlichsten Sorgfalt für mein Leben besorgt war, dessen frühzeitigen Tod wir nun beweinen.«

Die Freunde hatten nicht lange Zeit, sich über diese traurige Begebenheit zu unterhalten und Fräulein Theresen über das Kind und über die wahrscheinliche Ursache seines unerwarteten Todes aufzuklären; denn es wurden Fremde gemeldet, die, als sie sich zeigten, keinesweges fremd waren. Lothario, Jarno, der Abbé traten herein. Natalie ging ihrem Bruder entgegen; unter den übrigen entstand ein augenblickliches Stillschweigen. Therese sagte lächelnd zu Lothario: »Sie glaubten wohl kaum, mich hier zu finden; wenigstens ist es eben nicht rätlich, daß wir uns in diesem Augenblick aufsuchen; indessen sein Sie mir nach einer so langen Abwesenheit herzlich gegrüßt.«

Lothario reichte ihr die Hand und versetzte: »Wenn wir einmal leiden und entbehren sollen, so mag es immerhin auch in der Gegenwart des geliebten, wünschenswerten Gutes geschehen. Ich verlange keinen Einfluß auf Ihre Entschließung, und mein Vertrauen auf Ihr Herz, auf Ihren Verstand und reinen Sinn ist noch immer so groß, daß ich Ihnen mein Schicksal und das Schicksal meines Freundes gerne in die Hand lege.«

Das Gespräch wendete sich sogleich zu allgemeinen, ja man darf sagen, zu unbedeutenden Gegenständen. Die Gesellschaft trennte sich bald zum Spazierengehen in einzelne Paare. Natalie war mit Lothario, Therese mit dem Abbé gegangen, und Wilhelm war mit Jarno auf dem Schlosse geblieben.

 

Die Erscheinung der drei Freunde in dem Augenblick, da Wilhelmen ein schwerer Schmerz auf der Brust lag, hatte, statt ihn zu zerstreuen, seine Laune gereizt und verschlimmert; er war verdrießlich und argwöhnisch und konnte und wollte es nicht verhehlen, als Jarno ihn über sein mürrisches Stillschweigen zur Rede setzte. »Was braucht’s da weiter?« rief Wilhelm aus. »Lothario kommt mit seinen Beiständen, und es wäre wunderbar, wenn jene geheimnisvollen Mächte des Turms, die immer so geschäftig sind, jetzt nicht auf uns wirken und ich weiß nicht was für einen seltsamen Zweck mit und an uns ausführen sollten. Soviel ich diese heiligen Männer kenne, scheint es jederzeit ihre löbliche Absicht, das Verbundene zu trennen und das Getrennte zu verbinden. Was daraus für ein Gewebe entstehen kann, mag wohl unsern unheiligen Augen ewig ein Rätsel bleiben.«

»Sie sind verdrießlich und bitter«, sagte Jarno, »das ist recht schön und gut. Wenn Sie nur erst einmal recht böse werden, wird es noch besser sein.«

»Dazu kann auch Rat werden«, versetzte Wilhelm, »und ich fürchte sehr, daß man Lust hat, meine angeborne und angebildete Geduld diesmal aufs äußerste zu reizen.«

»So möchte ich Ihnen denn doch«, sagte Jarno, »indessen, bis wir sehen, wo unsere Geschichten hinauswollen, etwas von dem Turme erzählen, gegen den Sie ein so großes Mißtrauen zu hegen scheinen.«

»Es steht bei Ihnen«, versetzte Wilhelm, »wenn Sie es auf meine Zerstreuung hin wagen wollen. Mein Gemüt ist so vielfach beschäftigt, daß ich nicht weiß, ob es an diesen würdigen Abenteuern den schuldigen Teil nehmen kann.«

»Ich lasse mich«, sagte Jarno, »durch Ihre angenehme Stimmung nicht abschrecken, Sie über diesen Punkt aufzuklären. Sie halten mich für einen gescheiten Kerl, und Sie sollen mich auch noch für einen ehrlichen halten, und, was mehr ist, diesmal hab ich Auftrag.« – »Ich wünschte«, versetzte Wilhelm, »Sie sprächen aus eigner Bewegung und aus gutem Willen, mich aufzuklären; und da ich Sie nicht ohne Mißtrauen hören kann, warum soll ich Sie anhören?« – »Wenn ich jetzt nichts Besseres zu tun habe«, sagte Jarno, »als Märchen zu erzählen, so haben Sie ja auch wohl Zeit, ihnen einige Aufmerksamkeit zu widmen; vielleicht sind Sie dazu geneigter, wenn ich Ihnen gleich anfangs sage: alles, was Sie im Turme gesehen haben, sind eigentlich nur noch Reliquien von einem jugendlichen Unternehmen, bei dem es anfangs den meisten Eingeweihten großer Ernst war und über das nun alle gelegentlich nur lächeln.«

»Also mit diesen würdigen Zeichen und Worten spielt man nur!« rief Wilhelm aus, »man führt uns mit Feierlichkeit an einen Ort, der uns Ehrfurcht einflößt, man läßt uns die wunderlichsten Erscheinungen sehen, man gibt uns Rollen voll herrlicher, geheimnisreicher Sprüche, davon wir freilich das wenigste verstehn, man eröffnet uns, daß wir bisher Lehrlinge waren, man spricht uns los, und wir sind so klug wie vorher.« – »Haben Sie das Pergament nicht bei der Hand?« fragte Jarno, »es enthält viel Gutes: denn jene allgemeinen Sprüche sind nicht aus der Luft gegriffen; freilich scheinen sie demjenigen leer und dunkel, der sich keiner Erfahrung dabei erinnert. Geben Sie mir den sogenannten Lehrbrief doch, wenn er in der Nähe ist.« – »Gewiß, ganz nah«, versetzte Wilhelm; »so ein Amulett sollte man immer auf der Brust tragen.« – »Nun«, sagte Jarno lächelnd, »wer weiß, ob der Inhalt nicht einmal in Ihrem Kopf und Herzen Platz findet.«

Jarno blickte hinein und überlief die erste Hälfte mit den Augen. »Diese«, sagte er, »bezieht sich auf die Ausbildung des Kunstsinnes, wovon andere sprechen mögen; die zweite handelt vom Leben, und da bin ich besser zu Hause.«

Er fing darauf an, Stellen zu lesen, sprach dazwischen und knüpfte Anmerkungen und Erzählungen mit ein. »Die Neigung der Jugend zum Geheimnis, zu Zeremonien und großen Worten ist außerordentlich, und oft ein Zeichen einer gewissen Tiefe des Charakters. Man will in diesen Jahren sein ganzes Wesen, wenn auch nur dunkel und unbestimmt, ergriffen und berührt fühlen. Der Jüngling, der vieles ahnet, glaubt in einem Geheimnisse viel zu finden, in ein Geheimnis viel legen und durch dasselbe wirken zu müssen. In diesen Gesinnungen bestärkte der Abbé eine junge Gesellschaft, teils nach seinen Grundsätzen, teils aus Neigung und Gewohnheit, da er wohl ehemals mit einer Gesellschaft in Verbindung stand, die selbst viel im verborgenen gewirkt haben mochte. Ich konnte mich am wenigsten in dieses Wesen finden. Ich war älter als die andern, ich hatte von Jugend auf klar gesehen und wünschte in allen Dingen nichts als Klarheit; ich hatte kein ander Interesse, als die Welt zu kennen, wie sie war, und steckte mit dieser Liebhaberei die übrigen besten Gefährten an, und fast hätte darüber unsere ganze Bildung eine falsche Richtung genommen: denn wir fingen an, nur die Fehler der andern und ihre Beschränkung zu sehen und uns selbst für treffliche Wesen zu halten. Der Abbé kam uns zu Hülfe und lehrte uns, daß man die Menschen nicht beobachten müsse, ohne sich für ihre Bildung zu interessieren, und daß man sich selbst eigentlich nur in der Tätigkeit zu beobachten und zu erlauschen imstande sei. Er riet uns, jene ersten Formen der Gesellschaft beizubehalten; es blieb daher etwas Gesetzliches in unsern Zusammenkünften, man sah wohl die ersten mystischen Eindrücke auf die Einrichtung des Ganzen, nachher nahm es, wie durch ein Gleichnis, die Gestalt eines Handwerks an, das sich bis zur Kunst erhob. Daher kamen die Benennungen von Lehrlingen, Gehülfen und Meistern. Wir wollten mit eigenen Augen sehen und uns ein eigenes Archiv unserer Weltkenntnis bilden; daher entstanden die vielen Konfessionen, die wir teils selbst schrieben, teils wozu wir andere veranlaßten und aus denen nachher die ›Lehrjahre‹ zusammengesetzt wurden. Nicht allen Menschen ist es eigentlich um ihre Bildung zu tun; viele wünschen nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden, Rezepte zum Reichtum und zu jeder Art von Glückseligkeit. Alle diese, die nicht auf ihre Füße gestellt sein wollten, wurden mit Mystifikationen und anderm Hokuspokus teils aufgehalten, teils beiseite gebracht. Wir sprachen nach unserer Art nur diejenigen los, die lebhaft fühlten und deutlich bekannten, wozu sie geboren seien, und die sich genug geübt hatten, um mit einer gewissen Fröhlichkeit und Leichtigkeit ihren Weg zu verfolgen.«

»So haben Sie sich mit mir sehr übereilt«, versetzte Wilhelm; »denn was ich kann, will oder soll, weiß ich gerade seit jenem Augenblick am allerwenigsten.« – »Wir sind ohne Schuld in diese Verwirrung geraten, das gute Glück mag uns wieder heraushelfen; indessen hören Sie nur: ›Derjenige, an dem viel zu entwickeln ist, wird später über sich und die Welt aufgeklärt. Es sind nur wenige, die den Sinn haben und zugleich zur Tat fähig sind. Der Sinn erweitert, aber lähmt; die Tat belebt, aber beschränkt.‹«

»Ich bitte Sie«, fiel Wilhelm ein, »lesen Sie mir von diesen wunderlichen Worten nichts mehr! Diese Phrasen haben mich schon verwirrt genug gemacht.« – »So will ich bei der Erzählung bleiben«, sagte Jarno, indem er die Rolle halb zuwickelte und nur manchmal einen Blick hinein tat. »Ich selbst habe der Gesellschaft und den Menschen am wenigsten genutzt; ich bin ein sehr schlechter Lehrmeister, es ist mir unerträglich zu sehen, wenn jemand ungeschickte Versuche macht, einem Irrenden muß ich gleich zurufen, und wenn es ein Nachtwandler wäre, den ich in Gefahr sähe, geradenweges den Hals zu brechen. Darüber hatte ich nun immer meine Not mit dem Abbé, der behauptet, der Irrtum könne nur durch das Irren geheilt werden. Auch über Sie haben wir uns oft gestritten; er hatte Sie besonders in Gunst genommen, und es will schon etwas heißen, in dem hohen Grade seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie müssen mir nachsagen, daß ich Ihnen, wo ich Sie antraf, die reine Wahrheit sagte.« – »Sie haben mich wenig geschont«, sagte Wilhelm, »und Sie scheinen Ihren Grundsätzen treu zu bleiben.« – »Was ist denn da zu schonen«, versetzte Jarno, »wenn ein junger Mensch von mancherlei guten Anlagen eine ganz falsche Richtung nimmt?« – »Verzeihen Sie«, sagte Wilhelm, »Sie haben mir streng genug alle Fähigkeit zum Schauspieler abgesprochen; ich gestehe Ihnen, daß, ob ich gleich dieser Kunst ganz entsagt habe, so kann ich mich doch unmöglich bei mir selbst dazu für ganz unfähig erklären.« – »Und bei mir«, sagte Jarno, »ist es doch so rein entschieden, daß, wer sich nur selbst spielen kann, kein Schauspieler ist. Wer sich nicht dem Sinn und der Gestalt nach in viele Gestalten verwandeln kann, verdient nicht diesen Namen. So haben Sie zum Beispiel den Hamlet und einige andere Rollen recht gut gespielt, bei denen Ihr Charakter, Ihre Gestalt und die Stimmung des Augenblicks Ihnen zugute kamen. Das wäre nun für ein Liebhabertheater und für einen jeden gut genug, der keinen andern Weg vor sich sähe. ›Man soll sich‹«, fuhr Jarno fort, indem er auf die Rolle sah, »›vor einem Talente hüten, das man in Vollkommenheit auszuüben nicht Hoffnung hat. Man mag es darin so weit bringen, als man will, so wird man doch immer zuletzt, wenn uns einmal das Verdienst des Meisters klar wird, den Verlust von Zeit und Kräften, die man auf eine solche Pfuscherei gewendet hat, schmerzlich bedauern.‹«

»Lesen Sie nichts!« sagte Wilhelm, »ich bitte Sie inständig, sprechen Sie fort, erzählen Sie mir, klären Sie mich auf! Und so hat also der Abbé mir zum Hamlet geholfen, indem er einen Geist herbeischaffte?« – »Ja, denn er versicherte, daß es der einzige Weg sei, Sie zu heilen, wenn Sie heilbar wären.« – »Und darum ließ er mir den Schleier zurück und hieß mich fliehen?« – »Ja, er hoffte sogar, mit der Vorstellung des Hamlets sollte Ihre ganze Lust gebüßt sein. Sie würden nachher das Theater nicht wieder betreten, behauptete er; ich glaubte das Gegenteil und behielt recht. Wir stritten noch selbigen Abend nach der Vorstellung darüber.« – »Und Sie haben mich also spielen sehen?« – »O gewiß!« – »Und wer stellte denn den Geist vor?« – »Das kann ich selbst nicht sagen; entweder der Abbé oder sein Zwillingsbruder, doch glaub ich, dieser, denn er ist um ein weniges größer.« – »Sie haben also auch Geheimnisse untereinander?« – »Freunde können und müssen Geheimnisse voreinander haben; sie sind einander doch kein Geheimnis.«

»Es verwirrt mich schon das Andenken dieser Verworrenheit. Klären Sie mich über den Mann auf, dem ich so viel schuldig bin und dem ich so viel Vorwürfe zu machen habe.«

»Was ihn uns so schätzbar macht«, versetzte Jarno, »was ihm gewissermaßen die Herrschaft über uns alle erhält, ist der freie und scharfe Blick, den ihm die Natur über alle Kräfte, die im Menschen nur wohnen und wovon sich jede in ihrer Art ausbilden läßt, gegeben hat. Die meisten Menschen, selbst die vorzüglichen, sind nur beschränkt; jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich und andern; nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen. Ganz entgegengesetzt wirkt der Abbé, er hat Sinn für alles, Lust an allem, es zu erkennen und zu befördern. Da muß ich doch wieder in die Rolle sehen!« fuhr Jarno fort. »›Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt. Diese sind unter sich oft im Widerstreit, und indem sie sich zu zerstören suchen, hält sie die Natur zusammen und bringt sie wieder hervor. Von dem geringsten tierischen Handwerkstriebe bis zur höchsten Ausübung der geistigsten Kunst, vom Lallen und Jauchzen des Kindes bis zur trefflichsten Äußerung des Redners und Sängers, vom ersten Balgen der Knaben bis zu den ungeheuren Anstalten, wodurch Länder erhalten und erobert werden, vom leichtesten Wohlwollen und der flüchtigsten Liebe bis zur heftigsten Leidenschaft und zum ernstesten Bunde, von dem reinsten Gefühl der sinnlichen Gegenwart bis zu den leisesten Ahnungen und Hoffnungen der entferntesten geistigen Zukunft, alles das und weit mehr liegt im Menschen und muß ausgebildet werden; aber nicht in einem, sondern in vielen. Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickelt werden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus. Das Nützliche befördert sich selbst, denn die Menge bringt es hervor, und alle können’s nicht entbehren; das Schöne muß befördert werden, denn wenige stellen’s dar, und viele bedürfen’s.‹«

»Halten Sie inne!« rief Wilhelm, »ich habe das alles gelesen.« – »Nur noch einige Zeilen«, versetzte Jarno; »hier find ich den Abbé ganz wieder: ›Eine Kraft beherrscht die andere, aber keine kann die andere bilden; in jeder Anlage liegt auch allein die Kraft, sich zu vollenden; das verstehen so wenig Menschen, die doch lehren und wirken wollen.‹« – »Und ich verstehe es auch nicht«, versetzte Wilhelm. – »Sie werden über diesen Text den Abbé noch oft genug hören, und so lassen Sie uns nur immer recht deutlich sehen und festhalten, was an uns ist, und was wir an uns ausbilden können; lassen Sie uns gegen die andern gerecht sein, denn wir sind nur insofern zu achten, als wir zu schätzen wissen.« – »Um Gottes willen! keine Sentenzen weiter! Ich fühle, sie sind ein schlechtes Heilmittel für ein verwundetes Herz. Sagen Sie mir lieber mit Ihrer grausamen Bestimmtheit, was Sie von mir erwarten und wie und auf welche Weise Sie mich aufopfern wollen.« – »Jeden Verdacht, ich versichere Sie, werden Sie uns künftig abbitten. Es ist Ihre Sache, zu prüfen und zu wählen, und die unsere, Ihnen beizustehn. Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt. Nicht an mich halten Sie sich, sondern an den Abbé; nicht an sich denken Sie, sondern an das, was Sie umgibt. Lernen Sie zum Beispiel Lotharios Trefflichkeit einsehen, wie sein Überblick und seine Tätigkeit unzertrennlich miteinander verbunden sind, wie er immer im Fortschreiten ist, wie er sich ausbreitet und jeden mit fortreißt. Er führt, wo er auch sei, eine Welt mit sich, seine Gegenwart belebt und feuert an. Sehen Sie unsern guten Medikus dagegen! Es scheint gerade die entgegengesetzte Natur zu sein. Wenn jener nur ins Ganze und auch in die Ferne wirkt, so richtet dieser seinen hellen Blick nur auf die nächsten Dinge, er verschafft mehr die Mittel zur Tätigkeit, als daß er die Tätigkeit hervorbrächte und belebte; sein Handeln sieht einem guten Wirtschaften vollkommen ähnlich, seine Wirksamkeit ist still, indem er einen jeden in seinem Kreis befördert; sein Wissen ist ein beständiges Sammeln und Ausspenden, ein Nehmen und Mitteilen im kleinen. Vielleicht könnte Lothario in einem Tage zerstören, woran dieser jahrelang gebaut hat; aber vielleicht teilt auch Lothario in einem Augenblick andern die Kraft mit, das Zerstörte hundertfältig wiederherzustellen.« – »Es ist ein trauriges Geschäft«, sagte Wilhelm, »wenn man über die reinen Vorzüge der andern in einem Augenblicke denken soll, da man mit sich selbst uneins ist; solche Betrachtungen stehen dem ruhigen Manne wohl an, nicht dem, der von Leidenschaft und Ungewißheit bewegt ist.« – »Ruhig und vernünftig zu betrachten ist zu keiner Zeit schädlich, und indem wir uns gewöhnen, über die Vorzüge anderer zu denken, stellen sich die unsern unvermerkt selbst an ihren Platz, und jede falsche Tätigkeit, wozu uns die Phantasie lockt, wird alsdann gern von uns aufgegeben. Befreien Sie wo möglich Ihren Geist von allem Argwohn und aller Ängstlichkeit! Dort kommt der Abbé, sein Sie ja freundlich gegen ihn, bis Sie noch mehr erfahren, wieviel Dank Sie ihm schuldig sind. Der Schalk! da geht er zwischen Natalien und Theresen; ich wollte wetten, er denkt sich was aus. So wie er überhaupt gern ein wenig das Schicksal spielt, so läßt er auch nicht von der Liebhaberei, manchmal eine Heirat zu stiften.«

Wilhelm, dessen leidenschaftliche und verdrießliche Stimmung durch alle die klugen und guten Worte Jarnos nicht verbessert worden war, fand höchst undelikat, daß sein Freund gerade in diesem Augenblick eines solchen Verhältnisses erwähnte, und sagte, zwar lächelnd, doch nicht ohne Bitterkeit: »Ich dächte, man überließe die Liebhaberei, Heiraten zu stiften, Personen, die sich liebhaben.«

Sechstes Kapitel

Die Gesellschaft hatte sich eben wieder begegnet, und unsere Freunde sahen sich genötigt, das Gespräch abzubrechen. Nicht lange, so ward ein Kurier gemeldet, der einen Brief in Lotharios eigene Hände übergeben wollte; der Mann ward vorgeführt, er sah rüstig und tüchtig aus, seine Livree war sehr reich und geschmackvoll. Wilhelm glaubte ihn zu kennen, und er irrte sich nicht, es war derselbe Mann, den er damals Philinen und der vermeinten Mariane nachgeschickt hatte und der nicht wieder zurückgekommen war. Eben wollte er ihn anreden, als Lothario, der den Brief gelesen hatte, ernsthaft und fast verdrießlich fragte: »Wie heißt Sein Herr?«

»Das ist unter allen Fragen«, versetzte der Kurier mit Bescheidenheit, »auf die ich am wenigsten zu antworten weiß; ich hoffe, der Brief wird das Nötige vermelden; mündlich ist mir nichts aufgetragen.«

»Es sei, wie ihm sei«, versetzte Lothario mit Lächeln, »da Sein Herr das Zutrauen zu mir hat, mir so hasenfüßig zu schreiben, so soll er uns willkommen sein.« – »Er wird nicht lange auf sich warten lassen«, versetzte der Kurier mit einer Verbeugung und entfernte sich.

»Vernehmet nur«, sagte Lothario, »die tolle, abgeschmackte Botschaft. ›Da unter allen Gästen‹, so schreibt der Unbekannte, ›ein guter Humor der angenehmste Gast sein soll, wenn er sich einstellt, und ich denselben als Reisegefährten beständig mit mir herumführe, so bin ich überzeugt, der Besuch, den ich Euer Gnaden und Liebden zugedacht habe, wird nicht übel vermerkt werden, vielmehr hoffe ich mit der sämtlichen hohen Familie vollkommener Zufriedenheit anzulangen und gelegentlich mich wieder zu entfernen, der ich mich, und so weiter, Graf von Schneckenfuß.‹«

»Das ist eine neue Familie«, sagte der Abbé.

»Es mag ein Vikariatsgraf sein«, versetzte Jarno.

»Das Geheimnis ist leicht zu erraten«, sagte Natalie; »ich wette, es ist Bruder Friedrich, der uns schon seit dem Tode des Oheims mit einem Besuche droht.«

»Getroffen, schöne und weise Schwester!« rief jemand aus einem nahen Busche, und zugleich trat ein angenehmer, heiterer junger Mann hervor; Wilhelm konnte sich kaum eines Schreies enthalten. »Wie?« rief er, »unser blonder Schelm, der soll mir auch hier noch erscheinen?« Friedrich ward aufmerksam, sah Wilhelmen an und rief: »Wahrlich, weniger erstaunt wär ich gewesen, die berühmten Pyramiden, die doch in Ägypten so fest stehen, oder das Grab des Königs Mausolus, das, wie man mir versichert hat, gar nicht mehr existiert, hier in dem Garten meines Oheims zu finden als Euch, meinen alten Freund und vielfachen Wohltäter. Seid mir besonders und schönstens gegrüßt!«

Nachdem er ringsherum alles bewillkommt und geküßt hatte, sprang er wieder auf Wilhelmen los und rief: »Haltet mir ihn ja warm, diesen Helden, Heerführer und dramatischen Philosophen! Ich habe ihn bei unserer ersten Bekanntschaft schlecht, ja ich darf wohl sagen, mit der Hechel frisiert, und er hat mir doch nachher eine tüchtige Tracht Schläge erspart. Er ist großmütig wie Scipio, freigebig wie Alexander, gelegentlich auch verliebt, doch ohne seine Nebenbuhler zu hassen. Nicht etwa, daß er seinen Feinden Kohlen aufs Haupt sammelte, welches, wie man sagt, ein schlechter Dienst sein soll, den man jemanden erzeigen kann, nein, er schickt vielmehr den Freunden, die ihm sein Mädchen entführen, gute und treue Diener nach, damit ihr Fuß an keinen Stein stoße.«

In diesem Geschmack fuhr er unaufhaltsam fort, ohne daß jemand ihm Einhalt zu tun imstande gewesen wäre, und da niemand in dieser Art ihm erwidern konnte, so behielt er das Wort ziemlich allein. »Verwundert euch nicht«, rief er aus, »über meine große Belesenheit in heiligen und Profan-Skribenten; ihr sollt erfahren, wie ich zu diesen Kenntnissen gelangt bin.« Man wollte von ihm wissen, wie es ihm gehe, wo er herkomme; allein er konnte vor lauter Sittensprüchen und alten Geschichten nicht zur deutlichen Erklärung gelangen.

Natalie sagte leise zu Theresen: »Seine Art von Lustigkeit tut mir wehe; ich wollte wetten, daß ihm dabei nicht wohl ist.«

Da Friedrich außer einigen Späßen, die ihm Jarno erwiderte, keinen Anklang für seine Possen in der Gesellschaft fand, sagte er: »Es bleibt mir nichts übrig, als mit der ernsthaften Familie auch ernsthaft zu werden, und weil mir unter solchen bedenklichen Umständen sogleich meine sämtliche Sündenlast schwer auf die Seele fällt, so will ich mich kurz und gut zu einer Generalbeichte entschließen, wovon ihr aber, meine werten Herrn und Damen, nichts vernehmen sollt. Dieser edle Freund hier, dem schon einiges von meinem Leben und Tun bekannt ist, soll es allein erfahren, um so mehr, als er allein darnach zu fragen einige Ursache hat. Wäret Ihr nicht neugierig zu wissen«, fuhr er gegen Wilhelmen fort, »wie und wo? wer? wann und warum? wie sieht’s mit der Konjugation des griechischen Verbi Philéo, Philoh und mit den Derivativis dieses allerliebsten Zeitwortes aus?«

Somit nahm er Wilhelmen beim Arme, führte ihn fort, indem er ihn auf alle Weise drückte und küßte.

Kaum war Friedrich auf Wilhelms Zimmer gekommen, als er im Fenster ein Pudermesser liegen fand mit der Inschrift: »Gedenke mein«. »Ihr hebt Eure werten Sachen gut auf!« sagte er, »wahrlich, das ist Philinens Pudermesser, das sie Euch jenen Tag schenkte, als ich Euch so gerauft hatte. Ich hoffe, Ihr habt des schönen Mädchens fleißig dabei gedacht, und versichere Euch, sie hat Euch auch nicht vergessen, und wenn ich nicht jede Spur von Eifersucht schon lange aus meinem Herzen verbannt hätte, so würde ich Euch nicht ohne Neid ansehen.«

»Reden Sie nichts mehr von diesem Geschöpfe«, versetzte Wilhelm. »Ich leugne nicht, daß ich den Eindruck ihrer angenehmen Gegenwart lange nicht loswerden konnte, aber das war auch alles.«

»Pfui! schämt Euch«, rief Friedrich, »wer wird eine Geliebte verleugnen? Und Ihr habt sie so komplett geliebt, als man es nur wünschen konnte. Es verging kein Tag, daß Ihr dem Mädchen nicht etwas schenktet, und wenn der Deutsche schenkt, liebt er gewiß. Es blieb mir nichts übrig, als sie Euch zuletzt wegzuputzen, und dem roten Offizierchen ist es denn auch endlich geglückt.«

»Wie? Sie waren der Offizier, den wir bei Philinen antrafen und mit dem sie wegreiste?«

»Ja«, versetzte Friedrich, »den Sie für Marianen hielten. Wir haben genug über den Irrtum gelacht.«

»Welche Grausamkeit!« rief Wilhelm, »mich in einer solchen Ungewißheit zu lassen.«

»Und noch dazu den Kurier, den Sie uns nachschickten, gleich in Dienste zu nehmen!« versetzte Friedrich. »Es ist ein tüchtiger Kerl und ist diese Zeit nicht von unserer Seite gekommen. Und das Mädchen lieb ich noch immer so rasend wie jemals. Mir hat sie’s ganz eigens angetan, daß ich mich ganz nahezu in einem mythologischen Falle befinde und alle Tage befürchte, verwandelt zu werden.«

»Sagen Sie mir nur«, fragte Wilhelm, »wo haben Sie Ihre ausgebreitete Gelehrsamkeit her? Ich höre mit Verwunderung der seltsamen Manier zu, die Sie angenommen haben, immer mit Beziehung auf alte Geschichten und Fabeln zu sprechen.«

»Auf die lustigste Weise«, sagte Friedrich, »bin ich gelehrt, und zwar sehr gelehrt worden. Philine ist nun bei mir, wir haben einem Pachter das alte Schloß eines Rittergutes abgemietet, worin wir wie die Kobolde aufs lustigste leben. Dort haben wir eine zwar kompendiöse, aber doch ausgesuchte Bibliothek gefunden, enthaltend eine Bibel in Folio, ›Gottfrieds Chronik‹, zwei Bände ›Theatrum Europaeum‹, die ›Acerra Philologica‹, Gryphii Schriften und noch einige minder wichtige Bücher. Nun hatten wir denn doch, wenn wir ausgetobt hatten, manchmal Langeweile, wir wollten lesen, und ehe wir’s uns versahen, ward unsere Weile noch länger. Endlich hatte Philine den herrlichen Einfall, die sämtlichen Bücher auf einem großen Tisch aufzuschlagen, wir setzten uns gegeneinander und lasen gegeneinander, und immer nur stellenweise, aus einem Buch wie aus dem andern. Das war nun eine rechte Lust! Wir glaubten wirklich in guter Gesellschaft zu sein, wo man für unschicklich hält, irgendeine Materie zu lange fortsetzen oder wohl gar gründlich erörtern zu wollen; wir glaubten in lebhafter Gesellschaft zu sein, wo keins das andere zum Wort kommen läßt. Diese Unterhaltung geben wir uns regelmäßig alle Tage und werden dadurch nach und nach so gelehrt, daß wir uns selbst darüber verwundern. Schon finden wir nichts Neues mehr unter der Sonne, zu allem bietet uns unsere Wissenschaft einen Beleg an. Wir variieren diese Art, uns zu unterrichten, auf gar vielerlei Weise. Manchmal lesen wir nach einer alten, verdorbenen Sanduhr, die in einigen Minuten ausgelaufen ist. Schnell dreht sie das andere herum und fängt aus einem Buche zu lesen an, und kaum ist wieder der Sand im untern Glase, so beginnt das andere schon wieder seinen Spruch, und so studieren wir wirklich auf wahrhaft akademische Weise, nur daß wir kürzere Stunden haben und unsere Studien äußerst mannigfaltig sind.«

»Diese Tollheit begreife ich wohl«, sagte Wilhelm, »wenn einmal so ein lustiges Paar beisammen ist; wie aber das lockere Paar so lange beisammen bleiben kann, das ist mir nicht so bald begreiflich.«

»Das ist«, rief Friedrich, »eben das Glück und das Unglück: Philine darf sich nicht sehen lassen, sie mag sich selbst nicht sehen, sie ist guter Hoffnung. Unförmlicher und lächerlicher ist nichts in der Welt als sie. Noch kurz, ehe ich wegging, kam sie zufälligerweise vor den Spiegel. ›Pfui Teufel!‹ sagte sie und wendete das Gesicht ab, ›die leibhaftige Frau Melina! Das garstige Bild! Man sieht doch ganz niederträchtig aus!‹«

»Ich muß gestehen«, versetzte Wilhelm lächelnd, »daß es ziemlich komisch sein mag, euch als Vater und Mutter beisammen zu sehen.«

»Es ist ein recht närrischer Streich«, sagte Friedrich, »daß ich noch zuletzt als Vater gelten soll. Sie behauptet’s, und die Zeit trifft auch. Anfangs machte mich der verwünschte Besuch, den sie Euch nach dem ›Hamlet‹ abgestattet hatte, ein wenig irre.«

»Was für ein Besuch?«

»Ihr werdet das Andenken daran doch nicht ganz und gar verschlafen haben? Das allerliebste, fühlbare Gespenst jener Nacht, wenn Ihr’s noch nicht wißt, war Philine. Die Geschichte war mir freilich eine harte Mitgift, doch wenn man sich so etwas nicht mag gefallen lassen, so muß man gar nicht lieben. Die Vaterschaft beruht überhaupt nur auf der Überzeugung; ich bin überzeugt, und also bin ich Vater. Da seht Ihr, daß ich die Logik auch am rechten Orte zu brauchen weiß. Und wenn das Kind sich nicht gleich nach der Geburt auf der Stelle zu Tode lacht, so kann es, wo nicht ein nützlicher, doch angenehmer Weltbürger werden.«

Indessen die Freunde sich auf diese lustige Weise von leichtfertigen Gegenständen unterhielten, hatte die übrige Gesellschaft ein ernsthaftes Gespräch angefangen. Kaum hatten Friedrich und Wilhelm sich entfernt, als der Abbé die Freunde unvermerkt in einen Gartensaal führte und, als sie Platz genommen hatten, seinen Vortrag begann.

»Wir haben«, sagte er, »im allgemeinen behauptet, daß Fräulein Therese nicht die Tochter ihrer Mutter sei; es ist nötig, daß wir uns hierüber auch nun im einzelnen erklären. Hier ist die Geschichte, die ich sodann auf alle Weise zu belegen und zu beweisen mich erbiete.

Frau von *** lebte die ersten Jahre ihres Ehestandes mit ihrem Gemahl in dem besten Vernehmen, nur hatten sie das Unglück, daß die Kinder, zu denen einigemal Hoffnung war, tot zur Welt kamen und bei dem dritten die Ärzte der Mutter beinahe den Tod verkündigten und ihn bei einem folgenden als ganz unvermeidlich weissagten. Man war genötigt, sich zu entschließen, man wollte das Eheband nicht aufheben, man befand sich, bürgerlich genommen, zu wohl. Frau von *** suchte in der Ausbildung ihres Geistes, in einer gewissen Repräsentation, in den Freuden der Eitelkeit eine Art von Entschädigung für das Mutterglück, das ihr versagt war. Sie sah ihrem Gemahl mit sehr viel Heiterkeit nach, als er Neigung zu einem Frauenzimmer faßte, welche die ganze Haushaltung versah, eine schöne Gestalt und einen sehr soliden Charakter hatte. Frau von *** bot nach kurzer Zeit einer Einrichtung selbst die Hände, nach welcher das gute Mädchen sich Theresens Vater überließ, in der Besorgung des Hauswesens fortfuhr und gegen die Frau vom Hause fast noch mehr Dienstfertigkeit und Ergebung als vorher bezeigte.

Nach einiger Zeit erklärte sie sich guter Hoffnung, und die beiden Eheleute kamen bei dieser Gelegenheit, obwohl aus ganz verschiedenen Anlässen, auf einerlei Gedanken. Herr von *** wünschte das Kind seiner Geliebten als sein rechtmäßiges im Hause einzuführen, und Frau von ***, verdrießlich, daß durch die Indiskretion ihres Arztes ihr Zustand in der Nachbarschaft hatte verlauten wollen, dachte durch ein untergeschobenes Kind sich wieder in Ansehn zu setzen und durch eine solche Nachgiebigkeit ein Übergewicht im Hause zu erhalten, das sie unter den übrigen Umständen zu verlieren fürchtete. Sie war zurückhaltender als ihr Gemahl, sie merkte ihm seinen Wunsch ab und wußte, ohne ihm entgegenzugehn, eine Erklärung zu erleichtern. Sie machte ihre Bedingungen und erhielt fast alles, was sie verlangte, und so entstand das Testament, worin so wenig für das Kind gesorgt zu sein schien. Der alte Arzt war gestorben, man wendete sich an einen jungen, tätigen, gescheiten Mann, er ward gut belohnt, und er konnte selbst eine Ehre darin suchen, die Unschicklichkeit und Übereilung seines abgeschiedenen Kollegen ins Licht zu setzen und zu verbessern. Die wahre Mutter willigte nicht ungern ein, man spielte die Verstellung sehr gut, Therese kam zur Welt und wurde einer Stiefmutter zugeeignet, indes ihre wahre Mutter ein Opfer dieser Verstellung ward, indem sie sich zu früh wieder herauswagte, starb und den guten Mann trostlos hinterließ.

Frau von *** hatte indessen ganz ihre Absicht erreicht, sie hatte vor den Augen der Welt ein liebenswürdiges Kind, mit dem sie übertrieben paradierte, sie war zugleich eine Nebenbuhlerin losgeworden, deren Verhältnis sie denn doch mit neidischen Augen ansah und deren Einfluß sie, für die Zukunft wenigstens, heimlich fürchtete; sie überhäufte das Kind mit Zärtlichkeit und wußte ihren Gemahl in vertraulichen Stunden durch eine so lebhafte Teilnahme an seinem Verlust dergestalt an sich zu ziehen, daß er sich ihr, man kann wohl sagen, ganz ergab, sein Glück und das Glück seines Kindes in ihre Hände legte und kaum kurze Zeit vor seinem Tode, und noch gewissermaßen nur durch seine erwachsene Tochter, wieder Herr im Hause ward. Das war, schöne Therese, das Geheimnis, das Ihnen Ihr kranker Vater wahrscheinlich so gern entdeckt hätte, das ist’s, was ich Ihnen jetzt, eben da der junge Freund, der durch die sonderbarste Verknüpfung von der Welt Ihr Bräutigam geworden ist, in der Gesellschaft fehlt, umständlich vorlegen wollte. Hier sind die Papiere, die aufs strengste beweisen, was ich behauptet habe. Sie werden daraus zugleich erfahren, wie lange ich schon dieser Entdeckung auf der Spur war und wie ich doch erst jetzt zur Gewißheit kommen konnte; wie ich nicht wagte, meinem Freund etwas von der Möglichkeit des Glücks zu sagen, da es ihn zu tief gekränkt haben würde, wenn diese Hoffnung zum zweiten Male verschwunden wäre. Sie werden Lydiens Argwohn begreifen: denn ich gestehe gern, daß ich die Neigung unseres Freundes zu diesem guten Mädchen keineswegs begünstigte, seitdem ich seiner Verbindung mit Theresen wieder entgegensah.«

Niemand erwiderte etwas auf diese Geschichte. Die Frauenzimmer gaben die Papiere nach einigen Tagen zurück, ohne derselben weiter zu erwähnen.

Man hatte Mittel genug in der Nähe, die Gesellschaft, wenn sie beisammen war, zu beschäftigen, auch bot die Gegend so manche Reize dar, daß man sich gern darin teils einzeln, teils zusammen, zu Pferde, zu Wagen oder zu Fuße umsah. Jarno richtete bei einer solchen Gelegenheit seinen Auftrag an Wilhelmen aus, legte ihm die Papiere vor, schien aber weiter keine Entschließung von ihm zu verlangen.

»In diesem höchst sonderbaren Zustand, in dem ich mich befinde«, sagte Wilhelm darauf, »brauche ich Ihnen nur das zu wiederholen, was ich sogleich anfangs in Gegenwart Nataliens und gewiß mit einem reinen Herzen gesagt habe: Lothario und seine Freunde können jede Art von Entsagung von mir fordern, ich lege Ihnen hiermit alle meine Ansprüche an Theresen in die Hand, verschaffen Sie mir dagegen meine förmliche Entlassung. Oh! es bedarf, mein Freund, keines großen Bedenkens, mich zu entschließen. Schon diese Tage hab ich gefühlt, daß Therese Mühe hat, nur einen Schein der Lebhaftigkeit, mit der sie mich zuerst hier begrüßte, zu erhalten. Ihre Neigung ist mir entwendet, oder vielmehr ich habe sie nie besessen.«

»Solche Fälle möchten sich wohl besser nach und nach unter Schweigen und Erwarten aufklären«, versetzte Jarno, »als durch vieles Reden, wodurch immer eine Art von Verlegenheit und Gärung entsteht.«

»Ich dächte vielmehr«, sagte Wilhelm, »daß gerade dieser Fall der ruhigsten und der reinsten Entscheidung fähig sei. Man hat mir so oft den Vorwurf des Zauderns und der Ungewißheit gemacht; warum will man jetzt, da ich entschlossen bin, geradezu einen Fehler, den man an mir tadelte, gegen mich selbst begehn? Gibt sich die Welt nur darum soviel Mühe, uns zu bilden, um uns fühlen zu lassen, daß sie sich nicht bilden mag? Ja, gönnen Sie mir recht bald das heitere Gefühl, ein Mißverhältnis loszuwerden, in das ich mit den reinsten Gesinnungen von der Welt geraten bin.«

Ungeachtet dieser Bitte vergingen einige Tage, in denen er nichts von dieser Sache hörte, noch auch eine weitere Veränderung an seinen Freunden bemerkte; die Unterhaltung war vielmehr bloß allgemein und gleichgültig.

Siebentes Kapitel

Einst saßen Natalie, Jarno und Wilhelm zusammen, und Natalie begann: »Sie sind nachdenklich, Jarno, ich kann es Ihnen schon einige Zeit abmerken.«

»Ich bin es«, versetzte der Freund, »und ich sehe ein wichtiges Geschäft vor mir, das bei uns schon lange vorbereitet ist und jetzt notwendig angegriffen werden muß. Sie wissen schon etwas im allgemeinen davon, und ich darf wohl vor unserm jungen Freunde davon reden, weil es auf ihn ankommen soll, ob er teil daran zu nehmen Lust hat. Sie werden mich nicht lange mehr sehen, denn ich bin im Begriff, nach Amerika überzuschiffen.«

»Nach Amerika?« versetzte Wilhelm lächelnd; »ein solches Abenteuer hätte ich nicht von Ihnen erwartet, noch weniger, daß Sie mich zum Gefährten ausersehen würden.«

»Wenn Sie unsern Plan ganz kennen«, versetzte Jarno, »so werden Sie ihm einen bessern Namen geben und vielleicht für ihn eingenommen werden. Hören Sie mich an! Man darf nur ein wenig mit den Welthändeln bekannt sein, um zu bemerken, daß uns große Veränderungen bevorstehn und daß die Besitztümer beinahe nirgends mehr recht sicher sind.«

»Ich habe keinen deutlichen Begriff von den Welthändeln«, fiel Wilhelm ein, »und habe mich erst vor kurzem um meine Besitztümer bekümmert. Vielleicht hätte ich wohlgetan, sie mir noch länger aus dem Sinne zu schlagen, da ich bemerken muß, daß die Sorge für ihre Erhaltung so hypochondrisch macht.«

»Hören Sie mich aus«, sagte Jarno; »die Sorge geziemt dem Alter, damit die Jugend eine Zeitlang sorglos sein könne. Das Gleichgewicht in den menschlichen Handlungen kann leider nur durch Gegensätze hergestellt werden. Es ist gegenwärtig nichts weniger als rätlich, nur an einem Ort zu besitzen, nur einem Platze sein Geld anzuvertrauen, und es ist wieder schwer, an vielen Orten Aufsicht darüber zu führen; wir haben uns deswegen etwas anders ausgedacht: aus unserm alten Turm soll eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Teile der Welt eintreten kann. Wir assekurieren uns untereinander unsere Existenz auf den einzigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder den andern von seinen Besitztümern völlig vertriebe. Ich gehe nun hinüber nach Amerika, um die guten Verhältnisse zu benutzen, die sich unser Freund bei seinem dortigen Aufenthalt gemacht hat. Der Abbé will nach Rußland gehn, und Sie sollen die Wahl haben, wenn Sie sich an uns anschließen wollen, ob Sie Lothario in Deutschland beistehn oder mit mir gehen wollen. Ich dächte, Sie wählten das letzte: denn eine große Reise zu tun ist für einen jungen Mann äußerst nützlich.«

Wilhelm nahm sich zusammen und antwortete: »Der Antrag ist aller Überlegung wert, denn mein Wahlspruch wird doch nächstens sein: ›Je weiter weg, je besser.‹ Sie werden mich, hoffe ich, mit Ihrem Plane näher bekannt machen. Es kann von meiner Unbekanntschaft mit der Welt herrühren, mir scheinen aber einer solchen Verbindung sich unüberwindliche Schwierigkeiten entgegenzusetzen.«

»Davon sich die meisten nur dadurch heben werden«, versetzte Jarno, »daß unser bis jetzt nur wenig sind, redliche, gescheite und entschlossene Leute, die einen gewissen allgemeinen Sinn haben, aus dem allein der gesellige Sinn entstehen kann.«

Friedrich, der bisher nur zugehört hatte, versetzte darauf: »Und wenn ihr mir ein gutes Wort gebt, gehe ich auch mit.«

Jarno schüttelte den Kopf.

»Nun, was habt ihr an mir auszusetzen?« fuhr Friedrich fort. »Bei einer neuen Kolonie werden auch junge Kolonisten erfordert, und die bring ich gleich mit; auch lustige Kolonisten, das versichre ich euch. Und dann wüßte ich noch ein gutes junges Mädchen, das hierhüben nicht mehr am Platz ist, die süße, reizende Lydie. Wo soll das arme Kind mit seinem Schmerz und Jammer hin, wenn sie ihn nicht gelegentlich in die Tiefe des Meeres werfen kann und wenn sich nicht ein braver Mann ihrer annimmt? Ich dächte, mein Jugendfreund, da Ihr doch im Gange seid, Verlassene zu trösten, Ihr entschlößt Euch, jeder nähme sein Mädchen unter den Arm, und wir folgten dem alten Herrn.«

Dieser Antrag verdroß Wilhelmen. Er antwortete mit verstellter Ruhe: »Weiß ich doch nicht einmal, ob sie frei ist, und da ich überhaupt im Werben nicht glücklich zu sein scheine, so möchte ich einen solchen Versuch nicht machen.«

Natalie sagte darauf: »Bruder Friedrich, du glaubst, weil du für dich so leichtsinnig handelst, auch für andere gelte deine Gesinnung. Unser Freund verdient ein weibliches Herz, das ihm ganz angehöre, das nicht an seiner Seite von fremden Erinnerungen bewegt werde; nur mit einem höchst vernünftigen und reinen Charakter wie Theresens war ein Wagestück dieser Art zu raten.«

»Was Wagestück!« rief Friedrich, »in der Liebe ist alles Wagestück. Unter der Laube oder vor dem Altar, mit Umarmungen oder goldenen Ringen, beim Gesange der Heimchen oder bei Trompeten und Pauken, es ist alles nur ein Wagestück, und der Zufall tut alles.«

»Ich habe immer gesehen«, versetzte Natalie, »daß unsere Grundsätze nur ein Supplement zu unsern Existenzen sind. Wir hängen unsern Fehlern gar zu gern das Gewand eines gültigen Gesetzes um. Gib nur acht, welchen Weg dich die Schöne noch führen wird, die dich auf eine so gewaltsame Weise angezogen hat und festhält.«

»Sie ist selbst auf einem sehr guten Wege«, versetzte Friedrich, »auf dem Wege zur Heiligkeit. Es ist freilich ein Umweg, aber desto lustiger und sichrer; Maria von Magdala ist ihn auch gegangen, und wer weiß, wieviel andere. Überhaupt, Schwester, wenn von Liebe die Rede ist, solltest du dich gar nicht dreinmischen. Ich glaube, du heiratest nicht eher, als bis irgendwo eine Braut fehlt, und du gibst dich alsdann nach deiner gewohnten Gutherzigkeit auch als Supplement irgendeiner Existenz hin. Also laß uns nur jetzt mit diesem Seelenverkäufer da unsern Handel schließen und über unsere Reisegesellschaft einig werden.«

»Sie kommen mit Ihren Vorschlägen zu spät«, sagte Jarno, »für Lydien ist gesorgt.«

»Und wie?« fragte Friedrich.

»Ich habe ihr selbst meine Hand angeboten«, versetzte Jarno.

»Alter Herr«, sagte Friedrich, »da macht Ihr einen Streich, zu dem man, wenn man ihn als ein Substantivum betrachtet, verschiedene Adjektiva, und folglich, wenn man ihn als Subjekt betrachtet, verschiedene Prädikate finden könnte.«

»Ich muß aufrichtig gestehen«, versetzte Natalie, »es ist ein gefährlicher Versuch, sich ein Mädchen zuzueignen in dem Augenblicke, da sie aus Liebe zu einem andern verzweifelt.«

»Ich habe es gewagt«, versetzte Jarno, »sie wird unter einer gewissen Bedingung mein. Und glauben Sie mir, es ist in der Welt nichts schätzbarer als ein Herz, das der Liebe und der Leidenschaft fähig ist. Ob es geliebt habe, ob es noch liebe, darauf kommt es nicht an. Die Liebe, mit der ein anderer geliebt wird, ist mir beinahe reizender als die, mit der ich geliebt werden könnte; ich sehe die Kraft, die Gewalt eines schönen Herzens, ohne daß die Eigenliebe mir den reinen Anblick trübt.«

»Haben Sie Lydien in diesen Tagen schon gesprochen?« versetzte Natalie.

Jarno nickte lächelnd; Natalie schüttelte den Kopf und sagte, indem sie aufstand: »Ich weiß bald nicht mehr, was ich aus euch machen soll, aber mich sollt ihr gewiß nicht irremachen.«

Sie wollte sich eben entfernen, als der Abbé mit einem Brief in der Hand hereintrat und zu ihr sagte: »Bleiben Sie! Ich habe hier einen Vorschlag, bei dem Ihr Rat willkommen sein wird. Der Marchese, der Freund Ihres verstorbenen Oheims, den wir seit einiger Zeit erwarten, muß in diesen Tagen hier sein. Er schreibt mir, daß ihm doch die deutsche Sprache nicht so geläufig sei, als er geglaubt, daß er eines Gesellschafters bedürfe, der sie vollkommen nebst einigem andern besitze; da er mehr wünsche, in wissenschaftliche als politische Verbindungen zu treten, so sei ihm ein solcher Dolmetscher unentbehrlich. Ich wüßte niemand geschickter dazu als unsern jungen Freund. Er kennt die Sprache, ist sonst in vielem unterrichtet, und es wird für ihn selbst ein großer Vorteil sein, in so guter Gesellschaft und unter so vorteilhaften Umständen Deutschland zu sehen. Wer sein Vaterland nicht kennt, hat keinen Maßstab für fremde Länder. Was sagen Sie, meine Freunde? Was sagen Sie, Natalie?«

Niemand wußte gegen den Antrag etwas einzuwenden; Jarno schien seinen Vorschlag, nach Amerika zu reisen, selbst als kein Hindernis anzusehn, indem er ohnehin nicht sogleich aufbrechen würde; Natalie schwieg, und Friedrich führte verschiedene Sprüchwörter über den Nutzen des Reisens an.

Wilhelm war über diesen neuen Vorschlag im Herzen so entrüstet, daß er es kaum verbergen konnte. Er sah eine Verabredung, ihn baldmöglichst loszuwerden, nur gar zu deutlich, und was das Schlimmste war, man ließ sie so offenbar, so ganz ohne Schonung sehen. Auch der Verdacht, den Lydie bei ihm erregt, alles, was er selbst erfahren hatte, wurde wieder aufs neue vor seiner Seele lebendig, und die natürliche Art, wie Jarno ihm alles ausgelegt hatte, schien ihm auch nur eine künstliche Darstellung zu sein.

Er nahm sich zusammen und antwortete: »Dieser Antrag verdient allerdings eine reifliche Überlegung.«

»Eine geschwinde Entschließung möchte nötig sein«, versetzte der Abbé.

»Dazu bin ich jetzt nicht gefaßt«, antwortete Wilhelm. »Wir können die Ankunft des Mannes abwarten und dann sehen, ob wir zusammen passen. Eine Hauptbedingung aber muß man zum voraus eingehen: daß ich meinen Felix mitnehmen und ihn überall mit hinführen darf.«

»Diese Bedingung wird schwerlich zugestanden werden«, versetzte der Abbé.

»Und ich sehe nicht«, rief Wilhelm aus, »warum ich mir von irgendeinem Menschen sollte Bedingungen vorschreiben lassen und warum ich, wenn ich einmal mein Vaterland sehen will, einen Italiener zur Gesellschaft brauche.«

»Weil ein junger Mensch«, versetzte der Abbé mit einem gewissen imponierenden Ernste, »immer Ursache hat, sich anzuschließen.«

Wilhelm, der wohl merkte, daß er länger an sich zu halten nicht imstande sei, da sein Zustand nur durch die Gegenwart Nataliens noch einigermaßen gelindert ward, ließ sich hierauf mit einiger Hast vernehmen: »Man vergönne mir nur noch kurze Bedenkzeit, und ich vermute, es wird sich geschwind entscheiden, ob ich Ursache habe, mich weiter anzuschließen, oder ob nicht vielmehr Herz und Klugheit mir unwiderstehlich gebieten, mich von so mancherlei Banden loszureißen, die mir eine ewige, elende Gefangenschaft drohen.«

So sprach er mit einem lebhaft bewegten Gemüt. Ein Blick auf Natalien beruhigte ihn einigermaßen, indem sich in diesem leidenschaftlichen Augenblick ihre Gestalt und ihr Wert nur desto tiefer bei ihm eindrückten.

»Ja«, sagte er zu sich selbst, indem er sich allein fand, »gestehe dir nur, du liebst sie, und du fühlst wieder, was es heiße, wenn der Mensch mit allen Kräften lieben kann. So liebte ich Marianen und ward so schrecklich an ihr irre; ich liebte Philinen und mußte sie verachten. Aurelien achtete ich und konnte sie nicht lieben; ich verehrte Theresen, und die väterliche Liebe nahm die Gestalt einer Neigung zu ihr an; und jetzt, da in deinem Herzen alle Empfindungen zusammentreffen, die den Menschen glücklich machen sollten, jetzt bist du genötigt zu fliehen! Ach! warum muß sich zu diesen Empfindungen, zu diesen Erkenntnissen das unüberwindliche Verlangen des Besitzes gesellen? und warum richten ohne Besitz eben diese Empfindungen, diese Überzeugungen jede andere Art von Glückseligkeit völlig zugrunde? Werde ich künftig der Sonne und der Welt, der Gesellschaft oder irgendeines Glücksgutes genießen? wirst du nicht immer zu dir sagen: ›Natalie ist nicht da!‹, und doch wird leider Natalie dir immer gegenwärtig sein. Schließest du die Augen, so wird sie sich dir darstellen; öffnest du sie, so wird sie vor allen Gegenständen hinschweben wie die Erscheinung, die ein blendendes Bild im Auge zurückläßt. War nicht schon früher die schnell vorübergegangene Gestalt der Amazone deiner Einbildungskraft immer gegenwärtig? Und du hattest sie nur gesehen, du kanntest sie nicht. Nun, da du sie kennst, da du ihr so nahe warst, da sie so vielen Anteil an dir gezeigt hat, nun sind ihre Eigenschaften so tief in dein Gemüt geprägt als ihr Bild jemals in deine Sinne. Ängstlich ist es, immer zu suchen, aber viel ängstlicher, gefunden zu haben und verlassen zu müssen. Wornach soll ich in der Welt nun weiter fragen? wornach soll ich mich weiter umsehen? Welche Gegend, welche Stadt verwahrt einen Schatz, der diesem gleich ist? Und ich soll reisen, um nur immer das Geringere zu finden? Ist denn das Leben bloß, wie eine Rennbahn, wo man sogleich schnell wieder umkehren muß, wenn man das äußerste Ende erreicht hat? Und steht das Gute, das Vortreffliche nur wie ein festes, unverrücktes Ziel da, von dem man sich ebenso schnell mit raschen Pferden wieder entfernen muß, als man es erreicht zu haben glaubt? anstatt daß jeder andere, der nach irdischen Waren strebt, sie in den verschiedenen Himmelsgegenden oder wohl gar auf der Messe und dem Jahrmarkt anschaffen kann.«

»Komm, lieber Knabe!« rief er seinem Sohn entgegen, der eben dahergesprungen kam, »sei und bleibe du mir alles! Du warst mir zum Ersatz deiner geliebten Mutter gegeben, du solltest mir die zweite Mutter ersetzen, die ich dir bestimmt hatte, und nun hast du noch die größere Lücke auszufüllen. Beschäftige mein Herz, beschäftige meinen Geist mit deiner Schönheit, deiner Liebenswürdigkeit, deiner Wißbegierde und deinen Fähigkeiten!«

Der Knabe war mit einem neuen Spielwerke beschäftigt, der Vater suchte es ihm besser, ordentlicher, zweckmäßiger einzurichten; aber in dem Augenblicke verlor auch das Kind die Lust daran. »Du bist ein wahrer Mensch!« rief Wilhelm aus, »komm, mein Sohn! komm, mein Bruder, laß uns in der Welt zwecklos hinspielen, so gut wir können!«

Sein Entschluß, sich zu entfernen, das Kind mit sich zu nehmen und sich an den Gegenständen der Welt zu zerstreuen, war nun sein fester Vorsatz. Er schrieb an Wernern, ersuchte ihn um Geld und Kreditbriefe und schickte Friedrichs Kurier mit dem geschärften Auftrage weg, bald wiederzukommen. Sosehr er gegen die übrigen Freunde auch verstimmt war, so rein blieb sein Verhältnis zu Natalien. Er vertraute ihr seine Absicht; auch sie nahm für bekannt an, daß er gehen könne und müsse, und wenn ihn auch gleich diese scheinbare Gleichgültigkeit an ihr schmerzte, so beruhigte ihn doch ihre gute Art und ihre Gegenwart vollkommen. Sie riet ihm, verschiedene Städte zu besuchen, um dort einige ihrer Freunde und Freundinnen kennenzulernen. Der Kurier kam zurück, brachte, was Wilhelm verlangt hatte, obgleich Werner mit diesem neuen Ausflug nicht zufrieden zu sein schien. »Meine Hoffnung, daß du vernünftig werden würdest«, schrieb dieser, »ist nun wieder eine gute Weile hinausgeschoben. Wo schweift ihr nun alle zusammen herum? und wo bleibt denn das Frauenzimmer, zu dessen wirtschaftlichem Beistande du mir Hoffnung machtest? Auch die übrigen Freunde sind nicht gegenwärtig; dem Gerichtshalter und mir ist das ganze Geschäft aufgewälzt. Ein Glück, daß er eben ein so guter Rechtsmann ist, als ich ein Finanzmann bin, und daß wir beide etwas zu schleppen gewohnt sind. Lebe wohl! Deine Ausschweifungen sollen dir verziehen sein, da doch ohne sie unser Verhältnis in dieser Gegend nicht hätte so gut werden können.«

Was das Äußere betraf, hätte er nun immer abreisen können, allein sein Gemüt war noch durch zwei Hindernisse gebunden. Man wollte ihm ein für allemal Mignons Körper nicht zeigen als bei den Exequien, welche der Abbé zu halten gedachte, zu welcher Feierlichkeit noch nicht alles bereit war. Auch war der Arzt durch einen sonderbaren Brief des Landgeistlichen abgerufen worden. Es betraf den Harfenspieler, von dessen Schicksalen Wilhelm näher unterrichtet sein wollte.

In diesem Zustande fand er weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe der Seele oder des Körpers. Wenn alles schlief, ging er in dem Hause hin und her. Die Gegenwart der alten, bekannten Kunstwerke zog ihn an und stieß ihn ab. Er konnte nichts, was ihn umgab, weder ergreifen noch lassen, alles erinnerte ihn an alles, er übersah den ganzen Ring seines Lebens, nur lag er leider zerbrochen vor ihm und schien sich auf ewig nicht schließen zu wollen. Diese Kunstwerke, die sein Vater verkauft hatte, schienen ihm ein Symbol, daß auch er von einem ruhigen und gründlichen Besitz des Wünschenswerten in der Welt teils ausgeschlossen, teils desselben durch eigne oder fremde Schuld beraubt werden sollte. Er verlor sich so weit in diesen sonderbaren und traurigen Betrachtungen, daß er sich selbst manchmal wie ein Geist vorkam und, selbst wenn er die Dinge außer sich befühlte und betastete, sich kaum des Zweifels erwehren konnte, ob er denn auch wirklich lebe und da sei.

Nur der lebhafte Schmerz, der ihn manchmal ergriff, daß er alles das Gefundene und Wiedergefundene so freventlich und doch so notwendig verlassen müsse, nur seine Tränen gaben ihm das Gefühl seines Daseins wieder. Vergebens rief er sich den glücklichen Zustand, in dem er sich doch eigentlich befand, vors Gedächtnis. »So ist denn alles nichts«, rief er aus, »wenn das eine fehlt, das dem Menschen alles übrige wert ist!«

Der Abbé verkündigte der Gesellschaft die Ankunft des Marchese. »Sie sind zwar, wie es scheint«, sagte er zu Wilhelmen, »mit Ihrem Knaben allein abzureisen entschlossen; lernen Sie jedoch wenigstens diesen Mann kennen, der Ihnen, wo Sie ihn auch unterwegs antreffen, auf alle Fälle nützlich sein kann.« Der Marchese erschien; es war ein Mann noch nicht hoch in Jahren, eine von den wohlgestalteten, gefälligen lombardischen Figuren. Er hatte als Jüngling mit dem Oheim der schon um vieles älter war, bei der Armee, dann in Geschäften Bekanntschaft gemacht; sie hatten nachher einen großen Teil von Italien zusammen durchreist, und die Kunstwerke, die der Marchese hier wiederfand, waren zum großen Teil in seiner Gegenwart und unter manchen glücklichen Umständen, deren er sich noch wohl erinnerte, gekauft und angeschafft worden.

Der Italiener hat überhaupt ein tieferes Gefühl für die hohe Würde der Kunst als andere Nationen; jeder, der nur irgend etwas treibt, will Künstler, Meister und Professor heißen und bekennt wenigstens durch diese Titelsucht, daß es nicht genug sei, nur etwas durch Überlieferung zu erhaschen oder durch Übung irgendeine Gewandtheit zu erlangen; er gesteht, daß jeder vielmehr über das, was er tut, auch fähig sein solle zu denken, Grundsätze aufzustellen und die Ursachen, warum dieses oder jenes zu tun sei, sich selbst und andern deutlich zu machen.

Der Fremde ward gerührt, so schöne Besitztümer ohne den Besitzer wiederzufinden, und erfreut, den Geist seines Freundes aus den vortrefflichen Hinterlassenen sprechen zu hören. Sie gingen die verschiedenen Werke durch und fanden eine große Behaglichkeit, sich einander verständlich machen zu können. Der Marchese und der Abbé führten das Wort; Natalie, die sich wieder in die Gegenwart ihres Oheims versetzt fühlte, wußte sich sehr gut in ihre Meinungen und Gesinnungen zu finden; Wilhelm mußte sich’s in theatralische Terminologie übersetzen, wenn er etwas davon verstehen wollte. Man hatte Not, Friedrichs Scherze in Schranken zu halten. Jarno war selten zugegen.

Bei der Betrachtung, daß vortreffliche Kunstwerke in der neuern Zeit so selten seien, sagte der Marchese: »Es läßt sich nicht leicht denken und übersehen, was die Umstände für den Künstler tun müssen, und dann sind bei dem größten Genie, bei dem entschiedensten Talente noch immer die Forderungen unendlich, die er an sich selbst zu machen hat, unsäglich der Fleiß, der zu seiner Ausbildung nötig ist. Wenn nun die Umstände wenig für ihn tun, wenn er bemerkt, daß die Welt sehr leicht zu befriedigen ist und selbst nur einen leichten, gefälligen, behaglichen Schein begehrt, so wäre es zu verwundern, wenn nicht Bequemlichkeit und Eigenliebe ihn bei dem Mittelmäßigen festhielten; es wäre seltsam, wenn er nicht lieber für Modewaren Geld und Lob eintauschen als den rechten Weg wählen sollte, der ihn mehr oder weniger zu einem kümmerlichen Märtyrertum führt. Deswegen bieten die Künstler unserer Zeit nur immer an, um niemals zu geben. Sie wollen immer reizen, um niemals zu befriedigen; alles ist nur angedeutet, und man findet nirgends Grund noch Ausführung. Man darf aber auch nur eine Zeitlang ruhig in einer Galerie verweilen und beobachten, nach welchen Kunstwerken sich die Menge zieht, welche gepriesen und welche vernachlässigt werden, so hat man wenig Lust an der Gegenwart und für die Zukunft wenig Hoffnung.«

»Ja«, versetzte der Abbé, »und so bilden sich Liebhaber und Künstler wechselsweise; der Liebhaber sucht nur einen allgemeinen, unbestimmten Genuß; das Kunstwerk soll ihm ungefähr wie ein Naturwerk behagen, und die Menschen glauben, die Organe, ein Kunstwerk zu genießen, bildeten sich ebenso von selbst aus wie die Zunge und der Gaum, man urteile über ein Kunstwerk wie über eine Speise. Sie begreifen nicht, was für einer andern Kultur es bedarf, um sich zum wahren Kunstgenusse zu erheben. Das Schwerste finde ich die Art von Absonderung, die der Mensch in sich selbst bewirken muß, wenn er sich überhaupt bilden will; deswegen finden wir so viel einseitige Kulturen, wovon doch jede sich anmaßt, über das Ganze abzusprechen.«

»Was Sie da sagen, ist mir nicht ganz deutlich«, sagte Jarno, der eben hinzutrat.

»Auch ist es schwer«, versetzte der Abbé, »sich in der Kürze bestimmt hierüber zu erklären. Ich sage nur soviel: sobald der Mensch an mannigfaltige Tätigkeit oder mannigfaltigen Genuß Anspruch macht, so muß er auch fähig sein, mannigfaltige Organe an sich gleichsam unabhängig voneinander auszubilden. Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit tun oder genießen will, wer alles außer sich zu einer solchen Art von Genuß verknüpfen will, der wird seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedigten Streben hinbringen. Wie schwer ist es, was so natürlich scheint, eine gute Statue, ein treffliches Gemälde an und für sich zu beschauen, den Gesang um des Gesangs willen zu vernehmen, den Schauspieler im Schauspieler zu bewundern, sich eines Gebäudes um seiner eigenen Harmonie und seiner Dauer willen zu erfreuen. Nun sieht man aber meist die Menschen entschiedene Werke der Kunst geradezu behandeln, als wenn es ein weicher Ton wäre. Nach ihren Neigungen, Meinungen und Grillen soll sich der gebildete Marmor sogleich wieder ummodeln, das festgemauerte Gebäude sich ausdehnen oder zusammenziehen, ein Gemälde soll lehren, ein Schauspiel bessern, und alles soll alles werden. Eigentlich aber, weil die meisten Menschen selbst formlos sind, weil sie sich und ihrem Wesen selbst keine Gestalt geben können, so arbeiten sie, den Gegenständen ihre Gestalt zu nehmen, damit ja alles loser und lockrer Stoff werde, wozu sie auch gehören. Alles reduzieren sie zuletzt auf den sogenannten Effekt, alles ist relativ, und so wird auch alles relativ, außer dem Unsinn und der Abgeschmacktheit, die denn auch ganz absolut regiert.«

»Ich verstehe Sie«, versetzte Jarno, »oder vielmehr ich sehe wohl ein, wie das, was Sie sagen, mit den Grundsätzen zusammenhängt, an denen Sie so festhalten; ich kann es aber mit den armen Teufeln von Menschen unmöglich so genau nehmen. Ich kenne freilich ihrer genug, die sich bei den größten Werken der Kunst und der Natur sogleich ihres armseligsten Bedürfnisses erinnern, ihr Gewissen und ihre Moral mit in die Oper nehmen, ihre Liebe und Haß vor einem Säulengange nicht ablegen und das Beste und Größte, was ihnen von außen gebracht werden kann, in ihrer Vorstellungsart erst möglichst verkleinern müssen, um es mit ihrem kümmerlichen Wesen nur einigermaßen verbinden zu können.«

Achtes Kapitel

Am Abend lud der Abbé zu den Exequien Mignons ein. Die Gesellschaft begab sich in den Saal der Vergangenheit und fand denselben auf das sonderbarste erhellt und ausgeschmückt. Mit himmelblauen Teppichen waren die Wände fast von oben bis unten bekleidet, so daß nur Sockel und Fries hervorschienen. Auf den vier Kandelabern in den Ecken brannten große Wachsfackeln, und so nach Verhältnis auf den vier kleinern, die den mittlern Sarkophag umgaben. Neben diesem standen vier Knaben, himmelblau mit Silber gekleidet, und schienen einer Figur, die auf dem Sarkophag ruhte, mit breiten Fächern von Straußenfedern Luft zuzuwehn. Die Gesellschaft setzte sich, und zwei unsichtbare Chöre fingen mit holdem Gesang an zu fragen: »Wen bringt ihr uns zur stillen Gesellschaft?« Die vier Kinder antworteten mit lieblicher Stimme. »Einen müden Gespielen bringen wir euch; laßt ihn unter euch ruhen, bis das Jauchzen himmlischer Geschwister ihn dereinst wieder aufweckt.« Chor

Erstling der Jugend in unserm Kreise, sei willkommen! mit Trauer willkommen! Dir folge kein Knabe, kein Mädchen nach! Nur das Alter nahe sich willig und gelassen der stillen Halle, und in ernster Gesellschaft ruhe das liebe, liebe Kind! Knaben

Ach! wie ungern brachten wir ihn her! Ach! und er soll hier bleiben! Laßt uns auch bleiben, laßt uns weinen, weinen an seinem Sarge! Chor

Seht die mächtigen Flügel doch an! seht das leichte, reine Gewand! wie blinkt die goldene Binde vom Haupt! seht die schöne, die würdige Ruh! Knaben

Ach! die Flügel heben sie nicht; im leichten Spiele flattert das Gewand nicht mehr; als wir mit Rosen kränzten ihr Haupt, blickte sie hold und freundlich nach uns. Chor

Schaut mit den Augen des Geistes hinan! In euch lebe die bildende Kraft, die das Schönste, das Höchste hinauf, über die Sterne das Leben trägt! Knaben

Aber ach! wir vermissen sie hier, in den Gärten wandelt sie nicht, sammelt der Wiese Blumen nicht mehr. Laßt uns weinen, wir lassen sie hier! laßt uns weinen und bei ihr bleiben! Chor

Kinder! kehret ins Leben zurück! Eure Tränen trockne die frische Luft, die um das schlängelnde Wasser spielt. Entflieht der Nacht! Tag und Lust und Dauer ist das Los der Lebendigen. Knaben

Auf, wir kehren ins Leben zurück. Gebe der Tag uns Arbeit und Lust, bis der Abend uns Ruhe bringt und der nächtliche Schlaf uns erquickt. Chor

Kinder! eilet ins Leben hinan! In der Schönheit reinem Gewande begegn‘ euch die Liebe mit himmlischem Blick und dem Kranz der Unsterblichkeit!

Die Knaben waren schon fern, der Abbé stand von seinem Sessel auf und trat hinter den Sarg. »Es ist die Verordnung«, sagte er, »des Mannes, der diese stille Wohnung bereitet hat, daß jeder neue Ankömmling mit Feierlichkeit empfangen werden soll. Nach ihm, dem Erbauer dieses Hauses, dem Errichter dieser Stätte, haben wir zuerst einen jungen Fremdling hierhergebracht, und so faßt schon dieser kleine Raum zwei ganz verschiedene Opfer der strengen, willkürlichen und unerbittlichen Todesgöttin. Nach bestimmten Gesetzen treten wir ins Leben ein, die Tage sind gezählt, die uns zum Anblicke des Lichts reif machen, aber für die Lebensdauer ist kein Gesetz. Der schwächste Lebensfaden zieht sich in unerwartete Länge, und den stärksten zerschneidet gewaltsam die Schere einer Parze, die sich in Widersprüchen zu gefallen scheint. Von dem Kinde, das wir hier bestatten, wissen wir wenig zu sagen. Noch ist uns unbekannt, woher es kam; seine Eltern kennen wir nicht, und die Zahl seiner Lebensjahre vermuten wir nur. Sein tiefes, verschlossenes Herz ließ uns seine innersten Angelegenheiten kaum erraten; nichts war deutlich an ihm, nichts offenbar als die Liebe zu dem Manne, der es aus den Händen eines Barbaren rettete. Diese zärtliche Neigung, diese lebhafte Dankbarkeit schien die Flamme zu sein, die das Öl ihres Lebens aufzehrte; die Geschicklichkeit des Arztes konnte das schöne Leben nicht erhalten, die sorgfältigste Freundschaft vermochte nicht, es zu fristen. Aber wenn die Kunst den scheidenden Geist nicht zu fesseln vermochte, so hat sie alle ihre Mittel angewandt, den Körper zu erhalten und ihn der Vergänglichkeit zu entziehen. Eine balsamische Masse ist durch alle Adern gedrungen und färbt nun an der Stelle des Bluts die so früh verblichenen Wangen. Treten Sie näher, meine Freunde, und sehen Sie das Wunder der Kunst und Sorgfalt!«

Er hub den Schleier auf, und das Kind lag in seinen Engelkleidern wie schlafend in der angenehmsten Stellung. Alle traten herbei und bewunderten diesen Schein des Lebens. Nur Wilhelm blieb in seinem Sessel sitzen, er konnte sich nicht fassen; was er empfand, durfte er nicht denken, und jeder Gedanke schien seine Empfindung zerstören zu wollen.

Die Rede war um des Marchese willen französisch gesprochen worden. Dieser trat mit den andern herbei und betrachtete die Gestalt mit Aufmerksamkeit. Der Abbé fuhr fort: »Mit einem heiligen Vertrauen war auch dieses gute, gegen die Menschen so verschlossene Herz beständig zu seinem Gott gewendet. Die Demut, ja eine Neigung, sich äußerlich zu erniedrigen, schien ihm angeboren. Mit Eifer hing es an der katholischen Religion, in der es geboren und erzogen war. Oft äußerte sie den stillen Wunsch, auf geweihtem Boden zu ruhen, und wir haben, nach den Gebräuchen der Kirche, dieses marmorne Behältnis und die wenige Erde geweihet, die in ihrem Kopfkissen verborgen ist. Mit welcher Inbrunst küßte sie in ihren letzten Augenblicken das Bild des Gekreuzigten, das auf ihren zarten Armen mit vielen hundert Punkten sehr zierlich abgebildet steht!« Er streifte zugleich, indem er das sagte, ihren rechten Arm auf, und ein Kruzifix, von verschiedenen Buchstaben und Zeichen begleitet, sah man blaulich auf der weißen Haut.

Der Marchese betrachtete diese neue Erscheinung ganz in der Nähe. »O Gott!« rief er aus, indem er sich aufrichtete und seine Hände gen Himmel hob, »armes Kind! Unglückliche Nichte! Finde ich dich hier wieder! Welche schmerzliche Freude, dich, auf die wir schon lange Verzicht getan hatten, diesen guten, lieben Körper, den wir lange im See einen Raub der Fische glaubten, hier wiederzufinden, zwar tot, aber erhalten! Ich wohne deiner Bestattung bei, die so herrlich durch ihr Äußeres und noch herrlicher durch die guten Menschen wird, die dich zu deiner Ruhestätte begleiten. Und wenn ich werde reden können«, sagte er mit gebrochner Stimme, »werde ich ihnen danken.«

Die Tränen verhinderten ihn, etwas weiter hervorzubringen. Durch den Druck einer Feder versenkte der Abbé den Körper in die Tiefe des Marmors. Vier Jünglinge, bekleidet wie jene Knaben, traten hinter den Teppichen hervor, hoben den schweren, schön verzierten Deckel auf den Sarg und fingen zugleich ihren Gesang an. Die Jünglinge

Wohl verwahrt ist nun der Schatz, das schöne Gebild der Vergangenheit! hier im Marmor ruht es unverzehrt; auch in euren Herzen lebt es, wirkt es fort. Schreitet, schreitet ins Leben zurück! Nehmet den heiligen Ernst mit hinaus, denn der Ernst, der heilige, macht allein das Leben zur Ewigkeit.

Das unsichtbare Chor fiel in die letzten Worte mit ein, aber niemand von der Gesellschaft vernahm die stärkenden Worte, jedes war zu sehr mit den wunderbaren Entdeckungen und seinen eignen Empfindungen beschäftigt. Der Abbé und Natalie führten den Marchese, Wilhelmen Therese und Lothario hinaus, und erst als der Gesang ihnen völlig verhallte, fielen die Schmerzen, die Betrachtungen, die Gedanken, die Neugierde sie mit aller Gewalt wieder an, und sehnlich wünschten sie sich in jenes Element wieder zurück.

Neuntes Kapitel

Der Marchese vermied, von der Sache zu reden, hatte aber heimliche und lange Gespräche mit dem Abbé. Er erbat sich, wenn die Gesellschaft beisammen war, öfters Musik; man sorgte gern dafür, weil jedermann zufrieden war, des Gesprächs überhoben zu sein. So lebte man einige Zeit fort, als man bemerkte, daß er Anstalt zur Abreise mache. Eines Tages sagte er zu Wilhelmen: »Ich verlange nicht, die Reste des guten Kindes zu beunruhigen; es bleibe an dem Orte zurück, wo es geliebt und gelitten hat, aber seine Freunde müssen mir versprechen, mich in seinem Vaterlande, an dem Platze zu besuchen, wo das arme Geschöpf geboren und erzogen wurde; sie müssen die Säulen und Statuen sehen, von denen ihm noch eine dunkle Idee übriggeblieben ist.

Ich will Sie in die Buchten führen, wo sie so gern die Steinchen zusammenlas. Sie werden sich, lieber junger Mann, der Dankbarkeit einer Familie nicht entziehen, die Ihnen so viel schuldig ist. Morgen reise ich weg. Ich habe dem Abbé die ganze Geschichte vertraut, er wird sie Ihnen wiedererzählen; er konnte mir verzeihen, wenn mein Schmerz mich unterbrach, und er wird als ein Dritter die Begebenheiten mit mehr Zusammenhang vortragen. Wollen Sie mir noch, wie der Abbé vorschlug, auf meiner Reise durch Deutschland folgen, so sind Sie willkommen. Lassen Sie Ihren Knaben nicht zurück; bei jeder kleinen Unbequemlichkeit, die er uns macht, wollen wir uns Ihrer Vorsorge für meine arme Nichte wieder erinnern.«

Noch selbigen Abend ward man durch die Ankunft der Gräfin überrascht. Wilhelm bebte an allen Gliedern, als sie hereintrat, und sie, obgleich vorbereitet, hielt sich an ihrer Schwester, die ihr bald einen Stuhl reichte. Wie sonderbar einfach war ihr Anzug und wie verändert ihre Gestalt! Wilhelm durfte kaum auf sie hinblicken; sie begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige allgemeine Worte konnten ihre Gesinnung und Empfindungen nicht verbergen. Der Marchese war beizeiten zu Bette gegangen, und die Gesellschaft hatte noch keine Lust, sich zu trennen; der Abbé brachte ein Manuskript hervor. »Ich habe«, sagte er, »sogleich die sonderbare Geschichte, wie sie mir anvertraut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man am wenigsten Tinte und Feder sparen soll, das ist beim Aufzeichnen einzelner Umstände merkwürdiger Begebenheiten.« Man unterrichtete die Gräfin, wovon die Rede sei, und der Abbé las:

»Meinen Vater«, sagte der Marchese, »muß ich, soviel Welt ich auch gesehen habe, immer für einen der wunderbarsten Menschen halten. Sein Charakter war edel und gerade, seine Ideen weit und man darf sagen groß; er war streng gegen sich selbst; in allen seinen Planen fand man eine unbestechliche Folge, an allen seinen Handlungen eine ununterbrochene Schrittmäßigkeit. So gut sich daher von einer Seite mit ihm umgehen und ein Geschäft verhandeln ließ, sowenig konnte er um ebendieser Eigenschaften willen sich in die Welt finden, da er vom Staate, von seinen Nachbaren, von Kindern und Gesinde die Beobachtung aller der Gesetze forderte, die er sich selbst auferlegt hatte. Seine mäßigsten Forderungen wurden übertrieben durch seine Strenge, und er konnte nie zum Genuß gelangen, weil nichts auf die Weise entstand, wie er sich’s gedacht hatte. Ich habe ihn in dem Augenblicke, da er einen Palast bauete, einen Garten anlegte, ein großes neues Gut in der schönsten Lage erwarb, innerlich mit dem ernstesten Ingrimm überzeugt gesehen, das Schicksal habe ihn verdammt, enthaltsam zu sein und zu dulden. In seinem Äußerlichen beobachtete er die größte Würde; wenn er scherzte, zeigte er nur die Überlegenheit seines Verstandes; es war ihm unerträglich, getadelt zu werden, und ich habe ihn nur einmal in meinem Leben ganz außer aller Fassung gesehen, da er hörte, daß man von einer seiner Anstalten wie von etwas Lächerlichem sprach. In ebendiesem Geiste hatte er über seine Kinder und sein Vermögen disponiert. Mein ältester Bruder ward als ein Mann erzogen, der künftig große Güter zu hoffen hatte; ich sollte den geistlichen Stand ergreifen und der Jüngste Soldat werden. Ich war lebhaft, feurig, tätig, schnell, zu allen körperlichen Übungen geschickt. Der Jüngste schien zu einer Art von schwärmerischer Ruhe geneigter, den Wissenschaften, der Musik und der Dichtkunst ergeben. Nur nach dem härtsten Kampf, nach der völligsten Überzeugung der Unmöglichkeit gab der Vater, wiewohl mit Widerwillen, nach, daß wir unsern Beruf umtauschen dürften, und ob er gleich jeden von uns beiden zufrieden sah, so konnte er sich doch nicht drein finden und versicherte, daß nichts Gutes daraus entstehen werde. Je älter er ward, desto abgeschnittener fühlte er sich von aller Gesellschaft. Er lebte zuletzt fast ganz allein. Nur ein alter Freund, der unter den Deutschen gedient, im Feldzuge seine Frau verloren und eine Tochter mitgebracht hatte, die ungefähr zehn Jahre alt war, blieb sein einziger Umgang. Dieser kaufte sich ein artiges Gut in der Nachbarschaft, sah meinen Vater zu bestimmten Tagen und Stunden der Woche, in denen er auch manchmal seine Tochter mitbrachte. Er widersprach meinem Vater niemals, der sich zuletzt völlig an ihn gewöhnte und ihn als den einzigen erträglichen Gesellschafter duldete. Nach dem Tode unseres Vaters merkten wir wohl, daß dieser Mann von unserm Alten trefflich ausgestattet worden war und seine Zeit nicht umsonst zugebracht hatte; er erweiterte seine Güter, seine Tochter konnte eine schöne Mitgift erwarten. Das Mädchen wuchs heran und war von sonderbarer Schönheit; mein älterer Bruder scherzte oft mit mir, daß ich mich um sie bewerben sollte.

Indessen hatte Bruder Augustin im Kloster seine Jahre in dem sonderbarsten Zustande zugebracht; er überließ sich ganz dem Genuß einer heiligen Schwärmerei, jenen halb geistigen, halb physischen Empfindungen, die, wie sie ihn eine Zeitlang in den dritten Himmel erhuben, bald darauf in einen Abgrund von Ohnmacht und leeres Elend versinken ließen. Bei meines Vaters Lebzeiten war an keine Veränderung zu denken, und was hätte man wünschen oder vorschlagen sollen? Nach dem Tode unsers Vaters besuchte er uns fleißig; sein Zustand, der uns im Anfang jammerte, ward nach und nach um vieles erträglicher, denn die Vernunft hatte gesiegt. Allein je sichrer sie ihm völlige Zufriedenheit und Heilung auf dem reinen Wege der Natur versprach, desto lebhafter verlangte er von uns, daß wir ihn von seinen Gelübden befreien sollten; er gab zu verstehen, daß seine Absicht auf Sperata, unsere Nachbarin, gerichtet sei.

Mein älterer Bruder hatte zuviel durch die Härte unseres Vaters gelitten, als daß er ungerührt bei dem Zustande des jüngsten hätte bleiben können. Wir sprachen mit dem Beichtvater unserer Familie, einem alten, würdigen Manne, entdeckten ihm die doppelte Absicht unseres Bruders und baten ihn, die Sache einzuleiten und zu befördern. Wider seine Gewohnheit zögerte er, und als endlich unser Bruder in uns drang und wir die Angelegenheit dem Geistlichen lebhafter empfahlen, mußte er sich entschließen, uns die sonderbare Geschichte zu entdecken.

Sperata war unsre Schwester, und zwar sowohl von Vater als Mutter; Neigung und Sinnlichkeit hatten den Mann in späteren Jahren nochmals überwältigt, in welchen das Recht der Ehegatten schon verloschen zu sein scheint; über einen ähnlichen Fall hatte man sich kurz vorher in der Gegend lustig gemacht, und mein Vater, um sich nicht gleichfalls dem Lächerlichen auszusetzen, beschloß, diese späte, gesetzmäßige Frucht der Liebe mit ebender Sorgfalt zu verheimlichen, als man sonst die frühern zufälligen Früchte der Neigung zu verbergen pflegt. Unsere Mutter kam heimlich nieder, das Kind wurde aufs Land gebracht, und der alte Hausfreund, der nebst dem Beichtvater allein um das Geheimnis wußte, ließ sich leicht bereden, sie für seine Tochter auszugeben. Der Beichtvater hatte sich nur ausbedungen, im äußersten Fall das Geheimnis entdecken zu dürfen. Der Vater war gestorben, das zarte Mädchen lebte unter der Aufsicht einer alten Frau; wir wußten, daß Gesang und Musik unsern Bruder schon bei ihr eingeführt hatten, und da er uns wiederholt aufforderte, seine alten Bande zu trennen, um das neue zu knüpfen, so war es nötig, ihn so bald als möglich von der Gefahr zu unterrichten, in der er schwebte.

Er sah uns mit wilden, verachtenden Blicken an. ›Spart eure unwahrscheinlichen Märchen‹, rief er aus, ›für Kinder und leichtgläubige Toren; mir werdet ihr Speraten nicht vom Herzen reißen, sie ist mein. Verleugnet sogleich euer schreckliches Gespenst, das mich nur vergebens ängstigen würde. Sperata ist nicht meine Schwester, sie ist mein Weib!‹ Er beschrieb uns mit Entzücken, wie ihn das himmlische Mädchen aus dem Zustande der unnatürlichen Absonderung von den Menschen in das wahre Leben geführt, wie beide Gemüter gleich beiden Kehlen zusammenstimmten und wie er alle seine Leiden und Verirrungen segnete, weil sie ihn von allen Frauen bis dahin entfernt gehalten und weil er nun ganz und gar sich dem liebenswürdigsten Mädchen ergeben könne. Wir entsetzten uns über die Entdeckung, uns jammerte sein Zustand, wir wußten uns nicht zu helfen, er versicherte uns mit Heftigkeit, daß Sperata ein Kind von ihm im Busen trage. Unser Beichtvater tat alles, was ihm seine Pflicht eingab, aber dadurch ward das Übel nur schlimmer. Die Verhältnisse der Natur und der Religion, der sittlichen Rechte und der bürgerlichen Gesetze wurden von meinem Bruder aufs heftigste durchgefochten. Nichts schien ihm heilig als das Verhältnis zu Sperata, nichts schien ihm würdig als der Name Vater und Gattin. ›Diese allein‹, rief er aus, ›sind der Natur gemäß, alles andere sind Grillen und Meinungen. Gab es nicht edle Völker, die eine Heirat mit der Schwester billigten? Nennt eure Götter nicht‹, rief er aus, ›ihr braucht die Namen nie, als wenn ihr uns betören, uns von dem Wege der Natur abführen und die edelsten Triebe durch schändlichen Zwang zu Verbrechen entstellen wollt. Zur größten Verwirrung des Geistes, zum schändlichsten Mißbrauche des Körpers nötigt ihr die Schlachtopfer, die ihr lebendig begrabt.

Ich darf reden, denn ich habe gelitten wie keiner, von der höchsten, süßesten Fülle der Schwärmerei bis zu den fürchterlichen Wüsten der Ohnmacht, der Leerheit, der Vernichtung und Verzweiflung, von den höchsten Ahnungen überirdischer Wesen bis zu dem völligsten Unglauben, dem Unglauben an mir selbst. Allen diesen entsetzlichen Bodensatz des am Rande schmeichelnden Kelchs habe ich ausgetrunken, und mein ganzes Wesen war bis in sein Innerstes vergiftet. Nun, da mich die gütige Natur durch ihre größten Gaben, durch die Liebe wieder geheilt hat, da ich an dem Busen eines himmlischen Mädchens wieder fühle, daß ich bin, daß sie ist, daß wir eins sind, daß aus dieser lebendigen Verbindung ein Drittes entstehen und uns entgegenlächeln soll, nun eröffnet ihr die Flammen eurer Höllen, eurer Fegefeuer, die nur eine kranke Einbildungskraft versengen können, und stellt sie dem lebhaften, wahren, unzerstörlichen Genuß der reinen Liebe entgegen! Begegnet uns unter jenen Zypressen, die ihre ernsthaften Gipfel gen Himmel wenden, besucht uns an jenen Spalieren, wo die Zitronen und Pomeranzen neben uns blühn, wo die zierliche Myrte uns ihre zarten Blumen darreicht, und dann wagt es, uns mit euren trüben, grauen, von Menschen gesponnenen Netzen zu ängstigen!‹

So bestand er lange Zeit auf einem hartnäckigen Unglauben unserer Erzählung, und zuletzt, da wir ihm die Wahrheit derselben beteuerten, da sie ihm der Beichtvater selbst versicherte, ließ er sich doch dadurch nicht irremachen, vielmehr rief er aus: ›Fragt nicht den Widerhall eurer Kreuzgänge, nicht euer vermodertes Pergament, nicht eure verschränkten Grillen und Verordnungen; fragt die Natur und euer Herz, sie wird euch lehren, vor was ihr zu schaudern habt, sie wird euch mit dem strengsten Finger zeigen, worüber sie ewig und unwiderruflich ihren Fluch ausspricht. Seht die Lilien an: entspringt nicht Gatte und Gattin auf einem Stengel? Verbindet beide nicht die Blume, die beide gebar, und ist die Lilie nicht das Bild der Unschuld und ihre geschwisterliche Vereinigung nicht fruchtbar? Wenn die Natur verabscheut, so spricht sie es laut aus; das Geschöpf, das nicht sein soll, kann nicht werden; das Geschöpf, das falsch lebt, wird früh zerstört. Unfruchtbarkeit, kümmerliches Dasein, frühzeitiges Zerfallen, das sind ihre Flüche, die Kennzeichen ihrer Strenge. Nur durch unmittelbare Folgen straft sie. Da seht um euch her, und was verboten, was verflucht ist, wird euch in die Augen fallen. In der Stille des Klosters und im Geräusche der Welt sind tausend Handlungen geheiligt und geehrt, auf denen ihr Fluch ruht. Auf bequemen Müßiggang so gut als überstrengte Arbeit, auf Willkür und Überfluß wie auf Not und Mangel sieht sie mit traurigen Augen nieder, zur Mäßigkeit ruft sie, wahr sind alle ihre Verhältnisse und ruhig alle ihre Wirkungen. Wer gelitten hat wie ich, hat das Recht, frei zu sein. Sperata ist mein; nur der Tod soll mir sie nehmen. Wie ich sie behalten kann? wie ich glücklich werden kann? das ist eure Sorge! Jetzt gleich geh ich zu ihr, um mich nicht wieder von ihr zu trennen.‹

Er wollte nach dem Schiffe, um zu ihr überzusetzen; wir hielten ihn ab und baten ihn, daß er keinen Schritt tun möchte, der die schrecklichsten Folgen haben könnte. Er solle überlegen, daß er nicht in der freien Welt seiner Gedanken und Vorstellungen, sondern in einer Verfassung lebe, deren Gesetze und Verhältnisse die Unbezwinglichkeit eines Naturgesetzes angenommen haben. Wir mußten dem Beichtvater versprechen, daß wir den Bruder nicht aus den Augen, noch weniger aus dem Schlosse lassen wollten; darauf ging er weg und versprach, in einigen Tagen wiederzukommen. Was wir vorausgesehen hatten, traf ein; der Verstand hatte unsern Bruder stark gemacht, aber sein Herz war weich; die frühern Eindrücke der Religion wurden lebhaft, und die entsetzlichsten Zweifel bemächtigten sich seiner. Er brachte zwei fürchterliche Tage und Nächte zu; der Beichtvater kam ihm wieder zu Hülfe, umsonst! Der ungebundene, freie Verstand sprach ihn los; sein Gefühl, seine Religion, alle gewohnten Begriffe erklärten ihn für einen Verbrecher.

Eines Morgens fanden wir sein Zimmer leer, ein Blatt lag auf dem Tische, worin er uns erklärte, daß er, da wir ihn mit Gewalt gefangenhielten, berechtigt sei, seine Freiheit zu suchen, er entfliehe, er gehe zu Sperata, er hoffe, mit ihr zu entkommen, er sei auf alles gefaßt, wenn man sie trennen wolle.

Wir erschraken nicht wenig, allein der Beichtvater bat uns, ruhig zu sein. Unser armer Bruder war nahe genug beobachtet worden; die Schiffer, anstatt ihn überzusetzen, führten ihn in sein Kloster. Ermüdet von einem vierzigstündigen Wachen, schlief er ein, sobald ihn der Kahn im Mondenscheine schaukelte, und erwachte nicht früher, als bis er sich in den Händen seiner geistlichen Brüder sah; er erholte sich nicht eher, als bis er die Klosterpforte hinter sich zuschlagen hörte.

Schmerzlich gerührt von dem Schicksal unseres Bruders, machten wir unserm Beichtvater die lebhaftesten Vorwürfe; allein dieser ehrwürdige Mann wußte uns bald mit den Gründen des Wundarztes zu überreden, daß unser Mitleid für den armen Kranken tödlich sei. Er handle nicht aus eigner Willkür, sondern auf Befehl des Bischofs und des hohen Rates. Die Absicht war: alles öffentliche Ärgernis zu vermeiden und den traurigen Fall mit dem Schleier einer geheimen Kirchenzucht zu verdecken. Sperata sollte geschont werden, sie sollte nicht erfahren, daß ihr Geliebter zugleich ihr Bruder sei. Sie ward einem Geistlichen anempfohlen, dem sie vorher schon ihren Zustand vertraut hatte. Man wußte ihre Schwangerschaft und Niederkunft zu verbergen. Sie war als Mutter in dem kleinen Geschöpfe ganz glücklich. So wie die meisten unserer Mädchen konnte sie weder schreiben noch Geschriebenes lesen; sie gab daher dem Pater Aufträge, was er ihrem Geliebten sagen sollte. Dieser glaubte den frommen Betrug einer säugenden Mutter schuldig zu sein, er brachte ihr Nachrichten von unserm Bruder, den er niemals sah, ermahnte sie in seinem Namen zur Ruhe, bat sie, für sich und das Kind zu sorgen und wegen der Zukunft Gott zu vertrauen.

 

Sperata war von Natur zur Religiosität geneigt. Ihr Zustand, ihre Einsamkeit vermehrten diesen Zug, der Geistliche unterhielt ihn, um sie nach und nach auf eine ewige Trennung vorzubereiten. Kaum war das Kind entwöhnt, kaum glaubte er ihren Körper stark genug, die ängstlichsten Seelenleiden zu ertragen, so fing er an, das Vergehen ihr mit schrecklichen Farben vorzumalen, das Vergehen, sich einem Geistlichen ergeben zu haben, das er als eine Art von Sünde gegen die Natur, als einen Inzest behandelte. Denn er hatte den sonderbaren Gedanken, ihre Reue jener Reue gleichzumachen, die sie empfunden haben würde, wenn sie das wahre Verhältnis ihres Fehltritts erfahren hätte. Er brachte dadurch so viel Jammer und Kummer in ihr Gemüt, er erhöhte die Idee der Kirche und ihres Oberhauptes so sehr vor ihr, er zeigte ihr die schrecklichen Folgen für das Heil aller Seelen, wenn man in solchen Fällen nachgeben und die Straffälligen durch eine rechtmäßige Verbindung noch gar belohnen wolle; er zeigte ihr, wie heilsam es sei, einen solchen Fehler in der Zeit abzubüßen und dafür dereinst die Krone der Herrlichkeit zu erwerben, daß sie endlich wie eine arme Sünderin ihren Nacken dem Beil willig darreichte und inständig bat, daß man sie auf ewig von unserm Bruder entfernen möchte. Als man so viel von ihr erlangt hatte, ließ man ihr, doch unter einer gewissen Aufsicht, die Freiheit, bald in ihrer Wohnung, bald in dem Kloster zu sein, je nachdem sie es für gut hielte.

Ihr Kind wuchs heran und zeigte bald eine sonderbare Natur. Es konnte sehr früh laufen und sich mit aller Geschicklichkeit bewegen, es sang bald sehr artig und lernte die Zither gleichsam von sich selbst. Nur mit Worten konnte es sich nicht ausdrücken, und es schien das Hindernis mehr in seiner Denkungsart als in den Sprachwerkzeugen zu liegen. Die arme Mutter fühlte indessen ein trauriges Verhältnis zu dem Kinde; die Behandlung des Geistlichen hatte ihre Vorstellungsart so verwirrt, daß sie, ohne wahnsinnig zu sein, sich in den seltsamsten Zuständen befand. Ihr Vergehen schien ihr immer schrecklicher und straffälliger zu werden; das oft wiederholte Gleichnis des Geistlichen vom Inzest hatte sich so tief bei ihr eingeprägt, daß sie einen solchen Abscheu empfand, als wenn ihr das Verhältnis selbst bekannt gewesen wäre. Der Beichtvater dünkte sich nicht wenig über das Kunststück, wodurch er das Herz eines unglücklichen Geschöpfes zerriß. Jämmerlich war es anzusehen, wie die Mutterliebe, die über das Dasein des Kindes sich so herzlich zu erfreuen geneigt war, mit dem schrecklichen Gedanken stritt, daß dieses Kind nicht dasein sollte. Bald stritten diese beiden Gefühle zusammen, bald war der Abscheu über die Liebe gewaltig.

Man hatte das Kind schon lange von ihr weggenommen und zu guten Leuten unten am See gegeben, und in der mehrern Freiheit, die es hatte, zeigte sich bald seine besondre Lust zum Klettern. Die höchsten Gipfel zu ersteigen, auf den Rändern der Schiffe wegzulaufen und den Seiltänzern, die sich manchmal in dem Orte sehen ließen, die wunderlichsten Kunststücke nachzumachen war ein natürlicher Trieb.

Um das alles leichter zu üben, liebte sie, mit den Knaben die Kleider zu wechseln, und ob es gleich von ihren Pflegeltern höchst unanständig und unzulässig gehalten wurde, so ließen wir ihr doch soviel als möglich nachsehen. Ihre wunderlichen Wege und Sprünge führten sie manchmal weit, sie verirrte sich, sie blieb aus und kam immer wieder. Meistenteils, wenn sie zurückkehrte, setzte sie sich unter die Säulen des Portals vor einem Landhause in der Nachbarschaft; man suchte sie nicht mehr, man erwartete sie. Dort schien sie auf den Stufen auszuruhen, dann lief sie in den großen Saal, besah die Statuen, und wenn man sie nicht besonders aufhielt, eilte sie nach Hause.

Zuletzt ward denn doch unser Hoffen getäuscht und unsere Nachsicht bestraft. Das Kind blieb aus, man fand seinen Hut auf dem Wasser schwimmen, nicht weit von dem Orte, wo ein Gießbach sich in den See stürzt. Man vermutete, daß es bei seinem Klettern zwischen den Felsen verunglückt sei; bei allem Nachforschen konnte man den Körper nicht finden.

Durch das unvorsichtige Geschwätz ihrer Gesellschafterinnen erfuhr Sperata bald den Tod ihres Kindes; sie schien ruhig und heiter und gab nicht undeutlich zu verstehen, sie freue sich, daß Gott das arme Geschöpf zu sich genommen und so bewahrt habe, ein größeres Unglück zu erdulden oder zu stiften.

Bei dieser Gelegenheit kamen alle Märchen zur Sprache, die man von unsern Wassern zu erzählen pflegt. Es hieß: der See müsse alle Jahre ein unschuldiges Kind haben; er leide keinen toten Körper und werfe ihn früh oder spät ans Ufer, ja sogar das letzte Knöchelchen, wenn es zu Grunde gesunken sei, müsse wieder heraus. Man erzählte die Geschichte einer untröstlichen Mutter, deren Kind im See ertrunken sei und die Gott und seine Heiligen angerufen habe, ihr nur wenigstens die Gebeine zum Begräbnis zu gönnen; der nächste Sturm habe den Schädel, der folgende den Rumpf ans Ufer gebracht, und nachdem alles beisammen gewesen, habe sie sämtliche Gebeine in einem Tuch zur Kirche getragen, aber, o Wunder! als sie in den Tempel getreten, sei das Paket immer schwerer geworden, und endlich, als sie es auf die Stufen des Altars gelegt, habe das Kind zu schreien angefangen und sich zu jedermanns Erstaunen aus dem Tuche losgemacht; nur ein Knöchelchen des kleinen Fingers an der rechten Hand habe gefehlt, welches denn die Mutter nachher noch sorgfältig aufgesucht und gefunden, das denn auch noch zum Gedächtnis unter andern Reliquien in der Kirche aufgehoben werde.

Auf die arme Mutter machten diese Geschichten großen Eindruck; ihre Einbildungskraft fühlte einen neuen Schwung und begünstigte die Empfindung ihres Herzens. Sie nahm an, daß das Kind nunmehr für sich und seine Eltern abgebüßt habe, daß Fluch und Strafe, die bisher auf ihnen geruht, nunmehr gänzlich gehoben sei; daß es nur darauf ankomme, die Gebeine des Kindes wiederzufinden, um sie nach Rom zu bringen, so würde das Kind auf den Stufen des großen Altars der Peterskirche wieder, mit seiner schönen, frischen Haut umgeben, vor dem Volke dastehn. Es werde mit seinen eignen Augen wieder Vater und Mutter schauen, und der Papst, von der Einstimmung Gottes und seiner Heiligen überzeugt, werde unter dem lauten Zuruf des Volks den Eltern die Sünde vergeben, sie lossprechen und sie verbinden.

Nun waren ihre Augen und ihre Sorgfalt immer nach dem See und dem Ufer gerichtet. Wenn nachts im Mondglanz sich die Wellen umschlugen, glaubte sie, jeder blinkende Saum treibe ihr Kind hervor; es mußte zum Scheine jemand hinablaufen, um es am Ufer aufzufangen.

So war sie auch des Tages unermüdet an den Stellen, wo das kiesige Ufer flach in die See ging; sie sammelte in ein Körbchen alle Knochen, die sie fand. Niemand durfte ihr sagen, daß es Tierknochen seien; die großen begrub sie, die kleinen hub sie auf. In dieser Beschäftigung lebte sie unablässig fort. Der Geistliche, der durch die unerläßliche Ausübung seiner Pflicht ihren Zustand verursacht hatte, nahm sich auch ihrer nun aus allen Kräften an. Durch seinen Einfluß ward sie in der Gegend für eine Entzückte, nicht für eine Verrückte gehalten; man stand mit gefalteten Händen, wenn sie vorbeiging, und die Kinder küßten ihr die Hand.

Ihrer alten Freundin und Begleiterin war von dem Beichtvater die Schuld, die sie bei der unglücklichen Verbindung beider Personen gehabt haben mochte, nur unter der Bedingung erlassen, daß sie unablässig treu ihr ganzes künftiges Leben die Unglückliche begleiten solle, und sie hat mit einer bewundernswürdigen Geduld und Gewissenhaftigkeit ihre Pflichten bis zuletzt ausgeübt.

Wir hatten unterdessen unsern Bruder nicht aus den Augen verloren; weder die Ärzte noch die Geistlichkeit seines Klosters wollten uns erlauben, vor ihm zu erscheinen; allein um uns zu überzeugen, daß es ihm nach seiner Art wohl gehe, konnten wir ihn, sooft wir wollten, in dem Garten, in den Kreuzgängen, ja durch ein Fenster an der Decke seines Zimmers belauschen.

Nach vielen schrecklichen und sonderbaren Epochen, die ich übergehe, war er in einen seltsamen Zustand der Ruhe des Geistes und der Unruhe des Körpers geraten. Er saß fast niemals, als wenn er seine Harfe nahm und darauf spielte, da er sie denn meistens mit Gesang begleitete. Übrigens war er immer in Bewegung und in allem äußerst lenksam und folgsam, denn alle seine Leidenschaften schienen sich in der einzigen Furcht des Todes aufgelöst zu haben. Man konnte ihn zu allem in der Welt bewegen, wenn man ihm mit einer gefährlichen Krankheit oder mit dem Tode drohte.

Außer dieser Sonderbarkeit, daß er unermüdet im Kloster hin und her ging und nicht undeutlich zu verstehen gab, daß es noch besser sein würde, über Berg und Täler so zu wandeln, sprach er auch von einer Erscheinung, die ihn gewöhnlich ängstigte. Er behauptete nämlich, daß bei seinem Erwachen zu jeder Stunde der Nacht ein schöner Knabe unten an seinem Bette stehe und ihm mit einem blanken Messer drohe. Man versetzte ihn in ein anderes Zimmer, allein er behauptete, auch da und zuletzt sogar an andern Stellen des Klosters stehe der Knabe im Hinterhalt. Sein Auf- und Abwandeln ward unruhiger, ja man erinnerte sich nachher, daß er in der Zeit öfter als sonst an dem Fenster gestanden und über den See hinübergesehen habe.

Unsere arme Schwester indessen schien von dem einzigen Gedanken, von der beschränkten Beschäftigung nach und nach aufgerieben zu werden, und unser Arzt schlug vor, man sollte ihr nach und nach unter ihre übrigen Gebeine die Knochen eines Kinderskeletts mischen, um dadurch ihre Hoffnung zu vermehren. Der Versuch war zweifelhaft, doch schien wenigstens so viel dabei gewonnen, daß man sie, wenn alle Teile beisammen wären, von dem ewigen Suchen abbringen und ihr zu einer Reise nach Rom Hoffnung machen könnte.

Es geschah, und ihre Begleiterin vertauschte unmerklich die ihr anvertrauten kleinen Reste mit den gefundenen, und eine unglaubliche Wonne verbreitete sich über die arme Kranke, als die Teile sich nach und nach zusammenfanden und man diejenigen bezeichnen konnte, die noch fehlten. Sie hatte mit großer Sorgfalt jeden Teil, wo er hingehörte, mit Fäden und Bändern befestigt; sie hatte, wie man die Körper der Heiligen zu ehren pflegt, mit Seide und Stickerei die Zwischenräume ausgefüllt.

So hatte man die Glieder zusammenkommen lassen, es fehlten nur wenige der äußeren Enden. Eines Morgens, als sie noch schlief und der Medikus gekommen war, nach ihrem Befinden zu fragen, nahm die Alte die verehrten Reste aus dem Kästchen weg, das in der Schlafkammer stand, um dem Arzte zu zeigen, wie sich die gute Kranke beschäftige. Kurz darauf hörte man sie aus dem Bette springen, sie hob das Tuch auf und fand das Kästchen leer. Sie warf sich auf ihre Knie; man kam und hörte ihr freudiges, inbrünstiges Gebet. ›Ja! es ist wahr!‹ rief sie aus, ›es war kein Traum, es ist wirklich! Freuet euch, meine Freunde, mit mir! Ich habe das gute, schöne Geschöpf wieder lebendig gesehen. Es stand auf und warf den Schleier von sich, sein Glanz erleuchtete das Zimmer, seine Schönheit war verklärt, es konnte den Boden nicht betreten, ob es gleich wollte. Leicht ward es emporgehoben und konnte mir nicht einmal seine Hand reichen. Da rief es mich zu sich und zeigte mir den Weg, den ich gehen soll. Ich werde ihm folgen, und bald folgen, ich fühl es, und es wird mir so leicht ums Herz. Mein Kummer ist verschwunden, und schon das Anschauen meines Wiederauferstandenen hat mir einen Vorschmack der himmlischen Freude gegeben.‹

Von der Zeit an war ihr ganzes Gemüt mit den heitersten Aussichten beschäftigt, auf keinen irdischen Gegenstand richtete sie ihre Aufmerksamkeit mehr, sie genoß nur wenige Speisen, und ihr Geist machte sich nach und nach von den Banden des Körpers los. Auch fand man sie zuletzt unvermutet erblaßt und ohne Empfindung, sie öffnete die Augen nicht wieder, sie war, was wir tot nennen.

Der Ruf ihrer Vision hatte sich bald unter das Volk verbreitet, und das ehrwürdige Ansehn, das sie in ihrem Leben genoß, verwandelte sich nach ihrem Tode schnell in den Gedanken, daß man sie sogleich für selig, ja für heilig halten müsse.

Als man sie zu Grabe bestatten wollte, drängten sich viele Menschen mit unglaublicher Heftigkeit hinzu, man wollte ihre Hand, man wollte wenigstens ihr Kleid berühren. In dieser leidenschaftlichen Erhöhung fühlten verschiedene Kranke die Übel nicht, von denen sie sonst gequält wurden, sie hielten sich für geheilt, sie bekannten’s, sie priesen Gott und seine neue Heilige. Die Geistlichkeit war genötigt, den Körper in eine Kapelle zu stellen, das Volk verlangte Gelegenheit, seine Andacht zu verrichten, der Zudrang war unglaublich; die Bergbewohner, die ohnedies zu lebhaften religiösen Gefühlen gestimmt sind, drangen aus ihren Tälern herbei; die Andacht, die Wunder, die Anbetung vermehrten sich mit jedem Tage. Die bischöflichen Verordnungen, die einen solchen neuen Dienst einschränken und nach und nach niederschlagen sollten, konnten nicht zur Ausführung gebracht werden; bei jedem Widerstand war das Volk heftig und gegen jeden Ungläubigen bereit, in Tätlichkeiten auszubrechen. ›Wandelte nicht auch‹, riefen sie, ›der heilige Borromäus unter unsern Vorfahren? Erlebte seine Mutter nicht die Wonne seiner Seligsprechung? Hat man nicht durch jenes große Bildnis auf dem Felsen bei Arona uns seine geistige Größe sinnlich vergegenwärtigen wollen? Leben die Seinigen nicht noch unter uns? Und hat Gott nicht zugesagt, unter einem gläubigen Volke seine Wunder stets zu erneuern?‹

Als der Körper nach einigen Tagen keine Zeichen der Fäulnis von sich gab und eher weißer und gleichsam durchsichtig ward, erhöhte sich das Zutrauen der Menschen immer mehr, und es zeigten sich unter der Menge verschiedene Kuren, die der aufmerksame Beobachter selbst nicht erklären und auch nicht geradezu als Betrug ansprechen konnte. Die ganze Gegend war in Bewegung, und wer nicht selbst kam, hörte wenigstens eine Zeitlang von nichts anderem reden.

Das Kloster, worin mein Bruder sich befand, erscholl so gut als die übrige Gegend von diesen Wundern, und man nahm sich um so weniger in acht, in seiner Gegenwart davon zu sprechen, als er sonst auf nichts aufzumerken pflegte und sein Verhältnis niemanden bekannt war. Diesmal schien er aber mit großer Genauigkeit gehört zu haben; er führte seine Flucht mit solcher Schlauheit aus, daß niemals jemand hat begreifen können, wie er aus dem Kloster herausgekommen sei. Man erfuhr nachher, daß er sich mit einer Anzahl Wallfahrer übersetzen lassen und daß er die Schiffer, die weiter nichts Verkehrtes an ihm wahrnahmen, nur um die größte Sorgfalt gebeten, daß das Schiff nicht umschlagen möchte. Tief in der Nacht kam er in jene Kapelle, wo seine unglückliche Geliebte von ihrem Leiden ausruhte; nur wenig Andächtige knieten in den Winkeln, ihre alte Freundin saß zu ihren Häupten, er trat hinzu und grüßte sie und fragte, wie sich ihre Gebieterin befände. ›Ihr seht es‹, versetzte diese nicht ohne Verlegenheit. Er blickte den Leichnam nur von der Seite an. Nach einigem Zaudern nahm er ihre Hand. Erschreckt von der Kälte, ließ er sie sogleich wieder fahren, er sah sich unruhig um und sagte zu der Alten: ›Ich kann jetzt nicht bei ihr bleiben, ich habe noch einen sehr weiten Weg zu machen, ich will aber zur rechten Zeit schon wieder dasein; sag ihr das, wenn sie aufwacht.‹

So ging er hinweg, wir wurden nur spät von diesem Vorgange benachrichtigt, man forschte nach, wo er hingekommen sei, aber vergebens! Wie er sich durch Berge und Täler durchgearbeitet haben mag, ist unbegreiflich. Endlich nach langer Zeit fanden wir in Graubünden eine Spur von ihm wieder, allein zu spät, und sie verlor sich bald. Wir vermuteten, daß er nach Deutschland sei, allein der Krieg hatte solche schwache Fußtapfen gänzlich verwischt.«

Zehntes Kapitel

Der Abbé hörte zu lesen auf, und niemand hatte ohne Tränen zugehört. Die Gräfin brachte ihr Tuch nicht von den Augen; zuletzt stand sie auf und verließ mit Natalien das Zimmer. Die übrigen schwiegen, und der Abbé sprach: »Es entsteht nun die Frage, ob man den guten Marchese soll abreisen lassen, ohne ihm unser Geheimnis zu entdecken. Denn wer zweifelt wohl einen Augenblick daran, daß Augustin und unser Harfenspieler eine Person sei? Es ist zu überlegen, was wir tun, sowohl um des unglücklichen Mannes als der Familie willen. Mein Rat wäre, nichts zu übereilen, abzuwarten, was uns der Arzt, den wir eben von dort zurückerwarten, für Nachrichten bringt.«

Jedermann war derselben Meinung, und der Abbé fuhr fort: »Eine andere Frage, die vielleicht schneller abzutun ist, entsteht zu gleicher Zeit. Der Marchese ist unglaublich gerührt über die Gastfreundschaft, die seine arme Nichte bei uns, besonders bei unserm jungen Freunde, gefunden hat. Ich habe ihm die ganze Geschichte umständlich, ja wiederholt erzählen müssen, und er zeigte seine lebhafteste Dankbarkeit. ›Der junge Mann‹, sagte er, ›hat ausgeschlagen, mit mir zu reisen, ehe er das Verhältnis kannte, das unter uns besteht. Ich bin ihm nun kein Fremder mehr, von dessen Art zu sein und von dessen Laune er etwa nicht gewiß wäre; ich bin sein Verbundener, wenn Sie wollen sein Verwandter, und da sein Knabe, den er nicht zurücklassen wollte, erst das Hindernis war, das ihn abhielt, sich zu mir zu gesellen, so lassen Sie jetzt dieses Kind zum schönern Bande werden, das uns nur desto fester aneinanderknüpft. Über die Verbindlichkeit, die ich nun schon habe, sei er mir noch auf der Reise nützlich, er kehre mit mir zurück, mein älterer Bruder wird ihn mit Freuden empfangen, er verschmähe die Erbschaft seines Pflegekindes nicht: denn nach einer geheimen Abrede unseres Vaters mit seinem Freunde ist das Vermögen, das er seiner Tochter zugewendet hatte, wieder an uns zurückgefallen, und wir wollen dem Wohltäter unserer Nichte gewiß das nicht vorenthalten, was er verdient hat.‹«

Therese nahm Wilhelmen bei der Hand und sagte: »Wir erleben abermals hier so einen schönen Fall, daß uneigennütziges Wohltun die höchsten und schönsten Zinsen bringt. Folgen Sie diesem sonderbaren Ruf, und indem Sie sich um den Marchese doppelt verdient machen, eilen Sie einem schönen Land entgegen, das Ihre Einbildungskraft und Ihr Herz mehr als einmal an sich gezogen hat.«

»Ich überlasse mich ganz meinen Freunden und ihrer Führung«, sagte Wilhelm; »es ist vergebens, in dieser Welt nach eigenem Willen zu streben. Was ich festzuhalten wünschte, muß ich fahrenlassen, und eine unverdiente Wohltat drängt sich mir auf.«

Mit einem Druck auf Theresens Hand machte Wilhelm die seinige los. »Ich überlasse Ihnen ganz«, sagte er zu dem Abbé, »was Sie über mich beschließen; wenn ich meinen Felix nicht von mir zu lassen brauche, so bin ich zufrieden, überall hinzugehn und alles, was man für recht hält, zu unternehmen.«

Auf diese Erklärung entwarf der Abbé sogleich seinen Plan: man solle, sagte er, den Marchese abreisen lassen; Wilhelm solle die Nachricht des Arztes abwarten, und alsdann, wenn man überlegt habe, was zu tun sei, könne Wilhelm mit Felix nachreisen. So bedeutete er auch den Marchese unter einem Vorwand, daß die Einrichtungen des jungen Freundes zur Reise ihn nicht abhalten müßten, die Merkwürdigkeiten der Stadt indessen zu besehn. Der Marchese ging ab, nicht ohne wiederholte lebhafte Versicherung seiner Dankbarkeit, wovon die Geschenke, die er zurückließ und die aus Juwelen, geschnittenen Steinen und gestickten Stoffen bestanden, einen genugsamen Beweis gaben.

Wilhelm war nun auch völlig reisefertig, und man war um so mehr verlegen, daß keine Nachrichten von dem Arzt kommen wollten; man befürchtete, dem armen Harfenspieler möchte ein Unglück begegnet sein, zu ebender Zeit, als man hoffen konnte, ihn durchaus in einen bessern Zustand zu versetzen. Man schickte den Kurier fort, der kaum weggeritten war, als am Abend der Arzt mit einem Fremden hereintrat, dessen Gestalt und Wesen bedeutend, ernsthaft und auffallend war und den niemand kannte. Beide Ankömmlinge schwiegen eine Zeitlang still; endlich ging der Fremde auf Wilhelmen zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Kennen Sie Ihren alten Freund nicht mehr?« Es war die Stimme des Harfenspielers, aber von seiner Gestalt schien keine Spur übriggeblieben zu sein. Er war in der gewöhnlichen Tracht eines Reisenden, reinlich und anständig gekleidet, sein Bart war verschwunden, seinen Locken sah man einige Kunst an, und was ihn eigentlich ganz unkenntlich machte, war, daß an seinem bedeutenden Gesichte die Züge des Alters nicht mehr erschienen. Wilhelm umarmte ihn mit der lebhaftesten Freude; er ward den andern vorgestellt und betrug sich sehr vernünftig und wußte nicht, wie bekannt er der Gesellschaft noch vor kurzem geworden war. »Sie werden Geduld mit einem Menschen haben«, fuhr er mit großer Gelassenheit fort, »der, so erwachsen er auch aussieht, nach einem langen Leiden erst wie ein unerfahrnes Kind in die Welt tritt. Diesem wackren Mann bin ich schuldig, daß ich wieder in einer menschlichen Gesellschaft erscheinen kann.«

Man hieß ihn willkommen, und der Arzt veranlaßte sogleich einen Spaziergang, um das Gespräch abzubrechen und ins Gleichgültige zu lenken.

Als man allein war, gab der Arzt folgende Erklärung: »Die Genesung dieses Mannes ist uns durch den sonderbarsten Zufall geglückt. Wir hatten ihn lange nach unserer Überzeugung moralisch und physisch behandelt, es ging auch bis auf einen gewissen Grad ganz gut, allein die Todesfurcht war noch immer groß bei ihm, und seinen Bart und sein langes Kleid wollte er uns nicht aufopfern; übrigens nahm er mehr teil an den weltlichen Dingen, und seine Gesänge schienen wie seine Vorstellungsart wieder dem Leben sich zu nähern. Sie wissen, welch ein sonderbarer Brief des Geistlichen mich von hier abrief. Ich kam, ich fand unsern Mann ganz verändert, er hatte freiwillig seinen Bart hergegeben, er hatte erlaubt, seine Locken in eine hergebrachte Form zuzuschneiden, er verlangte gewöhnliche Kleider und schien auf einmal ein anderer Mensch geworden zu sein. Wir waren neugierig, die Ursache dieser Verwandlung zu ergründen, und wagten doch nicht, uns mit ihm selbst darüber einzulassen; endlich entdeckten wir zufällig die sonderbare Bewandtnis. Ein Glas flüssiges Opium fehlte in der Hausapotheke des Geistlichen, man hielt für nötig, die strengste Untersuchung anzustellen, jedermann suchte sich des Verdachtes zu erwehren, es gab unter den Hausgenossen heftige Szenen. Endlich trat dieser Mann auf und gestand, daß er es besitze; man fragte ihn, ob er davon genommen habe. Er sagte nein, fuhr aber fort: ›Ich danke diesem Besitz die Wiederkehr meiner Vernunft. Es hängt von euch ab, mir dieses Fläschchen zu nehmen, und ihr werdet mich ohne Hoffnung in meinen alten Zustand wieder zurückfallen sehen. Das Gefühl, daß es wünschenswert sei, die Leiden dieser Erde durch den Tod geendigt zu sehen, brachte mich zuerst auf den Weg der Genesung; bald darauf entstand der Gedanke, sie durch einen freiwilligen Tod zu endigen, und ich nahm in dieser Absicht das Glas hinweg; die Möglichkeit, sogleich die großen Schmerzen auf ewig aufzuheben, gab mir Kraft, die Schmerzen zu ertragen, und so habe ich, seitdem ich den Talisman besitze, mich durch die Nähe des Todes wieder in das Leben zurückgedrängt. Sorgt nicht‹, sagte er, ›daß ich Gebrauch davon mache, sondern entschließt euch, als Kenner des menschlichen Herzens, mich, indem ihr mir die Unabhängigkeit vom Leben zugesteht, erst vom Leben recht abhängig zu machen.‹ Nach reiflicher Überlegung drangen wir nicht weiter in ihn, und er führt nun in einem festen, geschliffnen Glasfläschchen dieses Gift als das sonderbarste Gegengift bei sich.«

Man unterrichtete den Arzt von allem, was indessen entdeckt worden war, und man beschloß, gegen Augustin das tiefste Stillschweigen zu beobachten. Der Abbé nahm sich vor, ihn nicht von seiner Seite zu lassen und ihn auf dem guten Wege, den er betreten hatte, fortzuführen.

Indessen sollte Wilhelm die Reise durch Deutschland mit dem Marchese vollenden. Schien es möglich, Augustinen eine Neigung zu seinem Vaterlande wieder einzuflößen, so wollte man seinen Verwandten den Zustand entdecken, und Wilhelm sollte ihn den Seinigen wieder zuführen.

Dieser hatte nun alle Anstalten zu seiner Reise gemacht, und wenn es im Anfang wunderbar schien, daß Augustin sich freute, als er vernahm, wie sein alter Freund und Wohltäter sich sogleich wieder entfernen sollte, so entdeckte doch der Abbé bald den Grund dieser seltsamen Gemütsbewegung. Augustin konnte seine alte Furcht, die er vor Felix hatte, nicht überwinden und wünschte den Knaben je eher je lieber entfernt zu sehen.

Nun waren nach und nach so viele Menschen angekommen, daß man sie im Schloß und in den Seitengebäuden kaum alle unterbringen konnte, um so mehr, als man nicht gleich anfangs auf den Empfang so vieler Gäste die Einrichtung gemacht hatte. Man frühstückte, man speiste zusammen und hätte sich gern beredet, man lebe in einer vergnüglichen Übereinstimmung, wenn schon in der Stille die Gemüter sich gewissermaßen auseinandersehnten. Therese war manchmal mit Lothario, noch öfter allein ausgeritten, sie hatte in der Nachbarschaft schon alle Landwirte und Landwirtinnen kennenlernen; es war ihr Haushaltungsprinzip, und sie mochte nicht unrecht haben, daß man mit Nachbarn und Nachbarinnen im besten Vernehmen und immer in einem ewigen Gefälligkeitswechsel stehen müsse. Von einer Verbindung zwischen ihr und Lothario schien gar die Rede nicht zu sein, die beiden Schwestern hatten sich viel zu sagen, der Abbé schien den Umgang des Harfenspielers zu suchen, Jarno hatte mit dem Arzt öftere Konferenzen, Friedrich hielt sich an Wilhelmen, und Felix war überall, wo es ihm gut ging. So vereinigten sich auch meistenteils die Paare auf dem Spaziergang, indem die Gesellschaft sich trennte, und wenn sie zusammen sein mußten, so nahm man geschwind seine Zuflucht zur Musik, um alle zu verbinden, indem man jeden sich selbst wiedergab.

Unversehens vermehrte der Graf die Gesellschaft, seine Gemahlin abzuholen und, wie es schien, einen feierlichen Abschied von seinen weltlichen Verwandten zu nehmen. Jarno eilte ihm bis an den Wagen entgegen, und als der Ankommende fragte, was er für Gesellschaft finde, so sagte jener in einem Anfall von toller Laune, die ihn immer ergriff, sobald er den Grafen gewahr ward: »Sie finden den ganzen Adel der Welt beisammen, Marchesen, Marquis, Mylords und Baronen, es hat nur noch an einem Grafen gefehlt.« So ging man die Treppe hinauf, und Wilhelm war die erste Person, die ihm im Vorsaal entgegenkam. »Mylord!« sagte der Graf zu ihm auf Französisch, nachdem er ihn einen Augenblick betrachtet hatte, »ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft unvermutet zu erneuern; denn ich müßte mich sehr irren, wenn ich Sie nicht im Gefolge des Prinzen sollte in meinem Schlosse gesehen haben.« – »Ich hatte das Glück, Euer Exzellenz damals aufzuwarten«, versetzte Wilhelm, »nur erzeigen Sie mir zuviel Ehre, wenn Sie mich für einen Engländer, und zwar vom ersten Range halten; ich bin ein Deutscher, und« – »zwar ein sehr braver junger Mann«, fiel Jarno sogleich ein. Der Graf sah Wilhelmen lächelnd an und wollte eben etwas erwidern, als die übrige Gesellschaft herbeikam und ihn aufs freundlichste begrüßte. Man entschuldigte sich, daß man ihm nicht sogleich ein anständiges Zimmer anweisen könne, und versprach, den nötigen Raum ungesäumt zu verschaffen.

»Ei ei!« sagte er lächelnd, »ich sehe wohl, daß man dem Zufalle überlassen hat, den Furierzettel zu machen; mit Vorsicht und Einrichtung, wie viel ist da nicht möglich! Jetzt bitte ich euch, rührt mir keinen Pantoffel vom Platze, denn sonst, seh ich wohl, gibt es eine große Unordnung. Jedermann wird unbequem wohnen, und das soll niemand um meinetwillen womöglich auch nur eine Stunde. Sie waren Zeuge«, sagte er zu Jarno, »und auch Sie, Mister«, indem er sich zu Wilhelmen wandte, »wie viele Menschen ich damals auf meinem Schlosse bequem untergebracht habe. Man gebe mir die Liste der Personen und Bedienten, man zeige mir an, wie jedermann gegenwärtig einquartiert ist, ich will einen Dislokationsplan machen, daß mit der wenigsten Bemühung jedermann eine geräumige Wohnung finde und daß noch Platz für einen Gast bleiben soll, der sich zufälligerweise bei uns einstellen könnte.«

Jarno machte sogleich den Adjutanten des Grafen, verschaffte ihm alle nötigen Notizen und hatte nach seiner Art den größten Spaß, wenn er den alten Herrn mitunter irremachen konnte. Dieser gewann aber bald einen großen Triumph. Die Einrichtung war fertig, er ließ in seiner Gegenwart die Namen über alle Türen schreiben, und man konnte nicht leugnen, daß mit wenig Umständen und Veränderungen der Zweck völlig erreicht war. Auch hatte es Jarno unter anderm so geleitet, daß die Personen, die in dem gegenwärtigen Augenblick ein Interesse aneinander nahmen, zusammen wohnten.

Nachdem alles eingerichtet war, sagte der Graf zu Jarno: »Helfen Sie mir auf die Spur wegen des jungen Mannes, den Sie da Meister nennen und der ein Deutscher sein soll.« Jarno schwieg still, denn er wußte recht gut, daß der Graf einer von denen Leuten war, die, wenn sie fragen, eigentlich belehren wollen; auch fuhr dieser, ohne Antwort abzuwarten, in seiner Rede fort: »Sie hatten mir ihn damals vorgestellt und im Namen des Prinzen bestens empfohlen. Wenn seine Mutter auch eine Deutsche war, so hafte ich dafür, daß sein Vater ein Engländer ist, und zwar von Stande; wer wollte das englische Blut alles berechnen, das seit dreißig Jahren in deutschen Adern herumfließt! Ich will weiter nicht darauf dringen, ihr habt immer solche Familiengeheimnisse; doch mir wird man in solchen Fällen nichts aufbinden.« Darauf erzählte er noch verschiedenes, was damals mit Wilhelmen auf seinem Schloß vorgegangen sein sollte, wozu Jarno gleichfalls schwieg, obgleich der Graf ganz irrig war und Wilhelmen mit einem jungen Engländer in des Prinzen Gefolge mehr als einmal verwechselte. Der gute Herr hatte in frühern Zeiten ein vortreffliches Gedächtnis gehabt und war noch immer stolz darauf, sich der geringsten Umstände seiner Jugend erinnern zu können; nun bestimmte er aber mit ebender Gewißheit wunderbare Kombinationen und Fabeln als wahr, die ihm bei zunehmender Schwäche seines Gedächtnisses seine Einbildungskraft einmal vorgespiegelt hatte. Übrigens war er sehr mild und gefällig geworden, und seine Gegenwart wirkte recht günstig auf die Gesellschaft. Er verlangte, daß man etwas Nützliches zusammen lesen sollte, ja sogar gab er manchmal kleine Spiele an, die er, wo nicht mitspielte, doch mit großer Sorgfalt dirigierte, und da man sich über seine Herablassung verwunderte, sagte er: es sei die Pflicht eines jeden, der sich in Hauptsachen von der Welt entferne, daß er in gleichgültigen Dingen sich ihr desto mehr gleichstelle.

Wilhelm hatte unter diesen Spielen mehr als einen bänglichen und verdrießlichen Augenblick; der leichtsinnige Friedrich ergriff manche Gelegenheit, um auf eine Neigung Wilhelms gegen Natalien zu deuten. Wie konnte er darauf fallen? wodurch war er dazu berechtigt? Und mußte nicht die Gesellschaft glauben, daß, weil beide viel miteinander umgingen, Wilhelm ihm eine so unvorsichtige und unglückliche Konfidenz gemacht habe?

Eines Tages waren sie bei einem solchen Scherze heiterer als gewöhnlich, als Augustin auf einmal zur Türe, die er aufriß, mit gräßlicher Gebärde hereinstürzte; sein Angesicht war blaß, sein Auge wild, er schien reden zu wollen, die Sprache versagte ihm. Die Gesellschaft entsetzte sich, Lothario und Jarno, die eine Rückkehr des Wahnsinns vermuteten, sprangen auf ihn los und hielten ihn fest. Stotternd und dumpf, dann heftig und gewaltsam sprach und rief er: »Nicht mich haltet, eilt! helft! rettet das Kind! Felix ist vergiftet!«

Sie ließen ihn los, er eilte zur Türe hinaus, und voll Entsetzen drängte sich die Gesellschaft ihm nach. Man rief nach dem Arzte, Augustin richtete seine Schritte nach dem Zimmer des Abbés, man fand das Kind, das erschrocken und verlegen schien, als man ihm schon von weitem zurief: »Was hast du angefangen?«

»Lieber Vater!« rief Felix, »ich habe nicht aus der Flasche, ich habe aus dem Glase getrunken, ich war so durstig.«

Augustin schlug die Hände zusammen, rief: »Er ist verloren!«, drängte sich durch die Umstehenden und eilte davon.

Sie fanden ein Glas Mandelmilch auf dem Tische stehen und eine Karaffine darneben, die über die Hälfte leer war; der Arzt kam, er erfuhr, was man wußte, und sah mit Entsetzen das wohlbekannte Fläschchen, worin sich das flüssige Opium befunden hatte, leer auf dem Tische liegen; er ließ Essig herbeischaffen und rief alle Mittel seiner Kunst zu Hülfe.

Natalie ließ den Knaben in ein Zimmer bringen, sie bemühte sich ängstlich um ihn. Der Abbé war fortgerannt, Augustinen aufzusuchen und einige Aufklärungen von ihm zu erdringen. Ebenso hatte sich der unglückliche Vater vergebens bemüht und fand, als er zurückkam, auf allen Gesichtern Bangigkeit und Sorge. Der Arzt hatte indessen die Mandelmilch im Glase untersucht, es entdeckte sich die stärkste Beimischung von Opium; das Kind lag auf dem Ruhebette und schien sehr krank, es bat den Vater, daß man ihm nur nichts mehr einschütten, daß man es nur nicht mehr quälen möchte. Lothar hatte seine Leute ausgeschickt und war selbst weggeritten, um der Flucht Augustins auf die Spur zu kommen. Natalie saß bei dem Kinde, es flüchtete auf ihren Schoß und bat sie flehentlich um Schutz, flehentlich um ein Stückchen Zucker, der Essig sei gar zu sauer! Der Arzt gab es zu; man müsse das Kind, das in der entsetzlichsten Bewegung war, einen Augenblick ruhen lassen, sagte er; es sei alles Rätliche geschehen, er wolle das mögliche tun. Der Graf trat mit einigem Unwillen, wie es schien, herbei, er sah ernst, ja feierlich aus, legte die Hände auf das Kind, blickte gen Himmel und blieb einige Augenblicke in dieser Stellung. Wilhelm, der trostlos in einem Sessel lag, sprang auf, warf einen Blick voll Verzweiflung auf Natalien und ging zur Türe hinaus.

Kurz darauf verließ auch der Graf das Zimmer.

 

»Ich begreife nicht«, sagte der Arzt nach einiger Pause, »daß sich auch nicht die geringste Spur eines gefährlichen Zustandes am Kinde zeigt. Auch nur mit einem Schluck muß es eine ungeheure Dosis Opium zu sich genommen haben, und nun finde ich an seinem Pulse keine weitere Bewegung, als die ich meinen Mitteln und der Furcht zuschreiben kann, in die wir das Kind versetzt haben.«

Bald darauf trat Jarno mit der Nachricht herein, daß man Augustin auf dem Oberboden in seinem Blute gefunden habe, ein Schermesser habe neben ihm gelegen, wahrscheinlich habe er sich die Kehle abgeschnitten. Der Arzt eilte fort und begegnete den Leuten, welche den Körper die Treppe herunterbrachten. Er ward auf ein Bett gelegt und genau untersucht; der Schnitt war in die Luftröhre gegangen, auf einen starken Blutverlust war eine Ohnmacht gefolgt, doch ließ sich bald bemerken, daß noch Leben, daß noch Hoffnung übrig sei. Der Arzt brachte den Körper in die rechte Lage, fügte die getrennten Teile zusammen und legte den Verband auf. Die Nacht ging allen schlaflos und sorgenvoll vorüber. Das Kind wollte sich nicht von Natalien trennen lassen. Wilhelm saß vor ihr auf einem Schemel; er hatte die Füße des Knaben auf seinem Schoße, Kopf und Brust lagen auf dem ihrigen, so teilten sie die angenehme Last und die schmerzlichen Sorgen und verharrten, bis der Tag anbrach, in der unbequemen und traurigen Lage; Natalie hatte Wilhelmen ihre Hand gegeben, sie sprachen kein Wort, sahen auf das Kind und sahen einander an. Lothario und Jarno saßen am andern Ende des Zimmers und führten ein sehr bedeutendes Gespräch, das wir gern, wenn uns die Begebenheiten nicht zu sehr drängten, unsern Lesern hier mitteilen würden. Der Knabe schlief sanft, erwachte am frühen Morgen ganz heiter, sprang auf und verlangte ein Butterbrot.

Sobald Augustin sich einigermaßen erholt hatte, suchte man einige Aufklärung von ihm zu erhalten. Man erfuhr nicht ohne Mühe und nur nach und nach: daß, als er bei der unglücklichen Dislokation des Grafen in ein Zimmer mit dem Abbé versetzt worden, er das Manuskript und darin seine Geschichte gefunden habe; sein Entsetzen sei ohnegleichen gewesen, und er habe sich nun überzeugt, daß er nicht länger leben dürfe; sogleich habe er seine gewöhnliche Zuflucht zum Opium genommen, habe es in ein Glas Mandelmilch geschüttet und habe doch, als er es an den Mund gesetzt, geschaudert; darauf habe er es stehenlassen, um nochmals durch den Garten zu laufen und die Welt zu sehen; bei seiner Zurückkunft habe er das Kind gefunden, eben beschäftigt, das Glas, woraus es getrunken, wieder vollzugießen.

Man bat den Unglücklichen, ruhig zu sein; er faßte Wilhelmen krampfhaft bei der Hand. »Ach!« sagte er, »warum habe ich dich nicht längst verlassen, ich wußte wohl, daß ich den Knaben töten würde und er mich.« – »Der Knabe lebt!« sagte Wilhelm. Der Arzt, der aufmerksam zugehört hatte, fragte Augustinen, ob alles Getränke vergiftet gewesen. »Nein!« versetzte er, »nur das Glas.« – »So hat durch den glücklichsten Zufall«, rief der Arzt, »das Kind aus der Flasche getrunken! Ein guter Genius hat seine Hand geführt, daß es nicht nach dem Tode griff, der so nahe zubereitet stand!« – »Nein! nein!« rief Wilhelm mit einem Schrei, indem er die Hände vor die Augen hielt, »wie fürchterlich ist diese Aussage! Ausdrücklich sagte das Kind, daß es nicht aus der Flasche, sondern aus dem Glase getrunken habe. Seine Gesundheit ist nur ein Schein, es wird uns unter den Händen wegsterben.« Er eilte fort, der Arzt ging hinunter und fragte, indem er das Kind liebkoste: »Nicht wahr, Felix, du hast aus der Flasche getrunken und nicht aus dem Glase?« Das Kind fing an zu weinen. Der Arzt erzählte Natalien im stillen, wie sich die Sache verhalte; auch sie bemühte sich vergebens, die Wahrheit von dem Kinde zu erfahren; es weinte nur heftiger und so lange, bis es einschlief.

Wilhelm wachte bei ihm, die Nacht verging ruhig. Den andern Morgen fand man Augustinen tot in seinem Bette; er hatte die Aufmerksamkeit seiner Wärter durch eine scheinbare Ruhe betrogen, den Verband still aufgelöst und sich verblutet. Natalie ging mit dem Kinde spazieren, es war munter wie in seinen glücklichsten Tagen. »Du bist doch gut«, sagte Felix zu ihr, »du zankst nicht, du schlägst mich nicht, ich will dir’s nur sagen, ich habe aus der Flasche getrunken! Mutter Aurelie schlug mich immer auf die Finger, wenn ich nach der Karaffine griff; der Vater sah so bös aus, ich dachte, er würde mich schlagen.«

Mit beflügelten Schritten eilte Natalie zu dem Schlosse; Wilhelm kam ihr, noch voller Sorgen, entgegen. »Glücklicher Vater!« rief sie laut, indem sie das Kind aufhob und es ihm in die Arme warf, »da hast du deinen Sohn! Er hat aus der Flasche getrunken, seine Unart hat ihn gerettet.«

Man erzählte den glücklichen Ausgang dem Grafen, der aber nur mit lächelnder, stiller, bescheidner Gewißheit zuhörte, mit der man den Irrtum guter Menschen ertragen mag. Jarno, aufmerksam auf alles, konnte diesmal eine solche hohe Selbstgenügsamkeit nicht erklären, bis er endlich nach manchen Umschweifen erfuhr: der Graf sei überzeugt, das Kind habe wirklich Gift genommen, er habe es aber durch sein Gebet und durch das Auflegen seiner Hände wunderbar am Leben erhalten. Nun beschloß er auch sogleich wegzugehn; gepackt war bei ihm alles wie gewöhnlich in einem Augenblicke, und beim Abschiede faßte die schöne Gräfin Wilhelms Hand, ehe sie noch die Hand der Schwester losließ, drückte alle vier Hände zusammen, kehrte sich schnell um und stieg in den Wagen.

Soviel schreckliche und wunderbare Begebenheiten, die sich eine über die andere drängten, zu einer ungewohnten Lebensart nötigten und alles in Unordnung und Verwirrung setzten, hatten eine Art von fieberhafter Schwingung in das Haus gebracht. Die Stunden des Schlafens und Wachens, des Essens, Trinkens und geselligen Zusammenseins waren verrückt und umgekehrt. Außer Theresen war niemand in seinem Gleise geblieben; die Männer suchten durch geistige Getränke ihre gute Laune wiederherzustellen, und indem sie sich eine künstliche Stimmung gaben, entfernten sie die natürliche, die allein uns wahre Heiterkeit und Tätigkeit gewährt.

Wilhelm war durch die heftigsten Leidenschaften bewegt und zerrüttet, die unvermuteten und schreckhaften Anfälle hatten sein Innerstes ganz aus aller Fassung gebracht, einer Leidenschaft zu widerstehn, die sich des Herzens so gewaltsam bemächtigt hatte. Felix war ihm wiedergegeben, und doch schien ihm alles zu fehlen; die Briefe von Wernern mit den Anweisungen waren da, ihm mangelte nichts zu seiner Reise als der Mut, sich zu entfernen. Alles drängte ihn zu dieser Reise. Er konnte vermuten, daß Lothario und Therese nur auf seine Entfernung warteten, um sich trauen zu lassen. Jarno war wider seine Gewohnheit still, und man hätte beinahe sagen können, er habe etwas von seiner gewöhnlichen Heiterkeit verloren. Glücklicherweise half der Arzt unserm Freunde einigermaßen aus der Verlegenheit, indem er ihn für krank erklärte und ihm Arznei gab.

Die Gesellschaft kam immer abends zusammen, und Friedrich, der ausgelassene Mensch, der gewöhnlich mehr Wein als billig trank, bemächtigte sich des Gesprächs und brachte nach seiner Art mit hundert Zitaten und eulenspiegelhaften Anspielungen die Gesellschaft zum Lachen und setzte sie auch nicht selten in Verlegenheit, indem er laut zu denken sich erlaubte.

An die Krankheit seines Freundes schien er gar nicht zu glauben. Einst, als sie alle beisammen waren, rief er aus: »Wie nennt Ihr das Übel, Doktor, das unsern Freund angefallen hat? Paßt hier keiner von den dreitausend Namen, mit denen Ihr Eure Unwissenheit ausputzt? An ähnlichen Beispielen wenigstens hat es nicht gefehlt. Es kommt«, fuhr er mit einem emphatischen Tone fort, »ein solcher Kasus in der ägyptischen oder babylonischen Geschichte vor.«

Die Gesellschaft sah einander an und lächelte.

»Wie hieß der König?« rief er aus und hielt einen Augenblick inne. »Wenn ihr mir nicht einhelfen wollt«, fuhr er fort, »so werde ich mir selbst zu helfen wissen.« Er riß die Türflügel auf und wies nach dem großen Bilde im Vorsaal. »Wie heißt der Ziegenbart mit der Krone dort, der sich am Fuße des Bettes um seinen kranken Sohn abhärmt? Wie heißt die Schöne, die hereintritt und in ihren sittsamen Schelmenaugen Gift und Gegengift zugleich führt? Wie heißt der Pfuscher von Arzt, dem erst in diesem Augenblicke ein Licht aufgeht, der das erste Mal in seinem Leben Gelegenheit findet, ein vernünftiges Rezept zu verordnen, eine Arznei zu reichen, die aus dem Grunde kuriert und die ebenso wohlschmeckend als heilsam ist?«

In diesem Tone fuhr er fort zu schwadronieren. Die Gesellschaft nahm sich so gut als möglich zusammen und verbarg ihre Verlegenheit hinter einem gezwungenen Lächeln. Eine leichte Röte überzog Nataliens Wangen und verriet die Bewegungen ihres Herzens. Glücklicherweise ging sie mit Jarno auf und nieder; als sie an die Türe kam, schritt sie mit einer klugen Bewegung hinaus, einigemal in dem Vorsaale hin und wider und ging sodann auf ihr Zimmer.

Die Gesellschaft war still. Friedrich fing an zu tanzen und zu singen:

Oh, ihr werdet Wunder sehn!

Was geschehn ist, ist geschehn,

Was gesagt ist, ist gesagt.

Eh es tagt,

Sollt ihr Wunder sehn.

Therese war Natalien nachgegangen, Friedrich zog den Arzt vor das große Gemälde, hielt eine lächerliche Lobrede auf die Medizin und schlich davon.

Lothario hatte bisher in einer Fenstervertiefung gestanden und sah, ohne sich zu rühren, in den Garten hinunter. Wilhelm war in der schrecklichsten Lage. Selbst da er sich nun mit seinem Freunde allein sah, blieb er eine Zeitlang still; er überlief mit flüchtigem Blick seine Geschichte und sah zuletzt mit Schaudern auf seinen gegenwärtigen Zustand; endlich sprang er auf und rief: »Bin ich schuld an dem, was vorgeht, an dem, was mir und Ihnen begegnet, so strafen Sie mich! Zu meinen übrigen Leiden entziehen Sie mir Ihre Freundschaft, und lassen Sie mich ohne Trost in die weite Welt hinausgehen, in der ich mich lange hätte verlieren sollen. Sehen Sie aber in mir das Opfer einer grausamen, zufälligen Verwicklung, aus der ich mich herauszuwinden unfähig war, so geben Sie mir die Versicherung Ihrer Liebe, Ihrer Freundschaft auf eine Reise mit, die ich nicht länger verschieben darf. Es wird eine Zeit kommen, wo ich Ihnen werde sagen können, was diese Tage in mir vorgegangen ist. Vielleicht leide ich eben jetzt diese Strafe, weil ich mich Ihnen nicht früh genug entdeckte, weil ich gezaudert habe, mich Ihnen ganz zu zeigen, wie ich bin; Sie hätten mir beigestanden, Sie hätten mir zur rechten Zeit losgeholfen. Aber- und abermal gehen mir die Augen über mich selbst auf, immer zu spät und immer umsonst. Wie sehr verdiente ich die Strafrede Jarnos! Wie glaubte ich sie gefaßt zu haben, wie hoffte ich sie zu nutzen, ein neues Leben zu gewinnen! Konnte ich’s? Sollte ich’s? Vergebens klagen wir Menschen uns selbst, vergebens das Schicksal an! Wir sind elend und zum Elend bestimmt, und ist es nicht völlig einerlei, ob eigene Schuld, höherer Einfluß oder Zufall, Tugend oder Laster, Weisheit oder Wahnsinn uns ins Verderben stürzen? Leben Sie wohl! Ich werde keinen Augenblick länger in dem Hause verweilen, in welchem ich das Gastrecht wider meinen Willen so schrecklich verletzt habe. Die Indiskretion Ihres Bruders ist unverzeihlich, sie treibt mein Unglück auf den höchsten Grad, sie macht mich verzweifeln.«

»Und wenn nun«, versetzte Lothario, indem er ihn bei der Hand nahm, »Ihre Verbindung mit meiner Schwester die geheime Bedingung wäre, unter welcher sich Therese entschlossen hat, mir ihre Hand zu geben? Eine solche Entschädigung hat Ihnen das edle Mädchen zugedacht; sie schwur, daß dieses doppelte Paar an einem Tage zum Altare gehen sollte. ›Sein Verstand hat mich gewählt‹, sagte sie, ›sein Herz fordert Natalien, und mein Verstand wird seinem Herzen zu Hülfe kommen.‹ Wir wurden einig, Natalien und Sie zu beobachten; wir machten den Abbé zu unserm Vertrauten, dem wir versprechen mußten, keinen Schritt zu dieser Verbindung zu tun, sondern alles seinen Gang gehen zu lassen. Wir haben es getan. Die Natur hat gewirkt, und der tolle Bruder hat nur die reife Frucht abgeschüttelt. Lassen Sie uns, da wir einmal so wunderbar zusammenkommen, nicht ein gemeines Leben führen; lassen Sie uns zusammen auf eine würdige Weise tätig sein! Unglaublich ist es, was ein gebildeter Mensch für sich und andere tun kann, wenn er, ohne herrschen zu wollen, das Gemüt hat, Vormund von vielen zu sein, sie leitet, dasjenige zur rechten Zeit zu tun, was sie doch alle gerne tun möchten, und sie zu ihren Zwecken führt, die sie meist recht gut im Auge haben und nur die Wege dazu verfehlen. Lassen Sie uns hierauf einen Bund schließen; es ist keine Schwärmerei, es ist eine Idee, die recht gut ausführbar ist und die öfters, nur nicht immer mit klarem Bewußtsein, von guten Menschen ausgeführt wird. Meine Schwester Natalie ist hiervon ein lebhaftes Beispiel. Unerreichbar wird immer die Handlungsweise bleiben, welche die Natur dieser schönen Seele vorgeschrieben hat. Ja sie verdient diesen Ehrennamen vor vielen andern, mehr, wenn ich sagen darf, als unsre edle Tante selbst, die zu der Zeit, als unser guter Arzt jenes Manuskript so rubrizierte, die schönste Natur war, die wir in unserm Kreise kannten. Indes hat Natalie sich entwickelt, und die Menschheit freut sich einer solchen Erscheinung.«

Er wollte weiterreden, aber Friedrich sprang mit großem Geschrei herein. »Welch einen Kranz verdien ich?« rief er aus, »und wie werdet ihr mich belohnen? Myrten, Lorbeer, Efeu, Eichenlaub, das frischeste, das ihr finden könnt, windet zusammen; so viel Verdienste habt ihr in mir zu krönen. Natalie ist dein! Ich bin der Zauberer, der diesen Schatz gehoben hat.«

»Er schwärmt«, sagte Wilhelm, »und ich gehe.«

»Hast du Auftrag?« sagte der Baron, indem er Wilhelmen festhielt.

»Aus eigner Macht und Gewalt«, versetzte Friedrich, »auch von Gottes Gnaden, wenn ihr wollt; so war ich Freiersmann, so bin ich jetzt Gesandter, ich habe an der Türe gehorcht, sie hat sich ganz dem Abbé entdeckt.«

»Unverschämter!« sagte Lothario, »wer heißt dich horchen!«

»Wer heißt sie sich einschließen!« versetzte Friedrich, »ich hörte alles ganz genau, Natalie war sehr bewegt. In der Nacht, da das Kind so krank schien und halb auf ihrem Schoße ruhte, als du trostlos vor ihr saßest und die geliebte Bürde mit ihr teiltest, tat sie das Gelübde, wenn das Kind stürbe, dir ihre Liebe zu bekennen und dir selbst die Hand anzubieten; jetzt, da das Kind lebt, warum soll sie ihre Gesinnung verändern? Was man einmal so verspricht, hält man unter jeder Bedingung. Nun wird der Pfaffe kommen und wunder denken, was er für Neuigkeiten bringt.«

Der Abbé trat ins Zimmer. »Wir wissen alles!« rief Friedrich ihm entgegen, »macht es kurz, denn Ihr kommt bloß um der Formalität willen; zu weiter nichts werden die Herren verlangt.«

»Er hat gehorcht«, sagte der Baron. »Wie ungezogen!« rief der Abbé.

»Nun geschwind«, versetzte Friedrich, »wie sieht’s mit den Zeremonien aus? Die lassen sich an den Fingern herzählen; Ihr müßt reisen, die Einladung des Marchese kommt Euch herrlich zustatten. Seid Ihr nur einmal über die Alpen, so findet sich zu Hause alles; die Menschen wissen’s Euch Dank, wenn Ihr etwas Wunderliches unternehmt, Ihr verschafft ihnen eine Unterhaltung, die sie nicht zu bezahlen brauchen. Es ist eben, als wenn Ihr eine Freiredoute gäbt; es können alle Stände daran teilnehmen.«

»Ihr habt Euch freilich mit solchen Volksfesten schon sehr ums Publikum verdient gemacht«, versetzte der Abbé, »und ich komme, so scheint es, heute nicht mehr zum Wort.«

»Ist nicht alles, wie ich’s sage«, versetzte Friedrich, »so belehrt uns eines Bessern. Kommt herüber, kommt herüber! wir müssen sie sehen und uns freuen.«

Lothario umarmte seinen Freund und führte ihn zu der Schwester; sie kam mit Theresen ihm entgegen, alles schwieg.

»Nicht gezaudert!« rief Friedrich. »In zwei Tagen könnt ihr reisefertig sein. Wie meint Ihr, Freund«, fuhr er fort, indem er sich zu Wilhelmen wendete, »als wir Bekanntschaft machten, als ich Euch den schönen Strauß abforderte, wer konnte denken, daß Ihr jemals eine solche Blume aus meiner Hand empfangen würdet?«

»Erinnern Sie mich nicht in diesem Augenblicke des höchsten Glücks an jene Zeiten!«

»Deren Ihr Euch nicht schämen sollet, sowenig man sich seiner Abkunft zu schämen hat. Die Zeiten waren gut, und ich muß lachen, wenn ich dich ansehe: du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis‘, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand.«

»Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht«, versetzte Wilhelm, »aber ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte.«

Johann Wolfgang von Goethe – Sankt Joseph der Zweite

Johann Wolfgang von Goethe: Sankt Joseph der Zweite

Erzählung aus Wilhelm Meisters Wanderjahre (Geschrieben 1807/08)

Schon hatte der Wanderer, seinem Boten auf dem Fuße folgend, steile Felsen hinter und über sich gelassen, schon durchstrichen sie ein sanfteres Mittelgebirg und eilten durch manchen wohlbestandnen Wald, durch manchen freundlichen Wiesengrund immer vorwärts, bis sie sich endlich an einem Abhange befanden und in ein sorgfältig bebautes, von Hügeln rings umschlossenes Tal hinabschauten. Ein großes, halb in Trümmern liegendes, halb wohlerhaltenes Klostergebäude zog sogleich die Aufmerksamkeit an sich. »Dies ist Sankt Joseph«, sagte der Bote; »jammerschade für die schöne Kirche! Seht nur, wie ihre Säulen und Pfeiler durch Gebüsch und Bäume noch so wohlerhalten durchsehen, ob sie gleich schon viele hundert Jahre im Schutt liegt.«

»Die Klostergebäude hingegen«, versetzte Wilhelm, »sehe ich, sind noch wohl erhalten.« – »Ja«, sagte der andere, »es wohnt ein Schaffner daselbst, der die Wirtschaft besorgt, die Zinsen und Zehnten einnimmt, welche man weit und breit hierher zu zahlen hat.«

Unter diesen Worten waren sie durch das offene Tor in den geräumigen Hof gelangt, der, von ernsthaften, wohlerhaltenen Gebäuden umgeben, sich als Aufenthalt einer ruhigen Sammlung ankündigte. Seinen Felix mit den Engeln von gestern sah er sogleich beschäftigt um einen Tragkorb, den eine rüstige Frau vor sich gestellt hatte; sie waren im Begriff, Kirschen zu handeln; eigentlich aber feilschte Felix, der immer etwas Geld bei sich führte. Nun machte er sogleich als Gast den Wirt, spendete reichliche Früchte an seine Gespielen, selbst dem Vater war die Erquickung angenehm, mitten in diesen unfruchtbaren Mooswäldern, wo die farbigen, glänzenden Früchte noch einmal so schön erschienen. Sie trage solche weit herauf aus einem großen Garten, bemerkte die Verkäuferin, um den Preis annehmlich zu machen, der den Käufern etwas zu hoch geschienen hatte. Der Vater werde bald zurückkommen, sagten die Kinder, er solle nur einstweilen in den Saal gehen und dort ausruhen.

Wie verwundert war jedoch Wilhelm, als die Kinder ihn zu dem Raume führten, den sie den Saal nannten. Gleich aus dem Hofe ging es zu einer großen Tür hinein, und unser Wanderer fand sich in einer sehr reinlichen, wohlerhaltenen Kapelle, die aber, wie er wohl sah, zum häuslichen Gebrauch des täglichen Lebens eingerichtet war. An der einen Seite stand ein Tisch, ein Sessel, mehrere Stühle und Bänke, an der andern Seite ein wohlgeschnitztes Gerüst mit bunter Töpferware, Krügen und Gläsern. Es fehlte nicht an einigen Truhen und Kisten und, so ordentlich alles war, doch nicht an dem Einladenden des häuslichen, täglichen Lebens. Das Licht fiel von hohen Fenstern an der Seite herein. Was aber die Aufmerksamkeit des Wanderers am meisten erregte, waren farbige, auf die Wand gemalte Bilder, die unter den Fenstern in ziemlicher Höhe, wie Teppiche, um drei Teile der Kapelle herumreichten und bis auf ein Getäfel herabgingen, das die übrige Wand bis zur Erde bedeckte. Die Gemälde stellten die Geschichte des heiligen Joseph vor. Hier sah man ihn mit einer Zimmerarbeit beschäftigt; hier begegnete er Marien, und eine Lilie sproßte zwischen beiden aus dem Boden, indem einige Engel sie lauschend umschwebten. Hier wird er getraut; es folgt der englische Gruß. Hier sitzt er mißmutig zwischen angefangener Arbeit, läßt die Axt ruhen und sinnt darauf, seine Gattin zu verlassen. Zunächst erscheint ihm aber der Engel im Traum, und seine Lage ändert sich. Mit Andacht betrachtet er das neugeborene Kind im Stalle zu Bethlehem und betet es an. Bald darauf folgt ein wundersam schönes Bild. Man sieht mancherlei Holz gezimmert; eben soll es zusammengesetzt werden, und zufälligerweise bilden ein paar Stücke ein Kreuz. Das Kind ist auf dem Kreuze eingeschlafen, die Mutter sitzt daneben und betrachtet es mit inniger Liebe, und der Pflegevater hält mit der Arbeit inne, um den Schlaf nicht zu stören. Gleich darauf folgt die Flucht nach Ägypten. Sie erregte bei dem beschauenden Wanderer ein Lächeln, indem er die Wiederholung des gestrigen lebendigen Bildes hier an der Wand sah.

Nicht lange war er seinen Betrachtungen überlassen, so trat der Wirt herein, den er sogleich als den Führer der heiligen Karawane wiedererkannte. Sie begrüßten sich aufs herzlichste, mancherlei Gespräche folgten; doch Wilhelms Aufmerksamkeit blieb auf die Gemälde gerichtet. Der Wirt merkte das Interesse seines Gastes und fing lächelnd an: »Gewiß, Ihr bewundert die Übereinstimmung dieses Gebäudes mit seinen Bewohnern, die Ihr gestern kennenlerntet. Sie ist aber vielleicht noch sonderbarer, als man vermuten sollte: das Gebäude hat eigentlich die Bewohner gemacht. Denn wenn das Leblose lebendig ist, so kann es auch wohl Lebendiges hervorbringen.«

»O ja!« versetzte Wilhelm. »Es sollte mich wundern, wenn der Geist, der vor Jahrhunderten in dieser Bergöde so gewaltig wirkte und einen so mächtigen Körper von Gebäuden, Besitzungen und Rechten an sich zog und dafür mannigfaltige Bildung in der Gegend verbreitete, es sollte mich wundern, wenn er nicht auch aus diesen Trümmern noch seine Lebenskraft auf ein lebendiges Wesen ausübte. Laßt uns jedoch nicht im Allgemeinen verharren, macht mich mit Eurer Geschichte bekannt, damit ich erfahre, wie es möglich war, daß ohne Spielerei und Anmaßung die Vergangenheit sich wieder in Euch darstellt und das, was vorüberging, abermals herantritt.«

Eben als Wilhelm belehrende Antwort von den Lippen seines Wirtes erwartete, rief eine freundliche Stimme im Hofe den Namen Joseph. Der Wirt hörte darauf und ging nach der Tür.

»Also heißt er auch Joseph!« sagte Wilhelm zu sich selbst. »Das ist doch sonderbar genug und doch eben nicht so sonderbar, als daß er seinen Heiligen im Leben darstellt.« Er blickte zu gleicher Zeit nach der Türe und sah die Mutter Gottes von gestern mit dem Manne sprechen. Sie trennten sich endlich: die Frau ging nach der gegenüberstehenden Wohnung. »Marie!« rief er ihr nach, »nur noch ein Wort!« – »Also heißt sie auch Marie!« dachte Wilhelm; »es fehlt nicht viel, so fühle ich mich achtzehnhundert Jahre zurückversetzt.« Er dachte sich das ernsthaft eingeschlossene Tal , in dem er sich befand, die Trümmer und die Stille, und eine wundersam altertümliche Stimmung überfiel ihn. Es war Zeit, daß der Wirt und die Kinder hereintreten. Die letztern forderten Wilhelm zu einem Spaziergange auf, indes der Wirt noch einigen Geschäften vorstehen wollte. Nun ging es durch die Ruinen des säulenreichen Kirchengebäudes, dessen hohe Giebel und Wände sich in Wind und Wetter zu befestigen schienen, indessen sich starke Bäume von alters her auf den breiten Mauerrücken eingewurzelt hatten und in Gesellschaft von mancherlei Gras, Blumen und Moos kühn in der Luft hängende Gärten vorstellten. Sanfte Wiesenpfade führten einen lebhaften Bach hinan, und von einiger Höhe konnte der Wanderer nun das Gebäude nebst seiner Lage mit so mehr Interesse überschauen, als ihm dessen Bewohner immer merkwürdiger geworden und durch die Harmonie mit ihrer Umgebung seine lebhafteste Neugier erregt hatten.

Man kehrte zurück und fand in dem frommen Saal einen Tisch gedeckt. Obenan stand ein Lehnsessel, in den sich die Hausfrau niederließ. Neben sich hatte sie einen hohen Korb stehen, in welchem das kleine Kind lag; den Vater sodann zur linken Hand und Wilhelm zur rechten. Die drei Kinder besetzten den untern Raum des Tisches. Eine alte Magd brachte ein wohlzubereitetes Essen. Speise- und Trinkgeschirr deuteten gleichfalls auf vergangene Zeit. Die Kinder gaben Anlaß zur Unterhaltung, indessen Wilhelm die Gestalt und das Betragen seiner heiligen Wirtin nicht genugsam beobachten konnte.

Nach Tische zerstreute sich die Gesellschaft; der Wirt führte seinen Gast an eine schattige Stelle der Ruine, wo man von einem erhöhten Platze die angenehme Aussicht das Tal hinab vollkommen vor sich hatte und die Berghöhen des untern Landes mit ihren fruchtbaren Abhängen und waldigen Rücken hintereinander hinausgeschoben sah. »Es ist billig«, sagte der Wirt, »daß ich Ihre Neugierde befriedige, um so mehr, als ich an Ihnen fühle, daß Sie imstande sind, auch das Wunderliche ernsthaft zu nehmen, wenn es auf einem ernsten Grunde beruht. Diese geistliche Anstalt, von der Sie noch die Reste sehen, war der heiligen Familie gewidmet und vor alters als Wallfahrt wegen mancher Wunder berühmt. Die Kirche war der Mutter und dem Sohne geweiht. Sie ist schon seit mehreren Jahrhunderten zerstört. Die Kapelle, dem heiligen Pflegevater gewidmet, hat sich erhalten, so auch der brauchbare Teil der Klostergebäude. Die Einkünfte bezieht schon seit geraumen Jahren ein weltlicher Fürst, der seinen Schaffner hier oben hält, und der bin ich, Sohn des vorigen Schaffners, der gleichfalls seinem Vater in dieser Stelle nachfolgte.

Der heilige Joseph, obgleich jede kirchliche Verehrung hier oben lange aufgehört hatte, war gegen unsere Familie so wohltätig gewesen, daß man sich nicht verwundern darf, wenn man sich besonders gut gegen ihn gesinnt fühlte; und daher kam es, daß man mich in der Taufe Joseph nannte und dadurch gewissermaßen meine Lebensweise bestimmte. Ich wuchs heran, und wenn ich mich zu meinem Vater gesellte, indem er die Einnahmen besorgte, so schloß ich mich ebenso gern, ja noch lieber an meine Mutter an, welche nach Vermögen gern ausspendete und durch ihren guten Willen und durch ihre Wohltaten im ganzen Gebirge bekannt und geliebt war. Sie schickte mich bald da-, bald dorthin, bald zu bringen, bald zu bestellen, bald zu besorgen, und ich fand mich sehr leicht in diese Art von frommem Gewerbe.

Überhaupt hat das Gebirgsleben etwas Menschlicheres als das Leben auf dem flachen Lande. Die Bewohner sind einander näher und, wenn man will, auch ferner; die Bedürfnisse geringer, aber dringender. Der Mensch ist mehr auf sich gestellt, seinen Händen, seinen Füßen muß er vertrauen lernen. Der Arbeiter, der Bote, der Lastträger, alle vereinigen sich in einer Person; auch steht jeder dem andern näher, begegnet ihm öfter und lebt mit ihm in einem gemeinsamen Treiben.

Da ich noch jung war und meine Schultern nicht viel zu schleppen vermochten, fiel ich darauf, einen kleinen Esel mit Körben zu versehen und vor mir her die steilen Fußpfade hinauf und hinab zu treiben. Der Esel ist im Gebirg kein so verächtlich Tier als im flachen Lande, wo der Knecht, der mit Pferden pflügt, sich für besser hält als den andern, der den Acker mit Ochsen umreißt. Und ich ging um so mehr ohne Bedenken hinter meinem Tiere her, als ich in der Kapelle früh bemerkt hatte, daß es zu der Ehre gelangt war, Gott und seine Mutter zu tragen. Doch war diese Kapelle damals nicht in dem Zustande, in welchem sie sich gegenwärtig befindet. Sie ward als ein Schuppen, ja fast wie ein Stall behandelt. Brennholz, Stangen, Gerätschaften, Tonnen und Leitern, und was man nur wollte, war übereinander geschoben. Glücklicherweise, daß die Gemälde so hoch stehen und die Täfelung etwas aushält. Aber schon als Kind erfreute ich mich besonders, über alles das Gehölz hin und her zu klettern und die Bilder zu betrachten, die mir niemand recht auslegen konnte. Genug, ich wußte, daß der Heilige, dessen Leben oben gezeichnet war, mein Pate sei, und ich erfreute mich an ihm, als ob er mein Onkel gewesen wäre. Ich wuchs heran, und weil es eine besondere Bedingung war, daß der, welcher an das einträgliche Schaffneramt Anspruch machen wollte, ein Handwerk ausüben mußte, so sollte ich, dem Willen meiner Eltern gemäß, welche wünschten, daß künftig diese gute Pfründe auf mich erben möchte, ein Handwerk lernen, und zwar ein solches, das zugleich hier oben in der Wirtschaft nützlich wäre.

Mein Vater war Bötticher und schaffte alles, was von dieser Arbeit nötig war, selbst, woraus ihm und dem Ganzen großer Vorteil erwuchs. Allein ich konnte mich nicht entschließen, ihm darin nachzufolgen. Mein Verlangen zog mich unwiderstehlich nach dem Zimmerhandwerke, wovon ich das Arbeitszeug so umständlich und genau, von Jugend auf, neben meinem Heiligen gemalt gesehen. Ich erklärte meinen Wunsch; man war mir nicht entgegen, um so weniger, als bei so mancherlei Baulichkeiten der Zimmermann oft von uns in Anspruch genommen ward, ja bei einigem Geschick und Liebe zu feinerer Arbeit, besonders in Waldgegenden, die Tischler- und sogar die Schnitzerkünste ganz nahe liegen. Und was mich noch mehr in meinen höhern Aussichten bestärkte, war jenes Gemälde, das leider nunmehr fast ganz verloschen ist. Sobald Sie wissen, was es vorstellen soll, so werden Sie sich’s entziffern können, wenn ich Sie nachher davor führe. Dem heiligen Joseph war nichts Geringeres aufgetragen, als einen Thron für den König Herodes zu machen. Zwischen zwei gegebenen Säulen soll der Prachtsitz aufgeführt werden. Joseph nimmt sorgfältig das Maß von Breite und Höhe und arbeitet einen köstlichen Königsthron. Aber wie erstaunt ist er, wie verlegen, als er den Prachtsessel herbeischafft: er findet sich zu hoch und nicht breit genug. Mit König Herodes war, wie bekannt, nicht zu spaßen; der fromme Zimmermeister ist in der größten Verlegenheit. Das Christkind, gewohnt, ihn überallhin zu begleiten, ihm in kindlich demütigem Spiel die Werkzeuge nachzutragen, bemerkt seine Not und ist gleich mit Rat und Tat bei der Hand. Das Wunderkind verlangt vom Pflegevater, er solle den Thron an der einen Seite fassen; es greift in die andere Seite des Schnitzwerks, und beide fangen an zu ziehen. Sehr leicht und bequem, als wär‘ er von Leder, zieht sich der Thron in die Breite, verliert verhältnismäßig an der Höhe und paßt ganz vortrefflich an Ort und Stelle, zum größten Troste des beruhigten Meisters und zur vollkommenen Zufriedenheit des Königs.

Jener Thron war in meiner Jugend noch recht gut zu sehen, und an den Resten der einen Seite werden Sie bemerken können, daß am Schnitzwerk nichts gespart war, das freilich dem Maler leichter fallen mußte, als es dem Zimmermann gewesen wäre, wenn man es von ihm verlangt hätte.

Hieraus zog ich aber keine Bedenklichkeit, sondern ich erblickte das Handwerk, dem ich mich gewidmet hatte, in einem so ehrenvollen Lichte, daß ich nicht erwarten konnte, bis man mich in die Lehre tat; welches um so leichter auszuführen war, als in der Nachbarschaft ein Meister wohnte, der für die ganze Gegend arbeitete und mehrere Gesellen und Lehrbursche beschäftigen konnte. Ich blieb also in der Nähe meiner Eltern und setzte gewissermaßen mein voriges Leben fort, indem ich Feierstunden und Feiertage zu den wohltätigen Botschaften, die mir meine Mutter aufzutragen fortfuhr, verwendete.«

Die Heimsuchung

»So vergingen einige Jahre«, fuhr der Erzähler fort. »Ich begriff die Vorteile des Handwerks sehr bald, und mein Körper, durch Arbeit ausgebildet, war imstande, alles zu übernehmen, was dabei gefordert wurde. Nebenher versah ich meinen alten Dienst, den ich der guten Mutter, oder vielmehr Kranken und Notdürftigen leistete. Ich zog mit meinem Tier durchs Gebirg, verteilte die Ladung pünktlich und nahm von Krämern und Kaufleuten rückwärts mit, was uns hier oben fehlte. Mein Meister war zufrieden mit mir und meine Eltern auch. Schon hatte ich das Vergnügen, auf meinen Wanderungen manches Haus zu sehen, das ich mit aufgeführt, das ich verziert hatte. Denn besonders dieses letzte Einkerben der Balken, dieses Einschneiden von gewissen einfachen Formen, dieses Einbrennen zierender Figuren, dieses Rotmalen einiger Vertiefungen, wodurch ein hölzernes Berghaus den so lustigen Anblick gewährt, solche Künste waren mir besonders übertragen, weil ich mich am besten aus der Sache zog, der ich immer den Thron Herodes‘ und seine Zieraten im Sinne hatte.

Unter den hilfsbedürftigen Personen, für die meine Mutter eine vorzügliche Sorge trug, standen besonders junge Frauen obenan, die sich guter Hoffnung befanden, wie ich nach und nach wohl bemerken konnte, ob man schon in solchen Fällen die Botschaften gegen mich geheimnisvoll zu behandeln pflegte. Ich hatte dabei niemals einen unmittelbaren Auftrag, sondern alles ging durch ein gutes Weib, welche nicht fern das Tal hinab wohnte und Frau Elisabeth genannt wurde. Meine Mutter, selbst in der Kunst erfahren, die so manchen gleich beim Eintritt in das Leben zum Leben rettet, stand mit Frau Elisabeth in fortdauernd gutem Vernehmen, und ich mußte oft von allen Seiten hören, daß mancher unserer rüstigen Bergbewohner diesen beiden Frauen sein Dasein zu danken habe. Das Geheimnis, womit mich Elisabeth jederzeit empfing, die bündigen Antworten auf meine rätselhaften Fragen, die ich selbst nicht verstand, erregten mir sonderbare Ehrfurcht für sie, und ihr Haus, das höchst reinlich war, schien mir eine Art von kleinem Heiligtume vorzustellen.

Indessen hatte ich durch meine Kenntnisse und Handwerkstätigkeit in der Familie ziemlichen Einfluß gewonnen. Wie mein Vater als Bötticher für den Keller gesorgt hatte, so sorgte ich nun für Dach und Fach und verbesserte manchen schadhaften Teil der alten Gebäude. Besonders wußte ich einige verfallene Scheuern und Remisen für den häuslichen Gebrauch wieder nutzbar zu machen; und kaum war dieses geschehen, als ich meine geliebte Kapelle zu räumen und zu reinigen anfing. In wenigen Tagen war sie in Ordnung, fast wie Ihr sie sehet; wobei ich mich bemühte, die fehlenden oder beschädigten Teile des Täfelwerks dem Ganzen gleich wiederherzustellen. Auch solltet Ihr diese Flügeltüren des Eingangs wohl für alt genug halten; sie sind aber von meiner Arbeit. Ich habe mehrere Jahre zugebracht, sie in ruhigen Stunden zu schnitzen, nachdem ich sie vorher aus starken eichenen Bohlen im ganzen tüchtig zusammengefügt hatte. Was bis zu dieser Zeit von Gemälden nicht beschädigt oder verloschen war, hat sich auch noch erhalten, und ich half dem Glasmeister bei einem neuen Bau, mit der Bedingung, daß er bunte Fenster herstellte.

Hatten jene Bilder und die Gedanken an das Leben des Heiligen meine Einbildungskraft beschäftigt, so drückte sich das alles nur viel lebhafter bei mir ein, als ich den Raum wieder für ein Heiligtum ansehen, darin, besonders zur Sommerszeit, verweilen und über das, was ich sah oder vermutete, mit Muße nachdenken konnte. Es lag eine unwiderstehliche Neigung in mir, diesem Heiligen nachzufolgen; und da sich ähnliche Begebenheiten nicht leicht herbeirufen ließen, so wollte ich wenigstens von unten auf anfangen, ihm zu gleichen: wie ich denn wirklich durch den Gebrauch des lastbaren Tiers schon lange begonnen hatte. Das kleine Geschöpf, dessen ich mich bisher bedient, wollte mir nicht mehr genügen; ich suchte mir einen viel stattlicheren Träger aus, sorgte für einen wohlgebauten Sattel, der zum Reiten wie zum Packen gleich bequem war. Ein paar neue Körbe wurden angeschafft, und ein Netz von bunten Schnüren, Flocken und Quasten, mit klingenden Metallstiften untermischt, zierte den Hals des langohrigen Geschöpfs, das sich nun bald neben seinem Musterbilde an der Wand zeigen durfte. Niemanden fiel ein, über mich zu spotten, wenn ich in diesem Aufzuge durchs Gebirge kam: denn man erlaubt ja gern der Wohltätigkeit eine wunderliche Außenseite.

Indessen hatte sich der Krieg, oder vielmehr die Folge desselben, unserer Gegend genähert, indem verschiedenemal gefährliche Rotten von verlaufenem Gesindel sich versammelten und hie und da manche Gewalttätigkeit, manchen Mutwillen ausübten. Durch die gute Anstalt der Landmiliz, durch Streifungen und augenblickliche Wachsamkeit wurde dem Übel zwar bald gesteuert; doch verfiel man zu geschwind wieder in Sorglosigkeit, und ehe man sich’s versah, brachen wieder neue Übeltaten hervor.

Lange war es in unserer Gegend still gewesen, und ich zog mit meinem Saumrosse ruhig die gewohnten Pfade, bis ich eines Tages über die frisch besäte Waldblöße kam und an dem Rande des Hegegrabens eine weibliche Gestalt sitzend oder vielmehr liegend fand. Sie schien zu schlafen oder ohnmächtig zu sein. Ich bemühte mich um sie, und als sie ihre schönen Augen aufschlug und sich in die Höhe richtete, rief sie mit Lebhaftigkeit aus: ›Wo ist er? habt Ihr ihn gesehen?‹ Ich fragte: ›Wen?‹ Sie versetzte: ›Meinen Mann!‹ Bei ihrem höchst jugendlichen Ansehen war mir diese Antwort unerwartet; doch fuhr ich nur um desto lieber fort, ihr beizustehen und sie meiner Teilnahme zu versichern. Ich vernahm, daß die beiden Reisenden sich wegen der beschwerlichen Fuhrwege von ihrem Wagen entfernt gehabt, um einen nähern Fußweg einzuschlagen. In der Nähe seien sie von Bewaffneten überfallen worden, ihr Mann habe sich fechtend entfernt, sie habe ihm nicht weit folgen können und sei an dieser Stelle liegengeblieben, sie wisse nicht wie lange. Sie bitte mich inständig, sie zu verlassen und ihrem Manne nachzueilen. Sie richtete sich auf ihre Füße, und die schönste, liebenswürdigste Gestalt stand vor mir; doch konnte ich leicht bemerken, daß sie sich in einem Zustande befinde, in welchem sie die Beihülfe meiner Mutter und der Frau Elisabeth wohl bald bedürfen möchte. Wir stritten uns eine Weile: denn ich verlangte, sie erst in Sicherheit zu bringen; sie verlangte zuerst Nachricht von ihrem Manne. Sie wollte sich von seiner Spur nicht entfernen, und alle meine Vorstellungen hätten vielleicht nicht gefruchtet, wenn nicht eben ein Kommando unserer Miliz, welche durch die Nachricht von neuen Übeltaten rege geworden war, sich durch den Wald her bewegt hätte. Diese wurden unterrichtet, mit ihnen das Nötige verabredet, der Ort des Zusammentreffens bestimmt und so für diesmal die Sache geschlichtet. Geschwind versteckte ich meine Körbe in eine benachbarte Höhle, die mir schon öfters zur Niederlage gedient hatte, richtete meinen Sattel zum bequemen Sitz und hob, nicht ohne eine sonderbare Empfindung, die schöne Last auf mein williges Tier, das die gewohnten Pfade sogleich von selbst zu finden wußte und mir Gelegenheit gab, nebenher zu gehen.

Ihr denkt, ohne daß ich es weitläufig beschreibe, wie wunderlich mir zumute war. Was ich so lange gesucht, hatte ich wirklich gefunden. Es war mir, als wenn ich träumte, und dann gleich wieder, als ob ich aus einem Traume erwachte. Diese himmlische Gestalt, wie ich sie gleichsam in der Luft schweben und vor den grünen Bäumen sich her bewegen sah, kam mir jetzt wie ein Traum vor, der durch jene Bilder in der Kapelle sich in meiner Seele erzeugte. Bald schienen mir jene Bilder nur Träume gewesen zu sein, die sich hier in eine schöne Wirklichkeit auflösten. Ich fragte sie manches, sie antwortete mir sanft und gefällig, wie es einer anständig Betrübten ziemt. Oft bat sie mich, wenn wir auf eine entblößte Höhe kamen, stillezuhalten, mich umzusehen, zu horchen. Sie bat mich mit solcher Anmut, mit einem solchen tief wünschenden Blick unter ihren langen schwarzen Augenwimpern hervor, daß ich alles tun mußte, was nur möglich war; ja ich erkletterte eine freistehende, hohe, astlose Fichte. Nie war mir dieses Kunststück meines Handwerks willkommener gewesen; nie hatte ich mit mehr Zufriedenheit von ähnlichen Gipfeln, bei Festen und Jahrmärkten, Bänder und seidene Tücher heruntergeholt. Doch kam ich diesesmal leider ohne Ausbeute; auch oben sah und hörte ich nichts. Endlich rief sie selbst mir, herabzukommen, und winkte gar lebhaft mit der Hand; ja, als ich endlich beim Herabgleiten mich in ziemlicher Höhe losließ und heruntersprang, tat sie einen Schrei, und eine süße Freundlichkeit verbreitete sich über ihr Gesicht, da sie mich unbeschädigt vor sich sah.

Was soll ich Euch lange von den hundert Aufmerksamkeiten unterhalten, womit ich ihr den ganzen Weg über angenehm zu werden, sie zu zerstreuen suchte. Und wie könnte ich es auch! denn das ist eben die Eigenschaft der wahren Aufmerksamkeit, daß sie im Augenblick das Nichts zu Allem macht. Für mein Gefühl waren die Blumen, die ich ihr brach, die fernen Gegenden, die ich ihr zeigte, die Berge, die Wälder, die ich ihr nannte, so viel kostbare Schätze, die ich ihr zuzueignen dachte, um mich mit ihr in Verhältnis zu setzen, wie man es durch Geschenke zu tun sucht.

Schon hatte sie mich für das ganze Leben gewonnen, als wir in dem Orte vor der Türe jener guten Frau anlangten und ich schon eine schmerzliche Trennung vor mir sah. Nochmals durchlief ich ihre ganze Gestalt, und als meine Augen an den Fuß herabkamen, bückte ich mich, als wenn ich etwas am Gurte zu tun hätte, und küßte den niedlichsten Schuh, den ich in meinem Leben gesehen hatte, doch ohne daß sie es merkte. Ich half ihr herunter, sprang die Stufen hinauf und rief in die Haustüre: ›Frau Elisabeth, Ihr werdet heimgesucht!‹ Die Gute trat hervor, und ich sah ihr über die Schultern zum Hause hinaus, wie das schöne Wesen die Stufen heraufstieg, mit anmutiger Trauer und innerlichem schmerzlichem Selbstgefühl, dann meine würdige Alte freundlich umarmte und sich von ihr in das bessere Zimmer leiten ließ. Sie schlossen sich ein, und ich stand bei meinem Esel vor der Tür, wie einer, der kostbare Waren abgeladen hat und wieder ein ebenso armer Treiber ist als vorher.«

Der Lilienstengel

»Ich zauderte noch, mich zu entfernen, denn ich war unschlüssig, was ich tun sollte, als Frau Elisabeth unter die Türe trat und mich ersuchte, meine Mutter zu ihr zu berufen, alsdann umherzugehen und wo möglich von dem Manne Nachricht zu geben. ›Marie läßt Euch gar sehr darum ersuchen‹, sagte sie. – ›Kann ich sie nicht noch einmal selbst sprechen?‹ versetzte ich. – ›Das geht nicht an‹, sagte Frau Elisabeth, und wir trennten uns. In kurzer Zeit erreichte ich unsere Wohnung; meine Mutter war bereit, noch diesen Abend hinabzugehen und der jungen Fremden hilfreich zu sein. Ich eilte nach dem Lande hinunter und hoffte, bei dem Amtmann die sichersten Nachrichten zu erhalten. Allein er war noch selbst in Ungewißheit, und weil er mich kannte, hieß er mich die Nacht bei ihm verweilen. Sie ward mir unendlich lang, und immer hatte ich die schöne Gestalt vor Augen, wie sie auf dem Tiere schwankte und so schmerzhaft freundlich zu mir heruntersah. Jeden Augenblick hofft‘ ich auf Nachricht. Ich gönnte und wünschte dem guten Ehemann das Leben, und doch mochte ich sie mir so gern als Witwe denken. Das streifende Kommando fand sich nach und nach zusammen, und nach mancherlei abwechselnden Gerüchten zeigte sich endlich die Gewißheit, daß der Wagen gerettet, der unglückliche Gatte aber an seinen Wunden in dem benachbarten Dorfe gestorben sei. Auch vernahm ich, daß nach der früheren Abrede einige gegangen waren, diese Trauerbotschaft der Frau Elisabeth zu verkündigen. Also hatte ich dort nichts mehr zu tun noch zu leisten, und doch trieb mich eine unendliche Ungeduld, ein unermeßliches Verlangen durch Berg und Wald wieder vor ihre Türe. Es war Nacht, das Haus verschlossen, ich sah Licht in den Zimmern, ich sah Schatten sich an den Vorhängen bewegen, und so saß ich gegenüber auf einer Bank, immer im Begriff anzuklopfen und immer von mancherlei Betrachtungen zurückgehalten.

Jedoch was erzähl‘ ich umständlich weiter, was eigentlich kein Interesse hat. Genug, auch am folgenden Morgen nahm man mich nicht ins Haus auf. Man wußte die traurige Nachricht, man bedurfte meiner nicht mehr; man schickte mich zu meinem Vater, an meine Arbeit; man antwortete nicht auf meine Fragen; man wollte mich los sein.

Acht Tage hatte man es so mit mir getrieben, als mich endlich Frau Elisabeth hereinrief. ›Tretet sachte auf, mein Freund‹, sagte sie, ›aber kommt getrost näher!‹ Sie führte mich in ein reinliches Zimmer, wo ich in der Ecke durch halbgeöffnete Bettvorhänge meine Schöne aufrecht sitzen sah. Frau Elisabeth trat zu ihr, gleichsam um mich zu melden, hub etwas vom Bette auf und brachte mir’s entgegen: in das weißeste Zeug gewickelt den schönsten Knaben. Frau Elisabeth hielt ihn gerade zwischen mich und die Mutter, und auf der Stelle fiel mir der Lilienstengel ein, der sich auf dem Bilde zwischen Maria und Joseph als Zeuge eines reinen Verhältnisses aus der Erde hebt. Von dem Augenblicke an war mir aller Druck vom Herzen genommen; ich war meiner Sache, ich war meines Glücks gewiß. Ich konnte mit Freiheit zu ihr treten, mit ihr sprechen, ihr himmlisches Auge ertragen, den Knaben auf den Arm nehmen und ihm einen herzlichen Kuß auf die Stirn drücken.

›Wie danke ich Euch für Eure Neigung zu diesem verwaisten Kinde!‹ sagte die Mutter. – Unbedachtsam und lebhaft rief ich aus: ›Es ist keine Waise mehr, wenn Ihr wollt!‹

Frau Elisabeth, klüger als ich, nahm mir das Kind ab und wußte mich zu entfernen.

Noch immer dient mir das Andenken jener Zeit zur glücklichsten Unterhaltung, wenn ich unsere Berge und Täler zu durchwandern genötigt bin. Noch weiß ich mir den kleinsten Umstand zurückzurufen, womit ich Euch jedoch, wie billig, verschone. Wochen gingen vorüber; Maria hatte sich erholt, ich konnte sie öfter sehen, mein Umgang mit ihr war eine Folge von Diensten und Aufmerksamkeiten. Ihre Familienverhältnisse erlaubten ihr einen Wohnort nach Belieben. Erst verweilte sie bei Frau Elisabeth; dann besuchte sie uns, meiner Mutter und mir für so vielen und freundlichen Beistand zu danken. Sie gefiel sich bei uns, und ich schmeichelte mir, es geschehe zum Teil um meinetwillen. Was ich jedoch so gern gesagt hätte und nicht zu sagen wagte, kam auf eine sonderbare und liebliche Weise zur Sprache, als ich sie in die Kapelle führte, die ich schon damals zu einem wohnbaren Saal umgeschaffen hatte. Ich zeigte und erklärte ihr die Bilder, eins nach dem andern, und entwickelte dabei die Pflichten eines Pflegevaters auf eine so lebendige und herzliche Weise, daß ihr die Tränen in die Augen traten und ich mit meiner Bilderdeutung nicht zu Ende kommen konnte. Ich glaubte ihrer Neigung gewiß zu sein, ob ich gleich nicht stolz genug war, das Andenken ihres Mannes so schnell auslöschen zu wollen. Das Gesetz verpflichtet die Witwen zu einem Trauerjahre, und gewiß ist eine solche Epoche, die den Wechsel aller irdischen Dinge in sich begreift, einem fühlenden Herzen nötig, um die schmerzlichen Eindrücke eines großen Verlustes zu mildern. Man sieht die Blumen welken und die Blätter fallen, aber man sieht auch Früchte reifen und neue Knospen keimen. Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefaßt sein.

Ich sprach nun mit meiner Mutter über die Angelegenheit, die mir so sehr am Herzen lag. Sie entdeckte mir darauf, wie schmerzlich Marien der Tod ihres Mannes gewesen und wie sie sich ganz allein durch den Gedanken, daß sie für das Kind leben müsse, wieder aufgerichtet habe. Meine Neigung war den Frauen nicht unbekannt geblieben, und schon hatte sich Marie an die Vorstellung gewöhnt, mit uns zu leben. Sie verweilte noch eine Zeitlang in der Nachbarschaft; dann zog sie zu uns herauf, und wir lebten noch eine Weile in dem frömmsten und glücklichsten Brautstande. Endlich verbanden wir uns. Jenes erste Gefühl, das uns zusammengeführt hatte, verlor sich nicht. Die Pflichten und Freuden des Pflegevaters und Vaters vereinigten sich; und so überschritt zwar unsere kleine Familie, indem sie sich vermehrte, ihr Vorbild an Zahl der Personen, aber die Tugenden jenes Musterbildes an Treue und Reinheit der Gesinnungen wurden von uns heilig bewahrt und geübt. Und so erhalten wir auch mit freundlicher Gewohnheit den äußern Schein, zu dem wir zufällig gelangt und der so gut zu unserm Innern paßt: denn ob wir gleich alle gute Fußgänger und rüstige Träger sind, so bleibt das lastbare Tier doch immer in unserer Gesellschaft, um eine oder die andere Bürde fortzubringen, wenn uns ein Geschäft oder Besuch durch diese Berge und Täler nötigt. Wie Ihr uns gestern angetroffen habt, so kennt uns die ganze Gegend, und wir sind stolz darauf, daß unser Wandel von der Art ist, um jenen heiligen Namen und Gestalten, zu deren Nachahmung wir uns bekennen, keine Schande zu machen.«

Johann Wolfgang von Goethe – Prometheus

Johann Wolfgang von Goethe: Prometheus

Dramatisches Fragment

Erster Akt

[Prometheus. Merkur.]

Prometheus.
Ich will nicht, sag es ihnen!
Und kurz und gut, ich will nicht!
Ihr Wille gegen meinen!
Eins gegen eins,
Mich dünkt, es hebt sich!

Merkur.
Deinem Vater Zeus das bringen?
Deiner Mutter?

Prometheus.
Was Vater! Mutter!
Weißt du, woher du kommst?
Ich stand, als ich zum erstenmal bemerkte
Die Füße stehn,
Und reichte, da ich
Diese Hände reichen fühlte,
Und fand die achtend meiner Tritte,
Die du nennst Vater, Mutter.

Merkur.
Und reichend dir
Der Kindheit note Hülfe.

Prometheus.
Und dafür hatten sie Gehorsam meiner Kindheit.
Den armen Sprößling zu bilden
Dahin, dorthin, nach dem Wind ihrer Grillen.

Merkur.
Und schützten dich.

Prometheus.
Wovor? Vor Gefahren,
Die sie fürchteten.
Haben sie das Herz bewahrt
Vor Schlangen, die es heimlich neidschten?
Diesen Busen gestählt,
Zu trotzen den Titanen?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit,
Mein Herr und eurer?

Merkur.
Elender! Deinen Göttern das,
Den Unendlichen?

Prometheus.
Göttern? Ich bin kein Gott
Und bilde mir so viel ein als einer.
Unendlich? – Allmächtig? –
Was könnt ihr?
Könnt ihr den weiten Raum
Des Himmels und der Erde
Mir ballen in meine Faust?
Vermögt ihr mich zu scheiden
Von mir selbst?
Vermögt ihr mich auszudehnen,
Zu erweitern zu einer Welt?

Merkur.
Das Schicksal!

Prometheus.
Anerkennst du seine Macht?
Ich auch! –
Und geh, ich diene nicht Vasallen!

[Merkur ab.]

Prometheus [zu seinen Statuen sich kehrend, die durch den ganzen Hain
zerstreut stehen].
Unersetzlicher Augenblick!
Aus eurer Gesellschaft
Gerissen von dem Toren,
Meine Kinder!
Was es auch ist, das meinen Busen regt –
[Sich einem Mädchen nahend.]
Der Busen sollte mir entgegen wallen!
Das Auge spricht schon jetzt!
Sprich, rede, liebe Lippe, mir!
O, könnt ich euch das fühlen geben,
Was ihr seid!

[Epimetheus kommt.]

Epimetheus.
Merkur beklagt sich bitter.

Prometheus.
Hättest du kein Ohr für Klagen,
Er wär auch ungeklagt zurückgekehrt.

Epimetheus.
Mein Bruder! Alles, was recht ist!
Der Götter Vorschlag
War diesmal billig.
Sie wollen dir Olympus‘ Spitze räumen,
Dort sollst du wohnen,
Sollst der Erde herrschen!

Prometheus.
Ihr Burggraf sein
Und ihren Himmel schützen? –
Mein Vorschlag ist viel billiger:
Sie wollen mit mir teilen, und ich meine,
Daß ich mit ihnen nichts zu teilen habe.
Das, was ich habe, können sie nicht rauben,
Und was sie haben, mögen sie beschützen.
Hier Mein und Dein,
Und so sind wir geschieden.

Epimetheus.
Wie vieles ist denn dein?

Prometheus.
Der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllt!
Nichts drunter und nichts drüber! –
Was haben diese Sterne droben
Für ein Recht an mich,
Daß sie mich begaffen?

Epimetheus.
Du stehst allein!
Dein Eigensinn verkennt die Wonne,
Wenn die Götter, du,
Die Deinigen und Welt und Himmel, all
Sich all ein innig Ganzes fühlten.

Prometheus.
Ich kenne das!
Ich bitte, lieber Bruder,
Treib’s wie du kannst, und laß mich!

[Epimetheus ab.]

Prometheus.
Hier meine Welt, mein All!
Hier fühl ich mich;
Hier alle meine Wünsche
In körperlichen Gestalten.
Meinen Geist so tausendfach
Geteilt und ganz in meinen teuern Kindern.

[Minerva kommt.]

Prometheus.
Du wagst es, meine Göttin?
Wagest zu deines Vaters Feind zu treten?

Minerva.
Ich ehre meinen Vater,
Und liebe dich, Prometheus!

Prometheus.
Und du bist meinem Geist,
Was er sich selbst ist;
Sind von Anbeginn
Mir deine Worte Himmelslicht gewesen!
Immer als wenn meine Seele spräche zu sich selbst,
Sie sich eröffnete
Und mitgeborne Harmonieen
In ihr erklängen aus sich selbst:
Das waren deine Worte.
So war ich selbst nicht selbst,
Und eine Gottheit sprach,
Wenn ich zu reden wähnte,
Und wähnt ich, eine Gottheit spreche,
Sprach ich selbst.
Und so mit dir und mir
So ein, so innig
Ewig meine Liebe dir!

Minerva.
Und ich dir ewig gegenwärtig!

Prometheus.
Wie der süße Dämmerschein
Der weggeschiednen Sonne
Dort heraufschwimmt
Vom finstern Kaukasus
Und meine Seel umgibt mit Wonneruh,
Abwesend auch mir immer gegenwärtig,
So haben meine Kräfte sich entwickelt
Mit jedem Atemzug aus deiner Himmelsluft.
Und welch ein Recht
Ergeizen sich die stolzen
Bewohner des Olympus
Auf meine Kräfte?
Sie sind mein, und mein ist ihr Gebrauch.
Nicht einen Fußtritt
Für den obersten der Götter mehr!
Für sie? Bin ich für sie?

Minerva.
So wähnt die Macht.

Prometheus.
Ich wähne, Göttin, auch
Und bin auch mächtig. –
Sonst! – Hast du mich nicht oft gesehn
In selbst erwählter Knechtschaft
Die Bürde tragen, die sie
In feierlichem Ernst auf meine Schultern legten?
Hab ich die Arbeit nicht vollendet,
Jedes Tagwerk, auf ihr Geheiß,
Weil ich glaubte,
Sie sähen das Vergangne, das Zukünftige
Im Gegenwärtigen,
Und ihre Leitung, ihr Gebot
Sei uranfängliche,
Uneigennützge Weisheit?

Minerva.
Du dientest, um der Freiheit wert zu sein.

Prometheus.
Und möcht um vieles nicht
Mit dem Donnervogel tauschen
Und meines Herren Blitze stolz
In Sklavenklauen packen.
Was sind sie? Was ich?

Minerva.
Dein Haß ist ungerecht!
Den Göttern fiel zum Lose Dauer
Und Macht und Weisheit und Liebe.

Prometheus.
Haben Sie das all
Doch nicht allein!
Ich daure so wie sie.
Wir alle sind ewig! –
Meines Anfangs erinnr ich mich nicht,
Zu enden hab ich keinen Beruf
Und seh das Ende nicht.
So bin ich ewig, denn ich bin! –
Und Weisheit –
[sie an den Bildnissen herumführend.]
Sieh diese Stirn an!
Hat mein Finger nicht
Sie ausgeprägt?
Und dieses Busens Macht
Drängt sich entgegen
Der allanfallenden Gefahr umher.
[Bleibt bei einer weiblichen Bildsäule stehen.]
Und du, Pandora,
Heiliges Gefäß der Gaben alle,
Die ergötzlich sind
Unter dem weiten Himmel,
Auf der unendlichen Erde,
Alles, was mich je erquickt von Wonnegefühl,
Was in des Schattens Kühle
Mir Labsal ergossen,
Der Sonnen Liebe jemals Frühlingswonne,
Des Meeres laue Welle
Jemals Zärtlichkeit an meinen Busen angeschmiegt,
Und was ich je für reinen Himmelsglanz
Und Seelenruhgenuß geschmeckt –
Das all all – – Meine Pandora!

Minerva.
Jupiter hat dir entboten,
Ihnen allen das Leben zu erteilen,
Wenn du seinem Antrag
Gehör gäbst.

Prometheus.
Das war das einzige, was mich bedenken machte.
Allein – ich sollte Knecht sein und wir
All erkennen droben die Macht des Donnrers?
Nein! Sie mögen hier gebunden sein
Von ihrer Leblosigkeit,
Sie sind doch frei,
Und ich fühl ihre Freiheit!

Minerva.
Und sie sollen leben!
Dem Schicksal ist es, nicht den Göttern,
Zu schenken das Leben und zu nehmen;
Komm, ich leite dich zum Quell des Lebens all,
Den Jupiter uns nicht verschließt:
Sie sollen leben, und durch dich!

Prometheus.
Durch dich, o meine Göttin,
Leben, frei sich fühlen,
Leben! – Ihre Freude wird dein Dank sein!

Zweiter Akt

Auf Olympus

[Jupiter. Merkur.]

Merkur.
Greuel – Vater Jupiter – Hochverrat!
Minerva, deine Tochter,
Steht dem Rebellen bei,
Hat ihm den Lebensquell eröffnet
Und seinen lettnen Hof,
Seine Welt von Ton
Um ihn belebt.
Gleich uns bewegen sie sich all
Und weben, jauchzen um ihn her,
Wie wir um dich.
O, deine Donner, Zeus!

Jupiter.
Sie sind! und werden sein!
Und sollen sein!
Über alles, was ist
Unter dem weiten Himmel,
Auf der unendlichen Erde,
Ist mein die Herrschaft.
Das Wurmgeschlecht vermehret
Die Anzahl meiner Knechte.
Wohl ihnen, wenn sie meiner Vatersleitung folgen;
Weh ihnen, wenn sie meinem Fürstenarm
Sich widersetzen.

Merkur.
Allvater! Du Allgütiger,
Der du die Missetat vergibst Verbrechern,
Sei Liebe dir und Preis
Von aller Erd und Himmel!
O, sende mich, daß ich verkünde
Dem armen, erdgebornen Volk
Dich, Vater, deine Güte, deine Macht!

Jupiter.
Noch nicht! In neugeborner Jugendwonne
Wähnt ihre Seele sich göttergleich.
Sie werden dich nicht hören, bis sie dein
Bedürfen. Überlaß Sie ihrem Leben!

Merkur.
So weis‘ als gütig!

Tal am Fusse des Olympus

Prometheus.
Sieh nieder, Zeus,
Auf meine Welt: sie lebt!
Ich habe sie geformt nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen, zu genießen und zu freuen sich
Und dein nicht zu achten
Wie ich!

[Man sieht das Menschengeschlecht durchs ganze Tal verbreitet. Sie
sind auf Bäume geklettert, Früchte zu brechen, sie baden sich im
Wasser, sie laufen um die Wette auf der Wiese; Mädchen beschäftigen
sich, Blumen zu brechen und Kränzgen zu flechten.]

[Ein Mann mit abgehauenen jungen Bäumen tritt zu Prometheus.]

Mann.
Sieh hier die Bäume
Wie du sie verlangtest.

Prometheus.
Wie brachtest du
Sie von dem Boden?

Mann.
Mit diesem scharfen Steine hab ich sie
Glatt an der Wurzel weggerissen.

Prometheus.
Erst ab die Äste! –
Dann hier rammle diesen
Schief in den Boden hier
Und diesen hier, so gegenüber;
Und oben verbinde sie! –
Dann wieder zwei hier hinten hin
Und oben einen quer darüber.
Nun die Äste herab von oben
Bis zur Erde,
Verbunden und verschlungen die,
Und Rasen ringsumher,
Und Äste drüber, mehr,
Bis daß kein Sonnenlicht,
Kein Regen, Wind durchdringe.
Hier, lieber Sohn, ein Schutz und eine Hütte!

Mann.
Dank, teurer Vater, tausend Dank!
Sag, dürfen alle meine Brüder wohnen
In meiner Hütte?

Prometheus.
Nein!
Du hast sie dir gebaut und sie ist dein.
Du kannst sie teilen,
Mit wem du willst.
Wer wohnen will, der bau sich selber eine.

[Prometheus ab.]

[Zwei Männer.]

Erster.
Du sollst kein Stück
Von meinen Ziegen nehmen,
Sie sind mir, mein!

Zweiter.
Woher?

Erster.
Ich habe gestern Tag und Nacht
Auf dem Gebürg herumgeklettert,
Und mit saurem Schweiß
Lebendig sie gefangen,
Diese Nacht bewacht,
Sie eingeschlossen hier
Mit Stein und Ästen.

Zweiter.
Nun gib mir eins!
Ich habe gestern auch eine erlegt,
Am Feuer sie gezeitigt
Und gegessen mit meinen Brüdern.
Brauchst du heut mehr als eine?
Wir fangen morgen wieder.

Erster.
Bleib mir von meinen Schafen!

Zweiter.
Doch!

[Erster will ihn abhalten, Zweiter gibt ihm einen Stoß, daß er
umstürzt, der nimmt eine Ziege und fort.]

Erster.
Gewalt! Weh! Weh!

Prometheus [kommt].
Was gibt’s?

Mann.
Er raubt mir meine Ziegen! –
Blut rieselt sich von meinem Haupt -.
Er schmetterte
Mich wider diesen Stein.

Prometheus.
Reiß da vom Baume diesen Schwamm
Und leg ihn auf die Wunde!

Mann.
So – teurer Vater!
Schon ist es gestillt.

Prometheus.
Geh, wasch dein Angesicht.

Mann.
Und meine Ziege?

Prometheus.
Laß ihn!
Ist seine Hand wider jedermann,
Wird jedermanns Hand sein wider ihn.

[Mann ab.]

Prometheus.
Ihr seid nicht ausgeartet, meine Kinder,
Seid arbeitsam und faul,
Und grausam mild,
Freigebig geizig,
Gleichet all euren Schicksalsbrüdern,
Gleichet den Tieren und den Göttern.

[Pandora kommt.]

Prometheus.
Was hast du, meine Tochter,
Wie so bewegt?

Pandora.
Mein Vater!
Ach, was ich sah, mein Vater,
Was ich fühlte!

Prometheus.
Nun?

Pandora.
O, meine Arme Mira! –

Prometheus.
Was ist ihr?

Pandora.
Namenlose Gefühle!
Ich sah sie zu dem Waldgebüsche gehn,
Wo wir so oft die Blumenkränze pflücken;
Ich folgt ihr nach,
Und, ach, wie ich vom Hügel komme,
Seh ich sie, im Tal auf einen Rasen hingesunken.
Zum Glück war Arbar ohngefähr im Wald.
Er hielt sie fest in seinen Armen,
Wollte sie nicht sinken lassen,
Und, ach, sank mit ihr hin.
Ihr schönes Haupt entsank,
Er küßte sie tausendmal
Und hing an ihrem Munde,
Um seinen Geist ihr einzuhauchen.
Mir ward bang, ich sprang hinzu und schrie,
Mein Schrei eröffnet ihr die Sinnen.
Arbar ließ sie; Sie sprang auf,
Und, ach, mit halbgebrochnen Augen
Fiel sie mir um den Hals.
Ihr Busen schlug,
Als wollt er reißen,
Ihre Wangen glühten,
Es lechzt‘ ihr Mund, und tausend Tränen stürzten.
Ich fühlte wieder ihre Kniee wanken
Und hielt sie, teurer Vater,
Und ihre Küsse, ihre Glut
Hat solch ein neues unbekanntes Gefühl
Durch meine Adern durchgegossen,
Daß ich verwirrt, bewegt
Und weinend endlich sie ließ
Und Wald und Feld,
Zu dir, mein Vater! Sag,
Was ist das alles, was sie erschüttert
Und mich?

Prometheus.
Der Tod!

Pandora.
Was ist das?

Prometheus.
Meine Tochter,
Du hast der Freuden viel genossen.

Pandora.
Tausendfach! Dir dank ich’s all.

Prometheus.
Pandora, dein Busen schlug
Der kommenden Sonne,
Dem wandlenden Mond entgegen,
Und in den Küssen deiner Gespielen
Genossest du die reinste Seligkeit.

Pandora.
Unaussprechlich!

Prometheus.
Was hub im Tanze deinen Körper
Leicht auf vom Boden?

Pandora.
Freude!
Wie jedes Glied gerührt vom Sang und Spiel
Bewegte, regte sich, ich ganz in Melodie verschwamm.

Prometheus.
Und alles löst sich endlich auf in Schlaf,
So Freud als Schmerz.
Du hast gefühlt der Sonne Glut,
Des Durstes Lechzen,
Deiner Kniee Müdigkeit,
Hast über dein verlornes Schaf geweint,
Und wie geächzt, gezittert,
Als du im Wald den Dorn dir in die Ferse tratst,
Eh ich dich heilte.

Pandora.
Mancherlei, mein Vater, ist des Lebens Wonn
Und Weh!

Prometheus.
Und du fühlst an deinem Herzen,
Daß noch der Freuden viele sind,
Noch der Schmerzen, die du nicht kennst.

Pandora.
Wohl, wohl! – Dies Herze sehnt sich oft
Ach nirgend hin und überall doch hin!

Prometheus.
Da ist ein Augenblick, der alles erfüllt,
Alles, was wir gesehnt, geträumt, gehofft,
Gefürchtet, meine Beste, – das ist der Tod!

Pandora.
Der Tod?

Prometheus.
Wenn aus dem innerst tiefsten Grunde
Du ganz erschüttert alles fühlst,
Was Freud und Schmerzen jemals dir ergossen,
Im Sturm dein Herz erschwillt,
In Tränen sich erleichtern will und seine Glut vermehrt,
Und alles klingt an dir und bebt und zittert,
Und all die Sinne dir vergehn,
Und du dir zu vergehen scheinst
Und sinkst, und alles um dich her
Versinkt in Nacht, und du, in inner eigenem Gefühle,
Umfassest eine Welt:
Dann stirbt der Mensch.

Pandora [ihn umhalsend].
O, Vater, laß uns sterben!

Prometheus.
Noch nicht.

Pandora.
Und nach dem Tod?

Prometheus.
Wenn alles – Begier und Freud und Schmerz –
Im stürmenden Genuß sich aufgelöst,
Dann sich erquickt in Wonneschlaf, –
Dann lebst du auf, aufs jüngste wieder auf,
Aufs neue zu fürchten, zu hoffen und zu begehren!

Johann Wolfgang von Goethe – Nicht zu weit

Johann Wolfgang von Goethe: Nicht zu weit

Erzählung

aus Wilhelm Meisters Wanderjahre (1829)

Es schlug zehn in der Nacht, und so war denn zur verabredeten Stunde alles bereit: im bekränzten Sälchen zu vieren eine geräumige, artige Tafel gedeckt, mit feinem Nachtisch und Zuckerzierlichkeiten zwischen blinkenden Leuchtern und Blumen bestellt. Wie freuten sich die Kinder auf diese Nachkost, denn sie sollten mit zu Tische sitzen; indessen schlichen sie umher, geputzt und maskiert, und weil Kinder nicht zu entstellen sind, erscheinen sie als die niedlichsten Zwillingsgenien. Der Vater berief sie zu sich, und sie sagten das Festgespräch, zu ihrer Mutter Geburtstag gedichtet, bei weniger Nachhülfe gar schicklich her.

Die Zeit verstrich, von Viertel- zu Viertelstunde enthielt die gute Alte sich nicht, des Freundes Ungeduld zu vermehren. Mehrere Lampen, sagte sie, seien auf der Treppe dem Erlöschen ganz nahe, ausgesuchte Lieblingsspeisen der Gefeierten könnten übergar werden, so sei es zu befürchten. Die Kinder aus Langerweile fingen erst unartig an, und aus Ungeduld wurden sie unerträglich. Der Vater nahm sich zusammen, und doch wollte die ungewohnte Gelassenheit ihm nicht zu Gebote stehen; er horchte sehnsüchtig auf die Wagen, einige rasselten unaufgehalten vorbei, ein gewisses Ärgernis wollte sich regen. Zum Zeitvertreib forderte er noch eine Repetition von den Kindern; diese, im Überdruß unachtsam, zerstreut und ungeschickt, sprachen falsch, keine Gebärde war mehr richtig, sie übertrieben wie Schauspieler, die nichts empfinden. Die Pein des guten Mannes wuchs mit jedem Momente, halb eilf Uhr war vorüber; das Weitere zu schildern, überlassen wir ihm selbst.

»Die Glocke schlug eilfe, meine Ungeduld war bis zur Verzweiflung gesteigert, ich hoffte nicht mehr, ich fürchtete. Nun war mir bange, sie möchte hereintreten, mit ihrer gewöhnlichen leichten Anmut sich flüchtig entschuldigen, versichern, daß sie sehr müde sei, und sich betragen, als würfe sie mir vor, ich beschränke ihre Freuden. In mir kehrte sich alles um und um, und gar vieles, was ich Jahre her geduldet, lastete wiederkehrend auf meinem Geiste. Ich fing an, sie zu hassen, ich wußte kein Betragen zu denken, wie ich sie empfangen sollte. Die guten Kinder, wie Engelchen herausgeputzt, schliefen ruhig auf dem Sofa. Unter meinen Füßen brannte der Boden, ich begriff, ich verstand mich nicht, und mir blieb nichts übrig als zu fliehen, bis nur die nächsten Augenblicke überstanden wären. Ich eilte, leicht und festlich angezogen wie ich war, nach der Haustüre. Ich weiß nicht, was ich der guten Alten für einen Vorwand hinstotterte, sie drang mir einen Überrock zu, und ich fand mich auf der Straße in einem Zustande, den ich seit langen Jahren nicht empfunden hatte. Gleich dem jüngsten leidenschaftlichen Menschen, der nicht wo ein noch aus weiß, rannt‘ ich die Gassen hin und wider. Ich hätte das freie Feld gewonnen, aber ein kalter, feuchter Wind blies streng und widerwärtig genug, um meinen Verdruß zu begrenzen.«

Wir haben, wie an dieser Stelle auffallend zu bemerken ist, die Rechte des epischen Dichters uns anmaßend, einen geneigten Leser nur allzu schnell in die Mitte leidenschaftlicher Darstellung gerissen. Wir sehen einen bedeutenden Mann in häuslicher Verwirrung, ohne von ihm etwas weiter erfahren zu haben; deshalb wir denn für den Augenblick, um nur einigermaßen den Zustand aufzuklären, uns zu der guten Alten gesellen, horchend, was sie allenfalls vor sich hin, bewegt und verlegen, leise murmeln oder laut ausrufen möchte.

»Ich hab‘ es längst gedacht, ich habe es vorausgesagt, ich habe die gnädige Frau nicht geschont, sie öfter gewarnt, aber es ist stärker wie sie. Wenn der Herr sich des Tags auf der Kanzlei, in der Stadt, auf dem Lande in Geschäften abmüdet, so findet er abends ein leeres Haus, oder Gesellschaft, die ihm nicht zusagt. Sie kann es nicht lassen. Wenn sie nicht immer Menschen, Männer um sich sieht, wenn sie nicht hin und wider fährt, sich an- und aus- und umziehen kann, ist es, als wenn ihr der Atem ausginge. Heute an ihrem Geburtstag fährt sie früh aufs Land. Gut! wir machen indes hier alles zurecht; sie verspricht heilig, um neun Uhr zu Hause zu sein; wir sind bereit. Der Herr überhört die Kinder ein auswendig gelerntes artiges Gedicht, sie sind herausgeputzt; Lampen und Lichter, Gesottenes und Gebratenes, an gar nichts fehlt es, aber sie kommt nicht. Der Herr hat viel Gewalt über sich, er verbirgt seine Ungeduld, sie bricht aus. Er entfernt sich aus dem Hause so spät. Warum, ist offenbar; aber wohin? Ich habe ihr oft mit Nebenbuhlerinnen gedroht, ehrlich und redlich. Bisher hab‘ ich am Herrn nichts bemerkt; eine Schöne paßt ihm längst auf, bemüht sich um ihn. Wer weiß, wie er bisher gekämpft hat. Nun bricht’s los, diesmal treibt ihn die Verzweiflung, seinen guten Willen nicht besser anerkannt zu sehen, bei Nacht aus dem Hause, da geb‘ ich alles verloren. Ich sagt‘ es ihr mehr als einmal, sie solle es nicht zu weit treiben.«

Suchen wir den Freund nun wieder auf und hören ihn selber.

»In dem angesehensten Gasthofe sah ich unten Licht, klopfte am Fenster und fragte den herausschauenden Kellner mit bekannter Stimme: ob nicht Fremde angekommen oder angemeldet seien? Schon hatte er das Tor geöffnet, verneinte beides und bat mich hereinzutreten. Ich fand es meiner Lage gemäß, das Märchen fortzusetzen, ersuchte ihn um ein Zimmer, das er mir gleich im zweiten Stock einräumte; der erste sollte, wie er meinte, für die erwarteten Fremden bleiben. Er eilte, einiges zu veranstalten, ich ließ es geschehen und verbürgte mich für die Zeche. So weit war’s vorüber; ich aber fiel wieder in meine Schmerzen zurück, vergegenwärtigte mir alles und jedes, erhöhte und milderte, schalt mich und suchte mich zu fassen, zu besänftigen: ließe sich doch morgen früh alles wieder einleiten; ich dachte mir schon den Tag abermals im gewohnten Gange; dann aber kämpfte sich aufs neue der Verdruß unbändig hervor: ich hatte nie geglaubt, daß ich so unglücklich sein könne.«

An dem edlen Manne, den wir hier so unerwartet über einen gering scheinenden Vorfall in leidenschaftlicher Bewegung sehen, haben unsere Leser gewiß schon in dem Grade teilgenommen, daß sie nähere Nachricht von seinen Verhältnissen zu erfahren wünschen. Wir benutzen die Pause, die hier in das nächtliche Abenteuer eintritt, indem er stumm und heftig in dem Zimmer auf und ab zu gehen fortfährt.

Wir lernen Odoard als den Sprößling eines alten Hauses kennen, auf welchen durch eine Folge von Generationen die edelsten Vorzüge vererbt worden. In der Militärschule gebildet, ward ihm ein gewandter Anstand zu eigen, der, mit den löblichsten Fähigkeiten des Geistes verbunden, seinem Betragen eine ganz besondere Anmut verlieh. Ein kurzer Hofdienst lehrte ihn die äußern Verhältnisse hoher Persönlichkeiten gar wohl einsehen, und als er nun hierauf, durch früh erworbene Gunst einer gesandtschaftlichen Sendung angeschlossen, die Welt zu sehen und fremde Höfe zu kennen Gelegenheit hatte, so tat sich die Klarheit seiner Auffassung und glückliches Gedächtnis des Vorgegangenen bis aufs genaueste, besonders aber ein guter Wille in Unternehmungen aller Art aufs baldigste hervor. Die Leichtigkeit des Ausdrucks in manchen Sprachen, bei einer freien und nicht aufdringlichen Persönlichkeit, führten ihn von einer Stufe zur andern; er hatte Glück bei allen diplomatischen Sendungen, weil er das Wohlwollen der Menschen gewann und sich dadurch in den Vorteil setzte, Mißhelligkeiten zu schlichten, besonders auch die beiderseitigen Interessen bei gerechter Erwägung vorliegender Gründe zu befriedigen wußte.

Einen so vorzüglichen Mann sich anzueignen, war der erste Minister bedacht; er verheiratete ihm seine Tochter, ein Frauenzimmer von der heitersten Schönheit und gewandt in allen höheren geselligen Tugenden. Allein wie dem Laufe aller menschlichen Glückseligkeit sich je einmal ein Damm entgegenstellt, der ihn irgendwo zurückdrängt, so war es auch hier der Fall. An dem fürstlichen Hofe wurde Prinzessin Sophronie als Mündel erzogen, sie, der letzte Zweig ihres Astes, deren Vermögen und Anforderungen, wenn auch Land und Leute an den Oheim zurückfielen, noch immer bedeutend genug blieben, weshalb man sie denn, um weitläufige Erörterungen zu vermeiden, an den Erbprinzen, der freilich viel jünger war, zu verheiraten wünschte.

Odoard kam in Verdacht einer Neigung zu ihr, man fand, er habe sie in einem Gedichte unter dem Namen Aurora allzu leidenschaftlich gefeiert; hiezu gesellte sich eine Unvorsichtigkeit von ihrer Seite, indem sie mit eigner Charakterstärke gewissen Neckereien ihrer Gespielinnen trotzig entgegnete: sie müßte keine Augen haben, wenn sie für solche Vorzüge blind sein sollte.

Durch seine Heirat wurde nun wohl ein solcher Verdacht beschwichtigt, aber durch heimliche Gegner dennoch im stillen fortgenährt und gelegentlich wieder aufgeregt.

Die Staats- und Erbschaftsverhältnisse, ob man sie gleich so wenig als möglich zu berühren suchte, kamen doch manchmal zur Sprache. Der Fürst nicht sowohl als kluge Räte hielten es durchaus für nützlich, die Angelegenheit fernerhin ruhen zu lassen, während die stillen Anhänger der Prinzessin sie abgetan und dadurch die edle Dame in größerer Freiheit zu sehen wünschten, besonders da der benachbarte alte König, Sophronien verwandt und günstig, noch am Leben sei und sich zu väterlicher Einwirkung gelegentlich bereit erwiesen habe.

Odoard kam in Verdacht, bei einer bloß zeremoniellen Sendung dorthin das Geschäft, das man verspäten wollte, wieder in Anregung gebracht zu haben. Die Widersacher bedienten sich dieses Vorfalls, und der Schwiegervater, den er von seiner Unschuld überzeugt hatte, mußte seinen ganzen Einfluß anwenden, um ihm eine Art von Statthalterschaft in einer entfernten Provinz zu erwirken. Er fand sich glücklich daselbst, alle seine Kräfte konnte er in Tätigkeit setzen, es war Notwendiges, Nützliches, Gutes, Schönes, Großes zu tun, er konnte Dauerndes leisten, ohne sich aufzuopfern, anstatt daß man in jenen Verhältnissen, gegen seine Überzeugung sich mit Vorübergehendem beschäftigend, gelegentlich selbst zugrunde geht.

Nicht so empfand es seine Gattin, welche nur in größern Zirkeln ihre Existenz fand und ihm nur später notgedrungen folgte. Er betrug sich so schonend als möglich gegen sie und begünstigte alle Surrogate ihrer bisherigen Glückseligkeit, des Sommers Landpartien in der Nachbarschaft, im Winter ein Liebhabertheater, Bälle und was sie sonst einzuleiten beliebte. Ja er duldete einen Hausfreund, einen Fremden, der sich seit einiger Zeit eingeführt hatte, ob er ihm gleich keineswegs gefiel, da er ihm durchaus, bei seinem klaren Blick auf Menschen, eine gewisse Falschheit anzusehen glaubte.

Johann Wolfgang von Goethe: Nicht zu weit / 2

Von allem diesem, was wir aussprechen, mag in dem gegenwärtigen bedenklichen Augenblick einiges dunkel und trübe, ein anderes klar und deutlich ihm vor der Seele vorübergangen sein. Genug, wenn wir nach dieser vertraulichen Eröffnung, zu der Friedrichs gutes Gedächtnis den Stoff mitgeteilt, uns abermals zu ihm wenden, so finden wir ihn wieder in dem Zimmer heftig auf und ab gehend, durch Gebärden und manche Ausrufungen einen innern Kampf offenbarend.

»In solchen Gedanken war ich heftig im Zimmer auf und ab gegangen, der Kellner hatte mir eine Tasse Bouillon gebracht, deren ich sehr bedurfte; denn über die sorgfältigsten Anstalten dem Fest zuliebe hatte ich nichts zu mir genommen, und ein köstlich Abendessen stand unberührt zu Hause. In dem Augenblick hörten wir ein Posthorn sehr angenehm die Straße herauf. ›Der kommt aus dem Gebirge‹, sagte der Kellner. Wir fuhren ans Fenster und sahen beim Schein zweier helleuchtenden Wagenlaternen vierspännig, wohlbepackt vorfahren einen Herrschaftswagen. Die Bedienten sprangen vom Bocke: ›Da sind sie!‹ rief der Kellner und eilte nach der Türe. Ich hielt ihn fest, ihm einzuschärfen, er solle ja nichts sagen, daß ich da sei, nicht verraten, daß etwas bestellt worden; er versprach’s und sprang davon.

Indessen hatte ich versäumt zu beobachten, wer ausgestiegen sei, und eine neue Ungeduld bemächtigte sich meiner; mir schien, der Kellner säume allzu lange, mir Nachricht zu geben. Endlich vernahm ich von ihm, die Gäste seien Frauenzimmer, eine ältliche Dame von würdigem Ansehen, eine mittlere von unglaublicher Anmut, ein Kammermädchen, wie man sie nur wünschen möchte. ›Sie fing an‹. sagte er, ›mit Befehlen, fuhr fort mit Schmeicheln und fiel, als ich ihr schöntat, in ein heiter schnippisches Wesen, das ihr wohl das natürlichste sein mochte.‹«

»Gar schnell bemerkte ich«, fährt er fort, »die allgemeine Verwunderung, mich so alert und das Haus zu ihrem Empfang so bereit zu finden, die Zimmer erleuchtet, die Kamine brennend; sie machten sich’s bequem, im Saale fanden sie ein kaltes Abendessen; ich bot Bouillon an, die ihnen willkommen schien.«

Nun saßen die Damen bei Tische, die ältere speiste kaum, die schöne Liebliche gar nicht; das Kammermädchen, das sie Lucie nannten, ließ sich’s wohl schmecken und erhob dabei die Vorzüge des Gasthofes, erfreute sich der hellen Kerzen, des feinen Tafelzeugs, des Porzellans und aller Gerätschaften. Am lodernden Kamin hatte sie sich früher ausgewärmt und fragte nun den wieder eintretenden Kellner, ob man hier denn immer so bereit sei, zu jeder Stunde des Tags und der Nacht unvermutet ankommende Gäste zu bewirten? Dem jungen, gewandten Burschen ging es in diesem Falle wie Kindern, die wohl das Geheimnis verschweigen, aber, daß etwas Geheimes ihnen vertraut sei, nicht verbergen können. Erst antwortete er zweideutig, annähernd sodann, und zuletzt, durch die Lebhaftigkeit der Zofe, durch Hin- und Widerreden in die Enge getrieben, gestand er: es sei ein Bedienter, es sei ein Herr gekommen, sei fortgegangen, wiedergekommen, zuletzt aber entfuhr es ihm, der Herr sei wirklich oben und gehe beunruhigt auf und ab. Die junge Dame sprang auf, die andern folgten; es sollte ein alter Herr sein, meinten sie hastig; der Kellner versicherte dagegen, er sei jung. Nun zweifelten sie wieder, er beteuerte die Wahrheit seiner Aussage. Die Verwirrung, die Unruhe vermehrte sich. Es müsse der Oheim sein, versicherte die Schöne; es sei nicht in seiner Art, erwiderte die Ältere. Niemand als er habe wissen können, daß sie in dieser Stunde hier eintreffen würden, versetzte jene beharrlich. Der Kellner aber beteuerte fort und fort, es sei ein junger, ansehnlicher, kräftiger Mann. Lucie schwur dagegen auf den Oheim: dem Schalk, dem Kellner, sei nicht zu trauen, er widerspreche sich schon eine halbe Stunde.

Nach allem diesem mußte der Kellner hinauf, dringend zu bitten, der Herr möge doch ja eilig herunterkommen, dabei auch zu drohen, die Damen würden heraufsteigen und selbst danken. »Es ist ein Wirrwarr ohne Grenzen«, fuhr der Kellner fort; »ich begreife nicht, warum Sie zaudern, sich sehen zu lassen; man hält Sie für einen alten Oheim, den man wieder zu umarmen leidenschaftlich verlangt. Gehen Sie hinunter, ich bitte. Sind denn das nicht die Personen, die Sie erwarteten? Verschmähen Sie ein allerliebstes Abenteuer nicht mutwillig; sehens- und hörenswert ist die junge Schöne, es sind die anständigsten Personen. Eilen Sie hinunter, sonst rücken sie Ihnen wahrlich auf die Stube.«

Leidenschaft erzeugt Leidenschaft. Bewegt, wie er war, sehnte er sich nach etwas anderem, Fremdem. Er stieg hinab, in Hoffnung, sich mit den Ankömmlingen in heiterem Gespräch zu erklären, aufzuklären, fremde Zustände zu gewahren, sich zu zerstreuen, und doch war es ihm, als ging‘ er einem bekannten ahnungsvollen Zustand entgegen. Nun stand er vor der Türe; die Damen, die des Oheims Tritte zu hören glaubten, eilten ihm entgegen, er trat ein. Welch ein Zusammentreffen! Welch ein Anblick! Die sehr Schöne tat einen Schrei und warf sich der Ältern um den Hals, der Freund erkannte sie beide, er schrak zurück, dann drängt‘ es ihn vorwärts, er lag zu ihren Füßen und berührte ihre Hand, die er sogleich wieder losließ, mit dem bescheidensten Kuß. Die Silben »Au-ro-ra!« erstarben auf seinen Lippen.

Wenden wir unsern Blick nunmehr nach dem Hause unsres Freundes, so finden wir daselbst ganz eigne Zustände. Die gute Alte wußte nicht, was sie tun oder lassen sollte; sie unterhielt die Lampen des Vorhauses und der Treppe; das Essen hatte sie vom Feuer gehoben, einiges war unwiederbringlich verdorben. Die Kammerjungfer war bei den schlafenden Kindern geblieben und hatte die vielen Kerzen der Zimmer gehütet, so ruhig und geduldig als jene verdrießlich hin und her fahrend.

Endlich rollte der Wagen vor, die Dame stieg aus und vernahm, ihr Gemahl sei vor einigen Stunden abgerufen worden. Die Treppe hinaufsteigend, schien sie von der festlichen Erleuchtung keine Kenntnis zu nehmen. Nun erfuhr die Alte von dem Bedienten, ein Unglück sei unterwegs begegnet, der Wagen in einen Graben geworfen worden, und was alles nachher sich ereignet.

Die Dame trat ins Zimmer: »Was ist das für eine Maskerade?« sagte sie, auf die Kinder deutend. »Es hätte Ihnen viel Vergnügen gemacht«, versetzte die Jungfer, »wären Sie einige Stunden früher angekommen.« Die Kinder, aus dem Schlafe gerüttelt, sprangen auf und begannen, als sie die Mutter vor sich sahen, ihren eingelernten Spruch. Von beiden Seiten verlegen, ging es eine Weile, dann, ohne Aufmunterung und Nachhülfe, kam es zum Stocken, endlich brach es völlig ab, und die guten Kleinen wurden mit einigen Liebkosungen zu Bette geschickt. Die Dame sah sich allein, warf sich auf den Sofa und brach in bittre Tränen aus.

Doch es wird nun ebenfalls notwendig, von der Dame selbst und von dem, wie es scheint, übel abgelaufenen ländlichen Feste nähere Nachricht zu geben. Albertine war eine von den Frauenzimmern, denen man unter vier Augen nichts zu sagen hätte, die man aber sehr gern in großer Gesellschaft sieht. Dort erscheinen sie als wahre Zierden des Ganzen und als Reizmittel in jedem Augenblick einer Stockung. Ihre Anmut ist von der Art, daß sie, um sich zu äußern, sich bequem darzutun, einen gewissen Raum braucht, ihre Wirkungen verlangen ein größeres Publikum, sie bedürfen eines Elements, das sie trägt, das sie nötigt, anmutig zu sein; gegen den einzelnen wissen sie sich kaum zu betragen.

Auch hatte der Hausfreund bloß dadurch ihre Gunst und erhielt sich darin, weil er Bewegung auf Bewegung einzuleiten und immerfort, wenn auch keinen großen, doch einen heitern Kreis im Treiben zu erhalten wußte. Bei Rollenausteilungen wählte er sich die zärtlichen Väter und wußte durch ein anständiges, altkluges Benehmen über die jüngeren ersten, zweiten und dritten Liebhaber sich ein Übergewicht zu verschaffen.

Florine, Besitzerin eines bedeutenden Rittergutes in der Nähe, winters in der Stadt wohnend, verpflichtet gegen Odoard, dessen staatswirtliche Einrichtung zufälliger-, aber glücklicherweise ihrem Landsitz höchlich zugute kam und den Ertrag desselben in der Folge bedeutend zu vermehren die Aussicht gab, bezog sommers ihr Landgut und machte es zum Schauplatze vielfacher anständiger Vergnügungen. Geburtstage besonders wurden niemals verabsäumt und mannigfaltige Feste veranstaltet.

Florine war ein munteres, neckisches Wesen, wie es schien, nirgends anhänglich, auch keine Anhänglichkeit fordernd noch verlangend. Leidenschaftliche Tänzerin, schätzte sie die Männer nur, insofern sie sich gut im Takte bewegten; ewig rege Gesellschafterin, hielt sie denjenigen unerträglich, der auch nur einen Augenblick vor sich hinsah und nachzudenken schien; übrigens als heitere Liebhaberin, wie sie in jedem Stück, jeder Oper nötig sind, sich gar anmutig darstellend, weshalb denn zwischen ihr und Albertinen, welche die Anständigen spielte, sich nie ein Rangstreit hervortat.

Den eintretenden Geburtstag in guter Gesellschaft zu feiern, war aus der Stadt und aus dem Lande umher die beste Gesellschaft eingeladen. Einen Tanz, schon nach dem Frühstück begonnen, setzte man nach Tafel fort; die Bewegung zog sich in die Länge, man fuhr zu spät ab, und von der Nacht auf schlimmem Wege, doppelt schlimm, weil er eben gebessert wurde, ehe man’s dachte, schon überrascht, versah’s der Kutscher und warf in einen Graben. Unsere Schöne mit Florinen und dem Hausfreunde fühlten sich in schlimmer Verwickelung; der letzte wußte sich schnell herauszuwinden, dann, über den Wagen sich biegend, rief er: »Florine, wo bist du?« Albertine glaubte zu träumen; er faßte hinein und zog Florinen, die oben lag, ohnmächtig hervor, bemühte sich um sie und trug sie endlich auf kräftigem Arm den wiedergefundenen Weg hin. Albertine stak noch im Wagen, Kutscher und Bedienter halfen ihr heraus, und gestützt auf den letzten suchte sie weiterzukommen. Der Weg war schlimm, für Tanzschuhe nicht günstig; obgleich von dem Burschen unterstützt, strauchelte sie jeden Augenblick. Aber im Innern sah es noch wilder, noch wüster aus. Wie ihr geschah, wußte sie nicht, begriff sie nicht.

Allein als sie ins Wirtshaus trat, in der kleinen Stube Florinen auf dem Bette, die Wirtin und Lelio um sie beschäftigt sah, ward sie ihres Unglücks gewiß. Ein geheimes Verhältnis zwischen dem untreuen Freund und der verräterischen Freundin offenbarte sich blitzschnell auf einmal, sie mußte sehen, wie diese, die Augen aufschlagend, sich dem Freund um den Hals warf, mit der Wonne einer neu wiederauflebenden zärtlichsten Aneignung, wie die schwarzen Augen wieder glänzten, eine frische Röte die bläßlichen Wangen auf einmal wieder zierend färbte; wirklich sah sie verjüngt, reizend, allerliebst aus.

Albertine stand vor sich hinschauend, einzeln, kaum bemerkt; jene erholten sich, nahmen sich zusammen, der Schade war geschehen, man war denn doch genötigt, sich wieder in den Wagen zu setzen, und in der Hölle selbst könnten widerwärtig Gesinnte, Verratene mit Verrätern so eng nicht zusammengepackt sein.

Johann Wolfgang Goethe – Götz von Berlichingen

Johann Wolfgang Goethe: Götz von Berlichingen

I. Akt

Schwarzenberg in Franken

Herberge Metzler, Sievers am Tische. Zwei Reitersknechte beim Feuer. Wirt.

Sievers. Hänsel, noch ein Glas Branntwein, und meß christlich.

Wirt. Du bist der Nimmersatt.

Metzler (leise zu Sievers). Erzähl das noch einmal vom Berlichingen! Die Bamberger dort ärgern sich, sie möchten schwarz werden.

Sievers. Bamberger? Was tun die hier?

Metzler. Der Weislingen ist oben auf’m Schloß beim Herrn Grafen schon zwei Tage; dem haben sie das Gleit geben. Ich weiß nicht, wo er herkommt; sie warten auf ihn; er geht zurück nach Bamberg.

Sievers. Wer ist der Weislingen?

Metzler. Des Bischofs rechte Hand, ein gewaltiger Herr, der dem Götz auch auf’n Dienst lauert.

Sievers. Er mag sich in acht nehmen.

Metzler (leise). Nur immer zu! (Laut.) Seit wann hat denn der Götz wieder Händel mit dem Bischof von Bamberg? Es hieß ja, alles wäre vertragen und geschlichtet.

Sievers. Ja, vertrag du mit den Pfaffen! Wie der Bischof sah, er richt nichts aus und zieht immer den kürzern, kroch er zum Kreuz und war geschäftig, daß der Vergleich zustand käm. Und der getreuherzige Berlichingen gab unerhört nach, wie er immer tut, wenn er im Vorteil ist.

Metzler. Gott erhalt ihn! Ein rechtschaffener Herr!

Sievers. Nun denk, ist das nicht schändlich? Da werfen sie ihm einen Buben nieder, da er sich nichts weniger versieht. Wird sie aber schon wieder dafür lausen!

Metzler. Es ist doch dumm, daß ihm der letzte Streich mißglückt ist! Er wird sich garstig erbost haben.

Sievers. Ich glaub nicht, daß ihn lang was so verdrossen hat. Denk auch: alles war aufs genaueste verkundschaft, wann der Bischof aus dem Bad käm, mit wieviel Reitern, welchen Weg; und wenn’s nicht wär durch falsche Leut verraten worden, wollt er ihm das Bad gesegnet und ihn ausgerieben haben.

Erster Reiter. Was räsoniert ihr von unserm Bischof? Ich glaub, ihr sucht Händel.

Sievers. Kümmert euch um eure Sachen! Ihr habt an unserm Tisch nichts zu suchen.

Zweiter Reiter. Wer heißt euch von unserm Bischof despektierlich reden?

Sievers. Hab ich euch Red und Antwort zu geben? Seht doch den Fratzen!

Erster Reiter (schlägt ihn hinter die Ohren).

Metzler. Schlag den Hund tot! (Sie fallen übereinander her.)

Zweiter Reiter. Komm her, wenn du ’s Herz hast.

Wirt (reißt sie voneinander). Wollt ihr Ruh haben! Tausend Schwerenot! Schert euch ’naus, wenn ihr was auszumachen habt. In meiner Stub soll’s ehrlich und ordentlich zugehen. (Schiebt die Reiter zur Tür hinaus.) Und ihr Esel, was fanget ihr an?

Metzler. Nur nit viel geschimpft, Hänsel, sonst kommen wir dir über die Glatze. Komm, Kamerad, wollen die draußen bleuen. (Zwei Berlichingsche Reiter kommen.)

Erster Reiter. Was gibt’s da? .

Sievers. Ei guten Tag, Peter! Veit, guten Tag! Woher?

Zweiter Reiter. Daß du dich nit unterstehst zu verraten, wem wir dienen.

Sievers (leise). Da ist euer Herr Götz wohl auch nit weit?

Erster Reiter. Halt dein Maul! Habt ihr Händel?

Sievers. Ihr seid den Kerls begegnet draußen, sind Bamberger.

Erster Reiter. Was tun die hier?

Metzler. Der Weislingen ist droben auf’m Schloß, beim gnädigen Herrn, den haben sie geleit.

Erster Reiter. Der Weislingen?

Zweiter Reiter (leise). Peter! das ist ein gefunden Fressen! (Laut.) Wie lang ist er da?

Metzler. Schon zwei Tage. Aber er will heut noch fort, hört ich einen von den Kerls sagen.

Erster Reiter (leise). Sagt ich dir nicht, er wär daher! Hätten wir dort drüben eine Weile passen können. Komm, Veit.

Sievers. Helft uns doch erst die Bamberger ausprügeln.

Zweiter Reiter. Ihr seid ja auch zu zwei. Wir müssen fort. Adies! (Ab.)

Sievers. Lumpenhunde die Reiter! wann man sie nit bezahlt, tun sie dir keinen Streich.

Metzler. Ich wollt schwören, sie haben einen Anschlag. Wem dienen sie?

Sievers. Ich soll’s nit sagen. Sie dienen dem Götz.

Metzler. So! Nun wollen wir über die draußen. Komm! so lang ich einen Bengel hab, fürcht ich ihre Bratspieße nicht.

Sievers. Dürften wir nur so einmal an die Fürsten, die uns die Haut über die Ohren ziehen.

Herberge im Wald

Götz (vor der Tür unter der Linde). Wo meine Knechte bleiben! Auf und ab muß ich gehen, sonst übermannt mich der Schlaf. Fünf Tag und Nächte schon auf der Lauer. Es wird einem sauer gemacht, das bißchen Leben und Freiheit. Dafür, wenn ich dich habe, Weislingen, will ich mir’s wohl sein lassen. (Schenkt ein.) Wieder leer! Georg! Solang’s daran nicht mangelt und an frischem Mut, lach ich der Fürsten Herrschsucht und Ränke. – Georg! – Schickt ihr nur euern gefälligen Weislingen herum zu Vettern und Gevattern, laßt mich anschwärzen. Nur immer zu. Ich bin wach. Du warst mir entwischt, Bischof! So mag denn dein lieber Weislingen die Zeche bezahlen. – Georg! Hört der Junge nicht? Georg! Georg!

Der Bube (im Panzer eines Erwachsenen). Gestrenger Herr!

Götz. Wo stickst du? Hast du geschlafen? Was zum Henker treibst du für Mummerei? Komm her, du siehst gut aus. Schäm dich nicht, Junge. Du bist brav! Ja, wenn du ihn ausfülltest! Es ist Hansens Küraß?

Georg. Er wollt ein wenig schlafen und schnallt‘ ihn aus.

Götz. Er ist bequemer als sein Herr.

Georg. Zürnt nicht. Ich nahm ihn leise weg und legt ihn an, und holte meines Vaters altes Schwert von der Wand, lief auf die Wiese und zog’s aus.

Götz. Und hiebst um dich herum? Da wird’s den Hecken und Dornen gutgegangen sein. Schläft Hans?

Georg. Auf Euer Rufen sprang er auf und schrie mir, daß Ihr rieft. Ich wollt den Harnisch ausschnallen, da hört ich Euch zwei-, dreimal.

Götz. Geh! bring ihm seinen Panzer wieder und sag ihm, er soll bereit sein, soll nach den Pferden sehen.

Georg. Die hab ich recht ausgefüttert und wieder aufgezäumt. Ihr könnt aufsitzen, wann Ihr wollt.

Götz. Bring mir einen Krug Wein, gib Hansen auch ein Glas, sag ihm, er soll munter sein, es gilt. Ich hoffe jeden Augenblick, meine Kundschafter sollen zurückkommen.

Georg. Ach gestrenger Herr!

Götz. Was hast du?

Georg. Darf ich nicht mit?

Götz. Ein andermal, Georg, wann wir Kaufleute fangen und Fuhren wegnehmen.

Georg. Ein andermal, das habt Ihr schon oft gesagt. O diesmal! diesmal! Ich will nur hintendreinlaufen, nur auf der Seite lauern. Ich will Euch die verschossenen Bolzen wiederholen.

Götz. Das nächstemal, Georg. Du sollst erst ein Wams haben, eine Blechhaube und einen Spieß.

Georg. Nehmt mich mit! Wär ich letzt dabei gewesen, Ihr hättet die Armbrust nicht verloren.

Götz. Weißt du das?

Georg. Ihr warft sie dem Feind an Kopf, und einer von den Fußknechten hob sie auf; weg war sie! Gelt ich weiß?

Götz. Erzählen dir das meine Knechte?

Georg. Wohl. Dafür pfeif ich ihnen auch, wann wir die Pferde striegeln, allerlei Weisen und lerne sie allerlei lustige Lieder.

Götz. Du bist ein braver Junge.

Georg. Nehmt mich mit, daß ich’s zeigen kann!

Götz. Das nächstemal, auf mein Wort. Unbewaffnet wie du bist, sollst du nicht in Streit. Die künftigen Zeiten brauchen auch Männer. Ich sage dir, Knabe, es wird eine teure Zeit werden: Fürsten werden ihre Schätze bieten um einen Mann, den sie jetzt hassen. Geh, Georg, gib Hansen seinen Küraß wieder und bring mir Wein. (Georg ab.) Wo meine Knechte bleiben! Es ist unbegreiflich. Ein Mönch! Wo kommt der noch her? (Bruder Martin kommt.)

Götz. Ehrwürdiger Vater, guten Abend! woher so spät? Mann der heiligen Ruhe, Ihr beschämt viel Ritter.

Martin. Dank Euch, edler Herr! Und bin vor der Hand nur demütiger Bruder, wenn’s ja Titel sein soll. Augustin mit meinem Klosternamen, doch hör ich am liebsten Martin, meinen Taufnamen.

Götz. Ihr seid müde, Bruder Martin, und ohne Zweifel durstig! (Der Bub kommt.) Da kommt der Wein eben recht.

Martin. Für mich einen Trunk Wasser. Ich darf keinen Wein trinken.

Götz. Ist das Euer Gelübde?

Martin. Nein, gnädiger Herr, es ist nicht wider mein Gelübde, Wein zu trinken; weil aber der Wein wider mein Gelübde ist, so trinke ich keinen Wein.

Götz. Wie versteht Ihr das?

Martin. Wohl Euch, daß Ihr’s nicht versteht. Essen und trinken, mein ich, ist des Menschen Leben.

Götz. Wohl!

Martin. Wenn Ihr gegessen und getrunken habt, seid Ihr wie neu geboren; seid stärker, mutiger, geschickter zu Euerm Geschäft. Der Wein erfreut des Menschen Herz, und die Freudigkeit ist die Mutter aller Tugenden. Wenn Ihr Wein getrunken habt, seid Ihr alles doppelt, was Ihr sein sollt, noch einmal so leicht denkend, noch einmal so unternehmend, noch einmal so schnell ausführend.

Götz. Wie ich ihn, trinke, ist es wahr.

Martin. Davon red ich auch. Aber wir – (Georg mit Wasser.)

Götz (zu Georg heimlich). Geh auf den Weg nach Dachsbach, und leg dich mit dem Ohr auf die Erde, ob du nicht Pferde kommen hörst, und sei gleich wieder hier.

Martin. Aber wir, wenn wir gegessen und getrunken haben, sind wir grad das Gegenteil von dem, was wir sein sollen. Unsere schläfrige Verdauung stimmt den Kopf nach dem Magen, und in der Schwäche einer überfüllten Ruhe erzeugen sich Begierden, die ihrer Mutter leicht über den Kopf wachsen.

Götz. Ein Glas, Bruder Martin, wird Euch nicht im Schlaf stören. Ihr seid heute viel gegangen. (Bringt’s ihm.) Alle Streiter!

Martin. In Gottes Namen! (Sie stoßen an.) Ich kann die müßigen Leute nicht ausstehen; und doch kann ich nicht sagen, daß alle Mönche müßig sind; sie tun, was sie können. Da komm ich von St. Veit, wo ich die letzte Nacht schlief. Der Prior führte mich in den Garten; das ist nun ihr Bienenkorb. Vortrefflicher Salat! Kohl nach Herzens Lust! und besonders Blumenkohl und Artischocken, wie keine in Europa!

Götz. Das ist also Eure Sache nicht. (Er steht auf, sieht nach dem Jungen und kommt wieder.)

Martin. Wollte, Gott hätte mich zum Gärtner oder Laboranten gemacht! Ich könnte glücklich sein. Mein Abt liebt mich, mein Kloster ist Erfurt in Sachsen; er weiß, ich kann nicht ruhn; da schickt er mich herum, wo was zu betreiben ist. Ich geh zum Bischof von Konstanz.

Götz. Noch eins! Gute Verrichtung!

Martin. Gleichfalls.

Götz. Was seht Ihr mich so an, Bruder?

Martin. Daß ich in Euern Harnisch verliebt bin.

Götz. Hättet Ihr Lust zu einem? Es ist schwer und beschwerlich ihn zu tragen.

Martin. Was ist nicht beschwerlich auf dieser Welt! und mir kommt nichts beschwerlicher vor, als nicht Mensch sein dürfen. Armut, Keuschheit und Gehorsam – drei Gelübde, deren jedes, einzeln betrachtet, der Natur das Unausstehlichste scheint, so unerträglich sind sie alle. Und sein ganzes Leben unter dieser Last, oder der weit drückendern Bürde des Gewissens mutlos zu keuchen! O Herr! was sind die Mühseligkeiten Eures Lebens, gegen die Jämmerlichkeiten eines Standes, der die besten Triebe, durch die wir werden, wachsen und gedeihen, aus mißverstandener Begierde Gott näher zu rücken, verdammt?

Götz. Wär Euer Gelübde nicht so heilig, ich wollte Euch bereden, einen Harnisch anzulegen, wollt Euch ein Pferd geben, und wir zögen miteinander.

Martin. Wollte Gott, meine Schultern fühlten Kraft, den Harnisch zu ertragen, und mein Arm Stärke, einen Feind vom Pferd zu stechen! – Arme schwache Hand, von jeher gewohnt, Kreuze und Friedensfahnen zu führen und Rauchfässer zu schwingen, wie wolltest du Lanze und Schwert regieren! Meine Stimme, nur zu Ave und Halleluja gestimmt, würde dem Feind ein Herold meiner Schwäche sein, wenn ihn die Eurige überwältigte. Kein Gelübde sollte mich abhalten wieder in den Orden zu treten, den mein Schöpfer selbst gestiftet hat!

Götz. Glückliche Wiederkehr!

Martin. Das trinke ich nur für Euch. Wiederkehr in meinen Käfig ist allemal unglücklich. Wenn Ihr wiederkehrt, Herr, in Eure Mauern, mit dem Bewußtsein Eurer Tapferkeit und Stärke, der keine Müdigkeit etwas anhaben kann, Euch zum erstenmal nach langer Zeit, sicher vor feindlichem Überfall, entwaffnet auf Euer Bette streckt und Euch nach dem Schlaf dehnt, der Euch besser schmeckt als mir der Trunk nach langem Durst: da könnt Ihr von Glück sagen!

Götz. Dafür kommt’s auch selten.

Martin (feuriger). Und ist, wenn’s kommt, ein Vorschmack des Himmels. – Wenn Ihr zurückkehrt, mit der Beute Eurer Feinde beladen, und Euch erinnert: den stach ich vom Pferd, eh er schießen konnte, und den rannt ich samt dem Pferde nieder, und dann reitet Ihr zu Euerm Schloß hinauf, und –

Götz. Was meint Ihr?

Martin. Und Eure Weiber! (Er schenkt ein.) Auf Gesundheit Eurer Frau! (Er wischt sich die Augen.) Ihr habt doch eine?

Götz. Ein edles vortreffliches Weib!

Martin. Wohl dem, der ein tugendsam Weib hat! des lebt er noch eins so lange. Ich kenne keine Weiber, und doch war die Frau die Krone der Schöpfung!

Götz (vor sich). Er dauert mich! Das Gefühl seines Standes frißt ihm das Herz.

Georg (gesprungen). Herr! ich höre Pferde im Galopp! Zwei! Es sind sie gewiß.

Götz. Führ mein Pferd heraus! Hans soll aufsitzen. – Lebt wohl, teurer Bruder, Gott geleit Euch! Seid mutig und geduldig. Gott wird Euch Raum geben.

Martin. Ich bitt um Euern Namen.

Götz. Verzeiht mir. Lebt wohl! (Er reicht ihm die linke Hand.)

Martin. Warum reicht Ihr mir die Linke? Bin ich die ritterliche Rechte nicht wert?

Götz. Und wenn Ihr der Kaiser wärt, Ihr müßtet mit dieser vorliebnehmen. Meine Rechte, obgleich im Kriege nicht unbrauchbar, ist gegen den Druck der Liebe unempfindlich: sie ist eins mit ihrem Handschuh; Ihr seht, er ist Eisen.

Martin. So seid Ihr Götz von Berlichingen! Ich danke dir, Gott, daß du mich ihn hast sehen lassen, diesen Mann, den die Fürsten hassen und zu dem die Bedrängten sich wenden! (Er nimmt ihm die rechte Hand.) Laßt mir diese Hand, laßt mich sie küssen!

Götz. Ihr sollt nicht.

Martin. Laßt mich! Du, mehr wert als Reliquienhand, durch die das heiligste Blut geflossen ist, totes Werkzeug, belebt durch des edelsten Geistes Vertrauen auf Gott!

Götz (setzt den Helm auf und nimmt die Lanze).

Martin. Es war ein Mönch bei uns vor Jahr und Tag, der Euch besuchte, wie sie Euch abgeschossen ward vor Landshut. Wie er uns erzählte, was Ihr littet, und wie sehr es Euch schmerzte, zu Eurem Beruf verstümmelt zu sein, und wie Euch einfiel, von einem gehört zu haben, der auch nur eine Hand hatte und als tapferer Reitersmann doch noch lange diente – ich werde das nie vergessen. (Die zwei Knechte kommen.)

Götz (zu ihnen. Sie reden heimlich).

Martin (fährt inzwischen fort). Ich werde das nie vergessen, wie er im edelsten einfältigsten Vertrauen auf Gott sprach: »Und wenn ich zwölf Händ hätte und deine Gnad wollt mir nicht, was würden sie mir fruchten? So kann ich mit einer« –

Götz. In den Haslacher Wald also. (Kehrt sich zu Martin.) Lebt wohl, werter Bruder Martin. (Küßt ihn.)

Martin. Vergeßt mich nicht, wie ich Euer nicht vergesse. (Götz ab.)

Martin. Wie mir’s so eng ums Herz ward, da ich ihn sah. Er redete nichts, und mein Geist konnte doch den seinigen unterscheiden. Es ist eine Wollust, einen großen Mann zu sehn.

Georg. Ehrwürdiger Herr, Ihr schlaft doch bei uns?

Martin. Kann ich ein Bett haben?

Georg. Nein, Herr! ich kenne Betten nur vom Hörensagen, in unsrer Herberg ist nichts als Stroh.

Martin. Auch gut. Wie heißt du?

Georg. Georg, ehrwürdiger Herr!

Martin. Georg! da hast du einen tapfern Patron.

Georg. Sie sagen, er sei ein Reiter gewesen; das will ich auch sein.

Martin. Warte! (Zieht ein Gebetbuch hervor und gibt dem Buben einen Heiligen.) Da hast du ihn. Folge seinem Beispiel, sei brav und fürchte Gott! (Martin geht.)

Georg. Ach ein schöner Schimmel! wenn ich einmal so einen hätte! – und die goldene Rüstung! – Das ist ein garstiger Drach – Jetzt schieß ich nach Sperlingen – Heiliger Georg! mach mich groß und stark, gib mir so eine Lanze, Rüstung und Pferd, dann laß mir die Drachen kommen!

Jagsthausen. Götzens Burg

Elisabeth. Maria. Karl, sein Söhnchen.

Karl. Ich bitte dich, liebe Tante, erzähl mir das noch einmal vom frommen Kind, ’s is gar zu schön.

Maria. Erzähl du mir’s, kleiner Schelm, da will ich hören, ob du achtgibst.

Karl. Wart e bis, ich will mich bedenken. – Es war einmal – ja – es war einmal ein Kind, und sein Mutter war krank, da ging das Kind hin –

Maria. Nicht doch. Da sagte die Mutter: »Liebes Kind« –

Karl. »Ich bin krank« –

Maria. »Und kann nicht ausgehn« –

Karl. Und gab ihm Geld und sagte. »Geh hin, und hol dir ein Frühstück.« Da kam ein armer Mann –

Maria. Das Kind ging, da begegnet‘ ihm ein alter Mann, der war – nun Karl!

Karl. Der war – alt –

Maria. Freilich! der kaum mehr gehen konnte, und sagte. »Liebes Kind« –

Karl. »Schenk mir was, ich habe kein Brot gessen gestern und heut.« Da gab ihm ’s Kind das Geld –

Maria. Das für sein Frühstück sein sollte.

Karl. Da sagte der alte Mann –

Maria. Da nahm der alte Mann das Kind –

Karl. Bei der Hand, und sagte – und ward ein schöner glänzender Heiliger, und sagte: – »Liebes Kind« –

Maria. »Für deine Wohltätigkeit belohnt dich die Mutter Gottes durch mich: welchen Kranken du an rührst« –

Karl. »Mit der Hand« – es war die rechte, glaub ich.

Maria. Ja.

Karl. »Der wird gleich gesund.«

Maria. Da lief das Kind nach Haus und konnt für Freuden nichts reden.

Karl. Und fiel seiner Mutter um den Hals und weinte für Freuden –

Maria. Da rief die Mutter: »Wie ist mir!« und war – nun Karl!

Karl. Und war – und war –

Maria. Du gibst schon nicht acht! – und war gesund. Und das Kind kurierte König und Kaiser, und wurde so reich, daß es ein großes Kloster bauete.

Elisabeth. Ich kann nicht begreifen, wo mein Herr bleibt. Schon fünf Tag und Nächte, daß er weg ist, und er hoffte so bald seinen Streich auszuführen.

Maria. Mich ängstigt’s lang. Wenn ich so einen Mann haben sollte, der sich immer Gefahren aussetzte, ich stürbe im ersten Jahr.

Elisabeth. Dafür dank ich Gott, daß er mich härter zusammengesetzt hat.

Karl. Aber muß dann der Vater ausreiten, wenn’s so gefährlich ist?

Maria. Es ist sein guter Wille so.

Elisabeth. Wohl muß er, lieber Karl.

Karl. Warum?

Elisabeth. Weißt du noch, wie er das letztemal ausritt, da er dir Weck mitbrachte?

Karl. Bringt er mir wieder mit?

Elisabeth. Ich glaub wohl. Siehst du, da war ein Schneider von Stuttgart, der war ein trefflicher Bogenschütz, und hatte zu Köln auf’m Schießen das Beste gewonnen.

Karl. War’s viel?

Elisabeth. Hundert Taler. Und darnach wollten sie’s ihm nicht geben.

Maria. Gelt, das ist garstig, Karl?

Karl. Garstige Leut!

Elisabeth. Da kam der Schneider zu deinem Vater und bat ihn, er möchte ihm zu seinem Geld verhelfen. Und da ritt er aus und nahm den Kölnern ein paar Kaufleute weg, und plagte sie so lang, bis sie das Geld herausgaben. Wärst du nicht auch ausgeritten?

Karl. Nein! da muß man durch einen dicken, dicken Wald, sind Zigeuner und Hexen drin.

Elisabeth. Ist ein rechter Bursch, fürcht sich vor Hexen!

Maria. Du tust besser, Karl! leb du einmal auf deinem Schloß als ein frommer christlicher Ritter. Auf seinen eigenen Gütern findet man zum Wohltun Gelegenheit genug. Die rechtschaffensten Ritter begehen mehr Ungerechtigkeit als Gerechtigkeit auf ihren Zügen.

Elisabeth. Schwester, du weißt nicht, was du redst. Gebe nur Gott, daß unser Junge mit der Zeit braver wird, und dem Weislingen nicht nachschlägt, der so treulos an meinem Mann handelt.

Maria. Wir wollen nicht richten, Elisabeth. Mein Bruder ist sehr erbittert, du auch. Ich bin bei der ganzen Sache mehr Zuschauer, und kann billiger sein.

Elisabeth. Er ist nicht zu entschuldigen.

Maria. Was ich von ihm gehört, hat mich eingenommen. Erzählte nicht selbst dein Mann so viel Liebes und Gutes von ihm! Wie glücklich war ihre Jugend, als sie zusammen Edelknaben des Markgrafen waren!

Elisabeth. Das mag sein. Nur sag, was kann der Mensch je Gutes gehabt haben, der seinem besten treusten Freunde nachstellt, seine Dienste den Feinden meines Mannes verkauft, und unsern trefflichen Kaiser der uns so gnädig ist, mit falschen widrigen Vorstellungen einzunehmen sucht.

Karl. Der Vater! der Vater! Der Türner bläst ’s Liedel: »Heisa, mach ’s Tor auf.«

Elisabeth. Da kommt er mit Beute. (Ein Reiter kommt.)

Reiter. Wir haben, gejagt! wir haben gefangen! Gott grüß Euch, edle Frauen.

Elisabeth. Habt ihr den Weislingen?

Reiter. Ihn und drei Reiter.

Elisabeth. Wie ging’s zu, daß ihr so lang ausbleibt?

Reiter. Wir lauerten auf ihn zwischen Nürnberg und Bamberg, er wollte nicht kommen, und wir wußten doch, er war auf dem Wege. Endlich kundschaften wir ihn aus: er war seitwärts gezogen, und saß geruhig beim Grafen auf dem Schwarzenberg.

Elisabeth. Den möchten sie auch gern meinem Mann feind haben.

Reiter. Ich sagt’s gleich dem Herrn. Auf! und wir ritten in Haslacher Wald. Und da war’s kurios: wie wir so in die Nacht reiten, hüt just ein Schäfer da, und fallen fünf Wölf in die Herd und packten weidlich an. Da lachte unser Herr und sagte: »Glück zu, liebe Gesellen! Glück überall und uns auch!« Und es freuet‘ uns all das gute Zeichen. Indem so kommt der Weislingen hergeritten mit vier Knechten.

Maria. Das Herz zittert mir im Leibe.

Reiter. Ich und mein Kamerad, wie’s der Herr befohlen hatte, nistelten uns an ihn, als wären wir zusammengewachsen, daß er sich nicht regen noch rühren konnte, und der Herr und der Hans fielen über die Knechte her und nahmen sie in Pflicht. Einer ist entwischt.

Elisabeth. Ich bin neugierig, ihn zu sehn. Kommen sie bald?

Reiter. Sie reiten das Tal herauf, in einer Viertelstund sind sie hier.

Maria. Er wird niedergeschlagen sein.

Reiter. Finster genug sieht er aus.

Maria. Sein Anblick wird mir im Herzen weh tun.

Elisabeth. Ah! – Ich will gleich das Essen zurecht machen. Hungrig werdet ihr doch alle sein.

Reiter. Rechtschaffen.

Elisabeth. Nimm den Kellerschlüssel und hol vom besten Wein! Sie haben ihn verdient. (Ab.)

Karl. Ich will mit, Tante.

Maria. Komm, Bursch. (Ab.)

Reiter. Der wird nicht sein Vater, sonst ging‘ er mit in Stall! (Götz. Weislingen. Reitersknechte.)

Götz (Helm und Schwert auf den Tisch legend). Schnallt mir den Harnisch auf, und gebt mir mein Wams. Die Bequemlichkeit wird mir wohl tun. Bruder Martin, du sagtest recht – Ihr habt uns in Atem erhalten, Weislingen.

Weislingen (antwortet nichts, auf und ab gehend).

Götz. Seid gutes Muts. Kommt, entwaffnet Euch. Wo sind Eure Kleider? Ich hoffe, es soll nichts verlorengegangen sein. (Zum Knecht.) Frag seine Knechte, und öffnet das Gepäcke, und seht zu, daß nichts abhanden komme. Ich könnt Euch auch von den meinigen borgen.

Weislingen. Laßt mich so, es ist all eins.

Götz. Könnt Euch ein hübsches saubres Kleid geben, ist zwar nur leinen. Mir ist’s zu eng worden. Ich hatt’s auf der Hochzeit meines gnädigen Herrn des Pfalzgrafen an, eben damals, als Euer Bischof so giftig über mich wurde. Ich hatt‘ ihm, vierzehn Tag vorher, zwei Schiff auf dem Main niedergeworfen. Und ich geh mit Franzen von Sickingen im Wirtshaus zum Hirsch in Heidelberg die Trepp hinauf. Eh man noch ganz droben ist, ist ein Absatz und ein eisen Geländerlein, da stund der Bischof und gab Franzen die Hand, wie er vorbeiging, und gab sie mir auch, wie ich hintendrein kam. Ich lacht in meinem Herzen, und ging zum Landgrafen von Hanau, der mir gar ein lieber Herr war, und sagte: »Der Bischof hat mir die Hand geben, ich wett, er hat mich nicht gekannt.« Das hört‘ der Bischof, denn ich red’t laut mit Fleiß, und kam zu uns trotzig – und sagte: »Wohl, weil ich Euch nicht kannt hab, gab ich Euch die Hand.« Da sagt ich: »Herre, ich merkt’s wohl, daß Ihr mich nicht kanntet, und hiermit habt Ihr Eure Hand wieder.« Da ward das Männlein so rot am Hals wie ein Krebs vor Zorn und lief in die Stube zu Pfalzgraf Ludwig und dem Fürsten von Nassau und klagt’s ihnen. Wir haben nachher uns oft was drüber zugute getan.

Weislingen. Ich wollt, Ihr ließt mich allein.

Götz. Warum das? Ich bitt Euch, seid aufgeräumt. Ihr seid in meiner Gewalt, und ich werd sie nicht mißbrauchen.

Weislingen. Dafür war mir’s noch nicht bange. Das ist Eure Ritterpflicht.

Götz. Und Ihr wißt, daß die mir heilig ist.

Weislingen. Ich bin gefangen; das übrige ist eins.

Götz. Ihr solltet nicht so reden. Wenn Ihr’s mit Fürsten zu tun hättet, und sie Euch in tiefen Turn an Ketten aufhingen, und der Wächter Euch den Schlaf wegpfeifen müßte! (Die Knechte mit den Kleidern.)

Weislingen (zieht sich aus und an). (Karl kommt.)

Karl. Guten Morgen, Vater!

Götz (küßt ihn). Guten Morgen, Junge. Wie habt ihr die Zeit gelebt?

Karl. Recht geschickt, Vater! Die Tante sagt: ich sei recht geschickt.

Götz. So!

Karl. Hast du mir was mitgebracht?

Götz. Diesmal nicht.

Karl. Ich hab viel gelernt.

Götz. Ei!

Karl. Soll ich dir vom frommen Kind erzählen?

Götz. Nach Tische.

Karl. Ich weiß noch was.

Götz. Was wird das sein?

Karl. Jagsthausen ist ein Dorf und Schloß an der Jagst, gehört seit zweihundert Jahren den Herrn von Berlichingen erb- und eigentümlich zu.

Götz. Kennst du den Herrn von Berlichingen?

Karl (sieht ihn starr an).

Götz (vor sich). Er kennt wohl vor lauter Gelehrsamkeit seinen Vater nicht. – Wem gehört Jagsthausen?

Karl. Jagsthausen ist ein Dorf und Schloß an der Jagst.

Götz. Das frag ich nicht. – Ich kannte alle Pfade, Weg und Furten, eh ich wußte, wie Fluß, Dorf und Burg hieß. – Die Mutter ist in der Küche?

Karl. Ja, Vater! Sie kocht weiße Rüben und ein Lammsbraten.

Götz. Weißt du’s auch, Hans Küchenmeister?

Karl. Und für mich zum Nachtisch hat die Tante einen Apfel gebraten.

Götz. Kannst du sie nicht roh essen?

Karl. Schmeckt so besser.

Götz. Du mußt immer was Apartes haben. – Weislingen! ich bin gleich wieder bei Euch. Ich muß meine Frau doch sehn. Komm mit, Karl.

Karl. Wer ist der Mann?

Götz. Grüß ihn. Bitt ihn, er soll lustig sein.

Karl. Da, Mann! hast du eine Hand, sei lustig, das Essen ist bald fertig.

Weislingen (hebt ihn in die Höh und küßt ihn). Glückliches Kind! das kein Übel kennt, als wenn die Suppe lang ausbleibt. Gott laß Euch viel Freud am Knaben erleben, Berlichingen.

Götz. Wo viel Licht ist, ist starker Schatten – doch wär mir’s willkommen. Wollen sehn, was es gibt. (Sie gehn.)

 

Weislingen. O daß ich aufwachte! und das alles wäre ein Traum! In Berlichingens Gewalt! von dem ich mich kaum losgearbeitet habe, dessen Andenken ich mied wie Feuer, den ich hoffte zu überwältigen! Und er – der alte treuherzige Götz! Heiliger Gott, was will, will aus dem allen werden? Rückgeführt, Adelbert, in den Saal! wo wir als Buben unsere Jagd trieben – da du ihn liebtest, an ihm hingst wie an deiner Seele. Wer kann ihm nahen und ihn hassen? Ach! ich bin so ganz nichts hier! Glückselige Zeiten, ihr seid vorbei, da noch der alte Berlichingen hier am Kamin saß, da wir um ihn durcheinander spielten und uns liebten wie die Engel. Wie wird sich der Bischof ängstigen, und meine Freunde. Ich weiß, das ganze Land nimmt teil an meinem Unfall. Was ist’s! Können sie mir geben, wornach ich strebe?

Götz (mit einer Flasche Wein und Becher). Bis das Essen fertig wird, wollen wir eins trinken. Kommt, setzt Euch, tut, als wenn Ihr zu Hause wärt! Denkt, Ihr seid einmal wieder beim Götz. Haben doch lange nicht beisammengesessen, lang keine Flasche miteinander ausgestochen. (Bringt’s ihm.) Ein fröhlich Herz!

Weislingen. Die Zeiten sind vorbei.

Götz. Behüte Gott! Zwar vergnügtere Tage werden wir wohl nicht wieder finden als an des Markgrafen Hof, da wir noch beisammenschliefen und miteinander umherzogen. Ich erinnere mich mit Freuden meiner Jugend. Wißt Ihr noch, wie ich mit dem Polacken Händel kriegte, dem ich sein gepicht und gekräuselt Haar von ungefähr mit dem Ärmel verwischt?

Weislingen. Es war bei Tische, und er stach nach Euch mit dem Messer.

Götz. Den schlug ich wacker aus dazumal, und darüber wurdet Ihr mit seinem Kameraden zu Unfried. Wir hielten immer redlich zusammen als gute brave Jungen, dafür erkennte uns auch jedermann. (Schenkt ein und bringt’s.) Kastor und Pollux! Mir tat’s immer im Herzen wohl, wenn uns der Markgraf so nannte.

Weislingen. Der Bischof von Würzburg hatte es aufgebracht.

Götz. Das war ein gelehrter Herr, und dabei so leutselig. Ich erinnere mich seiner, so lange ich lebe, wie er uns liebkoste, unsere Eintracht lobte und den Menschen glücklich pries, der ein Zwillingsbruder seines Freundes wäre.

Weislingen. Nichts mehr davon!

Götz. Warum nicht? Nach der Arbeit wüßt ich nichts Angenehmers, als mich des Vergangenen zu erinnern. Freilich, wenn ich wieder so bedenke, wie wir Liebs und Leids zusammen trugen, einander alles waren, und wie ich damals wähnte, so sollt’s unser ganzes Leben sein! War das nicht all mein Trost,, wie mir diese Hand weggeschossen ward vor Landshut, und du mein pflegtest und mehr als Bruder für mich sorgtest? Ich hoffte, Adelbert wird künftig meine rechte Hand sein. Und nun –

Weislingen. Oh!

Götz. Wenn du mir damals gefolgt hättest, da ich dir anlag, mit nach Brabant zu ziehen, es wäre alles gut geblieben. Da hielt dich das unglückliche Hofleben und das Schlenzen und Scherwenzen mit den Weibern. Ich sagt es dir immer, wenn du dich mit den eiteln garstigen Vetteln abgabst und ihnen erzähltest von mißvergnügten Ehen, verführten Mädchen, der rauhen Haut einer Dritten, oder was sie sonst gerne hören: »Du wirst ein Spitzbub«, sagt ich, »Adelbert.«

Weislingen. Wozu soll das alles?

Götz. Wollte Gott, ich könnt’s vergessen, oder es wär anders! Bist du nicht ebenso frei, so edel geboren als einer in Deutschland, unabhängig, nur dem Kaiser untertan, und du schmiegst dich unter Vasallen? Was hast du von dem Bischof? Weil er dein Nachbar ist? dich necken könnte? Hast du nicht Arme und Freunde, ihn wieder zu necken? Verkennst den Wert eines freien Rittersmanns, der nur abhängt von Gott, seinem Kaiser und sich selbst! Verkriechst dich zum ersten Hofschranzen eines eigensinnigen neidischen Pfaffen!

Weislingen. Laßt mich reden.

Götz. Was hast du zu sagen?

Weislingen. Du siehst die Fürsten an, wie der Wolf den Hirten. Und doch, darfst du sie schelten, daß sie ihrer Leut und Länder Bestes wahren? Sind sie denn einen Augenblick vor den ungerechten Rittern sicher, die ihre Untertanen auf allen Straßen anfallen, ihre Dörfer und Schlösser verheeren? Wenn nun auf der andern Seite unsers teuern Kaisers Länder der Gewalt des Erbfeindes ausgesetzt sind, er von den Ständen Hülfe begehrt, und sie sich kaum ihres Lebens erwehren: ist’s nicht ein guter Geist, der ihnen einrät, auf Mittel zu denken, Deutschland zu beruhigen, Recht und Gerechtigkeit zu handhaben, um einen jeden, Großen und Kleinen, die Vorteile des Friedens genießen zu machen? Und uns verdenkst du’s, Berlichingen, daß wir uns in ihren Schutz begeben, deren Hülfe uns nah ist, statt daß die entfernte Majestät sich selbst nicht beschützen kann.

Götz. Ja! ja! Ich versteh! Weislingen, wären die Fürsten, wie Ihr sie schildert, wir hätten alle, was wir begehren. Ruh und Frieden! Ich glaub’s wohl! Den wünscht jeder Raubvogel, die Beute nach Bequemlichkeit zu verzehren. Wohlsein eines jeden! Daß sie sich nur darum graue Haare wachsen ließen! Und mit unserm Kaiser spielen sie auf eine unanständige Art. Er meint’s gut und möcht gern bessern. Da kommt denn alle Tage ein neuer Pfannenflicker und meint so und so. Und weil der Herr geschwind etwas begreift, und nur reden darf, um tausend Hände in Bewegung zu setzen, so denkt er, es wär auch alles so geschwind und leicht ausgeführt. Nun ergehn Verordnungen über Verordnungen, und wird eine über die andere vergessen; und was den Fürsten in ihren Kram dient, da sind sie hinterher, und gloriieren von Ruh und Sicherheit des Reichs, bis sie die Kleinen unterm Fuß haben. Ich will darauf schwören, es dankt mancher in seinem Herzen Gott, daß der Türk dem Kaiser die Waage hält.

Weislingen. Ihr seht’s von Eurer Seite.

Götz. Das tut jeder. Es ist die Frage, auf welcher Licht und Recht ist, und eure Gänge scheuen wenigstens den Tag.

Weislingen. Ihr dürft reden, ich bin der Gefangne.

Götz. Wenn Euer Gewissen rein ist, so seid Ihr frei. Aber wie war’s um den Landfrieden? Ich weiß noch, als ein Bub von sechzehn Jahren war ich mit dem Markgrafen auf dem Reichstag. Was die Fürsten da für weite Mäuler machten, und die Geistlichen am ärgsten. Euer Bischof lärmte dem Kaiser die Ohren voll, als wenn ihm wunder wie! die Gerechtigkeit ans Herz gewachsen wäre; und jetzt wirft er mir selbst einen Buben nieder, zur Zeit da unsere Händel vertragen sind, ich an nichts Böses denke. Ist nicht alles zwischen uns geschlichtet? Was hat er mit dem Buben?

Weislingen. Es geschah ohne sein Wissen.

Götz. Warum gibt er ihn nicht wieder los?

Weislingen. Er hat sich nicht aufgeführt, wie er sollte.

Götz. Nicht wie er sollte? Bei meinem Eid, er hat getan, wie er sollte, so gewiß er mit Eurer und des Bischofs Kundschaft gefangen ist. Meint Ihr, ich komm erst heut auf die Welt, daß ich nicht sehen soll, wo alles hinaus will?

Weislingen. Ihr seid argwöhnisch und tut uns unrecht.

Götz. Weislingen, soll ich von der Leber weg reden? Ich bin euch ein Dorn in den Augen, so klein ich bin, und der Sickingen und Selbitz nicht weniger, weil wir fest entschlossen sind, zu sterben eh, als jemanden die Luft zu verdanken, außer Gott, und unsere Treu und Dienst zu leisten, als dem Kaiser. Da ziehen sie nun um mich herum, verschwärzen mich bei Ihro Majestät und ihren Freunden und meinen Nachbarn, und spionieren nach Vorteil über mich. Aus dem Wege wollen sie mich haben, wie’s wäre. Darum nahmt ihr meinen Buben gefangen, weil ihr wußtet, ich hatt‘ ihn auf Kundschaft ausgeschickt; und darum tat er nicht, was er sollte, weil er mich nicht an euch verriet. Und du, Weislingen, bist ihr Werkzeug!

Weislingen. Berlichingen!

Götz. Kein Wort mehr davon! Ich bin ein Feind von Explikationen; man betriegt sich oder den andern, und meist beide.

Karl. Zu Tisch, Vater.

Götz. Fröhliche Botschaft! – Kommt! ich hoffe, meine Weibsleute sollen Euch munter machen. Ihr wart sonst ein Liebhaber, die Fräulein wußten von Euch zu erzählen. Kommt! (Ab.)

Im bischöflichen Palaste zu Bamberg

Der Speisesaal Bischof von Bamberg. Abt von Fulda. Olearius. Liebetraut. Hofleute.

An Tafel. Der Nachtisch und die großen Pokale werden aufgetragen.

Bischof. Studieren jetzt viele Deutsche von Adel zu Bologna?

Olearius. Vom Adel- und Bürgerstande. Und ohne Ruhm zu melden, tragen sie das größte Lob davon. Man pflegt im Sprichwort auf der Akademie zu sagen: »So fleißig wie ein Deutscher von Adel.« Denn indem die Bürgerlichen einen rühmlichen Fleiß anwenden, durch Talente den Mangel der Geburt zu ersetzen, so bestreben sich jene, mit rühmlicher Wetteiferung, ihre angeborne Würde durch die glänzendsten Verdienste zu erhöhen.

Abt. Ei!

Liebetraut. Sag einer, was man, nicht erlebet. So fleißig wie ein Deutscher von Adel! Das hab ich mein Tage nicht gehört.

Olearius. Ja, sie sind die Bewunderung der ganzen Akademie. Es werden ehestens einige von den ältesten und geschicktesten als Doktores zurückkommen. Der Kaiser wird glücklich sein, die ersten Stellen damit besetzen zu können.

Bischof. Das kann nicht fehlen.

Abt. Kennen Sie nicht zum Exempel einen Junker? – Er ist aus Hessen –

Olearius. Es sind viel Hessen da.

Abt. Er heißt – er ist – Weiß es keiner von euch? – Seine Mutter war eine von – Oh! Sein Vater hatte nur ein Aug – und war Marschall.

Liebetraut. Von Wildenholz?

Abt. Recht – von Wildenholz.

Olearius. Den kenn ich wohl, ein junger Herr von vielen Fähigkeiten. Besonders rühmt man ihn wegen seiner Stärke im Disputieren.

Abt. Das hat er von seiner Mutter.

Liebetraut. Nur wollte sie ihr Mann niemals drum rühmen.

Bischof. Wie sagtet Ihr, daß der Kaiser hieß, der Euer »Corpus Juris« geschrieben hat?

Olearius. Justinianus.

Bischof. Ein trefflicher Herr! er soll leben!

Olearius. Sein Andenken! (Sie trinken.)

Abt. Es mag ein schön Buch sein.

Olearius. Man möcht’s wohl ein Buch aller Bücher nennen; eine Sammlung aller Gesetze; bei jedem Fall der Urteilsspruch bereit; und was ja noch abgängig oder dunkel wäre, ersetzen die Glossen, womit die gelehrtesten Männer das vortrefflichste Werk geschmückt haben.

Abt. Eine Sammlung aller Gesetze! Potz! Da müssen wohl auch die Zehn Gebote drin sein.

Olearius. Implicite wohl, nicht explicite.

Abt. Das mein ich auch, an und vor sich, ohne weitere Explikation.

Bischof. Und was das Schönste ist, so könnte, wie Ihr sagt, ein Reich in sicherster Ruhe und Frieden leben, wo es völlig eingeführt und recht gehandhabt würde.

Olearius. Ohne Frage.

Bischof. Alle Doctores Juris!

Olearius. Ich werd’s zu rühmen wissen. (Sie trinken.) Wollte Gott, man spräche so in meinem Vaterlande!

Abt. Wo seid Ihr her, hochgelahrter Herr?

Olearius. Von Frankfurt am Main, Ihro Eminenz zu dienen.

Bischof. Steht ihr Herrn da nicht wohl angeschrieben? Wie kommt das?

Olearius. Sonderbar genug. Ich war da, meines Vaters Erbschaft abzuholen; der Pöbel hätte mich fast gesteinigt, wie er hörte, ich sei ein Jurist.

Abt. Behüte Gott!

Olearius. Aber das kommt daher: Der Schöppenstuhl, der in großem Ansehn weit umher steht, ist mit lauter Leuten besetzt, die der Römischen Rechte unkundig sind. Man glaubt, es sei genug, durch Alter und Erfahrung sich eine genaue Kenntnis des innern und äußern Zustandes der Stadt zu erwerben. So werden, nach altem Herkommen und wenigen Statuten, die Bürger und die Nachbarschaft gerichtet.

Abt. Das ist wohl gut.

Olearius. Aber lange nicht genug. Der Menschen Leben ist kurz, und in einer Generation kommen nicht alle Kasus vor. Eine Sammlung solcher Fälle von vielen Jahrhunderten ist unser Gesetzbuch. Und dann ist der Wille und die Meinung der Menschen schwankend; dem deucht heute das recht, was der andere morgen mißbilliget; und so ist Verwirrung und Ungerechtigkeit unvermeidlich. Das alles bestimmen die Gesetze; und die Gesetze sind unveränderlich.

Abt. Das ist freilich besser.

Olearius. Das erkennt der Pöbel nicht, der, so gierig er auf Neuigkeiten ist, das Neue höchst verabscheuet, das ihn aus seinem Gleise leiten will, und wenn er sich noch so sehr dadurch verbessert. Sie halten den Juristen so arg, als einen Verwirrer des Staats, einen Beutelschneider, und sind wie rasend, wenn einer dort sich niederzulassen gedenkt.

Liebetraut. Ihr seid von Frankfurt! Ich bin wohl da bekannt. Bei Kaiser Maximilians Krönung haben wir Euern Bräutigams was vorgeschmaust. Euer Name ist Olearius? Ich kenne so niemanden.

Olearius. Mein Vater hieß Öhlmann. Nur, den Mißstand auf dem Titel meiner lateinischen Schriften zu vermeiden, nenn ich mich, nach dem Beispiel und auf Anraten würdiger Rechtslehrer, Olearius.

Liebetraut. Ihr tatet wohl, daß Ihr Euch übersetztet. Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande, es hätt‘ Euch in Eurer Muttersprache auch so gehen können.

Olearius. Es war nicht darum.

Liebetraut. Alle Dinge haben ein paar Ursachen.

Abt. Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande!

Liebetraut. Wißt Ihr auch warum, hochwürdiger Herr?

Abt. Weil er da geboren und erzogen ist.

Liebetraut. Wohl! Das mag die eine Ursache sein. Die andere ist: Weil, bei einer näheren Bekanntschaft mit den Herrn, der Nimbus von Ehrwürdigkeit und Heiligkeit wegschwindet, den uns eine neblichte Ferne um sie herumlügt; und dann sind sie ganz kleine Stümpfchen Unschlitt.

Olearius. Es scheint, Ihr seid dazu bestellt, Wahrheiten. zu sagen.

Liebetraut. Weil ich ’s Herz dazu hab, so fehlt mir’s nicht am Maul.

Olearius. Aber doch an Geschicklichkeit, sie wohl anzubringen.

Liebetraut. Schröpfköpfe sind wohl angebracht, wo sie ziehen.

Olearius. Bader erkennt man an der Schürze und nimmt in ihrem Amte ihnen nichts übel. Zur Vorsorge tätet Ihr wohl, wenn Ihr eine Schellenkappe trügt.

Liebetraut. Wo habt Ihr promoviert? Es ist nur zur Nachfrage, wenn mir einmal der Einfall käme, daß ich gleich vor die rechte Schmiede ginge.

Olearius. Ihr seid verwegen.

Liebetraut. Und Ihr sehr breit. (Bischof und Abt lachen.)

Bischof. Von was anders! – Nicht so hitzig, ihr Herrn. Bei Tisch geht alles drein – Einen andern Diskurs, Liebetraut!

Liebetraut. Gegen Frankfurt liegt ein Ding über, heißt Sachsenhausen –

Olearius (zum Bischof). Was spricht man vom Türkenzug, Ihro Fürstliche Gnaden?

Bischof. Der Kaiser hat nichts Angelegners, als vorerst das Reich zu beruhigen, die Fehden abzuschaffen und das Ansehn der Gerichte zu befestigen. Dann, sagt man, wird er persönlich gegen die Feinde des Reichs und der Christenheit ziehen. Jetzt machen ihm seine Privathändel noch zu tun, und das Reich ist, trotz ein vierzig Landfrieden, noch immer eine Mördergrube. Franken, Schwaben, der Oberrhein und die angrenzenden Länder werden von übermütigen und kühnen Rittern verheeret. Sickingen, Selbitz mit einem Fuß, Berlichingen mit der eisernen Hand spotten in diesen Gegenden des kaiserlichen Ansehens –

Abt. Ja, wenn Ihro Majestät nicht bald dazu tun, so stecken einen die Kerl am End in Sack.

Liebetraut. Das müßt ein Kerl sein, der das Weinfaß von Fuld in den Sack schieben wollte.

Bischof. Besonders ist der letzte seit vielen Jahren mein unversöhnlicher Feind, und molestiert mich unsäglich; aber es soll nicht lang mehr währen, hoff ich. Der Kaiser hält jetzt seinen Hof zu Augsburg. Wir haben unsere Maßregeln genommen, es kann uns nicht fehlen. – Herr Doktor, kennt Ihr Adelberten von Weislingen?

Olearius. Nein, Ihro Eminenz.

Bischof. Wenn Ihr die Ankunft dieses Mannes erwartet, werdet Ihr Euch freuen, den edelsten, verständigsten und angenehmsten Ritter in einer Person zu sehen.

Olearius. Es muß ein vortrefflicher Mann sein, der solche Lobeserhebungen aus solch einem Munde verdient.

Liebetraut. Er ist auf keiner Akademie gewesen.

Bischof. Das wissen wir. (Die Bedienten laufen ans Fenster.) Was gibt’s?

Ein Bedienter. Eben reit Färber, Weislingens Knecht, zum Schloßtor herein.

Bischof. Seht, was er bringt, er wird ihn melden. (Liebetraut geht. Sie stehn auf und trinken noch eins. –

Liebetraut kommt zurück.)

Bischof. Was für Nachrichten?

Liebetraut. Ich wollt, es müßt sie Euch ein andrer sagen. Weislingen ist gefangen.

Bischof. Oh!

Liebetraut. Berlichingen hat ihn und drei Knechte bei Haslach weggenommen. Einer ist entronnen, Euch’s anzusagen.

Abt. Eine Hiobspost.

Olearius. Es tut mir von Herzen leid.

Bischof. Ich will den Knecht sehn, bringt ihn herauf – Ich will ihn selbst sprechen. Bringt ihn in mein Kabinett. (Ab.)

Abt (setzt sich). Noch einen Schluck. (Die Knechte schenken ein.)

Olearius. Belieben Ihro Hochwürden nicht eine kleine Promenade in den Garten zu machen? Post coenam stabis seu passus mille meabis.

Liebetraut. Wahrhaftig, das Sitzen ist Ihnen nicht gesund. Sie kriegen. noch einen Schlagfluß.

Abt (hebt sich auf).

Liebetraut (vor sich). Wann ich ihn nur draußen hab, will ich ihm fürs Exerzitium sorgen. (Gehn ab.)

Jagsthausen

Maria. Weislingen.

Maria. Ihr liebt mich, sagt Ihr. Ich glaub es gerne und hoffe, mit Euch glücklich zu sein und Euch glücklich zu machen.

Weislingen. Ich fühle nichts, als nur daß ich ganz dein bin. (Er umarmt sie.)

Maria. Ich bitte Euch, laßt mich. Einen Kuß hab ich Euch zum Gottespfennig erlaubt; Ihr scheint aber schon von dem Besitz nehmen zu wollen, was nur unter Bedingungen Euer ist.

Weislingen. Ihr seid zu streng, Maria! Unschuldige Liebe erfreut die Gottheit, statt sie zu beleidigen.

Maria. Es sei! Aber ich bin nicht dadurch erbaut. Man lehrte mich: Liebkosungen sein wie Ketten, stark durch ihre Verwandtschaft, und Mädchen, wenn sie liebten, sein schwächer als Simson nach Verlust seiner Locken.

Weislingen. Wer lehrte Euch das?

Maria. Die Äbtissin meines Klosters. Bis in mein sechzehntes Jahr war ich bei ihr, und nur mit Euch empfind ich das Glück, das ich in ihrem Umgang genoß. Sie hatte geliebt und durfte reden. Sie hatte ein Herz voll Empfindung! Sie war eine vortreffliche Frau.

Weislingen. Da glich sie dir! (Er nimmt ihre Hand.) Wie wird mir’s werden, wenn ich Euch verlassen soll!

Maria (zieht ihre Hand zurück). Ein bißchen eng, hoff ich, denn ich weiß, wie’s mir sein wird. Aber Ihr sollt fort.

Weislingen. Ja, meine Teuerste, und ich will. Denn ich fühle, welche Seligkeiten ich mir durch dies Opfer erwerbe. Gesegnet sei dein Bruder, und der Tag, an dem er auszog, mich zu fangen!

Maria. Sein Herz war voll Hoffnung für ihn und dich. »Lebt wohl!« sagt‘ er beim Abschied, »ich will sehen, daß ich ihn wiederfinde.«

Weislingen. Er hat’s. Wie wünscht ich, die Verwaltung meiner Güter und ihre Sicherheit nicht durch das leidige Hofleben so versäumt zu haben! Du könntest gleich die Meinige sein.

Maria. Auch der Aufschub hat seine Freuden.

Weislingen. Sage das nicht, Maria, ich muß sonst fürchten, du empfindest weniger stark als ich. Doch ich büße verdient; und welche Hoffnungen werden mich auf jedem Schritt begleiten! Ganz der Deine zu sein, nur in dir und dem Kreise von Guten zu leben, von der Welt entfernt, getrennt, alle Wonne zu genießen, die so zwei Herzen, einander gewähren! Was ist die Gnade des Fürsten, was der Beifall der Welt gegen diese einfache Glückseligkeit? Ich habe viel gehofft und gewünscht, das widerfährt mir über alles Hoffen und Wünschen. (Götz kommt.)

Götz. Euer Knab ist wieder da. Er konnte vor Müdigkeit und Hunger kaum etwas vorbringen. Meine Frau gibt ihm zu essen. So viel hab ich verstanden: der Bischof will den Knaben nicht herausgeben, es sollen Kaiserliche Kommissarien ernannt und ein Tag ausgesetzt werden, wo die Sache dann verglichen werden mag. Dem sei, wie ihm wolle, Adelbert, Ihr seid frei; ich verlange weiter nichts als Eure Hand, daß Ihr ins künftige meinen Feinden weder öffentlich noch heimlich Vorschub tun wollt.

Weislingen. Hier faß ich Eure Hand. Laßt, von diesem Augenblick an, Freundschaft und Vertrauen, gleich einem ewigen Gesetz der Natur, unveränderlich unter uns sein! Erlaubt mir zugleich, diese Hand zu fassen (er nimmt Mariens Hand) und den Besitz des edelsten Fräuleins.

Götz. Darf ich ja für Euch sagen?

Maria. Wenn Ihr es mit mir sagt.

Götz. Es ist ein Glück, daß unsere Vorteile diesmal miteinander gehn. Du brauchst nicht rot zu werden. Deine Blicke sind Beweis genug. Ja denn, Weislingen! Gebt Euch die Hände, und so sprech ich Amen! – Mein Freund und Bruder! – Ich danke dir, Schwester! Du kannst mehr als Hanf spinnen. Du hast einen Faden gedreht, diesen Paradiesvogel zu fesseln. Du siehst nicht ganz frei, Adelbert! Was fehlt dir? Ich – bin ganz glücklich; was ich nur träumend hoffte, seh ich, und bin wie träumend. Ach! nun ist mein Traum aus. Mir war’s heute nacht, ich gäb dir meine rechte eiserne Hand, und du hieltest mich so fest, daß sie aus den Armschienen ging wie abgebrochen. Ich erschrak und wachte drüber auf. Ich hätte nur fortträumen sollen, da würd ich gesehen haben, wie du mir eine neue lebendige Hand ansetztest – Du sollst mir jetzo fort, dein Schloß und deine Güter in vollkommenen Stand zu setzen. Der verdammte Hof hat dich beides versäumen machen. Ich muß meiner Frau rufen. Elisabeth!

Maria. Mein Bruder ist in voller Freude.

Weislingen. Und doch darf ich ihm den Rang streitig machen.

Götz. Du wirst anmutig wohnen.

Maria. Franken ist ein gesegnetes Land.

Weislingen. Und ich darf wohl sagen, mein Schloß liegt in der gesegnetsten und anmutigsten Gegend.

Götz. Das dürft Ihr, und ich will’s behaupten. Hier fließt der Main, und allmählich hebt der Berg an, der, mit Äckern und Weinbergen bekleidet, von Euerm Schloß gekrönt wird, dann biegt sich der Fluß schnell um die Ecke hinter dem Felsen Eures Schlosses hin. Die Fenster des großen Saals gehen steil herab aufs Wasser, eine Aussicht viel Stunden weit. (Elisabeth kommt.)

Elisabeth. Was schafft ihr?

Götz. Du sollst deine Hand auch dazu geben und sagen: »Gott segne euch!« Sie sind ein Paar.

Elisabeth. So geschwind!

Götz. Aber nicht unvermutet.

Elisabeth. Möget Ihr Euch so immer nach ihr sehnen als bisher, da ihr um sie warbt! Und dann! Möchtet Ihr so glücklich sein, als Ihr sie lieb behaltet!

Weislingen. Amen! Ich begehre kein Glück als unter diesem Titel.

Götz. Der Bräutigam, meine liebe Frau, tut eine kleine Reise; denn die große Veränderung zieht viel geringe nach sich. Er entfernt sich zuerst vom Bischöflichen Hof, um diese Freundschaft nach und nach erkalten zu lassen. Dann reißt er seine Güter eigennützigen Pachtern aus den Händen. Und – kommt, Schwester, komm, Elisabeth! Wir wollen ihn allein lassen. Sein Knab hat ohne Zweifel geheime Aufträge an ihn.

Weislingen. Nichts, als was Ihr wissen dürft.

Götz. Braucht’s nicht. – Franken und Schwaben! Ihr seid nun verschwisterter als jemals. Wie wollen wir den Fürsten den Daumen auf dem Aug halten! (Die drei gehn.)

Weislingen. Gott im Himmel! Konntest du mir Unwürdigem solch eine Seligkeit bereiten? Es ist zu viel für mein Herz. Wie ich von den elenden Menschen abhing, die ich zu beherrschen glaubte, von den Blicken des Fürsten, von dem ehrerbietigen Beifall umher! Götz, teurer Götz, du hast mich mir selbst wiedergegeben, und, Maria, du vollendest meine Sinnesänderung. Ich fühle mich so frei wie in heiterer Luft. Bamberg will ich nicht mehr sehen, will all die schändlichen Verbindungen durchschneiden, die mich unter mir selbst hielten. Mein Herz erweitert sich, hier ist kein beschwerliches Streben nach versagter Größe. So gewiß ist der allein glücklich und groß, der weder zu herrschen noch zu gehorchen braucht, um etwas zu sein! (Franz tritt auf.)

Franz. Gott grüß Euch, gestrenger Herr! Ich bring Euch so viel Grüße, daß ich nicht weiß, wo anzufangen. Bamberg und zehn Meilen in die Runde entbieten Euch ein tausendfaches: Gott grüß Euch!

Weislingen. Willkommen, Franz! Was bringst du mehr?

Franz. Ihr steht in einem Andenken bei Hof und überall, daß es nicht zu sagen. ist.

Weislingen. Das wird nicht lange dauern.

Franz. So lang Ihr lebt! und nach Eurem Tod wird’s heller blinken als die messingenen Buchstaben auf einem Grabstein. Wie man sich Euern Unfall zu Herzen nahm!

Weislingen. Was sagte der Bischof?

Franz. Er war so begierig zu wissen, daß er mit geschäftiger Geschwindigkeit der Fragen meine Antwort verhinderte. Er wußt es zwar schon; denn Färber, der von Haslach entrann, brachte ihm die Botschaft. Aber er wollte alles wissen. Er fragte so ängstlich, ob Ihr nicht versehrt wäret? Ich sagte: »Er ist ganz, von der äußersten Haarspitze bis zum Nagel des kleinen Zehs.«

Weislingen. Was sagte er zu den Vorschlägen?

Franz. Er wollte gleich alles herausgeben, den Knaben und noch Geld darauf, nur Euch zu befreien. Da er aber hörte, Ihr solltet ohne das loskommen und nur Euer Wort das Äquivalent gegen den. Buben sein, da wollte er absolut den Berlichingen vertagt haben. Er sagte mir hundert Sachen an Euch – ich hab sie wieder vergessen. Es war eine lange Predigt über die Worte: »Ich kann Weislingen nicht entbehren.«

Weislingen. Er wird’s lernen müssen!

Franz. Wie meint Ihr? Er sagte: »Mach ihn eilen, es wartet alles auf ihn.«

Weislingen. Es kann warten. Ich gehe nicht nach Hof.

Franz. Nicht nach Hof? Herr! Wie kommt Euch das? Wenn Ihr wüßtet, was ich weiß. Wenn Ihr nur träumen könntet, was ich gesehen habe.

Weislingen. Wie wird dir’s?

Franz. Nur von der bloßen Erinnerung komm ich außer mir. Bamberg ist nicht mehr Bamberg, ein Engel in Weibesgestalt macht es zum Vorhofe des Himmels.

Weislingen. Nichts weiter?

Franz. Ich will ein Pfaff werden, wenn Ihr sie sehet und nicht außer Euch kommt.

Weislingen. Wer ist’s denn?

Franz. Adelheid von Walldorf.

Weislingen. Die! Ich habe viel von ihrer Schönheit gehört.

Franz. Gehört? Das ist eben, als wenn Ihr sagtet: »Ich hab die Musik gesehen.« Es ist der Zunge so wenig möglich, eine Linie ihrer Vollkommenheiten auszudrücken, da das Aug sogar in ihrer Gegenwart sich nicht selbst genug ist.

Weislingen. Du bist nicht gescheit.

Franz. Das kann wohl sein. Das letztemal, da ich sie sahe, hatte ich nicht mehr Sinne als ein Trunkener. Oder vielmehr, kann ich sagen, ich fühlte in dem Augenblick, wie’s den Heiligen bei himmlischen Erscheinungen sein mag. Alle Sinne stärker, höher, vollkommener, und doch den Gebrauch von keinem.

Weislingen. Das ist seltsam.

Franz. Wie ich von dem Bischof Abschied nahm, saß sie bei ihm. Sie spielten Schach. Er war sehr gnädig, reichte mir seine Hand zu küssen, und sagte mir vieles, davon ich nichts vernahm. Denn ich sah seine Nachbarin, sie hatte ihr Auge aufs Brett geheftet, als wenn sie einem großen Streich nachsänne. Ein feiner lauernder Zug um Mund und Wange! Ich hätt‘ der elfenbeinerne König sein mögen. Adel und Freundlichkeit herrschten auf ihrer Stirn. Und das blendende Licht des Angesichts und des Busens, wie es von den finstern Haaren erhoben ward!

Weislingen. Du bist drüber gar zum Dichter geworden.

Franz. So fühl ich denn in dem Augenblick, was den Dichter macht, ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz! Wie der Bischof endigte und ich mich neigte, sah sie mich an und sagte: »Auch von mir einen Gruß unbekannterweise! Sag ihm, er mag ja bald kommen. Es warten neue Freunde auf ihn; er soll sie nicht verachten, wenn er schon an alten so reich ist.« – Ich wollte was antworten, aber der Paß vom Herzen nach der Zunge war versperrt, ich neigte mich. Ich hätte mein Vermögen gegeben, die Spitze ihres kleinen Fingers küssen zu dürfen! Wie ich so stund, warf der Bischof einen Bauern herunter, ich fuhr darnach und rührte im Aufheben den Saum ihres Kleides, das fuhr mir durch alle Glieder, und ich weiß nicht, wie ich zur Tür hinausgekommen bin.

Weislingen. Ist ihr Mann bei Hofe?

Franz. Sie ist schon vier Monat Witwe. Um sich zu zerstreuen, hält sie sich in Bamberg auf. Ihr werdet sie sehen. Wenn sie einen ansieht, ist’s, als wenn man in der Frühlingssonne stünde.

Weislingen. Es würde eine schwächere Wirkung auf mich haben.

Franz. Ich höre, Ihr seid so gut als verheiratet.

Weislingen. Wollte, ich wär’s. Meine sanfte Marie wird das Glück meines Lebens machen. Ihre süße Seele bildet sich in ihren blauen Augen. Und weiß wie ein Engel des Himmels, gebildet aus Unschuld und Liebe, leitet sie mein Herz zur Ruhe und Glückseligkeit. Pack zusammen! und dann auf mein Schloß! Ich will Bamberg nicht sehen, und wenn Sankt Veit in Person meiner begehrte. (Geht ab.)

Franz. Da sei Gott vor! Wollen das Beste hoffen! Maria ist liebreich und schön, und einem Gefangenen und Kranken kann ich’s nicht übelnehmen, der sich in sie verliebt. In ihren Augen ist Trost, gesellschaftliche Melancholie. – Aber um dich, Adelheid, ist Leben, Feuer, Mut – Ich würde! – Ich bin ein Narr – dazu machte mich ein Blick von ihr. Mein Herr muß hin! Ich muß hin! Und da will ich mich wieder gescheit oder völlig rasend gaffen.

II. Akt

Bamberg. Ein Saal

Bischof, Adelheid spielen Schach. Liebetraut mit einer Zither. Frauen, Hofleute um ihn herum am Kamin.

Liebetraut (spielt und singt).

Mit Pfeilen und Bogen

Cupido geflogen,

Die Fackel in Brand,

Wollt mutilich kriegen

Und männilich siegen

Mit stürmender Hand.

Auf! Auf!

An! An!

Die Waffen erklirrten,

Die Flügelein schwirrten,

Die Augen entbrannt. Da fand er die Busen

Ach leider so bloß,

Sie nahmen so willig

Ihn all auf den Schoß.

Er schüttet‘ die Pfeile

Zum Feuer hinein,

Sie herzten und drückten

Und wiegten ihn ein.

Hei ei o! Popeio!

Adelheid. Ihr seid nicht bei Eurem Spiele. Schach dem König!

Bischof. Es ist noch Auskunft.

Adelheid. Lange werdet Ihr’s nicht mehr treiben. Schach dem König!

Liebetraut. Dies Spiel spielt ich nicht, wenn ich ein großer Herr wär, und verböt’s am Hofe und im ganzen Land.

Adelheid. Es ist wahr, dies Spiel ist ein Probierstein des Gehirns.

Liebetraut. Nicht darum! Ich wollte lieber das Geheul der Totenglocke und ominöser Vögel, lieber das Gebell des knurrischen Hofhunds Gewissen, lieber wollt ich sie durch den tiefsten Schlaf hören, als von Laufern, Springern und andern Bestien das ewige: »Schach dem König!«

Bischof. Wem wird auch das einfallen!

Liebetraut. Einem zum Exempel, der schwach wäre und ein stark Gewissen hätte, wie denn das meistenteils beisammen ist. Sie nennen’s ein königlich Spiel und sagen, es sei für einen König erfunden worden, der den Erfinder mit einem Meer von Überfluß belohnt habe. Wenn das wahr ist, so ist mir’s, als wenn ich ihn sähe. Er war minorenn an Verstand oder an Jahren, unter der Vormundschaft seiner Mutter oder seiner Frau, hatte Milchhaare im Bart und Flachshaare um die Schläfe, er war so gefällig wie ein Weidenschößling und spielte gern Dame und mit den Damen, nicht aus Leidenschaft, behüte Gott! nur zum Zeitvertreib. Sein Hofmeister, zu tätig, um ein Gelehrter, zu unlenksam, ein Weltmann zu sein, erfand das Spiel in usum Delphini, das so homogen mit Seiner Majestät war – und so ferner.

Adelheid. Matt! Ihr solltet die Lücken unsrer Geschichtsbücher ausfüllen, Liebetraut. (Sie stehen auf.)

Liebetraut. Die Lücken unsrer Geschlechtsregister, das wäre profitabler. Seitdem die Verdienste unserer Vorfahren mit ihren Porträts zu einerlei Gebrauch dienen, die leeren Seiten nämlich unsrer Zimmer und unsers Charakters zu tapezieren; da wäre was zu verdienen.

Bischof. Er will nicht kommen, sagtet Ihr!

Adelheid. Ich bitt Euch, schlagt’s Euch aus dem Sinn.

Bischof. Was das sein mag?

Liebetraut. Was? Die Ursachen lassen sich herunterbeten wie ein Rosenkranz. Er ist in eine Art von Zerknirschung gefallen, von der ich ihn leicht kurieren wollt.

Bischof. Tut das, reitet zu ihm.

Liebetraut. Meinen Auftrag!

Bischof. Er soll unumschränkt sein. Spare nichts, wenn du ihn zurückbringst.

Liebetraut. Darf ich Euch auch hineinmischen, gnädige Frau?

Adelheid. Mit Bescheidenheit.

Liebetraut. Das ist eine weitläufige Kommission.

Adelheid. Kennt Ihr mich so wenig, oder seid Ihr so jung, um nicht zu wissen, in welchem Ton Ihr mit Weislingen von mir zu reden habt?

Liebetraut. Im Ton einer Wachtelpfeife, denk ich.

Adelheid. Ihr werdet nie gescheit werden!

Liebetraut. Wird man das, gnädige Frau?

Bischof. Geht, geht. Nehmt das beste Pferd aus meinem Stall, wählt Euch Knechte, und schafft mir ihn her!

Liebetraut. Wenn ich ihn nicht herbanne, so sagt: ein altes Weib, das Warzen und Sommerflecken vertreibt, verstehe mehr von der Sympathie als ich.

Bischof. Was wird das helfen! Berlichingen hat ihn ganz eingenommen. Wenn er herkommt, wird er wieder fort wollen.

Liebetraut. Wollen, das ist keine Frage, aber ob er kann. Der Händedruck eines Fürsten, und das Lächeln einer schönen Frau! Da reißt sich kein Weisling los. Ich eile und empfehle mich zu Gnaden.

Bischof. Reist wohl.

Adelheid. Adieu. (Er geht.)

Bischof. Wenn er einmal hier ist, verlaß ich mich auf Euch.

Adelheid. Wollt Ihr mich zur Leimstange brauchen?

Bischof. Nicht doch.

Adelheid. Zum Lockvogel denn?

Bischof. Nein, den spielt Liebetraut. Ich bitt Euch, versagt mir nicht, was mir sonst niemand gewähren kann.

Adelheid. Wollen sehn.

Jagsthausen

Hans von Selbitz. Götz.

Selbitz. Jedermann wird Euch loben, daß Ihr denen von Nürnberg Fehd angekündigt habt.

Götz. Es hätte mir das Herz abgefressen, wenn ich’s ihnen hätte lang schuldig bleiben sollen. Es ist am Tag, sie haben den Bambergern meinen Buben verraten. Sie sollen an mich denken!

Selbitz. Sie haben einen alten Groll gegen Euch.

Götz. Und ich wider sie; mir ist gar recht, daß sie angefangen haben.

Selbitz. Die Reichsstädte und Pfaffen halten doch von jeher zusammen.

Götz. Sie haben’s Ursach.

Selbitz. Wir wollen ihnen die Hölle heiß machen.

Götz. Ich zählte auf Euch. Wollte Gott, der Burgemeister von Nürnberg, mit der güldenen Kett um den Hals, käm uns in Wurf, er sollt sich mit all seinem Witz verwundern.

Selbitz. Ich höre, Weislingen ist wieder auf Eurer Seite. Tritt er zu uns?

Götz. Noch nicht; es hat seine Ursachen, warum er uns noch nicht öffentlich Vorschub tun darf; doch ist’s eine Weile genug, daß er nicht wider uns ist. Der Pfaff ist ohne ihn, was das Meßgewand ohne den Pfaffen.

Selbitz. Wann ziehen wir aus?

Götz. Morgen oder übermorgen. Es kommen nun bald Kaufleute von Bamberg und Nürnberg aus der Frankfurter Messe. Wir werden einen guten Fang tun.

Selbitz. Will’s Gott. (Ab.)

Bamberg. Zimmer der Adelheid

Adelheid. Kammerfräulein.

Adelheid. Er ist da! sagst du. Ich glaub es kaum.

Fräulein. Wenn ich ihn nicht selbst gesehn hätte, würd ich sagen, ich zweifle.

Adelheid. Den Liebetraut mag der Bischof in Gold einfassen: er hat ein Meisterstück gemacht.

Fräulein. Ich sah ihn, wie er zum Schloß hereinreiten wollte, er saß auf einem Schimmel. Das Pferd scheute, wie’s an die Brücke kam, und wollte nicht von der Stelle. Das Volk war aus allen Straßen gelaufen, ihn zu sehn. Sie freuten sich über des Pferds Unart. Von allen Seiten ward er gegrüßt, und er dankte allen. Mit einer angenehmen Gleichgültigkeit saß er droben, und mit Schmeicheln und Drohen bracht er es endlich zum Tor herein, der Liebetraut mit, und wenig Knechte.

Adelheid. Wie gefällt er dir?

Fräulein. Wie mir nicht leicht ein Mann gefallen hat. Er glich dem Kaiser hier (deutet auf Maximilians Porträt), als wenn er sein Sohn wäre. Die Nase nur etwas kleiner, ebenso freundliche lichtbraune Augen, ebenso ein blondes schönes Haar, und gewachsen wie eine Puppe. Ein halb trauriger Zug auf seinem Gesicht – ich weiß nicht – gefiel mir so wohl!

Adelheid. Ich bin neugierig, ihn zu sehen.

Fräulein. Das wär ein Herr für Euch.

Adelheid. Närrin!

Fräulein. Kinder und Narren – (Liebetraut kommt.)

Liebetraut. Nun, gnädige Frau, was verdien ich?

Adelheid. Hörner von deinem Weibe. Denn nach dem zu rechnen, habt Ihr schon manches Nachbars ehrliches Hausweib aus ihrer Pflicht hinausgeschwatzt.

Liebetraut. Nicht doch, gnädige Frau! Auf ihre Pflicht, wollt Ihr sagen; denn wenn’s ja geschah, schwatzt ich sie auf ihres Mannes Bette.

Adelheid. Wie habt Ihr’s gemacht, ihn herzubringen?

Liebetraut. Ihr wißt zu gut, wie man Schnepfen fängt; soll ich Euch meine Kunststückchen noch dazu lehren? – Erst tat ich, als wüßt ich nichts, verstünd nichts von seiner Aufführung, und setzt ihn dadurch in den Nachteil, die ganze Historie zu erzählen. Die sah ich nun gleich von einer ganz andern Seite an als er, konnte nicht finden – nicht einsehen – und so weiter. Dann redete ich von Bamberg allerlei durcheinander, Großes und Kleines, erweckte gewisse alte Erinnerungen, und wie ich seine Einbildungskraft beschäftigt hatte, knüpfte ich wirklich eine Menge Fädchen wieder an, die ich zerrissen fand. Er wußte nicht, wie ihm geschah, fühlte einen neuen Zug nach Bamberg, er wollte – ohne zu wollen. Wie er nun in sein Herz ging und das zu entwickeln suchte, und viel zu sehr mit sich beschäftigt war, um auf sich achtzugeben, warf ich ihm ein Seil um den Hals, aus drei mächtigen Stricken, Weiber-, Fürstengunst und Schmeichelei, gedreht, und so hab ich ihn hergeschleppt.

Adelheid. Was sagtet Ihr von mir?

Liebetraut. Die lautre Wahrheit. Ihr hättet wegen Eurer Güter Verdrießlichkeiten – hättet gehofft, da er beim Kaiser so viel gelte, werde er das leicht enden können.

Adelheid. Wohl.

Liebetraut. Der Bischof wird ihn Euch bringen.

Adelheid. Ich erwarte sie. (Liebetraut ab.) Mit einem Herzen, wie ich selten Besuch erwarte.

Im Spessart

Berlichingen. Selbitz. Georg als Reitersknecht.

Götz. Du hast ihn nicht angetroffen, Georg!

Georg. Er war tags vorher mit Liebetraut nach Bamberg geritten und zwei Knechte mit.

Götz. Ich seh nicht ein, was das geben soll.

Selbitz. Ich wohl. Eure Versöhnung war ein wenig zu schnell, als daß sie dauerhaft hätte sein sollen. Der Liebetraut ist ein pfiffiger Kerl; von dem hat er sich beschwätzen lassen.

Götz. Glaubst du, daß er bundbrüchig werden wird?

Selbitz. Der erste Schritt ist getan.

Götz. Ich glaub’s nicht. Wer weiß, wie nötig es war, an Hof zu gehen; man ist ihm noch schuldig; wir wollen das Beste hoffen.

Selbitz. Wollte Gott, er verdient‘ es und täte das Beste!

Götz. Mir fällt eine List ein. Wir wollen Georgen des Bamberger Reiters erbeuteten Kittel anziehen und ihm das Geleitzeichen geben; er mag nach Bamberg reiten und sehen, wie’s steht.

Georg. Da hab ich lange drauf gehofft.

Götz. Es ist dein erster Ritt. Sei vorsichtig, Knabe! Mir wäre leid, wenn dir ein Unfall begegnen sollt.

Georg. Laßt nur, mich irrt’s nicht, wenn noch so viel um mich herumkrabbeln, mir ist’s, als wenn’s Ratten und Mäuse wären. (Ab.)

Bamberg

Bischof. Du willst dich nicht länger halten lassen!

Weislingen. Ihr werdet nicht verlangen, daß ich meinen Eid brechen soll.

Bischof. Ich hätte verlangen können, du solltest ihn nicht schwören. Was für ein Geist regierte dich? Konnt ich dich ohne das nicht befreien? Gelt ich so wenig am Kaiserlichen Hofe?

Weislingen. Es ist geschehen; verzeiht mir, wenn Ihr könnt.

Bischof. Ich begreif nicht, was nur im geringsten dich nötigte, den Schritt zu tun! Mir zu entsagen? Waren denn nicht hundert andere Bedingungen, loszukommen? Haben wir nicht seinen Buben? Hätt ich nicht Gelds genug gegeben und ihn wieder beruhigt? Unsere Anschläge auf ihn und seine Gesellen wären fortgegangen – Ach ich denke nicht, daß ich mit seinem Freunde rede, der nun wider mich arbeitet und die Minen leicht entkräften kann, die er selbst gegraben hat.

Weislingen. Gnädiger Herr!

Bischof. Und doch – wenn ich wieder dein Angesicht sehe, deine Stimme höre. Es ist nicht möglich, nicht möglich.

Weislingen. Lebt wohl, gnädiger Herr.

Bischof. Ich gebe dir meinen Segen. Sonst, wenn du gingst, sagt ich: »Auf Wiedersehn!« Jetzt – Wollte Gott, wir sähen einander nie wieder!

Weislingen. Es kann sich vieles ändern.

Bischof. Vielleicht seh ich dich noch einmal, als Feind vor meinen Mauern, die Felder verheeren, die ihren blühenden Zustand dir jetzo danken.

Weislingen. Nein, gnädiger Herr.

Bischof. Du kannst nicht nein sagen. Die weltlichen Stände, meine Nachbarn, haben alle einen Zahn auf mich. Solang ich dich hatte – Geht, Weislingen! Ich habe Euch nichts mehr zu sagen. Ihr habt vieles zunichte gemacht. Geht!

Weislingen. Und ich weiß nicht, was ich sagen soll. (Bischof ab. – Franz tritt auf.)

Franz. Adelheid erwartet Euch. Sie ist nicht wohl. Und doch will sie Euch ohne Abschied nicht lassen.

Weislingen. Komm.

Franz. Gehn wir denn gewiß?

Weislingen. Noch diesen Abend. –

Franz. Mir ist, als wenn ich aus der Welt sollte.

Weislingen. Mir auch, und noch darzu, als wüßt ich nicht wohin.

Adelheidens Zimmer

Adelheid. Fräulein.

Fräulein. Ihr seht blaß, gnädige Frau.

Adelheid. – Ich lieb ihn nicht, und wollte doch, daß er bliebe. Siehst du, ich könnte mit ihm leben, ob ich ihn gleich nicht zum Manne haben möchte.

Fräulein. Glaubt Ihr, er geht?

Adelheid. Er ist zum Bischof, um Lebewohl zu sagen.

Fräulein. Er hat darnach noch einen schweren Stand.

Adelheid. Wie meinst du?

Fräulein. Was fragt Ihr, gnädige Frau? Ihr habt sein Herz geangelt, und wenn er sich losreißen will, verblutet er. (Adelheid. Weislingen.)

Weislingen. Ihr seid nicht wohl, gnädige Frau?

Adelheid. Das kann Euch einerlei sein. Ihr verlaßt uns, verlaßt uns auf immer. Was fragt Ihr, ob wir leben oder sterben.

Weislingen. Ihr verkennt mich.

Adelheid. Ich nehme Euch, wie Ihr Euch gebt.

Weislingen. Das Ansehn trügt.

Adelheid. So seid Ihr ein Chamäleon?

Weislingen. Wenn Ihr mein Herz sehen könntet!

Adelheid. Schöne Sachen würden mir vor die Augen kommen.

Weislingen. Gewiß! Ihr würdet Euer Bild drin finden.

Adelheid. In irgendeinem Winkel bei den Porträten ausgestorbener Familien. Ich bitt Euch, Weislingen, bedenkt, Ihr redet mit mir. Falsche Worte gelten zum höchsten, wenn sie Masken unserer Taten sind. Ein Vermummter, der kenntlich ist, spielt eine armselige Rolle. Ihr leugnet Eure Handlungen nicht und redet das Gegenteil; was soll man von Euch halten?

Weislingen. Was Ihr wollt. Ich bin so geplagt mit dem, was ich bin, daß mir wenig bang ist, für was man mich nehmen mag.

Adelheid. Ihr kommt, um Abschied zu nehmen.

Weislingen. Erlaubt mir, Eure Hand zu küssen, und ich will sagen. Lebt wohl. Ihr erinnert mich! Ich bedachte nicht – Ich bin beschwerlich, gnädige Frau.

Adelheid. Ihr legt’s falsch aus: ich wollte Euch forthelfen; denn Ihr wollt fort.

Weislingen. O sagt: ich muß. Zöge mich nicht die Ritterpflicht, der heilige Handschlag –

Adelheid. Geht! Geht! Erzählt das Mädchen, die den »Theuerdank« lesen und sich so einen Mann wünschen. Ritterpflicht! Kinderspiel!

Weislingen. Ihr denkt nicht so.

Adelheid. Bei meinem Eid, Ihr verstellt Euch! Was habt Ihr versprochen? Und wem? Einem Mann, der seine Pflicht gegen den Kaiser und das Reich verkennt, in eben dem Augenblick Pflicht zu leisten, da er durch Eure Gefangennehmung in die Strafe der Acht verfällt. Pflicht zu leisten! die nicht gültiger sein kann als ungerechter gezwungener Eid. Entbinden nicht unsere Gesetze von solchen Schwüren? Macht das Kindern weis, die den Rübezahl glauben. Es stecken andere Sachen dahinter. Ein Feind des Reichs zu werden, ein Feind der bürgerlichen Ruh und Glückseligkeit! Ein Feind des Kaisers! Geselle eines Räubers! du, Weislingen, mit deiner sanften Seele!

Weislingen. Wenn Ihr ihn kenntet –

Adelheid. Ich wollt ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat eine hohe unbändige Seele. Eben darum wehe dir, Weislingen! Geh und bilde dir ein, Geselle von ihm zu sein. Geh! und laß dich beherrschen. Du bist freundlich, gefällig –

Weislingen. Er ist’s auch.

Adelheid. Aber du bist nachgebend und er nicht! Unversehens wird er dich wegreißen, du wirst ein Sklave eines Edelmanns werden, da du Herr von Fürsten sein könntest. – Doch es ist Unbarmherzigkeit, dir deinen zukünftigen Stand zu verleiden.

Weislingen. Hättest du gefühlt, wie liebreich er mir begegnete.

Adelheid. Liebreich! Das rechnest du ihm an? Es war seine Schuldigkeit; und was hättest du verloren, wenn er widerwärtig gewesen wäre? Mir hätte das willkommner sein sollen. Ein übermütiger Mensch wie der –

Weislingen. Ihr redet von Euerm Feind.

Adelheid. Ich redete für Eure Freiheit – Und weiß überhaupt nicht, was ich vor einen Anteil dran nehme. Lebt wohl.

Weislingen. Erlaubt noch einen Augenblick. (Er nimmt ihre Hand und schweigt.)

Adelheid. Habt Ihr mir noch was zu sagen?

Weislingen. – – Ich muß fort.

Adelheid. So geht.

Weislingen. Gnädige Frau! – Ich kann nicht.

Adelheid. Ihr müßt.

Weislingen. Soll das Euer letzter Blick sein?

Adelheid. Geht, ich bin krank, sehr zur ungelegnen Zeit.

Weislingen. Seht mich nicht so an.

Adelheid. Willst du unser Feind sein, und wir sollen dir lächeln? Geh!

Weislingen. Adelheid!

Adelheid. Ich hasse Euch! (Franz kommt.)

Franz. Gnädiger Herr! Der Bischof läßt Euch rufen.

Adelheid. Geht! Geht!

Franz. Er bittet Euch, eilend zu kommen.

Adelheid. Geht! Geht!

Weislingen. Ich nehme nicht Abschied, ich sehe Euch wieder! (Ab.)

Adelheid. Mich wieder? Wir wollen dafür sein. Margarete, wenn er kommt, weis ihn ab. Ich bin krank, habe Kopfweh, ich schlafe – Weis ihn ab. Wenn er noch zu gewinnen ist, so ist’s auf diesem Wege. (Ab.)

Vorzimmer

Weislingen. Franz.

Weislingen. Sie will mich nicht sehn?

Franz. Es wird Nacht, soll ich die Pferde satteln?

Weislingen. Sie will mich nicht sehn?

Franz. Wann befehlen Ihro Gnaden die Pferde?

Weislingen. Es ist zu spät! Wir bleiben hier.

Franz. Gott sei Dank! (Ab.)

Weislingen. Du bleibst! Sei auf, deiner Hut, die Versuchung ist groß. Mein Pferd scheute, wie ich zum Schloßtor herein wollte, mein guter Geist stellte sich ihm entgegen, er kannte die Gefahren, die mein hier warteten. – Doch ist’s nicht recht, die vielen Geschäfte, die ich dem Bischof unvollendet liegen ließ, nicht wenigstens so zu ordnen, daß ein Nachfolger da anfangen kann, wo ich’s gelassen habe. Das kann ich doch alles tun, unbeschadet Berlichingen und unserer Verbindung. Denn halten sollen sie mich hier nicht. – Wäre doch besser gewesen, wenn ich nicht gekommen wäre. Aber ich will fort – morgen oder übermorgen. (Geht ab.)

Im Spessart

Götz. Selbitz. Georg.

Selbitz. Ihr seht, es ist gegangen, wie ich gesagt habe.

Götz. Nein! Nein! Nein!

Georg. Glaubt, ich berichte Euch mit der Wahrheit. Ich tat, wie Ihr befahlt, nahm den Kittel des Bambergischen und sein Zeichen, und damit ich doch mein Essen und Trinken verdiente, geleitete ich Reineckische Bauern hinauf nach Bamberg.

Selbitz. In der Verkappung? Das hätte dir übel geraten können.

Georg. So denk ich auch hintendrein. Ein Reitersmann, der das voraus denkt, wird keine weiten Sprünge machen. Ich kam nach Bamberg, und gleich im Wirtshaus hörte ich erzählen: Weislingen und der Bischof seien ausgesöhnt, und man redte viel von einer Heirat mit der Witwe des von Walldorf.

Götz. Gespräche.

Georg. Ich sah ihn, wie er sie zur Tafel führte. Sie ist schön, bei meinem Eid, sie ist schön. Wir bückten uns alle, sie dankte uns allen, er nickte mit dem Kopf, sah sehr vergnügt, sie gingen vorbei, und das Volk murmelte: »Ein schönes Paar!«

Götz. Das kann sein.

Georg. Hört weiter. Da er des andern Tags in die Messe ging, paßt ich meine Zeit ab. Er war allein mit einem Knaben. Ich stund unten an der Treppe und sagte leise zu ihm: »Ein paar Worte von Euerm Berlichingen.« Er ward bestürzt; ich sahe das Geständnis seines Lasters in seinem Gesicht, er hatte kaum das Herz, mich anzusehen, mich, einen schlechten Reitersjungen.

Selbitz. Das macht, sein Gewissen war schlechter als dein Stand.

Georg. »Du bist Bambergisch?« sagt‘ er. – »Ich bring einen Gruß vom Ritter Berlichingen«, sagt ich, »und soll fragen -« – »Komm morgen früh«, sagt‘ er, »an mein Zimmer, wir wollen weiterreden.«

Götz. Kamst du?

Georg. Wohl kam ich, und mußt im Vorsaal stehn, lang, lang. Und die seidnen Buben beguckten mich von vorn und hinten. Ich dachte, guckt ihr – Endlich führte man mich hinein, er schien böse, mir war’s einerlei. Ich trat zu ihm und legte meine Kommission ab. Er tat feindlich böse, wie einer, der kein Herz hat und ’s nit will merken lassen. Er verwunderte sich, daß Ihr ihn durch einen Reitersjungen zur Rede setzen ließt. Das verdroß mich. Ich sagte, es gäbe nur zweierlei Leut, brave und Schurken, und ich diente Götzen von Berlichingen. Nun fing er an, schwatzte allerlei verkehrtes Zeug, das darauf hinausging: Ihr hättet ihn übereilt, er sei Euch keine Pflicht schuldig und wolle nichts mit Euch zu tun haben.

Götz. Hast du das aus seinem Munde?

Georg. Das und noch mehr – Er drohte mir –

Götz. Es ist genug! Der wäre nun auch verloren! Treu und Glaube, du hast mich wieder betrogen. Arme Marie! Wie werd ich dir’s beibringen!

Selbitz. Ich wollte lieber mein ander Bein dazu verlieren, als so ein Hundsfott sein. (Ab.)

Bamberg Adelheid. Weislingen.

Adelheid. Die Zeit fängt mir an unerträglich lang zu werden; reden mag ich nicht, und ich schäme mich, mit Euch zu spielen. Langeweile, du bist ärger als ein kaltes Fieber.

Weislingen. Seid Ihr mich schon müde?

Adelheid. Euch nicht sowohl als Euern Umgang. Ich wollte, Ihr wärt, wo Ihr hinwolltet, und wir hätten Euch nicht gehalten.

Weislingen. Das ist Weibergunst! Erst brütet sie, mit Mutterwärme, unsere liebsten Hoffnungen an; dann, gleich einer unbeständigen Henne, verläßt sie das Nest und übergibt ihre schon keimende Nachkommenschaft dem Tode und der Verwesung.

Adelheid. Scheltet die Weiber! Der unbesonnene Spieler zerbeißt und zerstampft die Karten, die ihn unschuldigerweise verlieren machten. Aber laßt mich Euch was von Mannsleuten erzählen. Was seid denn ihr, um von Wankelmut zu sprechen? Ihr, die ihr selten seid, was ihr sein wollt, niemals, was ihr sein solltet. Könige im Festtagsornat, vom Pöbel beneidet. Was gäb eine Schneidersfrau drum, eine Schnur Perlen um ihren Hals zu haben, von dem Saum eures Kleids, den eure Absätze verächtlich zurückstoßen!

Weislingen. Ihr seid bitter.

Adelheid. Es ist die Antistrophe von Eurem Gesang. Eh ich Euch kannte, Weislingen, ging mir’s wie der Schneidersfrau. Der Ruf, hundertzüngig, ohne Metapher gesprochen, hatte Euch so zahnarztmäßig herausgestrichen, daß ich mich überreden ließ zu wünschen: möchtest du doch diese Quintessenz des männlichen Geschlechts, den Phönix Weislingen zu Gesicht kriegen! Ich ward meines Wunsches gewährt.

Weislingen. Und der Phönix präsentierte sich als ein ordinärer Haushahn.

Adelheid. Nein, Weislingen, ich nahm Anteil an Euch.

Weislingen. Es schien so –

Adelheid. Und war. Denn wirklich, ihr übertraft Euern Ruf. Die Menge schätzt nur den Widerschein des Verdienstes. Wie mir’s denn nun geht, daß ich über die Leute nicht denken mag, denen ich wohlwill; so lebten wir eine Zeitlang nebeneinander, es fehlte mir was, und ich wußte nicht, was ich an Euch vermißte. Endlich gingen mir die Augen auf. Ich sah statt des aktiven Mannes, der die Geschäfte eines Fürstentums belebte, der sich und seinen Ruhm dabei nicht vergaß, der auf hundert großen Unternehmungen, wie auf übereinander gewälzten Bergen, zu den Wolken hinaufgestiegen war: den sah ich auf einmal, jammernd wie einen kranken Poeten, melancholisch wie ein gesundes Mädchen und müßiger als einen alten Junggesellen. Anfangs schrieb ich’s Euerm Unfall zu, der Euch noch neu auf dem Herzen lag, und entschuldigte Euch, so gut ich konnte. Jetzt, da es von Tag zu Tage schlimmer mit Euch zu werden scheint, müßt Ihr mir verzeihen, wenn ich Euch meine Gunst entreiße. Ihr besitzt sie ohne Recht, ich schenkte sie einem andern auf Lebenslang, der sie Euch nicht übertragen konnte.

Weislingen. So laßt mich los.

Adelheid. Nicht, bis alle Hoffnung verloren ist. Die Einsamkeit ist in diesen Umständen gefährlich. – Armer Mensch! Ihr seid so mißmütig, wie einer, dem sein erstes Mädchen untreu wird, und eben darum geb ich Euch nicht auf. Gebt mir die Hand, verzeiht mir, was ich aus Liebe gesagt habe.

Weislingen. Könntest du mich lieben, könntest du meiner heißen Leidenschaft einen Tropfen Linderung gewähren! Adelheid! deine Vorwürfe sind höchst ungerecht. Könntest du den hundertsten Teil ahnen von dem, was die Zeit her in mir arbeitet, du würdest mich nicht mit Gefälligkeit, Gleichgültigkeit und Verachtung so unbarmherzig hin und her zerrissen haben – Du lächelst! – Nach dem übereilten Schritt wieder mit mir selbst einig zu werden, kostete mehr als einen Tag. Wider den Menschen zu arbeiten, dessen Andenken so lebhaft neu in Liebe bei mir ist.

Adelheid. Wunderlicher Mann, der du den lieben kannst, den du beneidest! Das ist, als wenn ich meinem Feinde Proviant zuführte.

Weislingen. Ich fühl’s wohl, es gilt hier, kein Säumen. Er ist berichtet, daß ich wieder Weislingen bin, und er wird sich seines Vorteils über uns ersehen. Auch, Adelheid, sind wir nicht so träg, als du meinst. Unsere Reiter sind verstärkt und wachsam, unsere Unterhandlungen gehen fort, und der Reichstag zu Augsburg soll hoffentlich unsere Projekte zur Reife bringen.

Adelheid. Ihr geht hin?

Weislingen. Wenn ich eine Hoffnung mitnehmen könnte! (Küßt ihre Hand.)

Adelheid. O ihr Ungläubigen! Immer Zeichen und Wunder! Geh, Weislingen, und vollende das Werk. Der Vorteil des Bischofs, der deinige, der meinige, sie sind so verwebt, daß, wäre es auch nur der Politik wegen –

Weislingen. Du kannst scherzen.

Adelheid. Ich scherze nicht. Meine Güter hat der stolze Herzog inne, die deinigen wird Götz nicht lange ungeneckt lassen; und wenn wir nicht zusammenhalten wie unsere Feinde und den Kaiser auf unsere Seite lenken, sind wir verloren.

Weislingen. Mir ist’s nicht bange. Der größte Teil der Fürsten ist unserer Gesinnung. Der Kaiser verlangt Hülfe gegen die Türken, und dafür ist’s billig, daß er uns wieder beisteht. Welche Wollust wird mir’s sein, deine Güter von übermütigen Feinden zu befreien, die unruhigen Köpfe in Schwaben aufs Kissen zu bringen, die Ruhe des Bistums, unser aller herzustellen. Und dann -?

Adelheid. Ein Tag bringt den andern, und beim Schicksal steht das Zukünftige.

Weislingen. Aber wir müssen wollen.

Adelheid. Wir wollen ja.

Weislingen. Gewiß?

Adelheid. Nun ja. Geht.

Weislingen. Zauberin!

Herberge

Bauernhochzeit. Musik und Tanz draußen Der Brautvater, Götz, Selbitz am Tische. Bräutigam tritt zu ihnen.

Götz. Das Gescheitste war, daß ihr euern Zwist so glücklich und fröhlich durch eine Heirat endigt.

Brautvater. Besser, als ich mir’s hätte träumen lassen. In Ruh und Fried mit meinem Nachbar, und eine Tochter wohl versorgt dazu!

Bräutigam. Und ich im Besitz des strittigen Stücks, und drüber den hübschten Backfisch im ganzen Dorf. Wollte Gott, Ihr hättet Euch eher drein geben.

Selbitz. Wie lange habt ihr prozessiert?

Brautvater. An die acht Jahre. Ich wollte lieber noch einmal so lang das Frieren haben, als von vorn anfangen. Das ist ein Gezerre, Ihr glaubt’s nicht, bis man den Perücken ein Urteil vom Herzen reißt; und was hat man darnach? Der Teufel hol den Assessor Sapupi! ’s is ein verfluchter schwarzer Italiener.

Bräutigam. Ja, das ist ein toller Kerl. Zweimal war ich dort.

Brautvater. Und ich dreimal. Und seht, ihr Herrn: kriegen wir ein Urteil endlich, wo ich so viel Recht hab als er, und er so viel als ich, und wir eben stunden wie die Maulaffen, bis mir unser Herrgott eingab, ihm meine Tochter zu geben und das Zeug dazu.

Götz (trinkt). Gut Vernehmen künftig.

Brautvater. Geb’s Gott! Geh aber, wie’s will, prozessieren tu ich mein Tag nit mehr. Was das ein Geldspiel kost! Jeden Reverenz, den euch ein Prokurator macht, müßt ihr bezahlen.

Selbitz. Sind ja jährlich Kaiserliche Visitationen da.

Brautvater. Hab nichts davon gehört. Ist mir mancher schöne Taler nebenaus gangen. Das unerhörte Blechen!

Götz. Wie meint Ihr?

Brautvater. Ach, da macht alles hohle Pfötchen. Der Assessor allein, Gott verzeih’s ihm, hat mir achtzehn Goldgulden abgenommen.

Bräutigam. Wer?

Brautvater. Wer anders als der Sapupi?

Götz. Das ist schändlich.

Brautvater. Wohl, ich mußt ihm zwanzig erlegen. Und da ich sie ihm hingezahlt hatte, in seinem Gartenhaus, das prächtig ist, im großen Saal, wollt mir vor Wehmut fast das Herz brechen. Denn seht, eines Haus und Hof steht gut, aber wo soll bar Geld herkommen? Ich stund da, Gott weiß, wie mir’s war. Ich hatte keinen roten Heller Reisegeld im Sack. Endlich nahm ich mir ’s Herz und stellt’s ihm vor. Nun er sah, daß mir ’s Wasser an die Seele ging, da warf er mir zwei davon zurück und schickt‘ mich fort.

Bräutigam. Es ist nicht möglich! Der Sapupi?

Brautvater. Wie stellst du dich! Freilich! Kein andrer!

Bräutigam. Den soll der Teufel holen, er hat mir auch funfzehn Goldgülden abgenommen.

Brautvater. Verflucht!

Selbitz. Götz! Wir sind Räuber!

Brautvater. Drum fiel das Urteil so scheel aus. Du Hund!

Götz. Das müßt ihr nicht ungerügt lassen.

Brautvater. Was sollen wir tun?

Götz. Macht euch auf nach Speier, es ist eben Visitationszeit, zeigt’s an, sie müssen’s untersuchen und euch zu dem Eurigen helfen.

Bräutigam. Denkt Ihr, wir treiben’s durch?

Götz. Wenn ich ihm über die Ohren dürfte, wollt ich’s euch versprechen.

Selbitz. Die Summe ist wohl einen Versuch wert.

Götz. Bin ich wohl eher um des vierten Teils willen ausgeritten.

Brautvater. Wie meinst du?

Bräutigam. Wir wollen, geh’s wie’s geh. (Georg kommt.)

Georg. Die Nürnberger sind im Anzug.

Götz. Wo?

Georg. Wenn wir ganz sachte reiten, packen wir sie zwischen Beerheim und Mühlbach im Wald.

Selbitz. Trefflich!

Götz. Kommt, Kinder. Gott grüß euch! Helf uns allen zum Unsrigen!

Bauer. Großen Dank! Ihr wollt nicht zum Nacht-Ims bleiben?

Götz. Können nicht. Adies.

III. Akt

Augsburg. Ein Garten

Zwei Nürnberger Kaufleute.

Erster Kaufmann. Hier wollen wir stehn, denn da muß der Kaiser vorbei. Er kommt eben den langen Gang herauf.

Zweiter Kaufmann. Wer ist bei ihm?

Erster Kaufmann. Adelbert von Weislingen!

Zweiter Kaufmann. Bambergs Freund! Das ist gut.

Erster Kaufmann. Wir wollen einen Fußfall tun, und ich will reden.

Zweiter Kaufmann. Wohl, da kommen sie. (Kaiser. Weislingen.)

Erster Kaufmann. Er sieht verdrießlich aus.

Kaiser. Ich bin unmutig, Weislingen, und wenn ich auf mein vergangenes Leben zurücksehe, möcht ich verzagt werden; so viel halbe, so viel verunglückte Unternehmungen! und das alles, weil kein Fürst im Reich so klein ist, dem nicht mehr an seinen Grillen gelegen wäre als an meinen Gedanken. (Die Kaufleute werfen sich ihm zu Füßen.)

Kaufmann. Allerdurchlauchtigster! Großmächtigster!

Kaiser. Wer seid ihr? Was gibt’s?

Kaufmann. Arme Kaufleute von Nürnberg, Eurer Majestät Knechte, und flehen um Hülfe. Götz von Berlichingen und Hans von Selbitz haben unser dreißig, die von der Frankfurter Messe kamen, im Bambergischen Geleite niedergeworfen und beraubt; wir bitten Eure Kaiserliche Majestät um Hülfe, um Beistand, sonst sind wir alle verdorbene Leute, genötigt, unser Brot zu betteln.

Kaiser. Heiliger Gott! Heiliger Gott! Was ist das? Der eine hat nur eine Hand, der andere nur ein Bein; wenn sie denn erst zwei Hände hätten, und zwei Beine, was wolltet ihr dann tun?

Kaufmann. Wir bitten Eure Majestät untertänigst, auf unsere bedrängten Umstände ein mitleidiges Auge zu werfen.

Kaiser. Wie geht’s zu! Wenn ein Kaufmann einen Pfeffersack verliert, soll man das ganze Reich aufmahnen; und wenn Händel vorhanden sind, daran Kaiserlicher Majestät und dem Reich viel gelegen ist, daß es Königreich, Fürstentum, Herzogtum und anders betrifft, so kann euch kein Mensch zusammenbringen.

Weislingen. Ihr kommt zur ungelegnen Zeit. Geht und verweilt einige Tage hier.

Kaufleute. Wir empfehlen uns zu Gnaden. (Ab.)

Kaiser. Wieder neue Händel. Sie wachsen nach wie die Köpfe der Hydra.

Weislingen. Und sind nicht auszurotten als mit Feuer und Schwert und einer mutigen Unternehmung.

Kaiser. Glaubt Ihr?

Weislingen. Ich halte nichts für tunlicher, wenn Eure Majestät und die Fürsten sich über andern unbedeutenden Zwist vereinigen könnten. Es ist mit nichten ganz Deutschland, das über Beunruhigung klagt. Franken und Schwaben allein glimmt noch von den Resten des innerlichen verderblichen Bürgerkriegs. Und auch da sind viele der Edeln und Freien, die sich nach Ruhe sehnen. Hätten wir einmal diesen Sickingen, Selbitz – Berlichingen auf die Seite geschafft, das übrige würde bald von sich selbst zerfallen. Denn sie sind’s, deren Geist die aufrührische Menge belebt.

Kaiser. Ich möchte die Leute gerne schonen, sie sind tapfer und edel. Wenn ich Krieg führte, müßten sie mit mir zu Felde.

Weislingen. Es wäre zu wünschen, daß sie von jeher gelernt hätten, ihrer Pflicht zu gehorchen. Und dann wär es höchst gefährlich, ihre aufrührischen Unternehmungen durch Ehrenstellen zu belohnen. Denn eben diese kaiserliche Mild und Gnade ist’s, die sie bisher so ungeheuer mißbrauchten, und ihr Anhang, der sein Vertrauen und Hoffnung darauf setzt, wird nicht ehe zu bändigen sein, bis wir sie ganz vor den Augen der Welt zunichte gemacht und ihnen alle Hoffnung, jemals wieder emporzukommen, völlig abgeschnitten haben.

Kaiser. Ihr ratet also zur Strenge?

Weislingen. Ich sehe kein ander Mittel, den Schwindelgeist, der ganze Landschaften ergreift, zu bannen. Hören wir nicht schon hier und da die bittersten Klagen der Edeln, daß ihre Untertanen, ihre Leibeignen sich gegen sie auflehnen und mit ihnen rechten, ihnen die hergebrachte Oberherrschaft zu schmälern drohen, so daß die gefährlichsten Folgen zu fürchten sind?

Kaiser. Jetzt wär eine schöne Gelegenheit wider den Berlichingen und Selbitz; nur wollt ich nicht, daß ihnen was zuleid geschehe. Gefangen möcht ich sie haben, und dann müßten sie Urfehde schwören, auf ihren Schlössern ruhig zu bleiben und nicht aus ihrem Bann zu gehen. Bei der nächsten Session will ich’s vortragen.

Weislingen. Ein freudiger beistimmender Zuruf wird Eurer Majestät das Ende der Rede ersparen. (Ab.)

Jagsthausen

Sickingen. Berlichingen.

Sickingen. Ja, ich komme, Eure edle Schwester um ihr Herz und ihre Hand zu bitten.

Götz. So wollt ich, Ihr wärt eher kommen. Ich muß Euch sagen: Weislingen hat während seiner Gefangenschaft ihre Liebe gewonnen, um sie angehalten, und ich sagt sie ihm zu. Ich hab ihn losgelassen, den Vogel, und er verachtet die gütige Hand, die ihm in der Not Futter reichte. Er schwirrt herum, weiß Gott auf welcher Hecke seine Nahrung zu suchen.

Sickingen. Ist das so?

Götz. Wie ich sage.

Sickingen. Er hat ein doppeltes Band zerrissen. Wohl Euch, daß Ihr mit dem Verräter nicht näher verwandt worden.

Götz. Sie sitzt, das arme Mädchen, verjammert und verbetet ihr Leben.

Sickingen. Wir wollen sie singen machen.

Götz. Wie! Entschließet Ihr Euch, eine Verlaßne zu heiraten?

Sickingen. Es macht euch beiden Ehre, von ihm betrogen worden zu sein. Soll darum das arme Mädchen in ein Kloster gehn, weil der erste Mann, den sie kannte, ein Nichtswürdiger war? Nein doch! ich bleibe darauf, sie soll Königin von meinen Schlössern werden.

Götz. Ich sage Euch, sie war nicht gleichgültig gegen ihn.

Sickingen. Traust du mir nicht zu, daß ich den Schatten eines Elenden sollte verjagen können? Laß uns zu ihr! (Ab.)

Lager der Reichsexekution

Hauptmann. Offiziere.

Hauptmann. Wir müssen behutsam gehn und unsere Leute so viel möglich schonen. Auch ist unsere gemessene Order, ihn in die Enge zu treiben und lebendig gefangenzunehmen. Es wird schwerhalten, denn wer mag sich an ihn machen?

Erster Offizier. Freilich! Und er wird sich wehren wie ein wildes Schwein. Überhaupt hat er uns sein Lebelang nichts zuleid getan, und jeder wird’s von sich schieben, Kaiser und Reich zu Gefallen Arm und Bein daranzusetzen.

Zweiter Offizier. Es wäre eine Schande, wenn wir ihn nicht kriegten. Wenn ich ihn nur einmal beim Lappen habe, er soll nicht loskommen.

Erster Offizier. Faßt ihn nur nicht mit Zähnen, er möchte Euch die Kinnbacken ausziehen. Guter junger Herr, dergleichen Leut packen sich nicht wie ein flüchtiger Dieb.

Zweiter Offizier. Wollen sehn.

Hauptmann. Unsern Brief muß er nun haben. Wir wollen nicht säumen und einen Trupp ausschicken, der ihn beobachten soll.

Zweiter Offizier. Laßt mich ihn führen.

Hauptmann. Ihr seid der Gegend unkundig.

Zweiter Offizier. Ich hab einen Knecht, der hier geboren und erzogen ist.

Hauptmann. Ich bin’s zufrieden. (Ab.)

Jagsthausen

Sickingen.

Sickingen. Es geht alles nach Wunsch; sie war etwas bestürzt über meinen Antrag und sah mich vom Kopf bis auf die Füße an; ich wette, sie verglich mich mit ihrem Weißfisch. Gott sei Dank, daß ich mich stellen darf. Sie antwortete wenig und durcheinander; desto besser! Es mag eine Zeit kochen. Bei Mädchen, die durch Liebesunglück gebeizt sind, wird ein Heiratsvorschlag bald gar. (Götz kommt.)

Sickingen. Was bringt Ihr, Schwager?

Götz. In die Acht erklärt!

Sickingen. Was?

Götz. Da lest den erbaulichen Brief. Der Kaiser hat Exekution gegen mich verordnet, die mein Fleisch den Vögeln unter dem Himmel und den Tieren auf dem Felde zu fressen vorschneiden soll.

Sickingen. Erst sollen sie dran. Just zur gelegenen Zeit bin ich hier.

Götz. Nein, Sickingen, Ihr sollt fort. Eure großen Anschläge könnten darüber zugrunde gehn, wenn Ihr zu so ungelegner Zeit des Reichs Feind werden wolltet. Auch mir werdet Ihr weit mehr nutzen, wenn Ihr neutral zu sein scheint. Der Kaiser liebt Euch, und das Schlimmste, das mir begegnen kann, ist, gefangen zu werden; dann braucht Euer Vorwort und reißt mich aus einem Elend, in das unzeitige Hülfe uns beide stürzen könnte. Denn was wär’s? Jetzo geht der Zug gegen mich; erfahren sie, du bist bei mir, so schicken sie mehr, und wir sind um nichts gebessert. Der Kaiser sitzt an der Quelle, und ich wär schon jetzt unwiederbringlich verloren, wenn man Tapferkeit so geschwind einblasen könnte, als man einen Haufen zusammenblasen kann.

Sickingen. Doch kann ich heimlich ein zwanzig Reiter zu Euch stoßen lassen.

Götz. Gut. Ich hab schon Georgen nach dem Selbitz geschickt, und meine Knechte in der Nachbarschaft herum. Lieber Schwager, wenn meine Leute beisammen sind, es wird ein Häufchen sein, dergleichen wenig Fürsten beisammen gesehen haben.

Sickingen. Ihr werdet gegen die Menge wenig sein.

Götz. Ein Wolf ist einer ganzen Herde Schafe zu viel.

Sickingen. Wenn sie aber einen guten Hirten haben?

Götz. Sorg du. Es sind lauter Mietlinge. Und dann kann der beste Ritter nichts machen, wenn er nicht Herr von seinen Handlungen ist. So kamen sie mir auch einmal, wie ich dem Pfalzgrafen zugesagt hatte, gegen Konrad Schotten zu dienen; da legt‘ er mir einen Zettel aus der Kanzlei vor, wie ich reiten und mich halten sollt; da warf ich den Räten das Papier wieder dar und sagt: ich wüßt nicht darnach zu handlen, ich weiß nicht, was mir begegnen mag, das steht nicht im Zettel, ich muß die Augen selbst auftun und sehn, was ich zu schaffen hab.

Sickingen. Glück zu, Bruder! Ich will gleich fort und dir schicken, was ich in der Eil zusammentreiben kann.

Götz. Komm noch zu den Frauen, ich ließ sie beisammen. Ich wollte, daß du ihr Wort hättest, ehe du gingst. Dann schick mir die Reiter, und komm heimlich wieder, Marien abzuholen, denn mein Schloß, fürcht ich, wird bald kein Aufenthalt für Weiber mehr sein.

Sickingen. Wollen das Beste hoffen. (Ab.)

Bamberg. Adelheidens Zimmer

Adelheid. Franz.

Adelheid. So sind die beiden Exekutionen schon aufgebrochen?

Franz. Ja, und mein Herr hat die Freude, gegen Eure Feinde zu ziehen. Ich wollte gleich mit, so gern ich zu Euch gehe. Auch will ich jetzt wieder fort, um bald mit fröhlicher Botschaft wiederzukehren. Mein Herr hat mir’s erlaubt.

Adelheid. Wie steht’s mit ihm?

Franz. Er ist munter. Mir befahl er, Eure Hand zu küssen.

Adelheid. Da – deine Lippen sind warm.

Franz (vor sich, auf die Brust deutend). Hier ist’s noch wärmer! (Laut.) Gnädige Frau, Eure Diener sind die glücklichsten Menschen unter der Sonne.

Adelheid. Wer führt gegen Berlichingen?

Franz. Der von Sirau. Lebt wohl, beste gnädige Frau! Ich will wieder fort. Vergeßt mich nicht.

Adelheid. Du mußt was essen, trinken, und rasten.

Franz. Wozu das? Ich hab Euch ja gesehen. Ich bin nicht müd noch hungrig.

Adelheid. Ich kenne deine Treu.

Franz. Ach, gnädige Frau!

Adelheid. Du hältst’s nicht aus, beruhige dich, und nimm was zu dir.

Franz. Eure Sorgfalt für einen armen Jungen! (Ab.)

Adelheid. Die Tränen stehn ihm in den Augen. Ich lieb ihn von Herzen. So wahr und warm hat noch niemand an mir gehangen. (Ab.)

Jagsthausen

Götz. Georg.

Georg. Er will selbst mit Euch sprechen. Ich kenn ihn nicht; es ist ein stattlicher Mann, mit schwarzen feurigen Augen.

Götz. Bring ihn herein. (Lerse kommt.)

Götz. Gott grüß Euch! Was bringt Ihr?

Lerse. Mich selbst, das ist nicht viel, doch alles, was es ist, biet ich Euch an.

Götz. Ihr seid mir willkommen, doppelt willkommen, ein braver Mann, und zu dieser Zeit, da ich nicht hoffte, neue Freunde zu gewinnen, eher den Verlust der alten stündlich fürchtete. Gebt mir Euern Namen.

Lerse. Franz Lerse.

Götz. Ich danke Euch, Franz, daß Ihr mich mit einem braven Mann bekannt macht.

Lerse. Ich machte Euch schon einmal mit mir bekannt, aber damals danktet Ihr mir nicht dafür.

Götz. Ich erinnere mich Eurer nicht.

Lerse. Es wäre mir leid. Wißt Ihr noch, wie Ihr um des Pfalzgrafen willen Konrad Schotten feind wart und nach Haßfurt auf die Fastnacht reiten wolltet?

Götz. Wohl weiß ich es.

Lerse. Wißt Ihr, wie Ihr unterwegs bei einem Dorf fünfundzwanzig Reitern entgegenkamt?

Götz. Richtig. Ich hielt sie anfangs nur für zwölfe und teilt meinen Haufen, waren unser sechzehn, und hielt am Dorf hinter der Scheuer, in willens, sie sollten bei mir vorbeiziehen. Dann wollt ich ihnen nachrucken, wie ich’s mit dem andern Haufen abgeredt hatte.

Lerse. Aber wir sahn Euch und zogen auf eine Höhe am Dorf. Ihr zogt herbei und hieltet unten. Wie wir sahn, Ihr wolltet nicht heraufkommen, ritten wir herab.

Götz. Da sah ich erst, daß ich mit der Hand in die Kohlen geschlagen hatte. Fünfundzwanzig gegen acht! Da galt’s kein Feiern. Erhard Truchseß durchstach mir einen Knecht, dafür rannt ich ihn vom Pferde. Hätten sie sich alle gehalten wie er und ein Knecht, es wäre mein und meines kleinen Häufchens übel gewahrt gewesen.

Lerse. Der Knecht, wovon Ihr sagtet –

Götz. Es war der bravste, den ich gesehen habe. Er setzte mir heiß zu. Wenn ich dachte, ich hätt ihn von mir gebracht, wollte mit andern zu schaffen haben, war er wieder an mir und schlug feindlich zu. Er hieb mir auch durch den Panzerärmel hindurch, daß es ein wenig gefleischt hatte.

Lerse. Habt Ihr’s ihm verziehen?

Götz. Er gefiel mir mehr als zu wohl.

Lerse. Nun, so hoff ich, daß Ihr mit mir zufrieden sein werdet; ich hab mein Probstück an Euch selbst abgelegt.

Götz. Bist du’s? O willkommen, willkommen! Kannst du sagen, Maximilian, du hast unter deinen Dienern einen so geworben!

Lerse. Mich wundert, daß Ihr nicht eh auf mich gefallen seid.

Götz. Wie sollte mir einkommen, daß der mir seine Dienste anbieten würde, der auf das feindseligste mich zu überwältigen trachtete?

Lerse. Eben das, Herr! Von Jugend auf dien ich als Reitersknecht, und hab’s mit manchem Ritter aufgenommen. Da wir auf Euch stießen, freut ich mich. Ich kannte Euern Namen, und da lernt ich Euch kennen. Ihr wißt, ich hielt nicht stand; Ihr saht, es war nicht Furcht, denn ich kam wieder. Kurz, ich lernt Euch kennen, und von Stund an beschloß ich, Euch zu dienen.

Götz. Wie lange wollt Ihr bei mir aushalten?

Lerse. Auf ein Jahr. Ohne Entgelt.

Götz. Nein, Ihr sollt gehalten werden wie ein anderer, und drüber, wie der, der mir bei Remlin zu schaffen machte. (Georg kommt.)

Georg. Hans von Selbitz läßt Euch grüßen. Morgen ist er hier mit funfzig Mann.

Götz. Wohl.

Georg. Es zieht am Kocher ein Trupp Reichsvölker herunter; ohne Zweifel, Euch zu beobachten.

Götz. Wieviel?

Georg. Ihrer funfzig.

Götz. Nicht mehr! Komm, Lerse, wir wollen sie zusammenschmeißen, wenn Selbitz kommt, daß er schon ein Stück Arbeit getan findet.

Lerse. Das soll eine reichliche Vorlese werden.

Götz. Zu Pferde! (Ab.)

Wald an einem Morast

Zwei Reichsknechte begegnen einander.

Erster Knecht. Was machst du hier?

Zweiter Knecht. Ich hab Urlaub gebeten, meine Notdurft zu verrichten. Seit dem blinden Lärmen gestern abends ist mir’s in die Gedärme geschlagen, daß ich alle Augenblicke vom Pferd muß.

Erster Knecht. Hält der Trupp hier in der Nähe?

Zweiter Knecht. Wohl eine Stunde den Wald hinauf.

Erster Knecht. Wie verläufst du dich denn hieher?

Zweiter Knecht. Ich bitte dich, verrat mich nicht. Ich will aufs nächste Dorf und sehn, ob ich nit mit warmen Überschlägen meinem Übel abhelfen kann. Wo kommst du her?

Erster Knecht. Vom nächsten Dorf. Ich hab unserm Offizier Wein und Brot geholt.

Zweiter Knecht. So, er tut sich was zugut vor unserm Angesicht, und wir sollen fasten! Schön Exempel!

Erster Knecht. Komm mit zurück, Schurke.

Zweiter Knecht. Wär ich ein Narr! Es sind noch viele unterm Haufen, die gern fasteten, wenn sie so weit davon wären als ich.

Erster Knecht. Hörst du! Pferde!

Zweiter Knecht. O weh!

Erster Knecht. Ich klettere auf den Baum.

Zweiter Knecht. Ich steck mich ins Rohr. (Götz, Lerse, Georg, Knechte zu Pferde.)

Götz. Hier am Teich weg und linker Hand in den Wald, so kommen wir ihnen in Rücken. (Sie ziehen vorbei.)

Erster Knecht (steigt vom Baum). Da ist nicht gut sein. Michel! Er antwortet nicht? Michel, sie sind fort! (Er geht nach dem Sumpf.) Michel! O weh, er ist versunken. Michel! Er hört mich nicht, er ist erstickt. Bist doch krepiert, du Memme. – Wir sind geschlagen. Feinde, überall Feinde! (Götz, Georg zu Pferde.)

Götz. Halt, Kerl, oder du bist des Todes!

Knecht. Schont meines Lebens!

Götz. Dein Schwert! Georg, führ ihn zu den andern Gefangenen, die Lerse dort unten am Wald hat. Ich muß ihren flüchtigen Führer erreichen. (Ab.)

Knecht. Was ist aus unserm Ritter geworden, der uns führte?

Georg. Unterst zu oberst stürzt‘ ihn mein Herr vom Pferd, daß der Federbusch im Kot stak. Seine Reiter huben ihn aufs Pferd und fort, wie besessen. (Ab.)

Lager

Hauptmann. Erster Ritter.

Erster Ritter. Sie fliehen von weitem dem Lager zu.

Hauptmann. Er wird ihnen an den Fersen sein. Laßt ein funfzig ausrücken bis an die Mühle; wenn er sich zu weit verliert, erwischt Ihr ihn vielleicht. (Ritter ab. – Zweiter Ritter geführt.)

Hauptmann. Wie geht’s, junger Herr? Habt Ihr ein paar Zinken abgerennt?

Ritter. Daß dich die Pest! Das stärkste Geweih wäre gesplittert wie Glas. Du Teufel! Er rannt auf mich los, es war mir, als wenn mich der Donner in die Erd hineinschlüg.

Hauptmann. Dankt Gott, daß Ihr noch davongekommen seid.

Ritter. Es ist nichts zu danken, ein paar Rippen sind entzwei. Wo ist der Feldscher? (Ab.)

Jagsthausen

Götz. Selbitz.

Götz. Was sagst du zu der Achtserklärung, Selbitz?

Selbitz. Es ist ein Streich von Weislingen.

Götz. Meinst du?

Selbitz. Ich meine nicht, ich weiß.

Götz. Woher?

Selbitz. Er war auf dem Reichstag, sag ich dir, er war um den Kaiser.

Götz. Wohl, so machen wir ihm wieder einen Anschlag zunichte.

Selbitz. Hoff’s.

Götz. Wir wollen fort! und soll die Hasenjagd angehn.

Lager

Hauptmann. Ritter.

Hauptmann. Dabei kommt nichts heraus, ihr Herrn. Er schlägt uns einen Haufen nach dem andern, und was nicht umkommt und gefangen wird, das läuft in Gottes Namen lieber nach der Türkei als ins Lager zurück. So werden wir alle Tag schwächer. Wir müssen einmal für allemal ihm zu Leib gehen, und das mit Ernst; ich will selbst dabei sein, und er soll sehn, mit wem er zu tun hat.

Ritter. Wir sind’s all zufrieden; nur ist er der Landsart so kundig, weiß alle Gänge und Schliche im Gebirg, daß er so wenig zu fangen ist wie eine Maus auf dem Kornboden.

Hauptmann. Wollen ihn schon kriegen. Erst auf Jagsthausen zu. Mag er wollen oder nicht, er muß herbei, sein Schloß zu verteidigen.

Ritter. Soll unser ganzer Hauf marschieren?

Hauptmann. Freilich! Wißt Ihr, daß wir schon um hundert geschmolzen sind?

Ritter. Drum geschwind, eh der ganze Eisklumpen auftaut; es macht warm in der Nähe, und wir stehn da wie Butter an der Sonne. (Ab.)

Gebirg und Wald Götz. Selbitz. Trupp.

Götz. Sie kommen mit hellem Hauf. Es war hohe Zeit, daß Sickingens Reiter zu uns stießen.

Selbitz. Wir wollen uns teilen. Ich will linker Hand um die Höhe ziehen.

Götz. Gut. Und du, Franz, führe mir die funfzig rechts durch den Wald hinauf; sie kommen über die Heide, ich will gegen ihnen halten. Georg, du bleibst um mich. Und wenn Ihr seht, daß sie mich angreifen, so fallt ungesäumt in die Seiten. Wir wollen sie patschen. Sie denken nicht, daß wir ihnen die Spitze bieten können. (Ab.)

Heide

Auf der einen Seite eine Höhe, auf der andern Wald. Hauptmann. Exekutionszug.

Hauptmann. Er hält auf der Heide! Das ist impertinent. Er soll’s büßen. Was! Den Strom nicht zu fürchten, der auf ihn losbraust?

Ritter. Ich wollt nicht, daß Ihr an der Spitze rittet; er hat das Ansehn, als ob er den ersten, der ihn anstoßen möchte, umgekehrt in die Erde pflanzen wollte. Reitet hinterdrein.

Hauptmann. Nicht gern.

Ritter. Ich bitt Euch. Ihr seid noch der Knoten von diesem Bündel Haselruten; löst ihn auf, so knickt er sie Euch einzeln wie Riedgras.

Hauptmann. Trompeter, blas! Und ihr blast ihn weg! (Ab.) (Selbitz hinter der Höhe hervor im Galopp.)

Selbitz. Mir nach! Sie sollen zu ihren Händen rufen: »Multipliziert euch!« (Ab.) (Lerse aus dem Wald.)

Lerse. Götzen zu Hülf ! Er ist fast umringt. Braver Selbitz, du hast schon Luft gemacht. Wir wollen die Heide mit ihren Distelköpfen besäen. (Vorbei.) (Getümmel.)

Eine Höhe mit einem Wartturn

Selbitz verwundet. Knechte.

Selbitz. Legt mich hieher und kehrt zu Götzen.

Erster Knecht. Laßt uns bleiben, Herr, Ihr braucht unser.

Selbitz. Steig einer auf die Warte und seh, wie’s geht.

Erster Knecht. Wie will ich hinaufkommen?

Zweiter Knecht. Steig auf meine Schultern, da kannst du die Lücke reichen und dir bis zur Öffnung hinaufhelfen.

Erster Knecht (steigt hinauf). Ach, Herr!

Selbitz. Was siehest du?

Erster Knecht. Eure Reiter fliehen der Höhe zu.

Selbitz. Höllische Schurken! Ich wollt, sie stünden und ich hätt eine Kugel vorm Kopf. Reit einer hin! und fluch und wetter sie zurück. (Knecht ab.) Siehest du Götzen?

Knecht. Die drei schwarzen Federn seh ich mitten im Getümmel.

Selbitz. Schwimm, braver Schwimmer. Ich liege hier!

Knecht. Ein weißer Federbusch, wer ist das?

Selbitz. Der Hauptmann.

Knecht. Götz drängt sich an ihn – Bauz! Er stürzt.

Selbitz. Der Hauptmann?

Knecht. Ja, Herr.

Selbitz. Wohl! Wohl!

Knecht. Weh! Weh! Götzen seh ich nicht mehr.

Selbitz. So stirb, Selbitz!

Knecht. Ein fürchterlich Gedräng, wo er stund. Georgs blauer Busch verschwindt auch.

Selbitz. Komm herunter. Siehst du Lersen nicht?

Knecht. Nichts. Es geht alles drunter und drüber.

Selbitz. Nichts mehr. Komm! Wie halten sich Sickingens Reiter?

Knecht. Gut. – Da flieht einer nach dem Wald. Noch einer! Ein ganzer Trupp! Götz ist hin.

Selbitz. Komm herab.

Knecht. Ich kann nicht. – Wohl! Wohl! Ich sehe Götzen! Ich sehe Georgen!

Selbitz. Zu Pferd?

Knecht. Hoch zu Pferd! Sieg! Sieg! Sie fliehn.

Selbitz. Die Reichstruppen?

Knecht. Die Fahne mittendrin, Götz hintendrein. Sie zerstreuen sich. Götz erreicht den Fähndrich – Er hat die Fahn – Er hält. Eine Handvoll Menschen um ihn herum. Mein Kamerad erreicht ihn – Sie ziehn herauf. (Götz. Georg. Lerse. Ein Trupp.)

Selbitz. Glück zu, Götz! Sieg! Sieg!

Götz (steigt vom Pferd). Teuer! Teuer! Du bist verwundt, Selbitz?

Selbitz. Du lebst und siegst! Ich habe wenig getan. Und meine Hunde von Reitern! Wie bist du davongekommen?

Götz. Diesmal galt’s! Und hier Georgen dank ich das Leben, und hier Lersen dank ich’s. Ich warf den Hauptmann vom Gaul. Sie stachen mein Pferd nieder und drangen auf mich ein. Georg hieb sich zu mir und sprang ab, ich wie der Blitz auf seinen Gaul, wie der Donner saß er auch wieder. Wie kamst du zum Pferd?

Georg. Einem, der nach Euch hieb, stieß ich meinen Dolch in die Gedärme, wie sich sein Harnisch in die Höhe zog. Er stürzt‘, und ich half Euch von einem Feind und mir zu einem Pferde.

Götz. Nun staken wir, bis sich Franz zu uns hereinschlug, und da mähten wir von innen heraus.

Lerse. Die Hunde, die ich führte, sollten von außen hineinmähen, bis sich unsere Sensen begegnet hätten; aber sie flohen wie Reichsknechte.

Götz. Es flohe Freund und Feind. Nur du kleiner Hauf hieltest mir den Rücken frei; ich hatte mit den Kerls vor mir genug zu tun. Der Fall ihres Hauptmanns half mir sie schütteln, und sie flohen. Ich habe ihre Fahne und wenig Gefangene.

Selbitz. Der Hauptmann ist Euch entwischt?

Götz. Sie hatten ihn inzwischen gerettet. Kommt, Kinder! kommt, Selbitz! – Macht eine Bahre von Ästen; – du kannst nicht aufs Pferd. Kommt in mein Schloß. Sie sind zerstreut. Aber unser sind wenig, und ich weiß nicht, ob sie Truppen nachzuschicken haben. Ich will euch bewirten, meine Freunde. Ein Glas Wein schmeckt auf so einen Strauß.

Lager

Hauptmann.

Hauptmann. Ich möcht euch alle mit eigner Hand umbringen! Was, fortlaufen! Er hatte keine Handvoll Leute mehr! Fortzulaufen, vor einem Mann! Es wird’s niemand glauben, als wer über uns zu lachen Lust hat. – Reit herum, Ihr, und Ihr, und Ihr. Wo ihr von unsern zerstreuten Knechten findt, bringt sie zurück oder stecht sie nieder. Wir müssen diese Scharten auswetzen, und wenn die Klingen drüber zugrunde gehen sollten.

Jagsthausen

Götz. Lerse. Georg.

Götz. Wir dürfen keinen Augenblick säumen! Arme Jungen, ich darf euch keine Rast gönnen. Jagt geschwind herum und sucht noch Reiter aufzutreiben. Bestellt sie alle nach Weilern, da sind sie am sichersten. Wenn wir zögern, so ziehen sie mir vors Schloß. (Die zwei ab.) Ich muß einen auf Kundschaft ausjagen. Es fängt an heiß zu werden. Und wenn es nur noch brave Kerls wären! aber so ist’s die Menge. (Ab.) (Sickingen. Maria.)

Maria. Ich bitte Euch, lieber Sickingen, geht nicht von meinem Bruder! Seine Reiter, Selbitzens, Eure sind zerstreut; er ist allein, Selbitz ist verwundet auf sein Schloß gebracht, und ich fürchte alles.

Sickingen. Seid ruhig, ich gehe nicht weg. (Götz kommt.)

Götz. Kommt in die Kirch, der Pater wartet. Ihr sollt mir in einer Viertelstund ein Paar sein.

Sickingen. Laßt mich hier.

Götz. In die Kirch sollt Ihr jetzt.

Sickingen. Gern – und darnach?

Götz. Darnach sollt Ihr Eurer Wege gehn.

Sickingen. Götz!

Götz. Wollt Ihr nicht in die Kirche?

Sickingen. Kommt, kommt!

Lager

Hauptmann. Ritter.

Hauptmann. Wie viel sind’s in allem?

Ritter. Hundertundfunfzig.

Hauptmann. Von vierhunderten! Das ist arg. Jetzt gleich auf und grad gegen Jagsthausen zu, eh er sich erholt und sich uns wieder in Weg stellt.

Jagsthausen

Götz. Elisabeth. Maria. Sickingen.

Götz. Gott segne euch, geb euch glückliche Tage, und behalte die, die er euch abzieht, für eure Kinder.

Elisabeth. Und die laß er sein, wie ihr seid: rechtschaffen! Und dann laßt sie werden, was sie wollen.

Sickingen. Ich dank euch. Und dank Euch, Maria. Ich führte Euch an den Altar, und Ihr sollt mich zur Glückseligkeit führen.

Maria. Wir wollen zusammen eine Pilgrimschaft nach diesem fremden gelobten Lande antreten.

Götz. Glück auf die Reise!

Maria. So ist’s nicht gemeint, wir verlassen Euch nicht.

Götz. Ihr sollt, Schwester.

Maria. Du bist sehr unbarmherzig, Bruder!

Götz. Und Ihr zärtlicher als vorsehend. (Georg kommt.)

Georg (heimlich). Ich kann niemand auftreiben. Ein einziger war geneigt; darnach veränderte er sich und wollte nicht.

Götz. Gut, Georg. Das Glück fängt mir an wetterwendisch zu werden. Ich ahnt’s aber. (Laut.) Sickingen, ich bitt Euch, geht noch diesen Abend. Beredet Marie. Sie ist Eure Frau. Laßt sie’s fühlen. Wenn Weiber quer in unsere Unternehmung treten, ist unser Feind im freien Feld sichrer als sonst in der Burg. (Knecht kommt.)

Knecht (leise). Herr, das Reichsfähnlein ist auf dem Marsch, grad hieher, sehr schnell.

Götz. Ich hab sie mit Rutenstreichen geweckt! Wieviel sind ihrer?

Knecht. Ungefähr zweihundert. Sie können nicht zwei Stunden mehr von hier sein.

Götz. Noch überm Fluß?

Knecht. Ja, Herr.

Götz. Wenn ich nur funfzig Mann hätte, sie sollten mir nicht herüber. Hast du Lersen nicht gesehen?

Knecht. Nein, Herr.

Götz. Biet allen, sie sollen sich bereit halten. – Es muß geschieden sein, meine Lieben. Weine, meine gute Marie, es werden Augenblicke kommen, wo du dich freuen wirst. Es ist besser, du weinst an deinem Hochzeittag, als daß übergroße Freude der Vorbote künftigen Elends wäre. Lebt wohl, Marie. Lebt wohl, Bruder.

Maria. Ich kann nicht von Euch, Schwester. Lieber Bruder, laß uns. Achtest du meinen Mann so wenig, daß du in dieser Extremität seine Hülfe verschmähst?

Götz. Ja, es ist weit mit mir gekommen. Vielleicht bin ich meinem Sturz nahe. Ihr beginnt zu leben, und ihr sollt euch von meinem Schicksal trennen. Ich hab eure Pferde zu satteln befohlen. Ihr müßt gleich fort.

Maria. Bruder! Bruder!

Elisabeth (zu Sickingen). Gebt ihm nach! Geht!

Sickingen. Liebe Marie, laßt uns gehen.

Maria. Du auch? Mein Herz wird brechen.

Götz. So bleib denn. In wenigen Stunden wird meine Burg umringt sein.

Maria. Weh! Weh!

Götz. Wir werden uns verteidigen, so gut wir können.

Maria. Mutter Gottes, hab Erbarmen mit uns!

Götz. Und am Ende werden wir sterben, oder uns ergeben. – Du wirst deinen edeln Mann mit mir in ein Schicksal geweint haben.

Maria. Du marterst mich.

Götz. Bleib! Bleib! Wir werden zusammen gefangen werden. Sickingen, du wirst mit mir in die Grube fallen! Ich hoffte, du solltest mir heraushelfen.

Maria. Wir wollen fort. Schwester, Schwester!

Götz. Bringt sie in Sicherheit, und dann erinnert Euch meiner.

Sickingen. Ich will ihr Bette nicht besteigen, bis ich Euch außer Gefahr weiß.

Götz. Schwester – liebe Schwester! (Küßt sie.)

Sickingen. Fort, fort!

Götz. Noch einen Augenblick – Ich seh Euch wieder. Tröstet Euch. Wir sehn uns wieder. (Sickingen, Maria ab.)

Götz. Ich trieb sie, und da sie geht, möcht ich sie halten. Elisabeth, du bleibst bei mir!

Elisabeth. Bis in den Tod. (Ab.)

Götz. Wen Gott lieb hat, dem geb er so eine Frau! (Georg kommt.)

Georg. Sie sind in der Nähe, ich habe sie vom Turn gesehen. Die Sonne ging auf, und ich sah ihre Piken blinken. Wie ich sie sah, wollt mir’s nicht bänger werden, als einer Katze vor einer Armee Mäuse. Zwar wir spielen die Ratten.

Götz. Seht nach den Torriegeln. Verrammelt’s inwendig mit Balken und Steinen. (Georg ab.) Wir wollen ihre Geduld für’n Narren halten, und ihre Tapferkeit sollen sie mir an ihren eigenen Nägeln verkäuen. (Trompeter von außen.) Aha! ein rotröckiger Schurke, der uns die Frage vorlegen wird, ob wir Hundsfötter sein wollen. (Er geht ans Fenster.) Was soll’s? (Man hört in der Ferne reden.)

Götz (in seinen Bart). Einen Strick um deinen Hals. (Trompeter redet fort.)

Götz. »Beleidiger der Majestät!« – Die Aufforderung hat ein Pfaff gemacht. (Trompeter endet.)

Götz (antwortet). Mich ergeben! Auf Gnad und Ungnad! Mit wem redet Ihr! Bin ich ein Räuber! Sag deinem Hauptmann: Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer, schuldigen Respekt. Er aber, sag’s ihm, er kann mich – – – (Schmeißt das Fenster zu.)

Belagerung. Küche

Elisabeth. Götz zu ihr.

Götz. Du hast viel Arbeit, arme Frau.

Elisabeth. Ich wollt, ich hätte sie lang. Wir werden schwerlich lang aushalten können.

Götz. Wir hatten nicht Zeit, uns zu versehen.

Elisabeth. Und die vielen Leute, die Ihr zeither gespeist habt. Mit dem Wein sind wir auch schon auf der Neige.

Götz. Wenn wir nur auf einen gewissen Punkt halten, daß sie Kapitulation vorschlagen. Wir tun ihnen brav Abbruch. Sie schießen den ganzen Tag und verwunden unsere Mauern und knicken unsere Scheiben. Lerse ist ein braver Kerl; er schleicht mit seiner Büchse herum; wo sich einer zu nahe wagt, blaff, liegt er.

Knecht. Kohlen, gnädige Frau.

Götz. Was gibt’s?

Knecht. Die Kugeln sind alle, wir wollen neue gießen.

Götz. Wie steht’s Pulver?

Knecht. So ziemlich. Wir sparen unsere Schüsse wohl aus.

Saal

Lerse mit einer Kugelform. Knecht mit Kohlen.

Lerse. Stell sie daher, und seht, wo ihr im Hause Blei kriegt. Inzwischen will ich hier zugreifen. (Hebt ein Fenster aus und schlägt die Scheiben ein.) Alle Vorteile gelten. – So geht’s in der Welt, weiß kein Mensch, was aus den Dingen werden kann. Der Glaser, der die Scheiben faßte, dachte gewiß nicht, daß das Blei einem seiner Urenkel garstiges Kopfweh machen könnte! und da mich mein Vater zeugte, dachte er nicht, welcher Vogel unter dem Himmel, welcher Wurm auf der Erde mich fressen möchte. (Georg kommt mit einer Dachrinne.)

Georg. Da hast du Blei. Wenn du nur mit der Hälfte triffst, so entgeht keiner, der Ihro Majestät ansagen kann: »Herr, wir haben schlecht bestanden.«

Lerse (haut davon). Ein brav Stück.

Georg. Der Regen mag sich einen andern Weg suchen! ich bin nicht bang davor; ein braver Reiter und ein rechter Regen kommen überall durch.

Lerse. (Er gießt.) Halt den Löffel. (Geht ans Fenster.) Da zieht so ein Reichsknappe mit der Büchse herum; sie denken, wir haben uns verschossen. Er soll die Kugel versuchen, warm wie sie aus der Pfanne kommt. (Lädt.)

Georg (lehnt den Löffel an). Laß mich sehn.

Lerse (schießt). Da liegt der Spatz.

Georg. Der schoß vorhin nach mir (sie gießen), wie ich zum Dachfenster hinausstieg und die Rinne holen wollte. Er traf eine Taube, die nicht weit von mir saß, sie stürzt‘ in die Rinne; ich dankt ihm für den Braten und stieg mit der doppelten Beute wieder herein.

Lerse. Nun wollen wir wohl laden und im ganzen Schloß herumgehen, unser Mittagessen verdienen. (Götz kommt.)

Götz. Bleib, Lerse! Ich habe mit dir zu reden! Dich, Georg, will ich nicht von der Jagd abhalten. (Georg ab.)

Götz. Sie entbieten mir einen Vertrag.

Lerse. Ich will zu ihnen hinaus und hören, was es soll.

Götz. Es wird sein: ich soll mich auf Bedingungen in ritterlich Gefängnis stellen.

Lerse. Das ist nichts. Wie wär’s, wenn sie uns freien Abzug eingestünden, da Ihr doch von Sickingen keinen Entsatz erwartet? Wir vergrüben Geld und Silber, wo sie’s mit keiner Wünschelrute finden sollten, überließen ihnen das Schloß, und kämen mit Manier davon.

Götz. Sie lassen uns nicht.

Lerse. Es kommt auf eine Prob an. Wir wollen um sicher Geleit rufen, und ich will hinaus. (Ab.)

Saal

Götz, Elisabeth, Georg, Knechte bei Tische.

Götz. So bringt uns die Gefahr zusammen. Laßt’s euch schmecken, meine Freunde! Vergeßt das Trinken nicht. Die Flasche ist leer. Noch eine, liebe Frau. (Elisabeth zuckt die Achsel.) Ist keine mehr da?

Elisabeth (leise). Noch eine; ich hab sie für dich beiseite gesetzt.

Götz. Nicht doch, Liebe! Gib sie heraus. Sie brauchen Stärkung, nicht ich; es ist ja meine Sache.

Elisabeth. Holt sie draußen im Schrank!

Götz. Es ist die letzte. Und mir ist’s, als ob wir nicht zu sparen Ursach hätten. Ich bin lange nicht so vergnügt gewesen. (Schenkt ein.) Es lebe der Kaiser!

Alle. Er lebe!

Götz. Das soll unser vorletztes Wort sein, wenn wir sterben! Ich lieb ihn, denn wir haben einerlei Schicksal. Und ich bin noch glücklicher als er. Er muß den Reichsständen die Mäuse fangen, inzwischen die Ratten seine Besitztümer annagen. Ich weiß, er wünscht sich manchmal lieber tot, als länger die Seele eines so krüppligen Körpers zu sein. (Schenkt ein.) Es geht just noch ein mal herum. Und wenn unser Blut anfängt, auf die Neige zu gehen, wie der Wein in dieser Flasche erst schwach, dann tropfenweise rinnt (tröpfelt das Letzte in sein Glas), was soll unser letztes Wort sein?

Georg. Es lebe die Freiheit!

Götz. Es lebe die Freiheit!

Alle. Es lebe die Freiheit!

Götz. Und wenn die uns überlebt, können wir ruhig sterben. Denn wir sehen im Geist unsere Enkel glücklich und die Kaiser unsrer Enkel glücklich. Wenn die Diener der Fürsten so edel und frei dienen wie ihr mir, wenn die Fürsten dem Kaiser dienen, wie ich ihm dienen möchte –

Georg. Da müßt’s viel anders werden.

Götz. So viel nicht, als es scheinen möchte. Hab ich nicht unter den Fürsten treffliche Menschen gekannt, und sollte das Geschlecht ausgestorben sein? Gute Menschen, die in sich und ihren Untertanen glücklich waren; die einen edeln freien Nachbar neben sich leiden konnten und ihn weder fürchteten noch beneideten; denen das Herz aufging, wenn sie viel ihresgleichen bei sich zu Tisch sahen und nicht erst die Ritter zu Hofschranzen umzuschaffen brauchten, um mit ihnen zu leben.

Georg. Habt Ihr solche Herrn gekannt?,

Götz. Wohl. Ich erinnere mich zeitlebens, wie der Landgraf von Hanau eine Jagd gab und die Fürsten und Herrn, die zugegen waren, unter freiem Himmel speisten und das Landvolk all herbeilief, sie zu sehen. Das war keine Maskerade, die er sich selbst zu Ehren angestellt hatte. Aber die vollen runden Köpfe der Bursche und Mädel, die roten Backen alle, und die wohlhäbigen Männer und stattlichen Greise, und alles fröhliche Gesichter, und wie sie teilnahmen an der Herrlichkeit ihres Herrn, der auf Gottes Boden unter ihnen sich ergetzte!

Georg. Das war ein Herr, vollkommen wie Ihr.

Götz. Sollten wir nicht hoffen, daß mehr solcher Fürsten auf einmal herrschen können? daß Verehrung des Kaisers, Fried und Freundschaft der Nachbarn und Lieb der Untertanen der kostbarste Familienschatz sein wird, der auf Enkel und Urenkel erbt? Jeder würde das Seinige erhalten und in sich selbst vermehren, statt daß sie jetzo nicht zuzunehmen glauben, wenn sie nicht andere verderben.

Georg. Würden wir hernach auch reiten?

Götz. Wollte Gott, es gäbe keine unruhige Köpfe in ganz Deutschland! wir würden noch immer zu tun genug finden. Wir wollten die Gebirge von Wölfen säubern, wollten unserm ruhig ackernden Nachbar einen Braten aus dem Wald holen und dafür die Suppe mit ihm essen. Wär uns das nicht genug, wir wollten uns mit unsern Brüdern, wie Cherubim mit flammenden Schwertern, vor die Grenzen des Reichs gegen die Wölfe die Türken, gegen die Füchse die Franzosen lagern und zugleich unsers teuern Kaisers sehr ausgesetzte Länder und die Ruhe des Reichs beschützen. Das wäre ein Leben! Georg! wenn man seine Haut für die allgemeine Glückseligkeit dransetzte. (Georg springt auf.) Wo willst du hin?

Georg. Ach ich vergaß, daß wir eingesperrt sind – und der Kaiser hat uns eingesperrt – und unsere Haut davonzubringen, setzen wir unsere Haut dran?

Götz. Sei gutes Muts. (Lerse kommt.)

Lerse. Freiheit! Freiheit! Das sind schlechte Menschen, unschlüssige bedächtige Esel. Ihr sollt abziehen mit Gewehr, Pferden und Rüstung. Proviant sollt Ihr dahintenlassen.

Götz. Sie werden sich kein Zahnweh dran kauen.

Lerse (heimlich). Habt Ihr das Silber versteckt?

Götz. Nein! Frau, geh mit Franzen, er hat dir was zu sagen. (Alle ab.)

Schloßhof

Georg (im Stall, singt).

Es fing ein Knab ein Vögelein,

Hm! Hm!

Da lacht‘ er in den Käfig ’nein,

Hm! Hm!

So! So!

Hm! Hm! Der freut‘ sich traun so läppisch,

Hm! Hm!

Und griff hinein so täppisch,

Hm! Hm!

So! So!

Hm! Hm! Da flog das Meislein auf ein Haus,

Hm! Hm!

Und lacht‘ den dummen Buben aus,

Hm! Hm!

So! So!

Hm! Hm!

Götz. Wie steht’s?

Georg (führt sein Pferd heraus). Sie sind gesattelt.

Götz. Du bist fix.

Georg. Wie der Vogel aus dem Käfig. (Alle die Belagerten.)

Götz. Ihr habt eure Büchsen? Nicht doch! Geht hinauf und nehmt die besten aus dem Rüstschrank, es geht in einem hin. Wir wollen vorausreiten.

Georg.

Hm! Hm!

So! So!

Hm! Hm! (Ab.)

Saal

Zwei Knechte am Rüstschrank.

Erster Knecht. Ich nehm die.

Zweiter Knecht. Ich die. Da ist noch eine schönere.

Erster Knecht. Nicht doch! Mach, daß du fortkommst.

Zweiter Knecht. Horch!

Erster Knecht (springt ans Fenster). Hilf, heiliger Gott! sie ermorden unsern Herrn. Er liegt vom Pferd! Georg stürzt!

Zweiter Knecht. Wo retten wir uns! An der Mauer den Nußbaum hinunter ins Feld. (Ab.)

Erster Knecht. Franz hält sich noch, ich will zu ihm. Wenn sie sterben, mag ich nicht leben. (Ab.)

IV. Akt

Wirtshaus zu Heilbronn

Götz.

Götz. Ich komme mir vor wie der böse Geist, den der Kapuziner in einen Sack beschwur. Ich arbeite mich ab und fruchte mir nichts. Die Meineidigen! (Elisabeth kommt.)

Götz. Was für Nachrichten, Elisabeth, von meinen lieben Getreuen?

Elisabeth. Nichts Gewisses. Einige sind erstochen, einige liegen im Turn. Es konnte oder wollte niemand mir sie näher bezeichnen.

Götz. Ist das Belohnung der Treue? des kindlichen Gehorsams? – Auf daß dir’s wohl gehe und du lange lebest auf Erden!

Elisabeth. Lieber Mann, schilt unsern himmlischen Vater nicht. Sie haben ihren Lohn, er ward mit ihnen geboren, ein freies edles Herz. Laß sie gefangen sein, sie sind frei! Gib auf die deputierten Räte acht, die großen goldnen Ketten stehen ihnen zu Gesicht –

Götz. Wie dem Schwein das Halsband. Ich möchte Georgen und Franzen geschlossen sehn!

Elisabeth. Es wäre ein Anblick, um Engel weinen zu machen.

Götz. Ich wollt nicht weinen. Ich wollte die Zähne zusammenbeißen und an meinem Grimm kauen. In Ketten meine Augäpfel! Ihr lieben Jungen, hättet ihr mich nicht geliebt! – Ich würde mich nicht satt an ihnen sehen können. – Im Namen des Kaisers ihr Wort nicht zu halten!

Elisabeth. Entschlagt Euch dieser Gedanken. Bedenkt, daß Ihr vor den Räten erscheinen sollt. Ihr seid nicht gestellt, ihnen wohl zu begegnen, und ich fürchte alles.

Götz. Was wollen sie mir anhaben?

Elisabeth. Der Gerichtsbote!

Götz. Esel der Gerechtigkeit! Schleppt ihre Säcke zur Mühle, und ihren Kehrig aufs Feld. Was gibt’s? (Gerichtsdiener kommt.)

Gerichtsdiener. Die Herren Kommissarii sind auf dem Rathause versammelt und schicken nach Euch.

Götz. Ich komme.

Gerichtsdiener. Ich werde Euch begleiten.

Götz. Viel Ehre.

Elisabeth. Mäßigt Euch.

Götz. Sei außer Sorgen. (Ab.)

Rathaus Kaiserliche Räte. Hauptmann. Ratsherren von Heilbronn.

Ratsherr. Wir haben auf Euern Befehl die stärksten und tapfersten Bürger versammelt; sie warten hier in der Nähe auf Euern Wink, um sich Berlichingens zu bemeistern.

Erster Rat. Wir werden Ihro Kaiserlichen Majestät Eure Bereitwilligkeit, Ihrem höchsten Befehl zu gehorchen, mit vielem Vergnügen zu rühmen wissen. – Es sind Handwerker?

Ratsherr. Schmiede, Weinschröter, Zimmerleute, Männer mit geübten Fäusten und hier wohl beschlagen (auf die Brust deutend).

Rat. Wohl. (Gerichtsdiener kommt.)

Gerichtsdiener. Götz von Berlichingen wartet vor der Tür.

Rat. Laßt ihn herein. (Götz kommt.)

Götz. Gott grüß euch, ihr Herrn, was wollt ihr mit mir?

Rat. Zuerst, daß Ihr bedenkt: wo Ihr seid? und vor wem?

Götz. Bei meinem Eid, ich verkenn euch nicht, meine Herrn.

Rat. Ihr tut Eure Schuldigkeit.

Götz. Von ganzem Herzen.

Rat. Setzt Euch.

Götz. Da unten hin? Ich kann stehn. Das Stühlchen riecht so nach armen Sündern, wie überhaupt die ganze Stube.

Rat. So steht!

Götz. Zur Sache, wenn’s gefällig ist.

Rat. Wir werden in der Ordnung verfahren.

Götz. Bin’s wohl zufrieden, wollt, es wär von jeher geschehen.

Rat. Ihr wißt, wie Ihr auf Gnad und Ungnad in unsere Hände kamt.

Götz. Was gebt Ihr mir, wenn ich’s vergesse?

Rat. Wenn ich Euch Bescheidenheit geben könnte, würd ich Eure Sache gut machen.

Götz. Gut machen! Wenn Ihr das könntet! Dazu gehört freilich mehr als zum Verderben.

Schreiber. Soll ich das alles protokollieren?

Rat. Was zur Handlung gehört.

Götz. Meinetwegen dürft Ihr’s drucken lassen.

Rat. Ihr wart in der Gewalt des Kaisers, dessen väterliche Gnade an den Platz der majestätischen Gerechtigkeit trat, Euch anstatt eines Kerkers Heilbronn, eine seiner geliebten Städte, zum Aufenthalt anwies. Ihr verspracht mit einem Eid, Euch, wie es einem Ritter geziemt, zu stellen und das Weitere demütig zu erwarten.

Götz. Wohl, und ich bin hier und warte.

Rat. Und wir sind hier, Euch Ihro Kaiserlichen Majestät Gnade und Huld zu verkündigen. Sie verzeiht Euch Eure Übertretungen, spricht Euch von der Acht und aller wohlverdienten Strafe los, welches Ihr mit untertänigem Dank erkennen und dagegen die Urfehde abschwören werdet, welche Euch hiermit vorgelesen werden soll.

Götz. Ich bin Ihro Majestät treuer Knecht wie immer. Noch ein Wort, eh Ihr weitergeht: Meine Leute, wo sind die? Was soll mit ihnen werden?

Rat. Das geht Euch nichts an.

Götz. So wende der Kaiser sein Angesicht von Euch, wenn Ihr in Not steckt! Sie waren meine Gesellen, und sind’s. Wo habt Ihr sie hingebracht?

Rat. Wir sind Euch davon keine Rechnung schuldig.

Götz. Ah! Ich dachte nicht, daß Ihr nicht einmal zu dem verbunden seid, was Ihr versprecht, geschweige –

Rat. Unsere Kommission ist, Euch die Urfehde vorzulegen. Unterwerft Euch dem Kaiser, und Ihr werdet einen Weg finden, um Eurer Gesellen Leben und Freiheit zu flehen.

Götz. Euern Zettel.

Rat. Schreiber, leset!

Schreiber. »Ich Götz von Berlichingen bekenne öffentlich durch diesen Brief: Daß, da ich mich neulich gegen Kaiser und Reich rebellischerweise aufgelehnt« –

Götz. Das ist nicht wahr. Ich bin kein Rebell, habe gegen Ihro Kaiserliche Majestät nichts verbrochen, und das Reich geht mich nichts an.

Rat. Mäßigt Euch und hört weiter.

Götz. Ich will nichts weiter hören. Tret einer auf und zeuge! Hab ich wider den Kaiser, wider das Haus Österreich nur einen Schritt getan? Hab ich nicht von jeher durch alle Handlungen bewiesen, daß ich besser als einer fühle, was Deutschland seinen Regenten schuldig ist? und besonders was die Kleinen, die Ritter und Freien, ihrem Kaiser schuldig sind? Ich müßte ein Schurke sein, wenn ich mich könnte bereden lassen, das zu unterschreiben.

Rat. Und doch haben wir gemessene Ordre, Euch in der Güte zu überreden, oder im Entstehungsfall Euch in den Turn zu werfen.

Götz. In Turn? mich?

Rat. Und daselbst könnt Ihr Euer Schicksal von der Gerechtigkeit erwarten, wenn Ihr es nicht aus den Händen der Gnade empfangen wollt.

Götz. In Turn! Ihr mißbraucht die Kaiserliche Gewalt. In Turn! Das ist sein Befehl nicht. Was! mir erst, die Verräter! eine Falle zu stellen, und ihren Eid, ihr ritterlich Wort zum Speck drin aufzuhängen! Mir dann ritterlich Gefängnis zusagen, und die Zusage wieder brechen.

Rat. Einem Räuber sind wir keine Treue schuldig.

Götz. Trügst du nicht das Ebenbild des Kaisers, das ich in dem gesudeltsten Konterfei verehre, du solltest mir den Räuber fressen oder dran erwürgen! Ich bin in einer ehrlichen Fehd begriffen. Du könntest Gott danken und dich vor der Welt groß machen, wenn du in deinem Leben eine so edle Tat getan hättest, wie die ist, um welcher willen ich gefangen sitze.

Rat (winkt dem Ratsherrn, der zieht die Schelle).

Götz. Nicht um des leidigen Gewinsts willen, nicht um Land und Leute unbewehrten Kleinen wegzukapern, bin ich ausgezogen. Meinen Jungen zu befreien, und mich meiner Haut zu wehren! Seht Ihr was Unrechts dran? Kaiser und Reich hätten unsere Not nicht in ihrem Kopfkissen gefühlt. Ich habe Gott sei Dank noch eine Hand, und habe wohl getan, sie zu brauchen. (Bürger treten herein, Stangen in der Hand, Wehren an der Seite.)

Götz. Was soll das?

Rat. Ihr wollt nicht hören. Fangt ihn!

Götz. Ist das die Meinung? Wer kein ungrischer Ochs ist, komm mir nicht zu nah! Er soll von dieser meiner rechten eisernen Hand eine solche Ohrfeige kriegen, die ihm Kopfweh, Zahnweh und alles Weh der Erden aus dem Grund kurieren soll. (Sie machen sich an ihn, er schlägt den einen zu Boden, und reißt einem andern die Wehre von der Seite, sie weichen.) Kommt! Kommt! Es wäre mir angenehm, den Tapfersten unter euch kennenzulernen.

Rat. Gebt Euch.

Götz. Mit dem Schwert in der Hand! Wißt Ihr, daß es jetzt nur an mir läge, mich durch alle diese Hasenjäger durchzuschlagen und das weite Feld zu gewinnen? Aber ich will Euch lehren, wie man Wort hält. Versprecht mir ritterlich Gefängnis, und ich gebe mein Schwert weg und bin wie vorher Euer Gefangener.

Rat. Mit dem Schwert in der Hand wollt Ihr mit dem Kaiser rechten?

Götz. Behüte Gott! Nur mit Euch und Eurer edlen Kompanie. – Ihr könnt nach Hause gehn, gute Leute. Für die Versäumnis kriegt ihr nichts, und zu holen ist hier nichts als Beulen.

Rat. Greift ihn. Gibt euch eure Liebe zu euerm Kaiser nicht mehr Mut?

Götz. Nicht mehr, als ihnen der Kaiser Pflaster gibt, die Wunden zu heilen, die sich ihr Mut holen könnte. (Gerichtsdiener kommt.)

Gerichtsdiener. Eben ruft der Türner: es zieht ein Trupp von mehr als zweihunderten nach der Stadt zu. Unversehens sind sie hinter der Weinhöhe hervorgedrungen und drohen unsern Mauern.

Ratsherr. Weh uns! was ist das? (Wache kommt.)

Wache. Franz von Sickingen hält vor dem Schlag und läßt euch sagen: Er habe gehört, wie unwürdig man an seinem Schwager bundbrüchig geworden sei, wie die Herrn von Heilbronn allen Vorschub täten. Er verlange Rechenschaft, sonst wolle er binnen einer Stunde die Stadt an vier Ecken anzünden und sie der Plünderung preisgeben.

Götz. Braver Schwager!

Rat. Tretet ab, Götz! – Was ist zu tun?

Ratsherr. Habt Mitleiden mit uns und unserer Bürgerschaft! Sickingen ist unbändig in seinem Zorn, er ist Mann, es zu halten.

Rat. Sollen wir uns und dem Kaiser die Gerechtsame vergeben?

Hauptmann. Wenn wir nur Leute hätten, sie zu behaupten. So aber könnten wir umkommen, und die Sache wäre nur desto schlimmer. Wir gewinnen im Nachgeben.

Ratsherr. Wir wollen Götzen ansprechen, für uns ein gut Wort einzulegen. Mir ist’s, als wenn ich die Stadt schon in Flammen sähe.

Rat. Laßt Götzen herein.

Götz. Was soll’s?

Rat. Du würdest wohl tun, deinen Schwager von seinem rebellischen Vorhaben abzumahnen. Anstatt dich vom Verderben zu retten, stürzt er dich tiefer hinein, indem er sich zu deinem Falle gesellt.

Götz (sieht Elisabeth an der Tür, heimlich zu ihr). Geh hin! Sag ihm: er soll unverzüglich hereinbrechen, soll hieher kommen, nur der Stadt kein Leids tun. Wenn sich die Schurken hier widersetzen, soll er Gewalt brauchen. Es liegt mir nichts dran umzukommen, wenn sie nur alle mit erstochen werden.

Ein großer Saal auf dem Rathaus

Sickingen. Götz.

Das ganze Rathaus ist mit Sickingens Reitern besetzt.

Götz. Das war Hülfe vom Himmel! Wie kommst du so erwünscht und unvermutet, Schwager?

Sickingen. Ohne Zauberei. Ich hatte zwei, drei Boten ausgeschickt, zu hören, wie dir’s ginge? Auf die Nachricht von ihrem Meineid macht ich mich auf den Weg. Nun haben wir sie.

Götz. Ich verlange nichts als ritterliche Haft.

Sickingen. Du bist zu ehrlich. Dich nicht einmal des Vorteils zu bedienen, den der Rechtschaffene über den Meineidigen hat! Sie sitzen im Unrecht, wir wollen ihnen keine Kissen unterlegen. Sie haben die Befehle des Kaisers schändlich mißbraucht. Und wie ich Ihro Majestät kenne, darfst du sicher auf mehr dringen. Es ist zu wenig.

Götz. Ich bin von jeher mit wenigem zufrieden gewesen.

Sickingen. Und bist von jeher zu kurz gekommen. Meine Meinung ist: sie sollen deine Knechte aus dem Gefängnis und dich zusamt ihnen auf deinen Eid nach deiner Burg ziehen lassen. Du magst versprechen, nicht aus deiner Terminei zu gehen, und wirst immer besser sein als hier.

Götz. Sie werden sagen: Meine Güter seien dem Kaiser heimgefallen.

Sickingen. So sagen wir: Du wolltest zur Miete drin wohnen, bis sie dir der Kaiser wieder zu Lehn gäbe. Laß sie sich wenden wie Aale in der Reuse, sie sollen uns nicht entschlüpfen. Sie werden von Kaiserlicher Majestät reden, von ihrem Auftrag. Das kann uns einerlei sein. Ich kenne den Kaiser auch und gelte was bei ihm. Er hat immer gewünscht, dich unter seinem Heer zu haben. Du wirst nicht lang auf deinem Schlosse sitzen, so wirst du aufgerufen werden.

Götz. Wollte Gott bald, eh ich ’s Fechten verlerne.

Sickingen. Der Mut verlernt sich nicht, wie er sich nicht lernt. Sorge für nichts! Wenn deine Sachen in der Ordnung sind, geh ich nach Hof, denn meine Unternehmung fängt an reif zu werden. Günstige Aspekten deuten mir: »Brich auf!« Es ist mir nichts übrig, als die Gesinnung des Kaisers zu sondieren. Trier und Pfalz vermuten eher des Himmels Einfall, als daß ich ihnen übern Kopf kommen werde. Und ich will kommen wie ein Hagelwetter! Und wenn wir unser Schicksal machen können, so sollst du bald der Schwager eines Kurfürsten sein. Ich hoffte auf deine Faust bei dieser Unternehmung.

Götz (besieht seine Hand). Oh! das deutete der Traum, den ich hatte, als ich tags darauf Marien an Weislingen versprach. Er sagte mir Treu zu, und hielt meine rechte Hand so fest, daß sie aus den Armschienen ging, wie abgebrochen. Ach! Ich bin in diesem Augenblick wehrloser, als ich war, da sie mir abgeschossen wurde. Weislingen! Weislingen!

Sickingen. Vergiß einen Verräter. Wir wollen seine Anschläge vernichten, sein Ansehn untergraben, und Gewissen und Schande sollen ihn zu Tode fressen. Ich seh, ich seh im Geist meine Feinde, deine Feinde niedergestürzt. Götz, nur noch ein halb Jahr!

Götz. Deine Seele fliegt hoch. Ich weiß nicht; seit einiger Zeit wollen sich in der meinigen keine fröhlichen Aussichten eröffnen. – Ich war schon mehr im Unglück, schon einmal gefangen, und so, wie mir’s jetzt ist, war mir’s niemals.

Sickingen. Glück macht Mut. Kommt zu den Perücken! Sie haben lang genug den Vortrag gehabt, laß uns einmal die Müh übernehmen. (Ab.)

Adelheidens Schloß

Adelheid. Weislingen.

Adelheid. Das ist verhaßt!

Weislingen. Ich hab die Zähne zusammengebissen. Ein so schöner Anschlag, so glücklich vollführt, und am Ende ihn auf sein Schloß zu lassen! Der verdammte Sickingen!

Adelheid. Sie hätten’s nicht tun sollen.

Weislingen. Sie saßen fest. Was konnten sie machen? Sickingen drohte mit Feuer und Schwert, der hochmütige jähzornige Mann! Ich haß ihn. Sein Ansehn nimmt zu wie ein Strom, der nur einmal ein paar Bäche gefressen hat, die übrigen folgen von selbst.

Adelheid. Hatten sie keinen Kaiser?

Weislingen. Liebe Frau! Er ist nur der Schatten davon, er wird alt und mißmutig. Wie er hörte, was geschehen war, und ich nebst den übrigen Regimentsräten eiferte, sagte er: »Laßt ihnen Ruh! Ich kann dem alten Götz wohl das Plätzchen gönnen, und wenn er da still ist, was habt ihr über ihn zu klagen?« Wir redeten vom Wohl des Staats. »Oh!« sagt‘ er, »hätt‘ ich von jeher Räte gehabt, die meinen unruhigen Geist mehr auf das Glück einzelner Menschen gewiesen hätten!«

Adelheid. Er verliert den Geist eines Regenten.

Weislingen. Wir zogen auf Sickingen los. – »Er ist mein treuer Diener«, sagt‘ er; »hat er’s nicht auf meinen Befehl getan, so tat er doch besser meinen Willen als meine Bevollmächtigten, und ich kann’s gutheißen, vor oder nach.«

Adelheid. Man möchte sich zerreißen.

Weislingen. Ich habe deswegen noch nicht alle Hoffnung aufgegeben. Er ist auf sein ritterlich Wort auf sein Schloß gelassen, sich da still zu halten. Das ist ihm unmöglich; wir wollen bald eine Ursach wider ihn haben.

Adelheid. Und desto eher, da wir hoffen können, der Kaiser werde bald aus der Welt gehn, und Karl, sein trefflicher Nachfolger, majestätischere Gesinnungen verspricht.

Weislingen. Karl? Er ist noch weder gewählt noch gekrönt.

Adelheid. Wer wünscht und hofft es nicht?

Weislingen. Du hast einen großen Begriff von seinen Eigenschaften; fast sollte man denken, du sähest sie mit andern Augen.

Adelheid. Du beleidigst mich, Weislingen. Kennst du mich für das?

Weislingen. Ich sagte nichts dich zu beleidigen. Aber schweigen kann ich nicht dazu. Karls ungewöhnliche Aufmerksamkeit für dich beunruhigt mich.

Adelheid. Und mein Betragen?

Weislingen. Du bist ein Weib. Ihr haßt keinen, der euch hofiert.

Adelheid. Aber ihr?

Weislingen. Er frißt mir am Herzen, der fürchterliche Gedanke! Adelheid!

Adelheid. Kann ich deine Torheit kurieren?

Weislingen. Wenn du wolltest! Du könntest dich vom Hof entfernen.

Adelheid. Sage Mittel und Art. Bist du nicht bei Hofe? Soll ich dich lassen und meine Freunde, um auf meinem Schloß mich mit den Uhus zu unterhalten? Nein, Weislingen, daraus wird nichts. Beruhige dich, du weißt, wie ich dich liebe.

Weislingen. Der heilige Anker in diesem Sturm, solang der Strick nicht reißt. (Ab.)

Adelheid. Fängst du’s so an! Das fehlte noch. Die Unternehmungen meines Busens sind zu groß, als daß du ihnen im Wege stehen solltest. Karl! Großer trefflicher Mann, und Kaiser dereinst! und sollte er der einzige sein unter den Männern, dem der Besitz meiner Gunst nicht schmeichelte? Weislingen, denke nicht mich zu hindern, sonst mußt du in den Boden, mein Weg geht über dich hin. (Franz kommt mit einem Brief.)

Franz. Hier, gnädige Frau.

Adelheid. Gab dir Karl ihn selbst?

Franz. Ja.

Adelheid. Was hast du? Du siehst so kummervoll.

Franz. Es ist Euer Wille, daß ich mich totschmachten soll; in den Jahren der Hoffnung macht Ihr mich verzweifeln.

Adelheid. Er dauert mich – und wie wenig kostet’s mich, ihn glücklich zu machen! Sei gutes Muts, Junge. Ich fühle deine Lieb und Treu, und werde nie unerkenntlich sein.

Franz (beklemmt). Wenn Ihr das fähig wärt, ich müßte vergehn. Mein Gott, ich habe keinen Blutstropfen in mir, der nicht Euer wäre, keinen Sinn, als Euch zu lieben und zu tun, was Euch gefällt!

Adelheid. Lieber Junge!

Franz. Ihr schmeichelt mir. (In Tränen ausbrechend.) Wenn diese Ergebenheit nichts mehr verdient, als andere sich vorgezogen zu sehn, als Eure Gedanken alle nach dem Karl gerichtet zu sehn –

Adelheid. Du weißt nicht, was du willst, noch weniger, was du redst.

Franz (vor Verdruß und Zorn mit dem Fuß stampfend). Ich will auch nicht mehr. Will nicht mehr den Unterhändler abgeben.

Adelheid. Franz! Du vergißt dich.

Franz. Mich aufzuopfern! Meinen lieben Herrn!

Adelheid. Geh mir aus dem Gesicht.

Franz. Gnädige Frau!

Adelheid. Geh, entdecke deinem lieben Herrn mein Geheimnis. Ich war die Närrin, dich für was zu halten, das du nicht bist.

Franz. Liebe gnädige Frau, Ihr wißt, daß ich Euch liebe.

Adelheid. Und du warst mein Freund, meinem Herzen so nahe. Geh, verrat mich.

Franz. Eher wollt ich mir das Herz aus dem Leibe reißen! Verzeiht mir, gnädige Frau. Mein Herz ist zu voll, meine Sinnen halten’s nicht aus.

Adelheid. Lieber warmer Junge! (Faßt ihn bei den Händen, zieht ihn zu sich, und ihre Küsse begegnen einander; er fällt ihr weinend um den Hals.)

Adelheid. Laß mich!

Franz (erstickend in Tränen an ihrem Hals). Gott! Gott!

Adelheid. Laß mich, die Mauern sind Verräter. Laß mich. (Macht sich los.) Wanke nicht von deiner Lieb und Treu, und der schönste Lohn soll dir werden. (Ab.)

Franz. Der schönste Lohn! Nur bis dahin laß mich leben! Ich wollte meinen Vater ermorden, der mir diesen Platz streitig machte.

Jagsthausen

Götz an einem Tisch. Elisabeth bei ihm mit der Arbeit; es steht ein Licht auf dem Tisch und Schreibzeug.

Götz. Der Müßiggang will mir gar nicht schmecken, und meine Beschränkung wird mir von Tag zu Tag enger; ich wollt, ich könnt schlafen, oder mir nur einbilden, die Ruhe sei was Angenehmes.

Elisabeth. So schreib doch deine Geschichte aus, die du angefangen hast. Gib deinen Freunden ein Zeugnis in die Hand, deine Feinde zu beschämen; verschaff einer edlen Nachkommenschaft die Freude, dich nicht zu verkennen.

Götz. Ach! Schreiben ist geschäftiger Müßiggang, es kommt mir sauer an. Indem ich schreibe, was ich getan, ärger ich mich über den Verlust der Zeit, in der ich etwas tun könnte.

Elisabeth (nimmt die Schrift). Sei nicht wunderlich. Du bist eben an deiner ersten Gefangenschaft in Heilbronn.

Götz. Das war mir von jeher ein fataler Ort.

Elisabeth (liest). »Da waren selbst einige von den Bündischen, die zu mir sagten: ich habe törig getan, mich meinen ärgsten Feinden zu stellen, da ich doch vermuten konnte, sie würden nicht glimpflich mit mir umgehn; da antwortet ich:« Nun, was antwortetest du? Schreibe weiter.

Götz. Ich sagte: »Setz ich so oft meine Haut an anderer Gut und Geld, sollt ich sie nicht an mein Wort setzen?«

Elisabeth. Diesen Ruf hast, du.

Götz. Den sollen sie mir nicht nehmen! Sie haben mir alles genommen, Gut, Freiheit –

Elisabeth. Es fällt in die Zeiten, wie ich die von Miltenberg und Singlingen in der Wirtsstube fand, die mich nicht kannten. Da hatt‘ ich eine Freude, als wenn ich einen Sohn geboren hätte. Sie rühmten dich untereinander und sagten: »Er ist das Muster eines Ritters, tapfer und edel in seiner Freiheit« und gelassen und treu im Unglück.«

Götz. Sie sollen mir einen stellen, dem ich mein Wort gebrochen! Und Gott weiß, daß ich mehr geschwitzt hab, meinem Nächsten zu dienen, als mir, daß ich um den Namen eines tapfern und treuen Ritters gearbeitet habe, nicht um hohe Reichtümer und Rang zu gewinnen. Und Gott sei Dank, worum ich warb, ist mir worden. (Lerse. Georg mit Wildbret.)

Götz. Glück zu, brave Jäger!

Georg. Das sind wir aus braven Reitern geworden. Aus Stiefeln machen sich leicht Pantoffeln.

Lerse. Die Jagd ist doch immer was, und eine Art von Krieg.

Georg. Wenn man nur hierzulande nicht immer mit Reichsknechten zu tun hätte. Wißt Ihr, gnädiger Herr, wie Ihr uns prophezeitet: wenn sich die Welt umkehrte, würden wir Jäger werden. Da sind wir’s ohne das.

Götz. Es kommt auf eins hinaus, wir sind aus unserm Kreise gerückt.

Georg. Es sind bedenkliche Zeiten. Schon seit acht Tagen läßt sich ein fürchterlicher Komet sehen, und ganz Deutschland ist in Angst, es bedeute den Tod des Kaisers, der sehr krank ist.

Götz. Sehr krank! Unsere Bahn geht zu Ende.

Lerse. Und hier in der Nähe gibt’s noch schrecklichere Veränderungen. Die Bauern haben einen entsetzlichen Aufstand erregt.

Götz. Wo?

Lerse. Im Herzen von Schwaben. Sie sengen, brennen und morden. Ich fürchte, sie verheeren das ganze Land.

Georg. Einen fürchterlichen Krieg gibt’s. Es sind schon an die hundert Ortschaften aufgestanden, und täglich mehr. Der Sturmwind neulich hat ganze Wälder ausgerissen, und kurz darauf hat man in der Gegend, wo der Aufstand begonnen, zwei feurige Schwerter kreuzweis in der Luft gesehn.

Götz. Da leiden von meinen guten Herrn und Freunden gewiß unschuldig mit!

Georg. Schade, daß wir nicht reiten dürfen!

V. Akt

Bauernkrieg. Tumult in

einem Dorf und Plünderung

Weiber und Alte mit Kindern und Gepäcke. Flucht.

Alter. Fort! Fort! daß wir den Mordhunden entgehen.

Weib. Heiliger Gott, wie blutrot der Himmel ist, die untergehende Sonne blutrot!

Mutter. Das bedeut Feuer.

Weib. Mein Mann! Mein Mann!

Alter. Fort! Fort! In Wald! (Ziehen vorbei. – Link.)

Link. Was sich widersetzt, niedergestochen! Das Dorf ist unser. Daß von Früchten nichts umkommt, nichts zurückbleibt. Plündert rein aus und schnell! Wir zünden gleich an. (Metzler vom Hügel heruntergelaufen.)

Metzler. Wie geht’s Euch, Link?

Link. Drunter und drüber, siehst du, du kommst zum Kehraus. Woher?

Metzler. Von Weinsberg. Da war ein Fest.

Link. Wie?

Metzler. Wir haben sie zusammengestochen, daß eine Lust war.

Link. Wen alles?

Metzler. Dietrich von Weiler tanzte vor. Der Fratz! Wir waren mit hellem wütigem Hauf herum, und er oben auf’m Kirchturn wollt gütlich mit uns handeln. Paff! Schoß ihn einer vorn Kopf. Wir hinauf wie Wetter, und zum Fenster herunter mit dem Kerl.

Link. Ah!

Metzler (zu den Bauern). Ihr Hund‘, soll ich euch Bein‘ machen! Wie sie zaudern und trenteln, die Esel.

Link. Brennt an! sie mögen drin braten! Fort! Fahrt zu, ihr Schlingel!

Metzler. Darnach führten wir heraus den Helfenstein, den Eltershofen, an die dreizehn von Adel, zusammen auf achtzig. Herausgeführt auf die Ebne gegen Heilbronn. Das war ein Jubilieren und ein Tumultuieren von den Unsrigen, wie die lange Reih arme reiche Sünder daherzog, einander anstarrten, und Erd und Himmel! Umringt waren sie, ehe sie sich’s versahen, und alle mit Spießen niedergestochen.

Link. Daß ich nicht dabei war!

Metzler. Hab mein Tag so kein Gaudium gehabt.

Link. Fahrt zu! Heraus!

Bauer. Alles ist leer.

Link. So brennt an allen Ecken.

Metzler. Wird ein hübsch Feuerchen geben. Siehst du, wie die Kerls übereinanderpurzelten und quiekten wie die Frösche! Es lief mir so warm übers Herz wie ein Glas Branntwein! Da war ein Rixinger, wenn der Kerl sonst auf die Jagd ritt, mit dem Federbusch und weiten Naslöchern, und uns vor sich hertrieb mit den Hunden und wie die Hunde. Ich hatt‘ ihn die Zeit nicht gesehen, sein Fratzengesicht fiel mir recht auf. Hasch! den Spieß ihm zwischen die Rippen, da lag er, streckt‘ alle vier über seine Gesellen. Wie die Hasen beim Treibjagen zuckten die Kerls übereinander.

Link. Raucht schon brav.

Metzler. Dort hinten brennt’s. Laß uns mit der Beute gelassen zu dem großen Haufen ziehen.

Link. Wo hält er?

Metzler. Von Heilbronn hieher zu. Sie sind um einen Hauptmann verlegen, vor dem alles Volk Respekt hätt‘. Denn wir sind doch nur ihresgleichen, das fühlen sie und werden schwürig.

Link. Wen meinen sie?

Metzler. Max Stumpf oder Götz von Berlichingen.

Link. Das wär gut, gäb auch der Sache einen Schein, wenn’s der Götz tät; er hat immer für einen rechtschaffnen Ritter gegolten. Auf! Auf! wir ziehen nach Heilbronn zu! Ruft’s herum.

Metzler. Das Feuer leucht uns noch eine gute Strecke. Hast du den großen Kometen gesehen?

Link. Ja. Das ist ein grausam erschrecklich Zeichen! Wenn wir die Nacht durch ziehen, können wir ihn recht sehen. Er geht gegen eins auf.

Metzler. Und bleibt nur fünf Viertelstunden. Wie ein gebogner Arm mit einem Schwert sieht er aus, so blutgelbrot.

Link. Hast du die drei Stern gesehen an des Schwerts Spitze und Seite?

Metzler. Und der breite wolkenfärbige Streif, mit tausend und tausend Striemen wie Spieß‘, und dazwischen wie kleine Schwerter.

Link. Mir hat’s gegraust. Wie das alles so bleichrot, und darunter viel feurige helle Flamme, und dazwischen die grausamen Gesichter mit rauchen Häuptern und Bärten!

Metzler. Hast du die auch gesehen? Und das zwitzert alles so durcheinander, als läg’s in einem blutigen Meere, und arbeitet durcheinander, daß einem die Sinne vergehn!

Link. Auf! Auf! (Ab.)

Feld

Man sieht in der Ferne zwei Dörfer brennen und ein Kloster. Kohl. Wild. Max Stumpf. Haufen.

Max Stumpf. Ihr könnt nicht verlangen, daß ich euer Hauptmann sein soll. Für mich und euch wär’s nichts nütze. Ich bin Pfalzgräfischer Diener; wie sollt ich gegen meinen Herrn führen? Ihr würdet immer wähnen, ich rät nicht von Herzen.

Kohl. Wußten wohl, du würdest Entschuldigung finden. (Götz, Lerse, Georg kommen.)

Götz. Was wollt ihr mit mir?

Kohl. Ihr sollt unser Hauptmann sein.

Götz. Soll ich mein ritterlich Wort dem Kaiser brechen und aus meinem Bann gehen?

Wild. Das ist keine Entschuldigung.

Götz. Und wenn ich ganz frei wäre, und ihr wollt handeln wie bei Weinsberg an den Edeln und Herrn, und so forthausen, wie rings herum das Land brennt und blutet, und ich sollt euch behülflich sein zu euerm schändlichen rasenden Wesen – eher sollt ihr mich totschlagen wie einen wütigen Hund, als daß ich euer Haupt würde!

Kohl. Wäre das nicht geschehen, es geschähe vielleicht nimmermehr.

Stumpf. Das war eben das Unglück, daß sie keinen Führer hatten, den sie geehrt, und der ihrer Wut Einhalt tun können. Nimm die Hauptmannschaft an, ich bitte dich, Götz. Die Fürsten werden dir Dank wissen, ganz Deutschland. Es wird zum Besten und Frommen aller sein. Menschen und Länder werden geschont werden.

Götz. Warum übernimmst du’s nicht?

Stumpf. Ich hab mich von ihnen losgesagt.

Kohl. Wir haben nicht Sattelhenkens Zeit, und langer unnötiger Diskurse. Kurz und gut. Götz, sei unser Hauptmann, oder sieh zu deinem Schloß und deiner Haut. Und hiermit zwei Stunden Bedenkzeit. Bewacht ihn.

Götz. Was braucht’s das! Ich bin so gut entschlossen – jetzt als darnach. Warum seid ihr ausgezogen? Eure Rechte und Freiheiten wiederzuerlangen? Was wütet ihr und verderbt das Land! Wollt ihr abstehen von allen Übeltaten und handeln als wackre Leute, die wissen, was sie wollen, so will ich euch behülflich sein zu euern Forderungen und auf acht Tag euer Hauptmann sein.

Wild. Was geschehen ist, ist in der ersten Hitz geschehen, und braucht’s deiner nicht, uns künftig zu hindern.

Kohl. Auf ein Vierteljahr wenigstens mußt du uns zusagen.

Stumpf. Macht vier Wochen, damit könnt ihr beide zufrieden sein.

Götz. Meinetwegen.

Kohl. Eure Hand!

Götz. Und gelobt mir, den Vertrag, den ihr mit mir gemacht, schriftlich an alle Haufen zu senden, ihm bei Strafe streng nachzukommen.

Wild. Nun ja! Soll geschehen.

Götz. So verbind ich mich euch auf vier Wochen.

Stumpf. Glück zu! Was du tust, schon unsern gnädigen Herrn den Pfalzgrafen.

Kohl (leise). Bewacht ihn. Daß niemand mit ihm rede außer eurer Gegenwart.

Götz. Lerse! Kehr zu meiner Frau. Steh ihr bei. Sie soll bald Nachricht von mir haben. (Götz, Stumpf, Georg, Lerse, einige Bauern ab. – Metzler, Link kommen.)

Metzler. Was hören wir von einem Vertrag? Was soll der Vertrag?

Link. Es ist schändlich, so einen Vertrag einzugehen.

Kohl. Wir wissen so gut, was wir wollen, als ihr, und haben zu tun und zu lassen.

Wild. Das Rasen und Brennen und Morden mußte doch einmal aufhören, heut oder morgen! so haben wir noch einen braven Hauptmann dazu gewonnen.

Metzler. Was aufhören! Du Verräter! Warum sind wir da? Uns an unsern Feinden zu rächen, uns emporzuhelfen! – Das hat euch ein Fürstenknecht geraten.

Kohl. Komm, Wild, er ist wie ein Vieh. (Ab.)

Metzler. Geht nur! Wird euch kein Haufen zustehn. Die Schurken! Link, wir wollen die andern aufhetzen, Miltenberg dort drüben anzünden, und wenn’s Händel setzt wegen des Vertrags, schlagen wir den Verträgern zusammen die Köpf ab.

Link. Wir haben doch den großen Haufen auf unsrer Seite.

Berg und Tal. Eine Mühle in der Tiefe

Ein Trupp Reiter. Weislingen kommt aus der Mühle mit Franzen und einem Boten.

Weislingen. Mein Pferd! – Ihr habt’s den andern Herrn auch angesagt?

Bote. Wenigstens sieben Fähnlein werden mit Euch eintreffen, im Wald hinter Miltenberg. Die Bauern ziehen unten herum. Überall sind Boten ausgeschickt, der ganze Bund wird in kurzem zusammen sein. Fehlen kann’s nicht; man sagt, es sei Zwist unter ihnen.

Weislingen. Desto besser! – Franz!

Franz. Gnädiger Herr?

Weislingen. Richt es pünktlich aus. Ich bind es dir auf deine Seele. Gib ihr den Brief. Sie soll vom Hof auf mein Schloß! Sogleich! Du sollst sie abreisen sehn, und mir’s dann melden.

Franz. Soll geschehen, wie Ihr befehlt.

Weislingen. Sag ihr, sie soll wollen. (Zum Boten.) Führt uns nun den nächsten und besten Weg.

Bote. Wir müssen umziehen. Die Wasser sind von den entsetzlichen Regen alle ausgetreten.

Jagsthausen

Elisabeth. Lerse.

Lerse. Tröstet Euch, gnädige Frau!

Elisabeth. Ach, Lerse, die Tränen stunden ihm in den Augen, wie er Abschied von mir nahm. Es ist grausam, grausam!

Lerse. Er wird zurückkehren.

Elisabeth. Es ist nicht das. Wenn er auszog, rühmlichen Sieg zu erwerben, da war mir’s nicht weh ums Herz. Ich freute mich auf seine Rückkunft, vor der mir jetzt bang ist.

Lerse. Ein so edler Mann –

Elisabeth. Nenn ihn nicht so, das macht neu Elend. Die Bösewichter! Sie drohten, ihn zu ermorden, und sein Schloß anzuzünden. – Wenn er wiederkommen wird – ich seh ihn finster, finster. Seine Feinde werden lügenhafte Klagartikel schmieden, und er wird nicht sagen können: Nein!

Lerse. Er wird und kann.

Elisabeth. Er hat seinen Bann gebrochen. Sag Nein!

Lerse. Nein! Er ward gezwungen; wo ist der Grund, ihn zu verdammen?

Elisabeth. Die Bosheit sucht keine Gründe, nur Ursachen. Er hat sich zu Rebellen, Missetätern, Mördern gesellt, ist an ihrer Spitze gezogen. Sage Nein!

Lerse. Laßt ab, Euch zu quälen und mich. Haben sie ihm nicht feierlich zugesagt, keine Tathandlungen mehr zu unternehmen, wie die bei Weinsberg? Hört ich sie nicht selbst halbreuig sagen: Wenn’s nicht geschehen wär, geschäh’s vielleicht nie? Müßten nicht Fürsten und Herrn ihm Dank wissen, wenn er freiwillig Führer eines unbändigen Volks geworden wäre, um ihrer Raserei Einhalt zu tun und so viel Menschen und Besitztümer zu schonen?

Elisabeth. Du bist ein liebevoller Advokat. – Wenn sie ihn gefangennähmen, als Rebell behandelten, und sein graues Haupt – Lerse, ich möchte von Sinnen kommen.

Lerse. Sende ihrem Körper Schlaf, lieber Vater der Menschen, wenn du ihrer Seele keinen Trost geben willst!

Elisabeth. Georg hat versprochen, Nachricht zu bringen. Er wird auch nicht dürfen, wie er will. Sie sind ärger als gefangen. Ich weiß, man bewacht sie wie Feinde. Der gute Georg! Er wollte nicht von seinem Herrn weichen.

Lerse. Das Herz blutete mir, wie er mich von sich schickte. Wenn Ihr nicht meiner Hülfe bedürftet, alle Gefahren des schmählichsten Todes sollten mich nicht von ihm getrennt haben.

Elisabeth. Ich weiß nicht, wo Sickingen ist. Wenn ich nur Marien einen Boten schicken könnte.

Lerse. Schreibt nur, ich will dafür sorgen. (Ab.)

Bei einem Dorf

Götz. Georg.

Götz. Geschwind zu Pferde, Georg! ich sehe Miltenberg brennen. Halten sie so den Vertrag? Reit hin, sag ihnen die Meinung. Die Mordbrenner! Ich sage mich von ihnen los. Sie sollen einen Zigeuner zum Hauptmann machen, nicht mich. Geschwind, Georg. (Georg ab.) Wollt, ich wäre tausend Meilen davon, und läg im tiefsten Turn, der in der Türkei steht. Könnt ich mit Ehren von ihnen kommen! Ich fahr ihnen alle Tag durch den Sinn, sag ihnen die bittersten Wahrheiten, daß sie mein müde werden und mich erlassen sollen. (Ein Unbekannter.)

Unbekannter. Gott grüß Euch, sehr edler Herr.

Götz. Gott dank Euch. Was bringt Ihr? Euern Namen?

Unbekannter. Der tut nichts zur Sache. Ich komme, Euch zu sagen, daß Euer Kopf in Gefahr ist. Die Anführer sind müde, sich von Euch so harte Worte geben zu lassen, haben beschlossen, Euch aus dem Weg zu räumen. Mäßigt Euch oder seht zu entwischen, und Gott geleit Euch. (Ab.)

Götz. Auf diese Art dein Leben zu lassen, Götz, und so zu enden! Es sei drum! So ist mein Tod der Welt das sicherste Zeichen, daß ich nichts Gemeines mit den Hunden gehabt habe. (Einige Bauern.)

Erster Bauer. Herr, Herr! Sie sind geschlagen, sie sind gefangen.

Götz. Wer?

Zweiter Bauer. Die Miltenberg verbrannt haben. Es zog sich ein Bündischer Trupp hinter dem Berg hervor und überfiel sie auf einmal.

Götz. Sie erwartet ihr Lohn. – O Georg! Georg! – Sie haben ihn mit den Bösewichtern gefangen – Mein Georg! Mein Georg! – (Anführer kommen.)

Link. Auf, Herr Hauptmann, auf! Es ist nicht Säumens Zeit. Der Feind ist in der Nähe und mächtig.

Götz. Wer verbrannte Miltenberg?

Metzler. Wenn Ihr Umstände machen wollt, so wird man Euch weisen, wie man keine macht.

Kohl. Sorgt für unsere Haut und Eure. Auf! Auf!

Götz (zu Metzler). Drohst du mir! Du Nichtswürdiger! Glaubst du, daß du mir fürchterlicher bist, weil des Grafen von Helfenstein Blut an deinen Kleidern klebt?

Metzler. Berlichingen!

Götz. Du darfst meinen Namen nennen, und meine Kinder werden sich dessen nicht schämen.

Metzler. Mit dir feigem Kerl! Fürstendiener!

Götz (haut ihn über den Kopf, daß er stürzt. Die andern treten dazwischen).

Kohl. Ihr seid rasend. Der Feind bricht auf allen Seiten ‚rein, und ihr hadert!

Link. Auf! Auf! (Tumult und Schlacht. – Weislingen. Reiter.)

Weislingen. Nach! Nach! Sie fliehen. Laßt euch Regen und Nacht nicht abhalten. Götz ist unter ihnen, hör ich. Wendet Fleiß an, daß ihr ihn erwischt. Er ist schwer verwundet, sagen die Unsrigen. (Die Reiter ab.) Und wenn ich dich habe! – Es ist noch Gnade, wenn wir heimlich im Gefängnis dein Todesurteil vollstrecken. – So verlischt er vor dem Andenken der Menschen, und du kannst freier atmen, törichtes Herz. (Ab.)

Nacht, im wilden Wald. Zigeunerlager

Zigeunermutter am Feuer.

Mutter. Flick das Strohdach über der Grube, Tochter, gibt hint nacht noch Regen genug. (Knab kommt.)

Knab. Ein Hamster, Mutter. Da! Zwei Feldmäus.

Mutter. Will sie dir abziehen und braten, und sollst eine Kapp haben von den Fellchen. – Du blutst?

Knab. Hamster hat mich bissen.

Mutter. Hol mir dürr Holz, daß das Feuer loh brennt wenn dein Vater kommt, wird naß sein durch und durch. (Andre Zigeunerin, ein Kind auf dem Rücken.)

Erste Zigeunerin. Hast du brav geheischen?

Zweite Zigeunerin. Wenig genug. Das Land ist voll Tumult herum, daß man seins Lebens nicht sicher ist. Brennen zwei Dörfer lichterloh.

Erste Zigeunerin. Ist das dort drunten Brand, der Schein? Seh ihm schon lang zu. Man ist die Feuerzeichen am Himmel zeither so gewohnt worden. (Zigeunerhauptmann, drei Gesellen kommen.)

Hauptmann. Hört ihr den wilden Jäger?

Erster Zigeuner. Er zieht grad über uns hin.

Hauptmann. Wie die Hunde bellen! Wau! Wau!

Zweiter Zigeuner. Die Peitschen knallen.

Dritter Zigeuner. Die Jäger jauchzen holla ho!

Mutter. Bringt ja des Teufels sein Gepäck!

Hauptmann. Haben im Trüben gefischt. Die Bauern rauben selbst, ist’s uns wohl vergönnt.

Zweite Zigeunerin. Was hast du, Wolf?

Wolf. Einen Hasen, da, und einen Hahn; ein Bratspieß; ein Bündel Leinwand; drei Kochlöffel und ein Pferdzaum.

Sticks. Ein wullen Deck hab ich, ein Paar Stiefeln, und Zunder und Schwefel.

Mutter. Ist alles pudelnaß, wollen’s trocknen, gebt her.

Hauptmann. Horch, ein Pferd! Geht! Seht, was ist. (Götz zu Pferd.)

Götz. Gott sei Dank! Dort seh ich Feuer, sind Zigeuner. Meine Wunden verbluten, die Feinde hinterher. Heiliger Gott, du endigst gräßlich mit mir!

Hauptmann. Ist’s Friede daß du kommst?

Götz. Ich flehe Hülfe von euch. Meine Wunden ermatten mich. Helft mir vom Pferd!

Hauptmann. Helf ihm! Ein edler Mann, an Gestalt und Wort.

Wolf (leise). Es ist Götz von Berlichingen.

Hauptmann. Seid willkommen! Alles ist Euer, was wir haben.

Götz. Dank Euch.

Hauptmann. Kommt in mein Zelt.

Hauptmanns Zelt

Hauptmann. Götz.

Hauptmann. Ruft der Mutter, sie soll Blutwurzel bringen und Pflaster.

Götz (legt den Harnisch ab).

Hauptmann. Hier ist mein Feiertagswams.

Götz. Gott lohn’s.

(Mutter verbindt ihn.)

Hauptmann. Ist mir herzlich lieb, Euch zu haben.

Götz. Kennt Ihr mich?

Hauptmann. Wer sollte Euch nicht kennen! Götz, unser Leben und Blut lassen wir für Euch.

(Schricks.)

Schricks. Kommen durch den Wald Reiter. Sind Bündische.

Hauptmann. Eure Verfolger! Sie sollen nit bis zu Euch kommen! Auf, Schricks! Biete den andern! Wir kennen die Schliche besser als sie, wir schießen sie nieder, eh sie uns gewahr werden.

Götz (allein). O Kaiser! Kaiser! Räuber beschützen deine Kinder. (Man hört scharf schießen.) Die wilden Kerls, starr und treu!

(Zigeunerin.)

Zigeunerin. Rettet Euch! Die Feinde überwältigen.

Götz. Wo ist mein Pferd?

Zigeunerin. Hierbei.

Götz (gürtet sich und sitzt auf ohne Harnisch). Zum letztenmal sollen sie meinen Arm fühlen. Ich bin so schwach noch nicht. (Ab.)

Zigeunerin. Er sprengt zu den Unsrigen.

(Flucht.)

Wolf. Fort, fort! Alles verloren. Unser Hauptmann erschossen. Götz gefangen.

(Geheul der Weiber und Flucht.)

Adelheidens Schlafzimmer

Adelheid mit einem Brief.

Adelheid. Er, oder ich! Der Übermütige! Mir drohen! – Wir wollen dir zuvorkommen. Was schleicht durch den Saal? (Es klopft.) Wer ist draußen?

(Franz leise.)

Franz. Macht mir auf, gnädige Frau.

Adelheid. Franz! Er verdient wohl, daß ich ihm aufmache. (Läßt ihn ein.)

Franz (fällt ihr um den Hals). Liebe gnädige Frau.

Adelheid. Unverschämter! Wenn dich jemand gehört hätte.

Franz. O es schläft alles, alles!

Adelheid. Was willst du?

Franz. Mich läßt’s nicht ruhen. Die Drohungen meines Herrn, Euer Schicksal, mein Herz.

Adelheid. Er war sehr zornig, als du Abschied nahmst?

Franz. Als ich ihn nie gesehen. Auf ihre Güter soll sie, sagt‘ er, sie soll wollen.

Adelheid. Und wir folgen?

Franz. Ich weiß nichts, gnädige Frau.

Adelheid. Betrogener törichter Junge, du siehst nicht, wo das hinaus will. Hier weiß er mich in Sicherheit. Denn lange steht’s ihm schon nach meiner Freiheit. Er will mich auf seine Güter. Dort hat er Gewalt, mich zu behandeln, wie sein Haß ihm eingibt.

Franz. Er soll nicht!

Adelheid. Wirst du ihn hindern?

Franz. Er soll nicht!

Adelheid. Ich seh mein ganzes Elend voraus. Von seinem Schloß wird er mich mit Gewalt reißen, wird mich in ein Kloster sperren.

Franz. Hölle und Tod!

Adelheid. Wirst du mich retten?

Franz. Eh alles! alles!

Adelheid (die weinend ihn umhalst). Franz, ach uns zu retten!

Franz. Er soll nieder, ich will ihm den Fuß auf den Nacken setzen.

Adelheid. Keine Wut! Du sollst einen Brief an ihn haben, voll Demut, daß ich gehorche. Und dieses Fläschchen gieß ihm unter das Getränk.

Franz. Gebt. Ihr sollt frei sein!

Adelheid. Frei! Wenn du nicht mehr zitternd auf deinen Zehen zu mir schleichen wirst – nicht mehr ich ängstlich zu dir sage: »Brich auf, Franz, der Morgen kommt.«

Heilbronn, vorm Turn

Elisabeth. Lerse.

Lerse. Gott nehm das Elend von Euch, gnädige Frau. Marie ist hier.

Elisabeth. Gott sei Dank! Lerse, wir sind in entsetzliches Elend versunken. Da ist’s nun, wie mir alles ahnete! Gefangen, als Meuter, Missetäter in den tiefsten Turn geworfen

Lerse. Ich weiß alles.

Elisabeth. Nichts, nichts weißt du, der Jammer ist zu groß! Sein Alter, seine Wunden, ein schleichend Fieber und, mehr als alles das, die Finsternis seiner Seele, daß es so mit ihm enden soll.

Lerse. Auch, und daß der Weislingen Kommissar ist.

Elisabeth. Weislingen?

Lerse. Man hat mit unerhörten Exekutionen verfahren. Metzler ist lebendig verbrannt, zu Hunderten gerädert, gespießt, geköpft, geviertelt. Das Land umher gleicht einer Metzge, wo Menschenfleisch wohlfeil ist.

Elisabeth. Weislingen Kommissar! O Gott! Ein Strahl von Hoffnung. Marie soll mir zu ihm, er kann ihr nichts abschlagen. Er hatte immer ein weiches Herz, und wenn er sie sehen wird, die er so liebte, die so elend durch ihn ist – Wo ist sie?

Lerse. Noch im Wirtshaus.

Elisabeth. Führe mich zu ihr. Sie muß gleich fort. Ich fürchte alles.

Weislingens Schloß

Weislingen.

Weislingen. Ich bin so krank, so schwach. Alle meine Gebeine sind hohl. Ein elendes Fieber hat das Mark ausgefressen. Keine Ruh und Rast, weder Tag noch Nacht. Im halben Schlummer giftige Träume. Die vorige Nacht begegnete ich Götzen im Wald. Er zog sein Schwert und forderte mich heraus. Ich faßte nach meinem, die Hand versagte mir. Da stieß er’s in die Scheide, sah mich verächtlich an und ging hinter mich. – Er ist gefangen, und ich zittre vor ihm. Elender Mensch! Dein Wort hat ihn zum Tode verurteilt, und du bebst vor seiner Traumgestalt wie ein Missetäter! – Und soll er sterben? – Götz! Götz! – Wir Menschen führen uns nicht selbst; bösen Geistern ist Macht über uns gelassen, daß sie ihren höllischen Mutwillen an unserm Verderben üben. (Setzt sich.) – Matt! Matt! Wie sind meine Nägel so blau! – Ein kalter, kalter, verzehrender Schweiß lähmt mir jedes Glied. Es dreht mir alles vorm Gesicht. Könnt ich schlafen. Ach –

(Maria tritt auf.)

Weislingen. Jesus Marie! – Laß mir Ruh! Laß mir Ruh! – Die Gestalt fehlte noch! Sie stirbt, Marie stirbt, und zeigt sich mir an. – Verlaß mich, seliger Geist, ich bin elend genug.

Maria. Weislingen, ich bin kein Geist. Ich bin Marie.

Weislingen. Das ist ihre Stimme.

Maria. Ich komme, meines Bruders Leben von dir zu erflehen. Er ist unschuldig, so strafbar er scheint.

Weisling. Still, Marie! Du Engel des Himmels bringst die Qualen der Hölle mit dir. Rede nicht fort.

Maria. Und mein Bruder soll sterben? Weislingen, es ist entsetzlich, daß ich dir zu sagen brauche: er ist unschuldig; daß ich jammern muß, dich von dem abscheulichsten Morde zurückzuhalten. Deine Seele ist bis in ihre innersten Tiefen von feindseligen Mächten besessen. Das ist Adelbert!

Weislingen. Du siehst, der verzehrende Atem des Todes hat mich angehaucht, meine Kraft sinkt nach dem Grabe. Ich stürbe als ein Elender, und du kommst, mich in Verzweiflung zu stürzen. Wenn ich reden könnte, dein höchster Haß würde in Mitleid und Jammer zerschmelzen. O Marie! Marie!

Maria. Weislingen, mein Bruder verkranket im Gefängnis. Seine schweren Wunden, sein Alter. Und wenn du fähig wärst, sein graues Haupt – Weislingen, wir würden verzweifeln.

Weislingen. Genug. (Zieht die Schelle.)

(Franz in äußerster Bewegung.)

Franz. Gnädiger Herr.

Weislingen. Die Papiere dort, Franz!

Franz (bringt sie).

Weislingen (reißt ein Paket auf und zeigt Marien ein Papier). Hier ist deines Bruders Todesurteil unterschrieben.

Maria. Gott im Himmel!

Weislingen. Und so zerreiß ich’s! Er lebt. Aber kann ich wieder schaffen, was ich zerstört habe? Weine nicht so, Franz! Guter Junge, dir geht mein Elend tief zu Herzen.

Franz (wirft sich vor ihm nieder und faßt seine Knie).

Maria (vor sich). Er ist sehr krank. Sein Anblick zerreißt mir das Herz. Wie liebt ich ihn! und nun ich ihm nahe, fühl ich, wie lebhaft.

Weislingen. Franz, steh auf und laß das Weinen! Ich kann wieder aufkommen. Hoffnung ist bei den Lebenden.

Franz. Ihr werdet nicht. Ihr müßt sterben.

Weislingen. Ich muß?

Franz (außer sich). Gift! Gift! Von Euerm Weibe! – Ich! Ich! (Rennt davon.)

Weislingen. Marie, geh ihm nach. Er verzweifelt. (Maria ab.) Gift von meinem Weibe! Weh! Weh! Ich fühl’s. Marter und Tod!

Maria (inwendig). Hülfe! Hülfe!

Weislingen (will aufstehn). Gott, vermag ich das nicht!

Maria (kommt). Er ist hin. Zum Saalfenster hinaus stürzt‘ er wütend in den Main hinunter.

Weislingen. Ihm ist wohl. – Dein Bruder ist außer Gefahr. Die übrigen Kommissarien, Seckendorf besonders, sind seine Freunde. Ritterlich Gefängnis werden sie ihm auf sein Wort gleich gewähren. Leb wohl, Maria, und geh.

Maria. Ich will bei dir bleiben, armer Verlaßner.

Weislingen. Wohl verlassen und arm! Du bist ein furchtbarer Rächer, Gott! – Mein Weib –

Maria. Entschlage dich dieser Gedanken. Kehre dein Herz zu dem Barmherzigen.

Weislingen. Geh, liebe Seele, überlaß mich meinem Elend. – Entsetzlich! Auch deine Gegenwart, Marie, der letzte Trost, ist Qual.

Maria (vor sich). Stärke mich, o Gott! Meine Seele erliegt mit der seinigen.

Weislingen. Weh! Weh! Gift von meinem Weibe! – Mein Franz verführt durch die Abscheuliche! Wie sie wartet, horcht auf den Boten, der ihr die Nachricht bringe: er ist tot. Und du, Marie! Marie, warum bist du gekommen, daß du jede schlafende Erinnerung meiner Sünden wecktest! Verlaß mich! Verlaß mich, daß ich sterbe.

Maria. Laß mich bleiben. Du bist allein. Denk, ich sei deine Wärterin. Vergiß alles. Vergesse dir Gott so alles, wie ich dir alles vergesse.

Weislingen. Du Seele voll Liebe, bete für mich, bete für mich! Mein Herz ist verschlossen.

Maria. Er wird sich deiner erbarmen. – Du bist matt.

Weislingen. Ich sterbe, sterbe und kann nicht ersterben. Und in dem fürchterlichen Streit des Lebens und Todes sind die Qualen der Hölle.

Maria. Erbarmer, erbarme dich seiner! Nur einen Blick deiner Liebe an sein Herz, daß es sich zum Trost öffne, und sein Geist Hoffnung, Lebenshoffnung in den Tod hinüberbringe!

In einem finstern engen Gewölbe

Die Richter des heimlichen Gerichts. Alle vermummt.

Ältester. Richter des heimlichen Gerichts, schwurt auf Strang und Schwert, unsträflich zu sein, zu richten im Verborgnen, zu strafen im Verborgnen Gott gleich! Sind eure Herzen rein und eure Hände, hebt die Arme empor, ruft über die Missetäter: »Wehe! Wehe!«

Alle. Wehe! Wehe!

Ältester. Rufer, beginne das Gericht!

Rufer. Ich, Rufer, rufe die Klag gegen den Missetäter. Des Herz rein ist, dessen Händ rein sind zu schwören auf Strang und Schwert, der klage bei Strang und Schwert! klage! klage!

Kläger (tritt vor). Mein Herz ist rein von Missetat, meine Hände von unschuldigem Blut. Verzeih mir Gott böse Gedanken und hemme den Weg zum Willen! Ich hebe meine Hand auf und klage! klage! klage!

Ältester. Wen klagst du an?

Kläger. Klage an auf Strang und Schwert Adelheiden von Weislingen. Sie hat Ehebruchs sich schuldig gemacht, ihren Mann vergiftet durch ihren Knaben. Der Knab hat sich selbst gerichtet, der Mann ist tot.

Ältester. Schwörst du zu dem Gott der Wahrheit, daß du Wahrheit klagst?

Kläger. Ich schwöre.

Ältester. Würd es falsch befunden, beutst du deinen Hals der Strafe des Mords und des Ehebruchs?

Kläger. Ich biete.

Ältester. Eure Stimmen.

(Sie reden heimlich zu ihm.)

Kläger. Richter des heimlichen Gerichts, was ist euer Urteil über Adelheiden von Weislingen, bezüchtigt des Ehebruchs und Mords?

Ältester. Sterben soll sie! sterben des bittern doppelten Todes; mit Strang und Dolch büßen doppelt doppelte Missetat. Streckt eure Hände empor, und rufet Weh über sie! Weh! Weh! In die Hände des Rächers.

Alle. Weh! Weh! Weh!

Ältester. Rächer! Rächer, tritt auf.

Rächer (tritt vor).

Ältester. Faß hier Strang und Schwert, sie zu tilgen von dem Angesicht des Himmels, binnen acht Tage Zeit. Wo du sie findest, nieder mit ihr in Staub! – Richter, die ihr richtet im Verborgenen und strafet im Verborgenen Gott gleich, bewahrt euer Herz vor Missetat und eure Hände vor unschuldigem Blut.

Hof einer Herberge

Maria. Lerse.

Maria. Die Pferde haben genug gerastet. Wir wollen fort, Lerse.

Lerse. Ruht doch bis an Morgen. Die Nacht ist gar zu unfreundlich.

Maria. Lerse, ich habe keine Ruhe, bis ich meinen Bruder gesehen habe. Laß uns fort. Das Wetter hellt sich aus, wir haben einen schönen Tag zu gewarten.

Lerse. Wie Ihr befehlt.

Heilbronn, im Turn

Götz. Elisabeth.

Elisabeth. Ich bitte dich, lieber Mann, rede mit mir. Dein Stillschweigen ängstet mich. Du verglühst in dir selbst. Komm, laß uns nach deinen Wunden sehen; sie bessern sich um vieles. In der mutlosen Finsternis erkenn ich dich nicht mehr.

Götz. Suchtest du den Götz? Der ist lang hin. Sie haben mich nach und nach verstümmelt, meine Hand, meine Freiheit, Güter und guten Namen. Mein Kopf, was ist an dem? – Was hört Ihr von Georgen? Ist Lerse nach Georgen?

Elisabeth. Ja, Lieber! Richtet Euch auf, es kann sich vieles wenden.

Götz. Wen Gott niederschlägt, der richtet sich selbst nicht auf. Ich weiß am besten, was auf meinen Schultern liegt. Unglück bin ich gewohnt zu dulden. Und jetzt ist’s nicht Weislingen allein, nicht die Bauern allein, nicht der Tod des Kaisers und meine Wunden – Es ist alles zusammen. Meine Stunde ist kommen. Ich hoffte, sie sollte sein wie mein Leben. Sein Wille geschehe.

Elisabeth. Willt du nicht was essen?

Götz. Nichts, meine Frau. Sieh, wie die Sonne draußen scheint.

Elisabeth. Ein schöner Frühlingstag.

Götz. Meine Liebe, wenn du den Wächter bereden könntest, mich in sein klein Gärtchen zu lassen auf eine halbe Stunde, daß ich der lieben Sonne genösse, des heitern Himmels und der reinen Luft.

Elisabeth. Gleich! und er wird’s wohl tun.

Gärtchen am Turn

Maria. Lerse.

Maria. Geh hinein und sieh, wie’s steht.

(Lerse ab. – Elisabeth. Wächter.)

Elisabeth. Gott vergelt Euch die Lieb und Treu an meinem Herrn. (Wächter ab.) Maria, was bringst du?

Maria. Meines Bruders Sicherheit. Ach, aber mein Herz ist zerrissen. Weislingen ist tot, vergiftet von seinem Weibe. Mein Mann ist in Gefahr. Die Fürsten werden ihm zu mächtig, man sagt, er sei eingeschlossen und belagert.

Elisabeth. Glaubt dem Gerüchte nicht. Und laßt Götzen nichts merken.

Maria. Wie steht’s um ihn?

Elisabeth. Ich fürchtete, er würde deine Rückkunft nicht erleben. Die Hand des Herrn liegt schwer auf ihm. Und Georg ist tot.

Maria. Georg! der goldne Junge!

Elisabeth. Als die Nichtswürdigen Miltenberg verbrannten, sandte ihn sein Herr, ihnen Einhalt zu tun. Da fiel ein Trupp Bündischer auf sie los. – Georg! hätten sie sich alle gehalten wie er, sie hätten alle das gute Gewissen haben müssen. Viel wurden erstochen, und Georg mit: er starb einen Reiterstod.

Maria. Weiß es Götz?

Elisabeth. Wir verbergen’s vor ihm. Er fragt mich zehnmal des Tags, und schickt mich zehnmal des Tags zu forschen, was Georg macht. Ich fürchte seinem Herzen diesen letzten Stoß zu geben.

Maria. O Gott, was sind die Hoffnungen dieser Erden!

(Götz. Lerse. Wächter.)

Götz. Allmächtiger Gott! Wie wohl ist’s einem unter deinem Himmel! Wie frei! – Die Bäume treiben Knospen, und alle Welt hofft. Lebt wohl, meine Lieben; meine Wurzeln sind abgehauen, meine Kraft sinkt nach dem Grabe.

Elisabeth. Darf ich Lersen nach deinem Sohn ins Kloster schicken, daß du ihn noch einmal siehst und segnest?

Götz. Laß ihn, er ist heiliger als ich, er braucht meinen Segen nicht. – An unsrem Hochzeittag, Elisabeth, ahnte mir’s nicht, daß ich so sterben würde. – Mein alter Vater segnete uns, und eine Nachkommenschaft von edeln tapfern Söhnen quoll aus seinem Gebet. – Du hast ihn nicht erhört, und ich bin der Letzte. – Lerse, dein Angesicht freut mich in der Stunde des Todes mehr als im mutigsten Gefecht. Damals führte mein Geist den eurigen; jetzt hältst du mich aufrecht. Ach daß ich Georgen noch einmal sähe, mich an seinem Blick wärmte! – Ihr seht zur Erden und weint – Er ist tot – Georg ist tot. – Stirb, Götz – Du hast dich selbst überlebt, die Edeln überlebt. – Wie starb er? – Ach fingen sie ihn unter den Mordbrennern, und er ist hingerichtet?

Elisabeth. Nein, er wurde bei Miltenberg erstochen. Er wehrte sich wie ein Löw um seine Freiheit.

Götz. Gott sei Dank! – Er war der beste Junge unter der Sonne und tapfer. – Löse meine Seele nun! – Arme Frau! Ich lasse dich in einer verderbten Welt. Lerse, verlaß sie nicht. – Schließt eure Herzen sorgfältiger als eure Tore. Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen. Maria, gebe dir Gott deinen Mann wieder. Möge er nicht so tief fallen, als er hoch gestiegen ist! Selbitz starb, und der gute Kaiser, und mein Georg. – Gebt mir einen Trunk Wasser. – Himmlische Luft – Freiheit! Freiheit! (Er stirbt.)

Elisabeth. Nur droben, droben bei dir. Die Welt ist ein Gefängnis.

Maria. Edler Mann! Edler Mann! Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß!

Lerse. Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!

Johann Wolfgang von Goethe – Faust, Der Tragödie zweiter Teil

Johann Wolfgang von Goethe: Faust, Der Tragödie zweiter Teil

Anmutige Gegend

 

ARIEL:
Wenn der Blüten Frühlingsregen
über alle schwebend sinkt,
Wenn der Felder grüner Segen
Allen Erdgebornen blinkt,
Kleiner Elfen Geistergröße
Eilet, wo sie helfen kann,
Ob er heilig, ob er böse,
Jammert sie der Unglücksmann.
Die ihr dies Haupt umschwebt im luft’gen Kreise,
Erzeigt euch hier nach edler Elfen Weise,
Besänftiget des Herzens grimmen Strauß,
Entfernt des Vorwurfs glühend bittre Pfeile,
Sein Innres reinigt von erlebtem Graus.
Vier sind die Pausen nächtiger Weile,
Nun ohne Säumen füllt sie freundlich aus.
Erst senkt sein Haupt aufs kühle Polster nieder,
Dann badet ihn in Tau aus Lethes Flut;
Gelenk sind bald die krampferstarrten Glieder,
Wenn er gestärkt dem Tag entgegenruht;
Vollbringt der Elfen schönste Pflicht,
Gebt ihn zurück dem heiligen Licht.

CHOR:
Wenn sich lau die Lüfte füllen
Um den grünumschränkten Plan,
Süße Düfte, Nebelhüllen
Senkt die Dämmerung heran.
Lispelt leise süßen Frieden,
Wiegt das Herz in Kindesruh;
Und den Augen dieses Müden
Schließt des Tages Pforte zu.
Nacht ist schon hereingesunken,
Schließt sich heilig Stern an Stern,
Große Lichter, kleine Funken
Glitzern nah und glänzen fern;
Glitzern hier im See sich spiegelnd,
Glänzen droben klarer Nacht,
Tiefsten Ruhens Glück besiegelnd
Herrscht des Mondes volle Pracht.
Schon verloschen sind die Stunden,
Hingeschwunden Schmerz und Glück;
Fühl es vor! Du wirst gesunden;
Traue neuem Tagesblick.
Täler grünen, Hügel schwellen,
Buschen sich zu Schattenruh;
Und in schwanken Silberwellen
Wogt die Saat der Ernte zu.
Wunsch um Wünsche zu erlangen,
Schaue nach dem Glanze dort!
Leise bist du nur umfangen,
Schlaf ist Schale, wirf sie fort!
Säume nicht, dich zu erdreisten,
Wenn die Menge zaudernd schweift;
Alles kann der Edle leisten,
Der versteht und rasch ergreift.

ARIEL:
Horchet! horcht dem Sturm der Horen!
Tönend wird für Geistesohren
Schon der neue Tag geboren.
Felsentore knarren rasselnd,
Phöbus‘ Räder rollen prasselnd,
Welch Getöse bringt das Licht!
Es trommetet, es posaunet,
Auge blinzt und Ohr erstaunet,
Unerhörtes hört sich nicht.
Schlüpfet zu den Blumenkronen,
Tiefer, tiefer, still zu wohnen,
In die Felsen, unters Laub;
Trifft es euch, so seid ihr taub.

FAUST:
Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig,
ätherische Dämmerung milde zu begrüßen;
Du, Erde, warst auch diese Nacht beständig
Und atmest neu erquickt zu meinen Füßen,
Beginnest schon, mit Lust mich zu umgeben,
Du regst und rührst ein kräftiges Beschließen,
Zum höchsten Dasein immerfort zu streben. –
In Dämmerschein liegt schon die Welt erschlossen,
Der Wald ertönt von tausendstimmigem Leben,
Tal aus, Tal ein ist Nebelstreif ergossen,
Doch senkt sich Himmelsklarheit in die Tiefen,
Und Zweig und äste, frisch erquickt, entsprossen
Dem duft’gen Abgrund, wo versenkt sie schliefen;
Auch Farb‘ an Farbe klärt sich los vom Grunde,
Wo Blum‘ und Blatt von Zitterperle triefen –
Ein Paradies wird um mich her die Runde.
Hinaufgeschaut! – Der Berge Gipfelriesen
Verkünden schon die feierlichste Stunde;
Sie dürfen früh des ewigen Lichts genießen,
Das später sich zu uns hernieder wendet.
Jezt zu der Alpe grüngesenkten Wiesen
Wird neuer Glanz und Deutlichkeit gespendet,
Und stufenweis herab ist es gelungen; –
Sie tritt hervor! – und, leider schon geblendet,
Kehr‘ ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.
So ist es also, wenn ein sehnend Hoffen
Dem höchsten Wunsch sich traulich zugerungen,
Erfüllungspforten findet flügeloffen;
Nun aber bricht aus jenen ewigen Gründen
Ein Flammenübermaß, wir stehn betroffen;
Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,
Ein Feuermeer umschlingt uns, welch ein Feuer!
Ist’s Lieb‘? ist’s Haß? die glühend uns umwinden,
Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer,
So daß wir wieder nach der Erde blicken,
Zu bergen uns in jugendlichstem Schleier.
So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!
Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend,
Ihn schau‘ ich an mit wachsendem Entzücken.
Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend,
Dann abertausend Strömen sich ergießend,
Hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend.
Allein wie herrlich, diesem Sturm ersprießend,
Wölbt sich des bunten Bogens Wechseldauer,
Bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend,
Umher verbreitend duftig kühle Schauer.
Der spiegelt ab das menschliche Bestreben.
Ihm sinne nach, und du begreifst genauer:
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
Kaiserliche Pfalz. Saal des Thrones

KAISER:
Ich grüße die Getreuen, Lieben,
Versammelt aus der Näh‘ und Weite; –
Den Weisen seh‘ ich mir zur Seite,
Allein wo ist der Narr geblieben?

JUNKER:
Gleich hinter deiner Mantelschleppe
Stürzt‘ er zusammen auf der Treppe,
Man trug hinweg das Fettgewicht,
Tot oder trunken? weiß man nicht.

ZWEITER JUNKER:
Sogleich mit wunderbarer Schnelle
Drängt sich ein andrer an die Stelle.
Gar köstlich ist er aufgeputzt,
Doch fratzenhaft, daß jeder stutzt;
Die Wache hält ihm an der Schwelle
Kreuzweis die Hellebarden vor –
Da ist er doch, der kühne Tor!

MEPHISTOPHELES:
Was ist verwünscht und stets willkommen?
Was ist ersehnt und stets verjagt?
Was immerfort in Schutz genommen?
Was hart gescholten und verklagt?
Wen darfst du nicht herbeiberufen?
Wen höret jeder gern genannt?
Was naht sich deines Thrones Stufen?
Was hat sich selbst hinweggebannt?

KAISER:
Für diesmal spare deine Worte!
Hier sind die Rätsel nicht am Orte,
Das ist die Sache dieser Herrn.–
Da löse du! das hört‘ ich gern.
Mein alter Narr ging, fürcht‘ ich, weit ins Weite;
Nimm seinen Platz und komm an meine Seite.

GEMURMEL DER MENGE:
Ein neuer Narr–Zu neuer Pein–
Wo kommt er her?–Wie kam er ein?–
Der alte fiel–Der hat vertan–
Es war ein Faß–Nun ist’s ein Span–

KAISER:
Und also, ihr Getreuen, Lieben,
Willkommen aus der Näh‘ und Ferne!
Ihr sammelt euch mit günstigem Sterne,
Da droben ist uns Glück und Heil geschrieben.
Doch sagt, warum in diesen Tagen,
Wo wir der Sorgen uns entschlagen,
Schönbärte mummenschänzlich tragen
Und Heitres nur genießen wollten,
Warum wir uns ratschlagend quälen sollten?
Doch weil ihr meint, es ging‘ nicht anders an,
Geschehen ist’s, so sei’s getan.

KANZLER:
Die höchste Tugend, wie ein Heiligenschein,
Umgibt des Kaisers Haupt; nur er allein
Vermag sie gültig auszuüben:
Gerechtigkeit!–Was alle Menschen lieben,
Was alle fordern, wünschen, schwer entbehren,
Es liegt an ihm, dem Volk es zu gewähren.
Doch ach! Was hilft dem Menschengeist Verstand,
Dem Herzen Güte, Willigkeit der Hand,
Wenn’s fieberhaft durchaus im Staate wütet
Und übel sich in übeln überbrütet?
Wer schaut hinab von diesem hohen Raum
Ins weite Reich, ihm scheint’s ein schwerer Traum,
Wo Mißgestalt in Mißgestalten schaltet,
Das Ungesetz gesetzlich überwaltet
Und eine Welt des Irrtums sich entfaltet.
Der raubt sich Herden, der ein Weib,
Kelch, Kreuz und Leuchter vom Altare,
Berühmt sich dessen manche Jahre
Mit heiler Haut, mit unverletztem Leib.
Jetzt drängen Kläger sich zur Halle,
Der Richter prunkt auf hohem Pfühl,
Indessen wogt in grimmigem Schwalle
Des Aufruhrs wachsendes Gewühl.
Der darf auf Schand‘ und Frevel pochen,
Der auf Mitschuldigste sich stützt,
Und: Schuldig! hörst du ausgesprochen,
Wo Unschuld nur sich selber schützt.
So will sich alle Welt zerstückeln,
Vernichtigen, was sich gebührt;
Wie soll sich da der Sinn entwickeln,
Der einzig uns zum Rechten führt?
Zuletzt ein wohlgesinnter Mann
Neigt sich dem Schmeichler, dem Bestecher,
Ein Richter, der nicht strafen kann,
Gesellt sich endlich zum Verbrecher.
Ich malte schwarz, doch dichtern Flor
Zög‘ ich dem Bilde lieber vor.
Entschlüsse sind nicht zu vermeiden;
Wenn alle schädigen, alle leiden,
Geht selbst die Majestät zu Raub.

HEERMEISTER:
Wie tobt’s in diesen wilden Tagen!
Ein jeder schlägt und wird erschlagen,
Und fürs Kommando bleibt man taub.
Der Bürger hinter seinen Mauern,
Der Ritter auf dem Felsennest
Verschwuren sich, uns auszudauern,
Und halten ihre Kräfte fest.
Der Mietsoldat wird ungeduldig,
Mit Ungestüm verlangt er seinen Lohn,
Und wären wir ihm nichts mehr schuldig,
Er liefe ganz und gar davon.
Verbiete wer, was alle wollten,
Der hat ins Wespennest gestört;
Das Reich, das sie beschützen sollten,
Es liegt geplündert und verheert.
Man läßt ihr Toben wütend hausen,
Schon ist die halbe Welt vertan;
Es sind noch Könige da draußen,
Doch keiner denkt, es ging‘ ihn irgend an.

SCHATZMEISTER:
Wer wird auf Bundsgenossen pochen!
Subsidien, die man uns versprochen,
Wie Röhrenwasser bleiben aus.
Auch, Herr, in deinen weiten Staaten
An wen ist der Besitz geraten?
Wohin man kommt, da hält ein Neuer Haus,
Und unabhängig will er leben,
Zusehen muß man, wie er’s treibt;
Wir haben so viel Rechte hingegeben,
Daß uns auf nichts ein Recht mehr übrigbleibt.
Auch auf Parteien, wie sie heißen,
Ist heutzutage kein Verlaß;
Sie mögen schelten oder preisen,
Gleichgültig wurden Lieb‘ und Haß.
Die Ghibellinen wie die Guelfen
Verbergen sich, um auszuruhn;
Wer jetzt will seinem Nachbar helfen?
Ein jeder hat für sich zu tun.
Die Goldespforten sind verrammelt,
Ein jeder kratzt und scharrt und sammelt,
Und unsre Kassen bleiben leer.

MARSCHALK:
Welch Unheil muß auch ich erfahren!
Wir wollen alle Tage sparen
Und brauchen alle Tage mehr,
Und täglich wächst mir neue Pein.
Den Köchen tut kein Mangel wehe;
Wildschweine, Hirsche, Hasen, Rehe,
Welschhühner, Hühner, Gäns‘ und Enten,
Die Deputate, sichre Renten,
Sie gehen noch so ziemlich ein.
Jedoch am Ende fehlt’s an Wein.
Wenn sonst im Keller Faß an Faß sich häufte,
Der besten Berg‘ und Jahresläufte,
So schlürft unendliches Gesäufte
Der edlen Herrn den letzten Tropfen aus.
Der Stadtrat muß sein Lager auch verzapfen,
Man greift zu Humpen, greift zu Napfen,
Und unterm Tische liegt der Schmaus.
Nun soll ich zahlen, alle lohnen;
Der Jude wird mich nicht verschonen,
Der schafft Antizipationen,
Die speisen Jahr um Jahr voraus.
Die Schweine kommen nicht zu Fette,
Verpfändet ist der Pfühl im Bette,
Und auf den Tisch kommt vorgegessen Brot.

KAISER:
Sag, weißt du Narr nicht auch noch eine Not?

MEPHISTOPHELES:
Ich? Keineswegs. Den Glanz umher zu schauen,
Dich und die Deinen!–Mangelte Vertrauen,
Wo Majestät unweigerlich gebeut,
Bereite Macht Feindseliges zerstreut?
Wo guter Wille, kräftig durch Verstand,
Und Tätigkeit, vielfältige, zur Hand?
Was könnte da zum Unheil sich vereinen,
Zur Finsternis, wo solche Sterne scheinen?

GEMURMEL:
Das ist ein Schalk–Der’s wohl versteht–
Er lügt sich ein–So lang‘ es geht–
Ich weiß schon–Was dahinter steckt–
Und was denn weiter?–Ein Projekt–

MEPHISTOPHELES:
Wo fehlt’s nicht irgendwo auf dieser Welt?
Dem dies, dem das, hier aber fehlt das Geld.
Vom Estrich zwar ist es nicht aufzuraffen;
Doch Weisheit weiß das Tiefste herzuschaffen.
In Bergesadern, Mauergründen
Ist Gold gemünzt und ungemünzt zu finden,
Und fragt ihr mich, wer es zutage schafft:
Begabten Manns Natur–und Geisteskraft.

KANZLER:
Natur und Geist–so spricht man nicht zu Christen.
Deshalb verbrennt man Atheisten,
Weil solche Reden höchst gefährlich sind.
Natur ist Sünde, Geist ist Teufel,
Sie hegen zwischen sich den Zweifel,
Ihr mißgestaltet Zwitterkind.
Uns nicht so!–Kaisers alten Landen
Sind zwei Geschlechter nur entstanden,
Sie stützen würdig seinen Thron:
Die Heiligen sind es und die Ritter;
Sie stehen jedem Ungewitter
Und nehmen Kirch‘ und Staat zum Lohn.
Dem Pöbelsinn verworrner Geister
Entwickelt sich ein Widerstand:
Die Ketzer sind’s! die Hexenmeister!
Und sie verderben Stadt und Land.
Die willst du nun mit frechen Scherzen
In diese hohen Kreise schwärzen;
Ihr hegt euch an verderbtem Herzen,
Dem Narren sind sie nah verwandt.

MEPHISTOPHELES:
Daran erkenn‘ ich den gelehrten Herrn!
Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern,
Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar,
Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr,
Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht,
Was ihr nicht münzt, das, meint ihr, gelte nicht.

KAISER:
Dadurch sind unsre Mängel nicht erledigt,
Was willst du jetzt mit deiner Fastenpredigt?
Ich habe satt das ewige Wie und Wenn;
Es fehlt an Geld, nun gut, so schaff es denn.

MEPHISTOPHELES:
Ich schaffe, was ihr wollt, und schaffe mehr;
Zwar ist es leicht, doch ist das Leichte schwer;
Es liegt schon da, doch um es zu erlangen,
Das ist die Kunst, wer weiß es anzufangen?
Bedenkt doch nur: in jenen Schreckensläuften,
Wo Menschenfluten Land und Volk ersäuften,
Wie der und der, so sehr es ihn erschreckte,
Sein Liebstes da–und dortwohin versteckte.
So war’s von je in mächtiger Römer Zeit,
Und so fortan, bis gestern, ja bis heut.
Das alles liegt im Boden still begraben,
Der Boden ist des Kaisers, der soll’s haben.

SCHATZMEISTER:
Für einen Narren spricht er gar nicht schlecht,
Das ist fürwahr des alten Kaisers Recht.

KANZLER:
Der Satan legt euch goldgewirkte Schlingen:
Es geht nicht zu mit frommen rechten Dingen.

MARSCHALK:
Schafft‘ er uns nur zu Hof willkommne Gaben,
Ich wollte gern ein bißchen Unrecht haben.

HEERMEISTER:
Der Narr ist klug, verspricht, was jedem frommt;
Fragt der Soldat doch nicht, woher es kommt.

MEPHISTOPHELES:
Und glaubt ihr euch vielleicht durch mich betrogen,
Hier steht ein Mann! da, fragt den Astrologen!
In Kreis‘ um Kreise kennt er Stund‘ und Haus;
So sage denn: wie sieht’s am Himmel aus?

GEMURMEL:
Zwei Schelme sind’s–Verstehn sich schon–
Narr und Phantast–So nah dem Thron–
Ein mattgesungen–Alt Gedicht–
Der Tor bläst ein–Der Weise spricht–

ASTROLOG:
Die Sonne selbst, sie ist ein lautres Gold,
Merkur, der Bote, dient um Gunst und Sold,
Frau Venus hat’s euch allen angetan,
So früh als spat blickt sie euch lieblich an;
Die keusche Luna launet grillenhaft;
Mars, trifft er nicht, so dräut euch seine Kraft.
Und Jupiter bleibt doch der schönste Schein,
Saturn ist groß, dem Auge fern und klein.
Ihn als Metall verehren wir nicht sehr,
An Wert gering, doch im Gewichte schwer.
Ja! wenn zu Sol sich Luna fein gesellt,
Zum Silber Gold, dann ist es heitre Welt;
Das übrige ist alles zu erlangen:
Paläste, Gärten, brüstlein, rote Wangen,
Das alles schafft der hochgelahrte Mann,
Der das vermag, was unser keiner kann.

KAISER:
Ich höre doppelt, was er spricht,
Und dennoch überzeugt’s mich nicht.

GEMURMEL:
Was soll uns das?–Gedroschner Spaß–
Kalenderei–Chymisterei–
Das hört‘ ich oft–Und falsch gehofft–
Und kommt er auch–So ist’s ein Gauch–

MEPHISTOPHELES:
Da stehen sie umher und staunen,
Vertrauen nicht dem hohen Fund,
Der eine faselt von Alraunen,
Der andre von dem schwarzen Hund.
Was soll es, daß der eine witzelt,
Ein andrer Zauberei verklagt,
Wenn ihm doch auch einmal die Sohle kitzelt,
Wenn ihm der sichre Schritt versagt.
Ihr alle fühlt geheimes Wirken
Der ewig waltenden Natur,
Und aus den untersten Bezirken
Schmiegt sich herauf lebend’ge Spur.
Wenn es in allen Gliedern zwackt,
Wenn es unheimlich wird am Platz,
Nur gleich entschlossen grabt und hackt,
Da liegt der Spielmann, liegt der Schatz!

GEMURMEL:
Mir liegt’s im Fuß wie Bleigewicht–
Mir krampft’s im Arme–Das ist Gicht–
Mir krabbelt’s an der großen Zeh‘–
Mir tut der ganze Rücken weh–
Nach solchen Zeichen wäre hier
Das allerreichste Schatzrevier.

KAISER:
Nur eilig! du entschlüpfst nicht wieder,
Erprobe deine Lügenschäume
Und zeig uns gleich die edlen Räume.
Ich lege Schwert und Zepter nieder
Und will mit eignen hohen Händen,
Wenn du nicht lügst, das Werk vollenden,
Dich, wenn du lügst, zur Hölle senden!

MEPHISTOPHELES:
Den Weg dahin wüßt‘ allenfalls zu finden–
Doch kann ich nicht genug verkünden,
Was überall besitzlos harrend liegt.
Der Bauer, der die Furche pflügt,
Hebt einen Goldtopf mit der Scholle,
Salpeter hofft er von der Leimenwand
Und findet golden-goldne Rolle
Erschreckt, erfreut in kümmerlicher Hand.
Was für Gewölbe sind zu sprengen,
In welchen Klüften, welchen Gängen
Muß sich der Schatzbewußte drängen,
Zur Nachbarschaft der Unterwelt!
In weiten, altverwahrten Kellern
Von goldnen Humpen, Schüsseln, Tellern
Sieht er sich Reihen aufgestellt;
Pokale stehen aus Rubinen,
Und will er deren sich bedienen,
Daneben liegt uraltes Naß.
Doch–werdet ihr dem Kundigen glauben–
Verfault ist längst das Holz der Dauben,
Der Weinstein schuf dem Wein ein Faß.
Essenzen solcher edlen Weine,
Gold und Juwelen nicht alleine
Umhüllen sich mit Nacht und Graus.
Der Weise forscht hier unverdrossen;
Am Tag erkennen, das sind Possen,
Im Finstern sind Mysterien zu Haus.

KAISER:
Die lass‘ ich dir! Was will das Düstre frommen?
Hat etwas Wert, es muß zu Tage kommen.
Wer kennt den Schelm in tiefer Nacht genau?
Schwarz sind die Kühe, so die Katzen grau.
Die Töpfe drunten, voll von Goldgewicht–
Zieh deinen Pflug und ackre sie ans Licht.

MEPHISTOPHELES:
Nimm Hack‘ und Spaten, grabe selber,
Die Bauernarbeit macht dich groß,
Und eine Herde goldner Kälber,
Sie reißen sich vom Boden los.
Dann ohne Zaudern, mit Entzücken
Kannst du dich selbst, wirst die Geliebte schmücken;
Ein leuchtend Farb–und Glanzgestein erhöht
Die Schönheit wie die Majestät.

KAISER:
Nur gleich, nur gleich! Wie lange soll es währen!

ASTROLOG:
Herr, mäßige solch dringendes Begehren,
Laß erst vorbei das bunte Freudenspiel;
Zerstreutes Wesen führt uns nicht zum Ziel.
Erst müssen wir in Fassung uns versühnen,
Das Untre durch das Obere berdienen.
Wer Gutes will, der sei erst gut;
Wer Freude will, besänftige sein Blut;
Wer Wein verlangt, der keltre reife Trauben;
Wer Wunder hofft, der stärke seinen Glauben.

KAISER:
So sei die Zeit in Fröhlichkeit vertan!
Und ganz erwünscht kommt Aschermittwoch an.
Indessen feiern wir, auf jeden Fall,
Nur lustiger das wilde Karneval.

MEPHISTOPHELES:
Wie sich Verdienst und Glück verketten,
Das fällt den Toren niemals ein;
Wenn sie den Stein der Weisen hätten,
Der Weise mangelte dem Stein.

Weitläufiger Saal mit Nebengemächern

HEROLD:
Denkt nicht, ihr seid in deutschen Grenzen
Von Teufels-, Narren- und Totentänzen;
Ein heitres Fest erwartet euch.
Der Herr, auf seinen Römerzügen,
Hat, sich zu Nutz, euch zum Vergnügen,
Die hohen Alpen überstiegen,
Gewonnen sich ein heitres Reich.
Der Kaiser, er, an heiligen Sohlen
Erbat sich erst das Recht zur Macht,
Und als er ging, die Krone sich zu holen,
Hat er uns auch die Kappe mitgebracht.
Nun sind wir alle neugeboren;
Ein jeder weltgewandte Mann
Zieht sie behaglich über Kopf und Ohren;
Sie ähnelt ihn verrückten Toren,
Er ist darunter weise, wie er kann.
Ich sehe schon, wie sie sich scharen,
Sich schwankend sondern, traulich paaren;
Zudringlich schließt sich Chor an Chor.
Herein, hinaus, nur unverdrossen;
Es bleibt doch endlich nach wie vor
Mit ihren hunderttausend Possen
Die Welt ein einzig großer Tor.

GÄRTNERINNEN:
Euren Beifall zu gewinnen,
Schmückten wir uns diese Nacht,
Junge Florentinerinnen
Folgten deutschen Hofes Pracht;
Tragen wir in braunen Locken
Mancher heitern Blume Zier;
Seidenfäden, Seidenflocken
Spielen ihre Rolle hier.
Denn wir halten es verdienstlich,
Lobenswürdig ganz und gar,
Unsere Blumen, glänzend künstlich,
Blühen fort das ganze Jahr.
Allerlei gefärbten Schnitzeln
Ward symmetrisch Recht getan;
Mögt ihr Stück für Stück bewitzeln,
Doch das Ganze zieht euch an.
Niedlich sind wir anzuschauen,
Gärtnerinnen und galant;
Denn das Naturell der Frauen
Ist so nah mit Kunst verwandt.

HEROLD:
Laßt die reichen Körbe sehen,
Die ihr auf den Häupten traget,
Die sich bunt am Arme blähen,
Jeder wähle, was behaget.
Eilig, daß in Laub und Gängen
Sich ein Garten offenbare!
Würdig sind sie zu umdrängen,
Krämerinnen wie die Ware.

GÄRTNERINNEN:
Feilschet nun am heitern Orte,
Doch kein Markten finde statt!
Und mit sinnig kurzem Worte
Wisse jeder, was er hat.

OLIVENZWEIG MIT FRUCHTEN:
Keinen Blumenflor beneid‘ ich,
Allen Widerstreit vermeid‘ ich;
Mir ist’s gegen die Natur:
Bin ich doch das Mark der Lande
Und, zum sichern Unterpfande,
Friedenszeichen jeder Flur.
Heute, hoff‘ ich, soll mir’s glücken,
Würdig schönes Haupt zu schmücken.

ÄHRENKRANZ:
Ceres‘ Gaben, euch zu putzen,
Werden hold und lieblich stehn:
Das Erwünschteste dem Nutzen
Sei als eure Zierde schön.

PHANTASIEKRANZ:
Bunte Blumen, Malven ähnlich,
Aus dem Moos ein Wunderflor!
Der Natur ist’s nicht gewöhnlich,
Doch die Mode bringt’s hervor.

PHANTASIESTRAUSS:
Meinen Namen euch zu sagen,
Würde Theophrast nicht wagen;
Und doch hoff‘ ich, wo nicht allen,
Aber mancher zu gefallen,
Der ich mich wohl eignen möchte,
Wenn sie mich ins Haar verflöchte,
Wenn sie sich entschließen könnte,
Mir am Herzen Platz vergönnte.

ROSENKNOSPEN:
Mögen bunte Phantasieen
Für des Tages Mode blühen,
Wunderseltsam sein gestaltet,
Wie Natur sich nie entfaltet;
Grüne Stiele, goldne Glocken,
Blickt hervor aus reichen Locken!–
Doch wir–halten uns versteckt:
Glücklich, wer uns frisch entdeckt.
Wenn der Sommer sich verkündet,
Rosenknospe sich entzündet,
Wer mag solches Glück entbehren?
Das Versprechen, das Gewähren,
Das beherrscht in Florens Reich
Blick und Sinn und Herz zugleich.

GÄRTNER:
Blumen sehet ruhig sprießen,
Reizend euer Haupt umzieren;
Früchte wollen nicht verführen,
Kostend mag man sie genießen.
Bieten bräunliche Gesichter
Kirschen, Pfirschen, Königspflaumen,
Kauft! denn gegen Zung‘ und Gaumen
Hält sich Auge schlecht als Richter.
Kommt, von allerreifsten Früchten
Mit Geschmack und Lust zu speisen!
über Rosen läßt sich dichten,
In die äpfel muß man beißen.
Sei’s erlaubt, uns anzupaaren
Eurem reichen Jugendflor,
Und wir putzen reifer Waren
Fülle nachbarlich empor.
Unter lustigen Gewinden,
In geschmückter Lauben Bucht,
Alles ist zugleich zu finden:
Knospe, Blätter, Blume, Frucht.

MUTTER:
Mädchen, als du kamst ans Licht,
Schmückt‘ ich dich im Häubchen;
Warst so lieblich von Gesicht
Und so zart am Leibchen.
Dachte dich sogleich als Braut,
Gleich dem Reichsten angetraut,
Dachte dich als Weibchen.
Ach! Nun ist schon manches Jahr
Ungenützt verflogen,
Der Sponsierer bunte Schar
Schnell vorbeigezogen;
Tanztest mit dem einen flink,
Gabst dem andern feinen Wink
Mit dem Ellenbogen.
Welches Fest man auch ersann,
Ward umsonst begangen,
Pfänderspiel und dritter Mann
Wollten nicht verfangen;
Heute sind die Narren los,
Liebchen, öffne deinen Schoß,
Bleibt wohl einer hangen.

HOLZHAUER:
Nur Platz! nur Blöße!
Wir brauchen Räume,
Wir fällen Bäume,
Die krachen, schlagen;
Und wenn wir tragen,
Da gibt es Stöße.
Zu unserm Lobe
Bringt dies ins reine;
Denn wirkten Grobe
Nicht auch im Lande,
Wie kämen Feine
Für sich zustande,
So sehr sie witzten?
Des seid belehret!
Denn ihr erfröret,
Wenn wir nicht schwitzten.

PULCINELLE:
Ihr seid die Toren,
Gebückt geboren.
Wir sind die Klugen,
Die nie was trugen;
Denn unsre Kappen,
Jacken und Lappen
Sind leicht zu tragen;
Und mit Behagen
Wir immer müßig,
Pantoffelfüßig,
Durch Markt und Haufen
Einherzulaufen,
Gaffend zu stehen,
Uns anzukrähen;
Auf solche Klänge
Durch Drang und Menge
Aalgleich zu schlüpfen,
Gesamt zu hüpfen,
Vereint zu toben.
Ihr mögt uns loben,
Ihr mögt uns schelten,
Wir lassen’s gelten.

PARASITEN:
Ihr wackern Träger
Und eure Schwäger,
Die Kohlenbrenner,
Sind unsre Männer.
Denn alles Bücken,
Bejahndes Nicken,
Gewundne Phrasen,
Das Doppelblasen,
Das wärmt und kühlet,
Wie’s einer fühlet,
Was könnt‘ es frommen?
Es möchte Feuer
Selbst ungeheuer
Vom Himmel kommen,
Gäb‘ es nicht Scheite
Und Kohlentrachten,
Die Herdesbreite
Zur Glut entfachten.
Da brät’s und prudelt’s,
Da kocht’s und strudelt’s.
Der wahre Schmecker,
Der Tellerlecker,
Er riecht den Braten,
Er ahnet Fische;
Das regt zu Taten
An Gönners Tische.

TRUNKNER:
Sei mir heute nichts zuwider!
Fühle mich so frank und frei;
Frische Lust und heitre Lieder,
Holt‘ ich selbst sie doch herbei.
Und so trink‘ ich! Trinke, trinke!
Stoßet an, ihr! Tinke, Tinke!
Du dorthinten, komm heran!
Stoßet an, so ist’s getan.
Schrie mein Weibchen doch entrüstet,
Rümpfte diesem bunten Rock,
Und, wie sehr ich mich gebrüstet,
Schalt mich einen Maskenstock.
Doch ich trinke! Trinke, trinke!
Angeklungen! Tinke, Tinke!
Maskenstöcke, stoßet an!
Wenn es klingt, so ist’s getan.
Saget nicht, daß ich verirrt bin,
Bin ich doch, wo mir’s behagt.
Borgt der Wirt nicht, borgt die Wirtin,
Und am Ende borgt die Magd.
Immer trink‘ ich! Trinke, trinke!
Auf, ihr andern! Tinke, Tinke!
Jeder jedem! so fortan!
Dünkt mich’s doch, es sei getan.
Wie und wo ich mich vergnüge,
Mag es immerhin geschehn;
Laß mich liegen, wo ich liege,
Denn ich mag nicht länger stehn.

CHOR:
Jeder Bruder trinke, trinke!
Toastet frisch ein Tinke, Tinke!
Sitzet fest auf Bank und Span!
Unterm Tisch dem ist’s getan.

SATIRIKER:
Wißt ihr, was mich Poeten
Erst recht erfreuen sollte?
Dürft‘ ich singen und reden,
Was niemand hören wollte.

AGLAIA:
Anmut bringen wir ins Leben;
Leget Anmut in das Geben.

HEGEMONE:
Leget Anmut ins Empfangen,
Lieblich ist’s, den Wunsch erlangen.

EUPHRASYNE:
Und in stiller Tage Schranken
Höchst anmutig sei das Danken.

ATROPOS:
Mich, die älteste, zum Spinnen
Hat man diesmal eingeladen;
Viel zu denken, viel zu sinnen
Gibt’s beim zarten Lebensfaden.
Daß er euch gelenk und weich sei,
Wußt‘ ich feinsten Flachs zu sichten;
Daß er glatt und schlank und gleich sei,
Wird der kluge Finger schlichten.
Wolltet ihr bei Lust und Tänzen
Allzu üppig euch erweisen,
Denkt an dieses Fadens Grenzen,
Hütet euch! Er möchte reißen.

KLOTHO:
Wißt, in diesen letzten Tagen
Ward die Schere mir vertraut;
Denn man war von dem Betragen
Unsrer Alten nicht erbaut.
Zerrt unnützeste Gespinste
Lange sie an Licht und Luft,
Hoffnung herrlichster Gewinste
Schleppt sie schneidend zu der Gruft.
Doch auch ich im Jugendwalten
Irrte mich schon hundertmal;
Heute mich im Zaum zu halten,
Schere steckt im Futteral.
Und so bin ich gern gebunden,
Blicke freundlich diesem Ort;
Ihr in diesen freien Stunden
Schwärmt nur immer fort und fort.

LACHESIS:
Mir, die ich allein verständig,
Blieb das Ordnen zugeteilt;
Meine Weife, stets lebendig,
Hat noch nie sich übereilt.
Fäden kommen, Fäden weifen,
Jeden lenk‘ ich seine Bahn,
Keinen lass‘ ich überschweifen,
Füg‘ er sich im Kreis heran.
Könnt‘ ich einmal mich vergessen,
Wär‘ es um die Welt mir bang;
Stunden zählen, Jahre messen,
Und der Weber nimmt den Strang.

HEROLD:
Die jetzo kommen, werdet ihr nicht kennen,
Wärt ihr noch so gelehrt in alten Schriften;
Sie anzusehn, die so viel übel stiften,
Ihr würdet sie willkommne Gäste nennen.
Die Furien sind es, niemand wird uns glauben,
Hübsch, wohlgestaltet, freundlich, jung von Jahren;
Laßt euch mit ihnen ein, ihr sollt erfahren,
Wie schlangenhaft verletzen solche Tauben.
Zwar sind sie tückisch, doch am heutigen Tage,
Wo jeder Narr sich rühmet seiner Mängel,
Auch sie verlangen nicht den Ruhm als Engel,
Bekennen sich als Stadt- und Landesplage.

ALEKTO:
Was hilft es euch? ihr werdet uns vertrauen,
Denn wir sind hübsch und jung und Schmeichelkätzchen;
Hat einer unter euch ein Liebeschätzchen,
Wir werden ihm so lang die Ohren krauen,
Bis wir ihm sagen dürfen, Aug‘ in Auge:
Daß sie zugleich auch dem und jenem winke,
Im Kopfe dumm, im Rücken krumm, und hinke
Und, wenn sie seine Braut ist, gar nichts tauge.
So wissen wir die Braut auch zu bedrängen:
Es hat sogar der Freund, vor wenig Wochen,
Verächtliches von ihr zu der gesprochen!–
Versöhnt man sich, so bleibt doch etwas hängen.

MEGÄRA:
Das ist nur Spaß! denn, sind sie erst verbunden,
Ich nehm‘ es auf und weiß; in allen Fällen,
Das schönste Glück durch Grille zu vergällen;
Der Mensch ist ungleich, ungleich sind die Stunden.
Und niemand hat Erwünschtes fest in Armen,
Der sich nicht nach Erwünschterem törig sehnte,
Vom höchsten Glück, woran er sich gewöhnte;
Die Sonne flieht er, will den Frost erwarmen.
Mit diesem allen weiß ich zu gebaren
Und führe her Asmodi, den Getreuen,
Zu rechter Zeit Unseliges auszustreuen,
Verderbe so das Menschenvolk in Paaren.

TISIPHONE:
Gift und Dolch statt böser Zungen
Misch‘ ich, schärf‘ ich dem Verräter;
Liebst du andre, früher, später
Hat Verderben dich durchdrungen.
Muß der Augenblicke Süßtes
Sich zu Gischt und Galle wandeln!
Hier kein Markten, hier kein Handeln–
Wie er es beging‘, er büßt es.
Singe keiner vom Vergeben!
Felsen klag‘ ich meine Sache,
Echo! horch! erwidert: Rache!
Und wer wechselt, soll nicht leben.

HEROLD:
Belieb‘ es euch, zur Seite wegzuweichen,
Denn was jetzt kommt, ist nicht von euresgleichen.
Ihr seht, wie sich ein Berg herangedrängt,
Mit bunten Teppichen die Weichen stolz behängt,
Ein Haupt mit langen Zähnen, Schlangenrüssel,
Geheimnisvoll, doch zeig‘ ich euch den Schlüssel.
Im Nacken sitzt ihm zierlich-zarte Frau,
Mit feinem Stäbchen lenkt sie ihn genau;
Die andre, droben stehend herrlich-hehr,
Umgibt ein Glanz, der blendet mich zu sehr.
Zur Seite gehn gekettet edle Frauen,
Die eine bang, die andre froh zu schauen;
Die eine wünscht, die andre fühlt sich frei.
Verkünde jede, wer sie sei.

FURCHT:
Dunstige Fackeln, Lampen, Lichter
Dämmern durchs verworrne Fest;
Zwischen diese Truggesichter
Bannt mich, ach! die Kette fest.
Fort, ihr lächerlichen Lacher!
Euer Grinsen gibt Verdacht;
Alle meine Widersacher
Drängen mich in dieser Nacht.
Hier! ein Freund ist Feind geworden,
Seine Maske kenn‘ ich schon;
Jener wollte mich ermorden,
Nun entdeckt schleicht er davon.
Ach wie gern in jeder Richtung
Flöh‘ ich zu der Welt hinaus;
Doch von drüben droht Vernichtung,
Hält mich zwischen Dunst und Graus.

HOFFNUNG:
Seid gegrüßt, ihr lieben Schwestern!
Habt ihr euch schon heut‘ und gestern
In Vermummungen gefallen,
Weiß ich doch gewiß von allen:
Morgen wollt ihr euch enthüllen.
Und wenn wir bei Fackelscheine
Uns nicht sonderlich behagen,
Werden wir in heitern Tagen
Ganz nach unserm eignen Willen
Bald gesellig, bald alleine
Frei durch schöne Fluren wandeln,
Nach Belieben ruhn und handeln
Und in sorgenfreiem Leben
Nie entbehren, stets erstreben;
überall willkommne Gäste,
Treten wir getrost hinein:
Sicherlich, es muß das Beste
Irgendwo zu finden sein.

KLUGHEIT:
Zwei der größten Menschenfeinde,
Furcht und Hoffnung, angekettet,
Halt‘ ich ab von der Gemeinde;
Platz gemacht! ihr seid gerettet.
Den lebendigen Kolossen
Führ‘ ich, seht ihr, turmbeladen,
Und er wandelt unverdrossen
Schritt vor Schritt auf steilen Pfaden.
Droben aber auf der Zinne
Jene Göttin, mit behenden
Breiten Flügeln, zum Gewinne
Allerseits sich hinzuwenden.
Rings umgibt sie Glanz und Glorie,
Leuchtend fern nach allen Seiten;
Und sie nennet sich Viktorie,
Göttin aller Tätigkeiten.

ZOILO-THERSITES:
Hu! Hu! da komm‘ ich eben recht,
Ich schelt‘ euch allzusammen schlecht!
Doch was ich mir zum Ziel ersah,
Ist oben Frau Viktoria.
Mit ihrem weißen Flügelpaar
Sie dünkt sich wohl, sie sei ein Aar,
Und wo sie sich nur hingewandt,
Gehör‘ ihr alles Volk und Land;
Doch, wo was Rühmliches gelingt,
Es mich sogleich in Harnisch bringt.
Das Tiefe hoch, das Hohe tief,
Das Schiefe grad, das Grade schief,
Das ganz allein macht mich gesund,
So will ich’s auf dem Erdenrund.

HEROLD:
So treffe dich, du Lumpenhund,
Des frommen Stabes Meisterstreich!
Da krümm und winde dich sogleich!–
Wie sich die Doppelzwerggestalt
So schnell zum eklen Klumpen ballt!–
–Doch Wunder!–Klumpen wird zum Ei,
Das bläht sich auf und platzt entzwei.
Nun fällt ein Zwillingspaar heraus,
Die Otter und die Fledermaus;
Die eine fort im Staube kriecht,
Die andre schwarz zur Decke fliegt.
Sie eilen draußen zum Verein;
Da möcht‘ ich nicht der dritte sein.

GEMURMEL:
Frisch! dahinten tanzt man schon–
Nein! Ich wollt‘, ich wär‘ davon–
Fühlst du, wie uns das umflicht,
Das gespenstische Gezücht?–
Saust es mir doch übers Haar–
Ward ich’s doch am Fuß gewahr–
Keiner ist von uns verletzt–
Alle doch in Furcht gesetzt–
Ganz verdorben ist der Spaß–
Und die Bestien wollten das.

HEROLD:
Seit mir sind bei Maskeraden
Heroldspflichten aufgeladen,
Wach‘ ich ernstlich an der Pforte,
Daß euch hier am lustigen Orte
Nichts Verderbliches erschleiche,
Weder wanke, weder weiche.
Doch ich fürchte, durch die Fenster
Ziehen luftige Gespenster,
Und von Spuk und Zaubereien
Wüßt‘ ich euch nicht zu befreien.
Machte sich der Zwerg verdächtig,
Nun! dort hinten strömt es mächtig.
Die Bedeutung der Gestalten
Möcht‘ ich amtsgemäß entfalten.
Aber was nicht zu begreifen,
Wüßt‘ ich auch nicht zu erklären;
Helfet alle mich belehren!–
Seht ihr’s durch die Menge schweifen?
Vierbespannt ein prächtiger Wagen
Wird durch alles durchgetragen;
Doch er teilet nicht die Menge,
Nirgend seh‘ ich ein Gedränge.
Farbig glitzert’s in der Ferne,
Irrend leuchten bunte Sterne
Wie von magischer Laterne,
Schnaubt heran mit Sturmgewalt.
Platz gemacht! Mich schaudert’s! +

KNABE WAGENLENKER:
Halt!
Rosse, hemmet eure Flügel,
Fühlet den gewohnten Zügel,
Meistert euch, wie ich euch meistre,
Rauschet hin, wenn ich begeistre–
Diese Räume laßt uns ehren!
Schaut umher, wie sie sich mehren,
Die Bewundrer, Kreis um Kreise.
Herold auf! nach deiner Weise,
Ehe wir von euch entfliehen,
Uns zu schildern, uns zu nennen;
Denn wir sind Allegorien,
Und so solltest du uns kennen.

HEROLD:
Wüßte nicht, dich zu benennen;
Eher könnt‘ ich dich beschreiben.

KNABE LENKER:
So probier’s! +

HEROLD:
Man muß gestehn:
Erstlich bist du jung und schön.
Halbwüchsiger Knabe bist du; doch die Frauen,
Sie möchten dich ganz ausgewachsen schauen.
Du scheinest mir ein künftiger Sponsierer,
Recht so von Haus aus ein Verführer.

KNABE LENKER:
Das läßt sich hören! fahre fort,
Erfinde dir des Rätsels heitres Wort.

HEROLD:
Der Augen schwarzer Blitz, die Nacht der Locken,
Erheitert von juwelnem Band!
Und welch ein zierliches Gewand
Fließt dir von Schultern zu den Socken,
Mit Purpursaum und Glitzertand!
Man könnte dich ein Mädchen schelten;
Doch würdest du, zu Wohl und Weh,
Auch jetzo schon bei Mädchen gelten,
Sie lehrten dich das ABC.

KNABE LENKER:
Und dieser, der als Prachtgebilde
Hier auf dem Wagenthrone prangt?

HEROLD:
Er scheint ein König reich und milde,
Wohl dem, der seine Gunst erlangt!
Er hat nichts weiter zu erstreben,
Wo’s irgend fehlte, späht sein Blick,
Und seine reine Lust zu geben
Ist größer als Besitz und Glück.

KNABE LENKER:
Hiebei darfst du nicht stehen bleiben,
Du mußt ihn recht genau beschreiben.

HEROLD:
Das Würdige beschreibt sich nicht.
Doch das gesunde Mondgesicht,
Ein voller Mund, erblühte Wangen,
Die unterm Schmuck des Turbans prangen;
Im Faltenkleid ein reich Behagen!
Was soll ich von dem Anstand sagen?
Als Herrscher scheint er mir bekannt.

KNABE LENKER:
Plutus, des Reichtums Gott genannt!
Derselbe kommt in Prunk daher,
Der hohe Kaiser wünscht ihn sehr.

HEROLD:
Sag von dir selber auch das Was und Wie!

KNABE LENKER:
Bin die Verschwendung, bin die Poesie;
Bin der Poet, der sich vollendet,
Wenn er sein eigenst Gut verschwendet.
Auch ich bin unermeßlich reich
Und schätze mich dem Plutus gleich,
Beleb‘ und schmück‘ ihm Tanz und Schmaus,
Das, was ihm fehlt, das teil‘ ich aus.

HEROLD:
Das Prahlen steht dir gar zu schön,
Doch laß uns deine Künste sehn.

KNABE LENKER:
Hier seht mich nur ein Schnippchen schlagen,
Schon glänzt’s und glitzert’s um den Wagen.
Da springt eine Perlenschnur hervor!
Nehmt goldne Spange für Hals und Ohr;
Auch Kamm und Krönchen ohne Fehl,
In Ringen köstlichstes Juwel;
Auch Flämmchen spend‘ ich dann und wann,
Erwartend, wo es zünden kann.

HEROLD:
Wie greift und hascht die liebe Menge!
Fast kommt der Geber ins Gedränge.
Kleinode schnippt er wie ein Traum,
Und alles hascht im weiten Raum.
Doch da erleb‘ ich neue Pfiffe:
Was einer noch so emsig griffe,
Des hat er wirklich schlechten Lohn,
Die Gabe flattert ihm davon.
Es löst sich auf das Perlenband,
Ihm krabbeln Käfer in der Hand,
Er wirft sie weg, der arme Tropf,
Und sie umsummen ihm den Kopf.
Die andern statt solider Dinge
Erhaschen frevle Schmetterlinge.
Wie doch der Schelm so viel verheißt
Und nur verleiht, was golden gleißt!

KNABE LENKER:
Zwar Masken, merk‘ ich, weißt du zu verkünden,
Allein der Schale Wesen zu ergründen,
Sind Herolds Hofgeschäfte nicht;
Das fordert schärferes Gesicht.
Doch hüt‘ ich mich vor jeder Fehde;
An dich, Gebieter, wend‘ ich Frag‘ und Rede.
Hast du mir nicht die Windesbraut
Des Viergespannes anvertraut?
Lenk‘ ich nicht glücklich, wie du leitest?
Bin ich nicht da, wohin du deutest?
Und wußt‘ ich nicht auf kühnen Schwingen
Für dich die Palme zu erringen?
Wie oft ich auch für dich gefochten,
Mir ist es jederzeit geglückt:
Wenn Lorbeer deine Stirne schmückt,
Hab‘ ich ihn nicht mit Sinn und Hand geflochten?

PLUTUS:
Wenn’s nötig ist, daß ich dir Zeugnis leiste,
So sag‘ ich gern: Bist Geist von meinem Geiste.
Du handelst stets nach meinem Sinn,
Bist reicher, als ich selber bin.
Ich schätze, deinen Dienst zu lohnen,
Den grünen Zweig vor allen meinen Kronen.
Ein wahres Wort verkünd‘ ich allen:
Mein lieber Sohn, an dir hab‘ ich Gefallen.

KNABE LENKER:
Die größten Gaben meiner Hand,
Seht! hab‘ ich rings umher gesandt.
Auf dem und jenem Kopfe glüht
Ein Flämmchen, das ich angesprüht;
Von einem zu dem andern hüpft’s,
An diesem hält sich’s, dem entschlüpft’s,
Gar selten aber flammt’s empor,
Und leuchtet rasch in kurzem Flor;
Doch vielen, eh‘ man’s noch erkannt,
Verlischt es, traurig ausgebrannt.

WEIBERGEKLATSCH:
Da droben auf dem Viergespann
Das ist gewiß ein Scharlatan;
Gekauzt da hintendrauf Hanswurst,
Doch abgezehrt von Hunger und Durst,
Wie man ihn niemals noch erblickt;
Er fühlt wohl nicht, wenn man ihn zwickt.

DER ABGEMAGERTE:
Vom Leibe mir, ekles Weibsgeschlecht!
Ich weiß, dir komm‘ ich niemals recht.–
Wie noch die Frau den Herd versah,
Da hieß ich Avaritia;
Da stand es gut um unser Haus:
Nur viel herein und nichts hinaus!
Ich eiferte für Kist‘ und Schrein;
Das sollte wohl gar ein Laster sein.
Doch als in allerneusten Jahren
Das Weib nicht mehr gewohnt zu sparen,
Und, wie ein jeder böser Zahler,
Weit mehr Begierden hat als Taler,
Da bleibt dem Manne viel zu dulden,
Wo er nur hinsieht, da sind Schulden.
Sie wendet’s, kann sie was erspulen,
An ihren Leib, an ihren Buhlen;
Auch speist sie besser, trinkt noch mehr
Mit der Sponsierer leidigem Heer;
Das steigert mir des Goldes Reiz:
Bin männlichen Geschlechts, der Geiz!

HAUPTWEIB:
Mit Drachen mag der Drache geizen;
Ist’s doch am Ende Lug und Trug!
Er kommt, die Männer aufzureizen,
Sie sind schon unbequem genug.

WEIBER IN MASSE:
Der Strohmann! Reich ihm eine Schlappe!
Was will das Marterholz uns dräun?
Wir sollen seine Fratze scheun!
Die Drachen sind von Holz und Pappe,
Frisch an und dringt auf ihn hinein!

HEROLD:
Bei meinem Stabe! Ruh gehalten!–
Doch braucht es meiner Hülfe kaum;
Seht, wie die grimmen Ungestalten,
Bewegt im rasch gewonnenen Raum,
Das Doppel-Flügelpaar entfalten.
Entrüstet schütteln sich der Drachen
Umschuppte, feuerspeiende Rachen;
Die Menge flieht, rein ist der Platz.

HEROLD:
Er tritt herab, wie königlich!
Er winkt, die Drachen rühren sich,
Die Kiste haben sie vom Wagen
Mit Gold und Geiz herangetragen,
Sie steht zu seinen Füßen da:
Ein Wunder ist es, wie’s geschah.

PLUTUS:
Nun bist du los der allzulästigen Schwere,
Bist frei und frank, nun frisch zu deiner Sphäre!
Hier ist sie nicht! Verworren, scheckig, wild
Umdrängt uns hier ein fratzenhaft Gebild.
Nur wo du klar ins holde Klare schaust,
Dir angehörst und dir allein vertraust,
Dorthin, wo Schönes, Gutes nur gefällt,
Zur Einsamkeit!–Da schaffe deine Welt.

KNABE LENKER:
So acht‘ ich mich als werten Abgesandten,
So lieb‘ ich dich als nächsten Anverwandten.
Wo du verweilst, ist Fülle; wo ich bin,
Fühlt jeder sich im herrlichsten Gewinn.
Auch schwankt er oft im widersinnigen Leben:
Soll er sich dir? soll er sich mir ergeben?
Die Deinen freilich können müßig ruhn,
Doch wer mir folgt, hat immer was zu tun.
Nicht insgeheim vollführ‘ ich meine Taten,
Ich atme nur, und schon bin ich verraten.
So lebe wohl! Du gönnst mir ja mein Glück;
Doch lisple leis‘, und gleich bin ich zurück.

PLUTUS:
Nun ist es Zeit, die Schätze zu entfesseln!
Die Schlösser treff‘ ich mit des Herolds Rute.
Es tut sich auf! schaut her! in ehrnen Kesseln
Entwickelt sich’s und wallt von goldnem Blute,
Zunächst der Schmuck von Kronen, Ketten, Ringen;
Es schwillt und droht, ihn schmelzend zu verschlingen.

WECHSELGESCHREI DER MENGE:
Seht hier, o hin! wie’s reichlich quillt,
Die Kiste bis zum Rande füllt.–
Gefäße, goldne, schmelzen sich,
Gemünzte Rollen wälzen sich.–
Dukaten hüpfen wie geprägt,
O wie mir das den Busen regt–
Wie schau‘ ich alle mein Begehr!
Da kollern sie am Boden her.–
Man bietet’s euch, benutzt’s nur gleich
Und bückt euch nur und werdet reich.–
Wir andern, rüstig wie der Blitz,
Wir nehmen den Koffer in Besitz.

HEROLD:
Was soll’s, ihr Toren? soll mir das?
Es ist ja nur ein Maskenspaß.
Heut abend wird nicht mehr begehrt;
Glaubt ihr, man geb‘ euch Gold und Wert?
Sind doch für euch in diesem Spiel
Selbst Rechenpfennige zuviel.
Ihr Täppischen! ein artiger Schein
Soll gleich die plumpe Wahrheit sein.
Was soll euch Wahrheit?–Dumpfen Wahn
Packt ihr an allen Zipfeln an.–
Vermummter Plutus, Maskenheld,
Schlag dieses Volk mir aus dem Feld.

PLUTUS:
Dein Stab ist wohl dazu bereit,
Verleih ihn mir auf kurze Zeit.–
Ich tauch‘ ihn rasch in Sud und Glut.–
Nun, Masken, seid auf eurer Hut!
Wie’s blitzt und platzt, in Funken sprüht!
Der Stab, schon ist er angeglüht.
Wer sich zu nah herangedrängt,
Ist unbarmherzig gleich versengt.–
Jetzt fang‘ ich meinen Umgang an.

GESCHREI UND GEDRÄNG:
O weh! Es ist um uns getan.–
Entfliehe, wer entfliehen kann!–
Zurück, zurück, du Hintermann!–
Mir sprüht er heiß ins Angesicht.–
Mich drückt des glühenden Stabs Gewicht–
Verloren sind wir all‘ und all‘.–
Zurück, zurück, du Maskenschwall!
Zurück, zurück, unsinniger Hauf‘!–
O hätt‘ ich Flügel, flög‘ ich auf.–

PLUTUS:
Schon ist der Kreis zurückgedrängt,
Und niemand, glaub‘ ich, ist versengt.
Die Menge weicht,
Sie ist verscheucht.–
Doch solcher Ordnung Unterpfand
Zieh‘ ich ein unsichtbares Band.

HEROLD:
Du hast ein herrlich Werk vollbracht,
Wie dank‘ ich deiner klugen Macht!

PLUTUS:
Noch braucht es, edler Freund, Geduld:
Es droht noch mancherlei Tumult.

GEIZ:
So kann man doch, wenn es beliebt,
Vergnüglich diesen Kreis beschauen;
Denn immerfort sind vornenan die Frauen,
Wo’s was zu gaffen, was zu naschen gibt.
Noch bin ich nicht so völlig eingerostet!
Ein schönes Weib ist immer schön;
Und heute, weil es mich nichts kostet,
So wollen wir getrost sponsieren gehn.
Doch weil am überfüllten Orte
Nicht jedem Ohr vernehmlich alle Worte,
Versuch‘ ich klug und hoff‘, es soll mir glücken,
Mich pantomimisch deutlich auszudrücken.
Hand, Fuß, Gebärde reicht mir da nicht hin,
Da muß ich mich um einen Schwank bemühn.
Wie feuchten Ton will ich das Gold behandeln,
Denn dies Metall läßt sich in alles wandeln.

HEROLD:
Was fängt der an, der magre Tor!
Hat so ein Hungermann Humor?
Er knetet alles Gold zu Teig,
Ihm wird es untern Händen weich;
Wie er es drückt und wie es ballt,
Bleibt’s immer doch nur ungestalt.
Er wendet sich zu den Weibern dort,
Sie schreien alle, möchten fort,
Gebärden sich gar widerwärtig;
Der Schalk erweist sich übelfertig.
Ich fürchte, daß er sich ergetzt,
Wenn er die Sittlichkeit verletzt.
Dazu darf ich nicht schweigsam bleiben,
Gib meinen Stab, ihn zu vertreiben.

PLUTUS:
Er ahnet nicht, was uns von außen droht;
Laß ihn die Narrenteidung treiben!
Ihm wird kein Raum für seine Possen bleiben;
Gesetz ist mächtig, mächtiger ist die Not.

GETÜMMEL UND GESANG:
Das wilde Heer, es kommt zumal
Von Bergeshöh‘ und Waldestal,
Unwiderstehlich schreitet’s an:
Sie feiren ihren großen Pan.
Sie wissen doch, was keiner weiß,
Und drängen in den leeren Kreis.

PLUTUS:
Ich kenn‘ euch wohl und euren großen Pan!
Zusammen habt ihr kühnen Schritt getan.
Ich weiß recht gut, was nicht ein jeder weiß,
Und öffne schuldig diesen engen Kreis.
Mag sie ein gut Geschick begleiten!
Das Wunderlichste kann geschehn;
Sie wissen nicht, wohin sie schreiten,
Sie haben sich nicht vorgesehn.

WILDGESANG:
Geputztes Volk du, Flitterschau!
Sie kommen roh, sie kommen rauh,
In hohem Sprung, in raschem Lauf,
Sie treten derb und tüchtig auf.

FAUNEN:
Die Faunenschar
Im lustigen Tanz,
Den Eichenkranz
Im krausen Haar,
Ein feines zugespitztes Ohr
Dringt an dem Lockenkopf hervor,
Ein stumpfes Näschen, ein breit Gesicht,
Das schadet alles bei Frauen nicht:
Dem Faun, wenn er die Patsche reicht,
Versagt die Schönste den Tanz nicht leicht.

SATYR:
Der Satyr hüpft nun hinterdrein
Mit Ziegenfuß und dürrem Bein,
Ihm sollen sie mager und sehnig sein,
Und gemsenartig auf Bergeshöhn
Belustigt er sich, umherzusehn.
In Freiheitsluft erquickt alsdann,
Verhöhnt er Kind und Weib und Mann,
Die tief in Tales Dampf und Rauch
Behaglich meinen, sie lebten auch,
Da ihm doch rein und ungestört
Die Welt dort oben allein gehört.

GNOMEN:
Da trippelt ein die kleine Schar,
Sie hält nicht gern sich Paar und Paar;
Im moosigen Kleid mit Lämplein hell
Bewegt sich’s durcheinander schnell,
Wo jedes für sich selber schafft,
Wie Leucht-Ameisen wimmelhaft;
Und wuselt emsig hin und her,
Beschäftigt in die Kreuz und Quer.
Den frommen Gütchen nah verwandt,
Als Felschirurgen wohlbekannt;
Die hohen Berge schröpfen wir,
Aus vollen Adern schöpfen wir;
Metalle stürzen wir zuhauf,
Mit Gruß getrost: Glück auf! Glück auf!
Das ist von Grund aus wohlgemeint:
Wir sind der guten Menschen Freund.
Doch bringen wir das Gold zu Tag,
Damit man stehlen und kuppeln mag,
Nicht Eisen fehle dem stolzen Mann,
Der allgemeinen Mord ersann.
Und wer die drei Gebot‘ veracht’t,
Sich auch nichts aus den andern macht.
Das alles ist nicht unsre Schuld;
Drum habt so fort, wie wir, Geduld.

RIESEN:
Die wilden Männer sind s‘ genannt,
Am Harzgebirge wohlbekannt;
Natürlich nackt in aller Kraft,
Sie kommen sämtlich riesenhaft.
Den Fichtenstamm in rechter Hand
Und um den Leib ein wulstig Band,
Den derbsten Schurz von Zweig und Blatt,
Leibwacht, wie der Papst nicht hat.

NYMPHEN IM CHOR:
Auch kommt er an!–
Das All der Welt
Wird vorgestellt
Im großen Pan.
Ihr Heitersten, umgebet ihn,
Im Gaukeltanz umschwebet ihn:
Denn weil er ernst und gut dabei,
So will er, daß man fröhlich sei.
Auch unterm blauen Wölbedach
Verhielt‘ er sich beständig wach;
Doch rieseln ihm die Bäche zu,
Und Lüftlein wiegen ihn mild in Ruh.
Und wenn er zu Mittage schläft,
Sich nicht das Blatt am Zweige regt;
Gesunder Pflanzen Balsamduft
Erfüllt die schweigsam stille Luft;
Die Nymphe darf nicht munter sein,
Und wo sie stand, da schläft sie ein.
Wenn unerwartet mit Gewalt
Dann aber seine Stimm‘ erschallt,
Wie Blitzes Knattern, Meergebraus,
Dann niemand weiß, wo ein noch aus,
Zerstreut sich tapfres Heer im Feld,
Und im Getümmel bebt der Held.
So Ehre dem, dem Ehre gebührt,
Und Heil ihm, der uns hergeführt!

DEPUTATION DER GNOMEN:
Wenn das glänzend reiche Gute
Fadenweis durch Klüfte streicht,
Nur der klugen Wünschelrute
Seine Labyrinthe zeigt,
Wölben wir in dunklen Grüften
Troglodytisch unser Haus,
Und an reinen Tageslüften
Teilst du Schätze gnädig aus.
Nun entdecken wir hieneben
Eine Quelle wunderbar,
Die bequem verspricht zu geben,
Was kaum zu erreichen war.
Dies vermagst du zu vollenden,
Nimm es, Herr, in deine Hut:
Jeder Schatz in deinen Händen
Kommt der ganzen Welt zugut.

PLUTUS:
Wir müssen uns im hohen Sinne fassen
Und, was geschieht, getrost geschehen lassen,
Du bist ja sonst des stärksten Mutes voll.
Nun wird sich gleich ein Greulichstes eräugnen,
Hartnäckig wird es Welt und Nachwelt leugnen:
Du schreib es treulich in dein Protokoll.

HEROLD:
Die Zwerge führen den großen Pan
Zur Feuerquelle sacht heran;
Sie siedet auf vom tiefsten Schlund,
Dann sinkt sie wieder hinab zum Grund,
Und finster steht der offne Mund;
Wallt wieder auf in Glut und Sud,
Der große Pan steht wohlgemut,
Freut sich des wundersamen Dings,
Und Perlenschaum sprüht rechts und links.
Wie mag er solchem Wesen traun?
Er bückt sich tief hineinzuschaun.–
Nun aber fällt sein Bart hinein!–
Wer mag das glatte Kinn wohl sein?
Die Hand verbirgt es unserm Blick.–
Nun folgt ein großes Ungeschick:
Der Bart entflammt und fliegt zurück,
Entzündet Kranz und Haupt und Brust,
Zu Leiden wandelt sich die Lust.–
Zu löschen läuft die Schar herbei,
Doch keiner bleibt von Flammen frei,
Und wie es patscht und wie es schlägt,
Wird neues Flammen aufgeregt;
Verflochten in das Element,
Ein ganzer Maskenklump verbrennt.
Was aber, hör‘ ich wird uns kund
Von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund!
O ewig unglücksel’ge Nacht,
Was hast du uns für Leid gebracht!
Verkünden wird der nächste Tag,
Was niemand willig hören mag;
Doch hör‘ ich aller Orten schrein:
„Der Kaiser leidet solche Pein.“
O wäre doch ein andres wahr!
Der Kaiser brennt und seine Schar.
Sie sei verflucht, die ihn verführt,
In harzig Reis sich eingeschnürt,
Zu toben her mit Brüllgesang
Zu allerseitigem Untergang.
O Jugend, Jugend, wirst du nie
Der Freude reines Maß bezirken?
O Hoheit, Hoheit, wirst du nie
Vernünftig wie allmächtig wirken?
Schon geht der Wald in Flammen auf,
Sie züngeln leckend spitz hinauf
Zum holzverschränkten Deckenband;
Uns droht ein allgemeiner Brand.
Des Jammers Maß ist übervoll,
Ich weiß nicht, wer uns retten soll.
Ein Aschenhaufen einer Nacht
Liegt morgen reiche Kaiserpracht.

PLUTUS:
Schrecken ist genug verbreitet,
Hilfe sei nun eingeleitet!–
Schlage, heil’gen Stabs Gewalt,
Daß der Boden bebt und schallt!
Du, geräumig weite Luft,
Fülle dich mit kühlem Duft!
Zieht heran, umherzuschweifen,
Nebeldünste, schwangre Streifen,
Deckt ein flammendes Gewühl!
Rieselt, säuselt, Wölkchen kräuselt,
Schlüpfet wallend, leise dämpfet,
Löschend überall bekämpfet,
Ihr, die lindernden, die feuchten,
Wandelt in ein Wetterleuchten
Solcher eitlen Flamme Spiel!–
Drohen Geister, uns zu schädigen,
Soll sich die Magie betätigen.

Lustgarten

FAUST:
Verzeihst du, Herr, das Flammengaukelspiel?

KAISER:
Ich wünsche mir dergleichen Scherze viel.–
Auf einmal sah ich mich in glühnder Sphäre,
Es schien mir fast, als ob ich Pluto wäre.
Aus Nacht und Kohlen lag ein Felsengrund,
Von Flämmchen glühend. Dem und jenem Schlund
Aufwirbelten viel tausend wilde Flammen
Und flackerten in ein Gewölb‘ zusammen.
Zum höchsten Dome züngelt‘ es empor,
Der immer ward und immer sich verlor.
Durch fernen Raum gewundner Feuersäulen
Sah ich bewegt der Völker lange Zeilen,
Sie drängten sich im weiten Kreis heran
Und huldigten, wie sie es stets getan.
Vom meinem Hof erkannt‘ ich ein und andern,
Ich schien ein Fürst von tausend Salamandern.

MEPHISTOPHELES:
Das bist du, Herr! weil jedes Element
Die Majestät als unbedingt erkennt.
Gehorsam Feuer hast du nun erprobt;
Wirf dich ins Meer, wo es am wildsten tobt,
Und kaum betrittst du perlenreichen Grund,
So bildet wallend sich ein herrlich Rund;
Siehst auf und ab lichtgrüne schwanke Wellen,
Mit Purpursaum, zur schönsten Wohnung schwellen
Um dich, den Mittelpunkt. Bei jedem Schritt,
Wohin du gehst, gehn die Paläste mit.
Die Wände selbst erfreuen sich des Lebens,
Pfeilschnellen Wimmlens, Hin- und Widerstrebens.
Meerwunder drängen sich zum neuen milden Schein,
Sie schießen an, und keines darf herein.
Da spielen farbig goldbeschuppte Drachen,
Der Haifisch klafft, du lachst ihm in den Rachen.
Wie sich auch jetzt der Hof um dich entzückt,
Hast du doch nie ein solch Gedräng‘ erblickt.
Doch bleibst du nicht vom Lieblichsten geschieden:
Es nahen sich neugierige Nereiden
Der prächt’gen Wohnung in der ew’gen Frische,
Die jüngsten scheu und lüstern wie die Fische,
Die spätern klug. Schon wird es Thetis kund,
Dem zweiten Peleus reicht sie Hand und Mund.–
Den Sitz alsdann auf des Olymps Revier…

KAISER:
Die luft’gen Räume, die erlass‘ ich dir:
Noch früh genug besteigt man jenen Thron.

MEPHISTOPHELES:
Und, höchster Herr! die Erde hast du schon.

KAISER:
Welch gut Geschick hat dich hieher gebracht,
Unmittelbar aus Tausend Einer Nacht?
Gleichst du an Fruchtbarkeit Scheherazaden,
Versichr‘ ich dich der höchsten aller Gnaden.
Sei stets bereit, wenn eure Tageswelt,
Wie’s oft geschieht, mir widerlichst mißfällt.

MARSCHALK:
Durchlauchtigster, ich dacht‘ in meinem Leben
Vom schönsten Glück Verkündung nicht zu geben
Als diese, die mich hoch beglückt,
In deiner Gegenwart entzückt:
Rechnung für Rechnung ist berichtigt,
Die Wucherklauen sind beschwichtigt,
Los bin ich solcher Höllenpein;
Im Himmel kann’s nicht heitrer sein.

HEERMEISTER:
Abschläglich ist der Sold entrichtet,
Das ganze Heer aufs neu‘ verpflichtet,
Der Landsknecht fühlt sich frisches Blut,
Und Wirt und Dirnen haben’s gut.

KAISER:
Wie atmet eure Brust erweitert!
Das faltige Gesicht erheitert!
Wie eilig tretet ihr heran!

SCHATZMEISTER:
Befrage diese, die das Werk getan.

FAUST:
Dem Kanzler ziemt’s, die Sache vorzutragen.

KANZLER:
Beglückt genug in meinen alten Tagen.–
So hört und schaut das schicksalschwere Blatt,
Das alles Weh in Wohl verwandelt hat.
„Zu wissen sei es jedem, der’s begehrt:
Der Zettel hier ist tausend Kronen wert.
Ihm liegt gesichert, als gewisses Pfand,
Unzahl vergrabnen Guts im Kaiserland.
Nun ist gesorgt, damit der reiche Schatz,
Sogleich gehoben, diene zum Ersatz.“

KAISER:
Ich ahne Frevel, ungeheuren Trug!
Wer fälschte hier des Kaisers Namenszug?
Ist solch Verbrechen ungestraft geblieben?

SCHATZMEISTER:
Erinnre dich! hast selbst es unterschrieben;
Erst heute nacht. Du standst als großer Pan,
Der Kanzler sprach mit uns zu dir heran:
„Gewähre dir das hohe Festvergnügen,
Des Volkes Heil, mit wenig Federzügen.“
Du zogst sie rein, dann ward’s in dieser Nacht
Durch Tausendkünstler schnell vertausendfacht.
Damit die Wohltat allen gleich gedeihe,
So stempelten wir gleich die ganze Reihe,
Zehn, Dreißig, Funfzig, Hundert sind parat.
Ihr denkt euch nicht, wie wohl’s dem Volke tat.
Seht eure Stadt, sonst halb im Tod verschimmelt,
Wie alles lebt und lustgenießend wimmelt!
Obschon dein Name längst die Welt beglückt,
Man hat ihn nie so freundlich angeblickt.
Das Alphabet ist nun erst überzählig,
In diesem Zeichen wird nun jeder selig.

KAISER:
Und meinen Leuten gilt’s für gutes Gold?
Dem Heer, dem Hofe gnügt’s zu vollem Sold?
So sehr mich’s wundert, muß ich’s gelten lassen.

MARSCHALK:
Unmöglich wär’s, die Flüchtigen einzufassen;
Mit Blitzeswink zerstreute sich’s im Lauf.
Die Wechslerbänke stehen sperrig auf:
Man honoriert daselbst ein jedes Blatt
Durch Gold und Silber, freilich mit Rabatt.
Nun geht’s von da zum Fleischer, Bäcker, Schenken;
Die halbe Welt scheint nur an Schmaus zu denken,
Wenn sich die andre neu in Kleidern bläht.
Der Krämer schneidet aus, der Schneider näht.
Bei „Hoch dem Kaiser!“ sprudelt’s in den Kellern,
Dort kocht’s und brät’s und klappert mit den Tellern.

MEPHISTOPHELES:
Wer die Terrassen einsam abspaziert,
Gewahrt die Schönste, herrlich aufgeziert,
Ein Aug‘ verdeckt vom stolzen Pfauenwedel,
Sie schmunzelt uns und blickt nach solcher Schedel;
Und hurt’ger als durch Witz und Redekunst
Vermittelt sich die reichste Liebesgunst.
Man wird sich nicht mit Börs‘ und Beutel plagen,
Ein Blättchen ist im Busen leicht zu tragen,
Mit Liebesbrieflein paart’s bequem sich hier.
Der Priester trägt’s andächtig im Brevier,
Und der Soldat, um rascher sich zu wenden,
Erleichtert schnell den Gürtel seiner Lenden.
Die Majestät verzeihe, wenn ins Kleine
Das hohe Werk ich zu erniedern scheine.

FAUST:
Das übermaß der Schätze, das, erstarrt,
In deinen Landen tief im Boden harrt,
Liegt ungenutzt. Der weiteste Gedanke
Ist solchen Reichtums kümmerlichste Schranke;
Die Phantasie, in ihrem höchsten Flug,
Sie strengt sich an und tut sich nie genug.
Doch fassen Geister, würdig, tief zu schauen,
Zum Grenzenlosen grenzenlos Vertrauen.

MEPHISTOPHELES:
Ein solch Papier, an Gold und Perlen Statt,
Ist so bequem, man weiß doch, was man hat;
Man braucht nicht erst zu markten, noch zu tauschen,
Kann sich nach Lust in Lieb‘ und Wein berauschen.
Will man Metall, ein Wechsler ist bereit,
Und fehlt es da, so gräbt man eine Zeit.
Pokal und Kette wird verauktioniert,
Und das Papier, sogleich amortisiert,
Beschämt den Zweifler, der uns frech verhöhnt.
Man will nichts anders, ist daran gewöhnt.
So bleibt von nun an allen Kaiserlanden
An Kleinod, Gold, Papier genug vorhanden.

KAISER:
Das hohe Wohl verdankt euch unser Reich;
Wo möglich sei der Lohn dem Dienste gleich.
Vertraut sei euch des Reiches innrer Boden,
Ihr seid der Schätze würdigste Kustoden.
Ihr kennt den weiten, wohlverwahrten Hort,
Und wenn man gräbt, so sei’s auf euer Wort.
Vereint euch nun, ihr Meister unsres Schatzes,
Erfüllt mit Lust die Würden eures Platzes,
Wo mit der obern sich die Unterwelt,
In Einigkeit beglückt, zusammenstellt.

SCHATZMEISTER:
Soll zwischen uns kein fernster Zwist sich regen,
Ich liebe mir den Zaubrer zum Kollegen.

KAISER:
Beschenk‘ ich nun bei Hofe Mann für Mann,
Gesteh‘ er mir, wozu er’s brauchen kann.

PAGE:
Ich lebe lustig, heiter, guter Dinge.

EIN ANDRER:
Ich schaffe gleich dem Liebchen Kett‘ und Ringe.

KÄMMERER:
Von nun an trink‘ ich doppelt beßre Flasche.

EIN ANDRER:
Die Würfel jucken mich schon in der Tasche.

BANNERHERR:
Mein Schloß und Feld, ich mach‘ es schuldenfrei.

EIN ANDRER:
Es ist ein Schatz, den leg‘ ich Schätzen bei.

KAISER:
Ich hoffte Lust und Mut zu neuen Taten;
Doch wer euch kennt, der wird euch leicht erraten.
Ich merk‘ es wohl: bei aller Schätze Flor,
Wie ihr gewesen, bleibt ihr nach wie vor.

NARR:
Ihr spendet Gnaden, gönnt auch mir davon!

KAISER:
Und lebst du wieder, du vertrinkst sie schon.

NARR:
Die Zauberblätter! ich versteh’s nicht recht.

KAISER:
Das glaub‘ ich wohl, denn du gebrauchst sie schlecht.

NARR:
Da fallen andere; weiß nicht, was ich tu‘.

KAISER:
Nimm sie nur hin, sie fielen dir ja zu.

NARR:
Fünftausend Kronen wären mir zu Handen!

MEPHISTOPHELES:
Zweibeiniger Schlauch, bist wieder auferstanden?

NARR:
Geschieht mir oft, doch nicht so gut als jetzt.

MEPHISTOPHELES:
Du freust dich so, daß dich’s in Schweiß versetzt.

NARR:
Da seht nur her, ist das wohl Geldes wert?

MEPHISTOPHELES:
Du hast dafür, was Schlund und Bauch begehrt.

NARR:
Und kaufen kann ich Acker, Haus und Vieh?

MEPHISTOPHELES:
Versteht sich! Biete nur, das fehlt dir nie.

NARR:
Und Schloß, mit Wald und Jagd und Fischbach? +

MEPHISTOPHELES:
Traun!
Ich möchte dich gestrengen Herrn wohl schaun!

NARR:
Heut abend wieg‘ ich mich im Grundbesitz!–

MEPHISTOPHELES:
Wer zweifelt noch an unsres Narren Witz!

Finstere Galerie

MEPHISTOPHELES:
Was ziehst du mich in diese düstern Gänge?
Ist nicht da drinnen Lust genug,
Im dichten, bunten Hofgedränge
Gelegenheit zu Spaß und Trug?

FAUST:
Sag mir das nicht, du hast’s in alten Tagen
Längst an den Sohlen abgetragen;
Doch jetzt dein Hin- und Widergehn
Ist nur, um mir nicht Wort zu stehn.
Ich aber bin gequält zu tun:
Der Marschalk und der Kämmrer treibt mich nun.
Der Kaiser will, es muß sogleich geschehn,
Will Helena und Paris vor sich sehn;
Das Musterbild der Männer so der Frauen
In deutlichen Gestalten will er schauen.
Geschwind ans Werk! ich darf mein Wort nicht brechen.

MEPHISTOPHELES:
Unsinnig war’s, leichtsinnig zu versprechen.

FAUST:
Du hast, Geselle, nicht bedacht,
Wohin uns deine Künste führen;
Erst haben wir ihn reich gemacht,
Nun sollen wir ihn amüsieren.

MEPHISTOPHELES:
Du wähnst, es füge sich sogleich;
Hier stehen wir vor steilern Stufen,
Greifst in ein fremdestes Bereich,
Machst frevelhaft am Ende neue Schulden,
Denkst Helenen so leicht hervorzurufen
Wie das Papiergespenst der Gulden.–
Mit Hexen-Fexen, mit Gespenst-Gespinsten,
Kielkröpfigen Zwergen steh‘ ich gleich zu Diensten;
Doch Teufels-Liebchen, wenn auch nicht zu schelten,
Sie können nicht für Heroinen gelten.

FAUST:
Da haben wir den alten Leierton!
Bei dir gerät man stets ins Ungewisse.
Der Vater bist du aller Hindernisse,
Für jedes Mittel willst du neuen Lohn.
Mit wenig Murmeln, weiß ich, ist’s getan;
Wie man sich umschaut, bringst du sie zur Stelle.

MEPHISTOPHELES:
Das Heidenvolk geht mich nichts an,
Es haust in seiner eignen Hölle;
Doch gibt’s ein Mittel. +

FAUST:
Sprich, und ohne Säumnis!

MEPHISTOPHELES:
Ungern entdeck‘ ich höheres Geheimnis.
Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;
Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.
Die Mütter sind es! +

FAUST:
Mütter! +

MEPHISTOPHELES:
Schaudert’s dich?

FAUST:
Die Mütter! Mütter!–’s klingt so wunderlich!

MEPHISTOPHELES:
Das ist es auch. Göttinnen, ungekannt
Euch Sterblichen, von uns nicht gern genannt.
Nach ihrer Wohnung magst ins Tiefste schürfen;
Du selbst bist schuld, daß ihrer wir bedürfen.

FAUST:
Wohin der Weg? +

MEPHISTOPHELES:
Kein Weg! Ins Unbetretene,
Nicht zu Betretende; ein Weg ans Unerbetene,
Nicht zu Erbittende. Bist du bereit?–
Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,
Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
Hast du Begriff von öd‘ und Einsamkeit?

FAUST:
Du spartest, dächt‘ ich, solche Sprüche;
Hier wittert’s nach der Hexenküche,
Nach einer längst vergangnen Zeit.
Mußt‘ ich nicht mit der Welt verkehren?
Das Leere lernen, Leeres lehren?–
Sprach ich vernünftig, wie ich’s angeschaut,
Erklang der Widerspruch gedoppelt laut;
Mußt‘ ich sogar vor widerwärtigen Streichen
Zur Einsamkeit, zur Wildernis entweichen
Und, um nicht ganz versäumt, allein zu leben,
Mich doch zuletzt dem Teufel übergeben.

MEPHISTOPHELES:
Und hättest du den Ozean durchschwommen,
Das Grenzenlose dort geschaut,
So sähst du dort doch Well‘ auf Welle kommen,
Selbst wenn es dir vorm Untergange graut.
Du sähst doch etwas. Sähst wohl in der Grüne
Gestillter Meere streichende Delphine;
Sähst Wolken ziehen, Sonne, Mond und Sterne–
Nichts wirst du sehn in ewig leerer Ferne,
Den Schritt nicht hören, den du tust,
Nichts Festes finden, wo du ruhst.

FAUST:
Du sprichst als erster aller Mystagogen,
Die treue Neophyten je betrogen;
Nur umgekehrt. Du sendest mich ins Leere,
Damit ich dort so Kunst als Kraft vermehre;
Behandelst mich, daß ich, wie jene Katze,
Dir die Kastanien aus den Gluten kratze.
Nur immer zu! wir wollen es ergründen,
In deinem Nichts hoff‘ ich das All zu finden.

MEPHISTOPHELES:
Ich rühme dich, eh‘ du dich von mir trennst,
Und sehe wohl, daß du den Teufel kennst;
Hier diesen Schlüssel nimm. +

FAUST:
Das kleine Ding!

MEPHISTOPHELES:
Erst faß ihn an und schätz ihn nicht gering.

FAUST:
Er wächst in meiner Hand! er leuchtet, blitzt!

MEPHISTOPHELES:
Merkst du nun bald, was man an ihm besitzt?
Der Schlüssel wird die rechte Stelle wittern,
Folg ihm hinab, er führt dich zu den Müttern.

FAUST:
Den Müttern! Trifft’s mich immer wie ein Schlag!
Was ist das Wort, das ich nicht hören mag?

MEPHISTOPHELES:
Bist du beschränkt, daß neues Wort dich stört?
Willst du nur hören, was du schon gehört?
Dich störe nichts, wie es auch weiter klinge,
Schon längst gewohnt der wunderbarsten Dinge.

FAUST:
Doch im Erstarren such‘ ich nicht mein Heil,
Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil;
Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure,
Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.

MEPHISTOPHELES:
Versinke denn! Ich könnt‘ auch sagen: steige!
’s ist einerlei. Entfliehe dem Entstandnen
In der Gebilde losgebundne Reiche!
Ergetze dich am längst nicht mehr Vorhandnen;
Wie Wolkenzüge schlingt sich das Getreibe,
Den Schlüssel schwinge, halte sie vom Leibe!

FAUST:
Wohl! fest ihn fassend fühl‘ ich neue Stärke,
Die Brust erweitert, hin zum großen Werke.

MEPHISTOPHELES:
Ein glühnder Dreifuß tut dir endlich kund,
Du seist im tiefsten, allertiefsten Grund.
Bei seinem Schein wirst du die Mütter sehn,
Die einen sitzen, andre stehn und gehn,
Wie’s eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung,
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.
Umschwebt von Bildern aller Kreatur;
Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur.
Da faß ein Herz, denn die Gefahr ist groß,
Und gehe grad‘ auf jenen Dreifuß los,
Berühr ihn mit dem Schlüssel! +

MEPHISTOPHELES:
So ist’s recht!
Er schließt sich an, er folgt als treuer Knecht;
Gelassen steigst du, dich erhebt das Glück,
Und eh‘ sie’s merken, bist mit ihm zurück.
Und hast du ihn einmal hierher gebracht,
So rufst du Held und Heldin aus der Nacht,
Der erste, der sich jener Tat erdreistet;
Sie ist getan, und du hast es geleistet.
Dann muß fortan, nach magischem Behandeln,
Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln.

FAUST:
Und nun was jetzt? +

MEPHISTOPHELES:
Dein Wesen strebe nieder;
Versinke stampfend, stampfend steigst du wieder.

MEPHISTOPHELES:
Wenn ihm der Schlüssel nur zum besten frommt!
Neugierig bin ich, ob er wiederkommt.

Hell erleuchtete Säle

KÄMMERER:
Ihr seid uns noch die Geisterszene schuldig;
Macht Euch daran! der Herr ist ungeduldig.

MARSCHALK:
Soeben fragt der Gnädigste darnach;
Ihr! zaudert nicht der Majestät zur Schmach.

MEPHISTOPHELES:
Ist mein Kumpan doch deshalb weggegangen;
Er weiß schon, wie es anzufangen,
Und laboriert verschlossen still,
Muß ganz besonders sich befleißen;
Denn wer den Schatz, das Schöne, heben will,
Bedarf der höchsten Kunst, Magie der Weisen.

MARSCHALK:
Was ihr für Künste braucht, ist einerlei:
Der Kaiser will, daß alles fertig sei.

BLONDINE:
Ein Wort, mein Herr! Ihr seht ein klar Gesicht,
Jedoch so ist’s im leidigen Sommer nicht!
Da sprossen hundert bräunlich rote Flecken,
Die zum Verdruß die weiße Haut bedecken.
Ein Mittel! +

MEPHISTOPHELES:
Schade! so ein leuchtend Schätzchen
Im Mai getupft wie eure Pantherkätzchen.
Nehmt Froschlaich, Krötenzungen, kohobiert,
Im vollsten Mondlicht sorglich distilliert
Und, wenn er abnimmt, reinlich aufgestrichen,
Der Frühling kommt, die Tupfen sind entwichen.

BRAUNE:
Die Menge drängt heran, Euch zu umschranzen.
Ich bitt‘ um Mittel! Ein erfrorner Fuß
Verhindert mich am Wandeln wie am Tanzen,
Selbst ungeschickt beweg‘ ich mich zum Gruß.

MEPHISTOPHELES:
Erlaubet einen Tritt von meinem Fuß.

BRAUNE:
Nun, das geschieht wohl unter Liebesleuten.

MEPHISTOPHELES:
Mein Fußtritt, Kind! hat Größres zu bedeuten.
Zu Gleichem Gleiches, was auch einer litt;
Fuß heilet Fuß, so ist’s mit allen Gliedern.
Heran! Gebt acht! Ihr sollt es nicht erwidern.

BRAUNE:
Weh! Weh! das brennt! das war ein harter Tritt, +
Wie Pferdehuf.

MEPHISTOPHELES:
Die Heilung nehmt Ihr mit.
Du kannst nunmehr den Tanz nach Lust verüben,
Bei Tafel schwelgend füßle mit dem Lieben.

DAME:
Laßt mich hindurch! Zu groß sind meine Schmerzen,
Sie wühlen siedend mir im tiefsten Herzen;
Bis gestern sucht‘ Er Heil in meinen Blicken,
Er schwatzt mit ihr und wendet mir den Rücken.

MEPHISTOPHELES:
Bedenklich ist es, aber höre mich.
An ihn heran mußt du dich leise drüchen;
Nimm diese Kohle, streich ihm einen Strich
Auf ärmel, Mantel, Schulter, wie sich’s macht;
Er fühlt im Herzen holden Reuestich.
Die Kohle doch mußt du sogleich verschlingen,
Nicht Wein, nicht Wasser an die Lippen bringen;
Er seufzt vor deiner Tür noch heute nacht.

DAME:
Ist doch kein Gift? +

MEPHISTOPHELES:
Respekt, wo sich’s gebührt!
Weit müßtet Ihr nach solcher Kohle laufen;
Sie kommt von einem Scheiterhaufen,
Den wir sonst emsiger angeschürt.

PAGE:
Ich bin verliebt, man hält mich nicht für voll.

MEPHISTOPHELES:
Ich weiß nicht mehr, wohin ich hören soll.
Müßt Euer Glück nicht auf die Jüngste setzen.
Die Angejahrten wissen Euch zu schätzen.–
Schon wieder Neue! Welch ein harter Strauß!
Ich helfe mir zuletzt mit Wahrheit aus;
Der schlechteste Behelf! Die Not ist groß.–
O Mütter, Mütter! Laßt nur Fausten los!
Die Lichter brennen trübe schon im Saal,
Der ganze Hof bewegt sich auf einmal.
Anständig seh‘ ich sie in Folge ziehn
Durch lange Gänge, ferne Galerien.
Nun! sie versammeln sich im weiten Raum
Des alten Rittersaals, er faßt sie kaum.
Auf breite Wände Teppiche spendiert,
Mit Rüstung Eck‘ und Nischen ausgeziert.
Hier braucht es, dächt‘ ich, keine Zauberworte;
Die Geister finden sich von selbst zum Orte.

Rittersaal

HEROLD:
Mein alt Geschäft, das Schauspiel anzukünden,
Verkümmert mir der Geister heimlich Walten;
Vergebens wagt man, aus verständigen Gründen
Sich zu erklären das verworrene Schalten.
Die Sessel sind, die Stühle schon zur Hand;
Den Kaiser setzt man grade vor die Wand;
Auf den Tapeten mag er da die Schlachten
Der großen Zeit bequemlichstens betrachten.
Hier sitzt nun alles, Herr und Hof im Runde,
Die Bänke drängen sich im Hintergrunde;
Auch Liebchen hat, in düstern Geisterstunden,
Zur Seite Liebchens lieblich Raum gefunden.
Und so, da alle schicklich Platz genommen,
Sind wir bereit; die Geister mögen kommen!

ASTROLOG:
Beginne gleich das Drama seinen Lauf,
Der Herr befiehlt’s, ihr Wände tut euch auf!
Nichts hindert mehr, hier ist Magie zur Hand:
Die Teppiche schwinden, wie gerollt vom Brand;
Die Mauer spaltet sich, sie kehrt sich um,
Ein tief Theater scheint sich aufzustellen,
Geheimnisvoll ein Schein uns zu erhellen,
Und ich besteige das Proszenium.

MEPHISTOPHELES:
Von hier aus hoff‘ ich allgemeine Gunst,
Einbläsereien sind des Teufels Redekunst.
Du kennst den Takt, in dem die Sterne gehn,
Und wirst mein Flüstern meisterlich verstehn.

ASTROLOG:
Durch Wunderkraft erscheint allhier zur Schau,
Massiv genug, ein alter Tempelbau.
Dem Atlas gleich, der einst den Himmel trug,
Stehn reihenweis der Säulen hier genug;
Sie mögen wohl der Felsenlast genügen,
Da zweie schon ein groß Gebäude trügen.

ARCHITEKT:
Das wär‘ antik! Ich wüßt‘ es nicht zu preisen,
Es sollte plump und überlästig heißen.
Roh nennt man edel, unbehülflich groß.
Schmalpfeiler lieb‘ ich, strebend, grenzenlos;
Spitzbögiger Zenit erhebt den Geist;
Solch ein Gebäu erbaut uns allermeist.

ASTROLOG:
Empfangt mit Ehrfurcht sterngegönnte Stunden;
Durch magisch Wort sei die Vernunft gebunden;
Dagegen weit heran bewege frei
Sich herrliche verwegne Phantasei.
Mit Augen schaut nun, was ihr kühn begehrt,
Unmöglich ist’s, drum eben glaubenswert.

ASTROLOG:
Im Priesterkleid, bekränzt, ein Wundermann,
Der nun vollbringt, was er getrost begann.
Ein Dreifuß steigt mit ihm aus hohler Gruft,
Schon ahn‘ ich aus der Schale Weihrauchduft.
Er rüstet sich, das hohe Werk zu segnen;
Es kann fortan nur Glückliches begegnen.

FAUST:
In eurem Namen, Mütter, die ihr thront
Im Grenzenlosen, ewig einsam wohnt,
Und doch gesellig. Euer Haupt umschweben
Des Lebens Bilder, regsam, ohne Leben.
Was einmal war, in allem Glanz und Schein,
Es regt sich dort; denn es will ewig sein.
Und ihr verteilt es, allgewaltige Mächte,
Zum Zelt des Tages, zum Gewölb der Nächte.
Die einen faßt des Lebens holder Lauf,
Die andern sucht der kühne Magier auf;
In reicher Spende läßt er, voll Vertrauen,
Was jeder wünscht, das Wunderwürdige schauen.

ASTROLOG:
Der glühnde Schlüssel rührt die Schale kaum,
Ein dunstiger Nebel deckt sogleich den Raum;
Er schleicht sich ein, er wogt nach Wolkenart,
Gedehnt, geballt, verschränkt, geteilt, gepaart.
Und nun erkennt ein Geister-Meisterstück!
So wie sie wandeln, machen sie Musik.
Aus luft’gen Tönen quillt ein Weißnichtwie,
Indem sie ziehn, wird alles Melodie.
Der Säulenschaft, auch die Triglyphe klingt,
Ich glaube gar, der ganze Tempel singt.
Das Dunstige senkt sich; aus dem leichten Flor
Ein schöner Jüngling tritt im Takt hervor.
Hier schweigt mein Amt, ich brauch‘ ihn nicht zu nennen,
Wer sollte nicht den holden Paris kennen!

DAME:
O! welch ein Glanz aufblühender Jugendkraft!

ZWEITE:
Wie eine Pfirsche frisch und voller Saft!

DRITTE:
Die fein gezognen, süß geschwollnen Lippen!

VIERTE:
Du möchtest wohl an solchem Becher nippen?

FÜNFTE:
Er ist gar hübsch, wenn auch nicht eben fein.

SECHSTE:
Ein bißchen könnt‘ er doch gewandter sein.

RITTER:
Den Schäferknecht glaub‘ ich allhier zu spüren,
Vom Prinzen nichts und nichts von Hofmanieren.

ANDRER:
Eh nun! halb nackt ist wohl der Junge schön,
Doch müßten wir ihn erst im Harnisch sehn!

DAME:
Er setzt sich nieder, weichlich, angenehm.

ritter
Auf seinem Schoße wär‘ Euch wohl bequem?

ANDRE:
Er lehnt den Arm so zierlich übers Haupt.

KÄMMERER:
Die Flegelei! Das find‘ ich unerlaubt!

DAME:
Ihr Herren wißt an allem was zu mäkeln.

DERSELBE:
In Kaisers Gegenwart sich hinzuräkeln!

DAME:
Er stellt’s nur vor! Er glaubt sich ganz allein.

DERSELBE:
Das Schauspiel selbst, hier sollt‘ es höflich sein.

DAME:
Sanft hat der Schlaf den Holden übernommen.

DERSELBE:
Er schnarcht nun gleich; natürlich ist’s, vollkommen!

JUNGE DAME:
Zum Weihrauchsdampf was duftet so gemischt,
Das mir das Herz zum innigsten erfrischt?

ÄLTERE:
Fürwahr! Es dringt ein Hauch tief ins Gemüte,
Er kommt von ihm! +

ÄLTESTE:
Es ist des Wachstums Blüte,
Im Jüngling als Ambrosia bereitet
Und atmosphärisch ringsumher verbreitet.

MEPHISTOPHELES:
Das wär‘ sie denn! Vor dieser hätt‘ ich Ruh‘;
Hübsch ist sie wohl, doch sagt sie mir nicht zu.

ASTROLOG:
Für mich ist diesmal weiter nichts zu tun,
Als Ehrenmann gesteh‘, bekenn‘ ich’s nun.
Die Schöne kommt, und hätt‘ ich Feuerzungen!–
Von Schönheit ward von jeher viel gesungen–
Wem sie erscheint, wird aus sich selbst entrückt,
Wem sie gehörte, ward zu hoch beglückt.

FAUST:
Hab‘ ich noch Augen? Zeigt sich tief im Sinn
Der Schönheit Quelle reichlichstens ergossen?
Mein Schreckensgang bringt seligsten Gewinn.
Wie war die Welt mir nichtig, unerschlossen!
Was ist sie nun seit meiner Priesterschaft?
Erst wünschenswert, gegründet, dauerhaft!
Verschwinde mir des Lebens Atemkraft,
Wenn ich mich je von dir zurückgewöhne!–
Die Wohlgestalt, die mich voreinst entzückte,
In Zauberspiegelung beglückte,
War nur ein Schaumbild solcher Schöne!–
Du bist’s, der ich die Regung aller Kraft,
Den Inbegriff der Leidenschaft,
Dir Neigung, Lieb‘, Anbetung, Wahnsinn zolle.

MEPHISTOPHELES:
So faßt Euch doch und fallt nicht aus der Rolle!

ÄLTERE DAME:
Groß, wohlgestaltet, nur der Kopf zu klein.

JÜNGERE:
Seht nur den Fuß! Wie könnt‘ er plumper sein!

DIPLOMAT:
Fürstinnen hab‘ ich dieser Art gesehn,
Mich deucht, sie ist vom Kopf zum Fuße schön.

HOFMANN:
Sie nähert sich dem Schläfer listig mild.

DAME:
Wie häßlich neben jugendreinem Bild!

POET:
Von ihrer Schönheit ist er angestrahlt.

DAME:
Endymion und Luna! wie gemalt!

DERSELBE:
Ganz recht! Die Göttin scheint herabzusinken,
Sie neigt sich über, seinen Hauch zu trinken;
Beneidenswert!–Ein Kuß!–Das Maß ist voll.

DUENNA:
Vor allen Leuten! Das ist doch zu toll!

FAUST:
Furchtbare Gunst dem Knaben!–+

MEPHISTOPHELES:
Ruhig! still!
Laß das Gespenst doch machen was es will.

HOFMANN:
Sie schleicht sich weg, leichtfüßig; er erwacht.

DAME:
Sie sieht sich um! Das hab‘ ich wohl gedacht.

HOFMANN:
Er staunt! Ein Wunder ist’s, was ihm geschieht.

DAME:
Ihr ist kein Wunder, was sie vor sich sieht.

HOFMANN:
Mit Anstand kehrt sie sich zu ihm herum.

DAME:
Ich merke schon, sie nimmt ihn in die Lehre;
In solchem Fall sind alle Männer dumm,
Er glaubt wohl auch, daß er der erste wäre.

RITTER:
Laßt mir sie gelten! Majestätisch fein!–

DAME:
Die Buhlerin! Das nenn‘ ich doch gemein!

PAGE:
Ich möchte wohl an seiner Stelle sein!

HOFMANN:
Wer würde nicht in solchem Netz gefangen?

DAME:
Das Kleinod ist durch manche Hand gegangen,
Auch die Verguldung ziemlich abgebraucht.

ANDRE:
Vom zehnten Jahr an hat sie nichts getaugt.

RITTER:
Gelegentlich nimmt jeder sich das Beste;
Ich hielte mich an diese schönen Reste.

GELAHRTER:
Ich seh‘ sie deutlich, doch gesteh‘ ich frei:
Zu zweiflen ist, ob sie die rechte sei.
Die Gegenwart verführt ins übertriebne,
Ich halte mich vor allem ans Geschriebne.
Da les‘ ich denn, sie habe wirklich allen
Graubärten Trojas sonderlich gefallen;
Und wie mich dünkt, vollkommen paßt das hier:
Ich bin nicht jung, und doch gefällt sie mir.

ASTROLOG:
Nicht Knabe mehr! Ein kühner Heldenmann,
Umfaßt er sie, die kaum sich wehren kann.
Gestärkten Arms hebt er sie hoch empor,
Entführt er sie wohl gar? +

FAUST:
Verwegner Tor!
Du wagst! Du hörst nicht! halt! das ist zu viel!

EMPHISTOPHELES:
Machst du’s doch selbst, das Fratzengeisterspiel!

ASTROLOG:
Nur noch ein Wort! Nach allem, was geschah,
Nenn‘ ich das Stück den Raub der Helena.

FAUST:
Was Raub! Bin ich für nichts an dieser Stelle!
Ist dieser Schlüssel nicht in meiner Hand!
Er führte mich, durch Graus und Wog‘ und Welle
Der Einsamkeiten, her zum festen Strand.
Hier fass‘ ich Fuß! Hier sind es Wirklichkeiten,
Von hier aus darf der Geist mit Geistern streiten,
Das Doppelreich, das große, sich bereiten.
So fern sie war, wie kann sie näher sein!
Ich rette sie, und sie ist doppelt mein.
Gewagt! Ihr Mütter! Mütter! müßt’s gewähren!
Wer sie erkannt, der darf sie nicht entbehren.

ASTROLOG:
Was tust du, Fauste! Fauste!–Mit Gewalt
Faßt er sie an, schon trübt sich die Gestalt.
Den Schlüssel kehrt er nach dem Jüngling zu,
Berührt ihn!–Weh uns, Wehe! Nu! im Nu!

MEPHISTOPHELES:
Da habt ihr’s nun! mit Narren sich beladen,
Das kommt zuletzt dem Teufel selbst zu Schaden.

Hochgewölbtes enges gotisches Zimmer

 

MEPHISTOPHELES:
Hier lieg, Unseliger! verführt
Zu schwergelöstem Liebesbande!
Wen Helena paralysiert,
Der kommt so leicht nicht zu Verstande.
Blick‘ ich hinauf, hierher, hinüber,
Allunverändert ist es, unversehrt;
Die bunten Scheiben sind, so dünkt mich, trüber,
Die Spinneweben haben sich vermehrt;
Die Tinte starrt, vergilbt ist das Papier;
Doch alles ist am Platz geblieben;
Sogar die Feder liegt noch hier,
Mit welcher Faust dem Teufel sich verschrieben.
Ja! tiefer in dem Rohre stockt
Ein Tröpflein Blut, wie ich’s ihm abgelockt.
Zu einem solchen einzigen Stück
Wünscht‘ ich dem größten Sammler Glück.
Auch hängt der alte Pelz am alten Haken,
Erinnert mich an jene Schnaken,
Wie ich den Knaben einst belehrt,
Woran er noch vielleicht als Jüngling zehrt.
Es kommt mir wahrlich das Gelüsten,
Rauchwarme Hülle, dir vereint
Mich als Dozent noch einmal zu erbrüsten,
Wie man so völlig recht zu haben meint.
Gelehrte wissen’s zu erlangen,
Dem Teufel ist es längst vergangen.

CHOR DER INSEKTEN:
Willkommen! willkommen,
Du alter Patron!
Wir schweben und summen
Und kennen dich schon.
Nur einzeln im stillen
Du hast uns gepflanzt;
Zu Tausenden kommen wir,
Vater, getanzt.
Der Schalk in dem Busen
Verbirgt sich so sehr,
Vom Pelze die Läuschen
Enthüllen sich eh’r.

MEPHISTOPHELES:
Wie überraschend mich die junge Schöpfung freut!
Man säe nur, man erntet mit der Zeit.
Ich schüttle noch einmal den alten Flaus,
Noch eines flattert hier und dort hinaus.–
Hinauf! umher! in hunderttausend Ecken
Eilt euch, ihr Liebchen, zu verstecken.
Dort, wo die alten Schachteln stehn,
Hier im bebräunten Pergamen,
In staubigen Scherben alter Töpfe,
Dem Hohlaug‘ jener Totenköpfe.
In solchem Wust und Moderleben
Muß es für ewig Grillen geben.
Komm, decke mir die Schultern noch einmal!
Heut bin ich wieder Prinzipal.
Doch hilft es nichts, mich so zu nennen;
Wo sind die Leute, die mich anerkennen?

FAMULUS:
Welch ein Tönen! welch ein Schauer!
Treppe schwankt, es bebt die Mauer;
Durch der Fenster buntes Zittern
Seh‘ ich wetterleuchtend Wittern.
Springt das Estrich, und von oben
Rieselt Kalk und Schutt verschoben.
Und die Türe, fest verriegelt,
Ist durch Wunderkraft entsiegelt.–
Dort! Wie fürchterlich! Ein Riese
Steht in Faustens altem Vliese!
Seinen Blicken, seinem Winken
Möcht‘ ich in die Kniee sinken.
Soll ich fliehen? Soll ich stehn?
Ach, wie wird es mir ergehn!

MEPHISTOPHELES:
Heran, mein Freund!–Ihr heißet Nikodemus.

FAMULUS:
Hochwürdiger Herr! so ist mein Nam‘–Oremus.

MEPHISTOPHELES:
Das lassen wir! +

FAMULUS:
Wie froh, daß Ihr mich kennt!

MEPHISTOPHELES:
Ich weiß es wohl, bejahrt und noch Student,
Bemooster Herr! Auch ein gelehrter Mann
Studiert so fort, weil er nicht anders kann.
So baut man sich ein mäßig Kartenhaus,
Der größte Geist baut’s doch nicht völlig aus.
Doch Euer Meister, das ist ein Beschlagner:
Wer kennt ihn nicht, den edlen Doktor Wagner,
Den Ersten jetzt in der gelehrten Welt!
Er ist’s allein, der sie zusammenhält,
Der Weisheit täglicher Vermehrer.
Allwißbegierige Horcher, Hörer
Versammeln sich um ihn zuhauf.
Er leuchtet einzig vom Katheder;
Die Schlüssel übt er wie Sankt Peter,
Das Untre so das Obre schließt er auf.
Wie er vor allen glüht und funkelt,
Kein Ruf, kein Ruhm hält weiter stand;
Selbst Faustus‘ Name wird verdunkelt,
Er ist es, der allein erfand.

FAMULUS:
Verzeiht, hochwürdiger Herr! wenn ich Euch sage,
Wenn ich zu widersprechen wage:
Von allem dem ist nicht die Frage;
Bescheidenheit ist sein beschieden Teil.
Ins unbegreifliche Verschwinden
Des hohen Manns weiß er sich nicht zu finden;
Von dessen Wiederkunft erfleht er Trost und Heil.
Das Zimmer, wie zu Doktor Faustus‘ Tagen,
Noch unberührt seitdem er fern,
Erwartet seinen alten Herrn.
Kaum wag‘ ich’s, mich hereinzuwagen.
Was muß die Sternenstunde sein?–
Gemäuer scheint mir zu erbangen;
Türpfosten bebten, Riegel sprangen,
Sonst kamt Ihr selber nicht herein.

MEPHISTOPHELES:
Wo hat der Mann sich hingetan?
Führt mich zu ihm, bringt ihn heran!

FAMULUS:
Ach! sein Verbot ist gar zu scharf,
Ich weiß nicht, ob ich’s wagen darf.
Monatelang, des großen Werkes willen,
Lebt‘ er im allerstillsten Stillen.
Der zarteste gelehrter Männer,
Er sieht aus wie ein Kohlenbrenner,
Geschwärzt vom Ohre bis zur Nasen,
Die Augen rot vom Feuerblasen,
So lechzt er jedem Augenblick;
Geklirr der Zange gibt Musik.

MEPHISTOPHELES:
Sollt‘ er den Zutritt mir verneinen?
Ich bin der Mann, das Glück ihm zu beschleunen.
Kaum hab‘ ich Posto hier gefaßt,
Regt sich dort hinten, mir bekannt, ein Gast.
Doch diesmal ist er von den Neusten,
Er wird sich grenzenlos erdreusten.

BACCALAUREUS:
Tor und Türe find‘ ich offen!
Nun, da läßt sich endlich hoffen,
Daß nicht, wie bisher, im Moder
Der Lebendige wie ein Toter
Sich verkümmere, sich verderbe
Und am Leben selber sterbe.
Diese Mauern, diese Wände
Neigen, senken sich zum Ende,
Und wenn wir nicht bald entweichen,
Wird uns Fall und Sturz erreichen.
Bin verwegen, wie nicht einer,
Aber weiter bringt mich keiner.
Doch was soll ich heut erfahren!
War’s nicht hier, vor so viel Jahren,
Wo ich, ängstlich und beklommen,
War als guter Fuchs gekommen?
Wo ich diesen Bärtigen traute,
Mich an ihrem Schnack erbaute?
Aus den alten Bücherkrusten
Logen sie mir, was sie wußten,
Was sie wußten, selbst nicht glaubten,
Sich und mir das Leben raubten.
Wie?–Dort hinten in der Zelle
Sitzt noch einer dunkel-helle!
Nahend seh‘ ich’s mit Erstaunen,
Sitzt er noch im Pelz, dem braunen,
Wahrlich, wie ich ihn verließ,
Noch gehüllt im rauhen Vlies!
Damals schien er zwar gewandt,
Als ich ihn noch nicht verstand.
Heute wird es nichts verfangen,
Frisch an ihn herangegangen!
Wenn, alter Herr, nicht Lethes trübe Fluten
Das schiefgesenkte, kahle Haupt durchschwommen,
Seht anerkennend hier den Schüler kommen,
Entwachsen akademischen Ruten.
Ich find‘ Euch noch, wie ich Euch sah;
Ein anderer bin ich wieder da.

MEPHISTOPHELES:
Mich freut, daß ich Euch hergeläutet.
Ich schätzt‘ Euch damals nicht gering;
Die Raupe schon, die Chrysalide deutet
Den künftigen bunten Schmetterling.
Am Lockenkopf und Spitzenkragen
Empfandet Ihr ein kindliches Behagen.–
Ihr trugt wohl niemals einen Zopf?–
Heut schau‘ ich Euch im Schwedenkopf.
Ganz resolut und wacker seht Ihr aus;
Kommt nur nicht absolut nach Haus.

BACCALAUREUS:
Mein alter Herr! Wir sind am alten Orte;
Bedenkt jedoch erneuter Zeiten Lauf
Und sparet doppelsinnige Worte;
Wir passen nun ganz anders auf.
Ihr hänseltet den guten treuen Jungen;
Das ist Euch ohne Kunst gelungen,
Was heutzutage niemand wagt.

MEPHISTOPHELES:
Wenn man der Jugend reine Wahrheit sagt,
Die gelben Schnäbeln keineswegs behagt,
Sie aber hinterdrein nach Jahren
Das alles derb an eigner Haut erfahren,
Dann dünkeln sie, es käm‘ aus eignem Schopf;
Da heißt es denn: der Meister war ein Tropf.

BACCALAUREUS:
Ein Schelm vielleicht!–denn welcher Lehrer spricht
Die Wahrheit uns direkt ins Angesicht?
Ein jeder weiß zu mehren wie zu mindern,
Bald ernst, bald heiter klug zu frommen Kindern.

MEPHISTOPHELES:
Zum Lernen gibt es freilich eine Zeit;
Zum Lehren seid Ihr, merk‘ ich, selbst bereit.
Seit manchen Monden, einigen Sonnen
Erfahrungsfülle habt Ihr wohl gewonnen.

BACCALAUREUS:
Erfahrungswesen! Schaum und Dust!
Und mit dem Geist nicht ebenbürtig.
Gesteht! was man von je gewußt,
Es ist durchaus nicht wissenswürdig.

MEPHISTOPHELES:
Mich deucht es längst. Ich war ein Tor,
Nun komm‘ ich mir recht schal und albern vor.

BACC:
Das freut mich sehr! Da hör‘ ich doch Verstand;
Der erste Greis, den ich vernünftig fand!

MEPHISTOPHELES:
Ich suchte nach verborgen-goldnem Schatze,
Und schauerliche Kohlen trug ich fort.

BACCALAUREUS:
Gesteht nur, Euer Schädel, Eure Glatze
Ist nicht mehr wert als jene hohlen dort?

MEPHISTOPHELES:
Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist?

BACCALAUREUS:
Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist.

MEPHISTOPHELES:
Hier oben wird mir Licht und Luft benommen;
Ich finde wohl bei euch ein Unterkommen?

BACCALAUREUS:
Anmaßlich find‘ ich, daß zur schlechtsten Frist
Man etwas sein will, wo man nichts mehr ist.
Des Menschen Leben lebt im Blut, und wo
Bewegt das Blut sich wie im Jüngling so?
Das ist lebendig Blut in frischer Kraft,
Das neues Leben sich aus Leben schafft.
Da regt sich alles, da wird was getan,
Das Schwache fällt, das Tüchtige tritt heran.
Indessen wir die halbe Welt gewonnen,
Was habt Ihr denn getan? genickt, gesonnen,
Geträumt, erwogen, Plan und immer Plan.
Gewiß! das Alter ist ein kaltes Fieber
Im Frost von grillenhafter Not.
Hat einer dreißig Jahr vorüber,
So ist er schon so gut wie tot.
Am besten wär’s, euch zeitig totzuschlagen.

MEPHISTOPHELES:
Der Teufel hat hier weiter nichts zu sagen.

BACC:
Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein.

MEPHISTOPHELES:
Der Teufel stellt dir nächstens doch ein Bein.

BACCALAUREUS:
Dies ist der Jugend edelster Beruf!
Die Welt, sie war nicht, eh‘ ich sie erschuf;
Die Sonne führt‘ ich aus dem Meer herauf;
Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf;
Da schmückte sich der Tag auf meinen Wegen,
Die Erde grünte, blühte mir entgegen.
Auf meinen Wink, in jener ersten Nacht,
Entfaltete sich aller Sterne Pracht.
Wer, außer mir, entband euch aller Schranken
Philisterhaft einklemmender Gedanken?
Ich aber frei, wie mir’s im Geiste spricht,
Verfolge froh mein innerliches Licht,
Und wandle rasch, im eigensten Entzücken,
Das Helle vor mir, Finsternis im Rücken.

MEPHISTOPHELES:
Original, fahr hin in deiner Pracht!–
Wie würde dich die Einsicht kränken:
Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken,
Das nicht die Vorwelt schon gedacht?–
Doch sind wir auch mit diesem nicht gefährdet,
In wenig Jahren wird es anders sein:
Wenn sich der Most auch ganz absurd gebärdet,
Es gibt zuletzt doch noch e‘ Wein.
[Ihr bleibt bei meinem Worte kalt,
[Euch guten Kindern laß ich’s gehen;
Bedenkt: der Teufel, der ist alt,
So werdet alt, ihn zu verstehen!

Laboratorium

WAGNER:
Die Glocke tönt, die fürchterliche,
Durchschauert die berußten Mauern.
Nicht länger kann das Ungewisse
Der ernstesten Erwartung dauern.
Schon hellen sich die Finsternisse;
Schon in der innersten Phiole
Erglüht es wie lebendige Kohle,
Ja wie der herrlichste Karfunkel,
Verstrahlend Blitze durch das Dunkel.
Ein helles weißes Licht erscheint!
O daß ich’s diesmal nicht verliere!–
Ach Gott! was rasselt an der Türe?

MEPHISTOPHELES:
Willkommen! es ist gut gemeint.

WAGNER:
Willkommen zu dem Stern der Stunde!
Doch haltet Wort und Atem fest im Munde,
Ein herrlich Werk ist gleich zustand gebracht.

MEPHISTOPHELES:
Was gibt es denn? +

WAGNER:
Es wird ein Mensch gemacht.

MEPHISTOPHELES:
Ein Mensch? Und welch verliebtes Paar
Habt ihr ins Rauchloch eingeschlossen?

WAGNER:
Behüte Gott! wie sonst das Zeugen Mode war,
Erklären wir für eitel Possen.
Der zarte Punkt, aus dem das Leben sprang,
Die holde Kraft, die aus dem Innern drang
Und nahm und gab, bestimmt sich selbst zu zeichnen,
Erst Nächstes, dann sich Fremdes anzueignen,
Die ist von ihrer Würde nun entsetzt;
Wenn sich das Tier noch weiter dran ergetzt,
So muß der Mensch mit seinen großen Gaben
Doch künftig höhern, höhern Ursprung haben.
Es leuchtet! seht!–Nun läßt sich wirklich hoffen,
Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen
Durch Mischung–denn auf Mischung kommt es an–
Den Menschenstoff gemächlich komponieren,
In einen Kolben verlutieren
Und ihn gehörig kohobieren,
So ist das Werk im stillen abgetan.
Es wird! die Masse regt sich klarer!
Die überzeugung wahrer, wahrer:
Was man an der Natur Geheimnisvolles pries,
Das wagen wir verständig zu probieren,
Und was sie sonst organisieren ließ,
Das lassen wir kristallisieren.

MEPHISTOPHELES:
Wer lange lebt, hat viel erfahren,
[Nichts Neues kann für ihn auf dieser Welt geschehn.
Ich habe schon in meinen Wanderjahren
Kristallisiertes Menschenvolk gesehn.

WAGNER:
Es steigt, es blitzt, es häuft sich an,
Im Augenblick ist es getan.
Ein großer Vorsatz scheint im Anfang toll;
Doch wollen wir des Zufalls künftig lachen,
Und so ein Hirn, das trefflich denken soll,
Wird künftig auch ein Denker machen.
Das Glas erklingt von lieblicher Gewalt,
Es trübt, es klärt sich; also muß es werden!
Ich seh‘ in zierlicher Gestalt
Ein artig Männlein sich gebärden.
Was wollen wir, was will die Welt nun mehr?
Denn das Geheimnis liegt am Tage.
Gebt diesem Laute nur Gehör,
Er wird zur Stimme, wird zur Sprache.

HOMUNCULUS:
Nun Väterchen! wie steht’s? es war kein Scherz.
Komm, drücke mich recht zärtlich an dein Herz!
Doch nicht zu fest, damit das Glas nicht springe.
Das ist die Eigenschaft der Dinge:
Natürlichem genügt das Weltall kaum,
Was künstlich ist, verlangt geschloßnen Raum.
Du aber, Schalk, Herr Vetter, bist du hier
Im rechten Augenblick? ich danke dir.
Ein gut Geschick führt dich zu uns herein;
Dieweil ich bin, muß ich auch tätig sein.
Ich möchte mich sogleich zur Arbeit schürzen.
Du bist gewandt, die Wege mir zu kürzen.

WAGNER:
Nur noch ein Wort! Bisher mußt‘ ich mich schämen,
Denn alt und jung bestürmt mich mit Problemen.
Zum Beispiel nur: noch niemand konnt‘ es fassen,
Wie Seel‘ und Leib so schön zusammenpassen,
So fest sich halten, als um nie zu scheiden,
Und doch den Tag sich immerfort verleiden.
Sodann–+

MEPHISTOPHELES:
Halt ein! ich wollte lieber fragen:
Warum sich Mann und Frau so schlecht vertragen?
Du kommst, mein Freund, hierüber nie ins reine.
Hier gibt’s zu tun, das eben will der Kleine.

HOMUNCULUS:
Was gibt’s zu tun? +

MEPHISTOPHELES:
Hier zeige deine Gabe!

WAGNER:
Fürwahr, du bist ein allerliebster Knabe!

HOMUNCULUS:
Bedeutend!–+
Schön umgeben!–Klar Gewässer
Im dichten Haine! Fraun, die sich entkleiden,
Die allerliebsten!–Das wird immer besser.
Doch eine läßt sich glänzend unterscheiden,
Aus höchstem Helden-, wohl aus Götterstamme.
Sie setzt den Fuß in das durchsichtige Helle;
Des edlen Körpers holde Lebensflamme
Kühlt sich im schmiegsamen Kristall der Welle.–
Doch welch Getöse rasch bewegter Flügel,
Welch Sausen, Plätschern wühlt im glatten Spiegel?
Die Mädchen fliehn verschüchtert; doch allein
Die Königin, sie blickt gelassen drein
Und sieht mit stolzem weiblichem Vergnügen
Der Schwäne Fürsten ihrem Knie sich schmiegen,
Zudringlich-zahm. Er scheint sich zu gewöhnen.–
Auf einmal aber steigt ein Dunst empor
Und deckt mit dichtgewebtem Flor
Die lieblichste von allen Szenen.

MEPHISTOPHELES:
Was du nicht alles zu erzählen hast!
So klein du bist, so groß bist du Phantast.
Ich sehe nichts–+

HOMUNCULUS:
Das glaub‘ ich. Du aus Norden,
Im Nebelalter jung geworden,
Im Wust von Rittertum und Pfäfferei,
Wo wäre da dein Auge frei!
Im Düstern bist du nur zu Hause.
Verbräunt Gestein, bemodert, widrig,
Spitzbögig, schnörkelhaftest, niedrig!–
Erwacht uns dieser, gibt es neue Not,
Er bleibt gleich auf der Stelle tot.
Waldquellen, Schwäne, nackte Schönen,
Das war sein ahnungsvoller Traum;
Wie wollt‘ er sich hierher gewöhnen!
Ich, der Bequemste, duld‘ es kaum.
Nun fort mit ihm! +

MEPHISTOPHELES:
Der Ausweg soll mich freuen.

HOMUNCULUS:
Befiehl den Krieger in die Schlacht,
Das Mädchen führe du zum Reihen,
So ist gleich alles abgemacht.
Jetzt eben, wie ich schnell bedacht,
Ist klassische Walpurgisnacht;
Das Beste, was begegnen könnte.
Bringt ihn zu seinem Elemente!

MEPHISTOPHELES:
Dergleichen hab‘ ich nie vernommen.

HOMUNCULUS:
Wie wollt‘ es auch zu euren Ohren kommen?
Romantische Gespenster kennt ihr nur allein;
Ein echt Gespenst, auch klassisch hat’s zu sein.

MEPHISTOPHELES:
Wohin denn aber soll die Fahrt sich regen?
Mich widern schon antikische Kollegen.

HOMUNCULUS:
Nordwestlich, Satan, ist dein Lustrevier,
Südöstlich diesmal aber segeln wir–
An großer Fläche fließt Peneios frei,
Umbuscht, umbaumt, in still–und feuchten Buchten;
Die Ebne dehnt sich zu der Berge Schluchten,
Und oben liegt Pharsalus, alt und neu.

MEPHISTOPHELES:
O weh! hinweg! und laßt mir jene Streite
Von Tyrannei und Sklaverei beiseite.
Mich langeweilt’s; denn kaum ist’s abgetan,
So fangen sie von vorne wieder an;
Und keiner merkt: er ist doch nur geneckt
Vom Asmodeus, der dahinter steckt.
Sie streiten sich, so heißt’s, um Freiheitsrechte;
Genau besehn, sind’s Knechte gegen Knechte.

HOMUNCULUS:
Den Menschen laß ihr widerspenstig Wesen,
Ein jeder muß sich wehren, wie er kann,
Vom Knaben auf, so wird’s zuletzt ein Mann.
Hier fragt sich’s nur, wie dieser kann genesen.
Hast du ein Mittel, so erprob‘ es hier,
Vermagst du’s nicht, so überlaß es mir.

MEPHISTOPHELES:
Manch Brockenstückchen wäre durchzuproben,
Doch Heidenriegel find‘ ich vorgeschoben.
Das Griechenvolk, es taugte nie recht viel!
Doch blendet’s euch mit freiem Sinnenspiel,
Verlockt des Menschen Brust zu heitern Sünden;
Die unsern wird man immer düster finden.
Und nun, was soll’s? +

HOMUNCULUS:
Du bist ja sonst nicht blöde;
Und wenn ich von thessalischen Hexen rede,
So denk‘ ich, hab‘ ich was gesagt.

MEPHISTOPHELES:
Thessalische Hexen! Wohl! das sind Personen,
Nach denen hab‘ ich lang‘ gefragt.
Mit ihnen Nacht für Nacht zu wohnen,
Ich glaube nicht, daß es behagt;
Doch zum Besuch, Versuch–+

HOMUNCULUS:
Den Mantel her,
Und um den Ritter umgeschlagen!
Der Lappen wird euch, wie bisher,
Den einen mit dem andern tragen;
Ich leuchte vor. +

WAGNER:
Und ich? +

HOMUNCULUS:
Eh nun,
Du bleibst zu Hause, Wichtigstes zu tun.
Entfalte du die alten Pergamente,
Nach Vorschrift sammle Lebenselemente
Und füge sie mit Vorsicht eins ans andre.
Das Was bedenke, mehr bedenke Wie.
Indessen ich ein Stückchen Welt durchwandre,
Entdeck‘ ich wohl das Tüpfchen auf das i.
Dann ist der große Zweck erreicht;
Solch einen Lohn verdient ein solches Streben:
Gold, Ehre, Ruhm, gesundes langes Leben,
Und Wissenschaft und Tugend–auch vielleicht.
Leb wohl! +

WAGNER:
Leb wohl! Das drückt das Herz mir nieder.
Ich fürchte schon, ich seh‘ dich niemals wieder.

MEPHISTOPHELES:
Nun zum Peneios frisch hinab!
Herr Vetter ist nicht zu verachten.
Am Ende hängen wir doch ab
Von Kreaturen, die wir machten.

Klassische Walpurgisnacht. Pharsalische Felder

ERICHTHO:
Zum Schauderfeste dieser Nacht, wie öfter schon,
Tret‘ ich einher, Erichtho, ich, die düstere;
Nicht so abscheulich, wie die leidigen Dichter mich
Im übermaß verlästern… Endigen sie doch nie
In Lob und Tadel… überbleicht erscheint mir schon
Von grauer Zelten Woge weit das Tal dahin,
Als Nachgesicht der sorg- und grauenvollsten Nacht.
Wie oft schon wiederholt‘ sich’s! wird sich immerfort
Ins Ewige wiederholen… Keiner gönnt das Reich
Dem andern; dem gönnt’s keiner, der’s mit Kraft erwarb
Und kräftig herrscht. Denn jeder, der sein innres Selbst
Nicht zu regieren weiß, regierte gar zu gern
Des Nachbars Willen, eignem stolzem Sinn gemäß…
Hier aber ward ein großes Beispiel durchgekämpft:
Wie sich Gewalt Gewaltigerem entgegenstellt,
Der Freiheit holder, tausendblumiger Kranz zerreißt,
Der starre Lorbeer sich ums Haupt des Herrschers biegt.
Hier träumte Magnus früher Größe Blütentag,
Dem schwanken Zünglein lauschend wachte Cäsar dort!
Das wird sich messen. Weiß die Welt doch, wem’s gelang.
Wachfeuer glühen, rote Flammen spendende,
Der Boden haucht vergoßnen Blutes Widerschein,
Und angelockt von seltnem Wunderglanz der Nacht,
Versammelt sich hellenischer Sage Legion.
Um alle Feuer schwankt unsicher oder sitzt
Behaglich alter Tage fabelhaft Gebild…
Der Mond, zwar unvollkommen, aber leuchtend hell,
Erhebt sich, milden Glanz verbreitend überall;
Der Zelten Trug verschwindet, Feuer brennen blau.
Doch über mir! welch unerwartet Meteor?
Es leuchtet und beleuchtet körperlichen Ball.
Ich wittre Leben. Da geziemen will mir’s nicht,
Lebendigem zu nahen, dem ich schädlich bin;
Das bringt mir bösen Ruf und frommt mir nicht.
Schon sinkt es nieder. Weich‘ ich aus mit Wohlbedacht!

HOMUNCULUS:
Schwebe noch einmal die Runde
über Flamm- und Schaudergrauen;
Ist es doch in Tal und Grunde
Gar gespenstisch anzuschauen.

MEPHISTOPHELES:
Seh‘ ich, wie durchs alte Fenster
In des Nordens Wust und Graus,
Ganz abscheuliche Gespenster,
Bin ich hier wie dort zu Haus.

HOMUNCULUS:
Sieh! da schreitet eine Lange
Weiten Schrittes vor uns hin.

MEPHISTOPHELES:
Ist es doch, als wär‘ ihr bange;
Sah uns durch die Lüfte ziehn.

HOMUNCULUS:
Laß sie schreiten! setz ihn nieder,
Deinen Ritter, und sogleich
Kehret ihm das Leben wieder,
Denn er sucht’s im Fabelreich.

FAUST:
Wo ist sie?–+

HOMUNCULUS:
Wüßten’s nicht zu sagen,
Doch hier wahrscheinlich zu erfragen.
In Eile magst du, eh‘ es tagt,
Von Flamm‘ zu Flamme spürend gehen:
Wer zu den Müttern sich gewagt,
Hat weiter nichts zu überstehen.

MEPHISTOPHELES:
Auch ich bin hier an meinem Teil;
Doch wüßt‘ ich Besseres nicht zu unserm Heil,
Als: jeder möge durch die Feuer
Versuchen sich sein eigen Abenteuer.
Dann, um uns wieder zu vereinen,
Laß deine Leuchte, Kleiner, tönend scheinen.

HOMUNCULUS:
So soll es blitzen, soll es klingen.
Nun frisch zu neuen Wunderdingen!

FAUST:
Wo ist sie?–Frage jetzt nicht weiter nach…
Wär’s nicht die Scholle, die sie trug,
Die Welle nicht, die ihr entgegenschlug,
So ist’s die Luft, die ihre Sprache sprach.
Hier! durch ein Wunder, hier in Griechenland!
Ich fühlte gleich den Boden, wo ich stand;
Wie mich, den Schläfer, frisch ein Geist durchglühte,
So steh‘ ich, ein Antäus an Gemüte.
Und find‘ ich hier das Seltsamste beisammen,
Durchforsch‘ ich ernst dies Labyrinth der Flammen.

Am oberen Peneios

MEPHISTOPHELES:
Und wie ich diese Feuerchen durchschweife,
So find‘ ich mich doch ganz und gar entfremdet,
Fast alles nackt, nur hie und da behemdet:
Die Sphinxe schamlos, unverschämt die Greife,
Und was nicht alles, lockig und beflügelt,
Von vorn und hinten sich im Auge spiegelt…
Zwar sind auch wir von Herzen unanständig,
Doch das Antike find‘ ich zu lebendig;
Das müßte man mit neustem Sinn bemeistern
Und mannigfaltig modisch überkleistern…
Ein widrig Volk! Doch darf mich’s nicht verdrießen,
Als neuer Gast anständig sie zu grüßen…
Glüchzu den schönen Fraun, den klugen Greisen!

GREIF:
Nicht Greisen! Greifen!–Niemand hört es gern,
Daß man ihn Greis nennt. Jedem Worte klingt
Der Ursprung nach, wo es sich her bedingt:
Grau, grämlich, griesgram, greulich, Gräber, grimmig,
Etymologisch gleicherweise stimmig, +
Verstimmen uns.

MEPHISTOPHELES:
Und doch, nicht abzuschweifen,
Gefäallt das Grei im Ehrentitel Greifen.

GREIF:
Natürlich! Die Verwandtschaft ist erprobt,
Zwar oft gescholten, mehr jedoch gelobt;
Man greife nun nach Mädchen, Kronen, Gold,
Dem Greifenden ist meist Fortuna hold.

AMEISEN:
Ihr sprecht von Gold, wir hatten viel gesammelt,
In Fels- und Höhlen heimlich eingerammelt;
Das Arimaspen-Volk hat’s ausgespürt,
Sie lachen dort, wie weit sie’s weggeführt.

GREIFE:
Wir wollen sie schon zum Geständnis bringen.

ARIMASPEN:
Nur nicht zur freien Jubelnacht.
Bis morgen ist’s alles durchgebracht,
Es wird uns diesmal wohl gelingen.

MEPHISTOPHELES:
Wie leicht und gern ich mich hierher gewöhne,
Denn ich verstehe Mann für Mann.

SPHINX:
Wir hauchen unsre Geistertöne,
Und ihr verkörpert sie alsdann.
Jetzt nenne dich, bis wir dich weiter kennen.

MEPHISTOPHELES:
Mit vielen Namen glaubt man mich zu nennen–
Sind Briten hier? Sie reisen sonst so viel,
Schlachtfeldern nachzuspüren, Wasserfällen,
Gestürzten Mauern, klassisch dumpfen Stellen;
Das wäre hier für sie ein würdig Ziel.
Sie zeugten auch: Im alten Bühnenspiel
Sah man mich dort als old Iniquity.

SPINX:
Wie kam man drauf? +

MEPHISTOPHELES:
Ich weiß es selbst nicht wie.

SPINX:
Mag sein! Hast du von Sternen einige Kunde?
Was sagst du zu der gegenwärt’gen Stunde?

MEPHISTOPHELES:
Stern schießt nach Stern, beschnittner Mond scheint helle,
Und mir ist wohl an dieser trauten Stelle,
Ich wärme mich an deinem Löwenfelle.
Hinauf sich zu versteigen, wär‘ zum Schaden;
Gib Rätsel auf, gib allenfalls Scharaden.

SPINX:
Sprich nur dich selbst aus, wird schon Rätsel sein.
Versuch einmal, dich innigst aufzulösen:
„Dem frommen Manne nötig wie dem bösen,
Dem ein Plastron, aszetisch zu rapieren,
Kumpan dem andern, Tolles zu vollführen,
Und beides nur, um Zeus zu amüsieren.“

ERSTER GREIF:
Den mag ich nicht! +

ZWEITER GREIF:
Was will uns der?

BEIDE:
Der Garstige gehöret nicht hierher!

MEPHISTOPHELES:
Du glaubst vielleicht, des Gastes Nägel krauen
Nicht auch so gut wie deine scharfen Klauen?
Versuch’s einmal! +

SPINX:
Du magst nur immer bleiben,
Wird dich’s doch selbst aus unsrer Mitte treiben;
In deinem Lande tust dir was zugute,
Doch, irr‘ ich nicht, hier ist dir schlecht zumute.

MEPHISTOPHELES:
Du bist recht appetitlich oben anzuschauen,
Doch unten hin die Bestie macht mir Grauen.

SPINX:
Du Falscher kommst zu deiner bittern Buße,
Denn unsre Tatzen sind gesund;
Dir mit verschrumpftem Pferdefuße
Behagt es nicht in unserem Bund.

MEPHISTOPHELES:
Wer sind die Vögel, in den ästen
Des Pappelstromes hingewiegt?

SPINX:
Gewahrt euch nur! Die Allerbesten
Hat solch ein Singsang schon besiegt.

SIRENEN:
Ach was wollt ihr euch verwöhnen
In dem Häßlich-Wunderbaren!
Horcht, wir kommen hier zu Scharen
Und in wohlgestimmten Tönen;
So geziemet es Sirenen.

SPINXE:
Nötigt sie, herabzusteigen!
Sie verbergen in den Zweigen
Ihre garstigen Habichtskrallen,
Euch verderblich anzufallen,
Wenn ihr euer Ohr verleiht.

SIRENEN:
Weg das Hassen! weg das Neiden!
Sammeln wir die klarsten Freuden,
Unterm Himmel ausgestreut!
Auf dem Wasser, auf der Erde
Sei’s die heiterste Gebärde,
Die man dem Willkommnen beut.

MEPHISTOPHELES:
Das sind die saubern Neuigkeiten,
Wo aus der Kehle, von den Saiten
Ein Ton sich um den andern flicht.
Das Trallern ist bei mir verloren:
Es krabbelt wohl mir um die Ohren,
Allein zum Herzen dringt es nicht.

SPINXE:
Sprich nicht vom Herzen! das ist eitel;
Ein lederner verschrumpfter Beutel,
Das paßt dir eher zu Gesicht.

FAUST:
Wie wunderbar! das Anschaun tut mir Gnüge,
Im Widerwärtigen große, tüchtige Züge.
Ich ahne schon ein günstiges Geschick;
Wohin versetzt mich dieser ernste Blick?
Vor solchen hat einst ödipus gestanden;
Vor solchen krümmte sich Ulyß in hänfnen Banden;
Von solchen ward der höchste Schatz gespart,
Von diesen treu und ohne Fehl bewahrt.
Vom frischen Geiste fühl‘ ich mich durchdrungen;
Gestalten groß, groß die Erinnerungen.

MEPHISTOPHELES:
Sonst hättest du dergleichen weggeflucht,
Doch jetzo scheint es dir zu frommen;
Denn wo man die Geliebte sucht,
Sind Ungeheuer selbst willkommen.

FAUST:
Ihr Frauenbilder müßt mir Rede stehn:
Hat eins der Euren Helena gesehn?

SPHINXE:
Wir reichen nicht hinauf zu ihren Tagen,
Die letztesten hat Herkules erschlagen.
Von Chiron könntest du’s erfragen;
Der sprengt herum in dieser Geisternacht;
Wenn er dir steht, so hast du’s weit gebracht.

SIRENEN:
Sollte dir’s doch auch nicht fehlen!…
Wie Ulyß bei uns verweilte,
Schmähend nicht vorübereilte,
Wußt‘ er vieles zu erzählen;
Würden alles dir vertrauen,
Wolltest du zu unsern Gauen
Dich ans grüne Meer verfügen.

SPHINX:
Laß dich, Elder, nicht betrügen.
Statt daß Ulyß sich binden ließ,
Laß unsern guten Rat dich binden;
Kannst du den hohen Chiron finden,
Erfährst du, was ich dir verhieß.

MEPHISTOPHELES:
Was krächzt vorbei mit Flügelschlag?
So schnell, daß man’s nicht sehen mag,
Und immer eins dem andern nach,
Den Jäger würden sie ermüden.

SPHINX:
Dem Sturm des Winterwinds vergleichbar,
Alcides‘ Pfeilen kaum erreichbar;
Es sind die raschen Stymphaliden,
Und wohlgemeint ihr Krächzegruß,
Mit Geierschnabel und Gänsefuß.
Sie möchten gern in unsern Kreisen
Als Stammverwandte sich erweisen.

MEPHISTOPHELES:
Noch andres Zeug zischt zwischen drein.

SPHINX:
Vor diesen sei Euch ja nicht bange!
Es sind die Köpfe der lernäischen Schlange,
Vom Rumpf getrennt, und glauben was zu sein.
Doch sagt, was soll nur aus Euch werden?
Was für unruhige Gebärden?
Wo wollt Ihr hin? Begebt Euch fort!…
Ich sehe, jener Chorus dort
Macht Euch zum Wendehals. Bezwingt Euch nicht,
Geht hin! begrüßt manch reizendes Gesicht!
Die Lamien sind’s, lustfeine Dirnen,
Mit Lächelmund und frechen Stirnen,
Wie sie dem Satyrvolk behagen;
Ein Bocksfuß darf dort alles wagen.

MEPHISTOPHELES:
Ihr bleibt doch hier? daß ich euch wiederfinde.

SPHINXE:
Ja! Mische dich zum luftigen Gesinde.
Wir, von ägypten her, sind längst gewohnt,
Daß unsereins in tausend Jahre thront.
Und respektiert nur unsre Lage,
So regeln wir die Mond- und Sonnentage.
Sitzen vor den Pyramiden,
Zu der Völker Hochgericht;
überschwemmung, Krieg und Frieden–
Und verziehen kein Gesicht.

Am untern Peneios

PENEIOS:
Rege dich, du Schilfgeflüster!
Hauche leise, Rohregeschwister,
Säuselt, leichte Weidensträuche,
Lispelt, Pappelzitterzweige,
Unterbrochnen Träumen zu!…
Weckt mich doch ein grauslich Wittern,
Heimlich allbewegend Zittern
Aus dem Wallestrom und Ruh‘.

FAUST:
Hör‘ ich recht, so muß ich glauben:
Hinter den verschränkten Lauben
Dieser Zweige, dieser Stauden
Tönt ein menschenähnlichs Lauten.
Scheint die Welle doch ein Schwätzen,
Lüftein wie–ein Scherzergetzen.

NYMPHEN:
Am besten geschäh‘ dir,
Du legtest dich nieder,
Erholtest im Kühlen
Ermüdete Glieder,
Genössest der immer
Dich meidenden Ruh;
Wir säuseln, wir rieseln,
Wir flüstern dir zu.

FAUST:
Ich wache ja! O laßt sie walten,
Die unvergleichlichen Gestalten,
Wie sie dorthin mein Auge schickt.
So wunderbar bin ich durchdrungen!
Sind’d Träume? Sind’s Erinnerungen?
Schon einmal warst du so beglückt.
Gewässer schleichen durch die Frische
Der dichten, sanft bewegten Büsche,
Nicht rauschen sie, sie rieseln kaum;
Von allen Seiten hundert Quellen
Vereinen sich im reinlich hellen,
Zum Bade flach vertieften Raum.
Gesunde junge Frauenglieder,
Vom feuchten Spiegel doppelt wieder
Ergetztem Auge zugebracht!
Gesellig dann und fröhlich badend,
Erdreistet schwimmend, furchtsam watend;
Geschrei zuletzt und Wasserschlacht.
Begnügen sollt‘ ich mich an diesen,
Mein Auge sollte hier genießen,
Doch immer weiter strebt mein Sinn.
Der Blick dringt scharf nach jener Hülle,
Das reiche Laub der grünen Fülle
Verbirgt die hohe Königin.
Wundersam! auch Schwäne kommen
Aus den Buchten hergeschwommen,
Majestätisch rein bewegt.
Ruhig schwebend, zart gesellig,
Aber stolz und selbstgefällig,
Wie sich Haupt und Schnabel regt…
Einer aber scheint vor allen
Brüstend kühn sich zu gefallen,
Segelnd rasch durch alle fort;
Sein Gefieder bläht sich schwellend,
Welle selbst, auf Wogen wellend,
Dringt er zu dem heiligen Ort….
Die andern schwimmen hin und wider
Mit ruhig glänzendem Gefieder,
Bald auch in regem prächtigen Streit,
Die scheuen Mädchen abzulenken,
Daß sie an ihren Dienst nicht denken,
Nur an die eigne Sicherheit.

NYMPHEN:
Leget, Schwestern, euer Ohr
An des Ufers grüne Stufe;
Hör‘ ich recht, so kommt mir’s vor
Als der Schall von Pferdes Hufe.
Wüßt‘ ich nur, wer dieser Nacht
Schnelle Botschaft zugebracht.

FAUST:
Ist mir doch, als dröhnt‘ die Erde,
Schallend unter eiligem Pferde.
Dorthin mein Blick!
Ein günstiges Geschick,
Soll es mich schon erreichen?
O Wunder ohnegleichen!
Ein Reuter kommt herangetrabt,
Er scheint von Geist und Mut begabt,
Von blendend-weißem Pferd getragen…
Ich irre nicht, ich kenn‘ ihn schon,
Der Philyra berühmter Sohn!–
Halt, Chiron! halt! Ich habe dir zu sagen…

CHIRON:
Was gibt’s? Was ist’s? +

FAUST:
Bezähme deinen Schritt!

CHIRON:
Ich raste nicht. +

FAUST:
So bitte! nimm mich mit!

CHIRON:
Sitz auf! so kann ich nach Belieben fragen:
Wohin des Wegs? Du stehst am Ufer hier,
Ich bin bereit, dich durch den Fluß zu tragen.

FAUST:
Wohin du willst. Für ewig dank‘ ich’s dir…
Der große Mann, der edle Pädagog,
Der, sich zum Ruhm, ein Heldenvolk erzog,
Den schönen Kreis der edlen Argonauten
Und alle, die des Dichters Welt erbauten.

CHIRON:
Das lassen wir an seinem Ort!
Selbst Pallas kommt als Mentor nicht zu Ehren;
Am Ende treiben sie’s nach ihrer Weise fort,
Als wenn sie nicht erzogen wären.

FAUST:
Den Arzt, der jede Pflanze nennt,
Die Wurzeln bis ins tiefste kennt,
Dem Kranken Heil, dem Wunden Linderung schafft,
Umarm‘ ich hier in Geist- und Körperkraft!

CHIRON:
Ward neben mir ein Held verletzt,
Da wußt‘ ich Hülf‘ und Rat zu schaffen;
Doch ließ ich meine Kunst zuletzt
Den Wurzelweibern und den Pfaffen.

FAUST:
Du bist der wahre große Mann,
Der Lobeswort nicht hören kann.
Er sucht bescheiden auszuweichen
Und tut, als gäb‘ es seinesgleichen.

CHIRON:
Du scheinest mir geschickt zu heucheln,
Dem Fürsten wie dem Volk zu schmeicheln.

FAUST:
So wirst du mir denn doch gestehn:
Du hast die Größten deiner Zeit gesehn,
Dem Edelsten in Taten nachgestrebt,
Halbgöttlich ernst die Tage durchgelebt.
Doch unter den heroischen Gestalten
Wen hast du für den Tüchtigsten gehalten?

CHIRON:
Im hehren Argonautenkreise
War jeder brav nach seiner eignen Weise,
Und nach der Kraft, die ihn beseelte,
Konnt‘ er genügen, wo’s den andern fehlte.
Die Dioskuren haben stets gesiegt,
Wo Jugendfüll‘ und Schönheit überwiegt.
Entschluß und schnelle Tat zu andrer Heil,
Den Boreaden ward’s zum schönsten Teil.
Nachsinnend, kräftig, klug, im Rat bequem,
So herrschte Jason, Frauen angenehm.
Dann Orpheus: zart und immer still bedächtig,
Schlug er die Leier allen übermächtig.
Scharfsichtig Lynceus, der bei Tag und Nacht
Das heil’ge Schiff durch Klipp‘ und Strand gebracht…
Gesellig nur läßt sich Gefahr erproben:
Wenn einer wirkt, die andern alle loben…

FAUST:
Von Herkules willst nichts erwähnen?

CHIRON:
O weh! errege nicht mein Sehnen…
Ich hatte Phöbus nie gesehn,
Noch Ares, Hermes, wie sie heißen;
Da sah ich mir vor Augen stehn,
Was alle Menschen göttlich preisen.
So war er ein geborner König,
Als Jüngling herrlichst anzuschaun;
Dem ältern Bruder untertänig
Und auch den allerliebsten Fraun.
Den zweiten zeugt nicht Gäa wieder,
Nicht führt ihn Hebe himmelein;
Vergebens mühen sich die Lieder,
Vergebens quälen sie den Stein.

FAUST:
So sehr auch Bildner auf ihn pochen,
So herrlich kam er nie zur Schau.
Vom schönsten Mann hast du gesprochen,
Nun sprich auch von der schönsten Frau!

CHIRON:
Was!… Frauenschönheit will nichts heißen,
Ist gar zu oft ein starres Bild;
Nur solch ein Wesen kann ich preisen,
Das froh und lebenslustig quillt.
Die Schöne bleibt sich selber selig;
Die Anmut macht unwiderstehlich,
Wie Helena, da ich sie trug.

FAUST:
Du trugst sie?

CHIRON:
Ja, auf diesem Rücken.

FAUST:
Bin ich nicht schon verwirrt genug?
Und solch ein Sitz muß mich beglücken!

CHIRON:
Sie faßte so mich in das Haar,
Wie du es tust.

FAUST:
O ganz und gar
Verlier‘ ich mich! Erzähle, wie?
Sie ist mein einziges Begehren!
Woher, wohin, ach, trugst du sie?

CHIRON:
Die Frage läßt sich leicht gewähren.
Die Dioskuren hatten jener Zeit
Das Schwesterchen aus Räuberfaust befreit.
Doch diese, nicht gewohnt, besiegt zu sein,
Ermannten sich urd stürmten hintendrein.
Da hielten der Geschwister eiligen Lauf
Die Sümpfe bei Eleusis auf;
Die Brüder wateten, ich patschte, schwamm hinüber;
Da sprang sie ab und streichelte
Die feuchte Mähne, schmeichelte
Und dankte lieblich-klug und selbstbewußt.
Wie war sie reizend! jung, des Alten Lust!

FAUST:
Erst zehen Jahr!…

CHIRON:
Ich seh‘, die Philologen,
Sie haben dich so wie sich selbst betrogen.
Ganz eigen ist’s mit mythologischer Frau,
Der Dichter bringt sie, wie er’s braucht, zur Schau:
Nie wird sie mündig, wird nicht alt,
Stets appetitlicher Gestalt,
Wird jung entführt, im Alter noch umfreit;
Gnug, den Poeten bindet keine Zeit.

FAUST:
So sei auch sie durch keine Zeit gebunden!
Hat doch Achill auf Pherä sie gefunden,
Selbst außer aller Zeit. Welch seltnes Glück:
Errungen Liebe gegen das Geschick!
Und sollt‘ ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt,
Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt?
Das ewige Wesen, Göttern ebenbürtig,
So groß als zart, so hehr als liebenswürdig?
Du sahst sie einst; heut hab‘ ich sie gesehn,
So schön wie reizend, wie ersehnt so schön.
Nun ist mein Sinn, mein Wesen streng umfangen;
Ich lebe nicht, kann ich sie nicht erlangen.

CHIRON:
Mein fremder Mann! als Mensch bist du entzückt;
Doch unter Geistern scheinst du wohl verrückt.
Nun trifft sich’s hier zu deinem Glücke;
Denn alle Jahr, nur wenig Augenblicke,
Pfleg‘ ich bei Manto vorzutreten,
Der Tochter äskulaps; im stillen Beten
Fleht sie zum Vater, daß, zu seiner Ehre,
Er endlich doch der ärzte Sinn verkläre
Und vom verwegnen Totschlag sie bekehre…
Die liebste mir aus der Sibyllengilde,
Nicht fratzenhaft bewegt, wohltätig milde;
Ihr glückt es wohl, bei einigem Verweilen,
Mit Wurzelkräften dich von Grund zu heilen.

FAUST:
Geheilt will ich nicht sein, mein Sinn ist mächtig;
Da wär‘ ich ja wie andre niederträchtig.

CHIRON:
Versäume nicht das Heil der edlen Quelle!
Geschwind herab! Wir sind zur Stelle.

FAUST:
Sag an! Wohin hast du, in grauser Nacht,
Durch Kiesgewässer mich ans Land gebracht?

CHIRON:
Hier trotzten Rom und Griechenland im Streite,
Peneios rechts, links den Olymp zur Seite,
Das größte Reich, das sich im Sand verliert;
Der König flieht, der Bürger triumphiert.
Blick auf! hier steht, bedeutend nah,
Im Mondenschein der ewige Tempel da.

MANTO:
Von Pferdes Hufe
Erklingt die heilige Stufe,
Halbgötter treten heran.

CHIRON:
Ganz recht!
Nur die Augen aufgetan!

MANTO:
Willkommen! ich seh‘, du bleibst nicht aus.

CHIRON:
Steht dir doch auch dein Tempelhaus!

MANTO:
Streiftst du noch immer unermüdet?

CHIRON:
Wohnst du doch immer still umfriedet,
Indes zu kreisen mich erfreut.

MANTO:
Ich harre, mich umkreist die Zeit.
Und dieser?

CHIRON:
Die verrufene Nacht
Hat strudelnd ihn hierher gebracht.
Helenen, mit verrückten Sinnen,
Helenen will er sich gewinnen
Und weiß nicht, wie und wo beginnen;
Asklepischer Kur vor andern wert.

MANTO:
Den lieb‘ ich, der Unmögliches begehrt.

MANTO:
Tritt ein, Verwegner, sollst dich freuen!
Der dunkle Gang führt zu Persephoneien.
In des Olympus hohlem Fuß
Lauscht sie geheim verbotnem Gruß.
Hier hab‘ ich einst den Orpheus eingeschwärzt;
Benutz es besser! frisch! beherzt!

Am obern Peneios

SIRENEN:
Stürzt euch in Peneios‘ Flut!
Plätschernd ziemt es da zu schwimmen,
Lied um Lieder anzustimmen,
Dem unseligen Volk zugut.
Ohne Wasser ist kein Heil!
Führen wir mit hellem Heere
Eilig zum ägäischen Meere,
Würd‘ uns jede Lust zuteil.

SIRENEN:
Schäumend kehrt die Welle wieder,
Fließt nicht mehr im Bett darnieder;
Grund erbebt, das Wasser staucht,
Kies und Ufer berstend raucht.
Flüchten wir! Kommt alle, kommt!
Niemand, dem das Wunder frommt.
Fort! ihr edlen frohen Gäste,
Zu dem seeisch heitern Feste,
Blinkend, wo die Zitterwellen,
Ufernetzend, leise schwellen;
Da, wo Luna doppelt leuchtet,
Uns mit heil’gem Tau befeuchtet.
Dort ein freibewegtes Leben,
Hier ein ängstlich Erdebeben;
Eile jeder Kluge fort!
Schauderhaft ist’s um den Ort.

SEISMOS:
Einmal noch mit Kraft geschoben,
Mit den Schultern brav gehoben!
So gelangen wir nach oben,
Wo uns alles weichen muß.

SPHINXE:
Welch ein widerwärtig Zittern,
Häßlich grausenhaftes Wittern!
Welch ein Schwanken, welches Beben,
Schaukelnd Hin- und Widerstreben!
Welch unleidlicher Verdruß!
Doch wir ändern nicht die Stelle,
Bräche los die ganze Hölle.
Nun erhebt sich ein Gewölbe
Wundersam. Es ist derselbe,
Jener Alte, längst Ergraute,
Der die Insel Delos baute,
Einer Kreißenden zulieb‘
Aus der Wog‘ empor sie trieb.
Er, mit Streben, Drängen, Drücken,
Arme straff, gekrümmt den Rücken,
Wie ein Atlas an Gebärde,
Hebt er Boden, Rasen, Erde,
Kies und Grieß und Sand und Letten,
Unsres Ufers stille Betten.
So zerreißt er eine Strecke
Quer des Tales ruhige Decke.
Angestrengtest, nimmer müde,
Kolossale Karyatide,
Trägt ein furchtbar Steingerüste,
Noch im Boden bis zur Büste;
Weiter aber soll’s nicht kommen,
Sphinxe haben Platz genommen.

SEISMOS:
Das hab‘ ich ganz allein vermittelt,
Man wird mir’s endlich zugestehn;
Und hätt‘ ich nicht geschüttelt und gerüttelt,
Wie wäre diese Welt so schön?–
Wie ständen eure Berge droben
In prächtig-reinem ätherblau,
Hätt‘ ich sie nicht hervorgeschoben
Zu malerisch-entzückter Schau?
Als, angesichts der höchsten Ahnen,
Der Nacht, des Chaos, ich mich stark betrug
Und, in Gesellschaft von Titanen,
Mit Pelion und Ossa als mit Ballen schlug,
Wir tollten fort in jugendlicher Hitze,
Bis überdrüssig noch zuletzt
Wir dem Parnaß, als eine Doppelmütze,
Die beiden Berge frevelnd aufgesetzt…
Apollen hält ein froh Verweilen
Dort nun mit seliger Musen Chor.
Selbst Jupitern und seinen Donnerkeilen
Hob ich den Sessel hoch empor.
Jetzt so, mit ungeheurem Streben,
Drang aus dem Abgrund ich herauf
Und fordre laut, zu neuem Leben,
Mir fröhliche Bewohner auf.

SPHINXE:
Uralt, müßte man gestehen,
Sei das hier Emporgebürgte,
Hätten wir nicht selbst gesehen,
Wie sich’s aus dem Boden würgte.
Bebuschter Wald verbreitet sich hinan,
Noch drängt sich Fels auf Fels bewegt heran;
Ein Sphinx wird sich daran nicht kehren:
Wir lassen uns im heiligen Sitz nicht stören.

GREIFE:
Gold in Blättchen, Gold in Flittern
Durch die Ritzen seh ich zittern.
Laßt euch solchen Schatz nicht rauben,
Imsen, auf! es auszuklauben.

CHOR DER AMEISEN:
Wie ihn die Riesigen
Emporgehoben,
Ihr Zappelfüßigen,
Geschwind nach oben!
Behendest aus und ein!
In solchen Ritzen
Ist jedes Bröselein
Wert zu besitzen.
Das Allermindeste
Müßt ihr entdecken
Auf das geschwindeste
In allen Ecken.
Allemsig müßt ihr sein,
Ihr Wimmelscharen;
Nur mit dem Gold herein!
Den Berg laßt fahren.

GREIFE:
Herein! Herein! Nur Gold zu Hauf!
Wir legen unsre Klauen drauf;
Sind Riegel von der besten Art,
Der größte Schatz ist wohlverwahrt.

PYGMÄEN:
Haben wirklich Platz genommen,
Wissen nicht, wie es geschah.
Fraget nicht, woher wir kommen,
Denn wir sind nun einmal da!
Zu des Lebens lustigem Sitze
Eignet sich ein jedes Land;
Zeigt sich eine Felsenritze,
Ist auch schon der Zwerg zur Hand.
Zwerg und Zwergin, rasch zum Fleiße,
Musterhaft ein jedes Paar;
Weiß nicht, ob es gleicher Weise
Schon im Paradiese war.
Doch wir finden’s hier zum besten,
Segnen dankbar unsern Stern;
Denn im Osten wie im Westen
Zeugt die Mutter Erde gern.

DAKTYLE:
Hat sie in einer Nacht
Die Kleinen hervorgebracht,
Sie wird die Kleinsten erzeugen;
Finden auch ihresgleichen.

PYGMÄEN-ÄLTESTE:
Eilet, bequemen
Sitz einzunehmen!
Eilig zum Werke!
Schnelle für Stärke!
Noch ist es Friede;
Baut euch die Schmiede,
Harnisch und Waffen
Dem Heer zu schaffen.
Ihr Imsen alle,
Rührige im Schwalle,
Schafft uns Metalle!
Und ihr Daktyle,
Kleinste, so viele,
Euch sei befohlen,
Hölzer zu holen!
Schlichtet zusammen
Heimliche Flammen,
Schaffet uns Kohlen.

GENERALISSIMUS:
Mit Pfeil und Bogen
Frisch ausgezogen!
An jenem Weiher
Schießt mir die Reiher,
Unzählig nistende,
Hochmütig brüstende,
Auf einen Ruck,
Alle wie einen!
Daß wir erscheinen
Mit Helm und Schmuck.

IMSEN UND DAKTYLE:
Wer wird uns retten!
Wir schaffen ’s Eisen,
Sie schmieden Ketten.
Uns loszureißen,
Ist noch nicht zeitig,
Drum seid geschmeidig.

DIE KRANICHE DES IBYKUS:
Mordgeschrei und Sterbeklagen!
ängstlich Flügelflatterschlagen!
Welch ein ächzen, welch Gestöhn
Dringt herauf zu unsern Höhn!
Alle sind sie schon ertötet,
See von ihrem Blut gerötet,
Mißgestaltete Begierde
Raubt des Reihers edle Zierde.
Weht sie doch schon auf dem Helme
Dieser Fettbauch-Krummbein-Schelme.
Ihr Genossen unsres Heeres,
Reihenwanderer des Meeres,
Euch berufen wir zur Rache
In so nahverwandter Sache.
Keiner spare Kraft und Blut!
Ewige Feindschaft dieser Brut!

MEPHISTOPHELES:
Die nordischen Hexen wußt‘ ich wohl zu meistern,
Mir wird’s nicht just mit diesen fremden Geistern.
Der Blocksberg bleibt ein gar bequem Lokal,
Wo man auch sei, man findet sich zumal.
Frau Ilse wacht für uns auf ihrem Stein,
Auf seiner Höh‘ wird Heinrich munter sein,
Die Schnarcher schnauzen zwar das Elend an,
Doch alles ist für tausend Jahr getan.
Wer weiß denn hier nur, wo er geht und steht,
Ob unter ihm sich nicht der Boden bläht?…
Ich wandle lustig durch ein glattes Tal,
Und hinter mir erhebt sich auf einmal
Ein Berg, zwar kaum ein Berg zu nennen,
Von meinen Sphinxen mich jedoch zu trennen
Schon hoch genug–hier zuckt noch manches Feuer
Das Tal hinab und flammt ums Abenteuer…
Noch tanzt und schwebt mir lockend, weichend vor,
Spitzbübisch gaukelnd, der galante Chor.
Nur sachte drauf! Allzugewohnt ans Naschen,
Wo es auch sei, man sucht was zu erhaschen.

LAMIEN:
Geschwind, geschwinder!
Und immer weiter!
Dann wieder zaudernd,
Geschwätzig plaudernd.
Es ist so heiter,
Den alten Sünder
Uns nachzuziehen,
Zu schwerer Buße.
Mit starrem Fuße
Kommt er geholpert,
Einhergestolpert;
Er schleppt das Bein,
Wie wir ihn fliehen,
Uns hinterdrein!

MEPHISTOPHELES:
Verflucht Geschick! Betrogne Mannsen!
Von Adam her verführte Hansen!
Alt wird man wohl, wer aber klug?
Warst du nicht schon vernarrt genug!
Man weiß, das Volk taugt aus dem Grunde nichts,
Geschnürten Leibs, geschminkten Angesichts.
Nichts haben sie Gesundes zu erwidern,
Wo man sie anfaßt, morsch in allen Gliedern.
Man weiß, man sieht’s, man kann es greifen,
Und dennoch tanzt man, wenn die Luder pfeifen!

LAMIEN:
Halt! er besinnt sich, zaudert, steht;
Entgegnet ihm, daß er euch nicht entgeht!

MEPHISTOPHELES:
Nur zu! und laß dich ins Gewebe
Der Zweifelei nicht törig ein;
Denn wenn es keine Hexen gäbe,
Wer Teufel möchte Teufel sein!

LAMIEN:
Kreisen wir um diesen Helden!
Liebe wird in seinem Herzen
Sich gewiß für eine melden.

MEPHISTOPHELES:
Zwar bei ungewissem Schimmer
Scheint ihr hübsche Frauenzimmer,
Und so möcht‘ ich euch nicht schelten.

EMPUSE:
Auch nicht mich! als eine solche
Laßt mich ein in eure Folge.

LAMIEN:
Die ist in unserm Kreis zuviel,
Verdirbt doch immer unser Spiel.

EMPUSE:
Begrüßt von Mühmichen Empuse,
Der Trauten mit dem Eselsfuße!
Du hast nur einen Pferdefuß,
Und doch, Herr Vetter, schönsten Gruß!

MEPHISTOPHELES:
Hier dacht‘ ich lauter Unbekannte
Und finde leider Nahverwandte;
Es ist ein altes Buch zu blättern:
Vom Harz bis Hellas immer Vettern!

EMPUSE:
Entschieden weiß ich gleich zu handeln,
In vieles könnt‘ ich mich verwandeln;
Doch Euch zu Ehren hab‘ ich jetzt
Das Eselsköpfchen aufgesetzt.

MEPHISTOPHELES:
Ich merk‘, es hat bei diesen Leuten
Verwandtschaft Großes zu bedeuten;
Doch mag sich, was auch will, eräugnen,
Den Eselskopf möcht‘ ich verleugnen.

LAMIEN:
Daß diese Garstige, sie verscheucht,
Was irgend schön und lieblich deucht;
Was irgend schön und lieblich wär‘–
Sie kommt heran, es ist nicht mehr!

MEPHISTOPHELES:
Auch diese Mühmchen zart und schmächtig,
Sie sind mir allesamt verdächtig;
Und hinter solcher Wänglein Rosen
Fürcht‘ ich doch auch Metamorphosen.

LAMIEN:
Versuch es doch! sind unsrer viele.
Greif zu! Und hast du Glück im Spiele,
Erhasche dir das beste Los.
Was soll das lüsterne Geleier?
Du bist ein miserabler Freier,
Stolzierst einher und tust so groß!–
Nun mischt er sich in unsre Scharen;
Laßt nach und nach die Masken fahren
Und gebt ihm euer Wesen bloß.

MEPHISTOPHELES:
Die Schönste hab‘ ich mir erlesen…
O weh mir! welch ein dürrer Besen!
Und diese?… Schmähliches Gesicht!

LAMIEN:
Verdienst du’s besser? dünkt es nicht.

MEPHISTOPHELES:
Die Kleine möcht‘ ich mir verpfänden…
Lacerte schlüpft mir aus den Händen!
Und schlangenhaft der glatte Zopf.
Dagegen fass‘ ich mir die Lange…
Da pack‘ ich eine Thyrsusstange,
Den Pinienapfel als den Kopf!
Wo will’s hinaus?… Noch eine Dicke,
An der ich mich vielleicht erquicke;
Zum letztenmal gewagt! Es sei!
Recht quammig, quappig, das bezahlen
Mit hohem Preis Orientalen…
Doch ach! der Bovist platzt entzwei!

LAMIEN:
Fahrt auseinander, schwankt und schwebet
Blitzartig, schwarzen Flugs umgebet
Den eingedrungnen Hexensohn!
Unsichre, schauderhafte Kreise!
Schweigsamen Fittichs, Fledermäuse!
Zu wohlfeil kommt er doch davon.

MEPHISTOPHELES:
Viel klüger, scheint es, bin ich nicht geworden;
Absurd ist’s hier, absurd im Norden,
Gespenster hier wie dort vertrackt,
Volk und Poeten abgeschmackt.
Ist eben hier eine Mummenschanz
Wie überall, ein Sinnentanz.
Ich griff nach holden Maskenzügen
Und faßte Wesen, daß mich’s schauerte…
Ich möchte gerne mich betrügen,
Wenn es nur länger dauerte.
Wo bin ich denn? Wo will’s hinaus?
Das war ein Pfad, nun ist’s ein Graus.
Ich kam daher auf glatten Wegen,
Und jetzt steht mir Geröll entgegen.
Vergebens klettr‘ ich auf und nieder,
Wo find‘ ich meine Sphinxe wieder?
So toll hätt‘ ich mir’s nicht gedacht,
Ein solch Gebirge in einer Nacht!
Das heiß‘ ich frischen Hexenritt,
Die bringen ihren Blocksberg mit.

OREAS:
Herauf hier! Mein Gebirg ist alt,
Steht in ursprünglicher Gestalt.
Verehre schroffe Felsensteige,
Des Pindus letztgedehnte Zweige!
Schon stand ich unerschüttert so,
Als über mich Pompejus floh.
Daneben das Gebild des Wahns
Verschwindet schon beim Krähn des Hahns.
Dergleichen Märchen seh‘ ich oft entstehn
Und plötzlich wieder untergehn.

MEPHISTOPHELES:
Sei Ehre dir, ehrwürdiges Haupt,
Von hoher Eichenkraft umlaubt!
Der allerklarste Mondenschein
Dringt nicht zur Finsternis herein.–
Doch neben am Gebüsche zieht
Ein Licht, das gar bescheiden glüht.
Wie sich das alles fügen muß!
Fürwahr, es ist Homunculus!
Woher des Wegs, du Kleingeselle?

HOMUNCULUS:
Ich schwebe so von Stell‘ zu Stelle
Und möchte gern im besten Sinn entstehn,
Voll Ungeduld, mein Glas entzweizuschlagen;
Allein, was ich bisher gesehn,
Hinein da möcht‘ ich mich nicht wagen.
Nur, um dir’s im Vertraun zu sagen:
Zwei Philosophen bin ich auf der Spur,
Ich horchte zu, es hieß: Natur, Natur!
Von diesen will ich mich nicht trennen,
Sie müssen doch das irdische Wesen kennen;
Und ich erfahre wohl am Ende,
Wohin ich mich am allerklügsten wende.

MEPHISTOPHELES:
Das tu auf deine eigne Hand.
Denn wo Gespenster Platz genommen,
Ist auch der Philosoph willkommen.
Damit man seiner Kunst und Gunst sich freue,
Erschafft er gleich ein Dutzend neue.
Wenn du nicht irrst, kommst du nicht zu Verstand.
Willst du entstehn, entsteh auf eigne Hand!

HOMUNCULUS:
Ein guter Rat ist auch nicht zu verschmähn.

MEPHISTOPHELES:
So fahre hin! Wir wollen’s weiter sehn.

ANAXAGORAS:
Dein starrer Sinn will sich nicht beugen;
Bedarf es Weitres, dich zu überzeugen?

THALES:
Die Welle beugt sich jedem Winde gern,
Doch hält sie sich vom schroffen Felsen fern.

ANAXAGORAS:
Durch Feuerdunst ist dieser Fels zu Handen.

THALES:
Im Feuchten ist Lebendiges erstanden.

HOMUNCULUS:
Laßt mich an eurer Seite gehn.
Mir selbst gelüstet’s, zu entstehn!

ANAXAGORAS:
Hast du, o Thales, je in einer Nacht
Solch einen Berg aus Schlamm hervorgebracht?

THALES:
Nie war Natur und ihr lebendiges Fließen
Auf Tag und Nacht und Stunden angewiesen.
Sie bildet regelnd jegliche Gestalt,
Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt.

ANAXAGORAS:
Hier aber war’s! Plutonisch grimmig Feuer,
äolischer Dünste Knallkraft, ungeheuer,
Durchbrach des flachen Bodens alte Kruste,
Daß neu ein Berg sogleich entstehen mußte.

THALES:
Was wird dadurch nun weiter fortgesetzt?
Er ist auch da, und das ist gut zuletzt.
Mit solchem Streit verliert man Zeit und Weile
Und führt doch nur geduldig Volk am Seile.

ANAXAGORAS:
Schnell quillt der Berg von Myrmidonen,
Die Felsenspalten zu bewohnen;
Pygmäen, Imsen, Däumerlinge
Und andre tätig kleine Dinge.
Nie hast du Großem nachgestrebt,
Einsiedlerisch-beschränkt gelebt;
Kannst du zur Herrschaft dich gewöhnen,
So laß ich dich als König krönen.

HOMUNCULUS:
Was sagt mein Thales? +

THALES:
Will’s nicht raten;
Mit Kleinen tut man kleine Taten,
Mit Großen wird der Kleine groß.
Sieh hin! die schwarze Kranichwolke!
Sie droht dem aufgeregten Volke
Und würde so dem König drohn.
Mit scharfen Schnäbeln, krallen Beinen,
Sie stechen nieder auf die Kleinen;
Verhängnis wetterleuchtet schon.
Ein Frevel tötete die Reiher,
Umstellend ruhigen Friedensweiher.
Doch jener Mordgeschosse Regen
Schafft grausam-blut’gen Rachesegen,
Erregt der Nahverwandten Wut
Nach der Pygmäen frevlem Blut.
Was nützt nun Schild und Helm und Speer?
Was hilft der Reiherstrahl den Zwergen?
Wie sich Daktyl und Imse bergen!
Schon wankt, es flieht, es stürzt das Heer.

ANAXAGORAS:
Konnt‘ ich bisher die Unterirdischen loben,
So wend‘ ich mich in diesem Fall nach oben…
Du! droben ewig Unveraltete,
Dreinamig-Dreigestaltete,
Dich ruf‘ ich an bei meines Volkes Weh,
Diana, Luna, Hekate!
Du Brusterweiternde, im Tiefsten Sinnige,
Du Ruhigscheinende, Gewaltsam-Innige,
Eröffne deiner Schatten grausen Schlund,
Die alte Macht sei ohne Zauber kund!
Bin ich zu schnell erhört?
Hat mein Flehn
Nach jenen Höhn
Die Ordnung der Natur gestört?
Und größer, immer größer nahet schon
Der Göttin rundumschriebner Thron,
Dem Auge furchtbar, ungeheuer!
Ins Düstre rötet sich sein Feuer…
Nicht näher, drohend-mächtige Runde!
Du richtest uns und Land und Meer zugrunde!
So wär‘ es wahr, daß dich thessalische Frauen
In frevlend magischem Vertrauen
Von deinem Pfad herabgesungen,
Verderblichstes dir abgerungen?…
Das lichte Schild hat sich umdunkelt,
Auf einmal reißt’s und blitzt und funkelt!
Welch ein Geprassel! Welch ein Zischen!
Ein Donnern, Windgetüm dazwischen!–
Demütig zu des Thrones Stufen!–
Verzeiht! Ich hab‘ es hergerufen.

THALES:
Was dieser Mann nicht alles hört‘ und sah!
Ich weiß nicht recht, wie uns geschah,
Auch hab‘ ich’s nicht mit ihm empfunden.
Gestehen wir, es sind verrückte Stunden,
Und Luna wiegt sich ganz bequem
An ihrem Platz, so wie vordem.

HOMUNCULUS:
Schaut hin nach der Pygmäen Sitz!
Der Berg war rund, jetzt ist er spitz.
Ich spürt‘ ein ungeheures Prallen,
Der Fels war aus dem Mond gefallen;
Gleich hat er, ohne nachzufragen,
So Freund als Feind gequetscht, erschlagen.
Doch muß ich solche Künste loben,
Die schöpferisch, in einer Nacht,
Zugleich von unten und von oben,
Dies Berggebäu zustand gebracht.

THALES:
Sei ruhig! Es war nur gedacht.
Sie fahre hin, die garstige Brut!
Daß du nicht König warst, ist gut.
Nun fort zum heitern Meeresfeste,
Dort hofft und ehrt man Wundergäste.

MEPHISTOPHELES:
Da muß ich mich durch steile Felsentreppen,
Durch alter Eichen starre Wurzeln schleppen!
Auf meinem Harz der harzige Dunst
Hat was vom Pech, und das hat meine Gunst,
Zunächst dem Schwefel… Hier, bei diesen Griechen
Ist von dergleichen kaum die Spur zu riechen;
Neugierig aber wär‘ ich, nachzuspüren,
Womit sie Höllenqual und–flamme schüren.

DRYAS:
In deinem Lande sei einheimisch klug,
Im fremden bist du nicht gewandt genug.
Du solltest nicht den Sinn zur Heimat kehren,
Der heiligen Eichen Würde hier verehren.

MEPHISTOPHELES:
Man denkt an das, was man verließ;
Was man gewohnt war, bleibt ein Paradies.
Doch sagt: was in der Höhle dort,
Bei schwachem Licht, sich dreifach hingekauert?

DRYAS:
Die Phorkyaden! Wage dich zum Ort
Und sprich sie sie an, wenn dich nicht schauert.

MEPHISTOPHELES:
Warum denn nicht!–Ich sehe was, und staune!
So stolz ich bin, muß ich mir selbst gestehn:
Dergleichen hab‘ ich nie gesehn,
Die sind ja schlimmer als Alraune…
Wird man die urverworfnen Sünden
Im mindesten noch häßlich finden,
Wenn man dies Dreigetüm erblickt?
Wir litten sie nicht auf den Schwellen
Der grauenvollsten unsrer Höllen.
Hier wurzelt’s in der Schönheit Land,
Das wird mit Ruhm antik genannt…
Sie regen sich, sie scheinen mich zu spüren,
Sie zwitschern pfeifend, Fledermaus-Vampyren.

PHORKYAS:
Gebt mir das Auge, Schwestern, daß es frage,
Wer sich so nah an unsre Tempel wage.

MEPHISTOPHELES:
Verehrteste! Erlaubt mir, euch zu nahen
Und euren Segen dreifach zu empfahen.
Ich trete vor, zwar noch als Unbekannter,
Doch, irr‘ ich nicht, weitläufiger Verwandter.
Altwürdige Götter hab‘ ich schon erblickt,
Vor Ops und Rhea tiefstens mich gebückt;
Die Parzen selbst, des Chaos, eure Schwestern,
Ich sah sie gestern–oder ehegestern;
Doch euresgleichen hab‘ ich nie erblickt.
Ich schweige nun und fühle mich entzückt.

PHORKYADEN:
Er scheint Verstand zu haben, dieser Geist.

MEPHISTOPHELES:
Nur wundert’s mich, daß euch kein Dichter preist.
Und sagt: wie kam’s, wie konnte das geschehn?
Im Bilde hab‘ ich nie euch Würdigste gesehn;
Versuch’s der Meißel doch, euch zu erreichen,
Nicht Juno, Pallas, Venus und dergleichen.

PHORKYADEN:
Versenkt in Einsamkeit und stillste Nacht,
Hat unser Drei noch nie daran gedacht!

MEPHISTOPHELES:
Wie sollt‘ es auch? da ihr, der Welt entrückt,
Hier niemand seht und niemand euch erblickt.
Da müßtet ihr an solchen Orten wohnen,
Wo Pracht und Kunst auf gleichem Sitze thronen,
Wo jeden Tag, behend, im Doppelschritt,
Ein Marmorblock als Held ins Leben tritt.
Wo– +

PHORKYADEN:
Schweige still und gib uns kein Gelüsten!
Was hülf‘ es uns, und wenn wir’s besser wüßten?
In Nacht geboren, Nächtlichem verwandt,
Beinah uns selbst, ganz allen unbekannt.

MEPHISTOPHELES:
In solchem Fall hat es nicht viel zu sagen,
Man kann sich selbst auch andern übertragen.
Euch dreien gnügt ein Auge, gnügt ein Zahn;
Da ging‘ es wohl auch mythologisch an,
In zwei die Wesenheit der drei zu fassen,
Der Dritten Bildnis mir zu überlassen,
Auf kurze Zeit. +

EINE:
Wie dünkt’s euch? ging‘ es an?

DIE ANDERN:
Versuchen wir’s!–doch ohne Aug‘ und Zahn.

MEPHISTOPHELES:
Nun habt ihr grad das Beste weggenommen;
Wie würde da das strengste Bild vollkommen!

EINE:
Drück du ein Auge zu, ’s ist leicht geschehn,
Laß alsofort den einen Raffzahn sehn,
Und im Profil wirst du sogleich erreichen,
Geschwisterlich vollkommen uns zu gleichen.

MEPHISTOPHELES:
Viel Ehr‘! Es sei! +

PHORKYADEN:
Es sei! +

MEPHISTOPHELES:
Da steh‘ ich schon,
Des Chaos vielgeliebter Sohn!

PHORKYADEN:
Des Chaos Töchter sind wir unbestritten.

MEPHISTOPHELES:
Man schilt mich nun, o Schmach, Hermaphroditen.

PHORKYADEN:
Im neuen Drei der Schwestern welche Schöne!
Wir haben zwei der Augen, zwei der Zähne.

MEPHISTOPHELES:
Vor aller Augen muß ich mich verstecken,
Im Höllenpfuhl die Teufel zu erschrecken.

Felsbuchten des ägäischen Meers

SIRENEN:
Haben sonst bei nächtigem Grauen
Dich thessalische Zauberfrauen
Frevelhaft herabgezogen,
Blicke ruhig von dem Bogen
Deiner Nacht auf Zitterwogen
Mildeblitzend Glanzgewimmel
Und erleuchte das Getümmel,
Das sich aus den Wogen hebt!
Dir zu jedem Dienst erbötig,
Schöne Luna, sei uns gnädig!

NEREIDEN UND TRITONEN:
Tönet laut in schärfern Tönen,
Die das breite Meer durchdröhnen,
Volk der Tiefe ruft fortan!
Vor des Sturmes grausen Schlünden
Wichen wir zu stillsten Gründen,
Holder Sang zieht uns heran.
Seht, wie wir im Hochentzücken
Uns mit goldenen Ketten schmücken,
Auch zu Kron‘ und Edelsteinen
Spang- und Gürtelschmuck vereinen!
Alles das ist eure Frucht.
Schätze, scheiternd hier verschlungen,
Habt ihr uns herangesungen,
Ihr Dämonen unsrer Bucht.

SIRENEN:
Wissen’s wohl, in Meeresfrische
Glatt behagen sich die Fische,
Schwanken Lebens ohne Leid;
Doch, ihr festlich regen Scharen,
Heute möchten wir erfahren,
Daß ihr mehr als Fische seid.

NEREIDEN UND TRITONEN:
Ehe wir hieher gekommen,
Haben wir’s zu Sinn genommen;
Schwestern, Bur*der, jetzt geschwind!
Heut bedarf’s der kleinsten Reise
Zum vollgültigsten Beweise,
Daß wir mehr als Fische sind.

SIRENEN:
Fort sind sie im Nu!
Nach Samothrace grade zu,
Verschwunden mit günstigem Wind.
Was denken sie zu vollführen
Im Reiche der hohen Kabiren?
Sind Götter! Wundersam eigen,
Die sich immerfort selbst erzeugen
Und niemals wissen, was sie sind.
Bleibe auf deinen Höhn,
Holde Luna, gnädig stehn,
Daß es nächtig verbleibe,
Uns der Tag nicht vertreibe!

THALES:
Ich führte dich zum alten Nereus gern;
Zwar sind wir nicht von seiner Höhle fern,
Doch hat er einen harten Kopf,
Der widerwärtige Sauertopf.
Das ganze menschliche Geschlecht
Macht’s ihm, dem Griesgram, nimmer recht.
Doch ist die Zukunft ihm entdeckt,
Dafür hat jedermann Respekt
Und ehret ihn auf seinem Posten;
Auch hat er manchem wohlgetan.

HOMUNCULUS:
Probieren wir’s und klopfen an!
Nicht gleich wird’s Glas und Flamme kosten.

NEREUS:
Sind’s Menschenstimmen, die mein Ohr vernimmt?
Wie es mir gleich im tiefsten Herzen grimmt!
Gebilde, strebsam, Götter zu erreichen,
Und doch verdammt, sich immer selbst zu gleichen.
Seit alten Jahren konnt‘ ich göttlich ruhn,
Doch trieb mich’s an, den Besten wohlzutun;
Und schaut‘ ich dann zuletzt vollbrachte Taten,
So war es ganz, als hätt‘ ich nicht geraten.

THALES:
Und doch, o Greis des Meers, vertraut man dir;
Du bist der Weise, treib uns nicht von hier!
Schau diese Flamme, menschenähnlich zwar,
Sie deinem Rat ergibt sich ganz und gar.

NEREUS:
Was Rat! Hat Rat bei Menschen je gegolten?
Ein kluges Wort erstarrt im harten Ohr.
So oft auch Tat sich grimmig selbst gescholten,
Bleibt doch das Volk selbstwillig wie zuvor.
Wie hab‘ ich Paris väterlich gewarnt,
Eh sein Gelüst ein fremdes Weib umgarnt.
Am griechischen Ufer stand er kühnlich da,
Ihm kündet‘ ich, was ich im Geiste sah:
Die Lüfte qualmend, überströmend Rot,
Gebälke glühend, unten Mord und Tod:
Trojas Gerichtstag, rhythmisch festgebannt,
Jahrtausenden so schrecklich als gekannt.
Des Alten Wort, dem Frechen schien’s ein Spiel,
Er folgte seiner Lust, und Ilios fiel–
Ein Riesenleichnam, starr nach langer Qual,
Des Pindus Adlern gar willkommnes Mahl.
Ulyssen auch! sagt‘ ich ihm nicht voraus
Der Circe Listen, des Zyklopen Graus?
Das Zaudern sein, der Seinen leichten Sinn,
Und was nicht alles! Bracht‘ ihm das Gewinn?
Bis vielgeschaukelt ihn, doch spät genug,
Der Woge Gunst an gastlich Ufer trug.

THALES:
Dem weisen Mann gibt solch Betragen Qual;
Der gute doch versucht es noch einmal.
Ein Quentchen Danks wird, hoch ihn zu vergnügen,
Die Zentner Undanks völlig überwiegen.
Denn nichts Geringes haben wir zu flehn:
Der Knabe da wünscht weislich zu entstehn.

NEREUS:
Verderbt mir nicht den seltensten Humor!
Ganz andres steht mir heute noch bevor:
Die Töchter hab‘ ich alle herbeschieden,
Die Grazien des Meeres, die Doriden.
Nicht der Olymp, nicht euer Boden trägt
Ein schön Gebild, das sich so zierlich regt.
Sie werfen sich, anmutigster Gebärde,
Vom Wasserdrachen auf Neptunus‘ Pferde,
Dem Element aufs zarteste vereint,
Daß selbst der Schaum sie noch zu heben scheint.
Im Farbenspiel von Venus‘ Muschelwagen
Kommt Galatee, die Schönste, nun getragen,
Die, seit sich Kypris von uns abgekehrt,
In Paphos wird als Göttin selbst verehrt.
Und so besitzt die Holde lange schon,
Als Erbin, Tempelstadt und Wagenthron.
Hinweg! Es ziemt in Vaterfreudenstunde
Nicht Haß dem Herzen, Scheltwort nicht dem Munde.
Hinweg zu Proteus! Fragt den Wundermann:
Wie man entstehn und sich verwandlen kann.

THALES:
Wir haben nichts durch siesen Schritt gewonnen,
Trifft man auch Proteus, gleich ist er zerronnen;
Und steht er euch, so sagt er nur zuletzt,
Was staunen macht und in Verwirrung setzt.
Du bist einmal bedürftig solchen Rats,
Versuchen wir’s und wandlen unsres Pfads!

SIRENEN:
Was sehen wir von weiten
Das Wellenreich durchgleiten?
Als wie nach Windes Regel
Anzögen weiße Segel,
So hell sind sie zu schauen,
Verklärte Meeresfrauen.
Laßt uns herunterklimmen,
Vernehmt ihr doch die Stimmen.

NEREIDEN UND TRITONEN:
Was wir auf Händen tragen,
Soll allen euch behagen.
Chelonens Riesenschilde
Entglänzt ein streng Gebilde:
Sind Götter, die wir bringen;
Müßt hohe Lieder singen.

SIRENEN:
Klein von Gestalt,
Groß von Gewalt,
Der Scheiternden Retter,
Uralt verehrte Götter.

NEREIDEN UND TRITONEN:
Wir bringen die Kabiren,
Ein friedlich Fest zu führen;
Denn wo sie heilig walten,
Neptun wird freundlich schalten.

SIRENEN:
Wir stehen euch nach;
Wenn ein Schiff zerbrach,
Unwiderstehbar an Kraft
Schützt ihr die Mannschaft.

NEREIDEN UND TRITONEN:
Drei haben wir mitgenommen,
Der vierte wollte nicht kommen;
Er sagte, er sei der Rechte,
Der für sie alle dächte.

SIRENEN:
Ein Gott den andern Gott
Macht wohl zu Spott.
Ehrt ihr alle Gnaden,
Fürchtet jeden Schaden.

NEREIDEN UND TRITONEN:
Sind eigentlich ihrer sieben.

SIRENEN:
Wo sind die drei geblieben?

NEREIDEN UND TRITONEN:
Wir wüßten’s nicht zu sagen,
Sind im Olymp zu erfragen;
Dort west auch wohl der achte,
An den noch niemand dachte!
In Gnaden uns gewärtig,
Doch alle noch nicht fertig.
Diese Unvergleichlichen
Wollen immer weiter,
Sehnsuchtsvolle Hungerleider
Nach dem Unerreichlichen.

SIRENEN:
Wir sind gewohnt,
Wo es auch thront,
In Sonn‘ und Mond
Hinzubeten; es lohnt.

NEREIDEN UND TRITONEN:
Wie unser Ruhm zum höchsten prangt,
Dieses Fest anzuführen!

SIRENEN:
Die Helden des Altertums
Ermangeln des Ruhms,
Wo und wie er auch prangt,
Wenn sie das goldne Vlies erlangt,
Ihr die Kabiren.
Wenn sie das goldne Vlies erlangt,
Wir die Kabiren. +
Ihr

HOMUNCULUS:
Die Ungestalten seh‘ ich an
Als irden-schlechte Töpfe,
Nun stoßen sich die Weisen dran
Und brechen harte Köpfe.

THALES:
Das ist es ja, was man begehrt:
Der rost macht erst die Münze wert.

PROTEUS:
So etwas freut mich alten Fabler!
Je wunderlicher, desto respektabler.

THALES:
Wo bist du, Proteus? +

PROTEUS:
Hier! und hier!

THALES:
Den alten Scherz verzeih‘ ich dir;
Doch einem Freund nicht eitle Worte!
Ich weiß, du sprichst vom falschen Orte.

PROTEUS:
Leb‘ wohl! +

THALES:
Er ist ganz nah. Nun leuchte frisch!
Er ist neugierig wie ein Fisch;
Und wo er auch gestaltet stockt,
Durch Flammen wird er hergelockt.

HOMUNCULUS:
Ergieß’ich gleich des Lichtes Menge,
Bescheiden doch, daß ich das Glas nicht sprenge.

PROTEUS:
Was leuchtet so anmutig schön?

THALES:
Gut! Wenn du Lust hast, kannst du’s näher sehn.
Die kleine Mühe laß dich nicht verdrießen
Und zeige dich auf menschlich beiden Füßen.
Mit unsern Gunsten sei’s, mit unserm Willen,
Wer schauen will, was wir verhüllen.

PROTEUS:
Weltweise Kniffe sind dir noch bewußt.

THALES:
Gestalt zu wechseln, bleibt noch deine Lust.

PROTEUS:
Ein leuchtend Zwerglein! Niemals noch gesehn!

THALES:
Es fragt um Rat und möchte gern entstehn.
Er ist, wie ich von ihm vernommen,
Gar wundersam nur halb zur Welt gekommen.
Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften,
Doch gar zu sehr am greiflich Tüchtighaften.
Bis jetzt gibt ihm das Glas allein Gewicht,
Doch wär‘ er gern zunächst verkörperlicht.

PROTEUS:
Du bist ein wahrer Jungfernsohn,
Eh‘ du sein solltest, bist du schon!

THALES:
Auch scheint es mir von andrer Seite kritisch:
Er ist, mich dünkt, hermaphroditisch.

PROTEUS:
Da muß es desto eher glücken;
So wie er anlangt, wird sich’s schicken.
Doch gilt es hier nicht viel Besinnen:
Im weiten Meere mußt du anbeginnen!
Da fängt man erst im kleinen an
Und freut sich, Kleinste zu verschlingen,
Man wächst so nach und nach heran
Und bildet sich zu höherem Vollbringen.

HOMUNCULUS:
Hier weht gar eine weiche Luft,
Es grunelt so, und mir behagt der Duft!

PROTEUS:
Das glaub‘ ich, allerliebster Junge!
Und weiter hin wird’s viel behäglicher,
Auf dieser schmalen Strandeszunge
Der Dunstkreis noch unsäglicher;
Da vorne sehen wir den Zug,
Der eben herschwebt, nah genug.
Kommt mit dahin! +

THALES:
Ich gehe mit.

HOMUNCULUS:
Dreifach merkwürd’ger Geisterschritt!

CHOR:
Wir haben den Dreizack Neptunen geschmiedet,
Womit er die regesten Wellen begütet.
Entfaltet der Donnrer die Wolken, die vollen,
Entgegnet Neptunus dem greulichen Rollen;
Und wie auch von oben es zackig erblitzt,
Wird Woge nach Woge von unten gespritzt;
Und was auch dazwischen in ängsten gerungen,
Wird, lange geschleudert, vom Tiefsten verschlungen;
Weshalb er uns heute den Zepter gereicht–
Nun schweben wir festlich, beruhigt und leicht.

SIRENEN:
Euch, dem Helios Geweihten,
Heitern Tags Gebenedeiten,
Gruß zur Stunde, die bewegt
Lunas Hochverehrung regt!

TELCHINEN:
Allieblichste Göttin am Bogen da droben!
Du hörst mit Entzücken den Bruder beloben.
Der seligen Rhodus verleihst du ein Ohr,
Dort steigt ihm ein ewiger Päan hervor.
Beginnt er den Tagslauf und ist es getan,
Er blickt uns mit feurigem Strahlenblick an.
Die Berge, die Städte, die Ufer, die Welle
Gefallen dem Gotte, sind lieblich und helle.
Kein Nebel umschwebt uns, und schleicht er sich ein,
Ein Strahl und ein Lüftchen, die Insel ist rein!
Da schaut sich der Hohe in hundert Gebilden,
Als Jüngling, als Riesen, den großen, den milden.
Wir ersten, wir waren’s, die Göttergewalt
Aufstellten in würdiger Menschengestalt.

PROTEUS:
Laß du sie singen, laß sie prahlen!
Der Sonne heiligen Lebestrahlen
Sind tote Werke nur ein Spaß.
Das bildet, schmelzend, unverdrossen;
Und haben sie’s in Erz gegossen,
Dann denken sie, es wäre was.
Was ist’s zuletzt mit diesen Stolzen?
Die Götterbilder standen groß–
Zerstörte sie ein Erdestoß;
Längst sind sie wieder eingeschmolzen.
Das Erdetreiben, wie’s auch sei,
Ist immer doch nur Plackerei;
Dem Leben frommt die Welle besser;
Dich trägt ins ewige Gewässer

PROTEUS-DELPHIN:
Schon ist’s getan!
Da soll es dir zum schönsten glücken:
Ich nehme dich auf meinen Rücken,
Vermähle dich dem Ozean.

THALES:
Gib nach dem löblichen Verlangen,
Von vorn die Schöpfung anzufangen!
Zu raschem Wirken sei bereit!
Da regst du dich nach ewigen Normen,
Durch tausend, abertausend Formen,
Und bis zum Menschen hast du Zeit.

PROTEUS:
Komm geistig mit in feuchte Weite,
Da lebst du gleich in Läng‘ und Breite,
Beliebig regest du dich hier;
Nur strebe nicht nach höheren Orden:
Denn bist du erst ein Mensch geworden,
Dann ist es völlig aus mit dir.

THALES:
Nachdem es kommt; ’s ist auch wohl fein,
Ein wackrer Mann zu seiner Zeit zu sein.

PROTEUS:
So einer wohl von deinem Schlag!
Das hält noch eine Weile nach;
Denn unter bleichen Geisterscharen
Seh‘ ich dich schon seit vielen hundret Jahern.

SIRENEN:
Welch ein Ring von Wölkchen ründet
Um den Mond so reichen Kreis?
Tauben sind es, liebentzündet,
Fittiche, wie Licht so weiß.
Paphos hat sie hergesendet,
Ihre brünstige Vogelschar;
Unser Fest, es ist vollendet,
Heitre Wonne voll und klar!

NEREUS:
Nennte wohl ein nächtiger Wanderer
Diesen Mondhof Lufterscheinung;
Doch wir Geister sind ganz anderer
Und der einzig richtigen Meinung:
Tauben sind es, die begleiten
Meiner Tochter Muschelfahrt,
Wunderflugs besondrer Art,
Angelernt vor alten Zeiten.

THALES:
Auch ich halte das fürs Beste,
Was dem wackern Mann gefällt,
Wenn im stillen, warmen Neste
Sich ein Heiliges lebend hält.

PSYLLEN UND MARSEN:
In Cyperns rauhen Höhlegrüften,
Vom Meergott nicht verschüttet,
Vom Seismos nicht zerrüttet,
Umweht von ewigen Lüften,
Und, wie in den ältesten Tagen,
In stillbewußtem Behagen
Bewahren wir Cypriens Wagen
Und führen, beim Säuseln der Nächte,
Durch liebliches Wellengeflechte,
Unsichtbar dem neuen Geschlechte,
Die lieblichste Tochter heran.
Wir leise Geschäftigen scheuen
Weder Adler noch geflügelten Leuen,
Weder Kreuz noch Mond,
Wie es oben wohnt und thront,
Sich wechselnd wegt und regt,
Sich vertreibt und totschlägt,
Saaten und Städte niederlegt.
Wir, so fortan,
Bringen die lieblichste Herrin heran.

SIRENEN:
Leicht bewegt, in mäßiger Eile,
Um den Wagen, Kreis um Kreis,
Bald verschlungen Zeil‘ an Zeile,
Schlangenartig reihenweis,
Naht euch, rüstige Nereiden,
Derbe Fraun, gefällig wild,
Bringet, zärtliche Doriden,
Galateen, der Mutter Bild:
Ernst, den Göttern gleich zu schauen,
Würdiger Unsterblichkeit,
Doch wie holde Menschenfrauen
Lockender Anmutigkeit.

DORIDEN:
Leih uns, Luna, Licht und Schatten,
Klarheit diesem Jugendflor!
Denn wir zeigen liebe Gatten
Unserm Vater bittend vor.
Knaben sind’s, die wir gerettet
Aus der Brandung grimmem Zahn,
Sie, auf Schilf und Moos gebettet,
Aufgewärmt zum Licht heran,
Die es nun mit heißen Küssen
Treulich uns verdanken müssen;
Schau die Holden günstig an!

NEREUS:
Hoch ist der Doppelgewinn zu schätzen:
Barmherzig sein, und sich zugleich ergetzen.

DORIDEN:
Lobst du, Vater, unser Walten,
Gönnst uns wohlerworbene Lust,
Laß uns fest, unsterblich halten
Sie an ewiger Jungendbrust.

NEREUS:
Mögt euch des schönen Fanges freuen,
Den Jüngling bildet euch als Mann;
Allein ich könnte nicht verleihen,
Was Zeus allein gewähren kann.
Die Welle, die euch wogt und schaukelt,
Läßt auch der Liebe nicht Bestand,
Und hat die Neigung ausgegaukelt,
So setzt gemächlich sie ans Land.

DORIDEN:
Ihr, holde Knaben, seid uns wert,
Doch müssen wir traurig scheiden;
Wir haben ewige Treue begehrt,
Die Götter wollen’s nicht leiden.

DIE JÜNGLINGE:
Wenn ihr uns nur so ferner labt,
Uns wackre Schifferknaben;
Wir haben’s nie so gut gehabt
Und wollen’s nicht besser haben.

NEREUS:
Du bist es, mein Liebchen! +

GALATEE:
O Vater! das Glück!
Delphine, verweilet! mich fesselt der Blick.

NEREUS:
Vorüber schon, sie ziehen vorüber
In kreisenden Schwunges Bewegung;
Was kümmert sie die innre herzliche Regung!
Ach, nähmen sie mich mit hinüber!
Doch ein einziger Blick ergetzt,
Daß er das ganze Jahr ersetzt,

THALES:
Heil! Heil! aufs neue!
Wie ich mich blühend freue,
Vom Schönen, Wahren durchdrungen…
Alles ist aus dem Wasser entsprungen!!
Alles wird durch das Wasser erhalten!
Ozean, gönn uns dein ewiges Walten.
Wenn du nicht Wolken sendetest,
Nicht reiche Bäche spendetest,
Hin und her nicht Flüsse wendetest,
Die Ströme nicht vollendetest,
Was wären Gebirge, was Ebnen und Welt?
Du bist’s der das frischeste Leben erhält.

ECHO:
Du bist’s, dem das frischeste Leben entquellt.

NEREUS:
Sie kehren schwankend fern zurück,
Bringen nicht mehr Blick zu Blick;
In gedehnten Kettenkreisen,
Sich festgemäß zu erweisen,
Windet sich die unzählige Schar.
Aber Galateas Muschelthron
Seh‘ ich schon und aber schon.
Er glänzt wie ein stern
Durch die Menge.
Geliebtes leuchtet durchs Gedränge!
Auch noch so fern
Schimmert’s hell und klar,
Immer nah und wahr.

HOMUNCULUS:
In dieser holden Feuchte
Was ich auch hier beleuchte,
Ist alles reizend schön.

PROTEUS:
In dieser Lebensfeuchte
Erglänzt erst deine Leuchte
Mit herrlichem Getön.

NEREUS:
Welch neues Geheimnis in Mitte der Scharen
Will unseren Augen sich offengebaren?
Was flammt um die Muschel, um Galatees Füße?
Bald lodert es mächtig, bald lieblich, bald süße,
Als wär‘ es von Pulsen der Liebe gerührt.

THALES:
Homunculus ist es, von Proteus verführt…
Es sind die Symptome des herrischen Sehnens,
Mir ahnet das ächzen beängsteten Dröhnens;
Er wird sich zerschellen am glänzenden Thron;
Jetzt flammt es, nun blitzt es, ergießet sich schon.

SIRENEN:
Welch feuriges Wunder verklärt uns die Wellen,
Die gegeneinander sich funkelnd zerschellen?
So leuchtet’s und schwanket und hellet hinan:
Die Körper, sie glühen auf nächtlicher Bahn,
Und ringsum ist alles vom Feuer umronnen;
So herrsche denn Eros, der alles begonnen!
Heil dem Meere! Heil den Wogen,
Von dem heilgen Feuer umzogen!
Heil dem Wasser! Heil dem Feuer!
Heil dem seltnen Abenteuer!

ALL-ALLE:
Heil den mildgewogenen Lüften!
Heil geheimnisreichen Grüften!
Hochgefeiert seid allhier,
Element‘ ihr alle vier!

Vor dem Palaste des Menelas zu Sparta

 

HELENA:
Bewundert viel und viel gescholten, Helena,
Vom Strande komm‘ ich, wo wir erst gelandet sind,
Noch immer trunken von des Gewoges regsamem
Geschaukel, das vom phrygischen Blachgefild uns her
Auf sträubig-hohem Rücken, durch Poseidons Gunst
Und Euros‘ Kraft, in vaterländische Buchten trug.
Dort unten freuet nun der König Menelas
Der Rückkehr samt den tapfersten seiner Krieger sich.
Du aber heiße mich willkommen, hohes Haus,
Das Tyndareos, mein Vater, nah dem Hange sich
Von Pallas‘ Hügel wiederkehrend aufgebaut
Und, als ich hier mit Klytämnestren schwesterlich,
Mit Kastor auch und Pollux fröhlich spielend wuchs,
Vor allen Häusern Spartas herrlich ausgeschmückt.
Gegrüßet seid mir, der ehrnen Pforte Flügel ihr!
Durch euer gastlich ladendes Weit-Eröffnen einst
Geschah’s, daß mir, erwählt aus vielen, Menelas
In Bräutigamsgestalt entgegenleuchtete.
Eröffnet mir sie wieder, daß ich ein Eilgebot
Des Königs treu erfülle, wie der Gattin ziemt.
Laßt mich hinein! und alles bleibe hinter mir,
Was mich umstrürmte bis hieher, verhängnisvoll.
Denn seit ich diese Schwelle sorgenlos verließ,
Cytherens Tempel besuchend, heiliger Pflicht gemäß,
Mich aber dort ein Räuber griff, der phrygische,
Ist viel geschehen, was die Menschen weit und breit
So gern erzählen, aber der nicht gerne hört,
Von dem die Sage wachsend sich zum Märchen spann.

CHOR:
Verschmähe nicht, o herrliche Frau,
Des höchsten Gutes Ehrenbesitz!
Denn das größte Glück ist dir einzig beschert,
Der Schönheit Ruhm, der vor allen sich hebt.
Dem Helden tönt sein Name voran,
Drum schreitet er stolz;
Doch beugt sogleich hartnäckigster Mann
Vor der allbezwingenden Schöne den Sinn.

HELENA:
Genug! mit meinem Gatten bin ich hergeschifft
Und nun von ihm zu seiner Stadt voraugesandt;
Doch welchen Sinn er hegen mag, errat‘ ich nicht.
Komm‘ ich als Gattin? komm‘ ich eine Königin?
Komm‘ ich ein Opfer für des Fürsten bittern Schmerz
Und für der Griechen lang‘ erduldetes Mißgeschick?
Erobert bin ich; ob gefangen, weiß ich nicht!
Denn Ruf und Schicksal bestimmten füwahr die Unsterblichen
Zweideutig mir, der Schöngestalt bedenkliche
Begleiter, die an dieser Schwelle mir sogar
Mit düster drohender Gegenwart zur Seite stehn.
Denn schon im hohlen Schiffe blickte mich der Gemahl
Nur selten an, auch sprach er kein erquicklich Wort.
Als wenn er Unheil sänne, saß er gegen mir.
Nun aber, als des Eurotas tiefem Buchtgestad
Hinangefahren der vordern Schiffe Schnäbel kaum
Das Land begrüßten, sprach er, wie vom Gott bewegt:
„Hier steigen meine Krieger nach der Ordnung aus,
Ich mustere sie, am Strand des Meeres hingereiht;
Du aber ziehe weiter, ziehe des heiligen
Eurotas fruchtbegabtem Ufer immer auf,
Die Rosse lenkend auf der feuchten Wiese Schmuck,
Bis daß zur schönen Ebene du gelangen magst,
Wo Lakedämon, einst ein fruchtbar weites Feld,
Von ernsten Bergen nah umgeben, angebaut.
Betrete dann das hochgetürmte Fürstenhaus
Und mustere mir die Mägde, die ich dort zurück
Gelassen, samt der klugen alten Schaffnerin.
Die zeige dir der Schätze reiche Sammlung vor,
Wie sie dein Vater hinterließ und die ich selbst
In Krieg und Frieden, stets vermehrend, aufgehäuft.
Du findest alles nach der Ordnung stehen; denn
Das ist des Fürsten Vorrecht, daß er alles treu
In seinem Hause, wiederkehrend, finde, noch
An seinem Platze jedes, wie er’s dort verließ.
Denn nichts zu ändern hat für sich der Knecht Gewalt.“

CHOR:
Erquicke nun am herrlichen Schatz,
Dem stets vermehrten, Augen und Brust!
Denn der Kette Zier, der Krone Geschmuck,
Da ruhn sie stolz, und sie dünken sich was;
Doch tritt nur ein und fordre sie auf,
Sie rüsten sich schnell.
Mich freuet, zu sehn Schönheit in dem Kampf
Gegen Gold und Perlen und Edelgestein.

HELENA:
Sodann erfolgte des Herren ferneres Herrscherwort:
„Wenn du nun alles nach der Ordnung durchgesehn,
Dann nimm so manchen Dreifuß, als du nötig glaubst,
Und mancherlei Gefäße, die der Opfer sich
Zur Hand verlangt, vollziehend heiligen Festgebrauch.
Die Kessel, auch die Schalen, wie das flache Rund;
Das reinste Wasser aus der heiligen Quelle sei
In hohen Krügen; ferner auch das trockne Holz,
Der Flammen schnell empfänglich, halte da bereit;
Ein wohlgeschliffnes Messer fehle nicht zuletzt;
Doch alles andre geb‘ ich deiner Sorge hin.“
So sprach er, mich zum Scheiden drängend; aber nichts
Lebendigen Atems zeichnet mir der Ordnende,
Das er, die Olympier zu verehren, schlachten will.
Bedenklich ist es; doch ich sorge weiter nicht,
Und alles bleibe hohen Göttern heimgestellt,
Die das vollenden, was in ihrem Sinn sie deucht,
Es möge gut von Menschen oder möge bös
Geachtet sein; die Sterblichen, wir ertragen das.
Schon manchmal hob das schwere Beil der Opfernde
Zu des erdgebeugten Tieres Nacken weihend auf
Und konnt‘ es nicht vollbringen, denn ihn hinderte
Des nahen Feindes oder Gottes Zwischenkunft.

CHOR:
Was geschehen werde, sinnst du nicht aus;
Königin, schreite dahin
Guten Muts!
Gutes und Böses kommt
Unerwartet dem Menschen;
Auch verkündet, glauben wir’s nicht.
Brannte doch Troja, sahen wir doch
Tod vor Augen, schmählichen Tod;
Und sind wir nicht hier
Dir gesellt, dienstbar freudig,
Schauen des Himmels blendende Sonne
Und das Schönste der Erde
Huldvoll, dich, uns Glücklichen?

HELENA:
Sei’s wie es sei! Was auch bevorsteht, mir geziemt,
Hinaufzusteigen ungesäumt in das Königshaus,
Das, lang‘ entbehrt und viel ersehnt und fast verscherzt,
Mir abermals vor Augen steht, ich weiß nicht wie.
Die Füße tragen mich so mutig nicht empor
Die hohen Stufen, die ich kindisch übersprang.

CHOR:
Werfet, o Schwestern, ihr
Traurig gefangenen,
Alle Schmerzen ins Weite;
Teilet der Herrin Glück,
Teilet Helenens Glück,
Welche zu Vaterhauses Herd,
Zwar mit spät zurückkehrendem,
Aber mit desto festerem
Fuße freudig herannaht.
Preiset die heiligen,
Glücklich herstellenden
Und heimführenden Götter!
Schwebt der Entbundene
Doch wie auf Fittichen
über das Rauhste, wenn umsonst
Der Gefangene sehnsuchtsvoll
über die Zinne des Kerkers hin
Armausbreitend sich abhärmt.
Aber sie ergriff ein Gott,
Die Entfernte;
Und aus Ilios‘ Schutt
Trug er hierher sie zurück
In das alte, das neugeschmückte
Vaterhaus,
Nach unsäglichen
Freuden und Qualen,
Früher Jugendzeit
Angefrischt zu gedenken.

PANTHALIS:
Verlasset nun des Gesanges freudumgebnen Pfad
Und wendet nach der Türe Flügeln euren Blick!
Was seh‘ ich, Schwestern? Kehret nicht die Königin
Mit heftigen Schrittes Regung wieder zu uns her?
Was ist es, große Königin, was konnte dir
In deines Hauses Hallen, statt der Deinen Gruß,
Erschütterndes begegnen? Du verbirgst es nicht;
Denn Widerwillen seh‘ ich an der Stirne dir,
Ein edles Zürnen, das mit überraschung kämpft.

HELENA:
Der Tochter Zeus‘ geziemet nicht gemeine Furcht,
Und flüchtig-leise Schreckenshand berührt sie nicht;
Doch das Entsetzen, das, dem Schoß der alten Nacht
Von Urbeginn entsteigend, vielgestaltet noch
Wie glühende Wolken aus des Berges Feuerschlund
Herauf sich wälzt, erschüttert auch des Helden Brust.
So haben heute grauenvoll die Stygischen
Ins Haus den Eintritt mir bezeichnet, daß ich gern
Von oft betretner, langersehnter Schwelle mich,
Entlaßnem Gaste gleich, entfernend scheiden mag.
Doch nein! gewichen bin ich her ans Licht, und sollt
Ihr weiter nicht mich treiben, Mächte, wer ihr seid.
Auf Weihe will ich sinnen, dann gereinigt mag
Des Herdes Glut die Frau begrüßen wie den Herrn.

CHORFÜHRERIN:
Entdecke deinen Dienerinnen, edle Frau,
Die dir verehrend beistehn, was begegnet ist.

HELENA:
Was ich gesehen, sollt ihr selbst mit Augen sehn,
Wenn ihr Gebilde nicht die alte Nacht sogleich
Zurückgeschlungen in ihrer Tiefe Wunderschoß.
Doch daß ihr’s wisset, sag‘ ich’s euch mit Worten an:
Als ich des Königshauses ernsten Binnenraum,
Der nächsten Pflicht gedenkend, feierlich betrat,
Erstaunt‘ ich ob der öden Gänge Schweigsamkeit,
Nicht Schall der emsig Wandelnden begegnete
Dem Ohr, nicht raschgeschäftiges Eiligtun dem Blick,
Und keine Magd erschien mir, keine Schaffnerin,
Die jeden Fremden freundlich sonst begrüßenden.
Als aber ich dem Schoße des Herdes mich genaht,
Da sah ich, bei verglommner Asche lauem Rest,
Am Boden sitzen welch verhülltes großes Weib,
Der Schlafenden nicht vergleichbar, wohl der Sinnenden.
Mit Herrscherworten ruf‘ ich sie zur Arbeit auf,
Die Schaffnerin mir vermutend, die indes vielleicht
Des Gatten Vorsicht hinterlassend angestellt;
Doch eingefaltet sitzt die Unbewegliche;
Nur endlich rührt sie auf mein Dräun den rechten Arm,
Als wiese sie von Herd und Halle mich hinweg.
Ich wende zürnend mich ab von ihr und eile gleich
Den Stufen zu, worauf empor der Thalamos
Geschmückt sich hebt und nah daran das Schatzgemach;
Allein das Wunder reißt sich schnell vom Boden auf,
Gebietrisch mir den Weg vertretend, zeigt es sich
In hagrer Größe, hohlen, blutig-trüben Blicks,
Seltsamer Bildung, wie sie Aug‘ und Geist verwirrt.
Doch red‘ ich in die Lüfte; denn das Wort bemüht
Sich nur umsonst, Gestalten schöpferisch aufzubaun.
Da seht sie selbst! sie wagt sogar sich ans Licht hervor!
Hier sind wir Meister, bis der Herr und König kommt.
Die grausen Nachtgeburten drängt der Schönheitsfreund
Phöbus hinweg in Höhlen, oder bändigt sie.

CHOR:
Vieles erlebt‘ ich, obgleich die Locke
Jugendlich wallet mir um die Schläfe!
Schreckliches hab‘ ich vieles gesehen,
Kriegrischen Jammer, Ilios‘ Nacht,
Als es fiel.
Durch das umwölkte, staubende Tosen
Drängender Krieger hört‘ ich die Götter
Fürchterlich rufen, hört‘ ich der Zwietracht
Eherne Stimme schallen durchs Feld,
Mauerwärts.
Ach! sie standen noch, Ilios‘
Mauern, aber die Flammenglut
Zog vom Nachbar zum Nachbar schon,
Sich verbreitend von hier und dort
Mit des eignen Sturmes Wehn
über die nächtliche Stadt hin.
Flüchtend sah ich durch Rauch und Glut
Und der züngelnden Flamme Loh’n
Gräßlich zürnender Götter Nahn,
Schreitend Wundergestalten
Riesengroß, durch düsteren
Feuerumleuchteten Qualm hin.
Sah ich’s, oder bildete
Mir der angstumschlungene Geist
Solches Verworrene? sagen kann
Nimmer ich’s, doch daß ich dies
Gräßliche hier mit Augen schau‘,
Solches gewiß ja weiß ich;
Könnt‘ es mit Händen fassen gar,
Hielte von dem Gefährlichen
Nicht zurücke die Furcht mich.
Welche von Phorkys‘
Töchtern nur bist du?
Denn ich vergleiche dich
Diesem Geschlechte.
Bist du vielleicht der graugebornen,
Eines Auges und eines Zahns
Wechselsweis teilhaftigen
Graien eine gekommen?
Wagest du Scheusal
Neben der Schönheit
Dich vor dem Kennerblick
Phöbus‘ zu zeigen?
Tritt du dennoch hervor nur immer;
Denn das Häßliche schaut er nicht,
Wie sein heilig Auge noch
Nie erblickte den Schatten.
Doch uns Sterbliche nötigt, ach,
Leider trauriges Mißgeschick
Zu dem unsäglichen Augenschmerz,
Den das Verwerfliche, Ewig-Unselige
Schönheitliebenden rege macht.
Ja, so höre denn, wenn du frech
Uns entgegenest, höre Fluch,
Höre jeglicher Schelte Drohn
Aus dem verwünschenden Munde der Glücklichen,
Die von Göttern gebildet sind.

PHORKYAS:
Alt ist das Wort, doch bleibet hoch und wahr der Sinn,
Daß Scham und Schönheit nie zusammen, Hand in Hand,
Den Weg verfolgen über der Erde grünen Pfad.
Tief eingewurzelt wohnt in beiden alter Haß,
Daß, wo sie immer irgend auch des Weges sich
Begegnen, jede der Gernerin den Rücken kehrt.
Dann eilet jede wieder heftiger, weiter fort,
Die Scham betrübt, die Schönheit aber frech gesinnt,
Bis sie zuletzt des Orkus hohle Nacht umfängt,
Wenn nicht das Alter sie vorher gebändigt hat.
Euch find‘ ich nun, ihr Frechen, aus der Fremde her
Mit übermut ergossen, gleich der Kraniche
Laut-heiser klingendem Zug, der über unser Haupt,
In langer Wolke, krächzend sein Getön herab
Schickt, das den stillen Wandrer über sich hinauf
Zu blicken lockt; doch ziehn sie ihren Weg dahin,
Er geht den seinen; also wird’s mit uns geschehn.
Wer seid denn ihr, daß ihr des Königes Hochpalast
Mänadisch wild, Betrunknen gleich, umtoben dürft?
Wer seid ihr denn, daß ihr des Hauses Schaffnerin
Entgegenheulet, wie dem Mond der Hunde Schar?
Wähnt ihr, verborgen sei mir, welch Geschlecht ihr seid,
Du kriegerzeugte, schlachterzogne junge Brut?
Mannlustige du, so wie verführt verführende,
Entnervend beide, Kriegers auch und Bürgers Kraft!
Zu Hauf euch sehend, scheint mir ein Zikadenschwarm
Herabzustürzen, deckend grüne Feldersaat.
Verzehrerinnen fremden Fleißes! Naschende
Vernichterinnen aufgekeimten Wohlstands ihr!
Erobert‘, marktverkauft‘, vertauschte Ware du!

HELENA:
Wer gegenwarts der Frau die Dienerinnen schilt,
Der Gebietrin Hausrecht tastet er vermessen an;
Denn ihr gebührt allein, das Lobenswürdige
Zu rühmen, wie zu strafen, was verwerflich ist.
Auch bin des Dienstes ich wohl zufrieden, den sie mir
Geleistet, als die hohe Kraft von Ilios
Umlagert stand und fiel und lag; nicht weniger,
Als wir der Irrfahrt kummervolle Wechselnot
Ertrugen, wo sonst jeder sich der Nächste bleibt.
Auch hier erwart‘ ich Gleiches von der muntern Schar;
Nicht, was der Knecht sei, fragt der Herr, nur, wie er dient.
Drum schweige du und grinse sie nicht länger an.
Hast du das Haus des Königs wohl verwahrt bisher
Anstatt der Hausfrau, solches dient zum Ruhme dir;
Doch jetzo kommt sie selber, tritt nun du zurück,
Damit nicht Strafe werde statt verdienten Lohns.

PHORKYAS:
Den Hausgenossen drohen bleibt ein großes Recht,
Das gottbeglückten Herrschers hohe Gattin sich
Durch langer Jahre weise Leitung wohl verdient.
Da du, nun Anerkannte, neu den alten Platz
Der Königin und Hausfrau wiederum betrittst,
So fasse längst erschlaffte Zügel, herrsche nun,
Nimm in Besitz den Schatz und sämtlich uns dazu.
Vor allem aber schütze mich, die ältere,
Vor dieser Schar, die neben deiner Schönheit Schwan
Nur schlecht befitticht‘, schnatterhafte Gänse sind.

CHORFÜHRERIN:
Wie häßlich neben Schönheit zeigt sich Häßlichkeit.

PHORKYAS:
Wie unverständig neben Klugheit Unverstand.

CHORETIDE 1:
Von Vater Erebus melde, melde von Mutter Nacht.

PHORKYAS:
So sprich von Scylla, leiblich dir Geschwisterkind.

CHORETIDE 2:
An deinem Stammbaum steigt manch Ungeheur empor.

PHORKYAS:
Zum Orkus hin! da suche deine Sippschaft auf.

CHORETIDE 3:
Die dorten wohnen, sind dir alle viel zu jung.

PHORKYAS:
Tiresias, den Alten, gehe buhlend an.

CHORETIDE 4:
Orions Amme war dir Ur-Urenkelin.

PHORKYAS:
Harpyen, wähn‘ ich, fütterten dich im Unflat auf.

CHORETIDE 5:
Mit was ernährst du so gepflegte Magerkeit?

PHORKYAS:
Mit Blute nicht, wonach du allzulüstern bist.

CHORETIDE 6:
Begierig du auf Leichen, ekle Leiche selbst!

PHORKYAS:
Vampyren-Zähne glänzen dir im frechen Maul.

CHORFÜHRERIN:
Das deine stopf‘ ich, wenn ich sage, wer du seist.

PHORKYAS:
So nenne dich zuerst; das Rätsel hebt sich auf.

HELENA:
Nicht zürnend, aber traurend schreit‘ ich zwischen euch,
Verbietend solchen Wechselstreites Ungestüm!
Denn Schädlicheres begegnet nichts dem Herrscherherrn
Als treuer Diener heimlich unterschworner Zwist.
Das Echo seiner Befehle kehrt alsdann nicht mehr
In schnell vollbrachter Tat wohlstimmig ihm zurück,
Nein, eigenwillig brausend tost es um ihn her,
Den selbstverirrten, ins Vergebne scheltenden.
Dies nicht allein. Ihr habt in sittelosem Zorn
Unsel’ger Bilder Schreckgestalten hergebannt,
Die mich umdrängen, daß ich selbst zum Orkus mich
Gerissen fühle, vaterländ’scher Flur zum Trutz.
Ist’s wohl Gedächtnis? war es Wahn, der mich ergreift?
War ich das alles? Bin ich’s? Werd‘ ich’s künftig sein,
Das Traum- und Schreckbild jener Städteverwüstenden?
Die Mädchen schaudern, aber du, die älteste,
Du stehst gelassen; rede mir verständig Wort.

PHORKYAS:
Wer langer Jahre mannigfaltigen Glücks gedenkt,
Ihm scheint zuletzt die höchste Göttergunst ein Traum.
Du aber, hochbegünstigt sonder Maß und Ziel,
In Lebensreihe sahst nur Liebesbrünstige,
Entzündet rasch zum kühnsten Wagstück jeder Art.
Schon Theseus haschte früh dich, gierig aufgeregt,
Wie Herakles stark, ein herrlich schön geformter Mann.

HELENA:
Entführte mich, ein zehenjährig schlankes Reh,
Und mich umschloß Aphidnus‘ Burg in Attika.

PHORKYAS:
Durch Kastor und durch Pollux aber bald befreit,
Umworben standst du ausgesuchter Heldenschar.

HELENA:
Doch stille Gunst vor allen, wie ich gern gesteh‘,
Gewann Patroklus, er, des Peliden Ebenbild.

PHORKYAS:
Doch Vaterwille traute dich an Menelas,
Den kühnen Seedurchstreicher, Hausbewahrer auch.

HELENA:
Die Tochter gab er, gab des Reichs Bestellung ihm.
Aus ehlichem Beisein sproßte dann Hermione.

PHORKYAS:
Doch als er fern sich Kretas Erbe kühn erstritt,
Dir Einsamen da erschien ein allzuschöner Gast.

HELENA:
Warum gedenkst du jener halben Witwenschaft,
Und welch Verderben gräßlich mir daraus erwuchs?

PHORKYAS:
Auch jene Fahrt, mir freigebornen Kreterin
Gefangenschaft erschuf sie, lange Sklaverei.

HELENA:
Als Schaffnerin bestellt‘ er dich sogleich hieher,
Vertrauend vieles, Burg und kühn erworbnen Schatz.

PHORKYAS:
Die du verließest, Ilios‘ umtürmter Stadt
Und unerschöpften Liebesfreuden zugewandt.

HELENA:
Gedenke nicht der Freuden! allzuherben Leids
Unendlichkeit ergoß sich über Brust und Haupt.

PHORKYAS:
Doch sagt man, du erschienst ein doppelhaft Gebild,
In Ilios gesehen und in ägypten auch.

HELENA:
Verwirre wüsten Sinnes Aberwitz nicht gar.
Selbst jetzo, welche denn ich sei, ich weiß es nicht.

PHORKYAS:
Dann sagen sie: aus hohlem Schattenreich herauf
Gesellte sich inbrünstig noch Achill zu dir!
Dich früher liebend gegen allen Geschicks Beschluß.

HELENA:
Ich als Idol, ihm dem Idol verband ich mich.
Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst.
Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol.

CHOR:
Schweige, schweige!
Mißblickende, Mißredende du!
Aus so gräßlichen einzahnigen
Lippen, was enthaucht wohl
Solchem furchtbaren Greuelschlund!
Denn der Bösartige, wohltätig erscheinend,
Wolfesgrimm unter schafwolligem Vlies,
Mir ist er weit schrecklicher als des drei-+
köpfigen/ Hundes Rachen.
ängstlich lauschend stehn wir da:
Wann? wie? wo nur bricht’s hervor,
Solcher Tücke
Tiefauflauerndes Ungetüm?
Nun denn, statt freundlich mit Trost reich begabten,
Letheschenkenden, holdmildesten Worts
Regest du auf aller Vergangenheit
Bösestes mehr denn Gutes
Und verdüsterst allzugleich
Mit dem Glanz der Gegenwart
Auch der Zukunft
Mild aufschimmerndes Hoffnungslicht.
Schweige, schweige!
Daß der Königin Seele,
Schon zu entfliehen bereit,
Sich noch halte, festhalte
Die Gestalt aller Gestalten,
Welche die Sonne jemals beschien.

PHORKYAS:
Tritt hervor aus flüchtigen Wolken, hohe Sonne dieses Tags,
Die verschleiert schon entzückte, blendend nun im Glanze herrscht.
Wie die Welt sich dir entfaltet, schaust du selbst mit holdem Blick.
Schelten sie mich auch für häßlich, kenn‘ ich doch das Schöne wohl.

HELENA:
Tret‘ ich schwankend aus der öde, die im Schwindel mich umgab,
Pflegt‘ ich gern der Ruhe wieder, denn so müd‘ ist mein Gebein:
Doch es ziemet Königinnen, allen Menschen ziemt es wohl,
Sich zu fassen, zu ermannen, was auch drohend überrascht.

PHORKYAS:
Stehst du nun in deiner Großheit, deiner Schöne vor uns da,
Sagt dein Blick, daß du befiehlest; was befiehlst du? sprich es aus.

HELENA:
Eures Haders frech Versäumnis auszugleichen, seid bereit;
Eilt, ein Opfer zu bestellen, wie der König mir gebot.

PHORKYAS:
Alles ist bereit im Hause, Schale, Dreifuß, scharfes Beil,
Zum Besprengen, zum Beräuchern; das zu Opfernde zeig‘ an!

HELENA:
Nicht bezeichnet‘ es der König. +

PHORKYAS:
Sprach’s nicht aus? O Jammerwort!

HELENA:
Welch ein Jammer überfällt dich? +

PHORKYAS:
Königin, du bist gemeint!

HELENA:
Ich? +

PHORKYAS:
Und diese. +

CHOR:
Weh und Jammer! +

PHORKYAS:
Fallen wirst du durch das Beil.

HELENA:
Gräßlich doch geahnt; ich Arme! +

PHORKYAS:
Unvermeidlich scheint es mir.

CHOR:
Ach! Und uns? + was wird begegnen?

PHORKYAS:
Sie stirbt einen edlen Tod;
Doch am hohen Balken drinnen, der des Daches Giebel trägt,
Wie im Vogelfang die Drosseln, zappelt ihr der Reihe nach.

PHORKYAS:
Gespenster!–Gleich erstarrten Bildern steht ihr da,
Geschreckt, vom Tag zu scheiden, der euch nicht gehört.
Die Menschen, die Gespenster sämtlich gleich wie ihr,
Entsagen auch nicht willig hehrem Sonnenschein;
Doch bittet oder rettet niemand sie vom Schluß;
Sie wissen’s alle, wenigen doch gefällt es nur.
Genug, ihr seid verloren! Also frisch ans Werk.
Herbei, du düstres, kugelrundes Ungetüm!
Wälzt euch hieher, zu schaden gibt es hier nach Lust.
Dem Tragaltar, dem goldgehörnten, gebet Platz,
Das Beil, es liege blinkend über dem Silberrand,
Die Wasserkrüge füllet, abzuwaschen gibt’s
Des schwarzen Blutes greuelvolle Besudelung.
Den Teppich breitet köstlich hier am Staube hin,
Damit das Opfer niederkniee königlich
Und eingewickelt, zwar getrennten Haupts sogleich,
Anständig würdig aber doch bestattet sei.

CHORFÜHRERIN:
Die Königin stehet sinnend an der Seite hier,
Die Mädchen welken gleich gemähtem Wiesengras;
Mir aber deucht, der ältesten, heiliger Pflicht gemäß,
Mit dir das Wort zu wechseln, Ur-Urälteste.
Du bist erfahren, weise, scheinst uns gut gesinnt,
Obschon verkennend hirnlos diese Schar dich traf.
Drum sage, was du möglich noch von Rettung weißt.

PHORKYAS:
Ist leicht gesagt: von der Königin hängt allein es ab,
Sich selbst zu erhalten, euch Zugaben auch mit ihr.
Entschlossenheit ist nötig und die behendeste.

CHOR:
Ehrenwürdigste der Parzen, weiseste Sibylle du,
Halte gesperrt die goldene Schere, dann verkünd‘ uns Tag und Heil;
Denn wir fühlen schon im Schweben, Schwanken, Bammeln unergetzlich
Unsere Gliederchen, die lieber erst im Tanze sich ergetzten,
Ruhten drauf an Liebchens Brust.

HELENA:
Laß diese bangen! Schmerz empfind‘ ich, keine Furcht;
Doch kennst du Rettung, dankbar sei sie anerkannt.
Dem Klungen, Weitumsichtigen zeigt fürwahr sich oft
Unmögliches noch als möglich. Sprich und sag‘ es an.

CHOR:
Sprich und sage, sag uns eilig: wie entrinnen wir den grausen,
Garstigen Schlingen, die bedrohlich, als die schlechtesten Geschmeide,
Sich um unsre Hälse ziehen? Vorempfinden wir’s, die Armen,
Zum Entatmen, zum Ersticken, wenn du, Rhea, aller Götter
Hohe Mutter, dich nicht erbarmst.

PHORKYAS:
Habt ihr Geduld, des Vortrags langgedehnten Zug
Still anzuhören? Mancherlei Geschichten sind’s.

CHOR:
Geduld genug! Zuhörend leben wir indes.

PHORKYAS:
Dem, der zu Hause verharrend edlen Schatz bewahrt
Und hoher Wohnung Mauern auszukitten weiß,
Wie auch das Dach zu sichern vor des Regens Drang,
Dem wird es wohlgehn lange Lebenstage durch;
Wer aber seiner Schwelle heilige Richte leicht
Mit flüchtigen Sohlen überschreitet freventlich,
Der findet wiederkehrend wohl den alten Platz,
Doch umgeändert alles, wo nicht gar zerstört.

HELENA:
Wozu dergleichen wohlbekannte Sprüche hier?
Du willst erzählen; rege nicht an Verdrießliches.

PHORKYAS:
Geschichtlich ist es, ist ein Vorwurf keineswegs.
Raubschiffend ruderte Menelas von Bucht zu Bucht,
Gestad‘ und Inseln, alles streift‘ er feindlich an,
Mit Beute wiederkehrend, wie sie drinnen starrt.
Vor Ilios verbracht‘ er langer Jahre zehn;
Zur Heimfahrt aber weiß ich nicht wie viel es war.
Allein wie steht es hier am Platz um Tyndareos‘
Erhabnes Haus? wie stehet es mit dem Reich umher?

HELENA:
Ist dir denn so das Schelten gänzlich einverleibt,
Daß ohne Tadeln du keine Lippe regen kannst?

PHORKYAS:
So viele Jahre stand verlassen das Talgebrig,
Das hinter Sparta nordwärts in die Höhe steigt,
Taygetos im Rücken, wo als muntrer Bach
Herab Eurotas rollt und dann, durch unser Tal
An Rohren breit hinfließend, eure sChwäne nährt.
Dort hinten still im Gebirgtal hat ein kühn Geschlecht
Sich angesiedelt, dringend aus cimmerischer Nacht,
Und unersteiglich feste Burg sich aufgetürmt,
Von da sie Land und Leute placken, wie’s behagt.

HELENA:
Das konnten sie vollführen? Ganz unmöglich scheint’s.

PHORKYAS:
Sie hatten Zeit, vielleicht an zwanzig Jahre sind’s.

HELENA:
Ist einer Herr? sind’s Räuber viel, verbündete?

PHORKYAS:
Nicht Räuber sind es, einer aber ist der Herr.
Ich schelt‘ ihn nicht, und wenn er schon mich heimgesucht.
Wohl konnt‘ er alles nehmen, doch begnügt‘ er sich
Mit wenigen Freigeschenken, nannt‘ er’s, nicht Tribut.

HELENA:
Wie sieht er aus?

PHORKYAS:
Nicht übel! mir gefällt er schon.
Es ist ein munterer, kecker, wohlgebildeter,
Wie unter Griechen wenig‘, ein verständ’ger Mann.
Man schilt das Volk Barbaren, doch ich dächte nicht,
Daß grausam einer wäre, wie vor Ilios
Gar mancher Held sich menschenfresserisch erwies.
Ich acht‘ auf seine Großheit, ihm vertraut‘ ich mich.
Und seine Burg! die solltet ihr mit Augen sehn!
Das ist was anderes gegen plumpes Mauerwerk,
Das eure Väter, mir nichts dir nichts, aufgewälzt,
Zyklopisch wie Zyklopen, rohen Stein sogleich
Auf rohe Steine stürzend; dort hingegen, dort
Ist alles senk- und waagerecht und regelhaft.
Von außen schaut sie! himmelan sie strebt empor,
So starr, so wohl in Fugen, spiegelglatt wie Stahl.
Zu klettern hier–ja selbst der Gedanke gleitet ab.
Und innen großer Höfe Raumgelasse, rings
Mit Baulichkeit umgeben, aller Art und Zweck.
Da seht ihr Säulen, Säulchen, Bogen, Bögelchen,
Altane, Galerien, zu schauen aus und ein,
Und Wappen.

CHOR:
Was sind Wappen?

PHORKYAS:
Ajax führte ja
Geschlungene Schlang‘ im Schilde, wie ihr selbst gesehn.
Die Sieben dort vor Theben trugen Bildnerein
Ein jeder auf seinem Schilde, reich bedeutungsvoll.
Da sah man Mond und Stern‘ am nächtigen Himmelsraum,
Auch Göttin, Held und Leiter, Schwerter, Fackeln auch,
Und was Bedrängliches guten Städten grimmig droht.
Ein solch Gebilde führt auch unsre Heldenschar
Von seinen Ur-Urahnen her in Farbenglanz.
Da seht ihr Löwen, Adler, Klau‘ und Schnabel auch,
Dann Büffelhörner, Flügel, Rosen, Pfauenschweif,
Auch Streifen, gold und schwarz und silbern, blau und rot.
Dergleichen hängt in Sälen Reih‘ an Reihe fort.
In Sälen, grenzenlosen, wie die Welt so weit;
Da könnt ihr tanzen!

CHOR:
Sage, gibt’s auch Tänzer da?

PHORKYAS:
Die besten! goldgelockte, frische Bubenschar.
Die duften Jugend! Paris duftete einzig so,
Als er der Königin zu nahe kam.

HELENA:
Du fällst
Ganz aus der Rolle; sage mir das letzte Wort!

PHORKYAS:
Du sprichst das letzte, sagst mit Ernst vernehmlich Ja!
Sogleich umgeb‘ ich dich mit jener Burg.

CHOR:
O sprich
Das kurze Wort und rette dich und uns zugleich!

HELENA:
Wie? sollt‘ ich fürchten, daß der König Menelas
So grausam sich verginge, mich zu schädigen?

PHORKYAS:
Hast du vergessen, wie er deinen Deiphobus,
Des totgekämpften = paris Bruder, unerhört
Verstümmelte, der starrsinnig Witwe dich erstritt
Und glücklich kebste? Nas‘ und Ohren schnitt er ab
Und stümmelte mehr so: Greuel war es anzuschaun.

HELENA:
Das tat er jenem, meinetwegen tat er das.

PHORKYAS:
Um jenes willen wird er dir das gleiche tun.
Unteilbar ist die Schönheit; der sie ganz besaß,
Zerstört sie lieber, fluchend jedem Teilbesitz.
Wie scharf der Trompete Schmettern Ohr und Eingeweid‘
Zerreißend anfaßt, also krallt sich Eifersucht
Im Busen fest des Mannes, der das nie vergißt,
Was einst er besaß und nun verlor, nicht mehr besitzt.

CHOR:
Hörst du nicht die Hörner schallen? siehst der Waffen Blitze nicht?

PHORKYAS:
Sei willkommen, Herr und König, gerne geb‘ ich Rechenschaft.

CHOR:
Aber wir?

PHORKYAS:
Ihr wißt es deutlich, seht vor Augen ihren Tod,
Merkt den eurigen da drinne: nein, zu helfen ist euch nicht.

HELENA:
Ich sann mir aus das Nächste, was ich wagen darf.
Ein Widerdämon bist du, das empfind‘ ich wohl
Und fürchte, Gutes wendest du zum Bösen um.
Vor allem aber folgen will ich dir zur Burg;
Das andre weiß ich; was die Königin dabei
Im tiefen Busen geheimnisvoll verbergen mag,
Sei jedem unzugänglich. Alte, geh voran!

CHOR:
O wie gern gehen wir hin,
Eilenden Fußes;
Hinter uns Tod,
Vor uns abermals
Ragender Feste
Unzugängliche Mauer.
Schütze sie ebenso gut,
Eben wie Ilios‘ Burg,
Die doch endlich nur
Niederträchtiger List erlag.
Wie? aber wie?
Schwestern, schaut euch um!
Was es nicht heiterer Tag?
Nebel schwanken streifig empor
Aus Eurotas‘ heil’ger Flut;
Schon entschwand das liebliche
Schilfumkränzte Gestade dem Blick;
Auch die frei, zierlich-stolz
Sanfthingleitenden Schwäne
In gesell’ger Schwimmlust
Seh‘ ich, ach, nicht mehr!
Doch, aber doch
Tönen hör‘ ich sie,
Tönen fern heiseren Ton!
Tod verkündenden, sagen sie.
Ach daß uns er nur nicht auch,
Statt verheißener Rettung Heil,
Untergang verkünde zuletzt;
Uns, den Schwangleichen, Lang-+
Schön-Weißhalsigen,/ und ach!
Unsrer Schwanerzeugten.
Weh uns, weh, weh!
Alles deckte sich schon
Rings mit Nebel umher.
Sehen wir doch einander nicht!
Was geschieht? gehen wir?
Schweben wir nur
Trippelnden Schrittes am Boden hin?
Siehst du nichts? Schwebt nicht etwa gar
Hermes voran? Blinkt nicht der goldne Stab
Heischend, gebietend uns wieder zurück
Zu dem unerfreulichen, grautagenden,
Ungreifbarer Gebilde vollen,
überfüllten, ewig leeren Hades?
Ja auf einmal wird es düster, ohne Glanz entschwebt der Nebel
Dunkelgräulich, mauerbräunlich. Mauern stellen sich dem Blicke,
Freiem Blicke starr entgegen. Ist’s ein Hof? ist’s tiefe Grube?
Schauerlich in jedem Falle! Schwestern, ach! wir sind gefangen,
So gefangen wie nur je.

Innerer Burghof

CHORFÜHRERIN:
Vorschnell und töricht, echt wahrhaftes Weibsgebild!
Vom Augenblick abhängig, Spiel der Witterung,
Des Glücks und Unglücks! Keins von beiden wißt ihr je
Zu bestehn mit Gleichmut. Eine widerspricht ja stets
Der andern heftig, überquer die andern ihr;
In Freud‘ und Schmerz nur heult und lacht ihr gleichen Tons.
Nun schweigt! und wartet horchend, was die Herrscherin
Hochsinnig hier beschließen mag für sich und uns.

HELENA:
Wo bist du, Pythonissa? heiße, wie du magst;
Aus diesen Gewölben tritt hervor der düstern Burg.
Gingst etwa du, dem wunderbaren Heldenherrn
Mich anzukündigen, Wohlempfang bereitend mir,
So habe Dank und führe schnell mich ein zu ihm;
Beschluß der Irrfahrt wünsch‘ ich. Ruhe wünsch‘ ich nur.

CHORFÜHRERIN:
Vergebens blickst du, Königin, allseits um dich her;
Verschwunden ist das leidige Bild, verblieb vielleicht
Im Nebel dort, aus dessen Busen wir hieher,
Ich weiß nicht wie, gekommen, schnell und sonder Schritt.
Vielleicht auch irrt sie zweifelhaft im Labyrinth
Der wundersam aus vielen einsgewordnen Burg,
Den Herrn erfragend fürstlicher Hochbegrüßung halb.
Doch sieh, dort oben regt in Menge sich allbereits,
In Galerien, am Fenster, in Portalen rasch
Sich hin und her bewegend, viele Dienerschaft;
Vornehm-willkommnen Gastempfang verkündet es.

CHOR:
Aufgeht mir das Herz! o, seht nur dahin,
Wie so sittig herab mit verweilendem Tritt
Jungholdeste Schar anständig bewegt
Den geregelten Zug. Wie! auf wessen Befehl
Nur erscheinen, gereiht und gebildet so früh,
Von Jünglingsknaben das herrliche Volk?
Was bewundr‘ ich zumeist? Ist es zierlicher Gang,
Etwa des Haupts Lockhaar um die blendende Stirn,
Etwa der Wänglein Paar, wie die Pfirsiche rot
Und eben auch so weichwollig beflaumt?
Gern biss‘ ich hinein, doch ich schaudre davor;
Denn in ähnlichem Fall, da erfüllte der Mund
Sich, gräßlich zu sagen! mit Asche.
Aber die schönsten,
Sie kommen daher;
Was tragen sie nur?
Stufen zum Thron,
Teppich und Sitz,
Umhang und zelt-+
Artigen/ Schmuck;
über überwallt er,
Wolkenkränze bildend,
Unsrer Königin Haupt;
Denn schon bestieg sie
Eingeladen herrlichen Pfühl.
Tretet heran,
Stufe für Stufe
Reihet euch ernst.
Würdig, o würdig, dreifach würdig
Sei gesegnet ein solcher Empfang!

CHORFÜHRERIN:
Wenn diesem nicht die Götter, wie sie öfter tun,
Für wenige Zeit nur wundernswürdige Gestalt,
Erhabnen Anstand, liebenswerte Gegenwart
Vorübergänglich liehen, wird ihm jedesmal,
Was er beginnt, gelingen, sei’s in Männerschlacht,
So auch im kleinen Kriege mit den schönsten Fraun.
Er ist fürwahr gar vielen andern vorzuziehn,
Die ich doch auch als hochgeschätzt mit Augen sah.
Mit langsam-ernstem, ehrfurchtsvoll gehaltnem Schritt
Seh‘ ich den Fürsten; wende dich, o Königin!

FAUST:
Statt feierlichsten Grußes, wie sich ziemte,
Statt ehrfurchtsvollem Willkomm bring‘ ich dir
In Ketten hart geschlossen solchen Knecht,
Der, Pflicht verfehlend, mir die Pflicht entwand.
Hier kniee nieder, dieser höchsten Frau
Bekenntnis abzulegen deiner Schuld.
Dies ist, erhabne Herrscherin, der Mann,
Mit seltnem Augenblitz vom hohen Turm
Umherzuschaun bestellt, dort Himmelsraum
Und Erdenbreite scharf zu überspähn,
Was etwa da und dort sich melden mag,
Vom Hügelkreis ins Tal zur festen Burg
Sich regen mag, der Herden Woge sei’s,
Ein Heereszug vielleicht; wir schützen jene,
Begegnen diesem. Heute, welch Versäumnis!
Du kommst heran, er meldet’s nicht; verfehlt
Ist ehrenvoller, schuldigster Empfang
So hohen Gastes. Freventlich verwirkt
Das Leben hat er, läge schon im Blut
Verdienten Todes; doch nur du allein
Bestrafst, begnadigst, wie dir’s wohlgefällt.

HELENA:
So hohe Würde, wie du sie vergönnst,
Als Richterin, als Herrscherin, und wär’s
Versuchend nur, wie ich vermuten darf–
So üb‘ nun des Richters erste Pflicht,
Beschuldigte zu hören. Rede denn.

TURMWÄRTER LYNKEUS:
Laß mich knieen, laß mich schauen,
Laß mich sterben, laß mich leben,
Denn schon bin ich hingegeben
Dieser gottgegebnen Frauen.
Harrend auf des Morgens Wonne,
östlich spähend ihren Lauf,
Ging auf einmal mir die Sonne
Wunderbar im Süden auf.
Zog den Blick nach jener Seite,
Statt der Schluchten, statt der Höhn,
Statt der Erd- und Himmelsweite
Sie, die Einzige, zu spähn.
Augenstrahl ist mir verliehen
Wie dem Luchs auf höchstem Baum;
Doch nun mußt‘ ich mich bemühen
Wie aus tiefem, düsterm Traum.
Wüßt‘ ich irgend mich zu finden?
Zinne? Turm? geschloßnes Tor?
Nebel schwanken, Nebel schwinden,
Solche Göttin tritt hervor!
Aug‘ und Brust ihr zugewendet,
Sog ich an den milden Glanz;
Diese Schönheit, wie sie blendet,
Blendete mich Armen ganz.
Ich vergaß des Wächters Pflichten,
Völlig das beschworne Horn;
Drohe nur, mich zu vernichten–
Schönheit bändigt allen Zorn.

HELENA:
Das übel, das ich brachte, darf ich nicht
Bestrafen. Wehe mir! Welch streng Geschick
Verfolgt mich, überall der Männer Busen
So zu betören, daß sie weder sich
Noch sonst ein Würdiges verschonten. Raubend jetzt,
Verführend, fechtend, hin und her entrückend,
Halbgötter, Helden, Götter, ja Dämonen,
Sie führten mich im Irren her und hin.
Einfach die Welt verwirrt‘ ich, dopplet mehr;
Nun dreifach, vierfach bring‘ ich Not auf Not.
Entferne diesen Guten, laß ihn frei;
Den Gottbetörten treffe keine Schmach.

FAUST:
Erstaunt, o Königin, seh‘ ich zugleich
Die sicher Treffende, hier den Getroffnen;
Ich seh‘ den Bogen, der den Pfeil entsandt,
Verwundet jenen. Pfeile folgen Pfeilen,
Mich treffend. Allwärts ahn‘ ich überquer
Gefiedert schwirrend sie in Burg und Raum.
Was bin ich nun? Auf einmal machst du mir
Rebellisch die Getreusten, meine Mauern
Unsicher. Also fürcht‘ ich schon, mein Heer
Gehorcht der siegend unbesiegten Frau.
Was bleibt mir übrig, als mich selbst und alles,
Im Wahn des Meine, dir anheimzugeben?
Zu deinen Füßen laß mich, frei und treu,
Dich Herrin anerkennen, die sogleich
Auftretend sich Besitz und Thron erwarb.

LYNKEUS:
Du siehst mich, Königin, zurück!
Der Reiche bettelt einen Blick,
Er sieht dich an und fühlt sogleich
Sich bettelarm und fürstenreich.
Was war ich erst? was bin ich nun?
Was ist zu wollen? was zu tun?
Was hilft der Augen schärfster Blitz!
Er prallt zurück an deinem Sitz.
Von Osten kamen wir heran,
Und um den Westen war’s getan;
Ein lang und breites Volksgewicht,
Der erste wußte vom letzten nicht.
Der erste fiel, der zweite stand,
Des dritten Lanze war zur Hand;
Ein jeder hundertfach gestärkt,
Erschlagne Tausend unbemerkt.
Wir drängten fort, wir stürmten fort,
Wir waren Herrn von Ort zu Ort;
Und wo ich herrisch heut befahl,
Ein andrer morgen raubt‘ und stahl.
Wir schauten–elig war die Schau;
Der griff die allerschönste Frau,
Der griff den Stier von festem Tritt,
Die Pferde mußten alle mit.
Ich aber liebte, zu erspähn
Das Seltenste, was man gesehn;
Und was ein andrer auch besaß,
Das war für mich gedörrtes Gras.
Den Schätzen war ich auf der Spur,
Den scharfen Blicken folgt‘ ich nur,
In alle Taschen blickt‘ ich ein,
Durchsichtig war mir jeder Schrein.
Und Haufen Goldes waren mein,
Am herrlichsten der Edelstein:
Nun der Smaragd allein verdient,
Daß er an deinem Herzen grünt.
Nun schwanke zwischen Ohr und Mund
Das Tropfenei aus Meeresgrund;
Rubinen werden gar verscheucht,
Das Wangenrot sie niederbleicht.
Und so den allergrößten Schatz
Versetz‘ ich hier auf deinen Platz;
Zu deinen Füßen sei gebracht
Die Ernte mancher blut’gen Schlacht.
So viele Kisten schlepp‘ ich her,
Der Eisenkisten hab‘ ich mehr;
Erlaube mich auf deiner Bahn,
Und Schatzgewölbe füll‘ ich an.
Denn du bestiegest kaum den Thron,
So neigen schon, so beugen schon
Verstand und Reichtum und Gewalt
Sich vor der einzigen Gestalt.
Das alles hielt ich fest und mein,
Nun aber, lose, wird es dein.
Ich glaubt‘ es würdig, hoch und bar,
Nun seh‘ ich, daß es nichtig war.
Verschwunden ist, was ich besaß,
Ein abgemähtes, welkes Gras.
O gib mit einem heitern Blick
Ihm seinen ganzen Wert zurück!

FAUST:
Entferne schnell die kühn erworbne Last,
Zwar nicht getadelt, aber unbelohnt.
Schon ist Ihr alles eigen, was die Burg
Im Schoß verbirgt; Besondres Ihr zu bieten,
Ist unnütz. Geh und häufe Schatz auf Schatz
Geordnet an. Der ungesehnen Pracht
Erhabnes Bild stell‘ auf! Laß die Gewölbe
Wie frische Himmel blinken, Paradiese
Von lebelosem Leben richte zu.
Voreilend ihren Tritten laß beblümt
An Teppich Teppiche sich wälzen; ihrem Tritt
Begegne sanfter Boden; ihrem Blick,
Nur Göttliche nicht blendend, höchster Glanz.

LYNKEUS:
Schwach ist, was der Herr befiehlt,
Tut’s der Diener, es ist gespielt:
Herrscht doch über Gut und Blut
Dieser Schönheit übermut.
Schon das ganze Heer ist zahm,
Alle Schwerter stumpf und lahm,
Vor der herrlichen Gestalt
Selbst die Sonne matt und kalt,
Vor dem Reichtum des Gesichts
Alles leer und alles nichts.

HELENA:
Ich wünsche dich zu sprechen, doch herauf
An meine Seite komm! Der leere Platz
Beruft den Herrn und sichert mir den meinen.

FAUST:
Erst knieend laß die treue Widmung dir
Gefallen, hohe Frau; die Hand, die mich
An deine Seite hebt, laß mich sie küssen.
Bestärke mich als Mitregenten deines
Grenzunbewußten Reichs, gewinne dir
Verehrer, Diener, Wächter all‘ in einem!

HELENA:
Vielfache Wunder seh‘ ich, hör‘ ich an,
Erstaunen trifft mich, fragen möcht‘ ich viel.
Doch wünscht‘ ich Unterricht, warum die Rede
Des Manns mir seltsam klang, seltsam und freundlich.
Ein Ton scheint sich dem andern zu bequemen,
Und hat ein Wort zum Ohre sich gesellt,
Ein andres kommt, dem ersten liebzukosen.

FAUST:
Gefällt dir schon die Sprechart unsrer Völker,
O so gewiß entzückt auch der Gesang,
Befriedigt Ohr und Sinn im tiefsten Grunde.
Doch ist am sichersten, wir üben’s gleich;
Die Wechselrede lockt es, ruft’s hervor.

HELENA:
So sage denn, wie sprech‘ ich auch so schön?

FAUST:
Das ist gar leicht, es muß von Herzen gehn.
Und wenn die Brust von Sehnsucht überfließt,
Man sieht sich um und fragt–+

HELENA:
Wer mitgenießt.

FAUST:
Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück,
Die Gegenwart allein–+

HELENA:
ist unser Glück.

FAUST:
Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand;
Bestätigung, wer gibt sie? +

HELENA:
Meine Hand.

CHOR:
Wer verdächt‘ es unsrer Fürstin,
Gönnet sie dem Herrn der Burg
Freundliches Erzeigen?
Denn gesteht, sämtliche sind wir
Ja Gefangene, wie schon öfter
Seit dem schmählichen Untergang
Ilios‘ und der ängstlich-+
labyrinthischen/ Kummerfahrt.
Fraun, gewöhnt an Männerliebe,
Wählerinnen sind sie nicht,
Aber Kennerinnen.
Und wie goldlockigen Hirten
Vielleicht schwarzborstigen Faunen,
Wie es bringt die Gelegenheit,
über die schwellenden Glieder
Vollerteilen sie gleiches Recht.
Nah und näher sitzen sie schon
An einander gelehnet,
Schulter an Schulter, Knie an Knie,
Hand in Hand wiegen sie sich
über des Throns
Aufgepolsterter Herrlichkeit.
Nicht versagt sich die Majestät
Heimlicher Freuden
Vor den Augen des Volkes
übermütiges Offenbarsein.

HELENA:
Ich fühle mich so fern und doch so nah,
Und sage nur zu gern: Da bin ich! da!

FAUST:
Ich atme kaum, mir zittert, stockt das Wort;
Es ist ein Traum, verschwunden Tag und Ort.

HELENA:
Ich scheine mir verlebt und doch so neu,
In dich verwebt, dem Unbekannten treu.

FAUST:
Durchgrüble nicht das einzigste Geschick!
Dasein ist Pflicht, und wär’s ein Augenblick.

PHORKYAS:
Buchstabiert in Liebesfibeln,
Tändelnd grübelt nur am Liebeln,
Müßig liebelt fort im Grübeln,
Doch dazu ist keine Zeit.
Fühlt ihr nicht ein dumpfes Wettern?
Hört nur die Trompete schmettern,
Das Verderben ist nicht weit.
Menelas mit Volkeswogen
Kommt auf euch herangezogen;
Rüstet euch zu herbem Streit!
Von der Siegerschar umwimmelt,
Wie Deiphobus verstümmelt,
Büßest du das Fraungeleit.
Bammelt erst die leichte Ware,
Dieser gleich ist am Altare
Neugeschliffnes Beil bereit.

FAUST:
Verwegne Störung! widerwärtig dringt sie ein;
Auch nicht in Gefahren mag ich sinnlos Ungestüm.
Den schönsten Boten, Unglücksbotschaft häßlicht ihn;
Du Häßlichste gar, nur schlimme Botschaft bringst du gern.
Doch diesmal soll dir’s nicht geraten: leeren Hauchs
Erschüttere du die Lüfte. Hier ist nicht Gefahr,
Und selbst Gefahr erschiene nur als eitles Dräun.

FAUST:
Nein, gleich sollst du versammelt schauen
Der Helden ungetrennten Kreis:
Nur der verdient die Gunst der Frauen,
Der kräftigst sie zu schützen weiß.
Mit angehaltnem stillen Wüten,
Das euch gewiß den Sieg verschafft,
Ihr, Nordens jugendliche Blüten,
Ihr, Ostens blumenreiche Kraft.
In Stahl gehüllt, vom Strahl umwittert,
Die Schar, die Reich um Reich zerbrach,
Sie treten auf, die Erde schüttert,
Sie schreiten fort, es donnert nach.
An Pylos traten wir zu Lande,
Der alte Nestor ist nicht mehr,
Und alle kleinen Königsbande
Zersprengt das ungebundne Heer.
Drängt ungesäumt von diesen Mauern
Jetzt Menelas dem Meer zurück;
Dort irren mag er, rauben, lauern,
Ihm war es Neigung und Geschick.
Herzoge soll ich euch begrüßen,
Gebietet Spartas Königin;
Nun legt ihr Berg und Tal zu Füßen,
Und euer sei des Reichs Gewinn.
Germane du! Korinthus‘ Buchten
Verteidige mit Wall und Schutz!
Achaia dann mit hundert Schluchten
Empfehl‘ ich, Gote, deinem Trutz.
Nach Elis ziehn der Franken Heere,
Messene sei der Sachsen Los,
Normanne reinige die Meere
Und Argolis erschaff‘ er groß.
Dann wird ein jeder häuslich wohnen,
Nach außen richten Kraft und Blitz;
Doch Sparta soll euch überthronen,
Der Königin verjährter Sitz.
All-einzeln sieht sie euch genießen
Des Landes, dem kein Wohl gebricht;
Ihr sucht getrost zu ihren Füßen
Bestätigung und Recht und Licht.

CHOR:
Wer die Schönste für sich begehrt,
Tüchtig vor allen Dingen
Seh‘ er nach Waffen weise sich um;
Schmeichelnd wohl gewann er sich,
Was auf Erden das Höchste;
Aber ruhig besitzt er’s nicht:
Schleicher listig entschmeicheln sie ihm,
Räuber kühnlich entreißen sie ihm;
Dieses zu hinderen, sei er bedacht.
Unsern Fürsten lob‘ ich drum,
Schätz‘ ihn höher vor andern,
Wie er so tapfer klug sich verband,
Daß die Starken gehorchend stehn,
Jedes Winkes gewärtig.
Seinen Befehl vollziehn sie treu,
Jeder sich selbst zu eignem Nutz
Wie dem Herrscher zu lohnendem Dank,
Beiden zu höchlichem Ruhmesgewinn.
Denn wer entreißet sie jetzt
Dem gewalt’gen Besitzer?
Ihm gehört sie, ihm sei sie gegönnt,
Doppelt von uns gegönnt, die er
Samt ihr zugleich innen mit sicherster Mauer,
Außen mit mächtigstem Heer umgab.

FAUST:
Die Gaben, diesen hier verliehen–
An jeglichen ein reiches Land–,
Sind groß und herrlich; laß sie ziehen!
Wir halten in der Mitte stand.
Und sie beschützen um die Wette,
Ringsum von Wellen angehüpft,
Nichtinsel dich, mit leichter Hügelkette
Europens letztem Bergast angeknüpft.
Das Land, vor aller Länder Sonnen,
Sei ewig jedem Stamm beglückt,
Nun meiner Königin gewonnen,
Das früh an ihr hinaufgeblickt,
Als mit Eurotas‘ Schilfgeflüster
Sie leuchtend aus der Schale brach,
Der hohen Mutter, dem Geschwister
Das Licht der Augen überstach.
Dies Land, allein zu dir gekehret,
Entbietet seinen höchsten Flor;
Dem Erdkreis, der dir angehöret,
Dein Vaterland, o zieh es vor!
Und duldet auch auf seiner Berge Rücken
Das Zackenhaupt der Sonne kalten Pfeil,
Läßt nun der Fels sich angegrünt erblicken,
Die Ziege nimmt genäschig kargen Teil.
Die Quelle springt, vereinigt stürzen Bäche,
Und schon sind Schluchten, Hänge, Matten grün.
Auf hundert Hügeln unterbrochner Fläche
Siehst Wollenherden ausgebreitet ziehn.
Verteilt, vorsichtig abgemessen schreitet
Gehörntes Rind hinan zum jähen Rand;
Doch Obdach ist den sämtlichen bereitet,
Zu hundert Höhlen wölbt sich Felsenwand.
Pan schützt sie dort, und Lebensnymphen wohnen
In buschiger Klüfte feucht erfrischtem Raum,
Und sehnsuchtsvoll nach höhern Regionen
Erhebt sich zweighaft Baum gedrängt an Baum.
Alt-Wälder sind’s! Die Eiche starret mächtig,
Und eigensinnig zackt sich Ast an Ast;
Der Ahorn mild, von süßem Safte trächtig,
Steigt rein empor und spielt mit seiner Last.
Und mütterlich im stillen Schattenkreise
Quillt laue Milch bereit für Kind und Lamm;
Obst ist nicht weit, der Ebnen reife Speise,
Und Honig trieft vom ausgehöhlten Stamm.
Hier ist das Wohlbehagen erblich,
Die Wange heitert wie der Mund,
Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich:
Sie sind zufrieden und gesund.
Und so entwickelt sich am reinen Tage
Zu Vaterkraft das holde Kind.
Wir staunen drob; noch immer bleibt die Frage:
Ob’s Götter, ob es Menschen sind?
So war Apoll den Hirten zugestaltet,
Daß ihm der schönsten einer glich;
Denn wo Natur im reinen Kreise waltet,
Ergreifen alle Welten sich.
So ist es mir, so ist es dir gelungen;
Vergangeheit sei hinter uns getan!
O fühle dich vom höchsten Gott entsprungen,
Der ersten Welt gehörst du einzig an.
Nicht feste Burg soll dich umschreiben!
Noch zirkt in ewiger Jugendkraft
Für uns, zu wonnevollem Bleiben,
Arkadien in Spartas Nachbarschaft.
Gelockt, auf sel’gem Grund zu wohnen,
Du flüchtetest ins heiterste Geschick!
Zur Laube wandeln sich die Thronen,
Arkadisch frei sei unser Glück!

Szene 42

PHORKYAS:
Wie lange Zeit die Mädchen schlafen, weiß ich nicht;
Ob sie sich träumen ließen, was ich hell und klar
Vor Augen sah, ist ebenfalls mir unbekannt.
Drum weck‘ ich sie. Erstaunen soll das junge Volk;
Ihr Bärtigen auch, die ihr da drunten sitzend harrt,
Glaubhafter Wunder Lösung endlich anzuschaun.
Hervor! hervor! Und schüttelt eure Locken rasch!
Schlaf aus den Augen! Blinzt nicht so und hört mich an!

CHOR:
Rede nur, erzähl‘, erzähle, was sich Wunderlichs begeben!
Hören möchten wir am liebsten, was wir gar nicht glauben können;
Denn wir haben Langeweile, diese Felsen anzusehn.

PHORKYAS:
Kaum die Augen ausgerieben, Kinder, langeweilt ihr schon?
So vernehmt: in diesen Höhlen, diesen Grotten, diesen Lauben
Schutz und Schirmung war verliehen, wie idyllischem Liebespaare,
Unserm Herrn und unsrer Frauen.

CHOR:
Wie, da drinnen?

PHORKYAS:
Abgesondert
Von der Welt, nur mich, die eine, riefen sie zu stillem Dienste.
Hochgeehrt stand ich zur Seite, doch, wie es Vertrauten ziemet,
Schaut‘ ich um nach etwas andrem. Wendete mich hier- und dorthin,
Suchte Wurzeln, Moos und Rinden, kundig aller Wirksamkeiten,
Und so blieben sie allein.

CHOR:
Tust du doch, als ob da drinnen ganze Weltenräume wären,
Wald und Wiese, Bäche, Seen; welche Märchen spinnst du ab!

PHORKYAS:
Allerdings, ihr Unerfahrnen! das sind unerforschte Tiefen:
Saal an Sälen, Hof an Höfen, diese spürt‘ ich sinnend aus.
Doch auf einmal ein Gelächter echot in den Höhlenräumen;
Schau‘ ich hin, da springt ein Knabe von der Frauen Schoß zum Manne,
Von dem Vater zu der Mutter; das Gekose, das Getändel,
Töriger Liebe Neckereien, Scherzgeschrei und Lustgejauchze
Wechselnd übertäuben mich.
Nackt, ein Genius ohne Flügel, faunenartig ohne Tierheit,
Springt er auf den festen Boden; doch der Boden gegenwirkend
Schnellt ihn zu der luft’gen Höhe, und im zweiten, dritten Sprunge
Rührt er an das Hochgewölb.
ängstlich ruft die Mutter: Springe wiederholt und nach Belieben,
Aber hüte dich, zu fliegen, freier Flug ist dir versagt.
Und so mahnt der treue Vater: In der Erde liegt die Schnellkraft,
Die dich aufwärts treibt; berühre mit der Zehe nur den Boden,
Wie der Erdensohn Antäus bist du alsobald gestärkt.
Und so hüpft er auf die Masse dieses Felsens, von der Kante
Zu dem andern und umher, so wie ein Ball geschlagen springt.
Doch auf einmal in der Spalte rauher Schlucht ist er verschwunden,
Und nun scheint er uns verloren. Mutter jammert, Vater tröstet,
Achselzuckend steh‘ ich ängstlich. Doch nun wieder welch Erscheinen!
Liegen Schätze dort verborgen? Blumenstreifige Gewande
Hat er würdig angetan.
Quasten schwanken von den Armen, Binden flattern um den Busen,
In der Hand die goldne Leier, völlig wie ein kleiner Phöbus,
Tritt er wohlgemut zur Kante, zu dem überhang; wir staunen.
Und die Eltern vor Entzücken werfen wechselnd sich ans Herz.
Denn wie leuchtet’s ihm zu Haupten? Was erglänzt, ist schwer zu sagen,
Ist es Goldschmuck, ist es Flamme übermächtiger Geisteskraft?
Und so regt er sich gebärdend, sich als Knabe schon verkündend
Künftigen Meister alles Schönen, dem die ewigen Melodien
Durch die Glieder sich bewegen; und so werdet ihr ihn hören,
Und so werdet ihr ihn sehn zu einzigster Bewunderung.

CHOR:
Nennst du ein Wunder dies,
Kretas Erzeugte?
Dichtend belehrendem Wort
Hast du gelauscht wohl nimmer?
Niemals noch gehört Ioniens,
Nie vernommen auch Hellas‘
Urväterlicher Sagen
Göttlich-heldenhaften Reichtum?
Alles, was je geschieht
Heutigen Tages,
Trauriger Nachklang ist’s
Herrlicher Ahnherrntage;
Nicht vergleicht sich dein Erzählen
Dem, was liebliche Lüge,
Glaubhaftiger als Wahrheit,
Von dem Sohne sang der Maja.
Diesen zierlich und kräftig doch
Kaum geborenen Säugling
Faltet in reinster Windeln Flaum,
Strenget in köstlicher Wickeln Schmuck
Klatschender Wärterinnen Schar
Unvernünftigen Wähnens.
Kräftig und zierlich aber zieht
Schon der Schalk die geschmeidigen
Doch elastischen Glieder
Listig heraus, die purpurne,
ängstlich drückende Schale
Lassend ruhig an seiner Statt;
Gleich dem fertigen Schmetterling,
Der aus starrem Puppenzwang
Flügel entfaltend behendig schlüpft,
Sonnedurchstrahlten äther kühn
Und mutwillig durchflatternd.
So auch er, der Behendeste,
Daß er Dieben und Schälken,
Vorteilsuchenden allen auch
Ewig günstiger Dämon sei,
Dies betätigt er alsobald
Durch gewandteste Künste.
Schnell des Meeres Beherrscher stiehlt
Er den Trident, ja dem Ares selbst
Schlau das Schwert aus der Scheide;
Bogen und Pfeil dem Phöbus auch,
Wie dem Hephästos die Zange;
Selber Zeus‘, des Vaters, Blitz
Nähm‘ er, schreckt‘ ihn das Feuer nicht;
Doch dem Eros siegt er ob
In beinstellendem Ringerspiel;
Raubt auch Cyprien, wie sie ihm kost,
Noch vom Busen den Gürtel.

PHORKYAS:
Höret allerliebste Klänge,
Macht euch schnell von Fabeln frei!
Eurer Götter alt Gemenge,
Laßt es hin, es ist vorbei.
Niemand will euch mehr verstehen,
Fordern wir doch höhern Zoll:
Denn es muß von Herzen gehen,
Was auf Herzen wirken soll.

CHOR:
Bist du, fürchterliches Wesen,
Diesem Schmeichelton geneigt,
Fühlen wir, als frisch genesen,
Uns zur Tränenlust erweicht.
Laß der Sonne Glanz verschwinden,
Wenn es in der Seele tagt,
Wir im eignen Herzen finden,
Was die ganze Welt versagt.

EUPHORION:
Hört ihr Kindeslieder singen,
Gleich ist’s euer eigner Scherz;
Seht ihr mich im Takte springen,
Hüpft euch elterlich das Herz.

HELENA:
Liebe, menschlich zu beglücken,
Nähert sie ein edles Zwei,
Doch zu göttlichem Entzücken
Bildet sie ein köstlich Drei.

FAUST:
Alles ist sodann gefunden:
Ich bin dein, und du bist mein;
Und so stehen wir verbunden,
Dürft‘ es doch nicht anders sein!

CHOR:
Wohlgefallen vieler Jahre
In des Knaben mildem Schein
Sammelt sich auf diesem Paare.
O, wie rührt mich der Verein!

EUPHORION:
Nun laßt mich hüpfen,
Nun laßt mich springen!
Zu allen Lüften
Hinaufzudringen,
Ist mir Begierde,
Sie faßt mich schon.

FAUST:
Nur mäßig! mäßig!
Nicht ins Verwegne,
Daß Sturz und Unfall
Dir nicht begegne,
Zugrund uns richte
Der teure Sohn!

EUPHORION:
Ich will nicht länger
Am Boden stocken;
Laßt meine Hände,
Laßt meine Locken,
Laßt meine Kleider!
Sie sind ja mein.

HELENA:
O denk! o denke,
Wem du gehörest!
Wie es uns kränke,
Wie du zerstörest
Das schön errungene
Mein, Dein und Sein.

CHOR:
Bald löst, ich fürchte,
Sich der Verein!

HELENA UND FAUST:
Bändige! bändige
Eltern zuliebe
überlebendige,
Heftige Triebe!
Ländlich im stillen
Ziere den Plan.

EUPHORION:
Nur euch zu Willen
Halt‘ ich mich an.
Leichter umschweb‘ ich hie
Muntres Geschlecht.
Ist nun die Melodie,
Ist die Bewegung recht?

HELENA:
Ja, das ist wohlgetan;
Führe die Schönen an
Künstlichem Reihn.

FAUST:
Wäre das doch vorbei!
Mich kann die Gaukelei
Gar nicht erfreun.

CHOR:
Wenn du der Arme Paar
Lieblich bewegest,
Im Glanz dein lockig Haar
Schüttelnd erregest,
Wenn dir der Fuß so leicht
über die Erde schleicht,
Dort und da wieder hin
Glieder um Glied sich ziehn,
Hast du dein Ziel erreicht,
Liebliches Kind;
All‘ unsre Herzen sind
All‘ dir geneigt.

EUPHORION:
Ihr seid so viele
Leichtfüßige Rehe;
Zu neuem Spiele
Frisch aus der Nähe!
Ich bin der Jäger,
ihr seid das Wild.

CHOR:
Willst du uns fangen,
Sei nicht behende,
Denn wir verlangen
Doch nur am Ende,
Dich zu umarmen,
Du schönes Bild!

EUPHORION:
Nur durch die Haine!
Zu Stock und Steine!
Das leicht Errungene,
Das widert mir,
Nur das Erzwungene
Ergetzt mich schier.

HELENA UND FAUST:
Welch ein Mutwill‘! welch ein Rasen!
Keine Mäßigung ist zu hoffen.
Klingt es doch wie Hörnerblasen
über Tal und Wälder dröhnend;
Welch ein Unfug! welch Geschrei!

CHOR:
Uns ist er vorbeigelaufen;
Mit Verachtung uns verhöhnend,
schleppt er von dem ganzen Haufen
Nun die Wildeste herbei.

EUPHORION:
Schlepp‘ ich her die derbe Kleine
Zu erzwungenem Genusse;
Mir zur Wonne, mir zur Lust
Drück‘ ich widerspenstige Brust,
Küss‘ ich widerwärtigen Mund,
Tue Kraft und Willen kund.

MÄDCHEN:
Laß mich los! In dieser Hülle
Ist auch Geistes Mut und Kraft;
Deinem gleich ist unser Wille
Nicht so leicht hinweggerafft.
Glaubst du wohl mich im Gedränge?
Deinem Arm vertraust du viel!
Halte fest, und ich versenge
Dich, den Toren, mir zum Spiel.
Folge mir in leichte Lüfte,
Folge mir in starre Grüfte,
Hasche das verschwundne Ziel!

EUPHORION:
Felsengedränge hier
Zwischen dem Waldgebüsch,
Was soll die Enge mir,
Bin ich doch jung und frisch.
Winde, sie sausen ja,
Wellen, sie brausen da;
Hör‘ ich doch beides fern,
Nah wär‘ ich gern.

HELENA, FAUST UND CHOR:
Wolltest du den Gemsen gleichen?
Vor dem Falle muß uns graun.

EUPHORION:
Immer höher muß ich steigen,
Immer weiter muß ich schaun.
Weiß ich nun, wo ich bin!
Mitten der Insel drin,
Mitten in Pelops‘ Land,
Erde–wie seeverwandt.

CHOR:
Magst nicht in Berg und Wald
Friedlich verweilen?
Suchen wir alsobald
Reben in Zeilen,
Reben am Hügelrand,
Feigen und Apfelgold.
Ach in dem holden Land
Bleibe du hold!

EUPHORION:
Träumt ihr den Friedenstag?
Träume, wer träumen mag.
Krieg! ist das Losungswort.
Sieg! und so klingt es fort.

CHOR:
Wer im Frieden
Wünschet sich Krieg zurück,
Der ist geschieden
Vom Hoffnungsglück.

EUPHORION:
Welche dies Land gebar
Aus Gefahr in Gefahr,
Frei, unbegrenzten Muts,
Verschwendrisch eignen Bluts,
Den nicht zu dämpfenden
Heiligen Sinn–
Alle den Kämpfenden
Bring‘ es Gewinn!

CHOR:
Seht hinauf, wie hoch gestiegen!
Und er scheint uns doch nicht klein:
Wie im Harnisch, wie zum Siegen,
Wie von Erz und Stahl der Schein.

EUPHORION:
Keine Wälle, keine Mauern,
Jeder nur sich selbst bewußt;
Feste Burg, um auszudauern,
Ist des Mannes ehrne Brust.
Wollt ihr unerobert wohnen,
Leicht bewaffnet rasch ins Feld;
Frauen werden Amazonen
Und ein jedes Kind ein Held.

CHOR:
Heilige Poesie,
Himmelan steige sie!
Glänze, der schönste Stern,
Fern und so weiter fern!
Und sie erreicht uns doch
Immer, man hört sie noch,
Vernimmt sie gern.

EUPHORION:
Nein, nicht ein Kind bin ich erschienen,
In Waffen kommt der Jüngling an;
Gesellt zu Starken, Freien, Kühnen,
Hat er im Geiste schon getan.
Nun fort!
Nun dort
Eröffnet sich zum Ruhm die Bahn.

HELENA UND FAUST:
Kaum ins Leben eingerufen,
Heitrem Tag gegeben kaum,
Sehnest du von Schwindelstufen
Dich zu schmerzenvollem Raum.
Sind denn wir
Gar nichts dir?
Ist der holde Bund ein Traum?

EUPHORION:
Und hört ihr donnern auf dem Meere?
Dort widerdonnern Tal um Tal,
In Staub und Wellen, Heer dem Heere,
In Drang um Drang, zu Schmerz und Qual.
Und der Tod
Ist Gebot,
Das versteht sich nun einmal.

HELENA, FAUST UND CHOR:
Welch Entsetzen! welches Grauen!
Ist der Tod denn dir Gebot?

EUPHORION:
Sollt‘ ich aus der Ferne schauen?
Nein! ich teile Sorg‘ und Not.

DIE VORIGEN:
Übermut und Gefahr,
Tödliches Los!

EUPHORION:
Doch!–und ein Flügelpaar
Faltet sich los!
Dorthin! Ich muß! ich muß!
Gönnt mir den Flug!

CHOR:
Ikarus! Ikarus!
Jammer genug.

HELENA UND FAUST:
Der Freude folgt sogleich
Grimmige Pein.

EUPHORIONS STIMME:
Laß mich im düstern Reich,
Mutter, mich nicht allein!

CHOR:
Nicht allein!–wo du auch weilest,
Denn wir glauben dich zu kennen;
Ach! wenn du dem Tag enteilest,
Wird kein Herz von dir sich trennen.
Wüßten wir doch kaum zu klagen,
Neidend singen wir dein Los:
Dir in klar- und trüben Tagen
Lied und Mut war schön und groß.
Ach! zum Erdenglück geboren,
Hoher Ahnen, großer Kraft,
Leider früh dir selbst verloren,
Jugendblüte weggerafft!
Scharfer Blick, die Welt zu schauen,
Mitsinn jedem Herzensdrang,
Liebesglut der besten Frauen
Und ein eigenster Gesang.
Doch du ranntest unaufhaltsam
Frei ins willenlose Netz,
So entzweitest du gewaltsam
dich mit Sitte, mit Gesetz;
Doch zuletzt das höchste Sinnen
Gab dem reinen Mut Gewicht,
Wolltest Herrliches gewinnen,
Aber es gelang dir nicht.
Wem gelingt es?–Trübe Frage,
Der das Schicksal sich vermummt,
Wenn am unglückseligsten Tage
Blutend alles Volk verstummt.
Doch erfrischet neue Lieder,
Steht nicht länger tief gebeugt:
Denn der Boden zeugt sie wieder,
Wie von je er sie gezeugt.

HELENA:
Ein altes Wort bewährt sich leider auch an mir:
Daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint.
Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band;
Bejammernd beide, sag‘ ich schmerzlich Lebewohl
Und werfe mich noch einmal in die Arme dir.
Persephoneia, nimm den Knaben auf und mich!

PHORKYAS:
Halte fest, was dir von allem übrigblieb.
Das Kleid, laß es nicht los. Da zupfen schon
Dämonen an den Zipfeln, möchten gern
Zur Unterwelt es reißen. Halte fest!
Die Göttin ist’s nicht mehr, die du verlorst,
Doch göttlich ist’s. Bediene dich der hohen,
Unschätzbaren Gunst und hebe dich empor:
Es trägt dich über alles Gemeine rasch
Am äther hin, so lange du dauern kannst.
Wir sehn uns wieder, weit, gar weit von hier.

PHORKYAS:
Noch immer glücklich aufgefunden!
Die Flamme freilich ist verschwunden,
Doch ist mir um die Welt nicht leid.
Hier bleibt genug, Poeten einzuweihen,
Zu stiften Gild- und Handwerksneid;
Und kann ich die Talente nicht verleihen,
Verborg‘ ich wenigstens das Kleid.

PANTHALIS:
Nun eilig, Mädchen! Sind wir doch den Zauber los,
Der alt-thessalischen Vettel wüsten Geisteszwang,
So des Geklimpers vielverworrner Töne Rausch,
Das Ohr verwirrend, schlimmer noch den innern Sinn.
Hinab zum Hades! Eilte doch die Königin
Mit ernstem Gang hinunter. Ihrer Sohle sei
Unmittelbar getreuer Mägde Schritt gefügt.
Wir finden sie am Throne der Unerforschlichen.

CHOR:
Königinnen freilich, überall sind sie gern;
Auch im Hades stehen sie obenan,
Stolz zu ihresgleichen gesellt,
Mit Persephonen innigst vertraut;
Aber wir im Hintergrunde
Tiefer Asphodelos-Wiesen,
Langgestreckten Pappeln,
Unfruchtbaren Weiden zugesellt,
Welchen Zeitvertreib haben wir?
Fledermausgleich zu piepsen,
Geflüster, unerfreulich, gespenstig.

PANTHALIS:
Wer keinen Namen sich erwarb noch Edles will,
Gehört den Elementen an; so fahret hin!
Mit meiner Königin zu sein, verlangt mich heiß;
Nicht nur Verdienst, auch Treue wahrt uns die Person.

ALLE:
Zurückgegeben sind wir dem Tageslicht,
Zwar Personen nicht mehr,
Das fühlen, das wissen wir,
Aber zum Hades kehren wir nimmer.
Ewig lebendige Natur
Macht auf uns Geister,
Wir auf sie vollgültigen Anspruch.

EIN TEIL DES CHORES:
Wir in dieser tausend äste Flüsterzittern, Säuselschweben
Reizen tändelnd, locken leise wurzelauf des Lebens Quellen
Nach den Zweigen; bald mit Blättern, bald mit Blüten überschwenglich
Zieren wir die Flatterhaare frei zu luftigem Gedeihn.
Fällt die Frucht, sogleich versammeln lebenslustig Volk und Herden
Sich zum Greifen, sich zum Naschen, eilig kommend, emsig drängend;
Und wie vor den ersten Göttern bückt sich alles um uns her.

EIN ANDRER TEIL:
Wir, an dieser Felsenwände weithinleuchtend glatten Spiegel
Schmiegen wir, in sanften Wellen uns bewegend, schmeichelnd an;
Horchen, lauschen jedem Laute, Vogelsängen, Röhrigflöten,
Sei es Pans furchtbarer Stimme, Antwort ist sogleich bereit;
Säuselt’s, säuseln wir erwidernd, donnert’s, rollen unsre Donner
In erschütterndem Verdoppeln, dreifach, zehnfach hintennach.

EIN DRITTER TEIL:
Schwestern! Wir, bewegtern Sinnes, eilen mit den Bächen weiter;
Denn es reizen jener Ferne reichgeschmückte Hügelzüge.
Immer abwärts, immer tiefer wässern wir, mäandrisch wallend,
Jetzt die Wiese, dann die Matten, gleich den Garten um das Haus.
Dort bezeichnen’s der Zypressen schlanke Wipfel, über Landschaft,
Uferzug und Wellenspiegel nach dem äther steigende.

EIN VIERTER TEIL:
Wallt ihr andern, wo’s beliebet; wir umzingeln, wir umrauschen
Den durchaus bepflanzten Hügel, wo am Stab die Rebe grünt;
Dort zu aller Tage Stunden läßt die Leidenschaft des Winzers
Uns des liebevollsten Fleißes zweifelhaft Gelingen sehn.
Bald mit Hacke, bald mit Spaten, bald mit Häufeln, Schneiden, Binden
Betet er zu allen Göttern, fördersamst zum Sonnengott.
Bacchus kümmert sich, der Weichling, wenig um den treuen Diener,
Ruht in Lauben, lehnt in Höhlen, faselnd mit dem jüngsten Faun.
Was zu seiner Träumereien halbem Rausch er je bedurfte,
Immer bleibt es ihm in Schläuchen, ihm in Krügen und Gefäßen,
Rechts und links der kühlen Grüfte, ewige Zeiten aufbewahrt.
Haben aber alle Götter, hat nun Helios vor allen,
Lüftend, feuchtend, wärmend, glutend, Beeren-Füllhorn aufgehäuft,
Wo der stille Winzer wirkte, dort auf einmal wird’s lebendig,
Und es rauscht in jedem Laube, raschelt um von Stock zu Stock.
Körbe knarren, Eimer klappern, Tragebutten ächzen hin,
Alles nach der großen Kufe zu der Keltrer kräft’gem Tanz;
Und so wird die heilige Fülle reingeborner saftiger Beeren
Frech zertreten, schäumend, sprühend mischt sich’s, widerlich zerquetscht.
Und nun gellt ins Ohr der Zimbeln mit der Becken Erzgetöne,
Denn es hat sich Dionysos aus Mysterien enthüllt;
Kommt hervor mit Ziegenfüßlern, schwenkend Ziegenfüßlerinnen,
Und dazwischen schreit unbändig grell Silenus‘ öhrig Tier.
Nichts geschont! Gespaltne Klauen treten alle Sitte nieder,
Alle Sinne wirbeln taumlich, gräßlich übertäubt das Ohr.
Nach der Schale tappen Trunkne, überfüllt sind Kopf und Wänste,
Sorglich ist noch ein und andrer, doch vermehrt er die Tumulte,
Denn um neuen Most zu bergen, leert man rasch den alten Schlauch!

Hochgebirg

 

FAUST:
Der Einsamkeiten tiefste schauend unter meinem Fuß,
Betret‘ ich wohlbedächtig dieser Gipfel Saum,
Entlassend meiner Wolke Tragewerk, die mich sanft
An klaren Tagen über Land und Meer geführt.
Sie löst sich langsam, nicht zerstiebend, von mir ab.
Nach Osten strebt die Masse mit geballtem Zug,
Ihr strebt das Auge staunend in Bewundrung nach.
Sie teilt sich wandelnd, wogenhaft, veränderlich.
Doch will sich’s modeln.–Ja! das Auge trügt mich nicht!–
Auf sonnbeglänzten Pfühlen herrlich hingestreckt,
Zwar riesenhaft, ein göttergleiches Fraungebild,
Ich seh’s! Junonen ähnlich, Leda’n, Helenen,
Wie majestätisch lieblich mir’s im Auge schwankt.
Ach! schon verrückt sich’s! Formlos breit und aufgetürmt
Ruht es in Osten, fernen Eisgebirgen gleich,
Und spiegelt blendend flücht’ger Tage großen Sinn.
Doch mir umschwebt ein zarter lichter Nebelstreif
Noch Brust und Stirn, erheiternd, kühl und schmeichelhaft.
Nun steigt es leicht und zaudernd hoch und höher auf,
Fügt sich zusammen.–Täuscht mich ein entzückend Bild,
Als jugenderstes, längstentbehrtes höchstes Gut?
Des tiefsten Herzens frühste Schätze quellen auf:
Aurorens Liebe, leichten Schwung bezeichnet’s mir,
Den schnellempfundnen, ersten, kaum verstandnen Blick,
Der, festgehalten, überglänzte jeden Schatz.
Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form,
Löst sich nicht auf, erhebt sich in den äther hin
Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort.

MEPHISTOPHELES:
Das heiß‘ ich endlich vorgeschritten!
Nun aber sag, was fällt dir ein?
Steigst ab in solcher Greuel Mitten,
Im gräßlich gähnenden Gestein?
Ich kenn‘ es wohl, doch nicht an dieser Stelle,
Denn eigentlich war das der Grund der Hölle.

FAUST:
Es fehlt dir nie an närrischen Legenden;
Fängst wieder an, dergleichen auszuspenden.

MEPHISTOPHELES:
Als Gott der Herr–ich weiß auch wohl, warum–
Uns aus der Luft in tiefste Tiefen bannte,
Da, wo zentralisch glühend, um und um,
Ein ewig Feuer flammend sich durchbrannte,
Wir fanden uns bei allzugroßer Hellung
In sehr gedrängter, unbequemer Stellung.
Die Teufel fingen sämtlich an zu husten,
Von oben und von unten auszupusten;
Die Hölle schwoll von Schwefelstank und–säure,
Das gab ein Gas! Das ging ins Ungeheure,
So daß gar bald der Länder flache Kruste,
So dick sie war, zerkrachend bersten mußte.
Nun haben wir’s an einem andern Zipfel,
Was ehmals Grund war, ist nun Gipfel.
Sie gründen auch hierauf die rechten Lehren,
Das Unterste ins Oberste zu kehren.
Denn wir entrannen knechtisch-heißer Gruft
Ins übermaß der Herrschaft freier Luft.
Ein offenbar Geheimnis, wohl verwahrt,
Und wird nur spät den Völkern offenbart.((ephes. 6,12))

FAUST:
Gebirgesmasse bleibt mir edel-stumm,
Ich frage nicht woher und nicht warum.
Als die Natur sich in sich selbst gegründet,
Da hat sie rein den Erdball abgeründet,
Der Gipfel sich, der Schluchten sich erfreut
Und Fels an Fels und Berg an Berg gereiht,
Die Hügel dann bequem hinabgebildet,
Mit sanftem Zug sie in das Tal gemildet.
Da grünt’s und wächst’s, und um sich zu erfreuen,
Bedarf sie nicht der tollen Strudeleien.

MEPHISTOPHELES:
Das sprecht Ihr so! Das scheint Euch sonnenklar;
Doch weiß es anders, der zugegen war.
Ich war dabei, als noch da drunten siedend
Der Abgrund schwoll und strömend Flammen trug;
Als Molochs Hammer, Fels an Felsen schmiedend,
Gebirgestrümmer in die Ferne schlug.
Noch starrt das Land von fremden Zentnermassen;
Wer gibt Erklärung solcher Schleudermacht?
Der Philosoph, er weiß es nicht zu fassen,
Da liegt der Fels, man muß ihn liegen lassen,
Zuschanden haben wir uns schon gedacht.–
Das treu-gemeine Volk allein begreift
Und läßt sich im Begriff nicht stören;
Ihm ist die Weisheit längst gereift:
Ein Wunder ist’s, der Satan kommt zu Ehren.
Mein Wandrer hinkt an seiner Glaubenskrücke
Zum Teufelsstein, zur Teufelsbrücke.

FAUST:
Es ist doch auch bemerkenswert zu achten,
Zu sehn, wie Teufel die Natur betrachten.

MEPHISTOPHELES:
Was geht mich’s an! Natur sei, wie sie sei!
’s ist Ehrenpunkt: der Teufel war dabei!
Wir sind die Leute, Großes zu erreichen;
Tumult, Gewalt und Unsinn! sieh das Zeichen!–
Doch, daß ich endlich ganz verständlich spreche,
Gefiel dir nichts an unsrer Oberfläche?
Du übersahst, in ungemeßnen Weiten,
Die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten. ((matth. 4))
Doch, ungenügsam, wie du bist,
Empfandest du wohl kein Gelüst?

FAUST:
Und doch! ein Großes zog mich an.
Errate!

MEPHISTOPHELES:
Das ist bald getan.
Ich suchte mir so eine Hauptstadt aus,
Im Kerne Bürger-Nahrungs-Graus,
Krummenge Gäßchen, spitze Giebeln,
Beschränkten Markt, Kohl, Rüben, Zwiebeln;
Fleischbänke, wo die Schmeißen hausen,
Die fetten Braten anzuschmausen;
Da findest du zu jeder Zeit
Gewiß Gestank und Tätigkeit.
Dann weite Plätze, breite Straßen,
Vornehmen Schein sich anzumaßen;
Und endlich, wo kein Tor beschränkt,
Vorstädte grenzenlos verlängt.
Da freut‘ ich mich an Rollekutschen,
Am lärmigen Hin- und Widerrutschen,
Am ewigen Hin- und Widerlaufen
Zerstreuter Ameis-Wimmelhaufen.
Und wenn ich führe, wenn ich ritte,
Erschien‘ ich immer ihre Mitte,
Von Hunderttausenden verehrt.

FAUST:
Das kann mich nicht zufriedenstellen.
Man freut sich, daß das Volk sich mehrt,
Nach seiner Art behaglich nährt,
Sogar sich bildet, sich belehrt–
Und man erzieht sich nur Rebellen.

MEPHISTOPHELES:
Dann baut‘ ich, grandios, mir selbst bewußt,
Am lustigen Ort ein Schloß zur Lust.
Wald, Hügel, Flächen, Wiesen, Feld
Zum Garten prächtig umbestellt.
Vor grünen Wänden Sammetmatten,
Schnurwege, kunstgerechte Schatten,
Kaskadensturz, durch Fels zu Fels gepaart,
Und Wasserstrahlen aller Art;
Ehrwürdig steigt es dort, doch an den Seiten
Da zischt’s und pißt’s in tausend Kleinigkeiten.
Dann aber ließ ich allerschönsten Frauen
Vertraut-bequeme Häuslein bauen;
Verbrächte da grenzenlose Zeit
In allerliebst-geselliger Einsamkeit.
Ich sage Fraun; denn ein für allemal
Denk‘ ich die Schönen im Plural.

FAUST:
Schlecht und modern! Sardanapal!

MEPHISTOPHELES:
Errät man wohl, wornach du strebtest?
Es war gewiß erhaben kühn.
Der du dem Mond um so viel näher schwebtest,
Dich zog wohl deine Sucht dahin?

FAUST:
Mit nichten! dieser Erdenkreis
Gewährt noch Raum zu großen Taten.
Erstaunenswürdiges soll geraten,
Ich fühle Kraft zu kühnem Fleiß.

MEPHISTOPHELES:
Und also willst du Ruhm verdienen?
Man merkt’s, du kommst von Heroinen.

FAUST:
Herrschaft gewinn‘ ich, Eigentum!
Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.

MEPHISTOPHELES:
Doch werden sich Poeten finden,
Der Nachwelt deinen Glanz zu künden,
Durch Torheit Torheit zu entzünden.

FAUST:
Von allem ist dir nichts gewährt.
Was weißt du, was der Mensch begehrt?
Dein widrig Wesen, bitter, scharf,
Was weiß es, was der Mensch bedarf?

MEPHISTOPHELES:
Geschehe denn nach deinem Willen!
Vertraue mir den Umfang deiner Grillen.

FAUST:
Mein Auge war aufs hohe Meer gezogen;
Es schwoll empor, sich in sich selbst zu türmen,
Dann ließ es nach und schüttete die Wogen,
Des flachen Ufers Breite zu bestürmen.
Und das verdroß mich; wie der übermut
Den freien Geist, der alle Rechte schätzt,
Durch leidenschaftlich aufgeregtes Blut
Ins Mißbehagen des Gefühls versetzt.
Ich hielt’s für Zufall, schärfte meinen Blick:
Die Woge stand und rollte dann zurück,
Entfernte sich vom stolz erreichten Ziel;
Die Stunde kommt, sie wiederholt das Spiel.

MEPHISTOPHELES:
Da ist für mich nichts Neues zu erfahren,
Das kenn‘ ich schon seit hunderttausend Jahren.

FAUST:
Sie schleicht heran, an abertausend Enden,
Unfruchtbar selbst, Unfruchtbarkeit zu spenden;
Nun schwillt’s und wächst und rollt und überzieht
Der wüsten Strecke widerlich Gebiet.
Da herrschet Well‘ auf Welle kraftbegeistet,
Zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet,
Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte!
Zwecklose Kraft unbändiger Elemente!
Da wagt mein Geist, sich selbst zu überfliegen;
Hier möcht‘ ich kämpfen, dies möcht‘ ich besiegen.
Und es ist möglich!–Flutend wie sie sei,
An jedem Hügel schmiegt sie sich vorbei;
Sie mag sich noch so übermütig regen,
Geringe Höhe ragt ihr stolz entgegen,
Geringe Tiefe zieht sie mächtig an.
Da faßt‘ ich schnell im Geiste Plan auf Plan:
Erlange dir das köstliche Genießen,
Das herrische Meer vom Ufer auszuschließen,
Der feuchten Breite Grenzen zu verengen
Und, weit hinein, sie in sich selbst zu drängen.
Von Schritt zu Schritt wußt‘ ich mir’s zu erörtern;
Das ist mein Wunsch, den wage zu befördern!

MEPHISTOPHELES:
Wie leicht ist das! Hörst du die Trommeln fern?

FAUST:
Schon wieder Krieg! der Kluge hört’s nicht gern.

MEPHISTOPHELES:
Krieg oder Frieden. Klug ist das Bemühen,
Zu seinem Vorteil etwas auszuziehen.
Man paßt, man merkt auf jedes günstige Nu.
Gelegenheit ist da, nun, Fauste, greife zu!

FAUST:
Mit solchem Rätselkram verschone mich!
Und kurz und gut, was soll’s? Erkläre dich.

MEPHISTOPHELES:
Auf meinem Zuge blieb mir nicht verborgen:
Der gute Kaiser schwebt in großen Sorgen.
Du kennst ihn ja. Als wir ihn unterhielten,
Ihm falschen Reichtum in die Hände spielten,
Da war die ganze Welt ihm feil.
Denn jung ward ihm der Thron zuteil,
Und ihm beliebt‘ es, falsch zu schließen,
Es könne wohl zusammengehn
Und sei recht wünschenswert und schön:
Regieren und zugleich genießen.

FAUST:
Ein großer Irrtum. Wer befehlen soll,
Muß im Befehlen Seligkeit empfinden.
Ihm ist die Brust von hohem Willen voll,
Doch was er will, es darf’s kein Mensch ergründen.
Was er den Treusten in das Ohr geraunt,
Es ist getan, und alle Welt erstaunt.
So wird er stets der Allerhöchste sein,
Der Würdigste–; Genießen macht gemein.

MEPHISTOPHELES:
So ist er nicht. Er selbst genoß, und wie!
Indes zerfiel das Reich in Anarchie,
Wo groß und klein sich kreuz und quer befehdeten
Und Brüder sich vertrieben, töteten,
Burg gegen Burg, Stadt gegen Stadt,
Zunft gegen Adel Fehde hat,
Der Bischof mit Kapitel und Gemeinde;
Was sich nur ansah, waren Feinde.
In Kirchen Mord und Totschlag, vor den Toren
Ist jeder Kauf- und Wandersmann verloren.
Und allen wuchs die Kühnheit nicht gering;
Denn leben hieß sich wehren.–Nun, das ging.

FAUST:
Es ging–es hinkte, fiel, stand wieder auf,
Dann überschlug sich’s, rollte plump zuhauf.

MEPHISTOPHELES:
Und solchen Zustand durfte niemand schelten,
Ein jeder konnte, jeder wollte gelten.
Der Kleinste selbst, er galt für voll.
Doch war’s zuletzt den Besten allzutoll.
Die Tüchtigen, sie standen auf mit Kraft
Und sagten: Herr ist, der uns Ruhe schafft.
Der Kaiser kann’s nicht, will’s nicht–laßt uns wählen,
Den neuen Kaiser neu das Reich beseelen,
Indem er jeden sicher stellt,
In einer frisch geschaffnen Welt
Fried‘ und Gerechtigkeit vermählen.

FAUST:
Das klingt sehr pfäffisch.

MEPHISTOPHELES:
Pfaffen waren’s auch,
Sie sicherten den wohlgenährten Bauch.
Sie waren mehr als andere beteiligt.
Der Aufruhr schwoll, der Aufruhr ward geheiligt;
Und unser Kaiser, den wir froh gemacht,
Zieht sich hieher, vielleicht zur letzten Schlacht.

FAUST:
Er jammert mich; er war so gut und offen.

MEPHISTOPHELES:
Komm, sehn wir zu! der Lebende soll hoffen.
Befrein wir ihn aus diesem engen Tale!
Einmal gerettet, ist’s für tausend Male.
Wer weiß, wie noch die Würfel fallen?
Und hat er Glück, so hat er auch Vasallen.

MEPHISTOPHELES:
Die Stellung, seh‘ ich, gut ist sie genommen;
Wir treten zu, dann ist der Sieg vollkommen.

FAUST:
Was kann da zu erwarten sein?
Trug! Zauberblendwerk! Hohler Schein.

MEPHISTOPHELES:
Kriegslist, um Schlachten zu gewinnen!
Befestige dich bei großen Sinnen,
Indem du deinen Zweck bedenkst.
Erhalten wir dem Kaiser Thron und Lande,
So kniest du nieder und empfängst
Die Lehn von grenzenlosem Strande.

FAUST:
Schon manches hast du durchgemacht,
Nun, so gewinn auch eine Schlacht!

MEPHISTOPHELES:
Nein, du gewinnst sie! Diesesmal
Bist du der Obergeneral.

FAUST:
Das wäre mir die rechte Höhe,
Da zu befehlen, wo ich nichts verstehe!

MEPHISTOPHELES:
Laß du den Generalstab sorgen,
Und der Feldmarschall ist geborgen.
Kriegsunrat hab‘ ich längst verspürt,
Den Kriegsrat gleich voraus formiert
Aus Urgebirgs Urmenschenkraft;
Wohl dem, der sie zusammenrafft.

FAUST:
Was seh‘ ich dort, was Waffen trägt?
Hast du das Bergvolk aufgeregt?

MEPHISTOPHELES:
Nein! aber, gleich Herrn Peter Squenz,
Vom ganzen Praß die Quintessenz.

MEPHISTOPHELES:
Da kommen meine Bursche ja!
Du siehst, von sehr verschiednen Jahren,
Verschiednem Kleid und Rüstung sind sie da;
Du wirst nicht schlecht mit ihnen fahren.
Es liebt sich jetzt ein jedes Kind
Den Harnisch und den Ritterkragen;
Und, allegorisch wie die Lumpe sind,
Sie werden nur um desto mehr behagen.

RAUFEBOLD:
Wenn einer mir ins Auge sieht,
Werd‘ ich ihm mit der Faust gleich in die Fresse fahren,
Und eine Memme, wenn sie flieht,
Fass‘ ich bei ihren letzten Haaren.

HABEBALD:
So leere Händel, das sind Possen,
Damit verdirbt man seinen Tag;
Im Nehmen sei nur unverdrossen,
Nach allem andern frag‘ hernach.

HALTEFEST:
Damit ist auch nicht viel gewonnen!
Bald ist ein großes Gut zerronnen,
Es rauscht im Lebensstrom hinab.
Zwar nehmen ist recht gut, doch besser ist’s, behalten;
Laß du den grauen Kerl nur walten,
Und niemand nimmt dir etwas ab.

Auf dem Vorgebirg

obergeneral
Noch immer scheint der Vorsatz wohlerwogen,
Daß wir in dies gelegene Tal
Das ganze Heer gedrängt zurückgezogen;
Ich hoffe fest, uns glückt die Wahl.

KAISER:
Wie es nun geht, es muß sich zeigen;
Doch mich verdrießt die halbe Flucht, das Weichen.

OBERGENERAL:
Schau hier, mein Fürst, auf unsre rechte Flanke!
Solch ein Terrain wünscht sich der Kriegsgedanke:
Nicht steil die Hügel, doch nicht allzu gänglich,
Den Unsern vorteilhaft, dem Feind verfänglich;
Wir, halb versteckt, auf wellenförmigem Plan;
Die Reiterei, sie wagt sich nicht heran.

KAISER:
Mir bleibt nichts übrig, als zu loben;
Hier kann sich Arm und Brust erproben.

OBERGENERAL:
Hier, auf der Mittelwiese flachen Räumlichkeiten,
Siehst du den Phalanx, wohlgemut zu streiten.
Die Piken blinken flimmernd in der Luft,
Im Sonnenglanz, durch Morgennebelduft.
Wie dunkel wogt das mächtige Quadrat!
Zu Tausenden glüht’s hier auf große Tat.
Du kannst daran die Masse Kraft erkennen,
Ich trau‘ ihr zu, der Feinde Kraft zu trennen.

KAISER:
Den schönen Blick hab‘ ich zum erstenmal.
Ein solches Heer gilt für die Doppelzahl.

OBERGENERAL:
Von unsrer Linken hab‘ ich nichts zu melden,
Den starren Fels besetzen wackere Helden,
Das Steingeklipp, das jetzt von Waffen blitzt,
Den wichtigen Paß der engen Klause schützt.
Ich ahne schon, hier scheitern Feindeskräfte
Unvorgesehn im blutigen Geschäfte.

KAISER:
Dort ziehn sie her, die falschen Anverwandten,
Wie sie mich Oheim, Vetter, Bruder nannten,
Sich immer mehr und wieder mehr erlaubten,
Dem Zepter Kraft, dem Thron Verehrung raubten,
Dann, unter sich entzweit, das Reich verheerten
Und nun gesamt sich gegen mich empörten.
Die Menge schwankt im ungewissen Geist,
Dann strömt sie nach, wohin der Strom sie reißt.

OBERGENERAL:
Ein treuer Mann, auf Kundschaft ausgeschickt,
Kommt eilig felsenab; sei’s ihm geglückt!

ERSTER KUNDSCHAFTER:
Glücklich ist sie uns gelungen,
Listig, mutig, unsre Kunst,
Daß wir hin und her gedrungen;
Doch wir bringen wenig Gunst.
Viele schwören reine Huldigung
Dir, wie manche treue Schar;
Doch Untätigkeits-Entschuldigung:
Innere Gärung, Volksgefahr.

KAISER:
Sich selbst erhalten bleibt der Selbstsucht Lehre,
Nicht Dankbarkeit und Neigung, Pflicht und Ehre.
Bedenkt ihr nicht, wenn eure Rechnung voll,
Daß Nachbars Hausbrand euch verzehren soll?

OBERGENERAL:
Der zweite kommt, nur langsam steigt er nieder,
Dem müden Manne zittern alle Glieder.

ZWEITER KUNDSCHAFTER:
Erst gewahrten wir vergnüglich
Wilden Wesens irren Lauf;
Unerwartet, unverzüglich
Trat ein neuer Kaiser auf.
Und auf vorgeschriebnen Bahnen
Zieht die Menge durch die Flur;
Den entrollten Lügenfahnen
Folgen alle.–Schafsnatur!

KAISER:
Ein Gegenkaiser kommt mir zum Gewinn:
Nun fühl‘ ich erst, daß ich der Kaiser bin.
Nur als Soldat legt‘ ich den Harnisch an,
Zu höherm Zweck ist er nun umgetan.
Bei jedem Fest, wenn’s noch so glänzend war,
Nichts ward vermißt, mir fehlte die Gefahr.
Wie ihr auch seid, zum Ringspiel rietet ihr,
Mir schlug das Herz, ich atmete Turnier;
Und hättet ihr mir nicht vom Kriegen abgeraten,
Jetzt glänzt‘ ich schon in lichten Heldentaten.
Selbständig fühlt‘ ich meine Brust besiegelt,
Als ich mich dort im Feuerreich bespiegelt;
Das Element drang gräßlich auf mich los,
Es war nur Schein, allein der Schein war groß.
Von Sieg und Ruhm hab‘ ich verwirrt geträumt;
Ich bringe nach, was frevelhaft versäumt.

FAUST:
Wir treten auf und hoffen, ungescholten;
Auch ohne Not hat Vorsicht wohl gegolten.
Du weißt, das Bergvolk denkt und simuliert,
Ist in Natur- und Felsenschrift studiert.
Die Geister, längst dem flachen Land entzogen,
Sind mehr als sonst dem Felsgebirg gewogen.
Sie wirken still durch labyrinthische Klüfte
Im edlen Gas metallisch reicher Düfte;
In stetem Sondern, Prüfen und Verbinden
Ihr einziger Trieb ist, Neues zu erfinden.
Mit leisem Finger geistiger Gewalten
Erbauen sie durchsichtige Gestalten;
Dann im Kristall und seiner ewigen Schweignis
Erblicken sie der Oberwelt Ereignis.

KAISER:
Vernommen hab‘ ich’s, und ich glaube dir;
Doch, wackrer Mann, sag an: was soll das hier?

FAUST:
Der Nekromant von Norcia, der Sabiner,
Ist dein getreuer, ehrenhafter Diener.
Welch greulich Schicksal droht‘ ihm ungeheuer!
Das Reisig prasselte, schon züngelte das Feuer;
Die trocknen Scheite, ringsumher verschränkt,
Mit Pech und Schwefelruten untermengt;
Nicht Mensch, noch Gott, noch Teufel konnte retten,
Die Majestät zersprengte glühende Ketten.
Dort war’s in Rom. Er bleibt dir hoch verpflichtet,
Auf deinen Gang in Sorge stets gerichtet.
Von jener Stund‘ an ganz vergaß er sich,
Er fragt den Stern, die Tiefe nur für dich.
Er trug uns auf, als eiligstes Geschäfte,
Bei dir zu stehn. Groß sind des Berges Kräfte;
Da wirkt Natur so übermächtig frei,
Der Pfaffen Stumpfsinn schilt es Zauberei.

KAISER:
Am Freudentag, wenn wir die Gäste grüßen,
Die heiter kommen, heiter zu genießen,
Da freut uns jeder, wie er schiebt und drängt
Und, Mann für Mann, der Säle Raum verengt.
Doch höchst willkommen muß der Biedre sein,
Tritt er als Beistand kräftig zu uns ein
Zur Morgenstunde, die bedenklich waltet,
Weil über ihr des Schicksals Waage schaltet.
Doch lenket hier im hohen Augenblick
Die starke Hand vom willigen Schwert zurück,
Ehrt den Moment, wo manche Tausend schreiten,
Für oder wider mich zu streiten.
Selbst ist der Mann! Wer Thron und Kron‘ begehrt,
Persönlich sei er solcher Ehren wert.
Sei das Gespenst, das, gegen uns erstanden,
Sich Kaiser nennt und Herr von unsern Landen,
Des Heeres Herzog, Lehnherr unsrer Großen,
Mit eigner Faust ins Totenreich gestoßen!

FAUST:
Wie es auch sei, das Große zu vollenden,
Du tust nicht wohl, dein Haupt so zu verpfänden.
Ist nicht der Helm mit Kamm und Busch geschmückt?
Er schützt das Haupt, das unsern Mut entzückt.
Was, ohne Haupt, was förderten die Glieder?
Denn schläfert jenes, alle sinken nieder;
Wird es verletzt, gleich alle sind verwundet,
Erstehen frisch, wenn jenes rasch gesundet.
Schnell weiß der Arm sein starkes Recht zu nützen;
Er hebt den Schild, den Schädel zu beschützen;
Das Schwert gewahret seiner Pflicht sogleich,
Lenkt kräftig ab und wiederholt den Streich;
Der tüchtige Fuß nimmt teil an ihrem Glück,
Setzt dem Erschlagnen frisch sich ins Genick.

KAISER:
Das ist mein Zorn, so möcht‘ ich ihn behandeln,
Das stolze Haupt in Schemeltritt verwandeln!

HEROLDE:
Wenig Ehre, wenig Geltung
Haben wir daselbst genossen,
Unsrer kräftig edlen Meldung
Lachten sie als schaler Possen:
„Euer Kaiser ist verschollen,
Echo dort im engen Tal;
Wenn wir sein gedenken sollen,
Märchen sagt:–Es war einmal.“

FAUST:
Dem Wunsch gemäß der Besten ist’s geschehn,
Die fest und treu an deiner Seite stehn.
Dort naht der Feind, die Deinen harren brünstig;
Befiehl den Angriff, der Moment ist günstig.

KAISER:
Auf das Kommando leist‘ ich hier Verzicht.
In deinen Händen, Fürst, sei deine Pflicht.

OBERGENERAL:
So trete denn der rechte Flügel an!
Des Feindes Linke, eben jetzt im Steigen,
Soll, eh‘ sie noch den letzten Schritt getan,
Der Jungendkraft geprüfter Treue weichen.

FAUST:
Erlaube denn, daß dieser muntre Held
Sich ungesäumt in deine Reihen stellt,
Sich deinen Reihen innigst einverleibt
Und, so gesellt, sein kräftig Wesen treibt.

RAUFEBOLD:
Wer das Gesicht mir zeigt, der kehrt’s nicht ab
Als mit zerschlagnen Unter- und Oberbacken;
Wer mir den Rücken kehrt, gleich liegt ihm schlapp
Hals, Kopf und Schopf hinschlotternd graß im Nacken.
Und schlagen deine Männer dann
Mit Schwert und Kolben, wie ich wüte,
So stürzt der Feind, Mann über Mann,
Ersäuft im eigenen Geblüte.

OBERGENERAL:
Der Phalanx unsrer Mitte folge sacht,
Dem Feind begegn‘ er, klug mit aller Macht;
Ein wenig rechts, dort hat bereits, erbittert,
Der Unsern Streitkraft ihren Plan erschüttert.

FAUST:
So folge denn auch dieser deinem Wort!
Er ist behend, reißt alles mit sich fort.

HABEBALD:
Dem Heldenmut der Kaiserscharen
Soll sich der Durst nach Beute paaren;
Und allen sei das Ziel gestellt:
Des GegenKAISER:s reiches Zelt.
Er prahlt nicht lang auf seinem Sitze,
Ich ordne mich dem Phalanx an die Spitze.

EILEBEUTE:
Bin ich auch ihm nicht angeweibt,
Er mir der liebste Buhle bleibt.
Für uns ist solch ein Herbst gereift!
Die Frau ist grimmig, wenn sie greift,
Ist ohne Schonung, wenn sie raubt;
Im Sieg voran! und alles ist erlaubt.

OBERGENERAL:
Auf unsre Linke, wie vorauszusehn,
Stürzt ihre Rechte, kräftig. Widerstehn
Wird Mann für Mann dem wütenden Beginnen,
Den engen Paß des Felswegs zu gewinnen.

FAUST:
So bitte, Herr, auch diesen zu bemerken;
Es schadet nichts, wenn Starke sich verstärken.

HALTEFEST:
Dem linken Flügel keine Sorgen!
Da, wo ich bin, ist der Besitz geborgen;
In ihm bewähret sich der Alte,
Kein Strahlblitz spaltet, was ich halte.

MEPHISTOPHELES:
Nun schauet, wie im Hintergrunde
Aus jedem zackigen Felsenschlunde
Bewaffnete hervor sich drängen,
Die schmalen Pfade zu verengen,
Mit Helm und Harnisch, Schwertern, Schilden
In unserm Rücken eine Mauer bilden,
Den Wink erwartend, zuzuschlagen.
Woher das kommt, müßt ihr nicht fragen.
Ich habe freilich nicht gesäumt,
Die Waffensäle ringsum ausgeräumt;
Da standen sie zu Fuß, zu Pferde,
Als wären sie noch Herrn der Erde;
Sonst waren’s Ritter, König, Kaiser,
Jetzt sind es nichts als leere Schneckenhäuser;
Gar manch Gespenst hat sich darein geputzt,
Das Mittelalter lebhaft aufgestutzt.
Welch Teufelchen auch drinne steckt,
Für diesmal macht es doch Effekt.
Hört, wie sie sich voraus erbosen,
Blechklappernd aneinander stoßen!
Auch flattern Fahnenfetzen bei Standarten,
Die frischer Lüftchen ungeduldig harrten.
Bedenkt, hier ist ein altes Volk bereit
Und mischte gern sich auch zum neuen Streit.

FAUST:
Der Horizont hat sich verdunkelt,
Nur hie und da bedeutend funkelt
Ein roter ahnungsvoller Schein;
Schon blutig blinken die Gewehre;
Der Fels, der Wald, die Atmosphäre,
Der ganze Himmel mischt sich ein.

MEPHISTOPHELES:
Die rechte Flanke hält sich kräftig;
Doch seh‘ ich ragend unter diesen
Hans Raufbold, den behenden Riesen,
Auf seine Weise rasch geschäftig.

KAISER:
Erst sah ich einen Arm erhoben,
Jetzt seh‘ ich schon ein Dutzend toben;
Naturgemäß geschieht es nicht.

FAUST:
Vernahmst du nichts von Nebelstreifen,
Die auf Siziliens Küsten schweifen?
Dort, schwankend klar, im Tageslicht,
Erhoben zu den Mittellüften,
Gespiegelt in besondern Düften,
Erscheint ein seltsames Gesicht:
Da schwanken Städte hin und wider,
Da steigen Gärten auf und nieder,
Wie Bild um Bild den äther bricht.

KAISER:
Doch wie bedenklich! Alle Spitzen
Der hohen Speere seh‘ ich blitzen;
Auf unsres Phalanx blanken Lanzen
Seh‘ ich behende Flämmchen tanzen.
Das scheint mir gar zu geisterhaft.

FAUST:
Verzeih, o Herr, das sind die Spuren
Verschollner geistiger Naturen,
Ein Widerschein der Dioskuren,
Bei denen alle Schiffer schwuren;
Sie sammeln hier die letzte Kraft.

KAISER:
Doch sage: wem sind wir verpflichtet,
Daß die Natur, auf uns gerichtet,
Das Seltenste zusammenrafft?

MEPHISTOPHELES:
Wem als dem Meister, jenem hohen,
Der dein Geschick im Busen trägt?
Durch deiner Feinde starkes Drohen
Ist er im Tiefsten aufgeregt.
Sein Dank will dich gerettet sehen,
Und sollt‘ er selbst daran vergehen.

KAISER:
Sie jubelten, mich pomphaft umzuführen;
Ich war nun was, das wollt‘ ich auch probieren
Und fand’s gelegen, ohne viel zu denken,
Dem weißen Barte kühle Luft zu schenken.
Dem Klerus hab‘ ich eine Lust verdorben,
Und ihre Gunst mir freilich nicht erworben.
Nun sollt‘ ich, seit so manchen Jahren,
Die Wirkung frohen Tuns erfahren?

FAUST:
Freiherzige Wohltat wuchert reich;
Laß deinen Blick sich aufwärts wenden!
Mich deucht, er will ein Zeichen senden,
Gib acht, es deutet sich sogleich.

KAISER:
Ein Adler schwebt im Himmelhohen,
Ein Greif ihm nach mit wildem Drohen.

FAUST:
Gib acht: gar günstig scheint es mir.
Greif ist ein fabelhaftes Tier;
Wie kann es sich so weit vergessen,
Mit echtem Adler sich zu messen?

KAISER:
Nunmehr, in weitgedehnten Kreisen,
Umziehn sie sich;–in gleichem Nu
Sie fahren aufeinander zu,
Sich Brust und Hälse zu zerreißen.

FAUST:
Nun merke, wie der leidige Greif,
Zerzerrt, zerzaust, nur Schaden findet
Und mit gesenktem Löwenschweif,
Zum Gipfelwald gestürzt, verschwindet.

KAISER:
Sei’s, wie gedeutet, so getan!
Ich nehm‘ es mit Verwundrung an.

MEPHISTOPHELES:
Dringend wiederholten Streichen
Müssen unsre Feinde weichen,
Und mit ungewissem Fechten
Drängen sie nach ihrer Rechten
Und verwirren so im Streite
Ihrer Hauptmacht linke Seite.
Unsers Phalanx feste Spitze
Zieht sich rechts, und gleich dem Blitze
Fährt sie in die schwache Stelle.–
Nun, wie sturmerregte Welle
Sprühend, wüten gleiche Mächte
Wild in doppeltem Gefechte;
Herrlichers ist nichts ersonnen,
Uns ist diese Schlacht gewonnen!

KAISER:
Schau! Mir scheint es dort bedenklich,
Unser Posten steht verfänglich.
Keine Steine seh‘ ich fliegen,
Niedre Felsen sind erstiegen,
Obre stehen schon verlassen.
Jetzt!–Der Feind, zu ganzen Massen
Immer näher angedrungen,
Hat vielleicht den Paß errungen,
Schlußerfolg unheiligen Strebens!
Eure Künste sind vergebens.

MEPHISTOPHELES:
Da kommen meine beiden Raben,
Was mögen die für Botschaft haben?
Ich fürchte gar, es geht uns schlecht.

KAISER:
Was sollen diese leidigen Vögel?
Sie richten ihre schwarzen Segel
Hierher vom heißen Felsgefecht.

MEPHISTOPHELES:
Setzt euch ganz nah zu meinen Ohren.
Wen ihr beschützt, ist nicht verloren,
Denn euer Rat ist folgerecht.

FAUST:
Von Tauben hast du ja vernommen,
Die aus den fernsten Landen kommen
Zu ihres Nestes Brut und Kost.
Hier ist’s mit wichtigen Unterschieden:
Die Taubenpost bedient den Frieden,
Der Krieg befiehlt die Rabenpost.

MEPHISTOPHELES:
Es meldet sich ein schwer Verhängnis:
Seht hin! gewahret die Bedrängnis
Um unsrer Helden Felsenrand!
Die nächsten Höhen sind erstiegen,
Und würden sie den Paß besiegen,
Wir hätten einen schweren Stand.

KAISER:
So bin ich endlich doch betrogen!
Ihr habt mich in das Netz gezogen;
Mir graut, seitdem es mich umstrickt.

MEPHISTOPHELES:
Nur Mut! Noch ist es nicht mißglückt.
Geduld und Pfiff zum letzten Knoten!
Gewöhnlich geht’s am Ende scharf.
Ich habe meine sichern Boten;
Befehlt, daß ich befehlen darf!

OBERGENERAL:
Mit diesen hast du dich vereinigt,
Mich hat’s die ganze Zeit gepeinigt,
Das Gaukeln schafft kein festes Glück.
Ich weiß nichts an der Schlacht zu wenden;
Begannen sie’s, sie mögen’s enden,
Ich gebe meinen Stab zurück.

KAISER:
Behalt ihn bis zu bessern Stunden,
Die uns vielleicht das Glück verleiht.
Mir schaudert vor dem garstigen Kunden
Und seiner Rabentraulichkeit.
Den Stab kann ich dir nicht verleihen,
Du scheinst mir nicht der rechte Mann;
Befiehl und such uns zu befreien!
Geschehe, was geschehen kann.

MEPHISTOPHELES:
Mag ihn der stumpfe Stab beschützen!
Uns andern könnt‘ er wenig nützen,
Es war so was vom Kreuz daran.

FAUST:
Was ist zu tun? +

MEPHISTOPHELES:
Es ist getan!–
Nun, schwarze Vettern, rasch im Dienen,
Zum großen Bergsee! grüßt mir die Undinen
Und bittet sie um ihrer Fluten Schein.
Durch Weiberkünste, schwer zu kennen,
Verstehen sie vom Sein den Schein zu trennen,
Und jeder schwört, das sei das Sein.

FAUST:
Den Wasserfräulein müssen unsre Raben
Recht aus dem Grund geschmeichelt haben;
Dort fängt es schon zu rieseln an.
An mancher trocknen, kahlen Felsenstelle
Entwickelt sich die volle, rasche Quelle;
Um jener Sieg ist es getan.

MEPHISTOPHELES:
Das ist ein wunderbarer Gruß,
Die kühnsten Klettrer sind konfus.

FAUST:
Schon rauscht ein Bach zu Bächen mächtig nieder,
Aus Schluchten kehren sie gedoppelt wieder,
Ein Strom nun wirft den Bogenstrahl;
Auf einmal legt er sich in flache Felsenbreite
Und rauscht und schäumt nach der und jener Seite,
Und stufenweise wirft er sich ins Tal.
Was hilft ein tapfres, heldenmäßiges Stemmen?
Die mächtige Woge strömt, sie wegzuschwemmen.
Mir schaudert selbst vor solchem wilden Schwall.

MEPHISTOPHELES:
Ich sehe nichts von diesen Wasserlügen,
Nur Menschenaugen lassen sich betrügen,
Und mich ergetzt der wunderliche Fall.
Sie stürzen fort zu ganzen Haufen,
Die Narren wähnen zu ersaufen,
Indem sie frei auf festem Lande schnaufen
Und lächerlich mit Schwimmgebärden laufen.
Nun ist Verwirrung überall.
Ich werd‘ euch bei dem hohen Meister loben;
Wollt ihr euch nun als Meister selbst erproben,
So eilet zu der glühnden Schmiede,
Wo das Gezwergvolk, nimmer müde,
Metall und Stein zu Funken schlägt.
Verlangt, weitläufig sie beschwatzend,
Ein Feuer, leuchtend, blinkend, platzend,
Wie man’s im hohen Sinne hegt.
Zwar Wetterleuchten in der weiten Ferne,
Blickschnelles Fallen allerhöchster Sterne
Mag jede Sommernacht geschehn;
Doch Wetterleuchten in verworrnen Büschen
Und Sterne, die am feuchten Boden zischen,
Das hat man nicht so leicht gesehn.
So müßt ihr, ohn‘ euch viel zu quälen,
Zuvörderst bitten, dann befehlen.

MEPHISTOPHELES:
Den Feinden dichte Finsternisse!
Und Tritt und Schritt ins Ungewisse!
Irrfunkenblick an allen Enden,
Ein Leuchten, plötzlich zu verblenden!
Das alles wäre wunderschön,
Nun aber braucht’s noch Schreckgetön.

FAUST:
Die hohlen Waffen aus der Säle Grüften
Empfinden sich erstarkt in freien Lüften;
Da droben klappert’s, rasselt’s lange schon,
Ein wunderbarer falscher Ton.

MEPHISTOPHELES:
Ganz recht! Sie sind nicht mehr zu zügeln;
Schon schallt’s von ritterlichen Prügeln,
Wie in der holden alten Zeit.
Armschienen wie der Beine Schienen,
Als Guelfen und als Ghibellinen,
Erneuen rasch den ewigen Streit.
Fest, im ererbten Sinne wöhnlich,
Erweisen sie sich unversöhnlich;
Schon klingt das Tosen weit und breit.
Zuletzt, bei allen Teufelsfesten,
Wirkt der Parteihaß doch zum besten,
Bis in den allerletzten Graus;
Schallt wider-widerwärtig panisch,
Mitunter grell und scharf satanisch,
Erschreckend in das Tal hinaus.

Des Gegenkaisers Zelt

EILEBEUTE:
So sind wir doch die ersten hier!

HABEBALD:
Kein Rabe fliegt so schnell als wir.

EILEBEUTE:
O! welch ein Schatz liegt hier zuhauf!
Wo fang‘ ich an? Wo hör‘ ich auf?

HABEBALD:
Steht doch der ganze Raum so voll!
Weiß nicht, wozu ich greifen soll.

EILEBEUTE:
Der Teppich wär‘ mir eben recht,
Mein Lager ist oft gar zu schlecht.

HABEBALD:
Hier hängt von Stahl ein Morgenstern,
Dergleichen hätt‘ ich lange gern.

EILEBEUTE:
Den roten Mantel goldgesäumt,
So etwas hatt‘ ich mir geträumt.

HABEBALD:
Damit ist es gar bald getan,
Man schlägt ihn tot und geht voran.
Du hast so viel schon aufgepackt
Und doch nichts Rechtes eingesackt.
Den Plunder laß an seinem Ort,
Nehm‘ eines dieser Kistchen fort!
Dies ist des Heers beschiedner Sold,
In seinem Bauche lauter Gold.

EILEBEUTE:
Das hat ein mörderisch Gewicht!
Ich heb‘ es nicht, ich trag‘ es nicht.

HABEBALD:
Geschwinde duck‘ dich! Mußt dich bücken!
Ich hucke dir’s auf den starken Rücken.

EILEBEUTE:
O weh! O weh, nun ist’s vorbei!
Die Last bricht mir das Kreuz entzwei.

HABEBALD:
Da liegt das rote Gold zuhauf–
Geschwinde zu und raff es auf!

EILEBEUTE:
Geschwinde nur zum Schoß hinein!
Noch immer wird’s zur Gnüge sein.

HABEBALD:
Und so genug! und eile doch!
O weh, die Schürze hat ein Loch!
Wohin du gehst und wo du stehst,
Verschwenderisch die Schätze säst.

TRABANTEN USERS KAISERS:
Was schafft ihr hier am heiligen Platz?
Was kramt ihr in dem Kaiserschatz?

HABEBALD:
Wir trugen unsre Glieder feil
Und holen unser Beuteteil.
In Feindeszelten ist’s der Brauch,
Und wir, Soldaten sind wir auch.

TRABANTEN:
Das passet nicht in unsern Kreis:
Zugleich Soldat und Diebsgeschmeiß;
Und wer sich unserm Kaiser naht,
Der sei ein redlicher Soldat.

HABEBALD:
Die Redlichkeit, die kennt man schon,
Sie heißet: Kontribution.
Ihr alle seid auf gleichem Fuß:
Gib her! das ist der Handwerksgruß.
Mach fort und schleppe, was du hast,
Hier sind wir nicht willkommner Gast.

ERSTER TRABANT:
Sag, warum gabst du nicht sogleich
Dem frechen Kerl einen Backenstreich?

ZWEITER:
Ich weiß nicht, mir verging die Kraft,
Sie waren so gespensterhaft.

DRITTER:
Mir ward es vor den Augen schlecht,
Da flimmert‘ es, ich sah nicht recht.

VIERTER:
Wie ich es nicht zu sagen weiß:
Es war den ganzen Tag so heiß,
So bänglich, so beklommen schwül,
Der eine stand, der andre fiel,
Man tappte hin und schlug zugleich,
Der Gegner fiel vor jedem Streich,
Vor Augen schwebt‘ es wie ein Flor,
Dann summt’s und saust’s und zischt‘ im Ohr;
Das ging so fort, nun sind wir da
Und wissen selbst nicht, wie’s geschah.

KAISER:
Es sei nun, wie ihm sei! uns ist die Schlacht gewonnen,
Des Feinds zerstreute Flucht im flachen Feld zerronnen.
Hier steht der leere Thron, verräterischer Schatz,
Von Teppichen umhüllt, verengt umher den Platz.
Wir, ehrenvoll geschützt von eigenen Trabanten,
Erwarten KAISER:lich der Völker Abgesandten;
Von allen Seiten her kommt frohe Botschaft an:
Beruhigt sei das Reich, uns freudig zugetan.
Hat sich in unsern Kampf auch Gaukelei geflochten,
Am Ende haben wir uns nur allein gefochten.
Zufälle kommen ja dem Streitenden zugut:
Vom Himmel fällt ein Stein, dem Feinde regnet’s Blut,
Aus Felsenhöhlen tönt’s von mächtigen Wunderklängen,
Die unsre Brust erhöhn, des Feindes Brust verengen.
Der überwundne fiel, zu stets erneutem Spott,
Der Sieger, wie er prangt, preist den gewognen Gott.
Und alles stimmt mit ein, er braucht nicht zu befehlen,
Herr Gott, dich loben wir! aus Millionen Kehlen.
Jedoch zum höchsten Preis wend‘ ich den frommen Blick,
Das selten sonst geschah, zur eignen Brust zurück.
Ein junger, muntrer Fürst mag seinen Tag vergeuden,
Die Jahre lehren ihn des Augenblicks Bedeuten.
Deshalb denn ungesäumt verbind‘ ich mich sogleich
Mit euch vier Würdigen, für Haus und Hof und Reich.
Dein war, o Fürst! des Heers geordnet kluge Schichtung,
Sodann im Hauptmoment heroisch kühne Richtung;
Im Frieden wirke nun, wie es die Zeit begehrt,
Erzmarschall nenn‘ ich dich, verleihe dir das Schwert.

ERZMARSCHALL:
Dein treues Heer, bis jetzt im Inneren beschäftigt,
Wenn’s an der Grenze dich und deinen Thron bekräftigt,
Dann sei es uns vergönnt, bei Festesdrang im Saal
Geräumiger Väterburg zu rüsten dir das Mahl.
Blank trag‘ ich’s dir dann vor, blank halt‘ ich dir’s zur Seite,
Der höchsten Majestät zu ewigem Geleite.

KAISER:
Der sich als tapfrer Mann auch zart gefällig zeigt,
Du! sei Erzkämmerer; der Auftrag ist nicht leicht.
Du bist der Oberste von allem Hausgesinde,
Bei deren innerm Streit ich schlechte Diener finde;
Dein Beispiel sei fortan in Ehren aufgestellt,
Wie man dem Herrn, dem Hof und allen wohlgefällt.

ERZKÄMMERER:
Des Herren großen Sinn zu fördern, bringt zu Gnaden:
Den Besten hülfreich sein, den Schlechten selbst nicht schaden,
Dann klar sein ohne List und ruhig ohne Trug!
Wenn du mich, Herr, durchschaust, geschieht mir schon genug.
Darf sich die Phantasie auf jenes Fest erstrecken?
Wenn du zur Tafel gehst, reich‘ ich das goldne Becken,
Die Ringe halt‘ ich dir, damit zur Wonnezeit
Sich deine Hand erfrischt, wie mich dein Blick erfreut.

KAISER:
Zwar fühl‘ ich mich zu ernst, auf Festlichkeit zu sinnen,
Doch sei’s! Es fördert auch frohmütiges Beginnen.
Dich wähl‘ ich zum Erztruchseß! Also sei fortan
Dir Jagd, Geflügelhof und Vorwerk untertan;
Der Lieblingsspeisen Wahl laß mir zu allen Zeiten,
Wie sie der Monat bringt, und sorgsam zubereiten.

ERZTRUCHSESS:
Streng Fasten sei für mich die angenehmste Pflicht,
Bis, vor dich hingestellt, dich freut ein Wohlgericht.
Der Küche Dienerschaft soll sich mit mir vereinigen,
Das Ferne beizuziehn, die Jahrszeit zu beschleunigen.
Dich reizt nicht Fern und Früh, womit die Tafel prangt,
Einfach und kräftig ist’s, wornach dein Sinn verlangt.

KAISER:
Weil unausweichlich hier sich’s nur von Festen handelt,
So sei mir, junger Held, zum Schenken umgewandelt.
Erzschenke, sorge nun, daß unsre Kellerei
Aufs reichlichste versorgt mit gutem Weine sei.
Du selbst sei mäßig, laß nicht über Heiterkeiten
Durch der Gelegenheit Verlocken dich verleiten!

ERZSCHENK:
Mein Fürst, die Jugend selbst, wenn man ihr nur vertraut,
Steht, eh‘ man sich’s versieht, zu Männern auferbaut.
Auch ich versetze mich zu jenem großen Feste;
Ein KAISER:lich Büfett schmück‘ ich aufs allerbeste
Mit Prachtgefäßen, gülden, silbern allzumal,
Doch wähl‘ ich dir voraus den lieblichsten Pokal:
Ein blank venedisch Glas, worin Behagen lauschet,
Des Weins Geschmack sich stärkt und nimmermehr berauschet.
Auf solchen Wunderschatz vertraut man oft zu sehr;
Doch deine Mäßigkeit, du Höchster, schützt noch mehr.

KAISER:
Was ich euch zugedacht in dieser ernsten Stunde,
Vernahmt ihr mit Vertraun aus zuverlässigem Munde.
Des Kaisers Wort ist groß und sichert jede Gift,
Doch zur Bekräftigung bedarf’s der edlen Schrift,
Bedarf’s der Signatur. Die förmlich zu bereiten,
Seh‘ ich den rechten Mann zu rechter Stunde schreiten.

KAISER:
Wenn ein Gewölbe sich dem Schlußstein anvertraut,
Dann ist’s mit Sicherheit für ewige Zeit erbaut.
Du siehst vier Fürsten da! Wir haben erst erörtert,
Was den Bestand zunächst von Haus und Hof befördert.
Nun aber, was das Reich in seinem Ganzen hegt,
Sei, mit Gewicht und Kraft, der Fünfzahl auferlegt.
An Ländern sollen sie vor allen andern glänzen;
Deshalb erweitr‘ ich gleich jetzt des Besitztums Grenzen
Vom Erbteil jener, die sich von uns abgewandt.
Euch Treuen sprech‘ ich zu so manches schöne Land,
Zugleich das hohe Recht, euch nach Gelegenheiten
Durch Anfall, Kauf und Tausch ins Weitre zu verbreiten;
Dann sei bestimmt–vergönnt, zu üben ungestört–,
Was von Gerechtsamen euch Landesherrn gehört.
Als Richter werdet ihr die Endurteile fällen,
Berufung gelte nicht von euern höchsten Stellen.
Dann Steuer, Zins und Beth‘, Lehn und Geleit und Zoll,
Berg-, Salz- und Münzregal euch angehören soll.
Denn meine Dankbarkeit vollgültig zu erproben,
Hab ich euch ganz zunächst der Majestät erhoben.

ERZBISCHOF:
Im Namen aller sei dir tiefster Dank gebracht!
Du machst uns stark und fest und stärkest deine Macht.

KAISER:
Euch fünfen will ich noch erhöhtere Würde geben.
Noch leb‘ ich meinem Reich und habe Lust, zu leben;
Doch hoher Ahnen Kette zieht bedächtigen Blick
Aus rascher Strebsamkeit ins Drohende zurück.
Auch werd‘ ich seinerzeit mich von den Teuren trennen,
Dann sei es eure Pflicht, den Folger zu ernennen.
Gekrönt erhebt ihn hoch auf heiligem Altar,
Und friedlich ende dann, was jetzt so stürmisch war.

ERZKANZLER:
Mit Stolz in tiefster Brust, mit Demut an Gebärde,
Stehn Fürsten dir gebeugt, die ersten auf der Erde.
Solang das treue Blut die vollen Adern regt,
Sind wir der Körper, den dein Wille leicht bewegt.

KAISER:
Und also sei, zum Schluß, was wir bisher betätigt,
Für alle Folgezeit durch Schrift und Zug bestätigt.
Zwar habt ihr den Besitz als Herren völlig frei,
Mit dem Beding jedoch, daß er unteilbar sei.
Und wie ihr auch vermehrt, was ihr von uns empfangen,
Es soll’s der ältste Sohn in gleichem Maß erlangen.

ERZKANZLER:
Dem Pergament alsbald vertrau‘ ich wohlgemut,
Zum Glück dem Reich und uns, das wichtigste Statut;
Reinschrift und Sieglung soll die Kanzelei beschäftigen,
Mit heiliger Signatur wirst du’s, der Herr, bekräftigen.

KAISER:
Und so entlass‘ ich euch, damit den großen Tag
Gesammelt jedermann sich überlegen mag.

DER GEISTLICHE:
Der Kanzler ging hinweg, der Bischof ist geblieben,
Vom ernsten Warnegeist zu deinem Ohr getrieben!
Sein väterliches Herz, von Sorge bangt’s um dich.

KAISER:
Was hast du Bängliches zur frohen Stunde? sprich!

ERZBISCHOF:
Mit welchem bittern Schmerz find‘ ich, in dieser Stunde,
Dein hochgeheiligt Haupt mit Satanas im Bunde!
Zwar, wie es scheinen will, gesichert auf dem Thron,
Doch leider! Gott dem Herrn, dem Vater Papst zum Hohn.
Wenn dieser es erfährt, schnell wird er sträflich richten,
Mit heiligem Strahl dein Reich, das sündige, zu vernichten.
Denn noch vergaß er nicht, wie du, zur höchsten Zeit,
An deinem Krönungstag, den Zauberer befreit.
Von deinem Diadem, der Christenheit zum Schaden,
Traf das verfluchte Haupt der erste Strahl der Gnaden.
Doch schlag an deine Brust und gib vom frevlen Glück
Ein mäßig Scherflein gleich dem Heiligtum zurück:
Den breiten Hügelraum, da, wo dein Zelt gestanden,
Wo böse Geister sich zu deinem Schutz verbanden,
Dem Lügenfürsten du ein horchsam Ohr geliehn,
Den stifte, fromm belehrt, zu heiligem Bemühn;
Mit Berg und dichtem Wald, so weit sie sich erstrecken,
Mit Höhen, die sich grün zu fetter Weide decken,
Fischreichen, klaren Seen, dann Bächlein ohne Zahl,
Wie sie sich, eilig schlängelnd, stürzen ab zu Tal;
Das breite Tal dann selbst, mit Wiesen, Gauen, Gründen:
Die Reue spricht sich aus, und du wirst Gnade finden.

KAISER:
Durch meinen schweren Fehl bin ich so tief erschreckt;
Die Grenze sei von dir nach eignem Maß gesteckt.

ERZBISCHOF:
Erst! der entweihte Raum, wo man sich so versündigt,
Sei alsobald zum Dienst des Höchsten angekündigt.
Behende steigt im Geist Gemäuer stark empor,
Der Morgensonne Blick erleuchtet schon das Chor,
Zum Kreuz erweitert sich das wachsende Gebäude,
Das Schiff erlängt, erhöht sich zu der Gläubigen Freude;
Sie strömen brünstig schon durchs würdige Portal,
Der erste Glockenruf erscholl durch Berg und Tal,
Von hohen Türmen tönt’s, wie sie zum Himmel streben,
Der Büßer kommt heran zu neugeschaffnem Leben.
Dem hohen Weihetag–er trete bald herein!–
Wird deine Gegenwart die höchste Zierde sein.

KAISER:
Mag ein so großes Werk den frommen Sinn verkündigen,
Zu preisen Gott den Herrn, so wie mich zu entsündigen.
Genug! Ich fühle schon, wie sich mein Sinn erhöht.

ERZBISCHOF:
Als Kanzler fördr‘ ich nun Schluß und Formalität.

KAISER:
Ein förmlich Dokument, der Kirche das zu eignen,
Du legst es vor, ich will’s mit Freuden unterzeichnen.

ERZBISCHOF:
Dann widmest du zugleich dem Werke, wie’s entsteht,
Gesamte Landsgefälle: Zehnten, Zinsen, Beth‘,
Für ewig. Viel bedarf’s zu würdiger Unterhaltung,
Und schwere Kosten macht die sorgliche Verwaltung.
Zum schnellen Aufbau selbst auf solchem wüsten Platz
Reichst du uns einiges Gold, aus deinem Beuteschatz.
Daneben braucht man auch, ich kann es nicht verschweigen,
Entferntes Holz und Kalk und Schiefer und dergleichen.
Die Fuhren tut das Volk, vom Predigtstuhl belehrt,
Die Kirche segnet den, der ihr zu Diensten fährt.

KAISER:
Die Sünd‘ ist groß und schwer, womit ich mich beladen;
Das leidige Zaubervolk bringt mich in harten Schaden.

ERZBISCHOF:
Verzeih, o Herr! Es ward dem sehr verrufnen Mann
Des Reiches Strand verliehn; doch diesen trifft der Bann,
Verleihst du reuig nicht der hohen Kirchenstelle
Auch dort den Zehnten, Zins und Gaben und Gefälle.

KAISER:
Das Land ist noch nicht da, im Meer liegt es breit.

ERZBISCHOF:
Wer ’s Recht hat und Geduld, für den kommt auch die Zeit.
Für uns mög‘ Euer Wort in seinen Kräften bleiben!

KAISER:
So könnt‘ ich wohl zunächst das ganze Reich verschreiben.

Offene Gegend

 

WANDRER:
Ja! sie sind’s, die dunkeln Linden,
Dort, in ihres Alters Kraft.
Und ich soll sie wiederfinden,
Nach so langer Wanderschaft!
Ist es doch die alte Stelle,
Jene Hütte, die mich barg,
Als die sturmerregte Welle
Mich an jene Dünen warf!
Meine Wirte möcht‘ ich segnen,
Hilfsbereit, ein wackres Paar,
Das, um heut mir zu begegnen,
Alt schon jener Tage war.
Ach! das waren fromme Leute!
Poch‘ ich? ruf‘ ich?–Seid gegrüßt,
Wenn gastfreundlich auch noch heute
Ihr des Wohltuns Glück genießt!

BAUCIS:
Lieber Kömmling! Leise! Leise!
Ruhe! laß den Gatten ruhn!
Langer Schlaf verleiht dem Greise
Kurzen Wachens rasches Tun.

WANDRER:
Sage, Mutter: bist du’s eben,
Meinen Dank noch zu empfahn,
Was du für des Jünglings Leben
Mit dem Gatten einst getan?
Bist du Baucis, die geschäftig
Halberstorbnen Mund erquickt?
Du Philemon, der so kräftig
Meinen Schatz der Flut entrückt?
Eure Flammen raschen Feuers,
Eures Glöckchens Silberlaut,
Jenes grausen Abenteuers
Lösung war euch anvertraut.
Und nun laßt hervor mich treten,
Schaun das grenzenlose Meer;
Laßt mich knieen, laßt mich beten,
Mich bedrängt die Brust so sehr.

PHILEMON:
Eile nur, den Tisch zu decken,
Wo’s im Gärtchen munter blüht.
Laß ihn rennen, ihn erschrecken,
Denn er glaubt nicht, was er sieht.
Das Euch grimmig mißgehandelt,
Wog‘ auf Woge, schäumend wild,
Seht als Garten Ihr behandelt,
Seht ein paradiesisch Bild.
älter, war ich nicht zuhanden,
Hülfreich nicht wie sonst bereit;
Und wie meine Kräfte schwanden,
War auch schon die Woge weit.
Kluger Herren kühne Knechte
Gruben Gräben, dämmten ein,
Schmälerten des Meeres Rechte,
Herrn an seiner Statt zu sein.
Schaue grünend Wies‘ an Wiese,
Anger, Garten, Dorf und Wald.–
Komm nun aber und genieße,
Denn die Sonne scheidet bald.–
Dort im Fernsten ziehen Segel,
Suchen nächtlich sichern Port.
Kennen doch ihr Nest die Vögel;
Denn jetzt ist der Hafen dort.
So erblickst du in der Weite
Erst des Meeres blauen Saum,
Rechts und links, in aller Breite,
Dichtgedrängt bewohnten Raum.

BAUCIS:
Bleibst du stumm? und keinen Bissen
Bringst du zum verlechzten Mund?

PHILEMON:
Möcht‘ er doch vom Wunder wissen;
Sprichst so gerne, tu’s ihm kund.

BAUCIS:
Wohl! ein Wunder ist’s gewesen!
Läßt mich heut noch nicht in Ruh;
Denn es ging das ganze Wesen
Nicht mit rechten Dingen zu.

PHILEMON:
Kann der Kaiser sich versünd’gen,
Der das Ufer ihm verliehn?
Tät’s ein Herold nicht verkünd’gen
Schmetternd im Vorüberziehn?
Nicht entfernt von unsern Dünen
Ward der erste Fuß gefaßt,
Zelte, Hütten!–Doch im Grünen
Richtet bald sich ein Palast.

BAUCIS:
Tags umsonst die Knechte lärmten,
Hack‘ und Schaufel, Schlag um Schlag;
Wo die Flämmchen nächtig schwärmten,
Stand ein Damm den andern Tag.
Menschenopfer mußten bluten,
Nachts erscholl des Jammers Qual;
Meerab flossen Feuergluten,
Morgens war es ein Kanal.
Gottlos ist er, ihn gelüstet
Unsre Hütte, unser Hain;
Wie er sich als Nachbar brüstet,
Soll man untertänig sein.

PHILEMON:
Hat er uns doch angeboten
Schönes Gut im neuen Land!

BAUCIS:
Traue nicht dem Wasserboden,
Halt auf deiner Höhe stand!

PHILEMON:
Laßt uns zur Kapelle treten,
Letzten Sonnenblick zu schaun!
Laßt uns läuten, knieen, beten
Und dem alten Gott vertraun!

Palast

LYNKEUS DER TÜRMER:
Die Sonne sinkt, die letzten Schiffe,
Sie ziehen munter hafenein.
Ein großer Kahn ist im Begriffe,
Auf dem Kanale hier zu sein.
Die bunten Wimpel wehen fröhlich,
Die starren Masten stehn bereit;
In dir preist sich der Bootsmann selig,
Dich grüßt das Glück zur höchsten Zeit.

FAUST:
Verdammtes Läuten! Allzuschändlich
Verwundet’s, wie ein tückischer Schuß;
Vor Augen ist mein Reich unendlich,
Im Rücken neckt mich der Verdruß,
Erinnert mich durch neidische Laute:
Mein Hochbesitz, er ist nicht rein,
Der Lindenraum, die braune Baute,
Das morsche Kirchlein ist nicht mein.
Und wünscht‘ ich, dort mich zu erholen,
Vor fremdem Schatten schaudert mir,
Ist Dorn den Augen, Dorn den Sohlen;
O! wär‘ ich weit hinweg von hier!

TÜRMER:
Wie segelt froh der bunte Kahn
Mit frischem Abendwind heran!
Wie türmt sich sein behender Lauf
In Kisten, Kasten, Säcken auf!

CHORUS:
Da landen wir,
Da sind wir schon.
Glückan dem Herren,
Dem Patron!

MEPHISTOPHELES:
So haben wir uns wohl erprobt,
Vergnügt, wenn der Patron es lobt.
Nur mit zwei Schiffen ging es fort,
Mit zwanzig sind wir nun im Port.
Was große Dinge wir getan,
Das sieht man unsrer Ladung an.
Das freie Meer befreit den Geist,
Wer weiß da, was Besinnen heißt!
Da fördert nur ein rascher Griff,
Man fängt den Fisch, man fängt ein Schiff,
Und ist man erst der Herr zu drei,
Dann hakelt man das vierte bei;
Da geht es denn dem fünften schlecht,
Man hat Gewalt, so hat man Recht.
Man fragt ums Was, und nicht ums Wie.
Ich müßte keine Schiffahrt kennen:
Krieg, Handel und Piraterie,
Dreieinig sind sie, nicht zu trennen.

DIE DREI GEWALTIGEN GESELLEN:
Nicht Dank und Gruß!
Nicht Gruß und Dank!
Als brächten wir
Dem Herrn Gestank.
Er macht ein
Widerlich Gesicht;
Das Königsgut
Gefällt ihm nicht.

MEPHISTOPHELES:
Erwartet weiter
Keinen Lohn!
Nahmt ihr doch
Euren Teil davon.

DIE GESELLEN:
Das ist nur für
Die Langeweil‘;
Wir alle fordern
Gleichen Teil.

MEPHISTOPHELES:
Erst ordnet oben
Saal an Saal
Die Kostbarkeiten
Allzumal!
Und tritt er zu
Der reichen Schau,
Berechnet er alles
Mehr genau,
Er sich gewiß
Nicht lumpen läßt
Und gibt der Flotte
Fest nach Fest.
Die bunten Vögel kommen morgen,
Für die werd‘ ich zum besten sorgen.

MEPHISTOPHELES:
Mit ernster Stirn, mit düstrem Blick
Vernimmst du dein erhaben Glück.
Die hohe Weisheit wird gekrönt,
Das Ufer ist dem Meer versöhnt;
Vom Ufer nimmt, zu rascher Bahn,
Das Meer die Schiffe willig an;
So sprich, daß hier, hier vom Palast
Dein Arm die ganze Welt umfaßt.
Von dieser Stelle ging es aus,
Hier stand das erste Bretterhaus;
Ein Gräbchen ward hinabgeritzt,
Wo jetzt das Ruder emsig spritzt.
Dein hoher Sinn, der Deinen Fleiß
Erwarb des Meers, der Erde Preis.
Von hier aus–+

FAUST:
Das verfluchte Hier!
Das eben, leidig lastet’s mir.
Dir Vielgewandtem muß ich’s sagen,
Mir gibt’s im Herzen Stich um Stich,
Mir ist’s unmöglich zu ertragen!
Und wie ich’s sage, schäm‘ ich mich.
Die Alten droben sollten weichen,
Die Linden wünscht‘ ich mir zum Sitz,
Die wenig Bäume, nicht mein eigen,
Verderben mir den Weltbesitz.
Dort wollt‘ ich, weit umherzuschauen,
Von Ast zu Ast Gerüste bauen,
Dem Blick eröffnen weite Bahn,
Zu sehn, was alles ich getan,
Zu überschaun mit einem Blick
Des Menschengeistes Meisterstück,
Betätigend mit klugem Sinn
Der Völker breiten Wohngewinn.
So sind am härtsten wir gequält,
Im Reichtum fühlend, was uns fehlt.
Des Glöckchens Klang, der Linden Duft
Umfängt mich wie in Kirch‘ und Gruft.
Des allgewaltigen Willens Kür
Bricht sich an diesem Sande hier.
Wie schaff‘ ich mir es vom Gemüte!
Das Glöcklein läutet, und ich wüte.

MEPHISTOPHELES:
Natürlich! daß ein Hauptverdruß
Das Leben dir vergällen muß.
Wer leugnet’s! Jedem edlen Ohr
Kommt das Geklingel widrig vor.
Und das verfluchte Bim-Baum-Bimmel,
Umnebelnd heitern Abendhimmel,
Mischt sich in jegliches Begebnis,
Vom ersten Bad bis zum Begräbnis,
Als wäre zwischen Bim und Baum
Das Leben ein verschollner Traum.

FAUST:
Das Widerstehn, der Eigensinn
Verkümmern herrlichsten Gewinn,
Daß man, zu tiefer, grimmiger Pein,
Ermüden muß, gerecht zu sein.

MEPHISTOPHELES:
Was willst du dich denn hier genieren?
Mußt du nicht längst kolonisieren?

FAUST:
So geht und schafft sie mir zur Seite!–
Das schöne Gütchen kennst du ja,
Das ich den Alten ausersah.

MEPHISTOPHELES:
Man trägt sie fort und setzt sie nieder,
Eh‘ man sich umsieht, stehn sie wieder;
Nach überstandener Gewalt
Versöhnt ein schöner Aufenthalt.

MEPHISTOPHELES:
Kommt, wie der Herr gebieten läßt!
Und morgen gibt’s ein Flottenfest.

DIE DREI:
Der alte Herr empfing uns schlecht,
Ein flottes Fest ist uns zu Recht.

MEPHISTOPHELES:
Auch hier geschieht, was längst geschah,
Denn Naboths Weinberg war schon da. ((regum i,21))

Tiefe Nacht

LYNKEUS DER TÜRMER:
Zum Sehen geboren,
Zum Schauen bestellt,
Dem Turme geschworen,
Gefällt mir die Welt.
Ich blick‘ in die Ferne,
Ich seh‘ in der Näh‘
Den Mond und die Sterne,
Den Wald und das Reh.
So seh‘ ich in allen
Die ewige Zier,
Und wie mir’s gefallen,
Gefall‘ ich auch mir.
Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei wie es wolle,
Es war doch so schön!
Nicht allein mich zu ergetzen,
Bin ich hier so hoch gestellt;
Welch ein greuliches Entsetzen
Droht mir aus der finstern Welt!
Funkenblicke seh‘ ich sprühen
Durch der Linden Doppelnacht,
Immer stärker wühlt ein Glühen,
Von der Zugluft angefacht.
Ach! die innre Hütte lodert,
Die bemoost und feucht gestanden;
Schnelle Hülfe wird gefordert,
Keine Rettung ist vorhanden.
Ach! die guten alten Leute,
Sonst so sorglich um das Feuer,
Werden sie dem Qualm zur Beute!
Welch ein schrecklich Abenteuer!
Flamme flammet, rot in Gluten
Steht das schwarze Moosgestelle;
Retteten sich nur die Guten
Aus der wildentbrannten Hölle!
Züngelnd lichte Blitze steigen
Zwischen Blättern, zwischen Zweigen;
äste dürr, die flackernd brennen,
Glühen schnell und stürzen ein.
Sollt ihr Augen dies erkennen!
Muß ich so weitsichtig sein!
Das Kapellchen bricht zusammen
Von der äste Sturz und Last.
Schlängelnd sind, mit spitzen Flammen,
Schon die Gipfel angefaßt.
Bis zur Wurzel glühn die hohlen
Stämme, purpurrot im Glühn.–
Was sich sonst dem Blick empfohlen,
Mit Jahrhunderten ist hin.

FAUST:
Von oben welch ein singend Wimmern?
Das Wort ist hier, der Ton zu spat.
Mein Türmer jammert; mich, im Innern,
Verdrießt die ungeduld’ge Tat.
Doch sei der Lindenwuchs vernichtet
Zu halbverkohlter Stämme Graun,
Ein Luginsland ist bald errichtet,
Um ins Unendliche zu schaun.
Da seh‘ ich auch die neue Wohnung,
Die jenes alte Paar umschließt,
Das, im Gefühl großmütiger Schonung,
Der späten Tage froh genießt.

MEPHISTOPHELES UND DIE DREIE:
Da kommen wir mit vollem Trab;
Verzeiht! es ging nicht gütlich ab.
Wir klopften an, wir pochten an,
Und immer ward nicht aufgetan;
Wir rüttelten, wir pochten fort,
Da lag die morsche Türe dort;
Wir riefen laut und drohten schwer,
Allein wir fanden kein Gehör.
Und wie’s in solchem Fall geschicht,
Sie hörten nicht, sie wollten nicht;
Wir aber haben nicht gesäumt,
Behende dir sie weggeräumt.
Das Paar hat sich nicht viel gequält,
Vor Schrecken fielen sie entseelt.
Ein Fremder, der sich dort versteckt
Und fechten wollte, ward gestreckt.
In wilden Kampfes kurzer Zeit
Von Kohlen, ringsumher gestreut,
Entflammte Stroh. Nun lodert’s frei,
Als Scheiterhaufen dieser drei.

FAUST:
Ward ihr für meine Worte taub?
Tausch wollt‘ ich, wollte keinen Raub.
Dem unbesonnenen wilden Streich,
Ihm fluch‘ ich; teilt es unter euch!

CHORUS:
Das alte Wort, das Wort erschallt:
Gehorche willig der Gewalt!
Und bist du kühn und hälst du Stich,
So wage Haus und Hof und–dich.

FAUST:
Die Sterne bergen Blick und Schein,
Das Feuer sinkt und lodert klein;
Ein Schauerwindchen fächelt’s an,
Bringt Rauch und Dunst zu mir heran.
Geboten schnell, zu schnell getan!–
Was schwebet schattenhaft heran?

Mitternacht

ERSTE:
Ich heiße der Mangel.

ZWEITE:
Ich heiße die Schuld.

DRITTE:
Ich heiße die Sorge.

VIERTE:
Ich heiße die Not.

ZU DREI:
Die Tür ist verschlossen, wir können nicht ein;
Drin wohnet ein Reicher, wir mögen nicht ’nein.

MANGEL:
Da werd‘ ich zum Schatten.

SHULD:
Da werd‘ ich zunicht.

NOT:
Man wendet von mir das verwöhnte Gesicht.

SORGE:
Ihr Schwestern, ihr könnt nicht und dürft nicht hinein.
Die Sorge, sie schleicht sich durchs Schlüsselloch ein.

MANGEL:
Ihr, graue Geschwister, entfernt euch von hier.

SHULD:
Ganz nah an der Seite verbind‘ ich mich dir.

NOT:
Ganz nah an der Ferse begleitet die Not.

ZU DREI:
Es ziehen die Wolken, es schwinden die Sterne!
Dahinten, dahinten! von ferne, von ferne,
Da kommt er, der Bruder, da kommt er, der——Tod.

FAUST:
Vier sah ich kommen, drei nur gehn;
Den Sinn der Rede konnt‘ ich nicht verstehn.
Es klang so nach, als hieß‘ es–Not,
Ein düstres Reimwort folgte–Tod.
Es tönte hohl, gespensterhaft gedämpft.
Noch hab‘ ich mich ins Freie nicht gekämpft.
Könnt‘ ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen,
Stünd‘ ich, Natur, vor dir ein Mann allein,
Da wär’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.
Das war ich sonst, eh‘ ich’s im Düstern suchte,
Mit Frevelwort mich und die Welt verfluchte.
Nun ist die Luft von solchem Spuk so voll,
Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.
Wenn auch ein Tag uns klar vernünftig lacht,
In Traumgespinst verwickelt uns die Nacht;
Wir kehren froh von junger Flur zurück,
Ein Vogel krächzt; was krächzt er? Mißgeschick.
Von Aberglauben früh und spat umgarnt:
Es eignet sich, es zeigt sich an, es warnt.
Und so verschüchtert, stehen wir allein.
Die Pforte knarrt, und niemand kommt herein.
Ist jemand hier?

SORGE:
Die Frage fordert Ja!

FAUST:
Und du, wer bist denn du?

SORGE:
Bin einmal da.

FAUST:
Entferne dich!

SORGE:
Ich bin am rechten Ort.

FAUST:
Nimm dich in acht und sprich kein Zauberwort.

SORGE:
Würde mich kein Ohr vernehmen,
Müßt‘ es doch im Herzen dröhnen;
In verwandelter Gestalt
üb‘ ich grimmige Gewalt.
Auf den Pfaden, auf der Welle,
Ewig ängstlicher Geselle,
Stets gefunden, nie gesucht,
So geschmeichelt wie verflucht.–
Hast du die Sorge nie gekannt?

FAUST:
Ich bin nur durch die Welt gerannt;
Ein jed‘ Gelüst ergriff ich bei den Haaren,
Was nicht genügte, ließ ich fahren,
Was mir entwischte, ließ ich ziehn.
Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
Und abermals gewünscht und so mit Macht
Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig,
Nun aber geht es weise, geht bedächtig.
Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,
Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
Er stehe fest und sehe hier sich um;
Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm.
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh‘ er seinen Gang,
Im Weiterschreiten find‘ er Qual und Glück,
Er, unbefriedigt jeden Augenblick!

SORGE:
Wen ich einmal besitze,
Dem ist alle Welt nichts nütze;
Ewiges Düstre steigt herunter,
Sonne geht nicht auf noch unter,
Bei vollkommnen äußern Sinnen
Wohnen Finsternisse drinnen,
Und er weiß von allen Schätzen
Sich nicht in Besitz zu setzen.
Glück und Unglück wird zur Grille,
Er verhungert in der Fülle;
Sei es Wonne, sei es Plage,
Schieb er’s zu dem andern Tage,
Ist der Zukunft nur gewärtig,
Und so wird er niemals fertig.

FAUST:
Hör auf! so kommst du mir nicht bei!
Ich mag nicht solchen Unsinn hören.
Fahr hin! die schlechte Litanei,
Sie könnte selbst den klügsten Mann betören.

SORGE:
Soll er gehen, soll er kommen?
Der Entschluß ist ihm genommen;
Auf gebahnten Weges Mitte
Wankt er tastend halbe Schritte.
Er verliert sich immer tiefer,
Siehet alle Dinge schiefer,
Sich und andre lästig drückend;
Atemholend und erstickend;
Nicht erstickt und ohne Leben,
Nicht verzweiflend, nicht ergeben.
So ein unaufhaltsam Rollen,
Schmerzlich Lassen, widrig Sollen,
Bald Befreien, bald Erdrücken,
Halber Schlaf und schlecht Erquicken
Heftet ihn an seine Stelle
Und bereitet ihn zur Hölle.

FAUST:
Unselige Gespenster! so behandelt ihr
Das menschliche Geschlecht zu tausend Malen;
Gleichgültige Tage selbst verwandelt ihr
In garstigen Wirrwarr netzumstrickter Qualen.
Dämonen, weiß ich, wird man schwerlich los,
Das geistig-strenge Band ist nicht zu trennen;
Doch deine Macht, Sorge, schleichend groß,
Ich werde sie nicht anerkennen.

SORGE:
Erfahre sie, wie ich geschwind
Mich mit Verwünschung von dir wende!
Die Menschen sind im ganzen Leben blind,
Nun, Fauste, werde du’s am Ende!

FAUST:
Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen,
Allein im Innern leuchtet helles Licht;
Was ich gedacht, ich eil‘ es zu vollbringen;
Des Herren Wort, es gibt allein Gewicht.
Vom Lager auf, ihr Knechte! Mann für Mann!
Laßt glücklich schauen, was ich kühn ersann.
Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten!
Das Abgesteckte muß sogleich geraten.
Auf strenges Ordnen, raschen Fleiß
Erfolgt der allerschönste Preis;
Daß sich das größte Werk vollende,
Genügt ein Geist für tausend Hände.

Grosser Vorhof des Palasts

MEPHISTOPHELES:
Herbei, herbei! Herein, herein!
Ihr schlotternden Lemuren,
Aus Bändern, Sehnen und Gebein
Geflickte Halbnaturen.

LEMUREN:
Wir treten dir sogleich zur Hand,
Und wie wir halb vernommen,
Es gilt wohl gar ein weites Land,
Das sollen wir bekommen.
Gespitzte Pfähle, die sind da,
Die Kette lang zum Messen;
Warum an uns den Ruf geschah,
Das haben wir vergessen.

MEPHISTOPHELES:
Hier gilt kein künstlerisch Bemühn;
Verfahret nur nach eignen Maßen!
Der Längste lege längelang sich hin,
Ihr andern lüftet ringsumher den Rasen;
Wie man’s für unsre Väter tat,
Vertieft ein längliches Quadrat!
Aus dem Palast ins enge Haus,
So dumm läuft es am Ende doch hinaus.

LEMUREN:
Wie jung ich war und lebt‘ und liebt‘,
Mich deucht, das war wohl süße;
Wo’s fröhlich klang und lustig ging,
Da rührten sich meine Füße.
Nun hat das tückische Alter mich
Mit seiner Krücke getroffen;
Ich stolpert‘ über Grabes Tür,
Warum stand sie just offen!

FAUST:
Wie das Geklirr der Spaten mich ergetzt!
Es ist die Menge, die mir frönet,
Die Erde mit sich selbst versöhnet,
Den Wellen ihre Grenze setzt,
Das Meer mit strengem Band umzieht.

MEPHISTOPHELES:
Du bist doch nur für uns bemüht
Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen;
Denn du bereitest schon Neptunen,
Dem Wasserteufel, großen Schmaus.
In jeder Art seid ihr verloren;–
Die Elemente sind mit uns verschworen,
Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.

FAUST:
Aufseher!

MEPHISTOPHELES:
Hier!

FAUST:
Wie es auch möglich sei,
Arbeiter schaffe Meng‘ auf Menge,
Ermuntere durch Genuß und Strenge,
Bezahle, locke, presse bei!
Mit jedem Tage will ich Nachricht haben,
Wie sich verlängt der unternommene Graben.

MEPHISTOPHELES:
Man spricht, wie man mir Nachricht gab,
Von keinem Graben, doch vom Grab.

FAUST:
Ein Sumpf zieht am Gebirge hin,
Verpestet alles schon Errungene;
Den faulen Pfuhl auch abzuziehn,
Das Letzte wär‘ das Höchsterrungene.
Eröffn‘ ich Räume vielen Millionen,
Nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen.
Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch und Herde
Sogleich behaglich auf der neusten Erde,
Gleich angesiedelt an des Hügels Kraft,
Den aufgewälzt kühn-emsige Völkerschaft.
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.
Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht‘ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft‘ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in äonen untergehn.–
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß‘ ich jetzt den höchsten Augenblick.

MEPHISTOPHELES:
Ihn sättigt keine Lust, ihm gnügt kein Glück,
So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten;
Den letzten, schlechten, leeren Augenblick,
Der Arme wünscht ihn festzuhalten.
Der mir so kräftig widerstand,
Die Zeit wird Herr, der Greis hier liegt im Sand.
Die Uhr steht still–

CHOR:
Steht still! Sie schweigt wie Mitternacht.
Der Zeiger fällt.

MEPHISTOPHELES:
Er fällt, es ist vollbracht.

CHOR:
Es ist vorbei.

MEPHISTOPHELES:
Vorbei! ein dummes Wort.
Warum vorbei?
Vorbei und reines Nicht, vollkommnes Einerlei!
Was soll uns denn das ew’ge Schaffen!
Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen!
„Da ist’s vorbei!“ Was ist daran zu lesen?
Es ist so gut, als wär‘ es nicht gewesen,
Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre.
Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere.

Grablegung

LEMUR–SOLO:
Wer hat das Haus so schlecht gebaut,
Mit Schaufeln und mit Spaten?

LEMUREN–CHOR:
Dir, dumpfer Gast im hänfnen Gewand,
Ist’s viel zu gut geraten.

LEMUR–SOLO:
Wer hat den Saal so schlecht versorgt?
Wo blieben Tisch und Stühle?

LEMUREN–CHOR:
Es war auf kurze Zeit geborgt;
Der Gläubiger sind so viele.

MEPHISTOPHELES:
Der Körper liegt, und will der Geist entfliehn,
Ich zeig‘ ihm rasch den blutgeschriebnen Titel;–
Doch leider hat man jetzt so viele Mittel,
Dem Teufel Seelen zu entziehn.
Auf altem Wege stößt man an,
Auf neuem sind wir nicht empfohlen;
Sonst hätt‘ ich es allein getan,
Jetzt muß ich Helfershelfer holen.
Uns geht’s in allen Dingen schlecht!
Herkömmliche Gewohnheit, altes Recht,
Man kann auf gar nichts mehr vertrauen.
Sonst mit dem letzten Atem fuhr sie aus,
Ich paßt‘ ihr auf und, wie die schnellste Maus,
Schnapps! hielt ich sie in fest verschloßnen Klauen.
Nun zaudert sie und will den düstern Ort,
Des schlechten Leichnams ekles Haus nicht lassen;
Die Elemente, die sich hassen,
Die treiben sie am Ende schmählich fort.
Und wenn ich Tag‘ und Stunden mich zerplage,
Wann? wie? und wo? das ist die leidige Frage;
Der alte Tod verlor die rasche Kraft,
Das Ob? sogar ist lange zweifelhaft;
Oft sah ich lüstern auf die starren Glieder–
Es war nur Schein, das rührte, das regte sich wieder.
Nur frisch heran! verdoppelt euren Schritt,
Ihr Herrn vom graden, Herrn vom krummen Horne,
Von altem Teufelsschrot und–korne,
Bringt ihr zugleich den Höllenrachen mit.
Zwar hat die Hölle Rachen viele! viele!
Nach Standsgebühr und Würden schlingt sie ein;
Doch wird man auch bei diesem letzten Spiele
Ins künftige nicht so bedenklich sein.
Eckzähne klaffen; dem Gewölb des Schlundes
Entquillt der Feuerstrom in Wut,
Und in dem Siedequalm des Hintergrundes
Seh‘ ich die Flammenstadt in ewiger Glut.
Die rote Brandung schlägt hervor bis an die Zähne,
Verdammte, Rettung hoffend, schwimmen an;
Doch kolossal zerknirscht sie die Hyäne,
Und sie erneuen ängstlich heiße Bahn.
In Winkeln bleibt noch vieles zu entdecken,
So viel Erschrecklichstes im engsten Raum!
Ihr tut sehr wohl, die Sünder zu erschrecken;
Sie halten’s doch für Lug und Trug und Traum.
Nun, wanstige Schuften mit den Feuerbacken!
Ihr glüht so recht vom Höllenschwefel feist;
Klotzartige, kurze, nie bewegte Nacken!
Hier unten lauert, ob’s wie Phosphor gleißt:
Das ist das Seelchen, Psyche mit den Flügeln,
Die rupft ihr aus, so ist’s ein garstiger Wurm;
Mit meinem Stempel will ich sie besiegeln,
Dann fort mit ihr im Feuerwirbelsturm!
Paßt auf die niedern Regionen,
Ihr Schläuche, das ist eure Pflicht;
Ob’s ihr beliebte, da zu wohnen,
So akkurat weiß man das nicht.
Im Nabel ist sie gern zu Haus–
Nehmt es in acht, sie wischt euch dort heraus.
Ihr Firlefanze, flügelmännische Riesen,
Greift in die Luft, versucht euch ohne Rast!
Die Arme strack, die Klauen scharf gewiesen,
Daß ihr die Flatternde, die Flüchtige faßt.
Es ist ihr sicher schlecht im alten Haus,
Und das Genie, es will gleich obenaus.

HIMMLISCHE HEERSCHAR:
Folget, Gesandte,
Himmelsverwandte,
Gemächlichen Flugs:
Sündern vergeben,
Staub zu beleben;
Allen Naturen
Freundliche Spuren
Wirket im Schweben
Des weilenden Zugs!

MEPHISTOPHELES:
Mißtöne hör‘ ich, garstiges Geklimper,
Von oben kommt’s mit unwillkommnem Tag;
Es ist das bübisch-mädchenhafte Gestümper,
Wie frömmelnder Geschmack sich’s lieben mag.
Ihr wißt, wie wir in tiefverruchten Stunden
Vernichtung sannen menschlichem Geschlecht;
Das Schändlichste, was wir erfunden,
Ist ihrer Andacht eben recht.
Sie kommen gleisnerisch, die Laffen!
So haben sie uns manchen weggeschnappt,
Bekriegen uns mit unsern eignen Waffen;
Es sind auch Teufel, doch verkappt.
Hier zu verlieren, wär‘ euch ew’ge Schande;
Ans Grab heran und haltet fest am Rande!

CHOR DER ENGEL:
Rosen, ihr blendenden,
Balsam versendenden!
Flatternde, schwebende,
Heimlich belebende,
Zweigleinbeflügelte,
Knospenentsiegelte,
Eilet zu blühn.
Frühling entsprieße,
Purpur und Grün!
Tragt Paradiese
Dem Ruhenden hin.

MEPHISTOPHELES:
Was duckt und zuckt ihr? ist das Höllenbrauch?
So haltet stand und laßt sie streuen.
An seinen Platz ein jeder Gauch!
Sie denken wohl, mit solchen Blümeleien
Die heißen Teufel einzuschneien;
Das schmilzt und schrumpft vor eurem Hauch.
Nun pustet, Püstriche!–Genug, genug!
Vor eurem Broden bleicht der ganze Flug.–
Nicht so gewaltsam! schließet Maul und Nasen!
Fürwahr, ihr habt zu stark geblasen.
Daß ihr doch nie die rechten Maße kennt!
Das schrumpft nicht nur, es bräunt sich, dorrt, es brennt!
Schon schwebt’s heran mit giftig klaren Flammen;
Stemmt euch dagegen, drängt euch fest zusammen!–
Die Kraft erlischt! dahin ist aller Mut!
Die Teufel wittern fremde Schmeichelglut.

CHOR DER ENGEL:
Blüten, die seligen,
Flammen, die fröhlichen,
Liebe verbreiten sie,
Wonne bereiten sie,
Herz wie es mag.
Worte, die wahren,
äther im Klaren,
Ewigen Scharen
überall Tag!

MEPHISTOPHELES:
O Fluch! o Schande solchen Tröpfen!
Satane stehen auf den Köpfen,
Die Plumpen schlagen Rad auf Rad
Und stürzen ärschlings in die Hölle.
Gesegn‘ euch das verdiente heiße Bad!
Ich aber bleib‘ auf meiner Stelle.–
Irrlichter, fort! Du, leuchte noch so stark,
Du bleibst, gehascht, ein ekler Gallert-Quark.
Was flatterst du? Willst du dich packen!–
Es klemmt wie Pech und Schwefel mir im Nacken.

CHOR DER ENGEL:
Was euch nicht angehört,
Müsset ihr meiden,
Was euch das Innre stört,
Dürft ihr nicht leiden.
Dringt es gewaltig ein,
Müssen wir tüchtig sein.
Liebe nur Liebende
Führet herein!

MEPHISTOPHELES:
Mir brennt der Kopf, das Herz, die Leber brennt,
Ein überteuflisch Element!
Weit spitziger als Höllenfeuer!–
Drum jammert ihr so ungeheuer,
Unglückliche Verliebte! die, verschmäht,
Verdrehten Halses nach der Liebsten späht.
Auch mir! Was zieht den Kopf auf jene Seite?
Bin ich mit ihr doch in geschwornem Streite!
Der Anblick war mir sonst so feindlich scharf.
Hat mich ein Fremdes durch und durch gedrungen?
Ich mag sie gerne sehn, die allerliebsten Jungen;
Was hält mich ab, daß ich nicht fluchen darf?–
Und wenn ich mich betören lasse,
Wer heißt denn künftighin der Tor?
Die Wetterbuben, die ich hasse,
Sie kommen mir doch gar zu lieblich vor!–
Ihr schönen Kinder, laßt mich wissen:
Seid ihr nicht auch von Luzifers Geschlecht?
Ihr seid so hübsch, fürwahr ich möcht‘ euch küssen,
Mir ist’s, als kämt ihr eben recht.
Es ist mir so behaglich, so natürlich,
Als hätt‘ ich euch schon tausendmal gesehn;
So heimlich-kätzchenhaft begierlich;
Mit jedem Blick aufs neue schöner schön.
O nähert euch, o gönnt mir einen Blick!

ENGEL:
Wir kommen schon, warum weichst du zurück?
Wir nähern uns, und wenn du kannst, so bleib!

MEPHISTOPHELES:
Ihr scheltet uns verdammte Geister
Und seid die wahren Hexenmeister;
Denn ihr verführet Mann und Weib.–
Welch ein verfluchtes Abenteuer!
Ist dies das Liebeselement?
Der ganze Körper steht in Feuer,
Ich fühle kaum, daß es im Nacken brennt.–
Ihr schwanket hin und her, so senkt euch nieder,
Ein bißchen weltlicher bewegt die holden Glieder;
Fürwahr, der Ernst steht euch recht schön;
Doch möcht‘ ich euch nur einmal lächeln sehn!
Das wäre mir ein ewiges Entzücken.
Ich meine so, wie wenn Verliebte blicken:
Ein kleiner Zug am Mund, so ist’s getan.
Dich, langer Bursche, dich mag ich am liebsten leiden,
Die Pfaffenmiene will dich gar nicht kleiden,
So sieh mich doch ein wenig lüstern an!
Auch könntet ihr anständig-nackter gehen,
Das lange Faltenhemd ist übersittlich–
Sie wenden sich–von hinten anzusehen!–
Die Racker sind doch gar zu appetitlich!

CHOR DER ENGEL:
Wendet zur Klarheit
Euch, liebende Flammen!
Die sich verdammen,
Heile die Wahrheit;
Daß sie vom Bösen
Froh sich erlösen,
Um in dem Allverein
Selig zu sein.

MEPHISTOPHELES:
Wie wird mir!–Hiobsartig, Beul‘ an Beule
Der ganze Kerl, dem’s vor sich selber graut,
Und triumphiert zugleich, wenn er sich ganz durchschaut,
Wenn er auf sich und seinen Stamm vertraut;
Gerettet sind die edlen Teufelsteile,
Der Liebespuk, er wirft sich auf die Haut;
Schon ausgebrannt sind die verruchten Flammen,
Und wie es sich gehört, fluch‘ ich euch allzusammen!

CHOR DER ENGEL:
Heilige Gluten!
Wen sie umschweben,
Fühlt sich im Leben
Selig mit Guten.
Alle vereinigt
Hebt euch und preist!
Luft ist gereinigt,
Atme der Geist!

MEPHISTOPHELES:
Doch wie?–wo sind sie hingezogen?
Unmündiges Volk, du hast mich überrascht,
Sind mit der Beute himmelwärts entflogen;
Drum haben sie an dieser Gruft genascht!
Mir ist ein großer, einziger Schatz entwendet:
Die hohe Seele, die sich mir verpfändet,
Die haben sie mir pfiffig weggepascht.
Bei wem soll ich mich nun beklagen?
Wer schafft mir mein erworbenes Recht?
Du bist getäuscht in deinen alten Tagen,
Du hast’s verdient, es geht dir grimmig schlecht.
Ich habe schimpflich mißgehandelt,
Ein großer Aufwand, schmählich! ist vertan;
Gemein Gelüst, absurde Liebschaft wandelt
Den ausgepichten Teufel an.
Und hat mit diesem kindisch-tollen Ding
Der Klugerfahrne sich beschäftigt,
So ist fürwahr die Torheit nicht gering,
Die seiner sich am Schluß bemächtigt.

Bergschluchten

CHOR UN ECHO:
Waldung, sie schwankt heran,
Felsen, sie lasten dran,
Wurzeln, sie klammern an,
Stamm dicht an Stamm hinan,
Woge nach Woge spritzt,
Höhle, die tiefste, schützt.
Löwen, sie schleichen stumm-+
freundlich/ um uns herum,
Ehren geweihten Ort,
Heiligen Liebeshort.

PATER ECSTATICUS:
Ewiger Wonnebrand,
Glühendes Liebeband,
Siedender Schmerz der Brust,
Schäumende Gotteslust.
Pfeile, durchdringet mich,
Lanzen, bezwinget mich,
Keulen, zerschmettert mich,
Blitze, durchwettert mich!
Daß ja das Nichtige
Alles verflüchtige,
Glänze der Dauerstern,
Ewiger Liebe Kern.

PATER PROFUNDUS:
Wie Felsenabgrund mir zu Füßen
Auf tiefem Abgrund lastend ruht,
Wie tausend Bäche strahlend fließen
Zum grausen Sturz des Schaums der Flut,
Wie strack mit eignem kräftigen Triebe
Der Stamm sich in die Lüfte trägt:
So ist es die allmächtige Liebe,
Die alles bildet, alles hegt.
Ist um mich her ein wildes Brausen,
Als wogte Wald und Felsengrund,
Und doch stürzt, liebevoll im Sausen,
Die Wasserfülle sich zum Schlund,
Berufen, gleich das Tal zu wässern;
Der Blitz, der flammend niederschlug,
Die Atmosphäre zu verbessern,
Die Gift und Dunst im Busen trug–
Sind Liebesboten, sie verkünden,
Was ewig schaffend uns umwallt.
Mein Innres mög‘ es auch entzünden,
Wo sich der Geist, verworren, kalt,
Verquält in stumpfer Sinne Schranken,
Scharfangeschloßnem Kettenschmerz.
O Gott! beschwichtige die Gedanken,
Erleuchte mein bedürftig Herz!

PATER SERAPHICUS:
Welch ein Morgenwölkchen schwebet
Durch der Tannen schwankend Haar!
Ahn‘ ich, was im Innern lebet?
Es ist junge Geisterschar.

CHOR SELIGER KNABEN:
Sag uns, Vater, wo wir wallen,
Sag uns, Guter, wer wir sind?
Glücklich sind wir: allen, allen
Ist das Dasein so gelind.

PATER SERAPHICUS:
Knaben! Mitternachts-Geborne,
Halb erschlossen Geist und Sinn,
Für die Eltern gleich Verlorne,
Für die Engel zum Gewinn.
Daß ein Liebender zugegen,
Fühlt ihr wohl, so naht euch nur;
Doch von schroffen Erdewegen,
Glückliche! habt ihr keine Spur.
Steigt herab in meiner Augen
Welt- und erdgemäß Organ,
Könnt sie als die euren brauchen,
Schaut euch diese Gegend an!
Das sind Bäume, das sind Felsen,
Wasserstrom, der abestürzt
Und mit ungeheurem Wälzen
Sich den steilen Weg verkürzt.

SELIGE KNABEN:
Das ist mächtig anzuschauen,
Doch zu düster ist der Ort,
Schüttelt uns mit Schreck und Grauen.
Edler, Guter, laß uns fort!

PATER SERAPHICUS:
Steigt hinan zu höherm Kreise,
Wachset immer unvermerkt,
Wie, nach ewig reiner Weise,
Gottes Gegenwart verstärkt.
Denn das ist der Geister Nahrung,
Die im freisten äther waltet:
Ewigen Liebens Offenbarung,
Die zur Seligkeit entfaltet.

CHOR SELIGER KNABEN:
Hände verschlinget
Freudig zum Ringverein,
Regt euch und singet
Heil’ge Gefühle drein!
Göttlich belehret,
Dürft ihr vertrauen;
Den ihr verehret,
Werdet ihr schauen.

ENGEL:
Gerettet ist das edle Glied
Der Geisterwelt vom Bösen,
Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.
Und hat an ihm die Liebe gar
Von oben teilgenommen,
Begegnet ihm die selige Schar
Mit herzlichem Willkommen.

DIE JÜNGEREN ENGEL:
Jene Rosen aus den Händen
Liebend-heiliger Büßerinnen
Halfen uns den Sieg gewinnen,
Uns das hohe Werk vollenden,
Diesen Seelenschatz erbeuten.
Böse wichen, als wir streuten,
Teufel flohen, als wir trafen.
Statt gewohnter Höllenstrafen
Fühlten Liebesqual die Geister;
Selbst der alte Satansmeister
War von spitzer Pein durchdrungen.
Jauchzet auf! es ist gelungen.

DIE VOLLENDETEREN ENGEL:
Uns bleibt ein Erdenrest
Zu tragen peinlich,
Und wär‘ er von Asbest,
Er ist nicht reinlich.
Wenn starke Geisteskraft
Die Elemente
An sich herangerafft,
Kein Engel trennte
Geeinte Zwienatur
Der innigen beiden,
Die ewige Liebe nur
Vermag’s zu scheiden.

DIE JÜNGEREN ENGEL:
Nebelnd um Felsenhöh‘
Spür‘ ich soeben,
Regend sich in der Näh‘,
Ein Geisterleben.
Die Wölkchen werden klar,
Ich seh‘ bewegte Schar
Seliger Knaben,
Los von der Erde Druck,
Im Kreis gesellt,
Die sich erlaben
Am neuen Lenz und Schmuck
Der obern Welt.
Sei er zum Anbeginn,
Steigendem Vollgewinn
Diesen gesellt!

DIE SELIGEN KNABEN:
Freudig empfangen wir
Diesen im Puppenstand;
Also erlangen wir
Englisches Unterpfand.
Löset die Flocken los,
Die ihn umgeben!
Schon ist er schön und groß
Von heiligem Leben.

DOCTOR MARIANUS:
Hier ist die Aussicht frei,
Der Geist erhoben.
Dort ziehen Fraun vorbei,
Schwebend nach oben.
Die Herrliche mitteninn
Im Sternenkranze,
Die Himmelskönigin,
Ich seh’s am Glanze.
Höchste Herrscherin der Welt!
Lasse mich im blauen,
Ausgespannten Himmelszelt
Dein Geheimnis schauen.
Billige, was des Mannes Brust
Ernst und zart beweget
Und mit heiliger Liebeslust
Dir entgegenträget.
Unbezwinglich unser Mut,
Wenn du hehr gebietest;
Plötzlich mildert sich die Glut,
Wie du uns befriedest.
Jungfrau, rein im schönsten Sinn,
Mutter, Ehren würdig,
Uns erwählte Königin,
Göttern ebenbürtig.
Um sie verschlingen
Sich leichte Wölkchen,
Sind Büßerinnen,
Ein zartes Völkchen,
Um ihre Kniee
Den äther schlürfend,
Gnade bedürfend.
Dir, der Unberührbaren,
Ist es nicht benommen,
Daß die leicht Verführbaren
Traulich zu dir kommen.
In die Schwachheit hingerafft,
Sind sie schwer zu retten;
Wer zerreißt aus eigner Kraft
Der Gelüste Ketten?
Wie entgleitet schnell der Fuß
Schiefem, glattem Boden?
Wen betört nicht Blick und Gruß,
Schmeichelhafter Odem?

CHOR DER BÜSSERINNEN:
Du schwebst zu Höhen
Der ewigen Reiche,
Vernimm das Flehen,
Du Ohnegleiche,
Du Gnadenreiche!

MAGNA PECCATRIX:
Bei der Liebe, die den Füßen
Deines gottverklärten Sohnes
Tränen ließ zum Balsam fließen,
Trotz des Pharisäerhohnes;
Beim Gefäße, das so reichlich
Tropfte Wohlgeruch hernieder,
Bei den Locken, die so weichlich
Trockneten die heil’gen Glieder–

MULIER SAMARITANA:
Bei dem Bronn, zu dem schon weiland
Abram ließ die Herde führen,
Bei dem Eimer, der dem Heiland
Kühl die Lippe durft‘ berühren;
Bei der reinen, reichen Quelle,
Die nun dorther sich ergießet,
überflüssig, ewig helle
Rings durch alle Welten fließet–

MARIA AEGYPTIACA:
Bei dem hochgeweihten Orte,
Wo den Herrn man niederließ,
Bei dem Arm, der von der Pforte
Warnend mich zurücke stieß;
Bei der vierzigjährigen Buße,
Der ich treu in Wüsten blieb,
Bei dem seligen Scheidegruße,
Den im Sand ich niederschrieb–

ZU DREI:
Die du großen Sünderinnen
Deine Nähe nicht verweigerst
Und ein büßendes Gewinnen
In die Ewigkeiten steigerst,
Gönn auch dieser guten Seele,
Die sich einmal nur vergessen,
Die nicht ahnte, daß sie fehlte,
Dein Verzeihen angemessen!

UNA POENITENTIUM, SONST GRETCHEN GENANNT:
Neige, neige,
Du Ohnegleiche,
Du Strahlenreiche,
Dein Antlitz gnädig meinem Glück!
Der früh Geliebte,
Nicht mehr Getrübte,
Er kommt zurück.

SELIGE KNABEN:
Er überwächst uns schon
An mächtigen Gliedern,
Wird treuer Pflege Lohn
Reichlich erwidern.
Wir wurden früh entfernt
Von Lebechören;
Doch dieser hat gelernt,
Er wird uns lehren.

DIE EINE BÜSSERIN, SONST GRETCHEN GENANNT:
Vom edlen Geisterchor umgeben,
Wird sich der Neue kaum gewahr,
Er ahnet kaum das frische Leben,
So gleicht er schon der heiligen Schar.
Sieh, wie er jedem Erdenbande
Der alten Hülle sich entrafft
Und aus ätherischem Gewande
Hervortritt erste Jugendkraft.
Vergönne mir, ihn zu belehren,
Noch blendet ihn der neue Tag.

MATER GLORIOSA:
Komm! hebe dich zu höhern Sphären!
Wenn er dich ahnet, folgt er nach.

DOCTOR MARIANUS:
Blicket auf zum Retterblick,
Alle reuig Zarten,
Euch zu seligem Geschick
Dankend umzuarten.
Werde jeder beßre Sinn
Dir zum Dienst erbötig;
Jungfrau, Mutter, Königin,
Göttin, bleibe gnädig!

CHORUS MYSTICUS:
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.

Johann Wolfgang von Goethe – Faust, Der Tragödie erster Teil

Johann Wolfgang von Goethe: Faust, Der Tragödie erster Teil

Zueignung.

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?
Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten,
Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt;
Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert
Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert.

Ihr bringt mit euch die Bilder froher Tage,
Und manche liebe Schatten steigen auf;
Gleich einer alten, halbverklungnen Sage
Kommt erste Lieb und Freundschaft mit herauf;
Der Schmerz wird neu, es wiederholt die Klage
Des Lebens labyrinthisch irren Lauf,
Und nennt die Guten, die, um schöne Stunden
Vom Glück getäuscht, vor mir hinweggeschwunden.

Sie hören nicht die folgenden Gesänge,
Die Seelen, denen ich die ersten sang;
Zerstoben ist das freundliche Gedränge,
Verklungen, ach! der erste Widerklang.
Mein Lied ertönt der unbekannten Menge,
Ihr Beifall selbst macht meinem Herzen bang,
Und was sich sonst an meinem Lied erfreuet,
Wenn es noch lebt, irrt in der Welt zerstreuet.

Und mich ergreift ein längst entwöhntes Sehnen
Nach jenem stillen, ernsten Geisterreich,
Es schwebet nun in unbestimmten Tönen
Mein lispelnd Lied, der Äolsharfe gleich,
Ein Schauer faßt mich, Träne folgt den Tränen,
Das strenge Herz, es fühlt sich mild und weich;
Was ich besitze, seh ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.

Vorspiel auf dem Theater

Direktor. Theatherdichter. Lustige Person:

DIREKTOR:
Ihr beiden, die ihr mir so oft,
In Not und Trübsal, beigestanden,
Sagt, was ihr wohl in deutschen Landen
Von unsrer Unternehmung hofft?
Ich wünschte sehr der Menge zu behagen,
Besonders weil sie lebt und leben läßt.
Die Pfosten sind, die Bretter aufgeschlagen,
Und jedermann erwartet sich ein Fest.
Sie sitzen schon mit hohen Augenbraunen
Gelassen da und möchten gern erstaunen.
Ich weiß, wie man den Geist des Volks versöhnt;
Doch so verlegen bin ich nie gewesen:
Zwar sind sie an das Beste nicht gewöhnt,
Allein sie haben schrecklich viel gelesen.
Wie machen wir’s, daß alles frisch und neu
Und mit Bedeutung auch gefällig sei?
Denn freilich mag ich gern die Menge sehen,
Wenn sich der Strom nach unsrer Bude drängt,
Und mit gewaltig wiederholten Wehen
Sich durch die enge Gnadenpforte zwängt;
Bei hellem Tage, schon vor vieren,
Mit Stößen sich bis an die Kasse ficht
Und, wie in Hungersnot um Brot an Bäckertüren,
Um ein Billet sich fast die Hälse bricht.
Dies Wunder wirkt auf so verschiedne Leute
Der Dichter nur; mein Freund, o tu es heute!

DICHTER:
O sprich mir nicht von jener bunten Menge,
Bei deren Anblick uns der Geist entflieht.
Verhülle mir das wogende Gedränge,
Das wider Willen uns zum Strudel zieht.
Nein, führe mich zur stillen Himmelsenge,
Wo nur dem Dichter reine Freude blüht;
Wo Lieb und Freundschaft unsres Herzens Segen
Mit Götterhand erschaffen und erpflegen.

Ach! was in tiefer Brust uns da entsprungen,
Was sich die Lippe schüchtern vorgelallt,
Mißraten jetzt und jetzt vielleicht gelungen,
Verschlingt des wilden Augenblicks Gewalt.
Oft, wenn es erst durch Jahre durchgedrungen,
Erscheint es in vollendeter Gestalt.
Was glänzt, ist für den Augenblick geboren,
Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren.

LUSTIGE PERSON:
Wenn ich nur nichts von Nachwelt hören sollte.
Gesetzt, daß ich von Nachwelt reden wollte,
Wer machte denn der Mitwelt Spaß?
Den will sie doch und soll ihn haben.
Die Gegenwart von einem braven Knaben
Ist, dächt ich, immer auch schon was.
Wer sich behaglich mitzuteilen weiß,
Den wird des Volkes Laune nicht erbittern;
Er wünscht sich einen großen Kreis,
Um ihn gewisser zu erschüttern.
Drum seid nur brav und zeigt euch musterhaft,
Laßt Phantasie, mit allen ihren Chören,
Vernunft, Verstand, Empfindung, Leidenschaft,
Doch, merkt euch wohl! nicht ohne Narrheit hören.

DIREKTOR:
Besonders aber laßt genug geschehn!
Man kommt zu schaun, man will am liebsten sehn.
Wird vieles vor den Augen abgesponnen,
So daß die Menge staunend gaffen kann,
Da habt Ihr in der Breite gleich gewonnen,
Ihr seid ein vielgeliebter Mann.
Die Masse könnt Ihr nur durch Masse zwingen,
Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus.
Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;
Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.
Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!
Solch ein Ragout, es muß Euch glücken;
Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht.
Was hilft’s, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht?
Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken.

DICHTER:
Ihr fühlet nicht, wie schlecht ein solches Handwerk sei!
Wie wenig das dem echten Künstler zieme!
Der saubern Herren Pfuscherei
Ist. merk ich. schon bei Euch Maxime.

DIREKTOR:
Ein solcher Vorwurf läßt mich ungekränkt:
Ein Mann, der recht zu wirken denkt,
Muß auf das beste Werkzeug halten.
Bedenkt, Ihr habet weiches Holz zu spalten,
Und seht nur hin, für wen Ihr schreibt!
Wenn diesen Langeweile treibt,
Kommt jener satt vom übertischten Mahle,
Und, was das Allerschlimmste bleibt,
Gar mancher kommt vom Lesen der Journale.
Man eilt zerstreut zu uns, wie zu den Maskenfesten,
Und Neugier nur beflügelt jeden Schritt;
Die Damen geben sich und ihren Putz zum besten
Und spielen ohne Gage mit.
Was träumet Ihr auf Eurer Dichterhöhe?
Was macht ein volles Haus Euch froh?
Beseht die Gönner in der Nähe!
Halb sind sie kalt, halb sind sie roh.
Der, nach dem Schauspiel, hofft ein Kartenspiel,
Der eine wilde Nacht an einer Dirne Busen.
Was plagt ihr armen Toren viel,
Zu solchem Zweck, die holden Musen?
Ich sag Euch, gebt nur mehr und immer, immer mehr,
So könnt Ihr Euch vom Ziele nie verirren
Sucht nur die Menschen zu verwirren,
Sie zu befriedigen, ist schwer–
Was fällt Euch an? Entzückung oder Schmerzen?

DICHTER:
Geh hin und such dir einen andern Knecht!
Der Dichter sollte wohl das höchste Recht,
Das Menschenrecht, das ihm Natur vergönnt,
Um deinetwillen freventlich verscherzen!
Wodurch bewegt er alle Herzen?
Wodurch besiegt er jedes Element?
Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt,
Und in sein Herz die Welt zurücke schlingt?
Wenn die Natur des Fadens ew’ge Länge,
Gleichgültig drehend, auf die Spindel zwingt,
Wenn aller Wesen unharmon’sche Menge
Verdrießlich durcheinander klingt-
Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe
Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt?
Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,
Wo es in herrlichen Akkorden schlägt?
Wer läßt den Sturm zu Leidenschaften wüten?
Das Abendrot im ernsten Sinne glühn?
Wer schüttet alle schönen Frühlingsblüten
Auf der Geliebten Pfade hin?
Wer flicht die unbedeutend grünen Blätter
Zum Ehrenkranz Verdiensten jeder Art?
Wer sichert den Olymp? vereinet Götter?
Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart.

LUSTIGE PERSON:
So braucht sie denn, die schönen Kräfte
Und treibt die dichtrischen Geschäfte
Wie man ein Liebesabenteuer treibt.
Zufällig naht man sich, man fühlt, man bleibt
Und nach und nach wird man verflochten;
Es wächst das Glück, dann wird es angefochten
Man ist entzückt, nun kommt der Schmerz heran,
Und eh man sich’s versieht, ist’s eben ein Roman.
Laßt uns auch so ein Schauspiel geben!
Greift nur hinein ins volle Menschenleben!
Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,
Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.
In bunten Bildern wenig Klarheit,
Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit,
So wird der beste Trank gebraut,
Der alle Welt erquickt und auferbaut.
Dann sammelt sich der Jugend schönste Blüte
Vor eurem Spiel und lauscht der Offenbarung,
Dann sauget jedes zärtliche Gemüte
Aus eurem Werk sich melanchol’sche Nahrung,
Dann wird bald dies, bald jenes aufgeregt
Ein jeder sieht, was er im Herzen trägt.
Noch sind sie gleich bereit, zu weinen und zu lachen,
Sie ehren noch den Schwung, erfreuen sich am Schein;
Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen;
Ein Werdender wird immer dankbar sein.

DICHTER:
So gib mir auch die Zeiten wieder,
Da ich noch selbst im Werden war,
Da sich ein Quell gedrängter Lieder
Ununterbrochen neu gebar,
Da Nebel mir die Welt verhüllten,
Die Knospe Wunder noch versprach,
Da ich die tausend Blumen brach,
Die alle Täler reichlich füllten.
Ich hatte nichts und doch genug:
Den Drang nach Wahrheit und die Lust am Trug.
Gib ungebändigt jene Triebe,
Das tiefe, schmerzenvolle Glück,
Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe,
Gib meine Jugend mir zurück!

LUSTIGE PERSON:
Der Jugend, guter Freund, bedarfst du allenfalls,
Wenn dich in Schlachten Feinde drängen,
Wenn mit Gewalt an deinen Hals
Sich allerliebste Mädchen hängen,
Wenn fern des schnellen Laufes Kranz
Vom schwer erreichten Ziele winket,
Wenn nach dem heft’gen Wirbeltanz
Die Nächte schmausend man vertrinket.
Doch ins bekannte Saitenspiel
Mit Mut und Anmut einzugreifen,
Nach einem selbstgesteckten Ziel
Mit holdem Irren hinzuschweifen,
Das, alte Herrn, ist eure Pflicht,
Und wir verehren euch darum nicht minder.
Das Alter macht nicht kindisch, wie man spricht,
Es findet uns nur noch als wahre Kinder.

DIREKTOR:
Der Worte sind genug gewechselt,
Laßt mich auch endlich Taten sehn!
Indes ihr Komplimente drechselt,
Kann etwas Nützliches geschehn.
Was hilft es, viel von Stimmung reden?
Dem Zaudernden erscheint sie nie.
Gebt ihr euch einmal für Poeten,
So kommandiert die Poesie.
Euch ist bekannt, was wir bedürfen,
Wir wollen stark Getränke schlürfen;
Nun braut mir unverzüglich dran!
Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan,
Und keinen Tag soll man verpassen,
Das Mögliche soll der Entschluß
Beherzt sogleich beim Schopfe fassen,
Er will es dann nicht fahren lassen
Und wirket weiter, weil er muß.

Ihr wißt, auf unsern deutschen Bühnen
Probiert ein jeder, was er mag;
Drum schonet mir an diesem Tag
Prospekte nicht und nicht Maschinen.
Gebraucht das groß, und kleine Himmelslicht,
Die Sterne dürfet ihr verschwenden;
An Wasser, Feuer, Felsenwänden,
An Tier und Vögeln fehlt es nicht.
So schreitet in dem engen Bretterhaus
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus,
Und wandelt mit bedächt’ger Schnelle
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.

Prolog im Himmel.

Der Herr. Die himmlischen Heerscharen. Nachher Mephistopheles.
Die drei Erzengel treten vor.

RAPHAEL:
Die Sonne tönt, nach alter Weise,
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
Wenn keiner Sie ergründen mag;
die unbegreiflich hohen Werke
Sind herrlich wie am ersten Tag.

GABRIEL:
Und schnell und unbegreiflich schnelle
Dreht sich umher der Erde Pracht;
Es wechselt Paradieseshelle
Mit tiefer, schauervoller Nacht.
Es schäumt das Meer in breiten Flüssen
Am tiefen Grund der Felsen auf,
Und Fels und Meer wird fortgerissen
Im ewig schnellem Sphärenlauf.

MICHAEL:
Und Stürme brausen um die Wette
Vom Meer aufs Land, vom Land aufs Meer,
und bilden wütend eine Kette
Der tiefsten Wirkung rings umher.
Da flammt ein blitzendes Verheeren
Dem Pfade vor des Donnerschlags.
Doch deine Boten, Herr, verehren
Das sanfte Wandeln deines Tags.

ZU DREI:
Der Anblick gibt den Engeln Stärke,
Da keiner dich ergründen mag,
Und alle deine hohen Werke
Sind herrlich wie am ersten Tag.

MEPHISTOPHELES:
Da du, o Herr, dich einmal wieder nahst
Und fragst, wie alles sich bei uns befinde,
Und du mich sonst gewöhnlich gerne sahst,
So siehst du mich auch unter dem Gesinde.
Verzeih, ich kann nicht hohe Worte machen,
Und wenn mich auch der ganze Kreis verhöhnt;
Mein Pathos brächte dich gewiß zum Lachen,
Hättst du dir nicht das Lachen abgewöhnt.
Von Sonn‘ und Welten weiß ich nichts zu sagen,
Ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen.
Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag,
Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag.
Ein wenig besser würd er leben,
Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben;
Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein,
Nur tierischer als jedes Tier zu sein.
Er scheint mir, mit Verlaub von euer Gnaden,
Wie eine der langbeinigen Zikaden,
Die immer fliegt und fliegend springt
Und gleich im Gras ihr altes Liedchen singt;
Und läg er nur noch immer in dem Grase!
In jeden Quark begräbt er seine Nase.

DER HERR:
Hast du mir weiter nichts zu sagen?
Kommst du nur immer anzuklagen?
Ist auf der Erde ewig dir nichts recht?

MEPHISTOPHELES:
Nein Herr! ich find es dort, wie immer, herzlich schlecht.
Die Menschen dauern mich in ihren Jammertagen,
Ich mag sogar die armen selbst nicht plagen.

DER HERR:
Kennst du den Faust?

MEPHISTOPHELES:
Den Doktor?

DER HERR:
Meinen Knecht!

MEPHISTOPHELES:
Fürwahr! er dient Euch auf besondre Weise.
Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise.
Ihn treibt die Gärung in die Ferne,
Er ist sich seiner Tollheit halb bewußt;
Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne
Und von der Erde jede höchste Lust,
Und alle Näh und alle Ferne
Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.

DER HERR:
Wenn er mir auch nur verworren dient,
So werd ich ihn bald in die Klarheit führen.
Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt,
Das Blüt und Frucht die künft’gen Jahre zieren.

MEPHISTOPHELES:
Was wettet Ihr? den sollt Ihr noch verlieren!
Wenn Ihr mir die Erlaubnis gebt,
Ihn meine Straße sacht zu führen.

DER HERR:
Solang er auf der Erde lebt,
So lange sei dir’s nicht verboten,
Es irrt der Mensch so lang er strebt.

MEPHISTOPHELES:
Da dank ich Euch; denn mit den Toten
Hab ich mich niemals gern befangen.
Am meisten lieb ich mir die vollen, frischen Wangen.
Für einem Leichnam bin ich nicht zu Haus;
Mir geht es wie der Katze mit der Maus.

DER HERR:
Nun gut, es sei dir überlassen!
Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab,
Und führ ihn, kannst du ihn erfassen,
Auf deinem Wege mit herab,
Und steh beschämt, wenn du bekennen mußt:
Ein guter Mensch, in seinem dunklen Drange,
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.

MEPHISTOPHELES:
Schon gut! nur dauert es nicht lange.
Mir ist für meine Wette gar nicht bange.
Wenn ich zu meinem Zweck gelange,
Erlaubt Ihr mir Triumph aus voller Brust.
Staub soll er fressen, und mit Lust,
Wie meine Muhme, die berühmte Schlange.

DER HERR:
Du darfst auch da nur frei erscheinen;
Ich habe deinesgleichen nie gehaßt.
Von allen Geistern, die verneinen,
ist mir der Schalk am wenigsten zur Last.
Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,
er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen.
Doch ihr, die echten Göttersöhne,
Erfreut euch der lebendig reichen Schöne!
Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,
Umfass euch mit der Liebe holden Schranken,
Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
Befestigt mit dauernden Gedanken!
(Der Himmel schließt, die Erzengel verteilen sich.)

MEPHISTOPHELES (allein):
Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern,
Und hüte mich, mit ihm zu brechen.
Es ist gar hübsch von einem großen Herrn,
So menschlich mit dem Teufel selbst zu sprechen.

Nacht.

In einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer Faust,
unruhig auf seinem Sessel am Pulte.

FAUST:
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doktor gar
Und ziehe schon an die zehen Jahr
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum-
Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.
Zwar bin ich gescheiter als all die Laffen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel-
Dafür ist mir auch alle Freud entrissen,
Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
Die Menschen zu bessern und zu bekehren.
Auch hab ich weder Gut noch Geld,
Noch Ehr und Herrlichkeit der Welt;
Es möchte kein Hund so länger leben!
Drum hab ich mich der Magie ergeben,
Ob mir durch Geistes Kraft und Mund
Nicht manch Geheimnis würde kund;
Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß
Zu sagen brauche, was ich nicht weiß;
Daß ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu nicht mehr in Worten kramen.

O sähst du, voller Mondenschein,
Zum letzenmal auf meine Pein,
Den ich so manche Mitternacht
An diesem Pult herangewacht:
Dann über Büchern und Papier,
Trübsel’ger Freund, erschienst du mir!
Ach! könnt ich doch auf Bergeshöhn
In deinem lieben Lichte gehn,
Um Bergeshöhle mit Geistern schweben,
Auf Wiesen in deinem Dämmer weben,
Von allem Wissensqualm entladen,
In deinem Tau gesund mich baden!

Weh! steck ich in dem Kerker noch?
Verfluchtes dumpfes Mauerloch,
Wo selbst das liebe Himmelslicht
Trüb durch gemalte Scheiben bricht!
Beschränkt mit diesem Bücherhauf,
den Würme nagen, Staub bedeckt,
Den bis ans hohe Gewölb hinauf
Ein angeraucht Papier umsteckt;
Mit Gläsern, Büchsen rings umstellt,
Mit Instrumenten vollgepfropft,
Urväter Hausrat drein gestopft-
Das ist deine Welt! das heißt eine Welt!

Und fragst du noch, warum dein Herz
Sich bang in deinem Busen klemmt?
Warum ein unerklärter Schmerz
Dir alle Lebensregung hemmt?
Statt der lebendigen Natur,
Da Gott die Menschen schuf hinein,
Umgibt in Rauch und Moder nur
Dich Tiergeripp und Totenbein.

Flieh! auf! hinaus ins weite Land!
Und dies geheimnisvolle Buch,
Von Nostradamus‘ eigner Hand,
Ist dir es nicht Geleit genug?
Erkennest dann der Sterne Lauf,
Und wenn Natur dich Unterweist,
Dann geht die Seelenkraft dir auf,
Wie spricht ein Geist zum andren Geist.
Umsonst, daß trocknes Sinnen hier
Die heil’gen Zeichen dir erklärt:
Ihr schwebt, ihr Geister, neben mir;
Antwortet mir, wenn ihr mich hört!
(Er schlägt das Buch auf und erblickt das Zeichen des Makrokosmus.)

Ha! welche Wonne fließt in diesem Blick
Auf einmal mir durch alle meine Sinnen!
Ich fühle junges, heil’ges Lebensglück
Neuglühend mir durch Nerv‘ und Adern rinnen.
War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb,
Die mir das innre Toben stillen,
Das arme Herz mit Freude füllen,
Und mit geheimnisvollem Trieb
Die Kräfte der Natur rings um mich her enthüllen?
Bin ich ein Gott? Mir wird so licht!
Ich schau in diesen reinen Zügen
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen.
Jetzt erst erkenn ich, was der Weise spricht:
„Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot!
Auf, bade, Schüler, unverdrossen
Die ird’sche Brust im Morgenrot!“
(er beschaut das Zeichen.)

Wie alles sich zum Ganzen webt,
Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!

Welch Schauspiel! Aber ach! ein Schauspiel nur!
Wo fass ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt,
Dahin die welke Brust sich drängt-
Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht ich so vergebens?
(er schlägt unwillig das Buch um und erblickt das Zeichen des Erdgeistes.)

Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!
Du, Geist der Erde, bist mir näher;
Schon fühl ich meine Kräfte höher,
Schon glüh ich wie von neuem Wein.
Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen,
Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen,
Mit Stürmen mich herumzuschlagen
Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.
Es wölkt sich über mir-
Der Mond verbirgt sein Licht-
Die Lampe schwindet!
Es dampft! Es zucken rote Strahlen
Mir um das Haupt- Es weht
Ein Schauer vom Gewölb herab
Und faßt mich an!
Ich fühl’s, du schwebst um mich, erflehter Geist
Enthülle dich!
Ha! wie’s in meinem Herzen reißt!
Zu neuen Gefühlen
All meine Sinnen sich erwühlen!
Ich fühle ganz mein Herz dir hingegeben!
Du mußt! du mußt! und kostet es mein Leben!
(Er faßt das Buch und spricht das Zeichen des Geistes geheimnisvoll aus.
Es zuckt eine rötliche Flamme, der Geist erscheint in der Flamme.)

GEIST:
Wer ruft mir?

FAUST (abgewendet):
Schreckliches Gesicht!

GEIST:
Du hast mich mächtig angezogen,
An meiner Sphäre lang gesogen,
Und nun-

FAUST:
Weh! ich ertrag dich nicht!

GEIST:
Du flehst, eratmend mich zu schauen,
Meine Stimme zu hören, mein Antlitz zu sehn;
Mich neigt dein mächtig Seelenflehn,
Da bin ich!- Welch erbärmlich Grauen
Faßt Übermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf?
Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf
Und trug und hegte, die mit Freudebeben
Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben?
Wo bist du, Faust, des Stimme mir erklang,
Der sich an mich mit allen Kräften drang?
Bist du es, der, von meinem Hauch umwittert,
In allen Lebenslagen zittert,
Ein furchtsam weggekrümmter Wurm?

FAUST:
Soll ich dir, Flammenbildung, weichen?
Ich bin’s, bin Faust, bin deinesgleichen!

GEIST:
In Lebensfluten, im Tatensturm
Wall ich auf und ab,
Wehe hin und her!
Geburt und Grab,
Ein ewiges Meer,
Ein wechselndes Wehen,
Ein glühend Leben,
So schaff ich am laufenden Webstuhl der Zeit
Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

FAUST:
Der du die weite Welt umschweifst,
Geschäftiger Geist, wie nah fühl ich mich dir!

GEIST:
Du gleichst dem Geist, den du begreifst,
Nicht mir!
(verschwindet)

FAUST (zusammenstürzend):
Nicht dir?
Wem denn?
Ich Ebenbild der Gottheit!
Und nicht einmal dir!
(es klopft)

O Tod! ich kenn’s- das ist mein Famulus-
Es wird mein schönstes Glück zunichte!
Daß diese Fülle der Geschichte
Der trockne Schleicher stören muß!
(Wagner im Schlafrock und der Nachtmütze, eine Lampe in der Hand.
Faust wendet sich unwillig.)

WAGNER:
Verzeiht! ich hör euch deklamieren;
Ihr last gewiß ein griechisch Trauerspiel?
In dieser Kunst möcht ich was profitieren,
Denn heutzutage wirkt das viel.
Ich hab es öfters rühmen hören,
Ein Komödiant könnt einen Pfarrer lehren.

FAUST:
Ja, wenn der Pfarrer ein Komödiant ist;
Wie das denn wohl zuzeiten kommen mag.

WAGNER:
Ach! wenn man so in sein Museum gebannt ist,
Und sieht die Welt kaum einen Feiertag,
Kaum durch ein Fernglas, nur von weitem,
Wie soll man sie durch Überredung leiten?

FAUST:
Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen,
Wenn es nicht aus der Seele dringt
Und mit urkräftigem Behagen
Die Herzen aller Hörer zwingt.
Sitzt ihr nur immer! leimt zusammen,
Braut ein Ragout von andrer Schmaus
Und blast die kümmerlichen Flammen
Aus eurem Aschenhäuschen ‚raus!
Bewundrung von Kindern und Affen,
Wenn euch darnach der Gaumen steht-
Doch werdet ihr nie Herz zu Herzen schaffen,
Wenn es euch nicht von Herzen geht.

WAGNER:
Allein der Vortrag macht des Redners Glück;
Ich fühl es wohl, noch bin ich weit zurück.

FAUST:
Such Er den redlichen Gewinn!
Sei Er kein schellenlauter Tor!
Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor!
Und wenn’s euch Ernst ist, was zu sagen,
Ist’s nötig, Worten nachzujagen?
Ja, eure Reden, die so blinkend sind,
In denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt,
Sind unerquicklich wie der Nebelwind,
Der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!

WAGNER:
Ach Gott! die Kunst ist lang;
Und kurz ist unser Leben.
Mir wird, bei meinem kritischen Bestreben,
Doch oft um Kopf und Busen bang.
Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben,
Durch die man zu den Quellen steigt!
Und eh man nur den halben Weg erreicht,
Muß wohl ein armer Teufel sterben.

FAUST:
Das Pergament, ist das der heil’ge Bronnen,
Woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt?
Erquickung hast du nicht gewonnen,
Wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.

WAGNER:
Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.

FAUST:
O ja, bis an die Sterne weit!
Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Da ist’s denn wahrlich oft ein Jammer!
Man läuft euch bei dem ersten Blick davon.
Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer
Und höchstens eine Haupt- und Staatsaktion
Mit trefflichen pragmatischen Maximen,
Wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen!

WAGNER:
Allein die Welt! des Menschen Herz und Geist!
Möcht jeglicher doch was davon erkennen.

FAUST:
Ja, was man so erkennen heißt!
Wer darf das Kind beim Namen nennen?
Die wenigen, die was davon erkannt,
Die töricht g’nug ihr volles Herz nicht wahrten,
Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.
Ich bitt Euch, Freund, es ist tief in der Nacht,
Wir müssen’s diesmal unterbrechen.

WAGNER:
Ich hätte gern nur immer fortgewacht,
Um so gelehrt mit Euch mich zu besprechen.
Doch morgen, als am ersten Ostertage,
Erlaubt mir ein‘ und andre Frage.
Mit Eifer hab‘ ich mich der Studien beflissen;
Zwar weiß ich viel, doch möcht‘ ich alles wissen.
(Ab.)

FAUST (allein):
Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet,
Der immerfort an schalem Zeuge klebt,
Mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt,
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet!

Darf eine solche Menschenstimme hier,
Wo Geisterfülle mich umgab, ertönen?
Doch ach! für diesmal dank ich dir,
Dem ärmlichsten von allen Erdensöhnen.
Du rittest mich von der Verzweiflung los,
Die mir die Sinne schon zerstören wollte.
Ach! die Erscheinung war so riesengroß,
Daß ich mich recht als Zwerg empfinden sollte.

Ich, Ebenbild der Gottheit, das sich schon
Ganz nah gedünkt dem Spiegel ew’ger Wahrheit,
Sein selbst genoß in Himmelsglanz und Klarheit,
Und abgestreift den Erdensohn;
Ich, mehr als Cherub, dessen freie Kraft
Schon durch die Adern der Natur zu fließen
Und, schaffend, Götterleben zu genießen
Sich ahnungsvoll vermaß, wie muß ich’s büßen!
Ein Donnerwort hat mich hinweggerafft.

Nicht darf ich dir zu gleichen mich vermessen;
Hab ich die Kraft dich anzuziehn besessen,
So hatt ich dich zu halten keine Kraft.
Zu jenem sel’gen Augenblicke
Ich fühlte mich so klein, so groß;
Du stießest grausam mich zurück,
Ins ungewisse Menschenlos.
Wer lehret mich? was soll ich meiden?
Soll ich gehorchen jenem Drang?
Ach! unsre Taten selbst, so gut als unsre Leiden,
Sie hemmen unsres Lebens Gang.

Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen,
Drängt immer fremd und fremder Stoff sich an;
Wenn wir zum Guten dieser Welt gelangen,
Dann heißt das Beßre Trug und Wahn.
Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle
Erstarren in dem irdischen Gewühle.

Wenn Phantasie sich sonst mit kühnem Flug
Und hoffnungsvoll zum Ewigen erweitert,
So ist ein kleiner Raum ihr genug,
Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert.
Die Sorge nistet gleich im tiefen Herzen,
Dort wirket sie geheime Schmerzen,
Unruhig wiegt sie sich und störet Luft und Ruh;
Sie deckt sich stets mit neuen Masken zu,
Sie mag als Haus und Hof, als Weib und Kind erscheinen,
Als Feuer, Wasser, Dolch und Gift;
Du bebst vor allem, was nicht trifft,
Und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen.

Den Göttern gleich ich nicht! zu tief ist es gefühlt;
Dem Wurme gleich ich, der den Staub durchwühlt,
Den, wie er sich im Staube nährend lebt,
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt.

Ist es nicht Staub, was diese hohe Wand
Aus hundert Fächern mit verenget?
Der Trödel, der mit tausendfachem Tand
In dieser Mottenwelt mich dränget?
Hier soll ich finden, was mir fehlt?
Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen,
Daß überall die Menschen sich gequält,
Daß hie und da ein Glücklicher gewesen?-
Was grinsest du mir, hohler Schädel, her?
Als daß dein Hirn, wie meines, einst verwirret
Den leichten Tag gesucht und in der Dämmrung schwer,
Mit Luft nach Wahrheit, jämmerlich geirret.
Ihr Instrumente freilich spottet mein,
Mit Rad und Kämmen, Walz und Bügel:
Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein;
Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.
Geheimnisvoll am lichten Tag
Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
Du alt Geräte, das ich nicht gebraucht,
Du stehst nur hier, weil dich mein Vater brauchte.
Du alte Rolle, du wirst angeraucht,
Solang an diesem Pult die trübe Lampe schmauchte.
Weit besser hätt ich doch mein Weniges verpraßt,
Als mit dem Wenigen belastet hier zu schwitzen!
Was du ererbt von deinem Vater hast,
Erwirb es, um es zu besitzen.
Was man nicht nützt, ist eine schwere Last,
Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen.

Doch warum heftet sich mein Blick auf jene Stelle?
Ist jenes Fläschchen dort den Augen ein Magnet?
Warum wird mir auf einmal lieblich helle,
Als wenn im nächt’gen Wald uns Mondenglanz umweht?

Ich grüße dich, du einzige Phiole,
Die ich mit Andacht nun herunterhole!
In dir verehr ich Menschenwitz und Kunst.
Du Inbegriff der holden Schlummersäfte,
Du Auszug aller tödlich feinen Kräfte,
Erweise deinem Meister deine Gunst!
Ich sehe dich, es wird der Schmerz gelindert,
Ich fasse dich, das Streben wird gemindert,
Des Geistes Flutstrom ebbet nach und nach.
Ins hohe Meer werd ich hinausgewiesen,
Die Spiegelflut erglänzt zu meinen Füßen,
Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.

Ein Feuerwagen schwebt, auf leichten Schwingen,
An mich heran! Ich fühle mich bereit,
Auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen,
Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit.
Dies hohe Leben, diese Götterwonne!
Du, erst noch Wurm, und die verdienest du?
Ja, kehre nur der holden Erdensonne
Entschlossen deinen Rücken zu!
Vermesse dich, die Pforten aufzureißen,
Vor denen jeder gern vorüberschleicht!
Hier ist es Zeit, durch Taten zu beweisen,
Das Manneswürde nicht der Götterhöhe weicht,
Vor jener dunkeln Höhle nicht zu beben,
In der sich Phantasie zu eigner Qual verdammt,
Nach jenem Durchgang hinzustreben,
Um dessen engen Mund die ganze Hölle flammt;
In diesem Schritt sich heiter zu entschließen,
Und wär es mit Gefahr, ins Nichts dahin zu fließen.

Nun komm herab, kristallne reine Schale!
Hervor aus deinem alten Futterale,
An die ich viele Jahre nicht gedacht!
Du glänzetst bei der Väter Freudenfeste,
Erheitertest die ernsten Gäste,
Wenn einer dich dem andern zugebracht.
Der vielen Bilder künstlich reiche Pracht,
Des Trinkers Pflicht, sie reimweis zu erklären,
Auf einen Zug die Höhlung auszuleeren,
Erinnert mich an manche Jugendnacht.
Ich werde jetzt dich keinem Nachbar reichen,
Ich werde meinen Witz an deiner Kunst nicht zeigen.
Hier ist ein Saft, der eilig trunken macht;
Mit brauner Flut erfüllt er deine Höhle.
Den ich bereit, den ich wähle,
„Der letzte Trunk sei nun, mit ganzer Seele,
Als festlich hoher Gruß, dem Morgen zugebracht!
(Er setzt die Schale an den Mund.)
Glockenklang und Chorgesang.

CHOR DER ENGEL:
Christ ist erstanden!
Freude dem Sterblichen,
Den die verderblichen,
Schleichenden, erblichen
Mängel unwanden.

FAUST:
Welch tiefes Summen, welch heller Ton
Zieht mit Gewalt das Glas von meinem Munde?
Verkündigt ihr dumpfen Glocken schon
Des Osterfestes erste Feierstunde?
Ihr Chöre, singt ihr schon den tröstlichen Gesang,
Der einst, um Grabes Nacht, von Engelslippen klang,
Gewißheit einem neuen Bunde?

CHOR DER WEIBER:
Mit Spezereien
Hatten wir ihn gepflegt,
Wir seine Treuen
Hatten ihn hingelegt;
Tücher und Binden
Reinlich unwanden wir,
Ach! und wir finden
Christ nicht mehr hier.

CHOR DER ENGEL:
Christ ist erstanden!
Selig der Liebende,
Der die betrübende,
Heilsam und übende
Prüfung bestanden.

FAUST:
Was sucht ihr, mächtig und gelind,
Ihr Himmelstöne, mich am Staube?
Klingt dort umher, wo weiche Menschen sind.
Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.
Zu jenen Sphären wag ich nicht zu streben,
Woher die holde Nachricht tönt;
Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt,
Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.
Sonst stürzte sich der Himmelsliebe Kuß
Auf mich herab in ernster Sabbatstille;
Da klang so ahnungsvoll des Glockentones Fülle,
Und ein Gebet war brünstiger Genuß;
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich, durch Wald und Wiesen hinzugehn,
Und unter tausend heißen Tränen
Fühlt ich mir eine Welt entstehn.
Dies Lieb verkündete der Jugend muntre Spiele,
Der Frühlingsfeier freies Glück;
Erinnrung hält mich nun, mit kindlichem Gefühle,
Vom letzten, ernsten Schritt zurück.
O tönet fort, ihr süßen Himmelslieder!
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!

CHOR DER JÜNGER:
Hat der Begrabene
Schon sich nach oben,
Lebend Erhabene,
Herrlich erhoben;
Ist er in Werdeluft
Schaffender Freude nah:
Ach! an der Erde Brust
Sind wir zum Leide da.
Ließ er die Seinen
Schmachtend uns hier zurück;
Ach! wir beweinen,
Meister, dein Glück!

CHOR DER ENGEL:
Christ ist erstanden,
Aus der Verwesung Schoß.
Reißet von Banden
Freudig euch los!
Tätig ihn preisenden,
Liebe beweisenden,
Brüderlich speisenden,
Predigend reisenden,
Wonne verheißenden
Euch ist der Meister nah,
Euch ist er da!

Vor dem

Tor

Spaziergänger aller Art ziehen hinaus.

EINIGE HANDWERKSBURSCHE:
Warum denn dort hinaus?

ANDRE:
Wir gehn hinaus aufs Jägerhaus.

DIE ERSTEN:
Wir aber wollen nach der Mühle wandern.

EIN HANDWERKSBURSCH:
Ich rat euch, nach dem Wasserhof zu gehn.

ZWEITER:
Der Weg dahin ist gar nicht schön.

DIE ZWEITEN:
Was tust denn du?

EIN DRITTER:
Ich gehe mit den andern.

VIERTER:
Nach Burgdorf kommt herauf, gewiß dort findet ihr
Die schönsten Mädchen und das beste Bier,
Und Händel von der ersten Sorte.

FÜNFTER:
Du überlustiger Gesell,
Juckt dich zum drittenmal das Fell?
Ich mag nicht hin, mir graut es vor dem Orte.

DIENSTMÄDCHEN:
Nein, nein! ich gehe nach der Stadt zurück.

ANDRE:
Wir finden ihn gewiß bei jenen Pappeln stehen.

ERSTE:
Das ist für mich kein großes Glück;
Er wird an deiner Seite gehen,
Mit dir nur tanzt er auf dem Plan.
Was gehn mich deine Freuden an!

ANDRE:
Heut ist er sicher nicht allein,
Der Krauskopf, sagt er, würde bei ihm sein.

SCHÜLER:
Blitz, wie die wackern Dirnen schreiten!
Herr Bruder, komm! wir müssen sie begleiten.
Ein starkes Bier, ein beizender Toback,
Und eine Magd im Putz, das ist nun mein Geschmack.

BÜRGERMÄDCHEN:
Da sieh mir nur die schönen Knaben!
Es ist wahrhaftig eine Schmach:
Gesellschaft könnten sie die allerbeste haben,
Und laufen diesen Mägden nach!
ZWEITER SCHÜLER (zum ersten):
Nicht so geschwind! dort hinten kommen zwei,
Sie sind gar niedlich angezogen,
’s ist meine Nachbarin dabei;
Ich bin dem Mädchen sehr gewogen.
Sie gehen ihren stillen Schritt
Und nehmen uns doch auch am Ende mit.

ERSTER:
Herr Bruder, nein! Ich bin nicht gern geniert.
Geschwind! daß wir das Wildbret nicht verlieren.
Die Hand, die samstags ihren Besen führt
Wird sonntags dich am besten karessieren.

BÜRGER:
Nein, er gefällt mir nicht, der neue Burgemeister!
Nun, da er’s ist, wird er nur täglich dreister.
Und für die Stadt was tut denn er?
Wird es nicht alle Tage schlimmer?
Gehorchen soll man mehr als immer,
Und zahlen mehr als je vorher.

BETTLER (singt):
Ihr guten Herrn, ihr schönen Frauen,
So wohlgeputzt und backenrot,
Belieb es euch, mich anzuschauen,
Und seht und mildert meine Not!
Laßt hier mich nicht vergebens leiern!
Nur der ist froh, der geben mag.
Ein Tag, den alle Menschen feiern,
Er sei für mich ein Erntetag.

ANDRER BÜRGER:
Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.

DRITTER BÜRGER:
Herr Nachbar, ja! so laß ich’s auch geschehn:
Sie mögen sich die Köpfe spalten,
Mag alles durcheinander gehn;
Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.
ALTE (zu den Bürgermädchen):
Ei! wie geputzt! das schöne junge Blut!
Wer soll sich nicht in euch vergaffen?-
Nur nicht so stolz! es ist schon gut!
Und was ihr wünscht, das wüßt ich wohl zu schaffen.

BÜRGERMÄDCHEN:
Agathe, fort! ich nehme mich in acht,
Mit solchen Hexen öffentlich zu gehen;
Sie ließ mich zwar in Sankt Andreas‘ Nacht
Den künft’gen Liebsten leiblich sehen-
DIE ANDRE:
Mir zeigte sie ihn im Kristall,
Soldatenhaft, mit mehreren Verwegnen;
Ich seh mich um, ich such ihn überall,
Allein mir will er nicht begegnen.

SOLDATEN:
Burgen mit hohen
Mauern und Zinnen,
Mädchen mit stolzen
Höhnenden Sinnen
Möcht ich gewinnen!
Kühn ist das Mühen,
Herrlich der Lohn!

Und die Trompete
Lassen wir werben,
Wie zu der Freude,
So zum Verderben.
Das ist ein Stürmen!
Das ist ein Leben!
Mädchen und Burgen
Müssen sich geben.
Kühn ist das Mühen,
Herrlich der Lohn!
Und die Soldaten
Ziehen davon.

Faust und Wagner.

FAUST:
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dorther sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer kornigen Eises
In Streifen über die grünende Flur;
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlt’s im Revier
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurückzusehen.
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden,
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß, in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und bis zum Sinken überladen
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!

WAGNER:
Mit Euch, Herr Doktor, zu spazieren
Ist ehrenvoll und ist Gewinn;
Doch würd ich nicht allein mich her verlieren,
Weil ich ein Feind von allem Rohen bin.
Das Fiedeln, Schreien, Kegelschieben
Ist mir ein gar verhaßter Klang;
Sie toben wie vom bösen Geist getrieben
Und nennen’s Freude. nennen’s Gesang.

Bauern unter der Linde. Tanz und Gesang.

Der Schäfer putzte sich zum Tanz,
Mit bunter Jacke, Band und Kranz,
Schmuck war er angezogen.
Schon um die Linde war es voll,
Und alles tanzte schon wie toll.
Juchhe! Juchhe!
Juchheisa! Heisa! He!
So ging der Fiedelbogen.

Er drückte hastig sich heran,
Da stieß er an ein Mädchen an
Mit seinem Ellenbogen;
Die frische Dirne kehrt, sich um
Und sagte: Nun, das find ich dumm!
Juchhe! Juchhe!
Juchheisa! Heisa! He!
Seid nicht so ungezogen!

Doch hurtig in dem Kreise ging’s,
Sie tanzten rechts, sie tanzten links,
Und alle Röcke flogen.
Sie wurden rot, sie wurden warm
Und ruhten atmend Arm in Arm,
Juchhe! Juchhe!
Juchheisa! Heisa! He!
Und Hüft an Ellenbogen.

Und tu mir doch nicht so vertraut!
Wie mancher hat nicht seine Braut
Belogen und betrogen!
Er schmeichelte sie doch bei Seit,
Und von der Linde scholl es weit:
Juchhe! Juchhe!
Juchheisa! Heisa! He!
Geschrei und Fiedelbogen.

ALTER BAUER:
Herr Doktor, das ist schön von Euch,
Daß Ihr uns heute nicht verschmäht,
Und unter dieses Volksgedräng,
Als ein so Hochgelahrter, geht.
So nehmet auch den schönsten Krug,
Den wir mit frischem Trunk gefüllt,
Ich bring ihn zu und wünsche laut,
Daß er nicht nur den Durst Euch stillt:
Die Zahl der Tropfen, die er hegt,
Sei Euren Tagen zugelegt.

FAUST:
Ich nehme den Erquickungstrank
Enwidr‘ euch allen Heil und Dank.
(Das Volk sammelt sich im Kreis umher.)

ALTER BAUER:
Fürwahr, es ist sehr wohl getan,
Daß Ihr am frohen Tag erscheint;
Habt Ihr es vormals doch mit uns
An bösen Tagen gut gemeint!
Gar mancher steht lebendig hier
Den Euer Vater noch zuletzt
Der heißen Fieberwut entriß,
Als er der Seuche Ziel gesetzt.
Auch damals Ihr, ein junger Mann,
Ihr gingt in jedes Krankenhaus,
Gar manche Leiche trug man fort,
Ihr aber kamt gesund heraus,
Bestandet manche harte Proben;
Dem Helfer half der Helfer droben.

ALLE:
Gesundheit dem bewährten Mann,
Daß er noch lange helfen kann!

FAUST:
Vor jenem droben steht gebückt,
Der helfen lehrt und Hülfe schickt.
(Er geht mit Wagnern weiter.)

WAGNER:
Welch ein Gefühl mußt du, o großer Mann,
Bei der Verehrung dieser Menge haben!
O glücklich, wer von seinen Gaben
Solch einen Vorteil ziehen kann!
Der Vater zeigt dich seinem Knaben,
Ein jeder fragt und drängt und eilt,
Die Fiedel stockt, der Tänzer weilt.
Du gehst, in Reihen stehen sie,
Die Mützen fliegen in die Höh;
Und wenig fehlt, so beugten sich die Knie,
Als käm das Venerabile.

FAUST:
Nur wenig Schritte noch hinauf zu jenem Stein,
Hier wollen wir von unsrer Wandrung rasten.
Hier saß ich oft gedankenvoll allein
Und quälte mich mit Beten und mit Fasten.
An Hoffnung reich, im Glauben fest,
Mit Tränen, Seufzen, Händeringen
Dacht ich das Ende jener Pest
Vom Herrn des Himmels zu erzwingen.
Der Menge Beifall tönt mir nun wie Hohn.
O könntest du in meinem Innern lesen,
Wie wenig Vater und Sohn
Solch eines Ruhmes wert gewesen!
Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann,
Der über die Natur und ihre heil’gen Kreise
In Redlichkeit, jedoch auf seine Weise,
Mit grillenhafter Mühe sann;
Der, in Gesellschaft von Adepten,
Sich in die schwarze Küche schloß,
Und, nach unendlichen Rezepten,
Das Widrige zusammengoß.
Da ward ein roter Leu, ein kühner Freier,
Im lauen Bad der Lilie vermählt,
Und beide dann mit offnem Flammenfeuer
Aus einem Brautgemach ins andere gequält.
Erschien darauf mit bunten Farben
Die junge Königin im Glas,
Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte: wer genas?
So haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Tälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest getobt.
Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben:
Sie welkten hin, ich muß erleben,
Daß man die frechen Mörder lobt.

WAGNER:
Wie könnt Ihr Euch darum betrüben!
Tut nicht ein braver Mann genug,
Die Kunst, die man ihm übertrug,
Gewissenhaft und pünktlich auszuüben?
Wenn du als Jüngling deinen Vater ehrst,
So wirst du gern von ihm empfangen;
Wenn du als Mann die Wissenschaft vermehrst,
So kann dein Sohn zu höhrem Ziel gelangen.

FAUST:
O glücklich, wer noch hoffen kann,
Aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen!
Was man nicht weiß, das eben brauchte man,
Und was man weiß, kann man nicht brauchen.
Doch laß uns dieser Stunde schönes Gut
Durch solchen Trübsinn nicht verkümmern!
Betrachte, wie in Abendsonne-Glut
Die grünumgebnen Hütten schimmern.
Sie rückt und weicht, der Tag ist überlebt,
Dort eilt sie hin und fördert neues Leben.
O daß kein Flügel mich vom Boden hebt
Ihr nach und immer nach zu streben!
Ich säh im ewigen Abendstrahl
Die stille Welt zu meinen Füßen,
Entzündet alle Höhn beruhigt jedes Tal,
Den Silberbach in goldne Ströme fließen.
Nicht hemmte dann den göttergleichen Lauf
Der wilde Berg mit allen seinen Schluchten;
Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten
Vor den erstaunten Augen auf.
Doch scheint die Göttin endlich wegzusinken;
Allein der neue Trieb erwacht,
Ich eile fort, ihr ew’ges Licht zu trinken,
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht,
Den Himmel über mir und unter mir die Wellen.
Ein schöner Traum, indessen sie entweicht.
Ach! zu des Geistes Flügeln wird so leicht
Kein körperlicher Flügel sich gesellen.
Doch ist es jedem eingeboren
Daß sein Gefühl hinauf und vorwärts dringt,
Wenn über uns, im blauen Raum verloren,
Ihr schmetternd Lied die Lerche singt;
Wenn über schroffen Fichtenhöhen
Der Adler ausgebreitet schwebt,
Und über Flächen, über Seen
Der Kranich nach der Heimat strebt.

WAGNER:
Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden,
Doch solchen Trieb hab ich noch nie empfunden.
Man sieht sich leicht an Wald und Feldern satt;
Des Vogels Fittich werd ich nie beneiden.
Wie anders tragen uns die Geistesfreuden
Von Buch zu Buch, von Blatt zu Blatt!
Da werden Winternächte hold und schön
Ein selig Leben wärmet alle Glieder,
Und ach! entrollst du gar ein würdig Pergamen,
So steigt der ganze Himmel zu dir nieder.

FAUST:
Du bist dir nur des einen Triebs bewußt,
O lerne nie den andern kennen!
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.
O gibt es Geister in der Luft,
Die zwischen Erd und Himmel herrschend weben
So steiget nieder aus dem goldnen Duft
Und führt mich weg zu neuem, buntem Leben!
Ja, wäre nur ein Zaubermantel mein,
Und trüg er mich in fremde Länder!
Mir sollt er um die köstlichsten Gewänder,
Nicht feil um einen Königsmantel sein.

WAGNER:
Berufe nicht die wohlbekannte Schar,
Die strömend sich im Dunstkreis überbreitet,
Dem Menschen tausendfältige Gefahr,
Von allen Enden her, bereitet.
Von Norden dringt der scharfe Geisterzahn
Auf dich herbei, mit pfeilgespitzten Zungen;
Von Morgen ziehn, vertrocknend, sie heran,
Und nähren sich von deinen Lungen;
Wenn sie der Mittag aus der Wüste schickt,
Die Glut auf Glut um deinen Scheitel häufen
So bringt der West den Schwarm, der erst erquickt,
Um dich und Feld und Aue zu ersäufen.
Sie hören gern, zum Schaden froh gewandt,
Gehorchen gern, weil sie uns gern betrügen;
Sie stellen wie vom Himmel sich gesandt,
Und lispeln englisch, wenn sie lügen.
Doch gehen wir! Ergraut ist schon die Welt,
Die Luft gekühlt, der Nebel fällt!
Am Abend schätzt man erst das Haus.-
Was stehst du so und blickst erstaunt hinaus?
Was kann dich in der Dämmrung so ergreifen?

FAUST:
Siehst du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppel streifen?

WAGNER:
Ich sah ihn lange schon, nicht wichtig schien er mir.

FAUST:
Betracht ihn recht! für was hältst du das Tier?

WAGNER:
Für einen Pudel, der auf seine Weise
Sich auf der Spur des Herren plagt.

FAUST:
Bemerkst du, wie in weitem Schneckenkreise
Er um uns her und immer näher jagt?
Und irr ich nicht, so zieht ein Feuerstrudel
Auf seinen Pfaden hinterdrein.

WAGNER:
Ich sehe nichts als einen schwarzen Pudel;
Es mag bei Euch wohl Augentäuschung sein.

FAUST:
Mir scheint es, daß er magisch leise Schlingen
Zu künft’gem Band um unsre Füße zieht.

WAGNER:
Ich seh ihn ungewiß und furchtsam uns umspringen,
Weil er, statt seines Herrn, zwei Unbekannte sieht.

FAUST:
Der Kreis wird eng, schon ist er nah!

WAGNER:
Du siehst! ein Hund, und kein Gespenst ist da.
Er knurrt und zweifelt, legt sich auf den Bauch,
Er wedelt. Alles Hundebrauch.

FAUST:
Geselle dich zu uns! Komm hier!

WAGNER:
Es ist ein pudelnärrisch Tier.
Du stehest still, er wartet auf;
Du sprichst ihn an, er strebt an dir hinauf;
Verliere was, er wird es bringen,
Nach deinem Stock ins Wasser springen.

FAUST:
Du hast wohl recht; ich finde nicht die Spur
Von einem Geist, und alles ist Dressur.

WAGNER:
Dem Hunde, wenn er gut gezogen,
Wird selbst ein weiser Mann gewogen.
Ja, deine Gunst verdient er ganz und gar,
Er, der Studenten trefflicher Skolar.
(Sie gehen in das Stadttor.)

Studierzimmer

Faust mit dem Pudel hereintretend.

FAUST:
Verlassen hab ich Feld und Auen,
Die eine tiefe Nacht bedeckt,
Mit ahnungsvollem, heil’gem Grauen
In uns die beßre Seele weckt.
Entschlafen sind nun wilde Triebe
Mit jedem ungestümen Tun;
Es reget sich die Menschenliebe,
Die Liebe Gottes regt sich nun. Sei ruhig, Pudel! renne nicht hin und
wider!
An der Schwelle was schnoperst du hier?
Lege dich hinter den Ofen nieder,
Mein bestes Kissen geb ich dir.
Wie du draußen auf dem bergigen Wege
Durch Rennen und Springen ergetzt uns hast,
So nimm nun auch von mir die Pflege,
Als ein willkommner stiller Gast. Ach wenn in unsrer engen Zelle
Die Lampe freundlich wieder brennt,
Dann wird’s in unserm Busen helle,
Im Herzen, das sich selber kennt.
Vernunft fängt wieder an zu sprechen,
Und Hoffnung wieder an zu blühn,
Man sehnt sich nach des Lebens Bächen,
Ach! nach des Lebens Quelle hin. Knurre nicht, Pudel! Zu den heiligen
Tönen,
Die jetzt meine ganze Seel umfassen,
Will der tierische Laut nicht passen.
Wir sind gewohnt, daß die Menschen verhöhnen,
Was sie nicht verstehn,
Daß sie vor dem Guten und Schönen,
Das ihnen oft beschwerlich ist, murren;
Will es der Hund, wie sie, beknurren?

Aber ach! schon fühl ich, bei dem besten Willen,
Befriedigung nicht mehr aus dem Busen quillen.
Aber warum muß der Strom so bald versiegen,
Und wir wieder im Durste liegen?
Davon hab ich so viel Erfahrung.
Doch dieser Mangel läßt sich ersetzen,
Wir lernen das Überirdische schätzen,
Wir sehnen uns nach Offenbarung,
Die nirgends würd’ger und schöner brennt
Als in dem Neuen Testament.
Mich drängt’s, den Grundtext aufzuschlagen,
Mit redlichem Gefühl einmal
Das heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen,
(Er schlägt ein Volum auf und schickt sich an.)

Geschrieben steht: „Im Anfang war das Wort!“
Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen,
Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.
Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
Bedenke wohl die erste Zeile,
Daß deine Feder sich nicht übereile!
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!
Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,
Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe.
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!

Soll ich mit dir das Zimmer teilen,
Pudel, so laß das Heulen,
So laß das Bellen!
Solch einen störenden Gesellen
Mag ich nicht in der Nähe leiden.
Einer von uns beiden
Muß die Zelle meiden.
Ungern heb ich das Gastrecht auf,
Die Tür ist offen, hast freien Lauf.
Aber was muß ich sehen!
Kann das natürlich geschehen?
Ist es Schatten? ist’s Wirklichkeit?
Wie wird mein Pudel lang und breit!
Er hebt sich mit Gewalt,
Das ist nicht eines Hundes Gestalt!
Welch ein Gespenst bracht ich ins Haus!
Schon sieht er wie ein Nilpferd aus,
Mit feurigen Augen, schrecklichem Gebiß.
Oh! du bist mir gewiß!
Für solche halbe Höllenbrut
Ist Salomonis Schlüssel gut.
GEISTER (auf dem Gange):
Drinnen gefangen ist einer!
Bleibet haußen, folg ihm keiner!
Wie im Eisen der Fuchs,
Zagt ein alter Höllenluchs.
Aber gebt acht!
Schwebet hin, schwebet wider,
Auf und nieder,
Und er hat sich losgemacht.
Könnt ihr ihm nützen,
Laßt ihn nicht sitzen!
Denn er tat uns allen
Schon viel zu Gefallen.

FAUST:
Erst zu begegnen dem Tiere,
Brauch ich den Spruch der Viere: Salamander soll glühen,
Undene sich winden,
Sylphe verschwinden,
Kobold sich mühen. Wer sie nicht kennte
Die Elemente,
Ihre Kraft
Und Eigenschaft,
Wäre kein Meister
Über die Geister. Verschwind in Flammen,
Salamander!
Rauschend fließe zusammen,
Undene!
Leucht in Meteoren-Schöne,
Sylphe!
Bring häusliche Hülfe,
Incubus! Incubus!
Tritt hervor und mache den Schluß! Keines der Viere
Steckt in dem Tiere.
Es liegt ganz ruhig und grinst mich an;
Ich hab ihm noch nicht weh getan.
Du sollst mich hören
Stärker beschwören. Bist du, Geselle
Ein Flüchtling der Hölle?
So sieh dies Zeichen
Dem sie sich beugen,
Die schwarzen Scharen! Schon schwillt es auf mit borstigen Haaren.
Verworfnes Wesen!
Kannst du ihn lesen?
Den nie Entsproßnen,
Unausgesprochnen,
Durch alle Himmel Gegoßnen,
Freventlich Durchstochnen? Hinter den Ofen gebannt,
Schwillt es wie ein Elefant
Den ganzen Raum füllt es an,
Es will zum Nebel zerfließen.
Steige nicht zur Decke hinan!
Lege dich zu des Meisters Füßen!
Du siehst, daß ich nicht vergebens drohe.
Ich versenge dich mit heiliger Lohe!
Erwarte nicht
Das dreimal glühende Licht!
Erwarte nicht
Die stärkste von meinen Künsten!
(Mephistopheles tritt, indem der Nebel fällt, gekleidet wie ein
fahrender Scholastikus, hinter dem Ofen hervor.)

MEPHISTOPHELES:
Wozu der Lärm? was steht dem Herrn zu Diensten?

FAUST:
Das also war des Pudels Kern!
Ein fahrender Skolast? Der Kasus macht mich lachen.

MEPHISTOPHELES:
Ich salutiere den gelehrten Herrn!
Ihr habt mich weidlich schwitzen machen.

FAUST:
Wie nennst du dich?

MEPHISTOPHELES:
Die Frage scheint mir klein Für einen, der das Wort so sehr verachtet,
Der, weit entfernt von allem Schein,
Nur in der Wesen Tiefe trachtet.

FAUST:
Bei euch, ihr Herrn, kann man das Wesen
Gewöhnlich aus dem Namen lesen,
Wo es sich allzu deutlich weist,
Wenn man euch Fliegengott, Verderber, Lügner heißt.
Nun gut, wer bist du denn?

MEPHISTOPHELES:
Ein Teil von jener Kraft, Die stets das Böse will und stets das Gute
schafft.

FAUST:
Was ist mit diesem Rätselwort gemeint?

MEPHISTOPHELES:
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.

FAUST:
Du nennst dich einen Teil, und stehst doch ganz vor mir?

MEPHISTOPHELES:
Bescheidne Wahrheit sprech ich dir.
Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt
Gewöhnlich für ein Ganzes hält-
Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war
Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar
Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht
Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht,
Und doch gelingt’s ihm nicht, da es, so viel es strebt,
Verhaftet an den Körpern klebt.
Von Körpern strömt’s, die Körper macht es schön,
Ein Körper hemmt’s auf seinem Gange;
So, hoff ich, dauert es nicht lange,
Und mit den Körpern wird’s zugrunde gehn.

FAUST:
Nun kenn ich deine würd’gen Pflichten!
Du kannst im Großen nichts vernichten
Und fängst es nun im Kleinen an.

MEPHISTOPHELES:
Und freilich ist nicht viel damit getan.
Was sich dem Nichts entgegenstellt,
Das Etwas, diese plumpe Welt
So viel als ich schon unternommen
Ich wußte nicht ihr beizukommen
Mit Wellen, Stürmen, Schütteln, Brand-
Geruhig bleibt am Ende Meer und Land!
Und dem verdammten Zeug, der Tier- und Menschenbrut,
Dem ist nun gar nichts anzuhaben:
Wie viele hab ich schon begraben!
Und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut.
So geht es fort, man möchte rasend werden!
Der Luft, dem Wasser wie der Erden
Entwinden tausend Keime sich,
Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten!
Hätt ich mir nicht die Flamme vorbehalten,
Ich hätte nichts Aparts für mich.

FAUST:
So setzest du der ewig regen,
Der heilsam schaffenden Gewalt
Die kalte Teufelsfaust entgegen,
Die sich vergebens tückisch ballt!
Was anders suche zu beginnen
Des Chaos wunderlicher Sohn!

MEPHISTOPHELES:
Wir wollen wirklich uns besinnen,
Die nächsten Male mehr davon!
Dürft ich wohl diesmal mich entfernen?

FAUST:
Ich sehe nicht, warum du fragst.
Ich habe jetzt dich kennen lernen
Besuche nun mich, wie du magst.
Hier ist das Fenster, hier die Türe,
Ein Rauchfang ist dir auch gewiß.

MEPHISTOPHELES:
Gesteh ich’s nur! daß ich hinausspaziere,
Verbietet mir ein kleines Hindernis,
Der Drudenfuß auf Eurer Schwelle-

FAUST:
Das Pentagramma macht dir Pein?
Ei sage mir, du Sohn der Hölle,
Wenn das dich bannt, wie kamst du denn herein?
Wie ward ein solcher Geist betrogen?

MEPHISTOPHELES:
Beschaut es recht! es ist nicht gut gezogen:
Der eine Winkel, der nach außen zu,
Ist, wie du siehst, ein wenig offen.

FAUST:
Das hat der Zufall gut getroffen!
Und mein Gefangner wärst denn du?
Das ist von ungefähr gelungen!

MEPHISTOPHELES:
Der Pudel merkte nichts, als er hereingesprungen,
Die Sache sieht jetzt anders aus:
Der Teufel kann nicht aus dem Haus.

FAUST:
Doch warum gehst du nicht durchs Fenster?

MEPHISTOPHELES:
’s ist ein Gesetz der Teufel und Gespenster:
Wo sie hereingeschlüpft, da müssen sie hinaus.
Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte.

FAUST:
Die Hölle selbst hat ihre Rechte?
Das find ich gut, da ließe sich ein Pakt,
Und sicher wohl, mit euch, ihr Herren, schließen?

MEPHISTOPHELES:
Was man verspricht, das sollst du rein genießen,
Dir wird davon nichts abgezwackt.
Doch das ist nicht so kurz zu fassen,
Und wir besprechen das zunächst
Doch jetzo bitt ich, hoch und höchst,
Für dieses Mal mich zu entlassen.

FAUST:
So bleibe doch noch einen Augenblick,
Um mir erst gute Mär zu sagen.

MEPHISTOPHELES:
Jetzt laß mich los! ich komme bald zurück;
Dann magst du nach Belieben fragen.

FAUST:
Ich habe dir nicht nachgestellt,
Bist du doch selbst ins Garn gegangen.
Den Teufel halte, wer ihn hält!
Er wird ihn nicht so bald zum zweiten Male fangen.

MEPHISTOPHELES:
Wenn dir’s beliebt, so bin ich auch bereit,
Dir zur Gesellschaft hier zu bleiben;
Doch mit Bedingnis, dir die Zeit
Durch meine Künste würdig zu vertreiben.

FAUST:
Ich seh es gern, das steht dir frei;
Nur daß die Kunst gefällig sei!

MEPHISTOPHELES:
Du wirst, mein Freund, für deine Sinnen
In dieser Stunde mehr gewinnen
Als in des Jahres Einerlei.
Was dir die zarten Geister singen,
Die schönen Bilder, die sie bringen,
Sind nicht ein leeres Zauberspiel.
Auch dein Geruch wird sich ergetzen,
Dann wirst du deinen Gaumen letzen,
Und dann entzückt sich dein Gefühl.
Bereitung braucht es nicht voran,
Beisammen sind wir, fanget an!

GEISTER:
Schwindet, ihr dunkeln
Wölbungen droben!
Reizender schaue
Freundlich der blaue
Äther herein!
Wären die dunkeln
Wolken zerronnen!
Sternelein funkeln,
Mildere Sonnen
Scheinen darein.
Himmlischer Söhne
Geistige Schöne,
Schwankende Beugung
Schwebet vorüber.
Sehnende Neigung
Folget hinüber;
Und der Gewänder
Flatternde Bänder
Decken die Länder,
Decken die Laube,
Wo sich fürs Leben,
Tief in Gedanken,
Liebende geben.
Laube bei Laube!
Sprossende Ranken!
Lastende Traube
Stürzt ins Behälter
Drängender Kelter,
Stürzen in Bächen
Schäumende Weine,
Rieseln durch reine,
Edle Gesteine,
Lassen die Höhen
Hinter sich liegen,
Breiten zu Seen
Sich ums Genüge
Grünender Hügel.
Und das Geflügel
Schlürfet sich Wonne,
Flieget der Sonne,
Flieget den hellen
Inseln entgegen,
Die sich auf Wellen
Gauklend bewegen;
Wo wir in Chören
Jauchzende hören,
Über den Auen
Tanzende schauen,
Die sich im Freien
Alle zerstreuen.
Einige klimmen
Über die Höhen,
Andere schwimmen
Über die Seen,
Andere schweben;
Alle zum Leben,
Alle zur Ferne
Liebender Sterne,
Seliger Huld.

MEPHISTOPHELES:
Er schläft! So recht, ihr luft’gen zarten Jungen!
Ihr habt ihn treulich eingesungen!
Für dies Konzert bin ich in eurer Schuld.
Du bist noch nicht der Mann, den Teufel festzuhalten!
Umgaukelt ihn mit süßen Traumgestalten,
Versenkt ihn in ein Meer des Wahns;
Doch dieser Schwelle Zauber zu zerspalten,
Bedarf ich eines Rattenzahns.
Nicht lange brauch ich zu beschwören,
Schon raschelt eine hier und wird sogleich mich hören.

Der Herr der Ratten und der Mäuse,
Der Fliegen, Frösche, Wanzen, Läuse
Befiehlt dir, dich hervor zu wagen
Und diese Schwelle zu benagen,
So wie er sie mit Öl betupft-
Da kommst du schon hervorgehupft!
Nur frisch ans Werk! Die Spitze, die mich bannte,
Sie sitzt ganz vornen an der Kante.
Noch einen Biß, so ist’s geschehn.-
Nun, Fauste, träume fort, bis wir uns wiedersehn.

FAUST (erwachend):
Bin ich denn abermals betrogen?
Verschwindet so der geisterreiche Drang
Daß mir ein Traum den Teufel vorgelogen,
Und daß ein Pudel mir entsprang?

Studierzimmer

Faust. Mephistopheles.

FAUST:
Es klopft? Herein! Wer will mich wieder plagen?

MEPHISTOPHELES:
Ich bin’s.

FAUST:
Herein!

MEPHISTOPHELES:
Du mußt es dreimal sagen.

FAUST:
Herein denn!

MEPHISTOPHELES:
So gefällst du mir. Wir werden, hoff ich, uns vertragen;
Denn dir die Grillen zu verjagen,
Bin ich als edler Junker hier,
In rotem, goldverbrämtem Kleide,
Das Mäntelchen von starrer Seide,
Die Hahnenfeder auf dem Hut,
Mit einem langen, spitzen Degen,
Und rate nun dir, kurz und gut,
Dergleichen gleichfalls anzulegen;
Damit du, losgebunden, frei,
Erfahrest, was das Leben sei.

FAUST:
In jedem Kleide werd ich wohl die Pein
Des engen Erdelebens fühlen.
Ich bin zu alt, um nur zu spielen,
Zu jung, um ohne Wunsch zu sein.
Was kann die Welt mir wohl gewähren?
Entbehren sollst du! sollst entbehren!
Das ist der ewige Gesang,
Der jedem an die Ohren klingt,
Den, unser ganzes Leben lang,
Uns heiser jede Stunde singt.
Nur mit Entsetzen wach ich morgens auf,
Ich möchte bittre Tränen weinen,
Den Tag zu sehn, der mir in seinem Lauf
Nicht einen Wunsch erfüllen wird, nicht einen,
Der selbst die Ahnung jeder Lust
Mit eigensinnigem Krittel mindert,
Die Schöpfung meiner regen Brust
Mit tausend Lebensfratzen hindert.
Auch muß ich, wenn die Nacht sich niedersenkt,
Mich ängstlich auf das Lager strecken;
Auch da wird keine Rast geschenkt,
Mich werden wilde Träume schrecken.
Der Gott, der mir im Busen wohnt,
Kann tief mein Innerstes erregen;
Der über allen meinen Kräften thront,
Er kann nach außen nichts bewegen;
Und so ist mir das Dasein eine Last,
Der Tod erwünscht, das Leben mir verhaßt.

MEPHISTOPHELES:
Und doch ist nie der Tod ein ganz willkommner Gast.

FAUST:
O selig der, dem er im Siegesglanze
Die blut’gen Lorbeern um die Schläfe windet,
Den er, nach rasch durchrastem Tanze,
In eines Mädchens Armen findet!
O wär ich vor des hohen Geistes Kraft
Entzückt, entseelt dahin gesunken!

MEPHISTOPHELES:
Und doch hat jemand einen braunen Saft,
In jener Nacht, nicht ausgetrunken.

FAUST:
Das Spionieren, scheint’s, ist deine Lust.

MEPHISTOPHELES:
Allwissend bin ich nicht; doch viel ist mir bewußt.

FAUST:
Wenn aus dem schrecklichen Gewühle
Ein süß bekannter Ton mich zog,
Den Rest von kindlichem Gefühle
Mit Anklang froher Zeit betrog,
So fluch ich allem, was die Seele
Mit Lock- und Gaukelwerk umspannt,
Und sie in diese Trauerhöhle
Mit Blend- und Schmeichelkräften bannt!
Verflucht voraus die hohe Meinung
Womit der Geist sich selbst umfängt!
Verflucht das Blenden der Erscheinung,
Die sich an unsre Sinne drängt!
Verflucht, was uns in Träumen heuchelt
Des Ruhms, der Namensdauer Trug!
Verflucht, was als Besitz uns schmeichelt,
Als Weib und Kind, als Knecht und Pflug!
Verflucht sei Mammon, wenn mit Schätzen
Er uns zu kühnen Taten regt,
Wenn er zu müßigem Ergetzen
Die Polster uns zurechte legt!
Fluch sei dem Balsamsaft der Trauben!
Fluch jener höchsten Liebeshuld!
Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben,
Und Fluch vor allen der Geduld!

GEISTERCHOR (unsichtbar):
Weh! weh!
Du hast sie zerstört
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
Wir tragen
Die Trümmern ins Nichts hinüber,
Und klagen
Über die verlorne Schöne.
Mächtiger
Der Erdensöhne,
Prächtiger
Baue sie wieder,
In deinem Busen baue sie auf!
Neuen Lebenslauf
Beginne,
Mit hellem Sinne,
Und neue Lieder
Tönen darauf!

MEPHISTOPHELES:
Dies sind die Kleinen
Von den Meinen.
Höre, wie zu Lust und Taten
Altklug sie raten!
In die Welt weit,
Aus der Einsamkeit
Wo Sinnen und Säfte stocken,
Wollen sie dich locken. Hör auf, mit deinem Gram zu spielen,
Der, wie ein Geier, dir am Leben frißt;
Die schlechteste Gesellschaft läßt dich fühlen,
Daß du ein Mensch mit Menschen bist.
Doch so ist’s nicht gemeint
Dich unter das Pack zu stoßen.
Ich bin keiner von den Großen;
Doch willst du, mit mir vereint,
Deine Schritte durchs Leben nehmen,
So will ich mich gern bequemen,
Dein zu sein, auf der Stelle.
Ich bin dein Geselle,
Und mach ich dir’s recht,
Bin ich dein Diener, bin dein Knecht!

FAUST:
Und was soll ich dagegen dir erfüllen?

MEPHISTOPHELES:
Dazu hast du noch eine lange Frist.

FAUST:
Nein, nein! der Teufel ist ein Egoist
Und tut nicht leicht um Gottes willen,
Was einem andern nützlich ist.
Sprich die Bedingung deutlich aus;
Ein solcher Diener bringt Gefahr ins Haus.

MEPHISTOPHELES:
Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden,
Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn;
Wenn wir uns drüben wiederfinden,
So sollst du mir das gleiche tun.

FAUST:
Das Drüben kann mich wenig kümmern;
Schlägst du erst diese Welt zu Trümmern,
Die andre mag darnach entstehn.
Aus dieser Erde quillen meine Freuden,
Und diese Sonne scheinet meinen Leiden;
Kann ich mich erst von ihnen scheiden,
Dann mag, was will und kann, geschehn.
Davon will ich nichts weiter hören,
Ob man auch künftig haßt und liebt,
Und ob es auch in jenen Sphären
Ein Oben oder Unten gibt.

MEPHISTOPHELES:
In diesem Sinne kannst du’s wagen.
Verbinde dich; du sollst, in diesen Tagen,
Mit Freuden meine Künste sehn,
Ich gebe dir, was noch kein Mensch gesehn.

FAUST:
Was willst du armer Teufel geben?
Ward eines Menschen Geist, in seinem hohen Streben,
Von deinesgleichen je gefaßt?
Doch hast du Speise, die nicht sättigt, hast
Du rotes Gold, das ohne Rast,
Quecksilber gleich, dir in der Hand zerrinnt,
Ein Spiel, bei dem man nie gewinnt,
Ein Mädchen, das an meiner Brust
Mit Äugeln schon dem Nachbar sich verbindet,
Der Ehre schöne Götterlust,
Die, wie ein Meteor, verschwindet?
Zeig mir die Frucht, die fault, eh man sie bricht,
Und Bäume, die sich täglich neu begrünen!

MEPHISTOPHELES:
Ein solcher Auftrag schreckt mich nicht,
Mit solchen Schätzen kann ich dienen.
Doch, guter Freund, die Zeit kommt auch heran,
Wo wir was Guts in Ruhe schmausen mögen.

FAUST:
Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Daß ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuß betrügen-
Das sei für mich der letzte Tag!
Die Wette biet ich!

MEPHISTOPHELES:
Topp!

FAUST:
Und Schlag auf Schlag! Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei!

MEPHISTOPHELES:
Bedenk es wohl, wir werden’s nicht vergessen.

FAUST:
Dazu hast du ein volles Recht;
Ich habe mich nicht freventlich vermessen.
Wie ich beharre, bin ich Knecht,
Ob dein, was frag ich, oder wessen.

MEPHISTOPHELES:
Ich werde heute gleich, beim Doktorschmaus,
Als Diener meine Pflicht erfüllen.
Nur eins!- Um Lebens oder Sterbens willen
Bitt ich mir ein paar Zeilen aus.

FAUST:
Auch was Geschriebnes forderst du Pedant?
Hast du noch keinen Mann, nicht Manneswort gekannt?
Ist’s nicht genug, daß mein gesprochnes Wort
Auf ewig soll mit meinen Tagen schalten?
Rast nicht die Welt in allen Strömen fort,
Und mich soll ein Versprechen halten?
Doch dieser Wahn ist uns ins Herz gelegt,
Wer mag sich gern davon befreien?
Beglückt, wer Treue rein im Busen trägt,
Kein Opfer wird ihn je gereuen!
Allein ein Pergament, beschrieben und beprägt,
Ist ein Gespenst, vor dem sich alle scheuen.
Das Wort erstirbt schon in der Feder,
Die Herrschaft führen Wachs und Leder.
Was willst du böser Geist von mir?
Erz, Marmor, Pergament, Papier?
Soll ich mit Griffel, Meißel, Feder schreiben?
Ich gebe jede Wahl dir frei.

MEPHISTOPHELES:
Wie magst du deine Rednerei
Nur gleich so hitzig übertreiben?
Ist doch ein jedes Blättchen gut.
Du unterzeichnest dich mit einem Tröpfchen Blut.

FAUST:
Wenn dies dir völlig Gnüge tut,
So mag es bei der Fratze bleiben.

MEPHISTOPHELES:
Blut ist ein ganz besondrer Saft.

FAUST:
Nur keine Furcht, daß ich dies Bündnis breche!
Das Streben meiner ganzen Kraft
Ist grade das, was ich verspreche.
Ich habe mich zu hoch gebläht,
In deinen Rang gehör ich nur.
Der große Geist hat mich verschmäht,
Vor mir verschließt sich die Natur
Des Denkens Faden ist zerrissen
Mir ekelt lange vor allem Wissen.
Laß in den Tiefen der Sinnlichkeit
Uns glühende Leidenschaften stillen!
In undurchdrungnen Zauberhüllen
Sei jedes Wunder gleich bereit!
Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit,
Ins Rollen der Begebenheit!
Da mag denn Schmerz und Genuß,
Gelingen und Verdruß
Miteinander wechseln, wie es kann;
Nur rastlos betätigt sich der Mann.

MEPHISTOPHELES:
Euch ist kein Maß und Ziel gesetzt.
Beliebt’s Euch, überall zu naschen,
Im Fliehen etwas zu erhaschen,
Bekomm Euch wohl, was Euch ergetzt.
Nur greift mir zu und seid nicht blöde!

FAUST:
Du hörest ja, von Freud‘ ist nicht die Rede.
Dem Taumel weih ich mich, dem schmerzlichsten Genuß,
Verliebtem Haß, erquickendem Verdruß.
Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,
Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen,
Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
Will ich in meinem innern Selbst genießen,
Mit meinem Geist das Höchst‘ und Tiefste greifen,
Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen,
Und so mein eigen Selbst zu ihrem Selbst erweitern,
Und, wie sie selbst, am End auch ich zerscheitern.

MEPHISTOPHELES:
O glaube mir, der manche tausend Jahre
An dieser harten Speise kaut
Daß von der Wiege bis zur Bahre
Kein Mensch den alten Sauerteig verdaut!
Glaub unsereinem, dieses Ganze
Ist nur für einen Gott gemacht!
Er findet sich in einem ew’gen Glanze
Uns hat er in die Finsternis gebracht,
Und euch taugt einzig Tag und Nacht.

FAUST:
Allein ich will!

MEPHISTOPHELES:
Das läßt sich hören! Doch nur vor einem ist mir bang:
Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang.
Ich dächt, ihr ließet Euch belehren.
Assoziiert Euch mit einem Poeten,
Laßt den Herrn in Gedanken schweifen,
Und alle edlen Qualitäten
Auf Euren Ehrenscheitel häufen,
Des Löwen Mut,
Des Hirsches Schnelligkeit,
Des Italieners feurig Blut,
Des Nordens Dau’rbarkeit.
Laßt ihn Euch das Geheimnis finden,
Großmut und Arglist zu verbinden,
Und Euch, mit warmen Jugendtrieben,
Nach einem Plane zu verlieben.
Möchte selbst solch einen Herren kennen,
Würd ihn Herrn Mikrokosmus nennen.

FAUST:
Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist,
Der Menschheit Krone zu erringen,
Nach der sich alle Sinne dringen?

MEPHISTOPHELES:
Du bist am Ende- was du bist.
Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer, was du bist.

FAUST:
Ich fühl’s, vergebens hab ich alle Schätze
Des Menschengeists auf mich herbeigerafft,
Und wenn ich mich am Ende niedersetze,
Quillt innerlich doch keine neue Kraft;
Ich bin nicht um ein Haar breit höher,
Bin dem Unendlichen nicht näher.

MEPHISTOPHELES:
Mein guter Herr, Ihr seht die Sachen,
Wie man die Sachen eben sieht;
Wir müssen das gescheiter machen,
Eh uns des Lebens Freude flieht.
Was Henker! freilich Händ und Füße
Und Kopf und Hintern, die sind dein;
Doch alles, was ich frisch genieße,
Ist das drum weniger mein?
Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,
Sind ihre Kräfte nicht die meine?
Ich renne zu und bin ein rechter Mann,
Als hätt ich vierundzwanzig Beine.
Drum frisch! Laß alles Sinnen sein,
Und grad mit in die Welt hinein!
Ich sag es dir: ein Kerl, der spekuliert,
Ist wie ein Tier, auf dürrer Heide
Von einem bösen Geist im Kreis herum geführt,
Und rings umher liegt schöne grüne Weide.

FAUST:
Wie fangen wir das an?

MEPHISTOPHELES:
Wir gehen eben fort. Was ist das für ein Marterort?
Was heißt das für ein Leben führen,
Sich und die Jungens ennuyieren?
Laß du das dem Herrn Nachbar Wanst!
Was willst du dich das Stroh zu dreschen plagen?
Das Beste, was du wissen kannst,
Darfst du den Buben doch nicht sagen.
Gleich hör ich einen auf dem Gange!

FAUST:
Mir ist’s nicht möglich, ihn zu sehn.

MEPHISTOPHELES:
Der arme Knabe wartet lange,
Der darf nicht ungetröstet gehn.
Komm, gib mir deinen Rock und Mütze;
Die Maske muß mir köstlich stehn. (Er kleidet sich um.)
Nun überlaß es meinem Witze!
Ich brauche nur ein Viertelstündchen Zeit;
Indessen mache dich zur schönen Fahrt bereit!
(Faust ab.)

MEPHISTOPHELES (in Fausts langem Kleide):
Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
Des Menschen allerhöchste Kraft,
Laß nur in Blend- und Zauberwerken
Dich von dem Lügengeist bestärken,
So hab ich dich schon unbedingt-
Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben,
Der ungebändigt immer vorwärts dringt,
Und dessen übereiltes Streben
Der Erde Freuden überspringt.
Den schlepp ich durch das wilde Leben,
Durch flache Unbedeutenheit,
Er soll mir zappeln, starren, kleben,
Und seiner Unersättlichkeit
Soll Speis und Trank vor gier’gen Lippen schweben;
Er wird Erquickung sich umsonst erflehn,
Und hätt er sich auch nicht dem Teufel übergeben,
Er müßte doch zugrunde gehn!
(Ein SCHÜLER tritt auf.)

SCHÜLER:
Ich bin allhier erst kurze Zeit,
Und komme voll Ergebenheit,
Einen Mann zu sprechen und zu kennen,
Den alle mir mit Ehrfucht nennen.

MEPHISTOPHELES:
Eure Höflichkeit erfreut mich sehr!
Ihr seht einen Mann wie andre mehr.
Habt Ihr Euch sonst schon umgetan?

SCHÜLER:
Ich bitt Euch, nehmt Euch meiner an!
Ich komme mit allem guten Mut,
Leidlichem Geld und frischem Blut;
Meine Mutter wollte mich kaum entfernen;
Möchte gern was Rechts hieraußen lernen.

MEPHISTOPHELES:
Da seid Ihr eben recht am Ort.

SCHÜLER:
Aufrichtig, möchte schon wieder fort:
In diesen Mauern, diesen Hallen
Will es mir keineswegs gefallen.
Es ist ein gar beschränkter Raum,
Man sieht nichts Grünes, keinen Baum,
Und in den Sälen, auf den Bänken,
Vergeht mir Hören, Sehn und Denken.

MEPHISTOPHELES:
Das kommt nur auf Gewohnheit an.
So nimmt ein Kind der Mutter Brust
Nicht gleich im Anfang willig an,
Doch bald ernährt es sich mit Lust.
So wird’s Euch an der Weisheit Brüsten
Mit jedem Tage mehr gelüsten.

SCHÜLER:
An ihrem Hals will ich mit Freuden hangen;
Doch sagt mir nur, wie kann ich hingelangen?

MEPHISTOPHELES:
Erklärt Euch, eh Ihr weiter geht,
Was wählt Ihr für eine Fakultät?

SCHÜLER:
Ich wünschte recht gelehrt zu werden,
Und möchte gern, was auf der Erden
Und in dem Himmel ist, erfassen,
Die Wissenschaft und die Natur.

MEPHISTOPHELES:
Da seid Ihr auf der rechten Spur;
Doch müßt Ihr Euch nicht zerstreuen lassen.

SCHÜLER:
Ich bin dabei mit Seel und Leib;
Doch freilich würde mir behagen
Ein wenig Freiheit und Zeitvertreib
An schönen Sommerfeiertagen.

MEPHISTOPHELES:
Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen,
Doch Ordnung lehrt Euch Zeit gewinnen.
Mein teurer Freund, ich rat Euch drum
Zuerst Collegium Logicum.
Da wird der Geist Euch wohl dressiert,
In spanische Stiefeln eingeschnürt,
Daß er bedächtiger so fortan
Hinschleiche die Gedankenbahn,
Und nicht etwa, die Kreuz und Quer,
Irrlichteliere hin und her.
Dann lehret man Euch manchen Tag,
Daß, was Ihr sonst auf einen Schlag
Getrieben, wie Essen und Trinken frei,
Eins! Zwei! Drei! dazu nötig sei.
Zwar ist’s mit der Gedankenfabrik
Wie mit einem Weber-Meisterstück,
Wo ein Tritt tausend Fäden regt,
Die Schifflein herüber hinüber schießen,
Die Fäden ungesehen fließen,
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt.
Der Philosoph, der tritt herein
Und beweist Euch, es müßt so sein:
Das Erst wär so, das Zweite so,
Und drum das Dritt und Vierte so;
Und wenn das Erst und Zweit nicht wär,
Das Dritt und Viert wär nimmermehr.
Das preisen die Schüler allerorten,
Sind aber keine Weber geworden.
Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist heraus zu treiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band.
Encheiresin naturae nennt’s die Chemie,
Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.

SCHÜLER:
Kann Euch nicht eben ganz verstehen.

MEPHISTOPHELES:
Das wird nächstens schon besser gehen,
Wenn Ihr lernt alles reduzieren
Und gehörig klassifizieren.

SCHÜLER:
Mir wird von alledem so dumm,
Als ging, mir ein Mühlrad im Kopf herum.

MEPHISTOPHELES:
Nachher, vor allen andern Sachen,
Müßt Ihr Euch an die Metaphysik machen!
Da seht, daß Ihr tiefsinnig faßt,
Was in des Menschen Hirn nicht paßt;
Für was drein geht und nicht drein geht,
Ein prächtig Wort zu Diensten steht.
Doch vorerst dieses halbe Jahr
Nehmt ja der besten Ordnung wahr.
Fünf Stunden habt Ihr jeden Tag;
Seid drinnen mit dem Glockenschlag!
Habt Euch vorher wohl präpariert,
Paragraphos wohl einstudiert,
Damit Ihr nachher besser seht,
Daß er nichts sagt, als was im Buche steht;
Doch Euch des Schreibens ja befleißt,
Als diktiert, Euch der Heilig Geist!

SCHÜLER:
Das sollt Ihr mir nicht zweimal sagen!
Ich denke mir, wie viel es nützt
Denn, was man schwarz auf weiß besitzt,
Kann man getrost nach Hause tragen.

MEPHISTOPHELES:
Doch wählt mir eine Fakultät!

SCHÜLER:
Zur Rechtsgelehrsamkeit kann ich mich nicht bequemen.

MEPHISTOPHELES:
Ich kann es Euch so sehr nicht übel nehmen,
Ich weiß, wie es um diese Lehre steht.
Es erben sich Gesetz‘ und Rechte
Wie eine ew’ge Krankheit fort;
Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte,
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh dir, daß du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist, leider! nie die Frage.

SCHÜLER:
Mein Abscheu wird durch Euch vermehrt.
O glücklich der, den Ihr belehrt!
Fast möcht ich nun Theologie studieren.

MEPHISTOPHELES:
Ich wünschte nicht, Euch irre zu führen.
Was diese Wissenschaft betrifft,
Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden,
Es liegt in ihr so viel verborgnes Gift,
Und von der Arzenei ist’s kaum zu unterscheiden.
Am besten ist’s auch hier, wenn Ihr nur einen hört,
Und auf des Meisters Worte schwört.
Im ganzen- haltet Euch an Worte!
Dann geht Ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein.

SCHÜLER:
Doch ein Begriff muß bei dem Worte sein.
MEPHISTOPHELES:
Schon gut! Nur muß man sich nicht allzu ängstlich quälen
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten läßt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte läßt sich trefflich glauben,
Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.

SCHÜLER:
Verzeiht, ich halt Euch auf mit vielen Fragen,
Allem ich muß Euch noch bemühn.
Wollt Ihr mir von der Medizin
Nicht auch ein kräftig Wörtchen sagen?
Drei Jahr ist eine kurze Zeit,
Und, Gott! das Feld ist gar zu weit.
Wenn man einen Fingerzeig nur hat,
Läßt sich’s schon eher weiter fühlen.

MEPHISTOPHELES (für sich):
Ich bin des trocknen Tons nun satt,
Muß wieder recht den Teufel spielen.
(Laut.) Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen;
Ihr durchstudiert die groß, und kleine Welt,
Um es am Ende gehn zu lassen,
Wie’s Gott gefällt.
Vergebens, daß Ihr ringsum wissenschaftlich schweift,
Ein jeder lernt nur, was er lernen kann;
Doch der den Augenblick ergreift,
Das ist der rechte Mann.
Ihr seid noch ziemlich wohl gebaut,
An Kühnheit wird’s Euch auch nicht fehlen,
Und wenn Ihr Euch nur selbst vertraut,
Vertrauen Euch die andern Seelen.
Besonders lernt die Weiber führen;
Es ist ihr ewig Weh und Ach
So tausendfach
Aus einem Punkte zu kurieren,
Und wenn Ihr halbweg ehrbar tut,
Dann habt Ihr sie all unterm Hut.
Ein Titel muß sie erst vertraulich machen,
Daß Eure Kunst viel Künste übersteigt;
Zum Willkomm tappt Ihr dann nach allen Siebensachen,
Um die ein andrer viele Jahre streicht,
Versteht das Pülslein wohl zu drücken,
Und fasset sie, mit feurig schlauen Blicken,
Wohl um die schlanke Hüfte frei,
Zu sehn, wie fest geschnürt sie sei.

SCHÜLER:
Das sieht schon besser aus! Man sieht doch, wo und wie.

MEPHISTOPHELES:
Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,
Und grün des Lebens goldner Baum.

SCHÜLER:
Ich schwör Euch zu, mir ist’s als wie ein Traum.
Dürft ich Euch wohl ein andermal beschweren,
Von Eurer Weisheit auf den Grund zu hören?

MEPHISTOPHELES:
Was ich vermag, soll gern geschehn.

SCHÜLER:
Ich kann unmöglich wieder gehn,
Ich muß Euch noch mein Stammbuch überreichen,
Gönn Eure Gunst mir dieses Zeichen!

MEPHISTOPHELES:
Sehr wohl.
(Er schreibt und gibt’s.)

SCHÜLER (liest):
Eritis sicut Deus, scientes bonum et malum.
(Macht’s ehrerbietig zu und empfiehlt sich.)

MEPHISTOPHELES:
Folg nur dem alten Spruch und meiner Muhme, der Schlange,
Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!
(Faust tritt auf.)

FAUST:
Wohin soll es nun gehn?

MEPHISTOPHELES:
Wohin es dir gefällt.
Wir sehn die kleine, dann die große Welt.
Mit welcher Freude, welchem Nutzen
Wirst du den Cursum durchschmarutzen!

FAUST:
Allein bei meinem langen Bart
Fehlt mir die leichte Lebensart.
Es wird mir der Versuch nicht glücken;
Ich wußte nie mich in die Welt zu schicken.
Vor andern fühl ich mich so klein;
Ich werde stets verlegen sein.

MEPHISTOPHELES:
Mein guter Freund, das wird sich alles geben;
Sobald du dir vertraust, sobald weißt du zu leben.

FAUST:
Wie kommen wir denn aus dem Haus?
Wo hast du Pferde, Knecht und Wagen?

MEPHISTOPHELES:
Wir breiten nur den Mantel aus,
Der soll uns durch die Lüfte tragen.
Du nimmst bei diesem kühnen Schritt
Nur keinen großen Bündel mit.
Ein bißchen Feuerluft, die ich bereiten werde,
Hebt uns behend von dieser Erde.
Und sind wir leicht, so geht es schnell hinauf;
Ich gratuliere dir zum neuen Lebenslauf!

Auerbachs Keller in Leipzig

Zeche lustiger Gesellen.

FROSCH:
Will keiner trinken? keiner lachen?
Ich will euch lehren Gesichter machen!
Ihr seid ja heut wie nasses Stroh,
Und brennt sonst immer lichterloh.

BRANDER:
Das liegt an dir; du bringst ja nichts herbei,
Nicht eine Dummheit, keine Sauerei.

FROSCH (giesst ihm ein Glas Wein über den Kopf):
Da hast du beides!

BRANDER:
Doppelt Schwein!

FROSCH:
Ihr wollt es ja, man soll es sein!

SIEBEL:
Zur Tür hinaus, er sich entzweit!
Mit offner Brust singt Runda, sauft und schreit!
Auf! Holla! Ho!

ALTMAYER:
Weh mir, ich bin verloren! Baumwolle her! der Kerl sprengt mir die Ohren.

SIEBEL:
Wenn das Gewölbe widerschallt,
Fühlt man erst recht des Basses Grundgewalt.

FROSCH:
So recht, hinaus mit dem, der etwas übel nimmt!
A! tara lara da!

ALTMAYER:
A! tara lara da!

FROSCH:
Die Kehlen sind gestimmt.
(Singt.)
Das liebe Heil’ge Röm’sche Reich,
Wie hält’s nur noch zusammen?

BRANDER:
Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied
Ein leidig Lied! Dankt Gott mit jedem Morgen,
Daß ihr nicht braucht fürs Röm’sche Reich zu sorgen!
Ich halt es wenigstens für reichlichen Gewinn,
Daß ich nicht Kaiser oder Kanzler bin.
Doch muß auch uns ein Oberhaupt nicht fehlen;
Wir wollen einen Papst erwählen.
Ihr wißt, welch eine Qualität
Den Ausschlag gibt, den Mann erhöht.

FROSCH (singt):
Schwing dich auf, Frau Nachtigall,
Grüß mir mein Liebchen zehentausendmal.

SIEBEL:
Dem Liebchen keinen Gruß! ich will davon nichts hören!

FROSCH:
Dem Liebchen Gruß und Kuß! du wirst mir’s nicht verwehren!

(Singt.)
Riegel auf! in stiller Nacht.
Riegel auf! der Liebste wacht.
Riegel zu! des Morgens früh.

SIEBEL:
Ja, singe, singe nur und lob und rühme sie!
Ich will zu meiner Zeit schon lachen.
Sie hat mich angeführt, dir wird sie’s auch so machen.
Zum Liebsten sei ein Kobold ihr beschert!
Der mag mit ihr auf einem Kreuzweg schäkern;
Ein alter Bock, wenn er vom Blocksberg kehrt,
Mag im Galopp noch gute Nacht ihr meckern!
Ein braver Kerl von echtem Fleisch und Blut
Ist für die Dirne viel zu gut.
Ich will von keinem Gruße wissen,
Als ihr die Fenster eingeschmissen

BRANDER (auf den Tisch schlagend):
Paßt auf! paßt auf! Gehorchet mir!
Ihr Herrn, gesteht, ich weiß zu leben
Verliebte Leute sitzen hier,
Und diesen muß, nach Standsgebühr,
Zur guten Nacht ich was zum besten geben.
Gebt acht! Ein Lied vom neusten Schnitt!
Und singt den Rundreim kräftig mit!
(Er singt.)
Es war eine Ratt im Kellernest,
Lebte nur von Fett und Butter,
Hatte sich ein Ränzlein angemäst’t,
Als wie der Doktor Luther.
Die Köchin hatt ihr Gift gestellt;
Da ward’s so eng ihr in der Welt,
Als hätte sie Lieb im Leibe.

CHORUS (jauchzend):
Als hätte sie Lieb im Leibe.

BRANDER:
Sie fuhr herum, sie fuhr heraus,
Und soff aus allen Pfützen,
Zernagt‘, zerkratzt, das ganze Haus,
Wollte nichts ihr Wüten nützen;
Sie tät gar manchen Ängstesprung,
Bald hatte das arme Tier genung,
Als hätt es Lieb im Leibe.

CHORUS:
Als hätt es Lieb im Leibe.

BRANDER:
Sie kam vor Angst am hellen Tag
Der Küche zugelaufen,
Fiel an den Herd und zuckt, und lag,
Und tät erbärmlich schnaufen.
Da lachte die Vergifterin noch:
Ha! sie pfeift auf dem letzten Loch,
Als hätte sie Lieb im Leibe.

CHORUS:
Als hätte sie Lieb im Leibe.

SIEBEL:
Wie sich die platten Bursche freuen!
Es ist mir eine rechte Kunst,
Den armen Ratten Gift zu streuen!

BRANDER:
Sie stehn wohl sehr in deiner Gunst?

ALTMAYER:
Der Schmerbauch mit der kahlen Platte!
Das Unglück macht ihn zahm und mild;
Er sieht in der geschwollnen Ratte
Sein ganz natürlich Ebenbild
(Faust und Mephistopheles treten auf.)

MEPHISTOPHELES:
Ich muß dich nun vor allen Dingen
In lustige Gesellschaft bringen,
Damit du siehst, wie leicht sich’s leben läßt.
Dem Volke hier wird jeder Tag ein Fest.
Mit wenig Witz und viel Behagen
Dreht jeder sich im engen Zirkeltanz,
Wie junge Katzen mit dem Schwanz.
Wenn sie nicht über Kopfweh klagen,
So lang der Wirt nur weiter borgt,
Sind sie vergnügt und unbesorgt.

BRANDER:
Die kommen eben von der Reise,
Man sieht’s an ihrer wunderlichen Weise;
Sie sind nicht eine Stunde hier.

FROSCH:
Wahrhaftig, du hast recht! Mein Leipzig lob ich mir!
Es ist ein klein Paris, und bildet seine Leute.

SIEBEL:
Für was siehst du die Fremden an?

FROSCH:
Laß mich nur gehn! Bei einem vollen Glase
Zieh ich, wie einen Kinderzahn,
Den Burschen leicht die Würmer aus der Nase.
Sie scheinen mir aus einem edlen Haus,
Sie sehen stolz und unzufrieden aus.

BRANDER:
Marktschreier sind’s gewiß, ich wette!

ALTMAYER:
Vielleicht.

FROSCH:
Gib acht, ich schraube sie!

MEPHISTOPHELES (zu Faust):
Den Teufel spürt das Völkchen nie,
Und wenn er sie beim Kragen hätte.

FAUST:
Seid uns gegrüßt, ihr Herrn!

SIEBEL:
Viel Dank zum Gegengruß.
(Leise, Mephistopheles von der Seite ansehend.)
Was hinkt der Kerl auf einem Fuß?

MEPHISTOPHELES:
Ist es erlaubt, uns auch zu euch zu setzen?
Statt eines guten Trunks, den man nicht haben kann
Soll die Gesellschaft uns ergetzen.

ALTMAYER:
Ihr scheint ein sehr verwöhnter Mann.

FROSCH:
Ihr seid wohl spät von Rippach aufgebrochen?
Habt ihr mit Herren Hans noch erst zu Nacht gespeist?

MEPHISTOPHELES:
Heut sind wir ihn vorbeigereist!
Wir haben ihn das letztemal gesprochen.
Von seinen Vettern wußt er viel zu sagen,
Viel Grüße hat er uns an jeden aufgetragen.
(Er neigt sich gegen Frosch.)

ALTMAYER (leise):
Da hast du’s! der versteht’s!

SIEBEL:
Ein pfiffiger Patron!

FROSCH:
Nun, warte nur, ich krieg ihn schon!

MEPHISTOPHELES:
Wenn ich nicht irrte, hörten wir
Geübte Stimmen Chorus singen?
Gewiß, Gesang muß trefflich hier
Von dieser Wölbung widerklingen!

FROSCH:
Seid Ihr wohrgar ein Virtuos?

MEPHISTOPHELES:
O nein! die Kraft ist schwach, allein die Lust ist groß.

ALTMAYER:
Gebt uns ein Lied!

MEPHISTOPHELES:
Wenn ihr begehrt, die Menge.

SIEBEL:
Nur auch ein nagelneues Stück!

MEPHISTOPHELES:
Wir kommen erst aus Spanien zurück,
Dem schönen Land des Weins und der Gesänge.
(Singt).
Es war einmal ein König,
Der hatt einen großen Floh-

FROSCH:
Horcht! Einen Froh! Habt ihr das wohl gefaßt?
Ein Floh ist mir ein saubrer Gast.

MEPHISTOPHELES (singt):
Es war einmal ein König
Der hatt einen großen Floh,
Den liebt, er gar nicht wenig,
Als wie seinen eignen Sohn.
Da rief er seinen Schneider,
Der Schneider kam heran:
Da, miß dem Junker Kleider
Und miß ihm Hosen an!

BRANDER:
Vergeßt nur nicht, dem Schneider einzuschärfen,
Daß er mir aufs genauste mißt,
Und daß, so lieb sein Kopf ihm ist,
Die Hosen keine Falten werfen!

MEPHISTOPHELES:
In Sammet und in Seide
War er nun angetan
Hatte Bänder auf dem Kleide,
Hatt auch ein Kreuz daran
Und war sogleich Minister,
Und hatt einen großen Stern.
Da wurden seine Geschwister
Bei Hof auch große Herrn.

Und Herrn und Fraun am Hofe,
Die waren sehr geplagt,
Die Königin und die Zofe
Gestochen und genagt,
Und durften sie nicht knicken,
Und weg sie jucken nicht.
Wir knicken und ersticken
Doch gleich, wenn einer sticht.

CHORUS (jauchzend):
Wir knicken und ersticken
Doch gleich, wenn einer sticht.

FROSCH:
Bravo! Bravo! Das war schön!

SIEBEL:
So soll es jedem Floh ergehn!

BRANDER:
Spitzt die Finger und packt sie fein!

ALTMAYER:
Es lebe die Freiheit! Es lebe der Wein!

MEPHISTOPHELES:
Ich tränke gern ein Glas, die Freiheit hoch zu ehren,
Wenn eure Weine nur ein bißchen besser wären.

SIEBEL:
Wir mögen das nicht wieder hören!

MEPHISTOPHELES:
Ich fürchte nur, der Wirt beschweret sich;
Sonst gäb ich diesen werten Gästen
Aus unserm Keller was zum besten.

SIEBEL:
Nur immer her! ich nehm’s auf mich.

FROSCH:
Schafft Ihr ein gutes Glas, so wollen wir Euch loben.
Nur gebt nicht gar zu kleine Proben
Denn wenn ich judizieren soll,
Verlang ich auch das Maul recht voll.

ALTMAYER (leise):
Sie sind vom Rheine, wie ich spüre.

MEPHISTOPHELES:
Schafft einen Bohrer an!

BRANDER:
Was soll mit dem geschehn? Ihr habt doch nicht die Fässer vor der Türe?

ALTMAYER:
Dahinten hat der Wirt ein Körbchen Werkzeug stehn.

MEPHISTOPHELES (nimmt den Bohrer. Zu Frosch):
Nun sagt, was wünschet Ihr zu schmecken?

FROSCH:
Wie meint Ihr das? Habt Ihr so mancherlei?

MEPHISTOPHELES:
Ich stell es einem jeden frei.

ALTMAYER (zu Frosch):
Aha! du fängst schon an, die Lippen abzulecken.

FROSCH:
Gut! wenn ich wählen soll, so will ich Rheinwein haben.
Das Vaterland verleiht die allerbesten Gaben.

MEPHISTOPHELES (indem er an dem Platz, wo Frosch sitzt, ein Loch in den
Tischrand bohrt):
Verschafft ein wenig Wachs, die Pfropfen gleich zu machen!

ALTMAYER:
Ach, das sind Taschenspielersachen.

MEPHISTOPHELES (zu Brander):
Und Ihr?

BRANDER:
Ich will Champagner Wein Und recht moussierend soll er sein!
(Mephistopheles bohrt; einer hat indessen die Wachspfropfen gemacht
und verstopft.)
Man kann nicht stets das Fremde meiden
Das Gute liegt uns oft so fern.
Ein echter deutscher Mann mag keinen Franzen leiden,
Doch ihre Weine trinkt er gern.

SIEBEL (indem sich Mephistopheles seinem Platze nähert):
Ich muß gestehn, den sauern mag ich nicht,
Gebt mir ein Glas vom echten süßen!

MEPHISTOPHELES (bohrt):
Euch soll sogleich Tokayer fließen.

ALTMAYER:
Nein, Herren, seht mir ins Gesicht!
Ich seh es ein, ihr habt uns nur zum besten.

MEPHISTOPHELES:
Ei! Ei! Mit solchen edlen Gästen
Wär es ein bißchen viel gewagt.
Geschwind! Nur grad heraus gesagt!
Mit welchem Weine kann ich dienen?

ALTMAYER:
Mit jedem! Nur nicht lang gefragt.
(Nachdem die Löcher alle gebohrt und verstopft sind.)

MEPHISTOPHELES (mit seltsamen Gebärden):
Trauben trägt der Weinstock!
Hörner der Ziegenbock;
Der Wein ist saftig, Holz die Reben,
Der hölzerne Tisch kann Wein auch geben.
Ein tiefer Blick in die Natur!
Hier ist ein Wunder, glaubet nur! Nun zieht die Pfropfen und genießt!

ALLE (indem sie die Pfropfen ziehen und jedem der verlangte Wein ins Glas
läuft):
O schöner Brunnen, der uns fließt!

MEPHISTOPHELES:
Nur hütet euch, daß ihr mir nichts vergießt!
(Sie trinken wiederholt.)

ALLE (singen):
Uns ist ganz kannibalisch wohl,
Als wie fünfhundert Säuen!

MEPHISTOPHELES:
Das Volk ist frei, seht an, wie wohl’s ihm geht!

FAUST:
Ich hätte Lust, nun abzufahren.

MEPHISTOPHELES:
Gib nur erst acht, die Bestialität
Wird sich gar herrlich offenbaren.

SIEBEL (trinkt unvorsichtig, der Wein fließt auf die Erde und wird zur
Flamme):
Helft! Feuer! helft! Die Hölle brennt!

MEPHISTOPHELES (die Flamme besprechend):
Sei ruhig, freundlich Element!
(Zu den Gesellen.)
Für diesmal war es nur ein Tropfen Fegefeuer.

SIEBEL:
Was soll das sein? Wart! Ihr bezahlt es teuer!
Es scheinet, daß Ihr uns nicht kennt.

FROSCH:
Laß Er uns das zum zweiten Male bleiben!

ALTMAYER:
Ich dächt, wir hießen ihn ganz sachte seitwärts gehn.

SIEBEL:
Was, Herr? Er will sich unterstehn,
Und hier sein Hokuspokus treiben?

MEPHISTOPHELES:
Still, altes Weinfaß!

SIEBEL:
Besenstiel! Du willst uns gar noch grob begegnen?

BRANDER:
Wart nur, es sollen Schläge regnen!

ALTMAYER (zieht einen Pfropf aus dem Tisch, es springt ihm Feuer entgegen):

Ich brenne! ich brenne!
Stoßt zu! der Kerl ist vogelfrei!
(Sie ziehen die Messer und gehn auf Mephistopheles los.)

MEPHISTOPHELES (mit ernsthafter Gebärde):
Falsch Gebild und Wort
Verändern Sinn und Ort!
Seid hier und dort!
(Sie stehn erstaunt und sehn einander an.)

ALTMAYER:
Wo bin ich? Welches schöne Land!

FROSCH:
Weinberge! Seh ich recht?

SIEBEL:
Und Trauben gleich zur Hand!

BRANDER:
Hier unter diesem grünen Laube,
Seht, welch ein Stock! Seht, welche Traube!
(Er faßt Siebeln bei der Nase. Die andern tun es wechselseitig und heben
die Messer.)

MEPHISTOPHELES (wie oben):
Irrtum, laß los der Augen Band!
Und merkt euch, wie der Teufel spaße.
(Er verschwindet mit Faust, die Gesellen fahren auseinander.

SIEBEL:
Was gibt s?

ALTMAYER:
Wie?

FROSCH:
War das deine Nase?

BRANDER (zu Siebel):
Und deine hab ich in der Hand!

ALTMAYER:
Es war ein Schlag, der ging durch alle Glieder!
Schafft einen Stuhl, ich sinke nieder!

FROSCH:
Nein, sagt mir nur, was ist geschehn?

FROSCH:
Wo ist der Kerl? Wenn ich ihn spüre,
Er soll mir nicht lebendig gehn!

ALTMAYER:
Ich hab ihn selbst hinaus zur Kellertüre-
Auf einem Fasse reiten sehn–
Es liegt mir bleischwer in den Füßen.
(Sich nach dem Tische wendend.)
Mein! Sollte wohl der Wein noch fließen?

SIEBEL:
Betrug war alles, Lug und Schein.

FROSCH:
Mir deuchte doch, als tränk ich Wein.

BRANDER:
Aber wie war es mit den Trauben?

ALTMAYER:
Nun sag mir eins, man soll kein Wunder glauben!

Hexenküche.

Auf einem niedrigen Herd steht ein großer Kessel über dem Feuer. In dem Dampfe, der davon in die Höhe steigt, zeigen sich verschiedene Gestalten. Eine Meerkatze sitzt bei dem Kessel und schäumt ihn und sorgt, daß er nicht überläuft. Der Meerkater mit den Jungen sitzt darneben und wärmt sich. Wände und Decke sind mit dem seltsamsten Hexenhausrat geschmückt.

Faust. Mephistopheles.

FAUST:
Mir widersteht das tolle Zauberwesen!
Versprichst du mir, ich soll genesen
In diesem Wust von Raserei?
Verlang ich Rat von einem alten Weibe?
Und schafft die Sudelköcherei
Wohl dreißig Jahre mir vom Leibe?
Weh mir, wenn du nichts Bessers weißt!
Schon ist die Hoffnung mir verschwunden.
Hat die Natur und hat ein edler Geist
Nicht irgendeinen Balsam ausgefunden?

MEPHISTOPHELES:
Mein Freund, nun sprichst du wieder klug!
Dich zu verjüngen, gibt’s auch ein natürlich Mittel;
Allein es steht in einem andern Buch,
Und ist ein wunderlich Kapitel.

FAUST:
Ich will es wissen.

MEPHISTOPHELES:
Gut! Ein Mittel, ohne Geld Und Arzt und Zauberei zu haben:
Begib dich gleich hinaus aufs Feld,
Fang an zu hacken und zu graben
Erhalte dich und deinen Sinn
In einem ganz beschränkten Kreise,
Ernähre dich mit ungemischter Speise,
Leb mit dem Vieh als Vieh, und acht es nicht für Raub,
Den Acker, den du erntest, selbst zu düngen;
Das ist das beste Mittel, glaub,
Auf achtzig Jahr dich zu verjüngen!

FAUST:
Das bin ich nicht gewöhnt, ich kann mich nicht bequemen,
Den Spaten in die Hand zu nehmen.
Das enge Leben steht mir gar nicht an.

MEPHISTOPHELES:
So muß denn doch die Hexe dran.

FAUST:
Warum denn just das alte Weib!
Kannst du den Trank nicht selber brauen?

MEPHISTOPHELES:
Das wär ein schöner Zeitvertreib!
Ich wollt indes wohl tausend Brücken bauen.
Nicht Kunst und Wissenschaft allein,
Geduld will bei dem Werke sein.
Ein stiller Geist ist jahrelang geschäftig,
Die Zeit nur macht die feine Gärung kräftig.
Und alles, was dazu gehört,
Es sind gar wunderbare Sachen!
Der Teufel hat sie’s zwar gelehrt;
Allein der Teufel kann’s nicht machen.
(Die Tiere erblickend.)
Sieh, welch ein zierliches Geschlecht!
Das ist die Magd! das ist der Knecht!
(Zu den Tieren.)
Es scheint, die Frau ist nicht zu Hause?

DIE TIERE:
Beim Schmause,
Aus dem Haus
Zum Schornstein hinaus!

MEPHISTOPHELES:
Wie lange pflegt sie wohl zu schwärmen?

DIE TIERE:
So lange wir uns die Pfoten wärmen.

MEPHISTOPHELES. (zu Faust):
Wie findest du die zarten Tiere?

FAUST:
So abgeschmackt, als ich nur jemand sah!

MEPHISTOPHELES:
Nein, ein Discours wie dieser da
Ist grade der, den ich am liebsten führe!
(zu den Tieren.)
So sagt mir doch, verfluchte Puppen,
Was quirlt ihr in dem Brei herum?

DIE TIERE:
Wir kochen breite Bettelsuppen.

MEPHISTOPHELES:
Da habt ihr ein groß Publikum.

DER KATER (macht sich herbei und schmeichelt dem Mephistopheles):
O würfle nur gleich,
Und mache mich reich,
Und laß mich gewinnen!
Gar schlecht ist’s bestellt,
Und wär ich bei Geld,
So wär ich bei Sinnen.

MEPHISTOPHELES:
Wie glücklich würde sich der Affe schätzen,
Könnt er nur auch ins Lotto setzen!
(Indessen haben die jungen Meerkätzchen mit einer großen Kugel gespielt und
rollen sie hervor.)

DER KATER:
Das ist die Welt;
Sie steigt und fällt
Und rollt beständig;
Sie klingt wie Glas-
Wie bald bricht das!
Ist hohl inwendig.
Hier glänzt sie sehr,
Und hier noch mehr:
„Ich bin lebendig!“
Mein lieber Sohn,
Halt dich davon!
Du mußt sterben!
Sie ist von Ton,
Es gibt Scherben.

MEPHISTOPHELES:
Was soll das Sieb?

DER KATER (holt es herunter):
Wärst du ein Dieb,
Wollt ich dich gleich erkennen.
(Er lauft zur Kätzin und läßt sie durchsehen.)
Sieh durch das Sieb!
Erkennst du den Dieb,
Und darfst ihn nicht nennen?

MEPHISTOPHELES (sich dem Feuer nähernd):
Und dieser Topf?

KATER UND KäTZIN:
Der alberne Tropf!
Er kennt nicht den Topf,
Er kennt nicht den Kessel!

MEPHISTOPHELES:
Unhöfliches Tier!

DER KATER:
Den Wedel nimm hier,
Und setz dich in Sessel!
(Er nötigt den Mephistopheles zu sitzen.)

FAUST (welcher diese Zeit über vor einem Spiegel gestanden, sich ihm bald
genähert, bald sich von ihm entfernt hat):
Was seh ich? Welch ein himmlisch Bild
Zeigt sich in diesem Zauberspiegel!
O Liebe, leihe mir den schnellsten deiner Flügel,
Und führe mich in ihr Gefild!
Ach wenn ich nicht auf dieser Stelle bleibe,
Wenn ich es wage, nah zu gehn,
Kann ich sie nur als wie im Nebel sehn!-
Das schönste Bild von einem Weibe!
Ist’s möglich, ist das Weib so schön?
Muß ich an diesem hingestreckten Leibe
Den Inbegriff von allen Himmeln sehn?
So etwas findet sich auf Erden?

MEPHISTOPHELES:
Natürlich, wenn ein Gott sich erst sechs Tage plagt,
Und selbst am Ende Bravo sagt,
Da muß es was Gescheites werden.
Für diesmal sieh dich immer satt;
Ich weiß dir so ein Schätzchen auszuspüren,
Und selig, wer das gute Schicksal hat,
Als Bräutigam sie heim zu führen!
(Faust sieht immerfort in den Spiegel. Mephistopheles, sich in dem Sessel
dehnend und mit dem Wedel spielend, fährt fort zu sprechen.)

Hier sitz ich wie der König auf dem Throne,
Den Zepter halt ich hier, es fehlt nur noch die Krone.

DIE TIERE (welche bisher allerlei wunderliche Bewegungen durcheinander
gemacht haben, bringen dem Mephistopheles eine Krone mit großem Geschrei):
O sei doch so gut,
Mit Schweiß und mit Blut
Die Krone zu leimen!
(Sie gehn ungeschickt mit der Krone um und zerbrechen sie in zwei Stücke,
mit welchen sie herumspringen.)

Nun ist es geschehn!
Wir reden und sehn,
Wir hören und reimen-

FAUST (gegen den Spiegel):
Weh mir! ich werde schier verrückt.

MEPHISTOPHELES (auf die Tiere deutend):
Nun fängt mir an fast selbst der Kopf zu schwanken.

DIE TIERE:
Und wenn es uns glückt,
Und wenn es sich schickt,
So sind es Gedanken!

FAUST (wie oben):
Mein Busen fängt mir an zu brennen!
Entfernen wir uns nur geschwind!

MEPHISTOPHELES (in obiger Stellung):
Nun, wenigstens muß man bekennen,
Daß es aufrichtige Poeten sind.
(Der Kessel, welchen die Katzin bisher außer acht gelassen, fängt an
überzulaufen, es entsteht eine große Flamme, welche zum Schornstein hinaus
schlägt. Die Hexe kommt durch die Flamme mit entsetzlichem Geschrei
herunter gefahren.)

DIE HEXE:
Au! Au! Au! Au!
Verdammtes Tier! verfluchte Sau!
Versäumst den Kessel, versengst die Frau!
Verfluchtes Tier!
(Faust und Mephistopheles erblickend.)
Was ist das hier?
Wer seid ihr hier?
Was wollt ihr da?
Wer schlich sich ein?
Die Feuerpein
Euch ins Gebein!
(Sie fahrt mit dem Schaumlöffel in den Kessel und spritzt Flammen nach
Faust, Mephistopheles und den Tieren. Die Tiere winseln.)

MEPHISTOPHELES (welcher den Wedel, den er in der Hand hält, umkehrt und
unter die Gläser und Töpfe schlägt):
Entzwei! entzwei!
Da liegt der Brei!
Da liegt das Glas!
Es ist nur Spaß,
Der Takt, du Aas,
Zu deiner Melodei.
(Indem die Hexe voll Grimm und Entsetzen zurücktritt.)
Erkennst du mich? Gerippe! Scheusal du!
Erkennst du deinen Herrn und Meister?
Was hält mich ab, so schlag ich zu,
Zerschmettre dich und deine Katzengeister!
Hast du vorm roten Wams nicht mehr Respekt?
Kannst du die Hahnenfeder nicht erkennen?
Hab ich dies Angesicht versteckt?
Soll ich mich etwa selber nennen?

DIE HEXE:
O Herr, verzeiht den rohen Gruß!
Seh ich doch keinen Pferdefuß.
Wo sind denn Eure beiden Raben?

MEPHISTOPHELES:
Für diesmal kommst du so davon;
Denn freilich ist es eine Weile schon,
Daß wir uns nicht gesehen haben.
Auch die Kultur, die alle Welt beleckt,
Hat auf den Teufel sich erstreckt;
Das nordische Phantom ist nun nicht mehr zu schauen;
Wo siehst du Hörner, Schweif und Klauen?
Und was den Fuß betrifft, den ich nicht missen kann,
Der würde mir bei Leuten schaden;
Darum bedien ich mich, wie mancher junge Mann,
Seit vielen Jahren falscher Waden.

DIE HEXE (tanzend):
Sinn und Verstand verlier ich schier,
Seh ich den Junker Satan wieder hier!

MEPHISTOPHELES:
Den Namen, Weib, verbitt ich mir!

DIE HEXE:
Warum? Was hat er Euch getan?

MEPHISTOPHELES:
Er ist schon lang ins Fabelbuch geschrieben;
Allein die Menschen sind nichts besser dran,
Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben.
Du nennst mich Herr Baron, so ist die Sache gut;
Ich bin ein Kavalier, wie andre Kavaliere.
Du zweifelst nicht an meinem edlen Blut;
Sieh her, das ist das Wappen, das ich führe!
(Er macht eine unanständige Gebärde.)

DIE HEXE (lacht unmäßig):
Ha! Ha! Das ist in Eurer Art!
Ihr seid ein Schelm, wie Ihr nur immer wart!

MEPHISTOPHELES (zu Faust):
Mein Freund, das lerne wohl verstehn!
Dies ist die Art, mit Hexen umzugehn.

DIE HEXE:
Nun sagt, ihr Herren, was ihr schafft.

MEPHISTOPHELES:
Ein gutes Glas von dem bekannten Saft!
Doch muß ich Euch ums ältste bitten;
Die Jahre doppeln seine Kraft.

DIE HEXE:
Gar gern! Hier hab ich eine Flasche,
Aus der ich selbst zuweilen nasche,
Die auch nicht mehr im mindsten stinkt;
Ich will euch gern ein Gläschen geben.
(Leise.)
Doch wenn es dieser Mann unvorbereitet trinkt
So kann er, wißt Ihr wohl, nicht eine Stunde leben.

MEPHISTOPHELES:
Es ist ein guter Freund, dem es gedeihen soll;
Ich gönn ihm gern das Beste deiner Küche.
Zieh deinen Kreis, sprich deine Sprüche,
Und gib ihm eine Tasse voll!
(Die Hexe, mit seltsamen Gebärden, zieht einen Kreis und stellt wunderbare
Sachen hinein; indessen fangen die Gläser an zu klingen, die Kessel zu
tönen, und machen Musik. Zuletzt bringt sie ein großes Buch, stellt die
Meerkatzen in den Kreis, die ihr zum Pult dienen und die Fackel halten
müssen. Sie winkt Fausten, zu ihr zu treten.)

FAUST (zu Mephistopheles):
Nein, sage mir, was soll das werden?
Das tolle Zeug, die rasenden Gebärden,
Der abgeschmackteste Betrug,
Sind mir bekannt, verhaßt genug.

MEPHISTOPHELES:
Ei Possen! Das ist nur zum Lachen;
Sei nur nicht ein so strenger Mann!
Sie muß als Arzt ein Hokuspokus machen,
Damit der Saft dir wohl gedeihen kann.
(Er nötigt Fausten, in den Kreis zu treten.)

DIE HEXE (mit großer Emphase fängt an, aus dem Buche zu deklamieren):
Du mußt verstehn!
Aus Eins mach Zehn,
Und Zwei laß gehn,
Und Drei mach gleich,
So bist du reich.
Verlier die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex,
Mach Sieben und Acht,
So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmaleins!

FAUST:
Mich dünkt, die Alte spricht im Fieber.

MEPHISTOPHELES:
Das ist noch lange nicht vorüber,
Ich kenn es wohl, so klingt das ganze Buch;
Ich habe manche Zeit damit verloren,
Denn ein vollkommner Widerspruch
Bleibt gleich geheimnisvoll für Kluge wie für Toren.
Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
Durch Drei und Eins, und Eins und Drei
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.
So schwätzt und lehrt man ungestört;
Wer will sich mit den Narrn befassen?
Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.

DIE HEXE (fährt fort):
Die hohe Kraft
Der Wissenschaft,
Der ganzen Welt verborgen!
Und wer nicht denkt,
Dem wird sie geschenkt,
Er hat sie ohne Sorgen.

FAUST:
Was sagt sie uns für Unsinn vor?
Es wird mir gleich der Kopf zerbrechen.
Mich dünkt, ich hör ein ganzes Chor
Von hunderttausend Narren sprechen.

MEPHISTOPHELES:
Genug, genug, o treffliche Sibylle!
Gib deinen Trank herbei, und fülle
Die Schale rasch bis an den Rand hinan;
Denn meinem Freund wird dieser Trunk nicht schaden:
Er ist ein Mann von vielen Graden,
Der manchen guten Schluck getan.
(Die Hexe, mit vielen Zeremonien, schenkt den Trank in eine Schale,
wie sie Faust an den Mund bringt, entsteht eine leichte Flamme.)

Nur frisch hinunter! Immer zu!
Es wird dir gleich das Herz erfreuen.
Bist mit dem Teufel du und du,
Und willst dich vor der Flamme scheuen?
(Die Hexe löst den Kreis. Faust tritt heraus.)

Nun frisch hinaus! Du darfst nicht ruhn.

DIE HEXE:
Mög Euch das Schlückchen wohl behagen!

MEPHISTOPHELES (zur Hexe):
Und kann ich dir was zu Gefallen tun,
So darfst du mir’s nur auf Walpurgis sagen.

DIE HEXE:
Hier ist ein Lied! wenn Ihr’s zuweilen singt,
So werdet Ihr besondre Wirkung spüren.

MEPHISTOPHELES (zu Faust):
Komm nur geschwind und laß dich führen;
Du mußt notwendig transpirieren,
Damit die Kraft durch Inn- und Äußres dringt.
Den edlen Müßiggang lehr ich hernach dich schätzen,
Und bald empfindest du mit innigem Ergetzen,
Wie sich Cupido regt und hin und wider springt.

FAUST:
Laß mich nur schnell noch in den Spiegel schauen!
Das Frauenbild war gar zu schön!

MEPHISTOPHELES:
Nein! Nein! Du sollst das Muster aller Frauen
Nun bald leibhaftig vor dir sehn.
(Leise.)

Du siehst, mit diesem Trank im Leibe,
Bald Helenen in jedem Weibe.

Straße (I)

Faust. Margarete vorübergehend.

FAUST:
Mein schönes Fräulein, darf ich wagen,
Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?

MARGARETE:
Bin weder Fräulein, weder schön,
Kann ungeleitet nach Hause gehn.
(Sie macht sich los und ab.)

FAUST:
Beim Himmel, dieses Kind ist schön!
So etwas hab ich nie gesehn.
Sie ist so sitt- und tugendreich,
Und etwas schnippisch doch zugleich.
Der Lippe Rot, der Wange Licht,
Die Tage der Welt vergeß ich’s nicht!
Wie sie die Augen niederschlägt,
Hat tief sich in mein Herz geprägt;
Wie sie kurz angebunden war,
Das ist nun zum Entzücken gar!
(Mephistopheles tritt auf.)

FAUST:
Hör, du mußt mir die Dirne schaffen!

MEPHISTOPHELES:
Nun, welche?

FAUST:
Sie ging just vorbei.

MEPHISTOPHELES:
Da die? Sie kam von ihrem Pfaffen,
Der sprach sie aller Sünden frei
Ich schlich mich hart am Stuhl vorbei,
Es ist ein gar unschuldig Ding,
Das eben für nichts zur Beichte ging;
Über die hab ich keine Gewalt!

FAUST:
Ist über vierzehn Jahr doch alt.

MEPHISTOPHELES:
Du sprichst ja wie Hans Liederlich,
Der begehrt jede liebe Blum für sich,
Und dünkelt ihm, es wär kein Ehr
Und Gunst, die nicht zu pflücken wär;
Geht aber doch nicht immer an.

FAUST:
Mein Herr Magister Lobesan,
Laß Er mich mit dem Gesetz in Frieden!
Und das sag ich Ihm kurz und gut:
Wenn nicht das süße junge Blut
Heut Nacht in meinen Armen ruht,
So sind wir um Mitternacht geschieden.

MEPHISTOPHELES:
Bedenkt, was gehn und stehen mag!
Ich brauche wenigstens vierzehn Tag,
Nur die Gelegenheit auszuspüren.

FAUST:
Hätt ich nur sieben Stunden Ruh,
Brauchte den Teufel nicht dazu
So ein Geschöpfchen zu verführen.

MEPHISTOPHELES:
Ihr sprecht schon fast wie ein Franzos;
Doch bitt ich, laßt’s Euch nicht verdrießen:
Was hilft’s, nur grade zu genießen?
Die Freud ist lange nicht so groß,
Als wenn Ihr erst herauf, herum
Durch allerlei Brimborium,
Das Püppchen geknetet und zugericht’t
Wie’s lehret manche welsche Geschicht.

FAUST:
Hab Appetit auch ohne das.

MEPHISTOPHELES:
Jetzt ohne Schimpf und ohne Spaß:
Ich sag Euch, mit dem schönen Kind
Geht’s ein für allemal nicht geschwind.
Mit Sturm ist da nichts einzunehmen;
Wir müssen uns zur List bequemen.

FAUST:
Schaff mir etwas vom Engelsschatz!
Führ mich an ihren Ruheplatz!
Schaff mir ein Halstuch von ihrer Brust,
Ein Strumpfband meiner Liebeslust!

MEPHISTOPHELES:
Damit Ihr seht, daß ich Eurer Pein
Will förderlich und dienstlich sein‘
Wollen wir keinen Augenblick verlieren,
Will Euch noch heut in ihr Zimmer führen.

FAUST:
Und soll sie sehn? sie haben?

MEPHISTOPHELES:
Nein! Sie wird bei einer Nachbarin sein.
Indessen könnt Ihr ganz allein
An aller Hoffnung künft’ger Freuden
In ihrem Dunstkreis satt Euch weiden.

FAUST:
Können wir hin?

MEPHISTOPHELES:
Es ist noch zu früh.
FAUST:
Sorg du mir für ein Geschenk für sie!
(Ab.)

MEPHISTOPHELES:
Gleich schenken? Das ist brav! Da wird er reüssieren!
Ich kenne manchen schönen Platz
Und manchen altvergrabnen Schatz;
Ich muß ein bißchen revidieren.
(Ab.)

Abend. Ein kleines reinliches Zimmer

Margarete ihre Zöpfe flechtend und aufbindend.

Ich gäb was drum, wenn ich nur wüßt,
Wer heut der Herr gewesen ist!
Er sah gewiß recht wacker aus
Und ist aus einem edlen Haus;
Das konnt ich ihm an der Stirne lesen-
Er wär auch sonst nicht so keck gewesen.
(Ab.)

MEPHISTOPHELES:
Herein, ganz leise, nur herein!

FAUST (nach einigem Stillschweigen):
Ich bitte dich, laß mich allein!

MEPHISTOPHELES (herumspürend):
Nicht jedes Mädchen hält so rein.
(Ab.)

FAUST (rings aufschauend):
Willkommen, süßer Dämmerschein,
Der du dies Heiligtum durchwebst!
Ergreif mein Herz, du süße Liebespein,
Die du vom Tau der Hoffnung schmachtend lebst!
Wie atmet rings Gefühl der Stille,
Der Ordnung, der Zufriedenheit!
In dieser Armut welche Fülle!
In diesem Kerker welche Seligkeit!
(Er wirft sich auf den ledernen Sessel am Bette.)

O nimm mich auf, der du die Vorwelt schon
Bei Freud und Schmerz im offnen Arm empfangen!
Wie oft, ach! hat an diesem Väterthron
Schon eine Schar von Kindern rings gehangen!
Vielleicht hat, dankbar für den heil’gen Christ
Mein Liebchen hier, mit vollen Kinderwangen,
Dem Ahnherrn fromm die welke Hand geküßt.
Ich fühl o Mädchen, deinen Geist
Der Füll und Ordnung um mich säuseln,
Der mütterlich dich täglich unterweist
Den Teppich auf den Tisch dich reinlich breiten heißt,
Sogar den Sand zu deinen Füßen kräuseln.
O liebe Hand! so göttergleich!
Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich.
Und hier!
(Er hebt einen Bettvorhang auf.)

Was faßt mich für ein Wonnegraus! Hier möcht ich volle Stunden säumen.
Natur, hier bildetest in leichten Träumen
Den eingebornen Engel aus!
Hier lag das Kind! mit warmem Leben
Den zarten Busen angefüllt,
Und hier mit heilig reinem Weben
Entwirkte sich das Götterbild!

Und du! Was hat dich hergeführt?
Wie innig fühl ich mich gerührt!
Was willst du hier? Was wird das Herz dir schwer?
Armsel’ger Faust! ich kenne dich nicht mehr.

Umgibt mich hier ein Zauberduft?
Mich drang’s, so grade zu genießen,
Und fühle mich in Liebestraum zerfließen!
Sind wir ein Spiel von jedem Druck der Luft?

Und träte sie den Augenblick herein,
Wie würdest du für deinen Frevel büßen!
Der große Hans, ach wie so klein!
Läg, hingeschmolzen, ihr zu Füßen.

MEPHISTOPHELES (kommt):
Geschwind! ich seh sie unten kommen.

FAUST:
Fort! Fort! Ich kehre nimmermehr!

MEPHISTOPHELES:
Hier ist ein Kästchen leidlich schwer,
Ich hab’s wo anders hergenommen.
Stellt’s hier nur immer in den Schrein,
Ich schwör Euch, ihr vergehn die Sinnen;
Ich tat Euch Sächelchen hinein,
Um eine andre zu gewinnen.
Zwar Kind ist Kind, und Spiel ist Spiel.

FAUST:
Ich weiß nicht, soll ich?

MEPHISTOPHELES:
Fragt Ihr viel? Meint Ihr vielleicht den Schatz zu wahren?
Dann rat ich Eurer Lüsternheit,
Die liebe schöne Tageszeit
Und mir die weitre Müh zu sparen.
Ich hoff nicht, daß Ihr geizig seid!
Ich kratz den Kopf, reib an den Händen-
(Er stellt das Kästchen in den Schrein und drückt das Schloß wieder zu.)
Nur fort! geschwind!
Um Euch das süße junge Kind
Nach Herzens Wunsch und Will zu wenden;
Und Ihr seht drein
Als solltet Ihr in den Hörsaal hinein,
Als stünden grau leibhaftig vor Euch da
Physik und Metaphysika!
Nur fort!
(Ab.)

Margarete mit einer Lampe.

Es ist so schwül, so dumpfig hie
(sie macht das Fenster auf)
Und ist doch eben so warm nicht drauß.
Es wird mir so, ich weiß nicht wie-
Ich wollt, die Mutter käm nach Haus.
Mir läuft ein Schauer übern ganzen Leib-
Bin doch ein töricht furchtsam Weib!
(sie fängt an zu singen, indem sie sich auszieht.)

Es war ein König in Thule
Gar treu bis an das Grab,
Dem sterbend seine Buhle
Einen goldnen Becher gab.

Es ging ihm nichts darüber,
Er leert ihn jeden Schmaus;
Die Augen gingen ihm über,
Sooft er trank daraus.

Und als er kam zu sterben,
Zählt er seine Städt im Reich,
Gönnt alles seinem Erben,
Den Becher nicht zugleich.

Er saß beim Königsmahle,
Die Ritter um ihn her,
Auf hohem Vätersaale,
Dort auf dem Schloß am Meer.

Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut
Und warf den heiligen Becher
Hinunter in die Flut.

Er sah ihn stürzen, trinken
Und sinken tief ins Meer,
Die Augen täten ihm sinken,
Trank nie einen Tropfen mehr.

(Sie eröffnet den Schrein, ihre Kleider einzuräumen, und erblickt das
Schmuckkästchen.)

Wie kommt das schöne Kästchen hier herein?
Ich schloß doch ganz gewiß den Schrein.
Es ist doch wunderbar! Was mag wohl drinne sein?
Vielleicht bracht’s jemand als ein Pfand,
Und meine Mutter lieh darauf.
Da hängt ein Schlüsselchen am Band
Ich denke wohl, ich mach es auf!
Was ist das? Gott im Himmel! Schau,
So was hab ich mein Tage nicht gesehn!
Ein Schmuck! Mit dem könnt eine Edelfrau
Am höchsten Feiertage gehn.
Wie sollte mir die Kette stehn?
Wem mag die Herrlichkeit gehören?

(Sie putzt sich damit auf und tritt vor den Spiegel.)

Wenn nur die Ohrring meine wären!
Man sieht doch gleich ganz anders drein.
Was hilft euch Schönheit, junges Blut?
Das ist wohl alles schön und gut,
Allein man läßt’s auch alles sein;
Man lobt euch halb mit Erbarmen.
Nach Golde drängt,
Am Golde hängt
Doch alles. Ach wir Armen!

Spaziergang

Faust in Gedanken auf und ab gehend. Zu ihm Mephistopheles.

MEPHISTOPHELES:
Bei aller verschmähten Liebe! Beim höllischen Elemente!
Ich wollt, ich wüßte was Ärgers, daß ich’s fluchen könnte!

FAUST:
Was hast? was kneipt dich denn so sehr?
So kein Gesicht sah ich in meinem Leben!

MEPHISTOPHELES:
Ich möcht mich gleich dem Teufel übergeben,
Wenn ich nur selbst kein Teufel wär!

FAUST:
Hat sich dir was im Kopf verschoben?
Dich kleidet’s wie ein Rasender zu toben!

MEPHISTOPHELES:
Denkt nur, den Schmuck, für Gretchen angeschafft,
Den hat ein Pfaff hinweggerafft!
Die Mutter kriegt das Ding zu schauen
Gleich fängt’s ihr heimlich an zu grauen,
Die Frau hat gar einen feinen Geruch,
Schnuffelt immer im Gebetbuch
Und riecht’s einem jeden Möbel an,
Ob das Ding heilig ist oder profan;
Und an dem Schmuck da spürt, sie’s klar,
Daß dabei nicht viel Segen war.
„Mein Kind“, rief sie, „ungerechtes Gut
Befängt die Seele, zehrt auf das Blut.
Wollen’s der Mutter Gottes weihen,
Wird uns mit Himmelsmanna erfreuen!“
Margretlein zog ein schiefes Maul,
Ist halt, dacht sie, ein geschenkter Gaul,
Und wahrlich! gottlos ist nicht der,
Der ihn so fein gebracht hierher.
Die Mutter ließ einen Pfaffen kommen;
Der hatte kaum den Spaß vernommen,
Ließ sich den Anblick wohl behagen.
Er sprach: „So ist man recht gesinnt!
Wer überwindet, der gewinnt.
Die Kirche hat einen guten Magen,
Hat ganze Länder aufgefressen
Und doch noch nie sich übergessen;
Die Kirch allein, meine lieben Frauen,
Kann ungerechtes Gut verdauen.“

FAUST:
Das ist ein allgemeiner Brauch,
Ein Jud und König kann es auch.

MEPHISTOPHELES:
Strich drauf ein Spange, Kett und Ring‘,
Als wären’s eben Pfifferling‘,
Dankt‘ nicht weniger und nicht mehr,
Als ob’s ein Korb voll Nüsse wär,
Versprach ihnen allen himmlischen Lohn-
Und sie waren sehr erbaut davon.

FAUST:
Und Gretchen?

MEPHISTOPHELES:
Sitzt nun unruhvoll, Weiß weder, was sie will noch soll,
Denkt ans Geschmeide Tag und Nacht,
Noch mehr an den, der’s ihr gebracht.

FAUST:
Des Liebchens Kummer tut mir leid.
Schaff du ihr gleich ein neu Geschmeid!
Am ersten war ja so nicht viel.

MEPHISTOPHELES:
O ja, dem Herrn ist alles Kinderspiel!

FAUST:
Und mach, und richt’s nach meinem Sinn,
Häng dich an ihre Nachbarin!
Sei, Teufel, doch nur nicht wie Brei,
Und schaff einen neuen Schmuck herbei!

MEPHISTOPHELES:
Ja, gnäd’ger Herr, von Herzen gerne.
(Faust ab.)

So ein verliebter Tor verpufft
Euch Sonne, Mond und alle Sterne
Zum Zeitvertreib dem Liebchen in die Luft.
(Ab.)

Der Nachbarin Haus

Marthe allein.

Gott verzeih’s meinem lieben Mann,
Er hat an mir nicht wohl getan!
Geht da stracks in die Welt hinein
Und läßt mich auf dem Stroh allein.
Tät ihn doch wahrlich nicht betrüben,
Tät ihn, weiß Gott, recht herzlich lieben.
(Sie weint.)
Vielleicht ist er gar tot!- O Pein!-
Hätt ich nur einen Totenschein!

(Margarete kommt.)

MARGARETE:
Frau Marthe!

MARTHE:
Gretelchen, was soll’s?

MARGARETE:
Fast sinken mir die Kniee nieder!
Da find ich so ein Kästchen wieder
In meinem Schrein, von Ebenholz,
Und Sachen herrlich ganz und gar,
Weit reicher, als das erste war.

MARTHE:
Das muß Sie nicht der Mutter sagen;
Tät’s wieder gleich zur Beichte tragen.

MARGARETE:
Ach seh Sie nur! ach schau Sie nur!

MARTHE (putzt sie auf):
O du glücksel’ge Kreatur!

MARGARETE:
Darf mich, leider, nicht auf der Gassen
Noch in der Kirche mit sehen lassen.

MARTHE:
Komm du nur oft zu mir herüber,
Und leg den Schmuck hier heimlich an;
Spazier ein Stündchen lang dem Spiegelglas vorüber,
Wir haben unsre Freude dran;
Und dann gibt’s einen Anlaß, gibt’s ein Fest,
Wo man’s so nach und nach den Leuten sehen läßt.
Ein Kettchen erst, die Perle dann ins Ohr;
Die Mutter sieht’s wohl nicht, man macht ihr auch was vor.

MARGARETE:
Wer konnte nur die beiden Kästchen bringen?
Es geht nicht zu mit rechten Dingen!
(Es klopft.)

Ach Gott! mag das meine Mutter sein?

MARTHE (durchs Vorhängel guckend):
Es ist ein fremder Herr- Herein!

(Mephistopheles tritt auf.)

MEPHISTOPHELES:
Bin so frei, grad hereinzutreten,
Muß bei den Frauen Verzeihn erbeten.
(Tritt ehrerbietig vor Margareten zurück.)

Wollte nach Frau Marthe Schwerdtlein fragen!

MARTHE:
Ich bin’s, was hat der Herr zu sagen?

MEPHISTOPHELES (leise zu ihr):
Ich kenne Sie jetzt, mir ist das genug;
Sie hat da gar vornehmen Besuch.
Verzeiht die Freiheit, die ich genommen,
Will Nachmittage wiederkommen.

MARTHE (lacht):
Denk, Kind, um alles in der Welt!
Der Herr dich für ein Fräulein hält.

MARGARETE:
Ich bin ein armes junges Blut;
Ach Gott! der Herr ist gar zu gut:
Schmuck und Geschmeide sind nicht mein.

MEPHISTOPHELES:
Ach, es ist nicht der Schmuck allein;
Sie hat ein Wesen, einen Blick so scharf!
Wie freut mich’s, daß ich bleiben darf.

MARTHE:
Was bringt Er denn? Verlange sehr-

MEPHISTOPHELES:
Ich wollt, ich hätt eine frohere Mär!-
Ich hoffe, Sie läßt mich’s drum nicht büßen:
Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen.

MARTHE:
Ist tot? das treue Herz! O weh!
Mein Mann ist tot! Ach ich vergeh!

MARGARETE:
Ach! liebe Frau, verzweifelt nicht!

MEPHISTOPHELES:
So hört die traurige Geschicht!

MARGARETE:
Ich möchte drum mein‘ Tag‘ nicht lieben,
Würde mich Verlust zu Tode betrüben.

MEPHISTOPHELES:
Freud muß Leid, Leid muß Freude haben.

MARTHE:
Erzählt mir seines Lebens Schluß!

MEPHISTOPHELES:
Er liegt in Padua begraben
Beim heiligen Antonius
An einer wohlgeweihten Stätte
Zum ewig kühlen Ruhebette.

MARTHE:
Habt Ihr sonst nichts an mich zu bringen?

MEPHISTOPHELES:
Ja, eine Bitte, groß und schwer:
Laß Sie doch ja für ihn dreihundert Messen singen!
Im übrigen sind meine Taschen leer.

MARTHE:
Was! nicht ein Schaustück? kein Geschmeid?
Was jeder Handwerksbursch im Grund des Säckels spart,
Zum Angedenken aufbewahrt,
Und lieber hungert, lieber bettelt!

MEPHISTOPHELES:
Madam, es tut mir herzlich leid;
Allein er hat sein Geld wahrhaftig nicht verzettelt.
Auch er bereute seine Fehler sehr,
Ja, und bejammerte sein Unglück noch viel mehr.

MARGARETE:
Ach! daß die Menschen so unglücklich sind!
Gewiß, ich will für ihn manch Requiem noch beten.

MEPHISTOPHELES:
Ihr wäret wert, gleich in die Eh zu treten:
Ihr seid ein liebenswürdig Kind.

MARGARETE:
Ach nein, das geht jetzt noch nicht an.

MEPHISTOPHELES:
Ist’s nicht ein Mann, sei’s derweil ein Galan.
’s ist eine der größten Himmelsgaben,
So ein lieb Ding im Arm zu haben.

MARGARETE:
Das ist des Landes nicht der Brauch.

MEPHISTOPHELES:
Brauch oder nicht! Es gibt sich auch.

MARTHE:
Erzählt mir doch!

MEPHISTOPHELES:
Ich stand an seinem Sterbebette, Es war was besser als von Mist,
Von halbgefaultem Stroh; allein er starb als Christ
Und fand, daß er weit mehr noch auf der Zeche hätte.
„Wie“, rief er, „muß ich mich von Grund aus hassen,
So mein Gewerb, mein Weib so zu verlassen!
Ach, die Erinnrung tötet mich
Vergäb sie mir nur noch in diesem Leben!“

MARTHE (weinend):
Der gute Mann! ich hab ihm längst vergeben.

MEPHISTOPHELES:
„Allein, weiß Gott! sie war mehr schuld als ich.“

MARTHE:
Das lügt er! Was! am Rand des Grabs zu lügen!

MEPHISTOPHELES:
Er fabelte gewiß in letzten Zügen,
Wenn ich nur halb ein Kenner bin.
„Ich hatte“, sprach er, „nicht zum Zeitvertreib zu gaffen
Erst Kinder, und dann Brot für sie zu schaffen,
Und Brot im allerweitsten Sinn,
Und konnte nicht einmal mein Teil in Frieden essen.“

MARTHE:
Hat er so aller Treu, so aller Lieb vergessen,
Der Plackerei bei Tag und Nacht!

MEPHISTOPHELES:
Nicht doch, er hat Euch herzlich dran gedacht.
Er sprach: „Als ich nun weg von Malta ging
Da betet ich für Frau und Kinder brünstig;
Uns war denn auch der Himmel günstig,
Daß unser Schiff ein türkisch Fahrzeug fing,
Das einen Schatz des großen Sultans führte.
Da ward der Tapferkeit ihr Lohn,
Und ich empfing denn auch, wie sich’s gebührte,
Mein wohlgemeßnes Teil davon.“

MARTHE:
Ei wie? Ei wo? Hat er’s vielleicht vergraben?

MEPHISTOPHELES:
Wer weiß, wo nun es die vier Winde haben.
Ein schönes Fräulein nahm sich seiner an,
Als er in Napel fremd umherspazierte;
Sie hat an ihm viel Liebs und Treus getan,
Daß er’s bis an sein selig Ende spürte.

MARTHE:
Der Schelm! der Dieb an seinen Kindern!
Auch alles Elend, alle Not
Konnt nicht sein schändlich Leben hindern!

MEPHISTOPHELES:
Ja seht! dafür ist er nun tot.
Wär ich nun jetzt an Eurem Platze,
Betraurt ich ihn ein züchtig Jahr,
Visierte dann unterweil nach einem neuen Schatze.

MARTHE:
Ach Gott! wie doch mein erster war,
Find ich nicht leicht auf dieser Welt den andern!
Es konnte kaum ein herziger Närrchen sein.
Er liebte nur das allzuviele Wandern
Und fremde Weiber und fremden Wein
Und das verfluchte Würfelspiel.

MEPHISTOPHELES:
Nun, nun, so konnt es gehn und stehen,
Wenn er Euch ungefähr so viel
Von seiner Seite nachgesehen.
Ich schwör Euch zu, mit dem Beding
Wechselt ich selbst mit Euch den Ring!

MARTHE:
O es beliebt dem Herrn zu scherzen!

MEPHISTOPHELES (für sich):
Nun mach ich mich beizeiten fort!
Die hielte wohl den Teufel selbst beim Wort.
(Zu Gretchen.)
Wie steht es denn mit Ihrem Herzen?

MARGARETE:
Was meint der Herr damit?

MEPHISTOPHELES (für sich):
Du guts, unschuldigs Kind! (Laut.) Lebt wohl, ihr Fraun!

MARGARETE:
Lebt wohl!

MARTHE:
O sagt mir doch geschwind! Ich möchte gern ein Zeugnis haben,
Wo, wie und wann mein Schatz gestorben und begraben.
Ich bin von je der Ordnung Freund gewesen,
Möcht, ihn auch tot im Wochenblättchen lesen.

MEPHISTOPHELES:
Ja, gute Frau, durch zweier Zeugen Mund
Wird allerwegs die Wahrheit kund;
Habe noch gar einen feinen Gesellen,
Den will ich Euch vor den Richter stellen.
Ich bring ihn her.

MARTHE:
O tut das ja!

MEPHISTOPHELES:
Und hier die Jungfrau ist auch da?
Ein braver Knab! ist viel gereist,
Fräuleins alle Höflichkeit erweist.

MARGARETE:
Müßte vor dem Herren schamrot werden.

MEPHISTOPHELES:
Vor keinem Könige der Erden.

MARTHE:
Da hinterm Haus in meinem Garten
Wollen wir der Herren heut abend warten.

Straße (II)

Faust. Mephistopheles.

FAUST:
Wie ist’s? Will’s fördern? Will’s bald gehn?

MEPHISTOPHELES:
Ah bravo! Find ich Euch in Feuer?
In kurzer Zeit ist Gretchen Euer.
Heut abend sollt Ihr sie bei Nachbar‘ Marthen sehn:
Das ist ein Weib wie auserlesen
Zum Kuppler- und Zigeunerwesen!

FAUST:
So recht!

MEPHISTOPHELES:
Doch wird auch was von uns begehrt.

FAUST:
Ein Dienst ist wohl des andern wert.

MEPHISTOPHELES:
Wir legen nur ein gültig Zeugnis nieder,
Daß ihres Ehherrn ausgereckte Glieder
In Padua an heil’ger Stätte ruhn.

FAUST:
Sehr klug! Wir werden erst die Reise machen müssen!

MEPHISTOPHELES:
Sancta Simplicitas! darum ist’s nicht zu tun;
Bezeugt nur, ohne viel zu wissen.

FAUST:
Wenn Er nichts Bessers hat, so ist der Plan zerrissen.

MEPHISTOPHELES:
O heil’ger Mann! Da wärt Ihr’s nun!
Ist es das erstemal in eurem Leben,
Daß Ihr falsch Zeugnis abgelegt?
Habt Ihr von Gott, der Welt und was sich drin bewegt,
Vom Menschen, was sich ihm in den Kopf und Herzen regt,
Definitionen nicht mit großer Kraft gegeben?
Mit frecher Stirne, kühner Brust?
Und wollt Ihr recht ins Innre gehen,
Habt Ihr davon, Ihr müßt es grad gestehen,
So viel als von Herrn Schwerdtleins Tod gewußt!

FAUST:
Du bist und bleibst ein Lügner, ein Sophiste.

MEPHISTOPHELES:
Ja, wenn man’s nicht ein bißchen tiefer wüßte.
Denn morgen wirst, in allen Ehren,
Das arme Gretchen nicht betören
Und alle Seelenlieb ihr schwören?

FAUST:
Und zwar von Herzen.

MEPHISTOPHELES:
Gut und schön! Dann wird von ewiger Treu und Liebe,
von einzig überallmächt’gem Triebe-
Wird das auch so von Herzen gehn?

FAUST:
Laß das! Es wird!- Wenn ich empfinde,
Für das Gefühl, für das Gewühl
Nach Namen suche, keinen finde,
Dann durch die Welt mit allen Sinnen schweife,
Nach allen höchsten Worten greife,
Und diese Glut, von der ich brenne,
Unendlich, ewig, ewig nenne,
Ist das ein teuflisch Lügenspiel?

MEPHISTOPHELES:
Ich hab doch recht!

FAUST:
Hör! merk dir dies- Ich bitte dich, und schone meine Lunge-:
Wer recht behalten will und hat nur eine Zunge,
Behält’s gewiß.
Und komm, ich hab des Schwätzens Überdruß,
Denn du hast recht, vorzüglich weil ich muß.

Garten

Margarete an Faustens Arm, Marthe mit Mephistopheles auf und ab spazierend.

MARGARETE:
Ich fühl es wohl, daß mich der Herr nur schont,
Herab sich läßt, mich zu beschämen.
Ein Reisender ist so gewohnt,
Aus Gütigkeit fürliebzunehmen;
Ich weiß zu gut, daß solch erfahrnen Mann
Mein arm Gespräch nicht unterhalten kann.

FAUST:
Ein Blick von dir, ein Wort mehr unterhält
Als alle Weisheit dieser Welt.
(Er küßt ihre Hand.)

MARGARETE:
Inkommodiert Euch nicht! Wie könnt Ihr sie nur küssen?
Sie ist so garstig, ist so rauh!
Was hab ich nicht schon alles schaffen müssen!
Die Mutter ist gar zu genau.
(Gehn vorüber.)

MARTHE:
Und Ihr, mein Herr, Ihr reist so immer fort?

MEPHISTOPHELES:
Ach, daß Gewerb und Pflicht uns dazu treiben!
Mit wieviel Schmerz verläßt man manchen Ort
Und darf doch nun einmal nicht bleiben!

MARTHE:
In raschen Jahren geht’s wohl an
So um und um frei durch die Welt zu streifen;
Doch kömmt die böse Zeit heran,
Und sich als Hagestolz allein zum Grab zu schleifen,
Das hat noch keinem wohlgetan.

MEPHISTOPHELES:
Mit Grausen seh ich das von weiten.

MARTHE:
Drum, werter Herr, beratet Euch in Zeiten.
(Gehn vorüber.)

MARGARETE:
Ja, aus den Augen, aus dem Sinn!
Die Höflichkeit ist Euch geläufig;
Allein Ihr habt der Freunde häufig,
Sie sind verständiger, als ich bin.

FAUST:
O Beste! glaube, was man so verständig nennt,
Ist oft mehr Eitelkeit und Kurzsinn.

MARGARETE:
Wie?

FAUST:
Ach, daß die Einfalt, daß die Unschuld nie
Sich selbst und ihren heil’gen Wert erkennt!
Daß Demut Niedrigkeit, die höchsten Gaben
Der liebevoll austeilenden Natur-

MARGARETE:
Denkt Ihr an mich ein Augenblickchen nur,
Ich werde Zeit genug an Euch zu denken haben.

FAUST:
Ihr seid wohl viel allein?

MARGARETE:
Ja, unsre Wirtschaft ist nur klein,
Und doch will sie versehen sein.
Wir haben keine Magd; muß kochen, fegen, stricken
Und nähn und laufen früh und spat;
Und meine Mutter ist in allen Stücken
So akkurat!
Nicht daß sie just so sehr sich einzuschränken hat;
Wir könnten uns weit eh’r als andre regen:
Mein Vater hinterließ ein hübsch Vermögen,
Ein Häuschen und ein Gärtchen vor der Stadt.
Doch hab ich jetzt so ziemlich stille Tage:
Mein Bruder ist Soldat,
Mein Schwesterchen ist tot.
Ich hatte mit dem Kind wohl meine liebe Not;
Doch übernähm ich gern noch einmal alle Plage,
So lieb war mir das Kind.

FAUST:
Ein Engel, wenn dir’s glich.

MARGARETE:
Ich zog es auf, und herzlich liebt es mich.
Es war nach meines Vaters Tod geboren.
Die Mutter gaben wir verloren,
So elend wie sie damals lag,
Und sie erholte sich sehr langsam, nach und nach.
Da konnte sie nun nicht dran denken,
Das arme Würmchen selbst zu tränken,
Und so erzog ich’s ganz allein,
Mit Milch und Wasser, so ward’s mein
Auf meinem Arm, in meinem Schoß
War’s freundlich, zappelte, ward groß.

FAUST:
Du hast gewiß das reinste Glück empfunden.

MARGARETE:
Doch auch gewiß gar manche schwere Stunden.
Des Kleinen Wiege stand zu Nacht
An meinem Bett; es durfte kaum sich regen,
War ich erwacht;
Bald mußt ich’s tränken, bald es zu mir legen
Bald, wenn’s nicht schwieg, vom Bett aufstehn
Und tänzelnd in der Kammer auf und nieder gehn,
Und früh am Tage schon am Waschtrog stehn;
Dann auf dem Markt und an dem Herde sorgen,
Und immer fort wie heut so morgen.
Da geht’s, mein Herr, nicht immer mutig zu;
Doch schmeckt dafür das Essen, schmeckt die Ruh.
(Gehn vorüber.)

MARTHE:
Die armen Weiber sind doch übel dran:
Ein Hagestolz ist schwerlich zu bekehren.

MEPHISTOPHELES:
Es käme nur auf Euresgleichen an,
Mich eines Bessern zu belehren.

MARTHE:
Sagt grad, mein Herr, habt Ihr noch nichts gefunden?
Hat sich das Herz nicht irgendwo gebunden?

MEPHISTOPHELES:
Das Sprichwort sagt: Ein eigner Herd,
Ein braves Weib sind Gold und Perlen wert.

MARTHE:
Ich meine: ob Ihr niemals Lust bekommen?

MEPHISTOPHELES:
Man hat mich überall recht höflich aufgenommen.

MARTHE:
Ich wollte sagen: ward’s nie Ernst in Eurem Herzen?

MEPHISTOPHELES:
Mit Frauen soll man sich nie unterstehn zu scherzen.

MARTHE:
Ach, Ihr versteht mich nicht!

MEPHISTOPHELES:
Das tut mir herzlich leid! Doch ich versteh- daß Ihr sehr gütig seid.
(Gehn vorüber.)

FAUST:
Du kanntest mich, o kleiner Engel, wieder,
Gleich als ich in den Garten kam?

MARGARETE:
Saht Ihr es nicht, ich schlug die Augen nieder.

FAUST:
Und du verzeihst die Freiheit, die ich nahm?
Was sich die Frechheit unterfangen,
Als du jüngst aus dem Dom gegangen?

MARGARETE:
Ich war bestürzt, mir war das nie geschehn;
Es konnte niemand von mir Übels sagen.
Ach, dacht ich, hat er in deinem Betragen
Was Freches, Unanständiges gesehn?
Es schien ihn gleich nur anzuwandeln,
Mit dieser Dirne gradehin zu handeln.
Gesteh ich’s doch! Ich wußte nicht, was sich
Zu Eurem Vorteil hier zu regen gleich begonnte;
Allein gewiß, ich war recht bös auf mich,
Daß ich auf Euch nicht böser werden konnte.

FAUST:
Süß Liebchen!

MARGARETE:
Laßt einmal!
(Sie pflückt eine Sternblume und zupft die Blätter ab, eins nach dem
andern.)

FAUST:
Was soll das? Einen Strauß?

MARGARETE:
Nein, es soll nur ein Spiel.

FAUST:
Wie?

MARGARETE:
Geht! Ihr lacht mich aus.
(Sie rupft und murmelt.)

FAUST:
Was murmelst du?

MARGARETE (halblaut):
Er liebt mich- liebt mich nicht.
FAUST:
Du holdes Himmelsangesicht!

MARGARETE (fährt fort):
Liebt mich- nicht- liebt mich- nicht-
(Das letzte Blatt ausrupfend, mit holder Freude.)
Er liebt mich!

FAUST:
Ja, mein Kind! Laß dieses Blumenwort Dir Götterausspruch sein. Er liebt
dich!
Verstehst du, was das heißt? Er liebt dich!
(Er faßt ihre beiden Hände.)

MARGARETE:
Mich überläuft’s!

FAUST:
O schaudre nicht! Laß diesen Blick,
Laß diesen Händedruck dir sagen
Was unaussprechlich ist:
Sich hinzugeben ganz und eine Wonne
Zu fühlen, die ewig sein muß!
Ewig!- Ihr Ende würde Verzweiflung sein
Nein, kein Ende! Kein Ende!
(Margarete drückt ihm die Hände, macht sich los und läuft weg. Er steht
einen Augenblick in Gedanken, dann folgt er ihr.)

MARTHE (kommend):
Die Nacht bricht an.

MEPHISTOPHELES:
Ja, und wir wollen fort.

MARTHE:
Ich bät Euch, länger hier zu bleiben,
Allein es ist ein gar zu böser Ort.
Es ist, als hätte niemand nichts zu treiben
Und nichts zu schaffen,
Als auf des Nachbarn Schritt und Tritt zu gaffen,
Und man kommt ins Gered, wie man sich immer stellt.
Und unser Pärchen?

MEPHISTOPHELES:
Ist den Gang dort aufgeflogen. Mutwill’ge Sommervögel!

MARTHE:
Er scheint ihr gewogen.

MEPHISTOPHELES:
Und sie ihm auch. Das ist der Lauf der Welt.

Ein Gartenhäuschen

Margarete springt herein, steckt sich hinter die Tür, hält die Fingerspitze
an die Lippen und guckt durch die Ritze.

MARGARETE: Er kommt!

FAUST (kommt):
Ach, Schelm, so neckst du mich! Treff ich dich!
(Er küßt sie.)

MARGARETE (ihn fassend und den Kuß zurückgebend):
Bester Mann! von Herzen lieb ich dich!
(Mephistopheles klopft an.)

FAUST (stampfend):
Wer da?

MEPHISTOPHELES:
Gut Freund!

FAUST:
Ein Tier!

MEPHISTOPHELES:
Es ist wohl Zeit zu scheiden.

MARTHE (kommt):
Ja, es ist spät, mein Herr.

FAUST:
Darf ich Euch nicht geleiten?

MARGARETE:
Die Mutter würde mich- Lebt wohl!

FAUST:
Muß ich denn gehn? Lebt wohl!

MARTHE:
Ade!

MARGARETE:
Auf baldig Wiedersehn!
(Faust und Mephistopheles ab.)

MARGARETE:
Du lieber Gott! was so ein Mann
Nicht alles, alles denken kann!
Beschämt nur steh ich vor ihm da
Und sag zu allen Sachen ja.
Bin doch ein arm unwissend Kind,
Begreife nicht, was er an mir findt.
(Ab.)

Wald und Höhle

Faust allein.

Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,
Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zugewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir, in ihre tiefe Brust
Wie in den Busen eines Freunds zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.
Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,
Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste
Und Nachbarstämme quetschend niederstreift
Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert,
Dann führst du mich zur sichern Höhle, zeigst
Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust
Geheime tiefe Wunder öffnen sich.
Und steigt vor meinem Blick der reine Mond
Besänftigend herüber, schweben mir
Von Felsenwänden, aus dem feuchten Busch
Der Vorwelt silberne Gestalten auf
Und lindern der Betrachtung strenge Lust.

O daß dem Menschen nichts Vollkommnes wird,
Empfind ich nun. Du gabst zu dieser Wonne,
Die mich den Göttern nah und näher bringt,
Mir den Gefährten, den ich schon nicht mehr
Entbehren kann, wenn er gleich, kalt und frech,
Mich vor mir selbst erniedrigt und zu Nichts,
Mit einem Worthauch, deine Gaben wandelt.
Er facht in meiner Brust ein wildes Feuer
Nach jenem schönen Bild geschäftig an.
So tauml ich von Begierde zu Genuß,
Und im Genuß verschmacht ich nach Begierde.
(Mephistopheles tritt auf.)

MEPHISTOPHELES:
Habt Ihr nun bald das Leben gnug geführt?
Wie kann’s Euch in die Länge freuen?
Es ist wohl gut, daß man’s einmal probiert
Dann aber wieder zu was Neuen!

FAUST:
Ich wollt, du hättest mehr zu tun,
Als mich am guten Tag zu plagen.

MEPHISTOPHELES:
Nun, nun! ich laß dich gerne ruhn,
Du darfst mir’s nicht im Ernste sagen.
An dir Gesellen, unhold, barsch und toll,
Ist wahrlich wenig zu verlieren.
Den ganzen Tag hat man die Hände voll!
Was ihm gefällt und was man lassen soll,
Kann man dem Herrn nie an der Nase spüren.

FAUST:
Das ist so just der rechte Ton!
Er will noch Dank, daß er mich ennuyiert.

MEPHISTOPHELES:
Wie hättst du, armer Erdensohn
Dein Leben ohne mich geführt?
Vom Kribskrabs der Imagination
Hab ich dich doch auf Zeiten lang kuriert;
Und wär ich nicht, so wärst du schon
Von diesem Erdball abspaziert.
Was hast du da in Höhlen, Felsenritzen
Dich wie ein Schuhu zu versitzen?
Was schlurfst aus dumpfem Moos und triefendem Gestein
Wie eine Kröte Nahrung ein?
Ein schöner, süßer Zeitvertreib!
Dir steckt der Doktor noch im Leib.

FAUST:
Verstehst du, was für neue Lebenskraft
Mir dieser Wandel in der Öde schafft?
Ja, würdest du es ahnen können,
Du wärest Teufel gnug, mein Glück mir nicht zu gönnen.

MEPHISTOPHELES:
Ein überirdisches Vergnügen.
In Nacht und Tau auf den Gebirgen liegen
Und Erd und Himmel wonniglich umfassen,
Zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen,
Der Erde Mark mit Ahnungsdrang durchwühlen,
Alle sechs Tagewerk im Busen fühlen,
In stolzer Kraft ich weiß nicht was genießen,
Bald liebewonniglich in alles überfließen,
Verschwunden ganz der Erdensohn,
Und dann die hohe Intuition-
(mit einer Gebärde)
Ich darf nicht sagen, wie- zu schließen.

FAUST:
Pfui über dich!

MEPHISTOPHELES:
Das will Euch nicht behagen; Ihr habt das Recht, gesittet pfui zu sagen.
Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
Was keusche Herzen nicht entbehren können.
Und kurz und gut, ich gönn Ihm das Vergnügen,
Gelegentlich sich etwas vorzulügen;
Doch lange hält Er das nicht aus.
Du bist schon wieder abgetrieben
Und, währt es länger, aufgerieben
In Tollheit oder Angst und Graus.
Genug damit! Dein Liebchen sitzt dadrinne,
Und alles wird ihr eng und trüb.
Du kommst ihr gar nicht aus dem Sinne,
Sie hat dich übermächtig lieb.
Erst kam deine Liebeswut übergeflossen,
Wie vom geschmolznen Schnee ein Bächlein übersteigt;
Du hast sie ihr ins Herz gegossen,
Nun ist dein Bächlein wieder seicht.
Mich dünkt, anstatt in Wäldern zu thronen,
Ließ‘ es dem großen Herren gut,
Das arme affenjunge Blut
Für seine Liebe zu belohnen.
Die Zeit wird ihr erbärmlich lang;
Sie steht am Fenster, sieht die Wolken ziehn
Über die alte Stadtmauer hin.
„Wenn ich ein Vöglein wär!“ so geht ihr Gesang
Tage lang, halbe Nächte lang.
Einmal ist sie munter, meist betrübt,
Einmal recht ausgeweint,
Dann wieder ruhig, wie’s scheint,
Und immer verliebt.

FAUST:
Schlange! Schlange!

MEPHISTOPHELES (für sich):
Gelt! daß ich dich fange!

FAUST:
Verruchter! hebe dich von hinnen,
Und nenne nicht das schöne Weib!
Bring die Begier zu ihrem süßen Leib
Nicht wieder vor die halb verrückten Sinnen!

MEPHISTOPHELES:
Was soll es denn? Sie meint, du seist entflohn,
Und halb und halb bist du es schon.

FAUST:
Ich bin ihr nah, und wär ich noch so fern,
Ich kann sie nie vergessen, nie verlieren
Ja, ich beneide schon den Leib des Herrn,
Wenn ihre Lippen ihn indes berühren.

MEPHISTOPHELES:
Gar wohl, mein Freund! Ich hab Euch oft beneidet
Ums Zwillingspaar, das unter Rosen weidet.

FAUST:
Entfliehe, Kuppler!

MEPHISTOPHELES:
Schön! Ihr schimpft, und ich muß lachen. Der Gott, der Bub‘ und Mädchen
schuf,
Erkannte gleich den edelsten Beruf,
Auch selbst Gelegenheit zu machen.
Nur fort, es ist ein großer Jammer!
Ihr sollt in Eures Liebchens Kammer,
Nicht etwa in den Tod.

FAUST:
Was ist die Himmelsfreud in ihren Armen?
Laß mich an ihrer Brust erwarmen!
Fühl ich nicht immer ihre Not?
Bin ich der Flüchtling nicht? der Unbehauste?
Der Unmensch ohne Zweck und Ruh,
Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste,
Begierig wütend nach dem Abgrund zu?
Und seitwärts sie, mit kindlich dumpfen Sinnen,
Im Hüttchen auf dem kleinen Alpenfeld,
Und all ihr häusliches Beginnen
Umfangen in der kleinen Welt.
Und ich, der Gottverhaßte,
Hatte nicht genug,
Daß ich die Felsen faßte
Und sie zu Trümmern schlug!
Sie, ihren Frieden mußt ich untergraben!
Du, Hölle, mußtest dieses Opfer haben.
Hilf, Teufel, mir die Zeit der Angst verkürzen.
Was muß geschehn, mag’s gleich geschehn!
Mag ihr Geschick auf mich zusammenstürzen
Und sie mit mir zugrunde gehn!

MEPHISTOPHELES:
Wie’s wieder siedet, wieder glüht!
Geh ein und tröste sie, du Tor!
Wo so ein Köpfchen keinen Ausgang sieht,
Stellt er sich gleich das Ende vor.
Es lebe, wer sich tapfer hält!
Du bist doch sonst so ziemlich eingeteufelt.
Nichts Abgeschmackters find ich auf der Welt
Als einen Teufel, der verzweifelt.

Gretchens Stube.

Gretchen (am Spinnrad, allein).

GRETCHEN:
Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer;
Ich finde sie nimmer
und nimmermehr.

Wo ich ihn nicht hab,
Ist mir das Grab,
Die ganze Welt
Ist mir vergällt.

Mein armer Kopf
Ist mir verrückt,
Meiner armer Sinn
Ist mir zerstückt.

Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
und nimmermehr.

Nach ihm nur schau ich
Zum Fenster hinaus,
Nach ihm nur geh ich
Aus dem Haus.

Sein hoher Gang,
Sein edle Gestalt,
Seines Mundes Lächeln,
Seiner Augen Gewalt,

Und seiner Rede
Zauberfluß,
Sein Händedruck,
Und ach! sein Kuß!

Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer
und nimmermehr.

Mein Busen drängt
Sich nach ihm hin,
Ach dürft ich fassen
Und halten ihn,

Und küssen ihn,
So wie ich wollt,
An seinen Küssen
Vergehen sollt!

Marthens Garten

Margarete. Faust.

MARGARETE:
Versprich mir, Heinrich!

FAUST:
Was ich kann!

MARGARETE:
Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?
Du bist ein herzlich guter Mann,
Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.

FAUST:
Laß das, mein Kind! Du fühlst, ich bin dir gut;
Für meine Lieben ließ‘ ich Leib und Blut,
Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.

MARGARETE:
Das ist nicht recht, man muß dran glauben.

FAUST:
Muß man?

MARGARETE:
Ach! wenn ich etwas auf dich konnte! Du ehrst auch nicht die heil’gen
Sakramente.

FAUST:
Ich ehre sie.

MARGARETE:
Doch ohne Verlangen. Zur Messe, zur Beichte bist du lange nicht gegangen.
Glaubst du an Gott?

FAUST:
Mein Liebchen, wer darf sagen: Ich glaub an Gott?
Magst Priester oder Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint nur Spott
Über den Frager zu sein.

MARGARETE:
So glaubst du nicht?

FAUST:
Mißhör mich nicht, du holdes Angesicht!
Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
„Ich glaub ihn!“?
Wer empfinden,
Und sich unterwinden
Zu sagen: „Ich glaub ihn nicht!“?
Der Allumfasser,
Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht
Dich, mich, sich selbst?
Wölbt sich der Himmel nicht da droben?
Liegt die Erde nicht hier unten fest?
Und steigen freundlich blickend
Ewige Sterne nicht herauf?
Schau ich nicht Aug in Auge dir,
Und drängt nicht alles
Nach Haupt und Herzen dir,
Und webt in ewigem Geheimnis
Unsichtbar sichtbar neben dir?
Erfüll davon dein Herz, so groß es ist,
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn es dann, wie du willst,
Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.

MARGARETE:
Das ist alles recht schön und gut;
Ungefähr sagt das der Pfarrer auch,
Nur mit ein bißchen andern Worten.

FAUST:
Es sagen’s allerorten
Alle Herzen unter dem himmlischen Tage,
Jedes in seiner Sprache;
Warum nicht ich in der meinen?

MARGARETE:
Wenn man’s so hört, möcht’s leidlich scheinen,
Steht aber doch immer schief darum;
Denn du hast kein Christentum.

FAUST:
Liebs Kind!

MARGARETE:
Es tut mir lange schon weh, Daß ich dich in der Gesellschaft seh.

FAUST:
Wieso?

MARGARETE:
Der Mensch, den du da bei dir hast, Ist mir in tiefer innrer Seele verhaßt;
Es hat mir in meinem Leben
So nichts einen Stich ins Herz gegeben
Als des Menschen widrig Gesicht.

FAUST:
Liebe Puppe, fürcht ihn nicht!

MARGARETE:
Seine Gegenwart bewegt mir das Blut.
Ich bin sonst allen Menschen gut;
Aber wie ich mich sehne, dich zu schauen,
Hab ich vor dem Menschen ein heimlich Grauen,
Und halt ihn für einen Schelm dazu!
Gott verzeih mir’s, wenn ich ihm unrecht tu!

FAUST:
Es muß auch solche Käuze geben.

MARGARETE:
Wollte nicht mit seinesgleichen leben!
Kommt er einmal zur Tür herein,
Sieht er immer so spöttisch drein
Und halb ergrimmt;
Man sieht, daß er an nichts keinen Anteil nimmt;
Es steht ihm an der Stirn geschrieben,
Daß er nicht mag eine Seele lieben.
Mir wird’s so wohl in deinem Arm,
So frei, so hingegeben warm,
Und seine Gegenwart schnürt mir das Innre zu.

FAUST:
Du ahnungsvoller Engel du!

MARGARETE:
Das übermannt mich so sehr,
Daß, wo er nur mag zu uns treten,
Mein ich sogar, ich liebte dich nicht mehr.
Auch, wenn er da ist, könnt ich nimmer beten,
Und das frißt mir ins Herz hinein;
Dir, Heinrich, muß es auch so sein.

FAUST:
Du hast nun die Antipathie!

MARGARETE:
Ich muß nun fort.

FAUST:
Ach kann ich nie Ein Stündchen ruhig dir am Busen hängen
Und Brust an Brust und Seel in Seele drängen?

MARGARETE:
Ach wenn ich nur alleine schlief!
Ich ließ dir gern heut nacht den Riegel offen;
Doch meine Mutter schläft nicht tief,
Und würden wir von ihr betroffen,
Ich wär gleich auf der Stelle tot!

FAUST:
Du Engel, das hat keine Not.
Hier ist ein Fläschchen!
Drei Tropfen nur In ihren Trank umhüllen
Mit tiefem Schlaf gefällig die Natur.

MARGARETE:
Was tu ich nicht um deinetwillen?
Es wird ihr hoffentlich nicht schaden!

FAUST:
Würd ich sonst, Liebchen, dir es raten?

MARGARETE:
Seh ich dich, bester Mann, nur an,
Weiß nicht, was mich nach deinem Willen treibt,
Ich habe schon so viel für dich getan,
Daß mir zu tun fast nichts mehr übrigbleibt.
(Ab.)

(Mephistopheles tritt auf.)

MEPHISTOPHELES:
Der Grasaff! ist er weg?

FAUST:
Hast wieder spioniert?

MEPHISTOPHELES:
Ich hab’s ausführlich wohl vernommen,
Herr Doktor wurden da katechisiert;
Hoff, es soll Ihnen wohl bekommen.
Die Mädels sind doch sehr interessiert,
Ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch.
Sie denken: duckt er da, folgt er uns eben auch.

FAUST:
Du Ungeheuer siehst nicht ein,
Wie diese treue liebe Seele
Von ihrem Glauben voll,
Der ganz allein
Ihr seligmachend ist, sich heilig quäle,
Daß sie den liebsten Mann verloren halten soll.

MEPHISTOPHELES:
Du übersinnlicher sinnlicher Freier,
Ein Mägdelein nasführet dich.

FAUST:
Du Spottgeburt von Dreck und Feuer!

MEPHISTOPHELES:
Und die Physiognomie versteht sie meisterlich:
In meiner Gegenwart wird’s ihr, sie weiß nicht wie,
Mein Mäskchen da weissagt verborgnen Sinn;
Sie fühlt, daß ich ganz sicher ein Genie,
Vielleicht wohl gar der Teufel bin.
Nun, heute nacht-?

FAUST:
Was geht dich’s an?

MEPHISTOPHELES:
Hab ich doch meine Freude dran!

Am Brunnen

Gretchen und Lieschen mit Krügen.

LIESCHEN:
Hast nichts von Bärbelchen gehört?

GRETCHEN:
Kein Wort. Ich komm gar wenig unter Leute.

LIESCHEN:
Gewiß, Sibylle sagt‘ mir’s heute:
Die hat sich endlich auch betört.
Das ist das Vornehmtun!

GRETCHEN:
Wieso?

LIESCHEN:
Es stinkt! Sie füttert zwei, wenn sie nun ißt und trinkt.

GRETCHEN:
Ach!

LIESCHEN:
So ist’s ihr endlich recht ergangen.
Wie lange hat sie an dem Kerl gehangen!
Das war ein Spazieren,
Auf Dorf und Tanzplatz Führen,
Mußt überall die Erste sein,
Kurtesiert ihr immer mit Pastetchen und Wein;
Bildt sich was auf ihre Schönheit ein,
War doch so ehrlos, sich nicht zu schämen,
Geschenke von ihm anzunehmen.
War ein Gekos und ein Geschleck;
Da ist denn auch das Blümchen weg!

GRETCHEN:
Das arme Ding!

LIESCHEN:
Bedauerst sie noch gar! Wenn unsereins am Spinnen war,
Uns nachts die Mutter nicht hinunterließ,
Stand sie bei ihrem Buhlen süß;
Auf der Türbank und im dunkeln Gang
Ward ihnen keine Stunde zu lang.
Da mag sie denn sich ducken nun,
Im Sünderhemdchen Kirchbuß tun!

GRETCHEN:
Er nimmt sie gewiß zu seiner Frau.

LIESCHEN:
Er wär ein Narr! Ein flinker Jung
Hat anderwärts noch Luft genung.
Er ist auch fort.

GRETCHEN:
Das ist nicht schön!

LIESCHEN:
Kriegt sie ihn, soll’s ihr übel gehn,
Das Kränzel reißen die Buben ihr,
Und Häckerling streuen wir vor die Tür!
(Ab.)

GRETCHEN: (nach Hause gehend):
Wie konnt ich sonst so tapfer schmälen,
Wenn tät ein armes Mägdlein fehlen!
Wie konnt ich über andrer Sünden
Nicht Worte gnug der Zunge finden!
Wie schien mir’s schwarz, und schwärzt’s noch gar,
Mir’s immer doch nicht schwarz gnug war,
Und segnet mich und tat so groß,
Und bin nun selbst der Sünde bloß!
Doch- alles, was dazu mich trieb,
Gott! war so gut! ach, war so lieb!

Zwinger

In der Mauerhöhle ein Andachtsbild der Mater dolorosa, Blumenkruge davor. Gretchen steckt frische Blumen in die Kruge.

Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!

Das Schwert im Herzen,
Mit tausend Schmerzen
Blickst auf zu deines Sohnes Tod.

Zum Vater blickst du,
Und Seufzer schickst du
Hinauf um sein‘ und deine Not.

Wer fühlet,
Wie wühlet
Der Schmerz mir im Gebein?
Was mein armes Herz hier banget,
Was es zittert, was verlanget,
Weißt nur du, nur du allein!

Wohin ich immer gehe
Wie weh, wie weh, wie wehe
Wird mir im Busen hier!
Ich bin, ach! kaum alleine,
Ich wein, ich wein, ich weine,
Das Herz zerbricht in mir.

Die Scherben vor meinem Fenster
Betaut ich mit Tränen, ach!
Als ich am frühen Morgen
Dir diese Blumen brach.

Schien hell in meine Kammer
Die Sonne früh herauf,
Saß ich in allem Jammer
In meinem Bett schon auf.

Hilf! rette mich von Schmach und Tod!
Ach neige,
Du Schmerzenreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!

Nacht. Straße vor Gretchens Türe

Valentin, Soldat, Gretchens Bruder.

Wenn ich so saß bei einem Gelag,
Wo mancher sich berühmen mag,
Und die Gesellen mir den Flor
Der Mägdlein laut gepriesen vor,
Mit vollem Glas das Lob verschwemmt,
Den Ellenbogen aufgestemmt,
Saß ich in meiner sichern Ruh,
Hört all dem Schwadronieren zu
Und streiche lächelnd meinen Bart
Und kriege das volle Glas zur Hand
Und sage: „Alles nach seiner Art!
Aber ist eine im ganzen Land,
Die meiner trauten Gretel gleicht,
Die meiner Schwester das Wasser reicht?“
Topp! Topp! Kling! Klang! das ging herum;
Die einen schrieen: „Er hat recht,
Sie ist die Zier vom ganzen Geschlecht.“
Da saßen alle die Lober stumm.
Und nun!- um’s Haar sich auszuraufen
Und an den Wänden hinaufzulaufen!-
Mit Stichelreden, Naserümpfen
Soll jeder Schurke mich beschimpfen!
Soll wie ein böser Schuldner sitzen
Bei jedem Zufallswörtchen schwitzen!
Und möcht ich sie zusammenschmeißen
Könnt ich sie doch nicht Lügner heißen.

Was kommt heran? Was schleicht herbei?
Irr ich nicht, es sind ihrer zwei.
Ist er’s, gleich pack ich ihn beim Felle
Soll nicht lebendig von der Stelle!

Faust. Mephistopheles.

FAUST:
Wie von dem Fenster dort der Sakristei
Aufwärts der Schein des Ew’gen Lämpchens flämmert
Und schwach und schwächer seitwärts dämmert,
Und Finsternis drängt ringsum bei!
So sieht’s in meinem Busen nächtig.

MEPHISTOPHELES:
Und mir ist’s wie dem Kätzlein schmächtig,
Das an den Feuerleitern schleicht,
Sich leis dann um die Mauern streicht;
Mir ist’s ganz tugendlich dabei,
Ein bißchen Diebsgelüst, ein bißchen Rammelei.
So spukt mir schon durch alle Glieder
Die herrliche Walpurgisnacht.
Die kommt uns übermorgen wieder,
Da weiß man doch, warum man wacht.

FAUST:
Rückt wohl der Schatz indessen in die Höh,
Den ich dort hinten flimmern seh?

MEPHISTOPHELES:
Du kannst die Freude bald erleben,
Das Kesselchen herauszuheben.
Ich schielte neulich so hinein,
Sind herrliche Löwentaler drein.

FAUST:
Nicht ein Geschmeide, nicht ein Ring,
Meine liebe Buhle damit zu zieren?

MEPHISTOPHELES:
Ich sah dabei wohl so ein Ding,
Als wie eine Art von Perlenschnüren.

FAUST:
So ist es recht! Mir tut es weh,
Wenn ich ohne Geschenke zu ihr geh.

MEPHISTOPHELES:
Es sollt Euch eben nicht verdrießen,
Umsonst auch etwas zu genießen.
Jetzt, da der Himmel voller Sterne glüht,
Sollt Ihr ein wahres Kunststück hören:
Ich sing ihr ein moralisch Lied,
Um sie gewisser zu betören. (Singt zur Zither.) Was machst du mir
Vor Liebchens Tür,
Kathrinchen, hier
Bei frühem Tagesblicke?
Laß, laß es sein!
Er läßt dich ein
Als Mädchen ein,
Als Mädchen nicht zurücke.

Nehmt euch in acht!
Ist es vollbracht,
Dann gute Nacht‘
Ihr armen, armen Dinger!
Habt ihr euch lieb,
Tut keinem Dieb
Nur nichts zulieb
Als mit dem Ring am Finger.

VALENTIN (tritt vor):
Wen lockst du hier? beim Element!
Vermaledeiter Rattenfänger!
Zum Teufel erst das Instrument!
Zum Teufel hinterdrein den Sänger!

MEPHISTOPHELES:
Die Zither ist entzwei! an der ist nichts zu halten.

VALENTIN:
Nun soll es an ein Schädelspalten!

MEPHISTOPHELES (zu Faust):
Herr Doktor, nicht gewichen! Frisch!
Hart an mich an, wie ich Euch führe.
Heraus mit Eurem Flederwisch!
Nur zugestoßen! ich pariere.

VALENTIN:
Pariere den!

MEPHISTOPHELES:
Warum denn nicht?

VALENTIN:
Auch den!

MEPHISTOPHELES:
Gewiß!

VALENTIN:
Ich glaub, der Teufel ficht! Was ist denn das? Schon wird die Hand mir
lahm.

MEPHISTOPHELES (zu Faust):
Stoß zu!

VALENTIN (fällt):
O weh!

MEPHISTOPHELES:
Nun ist der Lümmel zahm! Nun aber fort! Wir müssen gleich verschwinden
Denn schon entsteht ein mörderlich Geschrei.
Ich weiß mich trefflich mit der Polizei,
Doch mit dem Blutbann schlecht mich abzufinden.

MARTHE (am Fenster):
Heraus! Heraus!

GRETCHEN (am Fenster):
Herbei ein Licht!

MARTHE (wie oben):
Man schilt und rauft, man schreit und ficht.

VOLK:
Da liegt schon einer tot!

MARTHE (heraustretend):
Die Mörder, sind sie denn entflohn?

GRETCHEN (heraustretend):
Wer liegt hier?

VOLK:
Deiner Mutter Sohn.

GRETCHEN:
Allmächtiger! welche Not!

VALENTIN:
Ich sterbe! das ist bald gesagt
Und balder noch getan.
Was steht ihr Weiber, heult und klagt?
Kommt her und hört mich an!
(Alle treten um ihn.)
Mein Gretchen, sieh! du bist noch jung,
Bist gar noch nicht gescheit genung,
Machst deine Sachen schlecht.
Ich sag dir’s im Vertrauen nur:
Du bist doch nun einmal eine Hur,
So sei’s auch eben recht!

GRETCHEN:
Mein Bruder! Gott! Was soll mir das?

VALENTIN:
Laß unsern Herrgott aus dem Spaß!
Geschehn ist leider nun geschehn
Und wie es gehn kann, so wird’s gehn.
Du fingst mit einem heimlich an
Bald kommen ihrer mehre dran,
Und wenn dich erst ein Dutzend hat,
So hat dich auch die ganze Stadt.

Wenn erst die Schande wird geboren,
Wird sie heimlich zur Welt gebracht,
Und man zieht den Schleier der Nacht
Ihr über Kopf und Ohren;
Ja, man möchte sie gern ermorden.
Wächst sie aber und macht sich groß,
Dann geht sie auch bei Tage bloß
Und ist doch nicht schöner geworden.
Je häßlicher wird ihr Gesicht,
Je mehr sucht sie des Tages Licht.

Ich seh wahrhaftig schon die Zeit,
Daß alle brave Bürgersleut,
Wie von einer angesteckten Leichen,
Von dir, du Metze! seitab weichen.
Dir soll das Herz im Leib verzagen,
Wenn sie dir in die Augen sehn!
Sollst keine goldne Kette mehr tragen!
In der Kirche nicht mehr am Altar stehn!
In einem schönen Spitzenkragen
Dich nicht beim Tanze wohlbehagen!
In eine finstre Jammerecken
Unter Bettler und Krüppel dich verstecken,
Und, wenn dir dann auch Gott verzeiht,
Auf Erden sein vermaledeit!

MARTHE:
Befehlt Eure Seele Gott zu Gnaden!
Wollt Ihr noch Lästrung auf Euch laden?

VALENTIN:
Könnt ich dir nur an den dürren Leib,
Du schändlich kupplerisches Weib!
Da hofft ich aller meiner Sünden
Vergebung reiche Maß zu finden.

GRETCHEN:
Mein Bruder! Welche Höllenpein!

VALENTIN:
Ich sage, laß die Tränen sein!
Da du dich sprachst der Ehre los,
Gabst mir den schwersten Herzensstoß.
Ich gehe durch den Todesschlaf
Zu Gott ein als Soldat und brav.
(Stirbt.)

Dom

Amt, Orgel und Gesang. Gretchen unter vielem Volke. Böser Geist hinter
Gretchen.

BÖSER GEIST:
Wie anders, Gretchen, war dir’s,
Als du noch voll Unschuld
Hier zum Altar tratst
Aus dem vergriffnen Büchelchen
Gebete lalltest,
Halb Kinderspiele,
Halb Gott im Herzen!
Gretchen!
Wo steht dein Kopf?
In deinem Herzen
Welche Missetat?
Betst du für deiner Mutter Seele, die
Durch dich zur langen, langen Pein hinüberschlief?
Auf deiner Schwelle wessen Blut?
– Und unter deinem Herzen
Regt sich’s nicht quillend schon
Und ängstet dich und sich
Mit ahnungsvoller Gegenwart?

GRETCHEN:
Weh! Weh!
Wär ich der Gedanken los,
Die mir herüber und hinüber gehen
Wider mich!

CHOR:
Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla.
(Orgelton.)

BÖSER GEIST:
Grimm faßt dich!
Die Posaune tönt!
Die Gräber beben!
Und dein Herz,
Aus Aschenruh
Zu Flammenqualen
Wieder aufgeschaffen,
Bebt auf!

GRETCHEN:
Wär ich hier weg!
Mir ist, als ob die Orgel mir
Den Atem versetzte,
Gesang mein Herz
Im Tiefsten löste.

CHOR:
Judex ergo cum sedebit,
Quidquid latet adparebit,
Nil inultum remanebit.

GRETCHEN:
Mir wird so eng!
Die Mauernpfeiler
Befangen mich!
Das Gewölbe
Drängt mich!- Luft!

BÖSER GEIST:
Verbirg dich! Sünd und Schande
Bleibt nicht verborgen.
Luft? Licht?
Weh dir!

CHOR:
Quid sum miser tunc dicturus?
Quem patronum rogaturus?
Cum vix justus sit securus.

BÖSER GEIST:
Ihr Antlitz wenden
Verklärte von dir ab.
Die Hände dir zu reichen,
Schauert’s den Reinen.
Weh!

CHOR:
Quid sum miser tunc dicturus?
GRETCHEN:
Nachbarin! Euer Fläschchen!
(Sie fällt in Ohnmacht.)

Walpurgisnacht

Harzgebirg Gegend von Schierke und Elend

Faust. Mephistopheles.

MEPHISTOPHELES:
Verlangst du nicht nach einem Besenstiele?
Ich wünschte mir den allerderbsten Bock.
Auf diesem Weg sind wir noch weit vom Ziele.

FAUST:
Solang ich mich noch frisch auf meinen Beinen fühle,
Genügt mir dieser Knotenstock.
Was hilft’s, daß man den Weg verkürzt!-
Im Labyrinth der Täler hinzuschleichen,
Dann diesen Felsen zu ersteigen,
Von dem der Quell sich ewig sprudelnd stürzt,
Das ist die Lust, die solche Pfade würzt!
Der Frühling webt schon in den Birken,
Und selbst die Fichte fühlt ihn schon;
Sollt er nicht auch auf unsre Glieder wirken?

MEPHISTOPHELES:
Fürwahr, ich spüre nichts davon!
Mir ist es winterlich im Leibe,
Ich wünschte Schnee und Frost auf meiner Bahn.
Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe
Des roten Monds mit später Glut heran
Und leuchtet schlecht, daß man bei jedem Schritte
Vor einen Baum, vor einen Felsen rennt!
Erlaub, daß ich ein Irrlicht bitte!
Dort seh ich eins, das eben lustig brennt.
Heda! mein Freund! darf ich dich zu uns fodern?
Was willst du so vergebens lodern?
Sei doch so gut und leucht uns da hinauf!

IRRLICHT:
Aus Ehrfurcht, hoff ich, soll es mir gelingen,
Mein leichtes Naturell zu zwingen;
Nur zickzack geht gewöhnlich unser Lauf.

MEPHISTOPHELES:
Ei! Ei! Er denkt’s den Menschen nachzuahmen.
Geh Er nur grad, in ’s Teufels Namen!
Sonst blas ich ihm sein Flackerleben aus.

IRRLICHT:
Ich merke wohl, Ihr seid der Herr vom Haus,
Und will mich gern nach Euch bequemen.
Allein bedenkt! der Berg ist heute zaubertoll
Und wenn ein Irrlicht Euch die Wege weisen soll
So müßt Ihr’s so genau nicht nehmen.
FAUST, MEPHISTOPHELES, IRRLICHT (im Wechselgesang):
In die Traum- und Zaubersphäre
Sind wir, scheint es, eingegangen.
Führ uns gut und mach dir Ehre
Daß wir vorwärts bald gelangen
In den weiten, öden Räumen!
Seh die Bäume hinter Bäumen,
Wie sie schnell vorüberrücken,
Und die Klippen, die sich bücken,
Und die langen Felsennasen,
Wie sie schnarchen, wie sie blasen!

Durch die Steine, durch den Rasen
Eilet Bach und Bächlein nieder.
Hör ich Rauschen? hör ich Lieder?
Hör ich holde Liebesklage,
Stimmen jener Himmelstage?
Was wir hoffen, was wir lieben!
Und das Echo, wie die Sage
Alter Zeiten, hallet wider.

„Uhu! Schuhu!“ tönt es näher,
Kauz und Kiebitz und der Häher,
Sind sie alle wach geblieben?
Sind das Molche durchs Gesträuche?
Lange Beine, dicke Bäuche!
Und die Wurzeln, wie die Schlangen,
Winden sich aus Fels und Sande,
Strecken wunderliche Bande,
Uns zu schrecken, uns zu fangen;
Aus belebten derben Masern
Strecken sie Polypenfasern
Nach dem Wandrer. Und die Mäuse
Tausendfärbig, scharenweise,
Durch das Moos und durch die Heide!
Und die Funkenwürmer fliegen
Mit gedrängten Schwärmezügen
Zum verwirrenden Geleite.

Aber sag mir, ob wir stehen
Oder ob wir weitergehen?
Alles, alles scheint zu drehen,
Fels und Bäume, die Gesichter
Schneiden, und die irren Lichter,
Die sich mehren, die sich blähen.
MEPHISTOPHELES:
Fasse wacker meinen Zipfel!
Hier ist so ein Mittelgipfel
Wo man mit Erstaunen sieht,
Wie im Berg der Mammon glüht.

FAUST:
Wie seltsam glimmert durch die Gründe
Ein morgenrötlich trüber Schein!
Und selbst bis in die tiefen Schlünde
Des Abgrunds wittert er hinein.
Da steigt ein Dampf, dort ziehen Schwaden,
Hier leuchtet Glut aus Dunst und Flor
Dann schleicht sie wie ein zarter Faden
Dann bricht sie wie ein Quell hervor.
Hier schlingt sie eine ganze Strecke
Mit hundert Adern sich durchs Tal,
Und hier in der gedrängten Ecke
Vereinzelt sie sich auf einmal.
Da sprühen Funken in der Nähe
Wie ausgestreuter goldner Sand.
Doch schau! in ihrer ganzen Höhe
Entzündet sich die Felsenwand.

MEPHISTOPHELES:
Erleuchtet nicht zu diesem Feste
Herr Mammon prächtig den Palast?
Ein Glück, daß du’s gesehen hast,
Ich spüre schon die ungestümen Gäste.

FAUST:
Wie rast die Windsbraut durch die Luft!
Mit welchen Schlägen trifft sie meinen Nacken!

MEPHISTOPHELES:
Du mußt des Felsens alte Rippen packen
Sonst stürzt sie dich hinab in dieser Schlünde Gruft.
Ein Nebel verdichtet die Nacht.
Höre, wie’s durch die Wälder kracht!
Aufgescheucht fliegen die Eulen.
Hör, es splittern die Säulen
Ewig grüner Paläste.
Girren und Brechen der Aste!
Der Stämme mächtiges Dröhnen!
Der Wurzeln Knarren und Gähnen!
Im fürchterlich verworrenen Falle
Übereinander krachen sie alle
Und durch die übertrümmerten Klüfte
Zischen und heulen die Lüfte.
Hörst du Stimmen in der Höhe?
In der Ferne, in der Nähe?
Ja, den ganzen Berg entlang
Strömt ein wütender Zaubergesang!

HEXEN (im Chor):
Die Hexen zu dem Brocken ziehn,
Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün.
Dort sammelt sich der große Hauf,
Herr Urian sitzt oben auf.
So geht es über Stein und Stock,
Es farzt die Hexe, es stinkt der Bock.

STIMME:
Die alte Baubo kommt allein,
Sie reitet auf einem Mutterschwein.

CHOR:
So Ehre denn, wem Ehre gebührt!
Frau Baubo vor! und angeführt!
Ein tüchtig Schwein und Mutter drauf,
Da folgt der ganze Hexenhauf.

STIMME:
Welchen Weg kommst du her?

STIMME:
Übern Ilsenstein! Da guckt ich der Eule ins Nest hinein,
Die macht ein Paar Augen!

STIMME:
O fahre zur Hölle! Was reitst du so schnelle!

STIMME:
Mich hat sie geschunden,
Da sieh nur die Wunden!

HEXEN, CHOR:
Der Weg ist breit, der Weg ist lang,
Was ist das für ein toller Drang?
Die Gabel sticht, der Besen kratzt,
Das Kind erstickt, die Mutter platzt.

HEXENMEISTER, HALBER CHOR:
Wir schleichen wie die Schneck im Haus,
Die Weiber alle sind voraus.
Denn, geht es zu des Bösen Haus,
Das Weib hat tausend Schritt voraus.

ANDERE HÄLFTE:
Wir nehmen das nicht so genau,
Mit tausend Schritten macht’s die Frau;
Doch wie sie sich auch eilen kann,
Mit einem Sprunge macht’s der Mann.

STIMME (oben):
Kommt mit, kommt mit, vom Felsensee!

STIMMEN (von unten):
Wir möchten gerne mit in die Höh.
Wir waschen, und blank sind wir ganz und gar;
Aber auch ewig unfruchtbar.

BEIDE CHÖRE:
Es schweigt der Wind, es flieht der Stern,
Der trübe Mond verbirgt sich gern.
Im Sausen sprüht das Zauberchor
Viel tausend Feuerfunken hervor.

STIMME (von unten):
Halte! Haltet

STIMME (oben):
Wer ruft da aus der Felsenspalte?

STIMME (von unten):
Nehmt mich mit! Nehmt mich mit!
Ich steige schon dreihundert Jahr,
Und kann den Gipfel nicht erreichen
Ich wäre gern bei meinesgleichen.

BEIDE CHÖRE:
Es trägt der Besen, trägt der Stock
Die Gabel trägt, es trägt der Bock
Wer heute sich nicht heben kann
Ist ewig ein verlorner Mann.

HALBHEXE (unten):
Ich tripple nach, so lange Zeit;
Wie sind die andern schon so weit!
Ich hab zu Hause keine Ruh
Und komme hier doch nicht dazu.

CHOR DER HEXEN:
Die Salbe gibt den Hexen Mut,
Ein Lumpen ist zum Segel gut
Ein gutes Schiff ist jeder Trog
Der flieget nie, der heut nicht flog.

BEIDE CHÖRE:
Und wenn wir um den Gipfel ziehn,
So streichet an dem Boden hin
Und deckt die Heide weit und breit
Mit eurem Schwarm der Hexenheit
(Sie lassen sich nieder.)

MEPHISTOPHELES:
Das drängt und stößt, das ruscht und klappert!
Das zischt und quirlt, das zieht und plappert!
Das leuchtet, sprüht und stinkt und brennt!
Ein wahres Hexenelement!
Nur fest an mir! sonst sind wir gleich getrennt.
Wo bist du?

FAUST (in der Ferne):
Hier!

MEPHISTOPHELES:
Was! dort schon hingerissen? Da werd ich Hausrecht brauchen müssen.
Platz! Junker Voland kommt. Platz! süßer Pöbel, Platz!
Hier, Doktor, fasse mich! und nun in einem Satz
Laß uns aus dem Gedräng entweichen;
Es ist zu toll, sogar für meinesgleichen.
Dortneben leuchtet was mit ganz besondrem Schein,
Es zieht mich was nach jenen Sträuchen.
Komm, komm! wir schlupfen da hinein.

FAUST:
Du Geist des Widerspruchs! Nur zu! du magst mich führen.
Ich denke doch, das war recht klug gemacht:
Zum Brocken wandeln wir in der Walpurgisnacht,
Um uns beliebig nun hieselbst zu isolieren.

MEPHISTOPHELES:
Da sieh nur, welche bunten Flammen!
Es ist ein muntrer Klub beisammen.
Im Kleinen ist man nicht allein.

FAUST:
Doch droben möcht ich lieber sein!
Schon seh ich Glut und Wirbelrauch.
Dort strömt die Menge zu dem Bösen;
Da muß sich manches Rätsel lösen.

MEPHISTOPHELES:
Doch manches Rätsel knüpft sich auch.
Laß du die große Welt nur sausen,
Wir wollen hier im stillen hausen.
Es ist doch lange hergebracht,
Daß in der großen Welt man kleine Welten macht.
Da seh ich junge Hexchen, nackt und bloß,
Und alte, die sich klug verhüllen.
Seid freundlich, nur um meinetwillen;
Die Müh ist klein, der Spaß ist groß.
Ich höre was von Instrumenten tönen!
Verflucht Geschnarr! Man muß sich dran gewohnen.
Komm mit! Komm mit! Es kann nicht anders sein,
Ich tret heran und führe dich herein,
Und ich verbinde dich aufs neue.
Was sagst du, Freund? das ist kein kleiner Raum.
Da sieh nur hin! du siehst das Ende kaum.
Ein Hundert Feuer brennen in der Reihe
Man tanzt, man schwatzt, man kocht, man trinkt, man liebt
Nun sage mir, wo es was Bessers gibt?

FAUST:
Willst du dich nun, um uns hier einzuführen,
Als Zaubrer oder Teufel produzieren?

MEPHISTOPHELES:
Zwar bin ich sehr gewohnt, inkognito zu gehn,
Doch läßt am Galatag man seinen Orden sehn.
Ein Knieband zeichnet mich nicht aus,
Doch ist der Pferdefuß hier ehrenvoll zu Haus.
Siehst du die Schnecke da? sie kommt herangekrochen;
Mit ihrem tastenden Gesicht
Hat sie mir schon was abgerochen.
Wenn ich auch will, verleugn ich hier mich nicht.
Komm nur! von Feuer gehen wir zu Feuer,
Ich bin der Werber, und du bist der Freier.
(Zu einigen, die um verglimmende Kohlen sitzen:)
Ihr alten Herrn, was macht ihr hier am Ende?
Ich lobt euch, wenn ich euch hübsch in der Mitte fände,
Von Saus umzirkt und Jugendbraus;
Genug allein ist jeder ja zu Haus.

GENERAL:
Wer mag auf Nationen trauen!
Man habe noch so viel für sie getan;
Denn bei dem Volk wie bei den Frauen
Steht immerfort die Jugend oben an.

MINISTER:
Jetzt ist man von dem Rechten allzu weit,
Ich lobe mir die guten Alten;
Denn freilich, da wir alles galten,
Da war die rechte goldne Zeit.

PARVENÜ:
Wir waren wahrlich auch nicht dumm
Und taten oft, was wir nicht sollten;
Doch jetzo kehrt sich alles um und um,
Und eben da wir’s fest erhalten wollten.

AUTOR:
Wer mag wohl überhaupt jetzt eine Schrift
Von mäßig klugem Inhalt lesen!
Und was das liebe junge Volk betrifft,
Das ist noch nie so naseweis gewesen.

MEPHISTOPHELES (der auf einmal sehr alt erscheint):
Zum Jüngsten Tag fühl ich das Volk gereift,
Da ich zum letztenmal den Hexenberg ersteige,
Und weil mein Fäßchen trübe läuft,
So ist die Welt auch auf der Neige.

TRÖDELHEXE:
Ihr Herren, geht nicht so vorbei!
Laßt die Gelegenheit nicht fahren!
Aufmerksam blickt nach meinen Waren,
Es steht dahier gar mancherlei.
Und doch ist nichts in meinem Laden,
Dem keiner auf der Erde gleicht,
Das nicht einmal zum tücht’gen Schaden
Der Menschen und der Welt gereicht.
Kein Dolch ist hier, von dem nicht Blut geflossen,
Kein Kelch, aus dem sich nicht in ganz gesunden Leib
Verzehrend heißes Gift ergossen,
Kein Schmuck, der nicht ein liebenswürdig Weib
Verführt, kein Schwert, das nicht den Bund gebrochen,
Nicht etwa hinterrücks den Gegenmann durchstochen.

MEPHISTOPHELES:
Frau Muhme! Sie versteht mir schlecht die Zeiten.
Getan, geschehn! Geschehn, getan!
Verleg Sie sich auf Neuigkeiten!
Nur Neuigkeiten ziehn uns an.

FAUST:
Daß ich mich nur nicht selbst vergesse!
Heiß ich mir das doch eine Messe!
MEPHISTOPHELES:
Der ganze Strudel strebt nach oben;
Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben.

FAUST:
Wer ist denn das?

MEPHISTOPHELES:
Betrachte sie genau! Lilith ist das.

FAUST:
Wer?

MEPHISTOPHELES:
Adams erste Frau. Nimm dich in acht vor ihren schönen Haaren,
Vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt.
Wenn sie damit den jungen Mann erlangt,
So läßt sie ihn so bald nicht wieder fahren.

FAUST:
Da sitzen zwei, die Alte mit der Jungen;
Die haben schon was Rechts gesprungen!

MEPHISTOPHELES:
Das hat nun heute keine Ruh.
Es geht zum neuen Tanz, nun komm! wir greifen zu.

FAUST (mit der Jungen tanzend):
Einst hatt ich einen schönen Traum
Da sah ich einen Apfelbaum,
Zwei schöne Äpfel glänzten dran,
Sie reizten mich, ich stieg hinan.

DIE SCHÖNE:
Der Äpfelchen begehrt ihr sehr,
Und schon vom Paradiese her.
Von Freuden fühl ich mich bewegt,
Daß auch mein Garten solche trägt.

MEPHISTOPHELES (mit der Alten):
Einst hatt ich einen wüsten Traum
Da sah ich einen gespaltnen Baum,
Der hatt ein ungeheures Loch;
So groß es war, gefiel mir’s doch.

DIE ALTE:
Ich biete meinen besten Gruß
Dem Ritter mit dem Pferdefuß!
Halt Er einen rechten Pfropf bereit,
Wenn Er das große Loch nicht scheut.

PROKTOPHANTASMIST:
Verfluchtes Volk! was untersteht ihr euch?
Hat man euch lange nicht bewiesen:
Ein Geist steht nie auf ordentlichen Füßen?
Nun tanzt ihr gar, uns andern Menschen gleich!

DIE SCHÖNE (tanzend):
Was will denn der auf unserm Ball?

FAUST (tanzend):
Ei! der ist eben überall.
Was andre tanzen, muß er schätzen.
Kann er nicht jeden Schritt beschwätzen,
So ist der Schritt so gut als nicht geschehn.
Am meisten ärgert ihn, sobald wir vorwärts gehn.
Wenn ihr euch so im Kreise drehen wolltet,
Wie er’s in seiner alten Mühle tut
Das hieß‘ er allenfalls noch gut
Besonders wenn ihr ihn darum begrüßen solltet.

PROKTOPHANTASMIST:
Ihr seid noch immer da! nein, das ist unerhört.
Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!
Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel
Wir sind so klug, und dennoch spukt’s in Tegel.
Wie lange hab ich nicht am Wahn hinausgekehrt,
Und nie wird’s rein; das ist doch unerhört!

DIE SCHÖNE:
So hört doch auf, uns hier zu ennuyieren!

PROKTOPHANTASMIST:
Ich sag’s euch Geistern ins Gesicht:
Den Geistesdespotismus leid ich nicht;
Mein Geist kann ihn nicht exerzieren.
(Es wird fortgetanzt.)
Heut, seh ich, will mir nichts gelingen;
Doch eine Reise nehm ich immer mit
Und hoffe noch vor meinem letzten Schritt
Die Teufel und die Dichter zu bezwingen.

MEPHISTOPHELES:
Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,
Das ist die Art, wie er sich soulagiert,
Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergetzen,
Ist er von Geistern und von Geist kuriert.
(Zu Faust, der aus dem Tanz getreten ist.)
Was lässest du das schöne Mädchen fahren,
Das dir zum Tanz so lieblich sang?

FAUST:
Ach! mitten im Gesange sprang
Ein rotes Mäuschen ihr aus dem Munde.

MEPHISTOPHELES:
Das ist was Rechts! das nimmt man nicht genau;
Genug, die Maus war doch nicht grau.
Wer fragt darnach in einer Schäferstunde?

FAUST:
Dann sah ich-

MEPHISTOPHELES:
Was?

FAUST:
Mephisto, siehst du dort Ein blasses, schönes Kind allein und ferne stehen?
Sie schiebt sich langsam nur vom Ort,
Sie scheint mit geschloßnen Füßen zu gehen.
Ich muß bekennen, daß mir deucht,
Daß sie dem guten Gretchen gleicht.

MEPHISTOPHELES:
Laß das nur stehn! dabei wird’s niemand wohl.
Es ist ein Zauberbild, ist leblos, ein Idol.
Ihm zu begegnen, ist nicht gut:
Vom starren Blick erstarrt des Menschen Blut,
Und er wird fast in Stein verkehrt;
Von der Meduse hast du ja gehört.

FAUST:
Fürwahr, es sind die Augen einer Toten,
Die eine liebende Hand nicht schloß.
Das ist die Brust, die Gretchen mir geboten,
Das ist der süße Leib, den ich genoß.

MEPHISTOPHELES:
Das ist die Zauberei, du leicht verführter Tor!
Denn jedem kommt sie wie sein Liebchen vor.

FAUST:
Welch eine Wonne! welch ein Leiden!
Ich kann von diesem Blick nicht scheiden.
Wie sonderbar muß diesen schönen Hals
Ein einzig rotes Schnürchen schmücken,
Nicht breiter als ein Messerrücken!

MEPHISTOPHELES:
Ganz recht! ich seh es ebenfalls.
Sie kann das Haupt auch unterm Arme tragen,
Denn Perseus hat’s ihr abgeschlagen.
Nur immer diese Lust zum Wahn!
Komm doch das Hügelchen heran,
Hier ist’s so lustig wie im Prater
Und hat man mir’s nicht angetan,
So seh ich wahrlich ein Theater.
Was gibt’s denn da?

SERVIBILIS:
Gleich fängt man wieder an. Ein neues Stück, das letzte Stück von sieben.
So viel zu geben ist allhier der Brauch,
Ein Dilettant hat es geschrieben
Und Dilettanten spielen’s auch.
Verzeiht, ihr Herrn, wenn ich verschwinde
Mich dilettiert’s, den Vorhang aufzuziehn.

MEPHISTOPHELES:
Wenn ich euch auf dem Blocksberg finde,
Das find ich gut; denn da gehört ihr hin.

Walpurgisnachtstraum

oder Oberons und Titanias goldne Hochzeit Intermezzo

THEATERMEISTER:
Heute ruhen wir einmal,
Miedings wackre Söhne.
Alter Berg und feuchtes Tal,
Das ist die ganze Szene!

HEROLD:
Daß die Hochzeit golden sei,
Solln funfzig Jahr sein vorüber;
Aber ist der Streit vorbei,
Das golden ist mir lieber.

OBERON:
Seid ihr Geister, wo ich bin,
So zeigt’s in diesen Stunden;
König und die Königin,
Sie sind aufs neu verbunden.

PUCK:
Kommt der Puck und dreht sich quer
Und schleift den Fuß im Reihen;
Hundert kommen hinterher,
Sich auch mit ihm zu freuen.

ARIEL:
Ariel bewegt den Sang
In himmlisch reinen Tönen;
Viele Fratzen lockt sein Klang,
Doch lockt er auch die Schönen.

OBERON:
Gatten, die sich vertragen wollen,
Lernen’s von uns beiden!
Wenn sich zweie lieben sollen,
Braucht man sie nur zu scheiden.

TITANIA:
Schmollt der Mann und grillt die Frau,
So faßt sie nur behende,
Führt mir nach dem Mittag sie,
Und ihn an Nordens Ende.

ORCHESTER TUTTI (Fortissimo):
Fliegenschnauz und Mückennas
Mit ihren Anverwandten,
Frosch im Laub und Grill im Gras,
Das sind die Musikanten!

SOLO:
Seht, da kommt der Dudelsack!
Es ist die Seifenblase.
Hört den Schneckeschnickeschnack
Durch seine stumpfe Nase

GEIST, DER SICH ERST BILDET:
Spinnenfuß und Krötenbauch
Und Flügelchen dem Wichtchen!
Zwar ein Tierchen gibt es nicht,
Doch gibt es ein Gedichtchen.

EIN PÄRCHEN:
Kleiner Schritt und hoher Sprung
Durch Honigtau und Düfte
Zwar du trippelst mir genung,
Doch geh’s nicht in die Lüfte.

NEUGIERIGER REISENDER:
Ist das nicht Maskeradenspott?
Soll ich den Augen trauen,
Oberon, den schönen Gott,
Auch heute hier zu schauen?

ORTHODOX:
Keine Klauen, keinen Schwanz!
Doch bleibt es außer Zweifel:
So wie die Götter Griechenlands,
So ist auch er ein Teufel.

NORDISCHER KÜNSTLER:
Was ich ergreife, das ist heut
Fürwahr nur skizzenweise;
Doch ich bereite mich beizeit
Zur italien’schen Reise.

PURIST:
Ach! mein Unglück führt mich her:
Wie wird nicht hier geludert!
Und von dem ganzen Hexenheer
Sind zweie nur gepudert.

JUNGE HEXE
Der Puder ist so wie der Rock
Für alt‘ und graue Weibchen,
Drum sitz ich nackt auf meinem Bock
Und zeig ein derbes Leibchen.

MATRONE:
Wir haben zu viel Lebensart
Um hier mit euch zu maulen!
Doch hoff ich, sollt ihr jung und zart
So wie ihr seid, verfaulen.

KAPELLMEISTER:
Fliegenschnauz und Mückennas
Umschwärmt mir nicht die Nackte!
Frosch im Laub und Grill im Gras,
So bleibt doch auch im Takte!

WINDFAHNE (nach der einen Seite):
Gesellschaft, wie man wünschen kann:
Wahrhaftig lauter Bräute!
Und Junggesellen, Mann für Mann,
Die hoffnungsvollsten Leute!

WINDFAHNE (nach der andern Seite):
Und tut sich nicht der Boden auf,
Sie alle zu verschlingen,
So will ich mit behendem Lauf
Gleich in die Hölle springen.

XENIEN:
Als Insekten sind wir da,
Mit kleinen scharfen Scheren,
Satan, unsern Herrn Papa,
Nach Würden zu verehren.

HENNINGS:
Seht, wie sie in gedrängter Schar
Naiv zusammen scherzen!
Am Ende sagen sie noch gar,
Sie hätten gute Herzen.

MUSAGET:
Ich mag in diesem Hexenheer
Mich gar zu gern verlieren;
Denn freilich diese wüßt ich eh’r
Als Musen anzuführen.

CI-DEVANT GENIUS DER ZEIT:
Mit rechten Leuten wird man was.
Komm, fasse meinen Zipfel!
Der Blocksberg, wie der deutsche Parnaß,
Hat gar einen breiten Gipfel.

NEUGIERIGER REISENDER:
Sagt, wie heißt der steife Mann?
Er geht mit stolzen Schritten.
Er schnopert, was er schnopern kann.
„Er spürt nach Jesuiten.“

KRANICH:
In dem klaren mag ich gern
Und auch im trüben fischen;
Darum seht ihr den frommen Herrn
Sich auch mit Teufeln mischen.

WELTKIND:
Ja, für die Frommen, glaubet mir,
Ist alles ein Vehikel,
Sie bilden auf dem Blocksberg hier
Gar manches Konventikel.

TÄNZER:
Da kommt ja wohl ein neues Chor?
Ich höre ferne Trommeln.
„Nur ungestört! es sind im Rohr
Die unisonen Dommeln.“

TANZMEISTER:
Wie jeder doch die Beine lupft!
Sich, wie er kann, herauszieht!
Der Krumme springt, der Plumpe hupft
Und fragt nicht, wie es aussieht.

FIEDLER:
Das haßt sich schwer, das Lumpenpack,
Und gäb sich gern das Restchen;
Es eint sie hier der Dudelsack,
Wie Orpheus‘ Leier die Bestjen.

DOGMATIKER:
Ich lasse mich nicht irre schrein,
Nicht durch Kritik noch Zweifel.
Der Teufel muß doch etwas sein;
Wie gäb’s denn sonst auch Teufel?

IDEALIST:
Die Phantasie in meinem Sinn
Ist diesmal gar zu herrisch.
Fürwahr, wenn ich das alles bin,
So bin ich heute närrisch.

REALIST:
Das Wesen ist mir recht zur Qual
Und muß mich baß verdrießen;
Ich stehe hier zum erstenmal
Nicht fest auf meinen Füßen.

SUPERNATURALIST:
Mit viel Vergnügen bin ich da
Und freue mich mit diesen;
Denn von den Teufeln kann ich ja
Auf gute Geister schließen.

SKEPTIKER:
Sie gehn den Flämmchen auf der Spur
Und glaubn sich nah dem Schatze.
Auf Teufel reimt der Zweifel nur;
Da bin ich recht am Platze.

KAPELLMEISTER:
Frosch im Laub und Grill im Gras,
Verfluchte Dilettanten!
Fliegenschnauz und Mückennas,
Ihr seid doch Musikanten!

DIE GEWANDTEN:
Sanssouci, so heißt das Heer
Von lustigen Geschöpfen;
Auf den Füßen geht’s nicht mehr,
Drum gehn wir auf den Köpfen.

DIE UNBEHILFLICHEN:
Sonst haben wir manchen Bissen erschranzt,
Nun aber Gott befohlen!
Unsere Schuhe sind durchgetanzt,
Wir laufen auf nackten Sohlen.

IRRLICHTER:
Von dem Sumpfe kommen wir,
Woraus wir erst entstanden;
Doch sind wir gleich im Reihen hier
Die glänzenden Galanten.

STERNSCHNUPPE:
Aus der Höhe schoß ich her
Im Stern- und Feuerscheine,
Liege nun im Grase quer-
Wer hilft mir auf die Beine?

DIE MASSIVEN:
Platz und Platz! und ringsherum!
So gehn die Gräschen nieder.
Geister kommen, Geister auch,
Sie haben plumpe Glieder.

PUCK:
Tretet nicht so mastig auf
Wie Elefantenkälber,
Und der plumpst‘ an diesem Tag
Sei Puck, der derbe, selber.

ARIEL:
Gab die liebende Natur,
Gab der Geist euch Flügel,
Folget meiner leichten Spur,
Auf zum Rosenhügel!

ORCHESTER (Pianissimo):
Wolkenzug und Nebelflor
Erhellen sich von oben.
Luft im Laub und Wind im Rohr,
Und alles ist zerstoben.

Trüber Tag. Feld

Faust. Mephistopheles.

FAUST:
Im Elend! Verzweifelnd! Erbärmlich auf der Erde lange verirrt und nun
gefangen! Als Missetäterin Im Kerker zu entsetzlichen Qualen eingesperrt,
das holde unselige Geschöpf! Bis dahin! dahin!- Verräterischer,
nichtswürdiger Geist, und das hast du mir verheimlicht!- Steh nur, steh!
wälze die teuflischen Augen ingrimmend im Kopf herum! Steh und trutze mir
durch deine unerträgliche Gegenwart! Gefangen! Im unwiederbringlichen
Elend! Bösen Geistern übergeben und der richtenden gefühllosen Menschheit!
Und mich wiegst du indes in abgeschmackten Zerstreuungen, verbirgst mir
ihren wachsenden Jammer und lässest sie hilflos verderben!

MEPHISTOPHELES:
Sie ist die erste nicht.

FAUST:
Hund! abscheuliches Untier!- Wandle ihn, du unendlicher Geist! wandle den
Wurm wieder in seine Hundsgestalt, wie er sich oft nächtlicherweile gefiel,
vor mir herzutrotten, dem harmlosen Wandrer vor die Füße zu kollern und
sich dem niederstürzenden auf die Schultern zu hängen. Wandl‘ ihn wieder in
seine Lieblingsbildung, daß er vor mir im Sand auf dem Bauch krieche ich
ihn mit Füßen trete, den Verworfnen!- „Die erste nicht!“- Jammer! Jammer!
von keiner Menschenseele zu fassen, daß mehr als ein Geschöpf in die Tiefe
dieses Elendes versank, daß nicht das erste genugtat für die Schuld aller
übrigen in seiner windenden Todesnot vor den Augen des ewig Verzeihenden!
Mir wühlt es Mark und Leben durch, das Elend dieser einzigen- du grinsest
gelassen über das Schicksal von Tausenden hin!

MEPHISTOPHELES:
Nun sind wir schon wieder an der Grenze unsres Witzes, da, wo euch Menschen
der Sinn überschnappt. Warum machst du Gemeinschaft mit uns wenn du sie
nicht durchführen kannst? Willst fliegen und bist vorm Schwindel nicht
sicher? Drangen wir uns dir auf, oder du dich uns?

FAUST:
Fletsche deine gefräßigen Zähne mir nicht so entgegen! Mir ekelt’s!-
Großer, herrlicher Geist, der du mir zu erscheinen würdigtest, der du mein
Herz kennest und meine Seele, warum an den Schandgesellen mich schmieden,
der sich am Schaden weidet und am Verderben sich letzt?

MEPHISTOPHELES:
Endigst du?

FAUST:
Rette sie! oder weh dir! Den gräßlichsten Fluch über dich auf Jahrtausende!

MEPHISTOPHELES:
Ich kann die Bande des Rächers nicht lösen, seine Riegel nicht öffnen.-
„Rette sie!“- Wer war’s, der sie ins Verderben stürzte? Ich oder du?
(Faust blickt wild umher.)
Greifst du nach dem Donner? Wohl, daß er euch elenden Sterblichen nicht
gegeben ward! Den unschuldig Entgegnenden zu zerschmettern, das ist so
Tyrannenart, sich in Verlegenheiten Luft zu machen.

FAUST:
Bringe mich hin! Sie soll frei sein!

MEPHISTOPHELES:
Und die Gefahr, der du dich aussetzest? Wisse, noch liegt auf der Stadt
Blutschuld von deiner Hand. Über des Erschlagenen Stätte schweben rächende
Geister und lauern auf den wiederkehrenden Mörder.

FAUST:
Noch das von dir? Mord und Tod einer Welt über dich Ungeheuer! Führe mich
hin, sag ich, und befrei sie.

MEPHISTOPHELES:
Ich führe dich, und was ich tun kann, höre! Habe ich alle Macht im Himmel
und auf Erden? Des Türners Sinne will ich umnebeln, bemächtige dich der
Schlüssel und führe sie heraus mit Menschenhand! Ich wache, die
Zauberpferde sind bereit, ich entführe euch. Das vermag ich.

FAUST:
Auf und davon!

Nacht, offen Feld

Faust, Mephistopheles, auf schwarzen Pferden daherbrausend.

FAUST:
Was weben die dort um den Rabenstein?

MEPHISTOPHELES:
Weiß nicht, was sie kochen und schaffen.

FAUST:
Schweben auf, schweben ab, neigen sich, beugen sich.

MEPHISTOPHELES:
Eine Hexenzunft.

FAUST:
Sie streuen und weihen.

MEPHISTOPHELES:
Vorbei! Vorbei!

Kerker

Faust mit einem Bund Schlüssel und einer Lampe, vor einem eisernen Türchen.

Mich faßt ein längst entwohnter Schauer,
Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an
Hier wohnt sie hinter dieser feuchten Mauer
Und ihr Verbrechen war ein guter Wahn
Du zauderst, zu ihr zu gehen!
Du fürchtest, sie wiederzusehen!
Fort! dein Zagen zögert den Tod heran.
(Er ergreift das Schloß. Es singt inwendig.)
Meine Mutter, die Hur
Die mich umgebracht hat!
Mein Vater, der Schelm
Der mich gessen hat!
Mein Schwesterlein klein
Hub auf die Bein
An einem kühlen Ort;
Da ward ich ein schönes Waldvögelein;
Fliege fort, fliege fort!
FAUST (aufschließend):
Sie ahnet nicht, daß der Geliebte lauscht,
Die Ketten klirren hört, das Stroh, das rauscht.
(Er tritt ein.)

MARGARETE (sich auf dem Lager verbergend):
Weh! Weh! Sie kommen. Bittrer Tod!

FAUST (leise):
Still! Still! ich komme, dich zu befreien.

MARGARETE (sich vor ihn hinwälzend):
Bist du ein Mensch, so fühle meine Not.

FAUST:
Du wirst die Wächter aus dem Schlafe schreien!
(Er faßt die Ketten, sie aufzuschließen.)

MARGARETE (auf den Knien):
Wer hat dir Henker diese Macht
Über mich gegeben!
Du holst mich schon um Mitternacht.
Erbarme dich und laß mich leben!
Ist’s morgen früh nicht zeitig genung?
(Sie steht auf.)
Bin ich doch noch so jung, so jung!
Und soll schon sterben!
Schön war ich auch, und das war mein Verderben.
Nah war der Freund, nun ist er weit;
Zerrissen liegt der Kranz, die Blumen zerstreut.
Fasse mich nicht so gewaltsam an!
Schone mich! Was hab ich dir getan?
Laß mich nicht vergebens flehen,
Hab ich dich doch mein Tage nicht gesehen!

FAUST:
Werd ich den Jammer überstehen!

MARGARETE:
Ich bin nun ganz in deiner Macht.
Laß mich nur erst das Kind noch tränken.
Ich herzt es diese ganze Nacht;
Sie nahmen mir’s, um mich zu kränken,
Und sagen nun, ich hätt es umgebracht.
Und niemals werd ich wieder froh..
Sie singen Lieder auf mich! Es ist bös von den Leuten!
Ein altes Märchen endigt so,
Wer heißt sie’s deuten?

FAUST (wirft sich nieder):
Ein Liebender liegt dir zu Füßen,
Die Jammerknechtschaft aufzuschließen.

MARGARETE (wirft sich zu ihm):
O laß uns knien, die Heil’gen anzurufen!
Sieh! unter diesen Stufen,
Unter der Schwelle
Siedet die Hölle!
Der Böse,
Mit furchtbarem Grimme,
Macht ein Getöse!

FAUST (lacht):
Gretchen! Gretchen!

MARGARETE (aufmerksam):
Das war des Freundes Stimme!
(Sie springt auf. Die Ketten fallen ab.)
Wo ist er? ich hab ihn rufen hören.
Ich bin frei! mir soll niemand wehren.
An seinen Hals will ich fliegen,
An seinem Busen liegen!
Er rief Gretchen! Er stand auf der Schwelle.
Mitten durchs Heulen und Klappen der Hölle,
Durch den grimmigen, teuflischen Hohn
Erkannt ich den süßen, den liebenden Ton.

FAUST:
Ich bin’s!

MARGARETE:
Du bist’s! O sag es noch einmal!
(Ihn fassend.)
Er ist’s! Er ist’s! Wohin ist alle Qual?
Wohin die Angst des Kerkers? der Ketten?
Du bist’s! Kommst, mich zu retten.
Ich bin gerettet!
Schon ist die Straße wieder da
Auf der ich dich zum ersten Male sah
Und der heitere Garten‘
Wo ich und Marthe deiner warten

FAUST (fortstrebend):
Komm mit! Komm mit!

MARGARETE:
O weile Weil ich doch so gern, wo du weilest.
(Liebkosend.)

FAUST:
Eile!
Wenn du nicht eilest
Werden wir’s teuer büßen müssen.

MARGARETE:
Wie? du kannst nicht mehr küssen?
Mein Freund, so kurz von mir entfernt
Und hast’s Küssen verlernt?
Warum wird mir an deinem Halse so bang?
Wenn sonst von deinen Worten, deinen Blicken
Ein ganzer Himmel mich überdrang
Und du mich küßtest, als wolltest du mich ersticken.
Küsse mich!
Sonst küß ich dich! (Sie umfaßt ihn.)
O weh! deine Lippen sind kalt,
Sind stumm.
Wo ist dein Lieben
Geblieben?
Wer brachte mich drum? (Sie wendet sich von ihm.)

FAUST:
Komm! Folge mir! Liebchen, fasse Mut!
Ich herze dich mit tausendfacher Glut
Nur folge mir! Ich bitte dich nur dies!

MARGARETE (zu ihm gewendet):
Und bist du’s denn? Und bist du’s auch gewiß?

FAUST:
Ich bin’s! Komm mit!

MARGARETE:
Du machst die Fesseln los, Nimmst wieder mich in deinen Schoß.
Wie kommt es, daß du dich vor mir nicht scheust?
Und weißt du denn, mein Freund, wen du befreist?

FAUST:
Komm! komm! schon weicht die tiefe Nacht.

MARGARETE:
Meine Mutter hab ich umgebracht,
Mein Kind hab ich ertränkt.
War es nicht dir und mir geschenkt?
Dir auch.- Du bist’s! ich glaub es kaum.
Gib deine Hand! Es ist kein Traum!
Deine liebe Hand!- Ach, aber sie ist feucht!
Wische sie ab! Wie mich deucht,
Ist Blut dran.
Ach Gott! was hast du getan!
Stecke den Degen ein,
Ich bitte dich drum!
FAUST:
Laß das Vergangne vergangen sein,
Du bringst mich um.

MARGARETE:
Nein, du mußt übrigbleiben!
Ich will dir die Gräber beschreiben,
Für die mußt du sorgen
Gleich morgen;
Der Mutter den besten Platz geben,
Meinen Bruder sogleich darneben,
Mich ein wenig beiseit‘,
Nur nicht gar zu weit!
Und das Kleine mir an die rechte Brust.
Niemand wird sonst bei mir liegen!-
Mich an deine Seite zu schmiegen,
Das war ein süßes, ein holdes Glück!
Aber es will mir nicht mehr gelingen;
Mir ist’s, als müßt ich mich zu dir zwingen,
Als stießest du mich von dir zurück;
Und doch bist du’s und blickst so gut, so fromm.

FAUST:
Fühlst du, daß ich es bin, so komm!

MARGARETE:
Dahinaus?

FAUST:
Ins Freie.

MARGARETE:
Ist das Grab drauß, Lauert der Tod, so komm!
Von hier ins ewige Ruhebett
Und weiter keinen Schritt
Du gehst nun fort? O Heinrich, könnt ich mit!

FAUST:
Du kannst! So wolle nur! Die Tür steht offen!

MARGARETE:
Ich darf nicht fort; für mich ist nichts zu hoffen.
Was hilft es, fliehn? Sie lauern doch mir auf.
Es ist so elend, betteln zu müssen
Und noch dazu mit bösem Gewissen!
Es ist so elend, in der Fremde schweifen
Und sie werden mich doch ergreifen!

FAUST:
Ich bleibe bei dir

MARGARETE:
Geschwind! Geschwind!
Rette dein armes Kind!
Fort! immer den Weg
Am Bach hinauf,
Über den Steg,
In den Wald hinein,
Links, wo die Planke steht,
Im Teich.
Faß es nur gleich!
Es will sich heben,
Es zappelt noch!
Rette! rette!

FAUST:
Besinne dich doch!
Nur einen Schritt, so bist du frei!

MARGARETE:
Wären wir nur den Berg vorbei!
Da sitzt meine Mutter auf einem Stein,
Es faßt mich kalt beim Schopfe!
Da sitzt meine Mutter auf einem Stein
Und wackelt mit dem Kopfe
Sie winkt nicht, sie nickt nicht, der Kopf ist ihr schwer,
Sie schlief so lange, sie wacht nicht mehr.
Sie schlief, damit wir uns freuten.
Es waren glückliche Zeiten!

FAUST:
Hilft hier kein Flehen, hilft kein Sagen,
So wag ich’s, dich hinwegzutragen.

MARGARETE:
Laß mich! Nein, ich leide keine Gewalt!
Fasse mich nicht so mörderisch an!
Sonst hab ich dir ja alles zulieb getan.

FAUST:
Der Tag graut! Liebchen! Liebchen!

MARGARETE:
Tag! Ja, es wird Tag! der letzte Tag dringt herein;
Mein Hochzeittag sollt es sein!
Sag niemand, daß du schon bei Gretchen warst.
Weh meinem Kranze!
Es ist eben geschehn!
Wir werden uns wiedersehn;
Aber nicht beim Tanze.
Die Menge drängt sich, man hört sie nicht.
Der Platz, die Gassen
Können sie nicht fassen.
Die Glocke ruft, das Stäbchen bricht.
Wie sie mich binden und packen!
Zum Blutstuhl bin ich schon entrückt.
Schon zuckt nach jedem Nacken
Die Schärfe, die nach meinem zückt.
Stumm liegt die Welt wie das Grab!

FAUST:
O wär ich nie geboren!

MEPHISTOPHELES (erscheint draußen):
Auf! oder ihr seid verloren.
Unnützes Zagen! Zaudern und Plaudern!
Mein Pferde schaudern,
Der Morgen dämmert auf.

MARGARETE:
Was steigt aus dem Boden herauf?
Der! der! Schick ihn fort!
Was will der an dem heiligen Ort?
Er will mich!

FAUST:
Du sollst leben!

MARGARETE:
Gericht Gottes! dir hab ich mich übergeben!

MEPHISTOPHELES (zu Faust):
Komm! komm! Ich lasse dich mit ihr im Stich.

MARGARETE:
Dein bin ich, Vater! Rette mich!
Ihr Engel! Ihr heiligen Scharen,
Lagert euch umher, mich zu bewahren!
Heinrich! Mir graut’s vor dir.

MEPHISTOPHELES:
Sie ist gerichtet!

STIMME (von oben):
Ist gerettet!

MEPHISTOPHELES (zu Faust):
Her zu mir!
(Verschwindet mit Faust.)

STIMME (von innen, verhallend):
Heinrich! Heinrich!

Johann Wolfgang von Goethe: Eine Gespenstergeschichte

Johann Wolfgang von Goethe: Eine Gespenstergeschichte

Bei einem wackern Edelmann, meinem Freunde, der ein altes Schloß mit einer starken Familie bewohnte, war eine Waise erzogen worden, die, als sie herangewachsen und vierzehn Jahre alt war, meist um die Dame vom Hause sich beschäftigte und die nächsten Dienste ihrer Person verrichtete. Man war mit ihr wohl zufrieden, und sie schien nichts weiter zu wünschen, als durch Aufmerksamkeit und Treue ihren Wohltätern dankbar zu sein. Sie war wohlgebildet, und es fanden sich einige Freier um sie ein. Man glaubte nicht, daß eine dieser Verbindungen zu ihrem Glück gereichen würde, und sie zeigte auch nicht das mindeste Verlangen, ihren Zustand zu ändern.

Auf einmal begab sich’s, daß man, wenn das Mädchen in dem Hause Geschäfte halber herumging, unter ihr, hier und da, pochen hörte. Anfangs schien es zufällig, aber da das Klopfen nicht aufhörte und beinahe jeden ihrer Schritte bezeichnete, ward sie ängstlich und traute sich kaum, aus dem Zimmer der gnädigen Frau herauszugehen, als in welchem sie alleine Ruhe hatte.

Dieses Pochen ward von jedermann vernommen, der mit ihr ging oder nicht weit von ihr stand. Anfangs scherzte man darüber, endlich aber fing die Sache an, unangenehm zu werden. Der Herr vom Hause, der von einem lebhaften Geist war, untersuchte nun selbst die Umstände. Man hörte das Pochen nicht eher, als bis das Mädchen ging, und nicht sowohl, indem sie den Fuß aufsetzte, als indem sie ihn zum Weiterschreiten aufhob. Doch fielen die Schläge manchmal unregelmäßig, und besonders waren sie sehr stark, wenn sie quer über einen großen Saal den Weg nahm.

Der Hausvater hatte eines Tages Handwerksleute in der Nähe und ließ, da das Pochen am heftigsten war, gleich hinter ihr einige Dielen aufreißen. Es fand sich nichts, außer daß bei dieser Gelegenheit ein paar große Ratten zum Vorschein kamen, deren Jagd viel Lärm im Hause verursachte.

Entrüstet über diese Begebenheit und Verwirrung, griff der Hausherr zu einem strengen Mittel, nahm seine größte Hetzpeitsche von der Wand und schwur, daß er das Mädchen bis auf den Tod prügeln wolle, wenn sich noch ein einzigmal das Pochen hören ließe. Von der Zeit an ging sie ohne Anfechtung im ganzen Hause herum, und man vernahm von dem Pochen nichts weiter.

Johann Wolfgang von Goethe – Egmont

Johann Wolfgang von Goethe: Egmont

Ein Trauerspiel in Fünf Aufzügen

Personen

Margarete von Parma, Tochter Karls des Fünften, Regentin der Niederlande. Graf Egmont, Prinz von Gaure. Wilhelm von Oranien. Herzog von Alba. Ferdinand, sein natürlicher Sohn. Machiavell, im Dienst der Regentin. Richard, Egmonts Geheimschreiber. Silva,)-unter Alba dienend. Gomez,)- Klärchen, Egmonts Geliebte. Ihre Mutter. Brackenburg, ein Bürgerssohn. Bürger von Brüssel: Soest, Krämer, Jetter, Schneider, Zimmermeister, Seifensieder, Buyck, Soldat unter Egmont. Ruysum, Invalide und taub. Vansen, ein Schreiber. Volk, Gefolge, Wachen u. s. w.

Der Schauplatz ist in Brüssel.

Erster Aufzug.

Armbrustschießen.

Soldaten und Bürger mit Armbrüsten. Jetter, Bürger von Brüssel, Schneider, tritt vor und spannt die Armbrust. Soest, Bürger von Brüssel, Krämer.

Soest. Nun schießt nur hin, daß es alle wird! Ihr nehmt mir’s doch nicht! Drei Ringe schwarz, die habt ihr eure Tage nicht geschossen. Und so wär‘ ich für dies Jahr Meister.

Jetter. Meister und König dazu. Wer mißgönnt’s Euch? Ihr sollt dafür auch die Zeche doppelt bezahlen; Ihr sollt Eure Geschicklichkeit bezahlen, wie’s recht ist.

(Buyck, ein Holländer, Soldat unter Egmont.)

Buyck. Jetter, den Schuß handl‘ ich Euch ab, teile den Gewinst, traktiere die Herren: ich bin so schon lange hier und für viele Höflichkeit Schuldner. Fehl‘ ich, so ist’s, als wenn Ihr geschossen hättet.

Soest. Ich sollte drein reden; denn eigentlich verlier‘ ich dabei. Doch, Buyck, nur immerhin.

Buyck (schießt). Nun, Pritschmeister, Reverenz!–Eins! Zwei! Drei! Vier!

Soest. Vier Ringe? Es sei!

Alle. Vivat, Herr König, hoch! und abermal hoch!

Buyck. Danke, ihr Herren. Wäre Meister zu viel! Danke für die Ehre.

Jetter. Die habt Ihr Euch selbst zu danken.

(Ruysum, ein Friesländer, Invalide und taub.)

Ruysum. Daß ich euch sage!

Soest. Wie ist’s, Alter?

Ruysum. Daß ich euch sage!–Er schießt wie sein Herr, er schießt wie Egmont.

Buyck. Gegen ihn bin ich nur ein armer Schlucker. Mit der Büchse trifft er erst, wie keiner in der Welt. Nicht etwa wenn er Glück oder gute Laune hat; nein! wie er anlegt, immer rein schwarz geschossen. Gelernt habe ich von ihm. Das wäre auch ein Kerl, der bei ihm diente und nichts von ihm lernte!–Nicht zu vergessen, meine Herren! Ein König nährt seine Leute; und so, auf des Königs Rechnung, Wein her!

Jetter. Es ist unter uns ausgemacht, daß jeder–

Buyck. Ich bin fremd und König, und achte eure Gesetze und Herkommen nicht.

Jetter. Du bist ja ärger als der Spanier; der hat sie uns doch bisher lassen müssen.

Ruysum. Was?

Soest (laut). Er will uns gastieren; er will nicht haben, daß wir zusammenlegen und der König nur das Doppelte zahlt.

Ruysum. Laßt ihn! doch ohne Präjudiz! Das ist auch seines Herrn Art, splendid zu sein und es laufen zu lassen, wo es gedeiht. (Sie bringen Wein.)

Alle. Ihro Majestät Wohl! Hoch!

Jetter (zu Buyck). Versteht sich, Eure Majestät.

Buyck. Danke von Herzen, wenn’s doch so sein soll.

Soest. Wohl! Denn unserer spanischen Majestät Gesundheit trinkt nicht leicht ein Niederländer von Herzen.

Ruysum. Wer?

Soest (laut). Philipps des Zweiten, Königs in Spanien.

Ruysum. Unser allergnädigster König und Herr! Gott geb‘ ihm langes Leben.

Soest. Hattet Ihr seinen Herrn Vater, Karl den Fünften, nicht lieber?

Ruysum. Gott tröst‘ ihn! Das war ein Herr! Er hatte die Hand über dem ganzen Erdboden, und war euch alles in allem; und wenn er euch begegnete, so grüßt‘ er euch, wie ein Nachbar den andern; und wenn ihr erschrocken wart, wußt‘ er mit so guter Manier–Ja, versteht mich–Er ging aus, ritt aus, wie’s ihm einkam, gar mit wenig Leuten. Haben wir doch alle geweint, wie er seinem Sohn das Regiment hier abtrat–sagt‘ ich, versteht mich–der ist schon anders, der ist majestätischer.

Jetter. Er ließ sich nicht sehen, da er hier war, als in Prunk und königlichem Staate. Er spricht wenig, sagen die Leute.

Soest. Es ist kein Herr für uns Niederländer. Unsre Fürsten müssen froh und frei sein wie wir, leben und leben lassen. Wir wollen nicht verachtet noch gedruckt sein, so gutherzige Narren wir auch sind.

Jetter. Der König, denk‘ ich, wäre wohl ein gnädiger Herr, wenn er nur bessere Ratgeber hätte.

Soest. Nein, nein! Er hat kein Gemüt gegen uns Niederländer, sein Herz ist dem Volke nicht geneigt, er liebt uns nicht; wie können wir ihn wieder lieben? Warum ist alle Welt dem Grafen Egmont so hold? Warum trügen wir ihn alle auf den Händen? Weil man ihm ansieht, daß er uns wohl will; weil ihm die Fröhlichkeit, das freie Leben, die gute Meinung aus den Augen sieht; weil er nichts besitzt, das er dem Dürftigen nicht mitteilte, auch dem, der’s nicht bedarf. Laßt den Grafen Egmont leben! Buyck, an Euch ist’s, die erste Gesundheit zu bringen! Bringt Eures Herrn Gesundheit aus.

Buyck. Von ganzer Seele denn: Graf Egmont hoch!

Ruysum. Überwinder bei St. Quintin!

Buyck. Dem Helden von Gravelingen!

Alle. Hoch!

Ruysum. St. Quintin war meine letzte Schlacht. Ich konnte kaum mehr fort, kaum die schwere Büchse mehr schleppen. Hab‘ ich doch den Franzosen noch eins auf den Pelz gebrennt, und da kriegt‘ ich zum Abschied noch einen Streifschuß ans rechte Bein.

Buyck. Gravelingen! Freunde! da ging’s frisch! Den Sieg haben wir allein. Brannten und sengten die welschen Hunde nicht durch ganz Flandern? Aber ich mein‘, wir trafen sie! Ihre alten handfesten Kerle hielten lange wider, und wir drängten und schossen und hieben, daß sie die Mäuler verzerrten und ihre Linien zuckten. Da ward Egmont das Pferd unter dem Leibe niedergeschossen, und wir stritten lange hinüber herüber, Mann für Mann, Pferd gegen Pferd, Haufe mit Haufe, auf dem breiten flachen Sand an der See hin. Auf einmal kam’s, wie vom Himmel herunter, von der Mündung des Flusses, bav! bau! immer mit Kanonen in die Franzosen drein. Es waren Engländer, die unter dem Admiral Malin von ungefähr von Dünkirchen her vorbeifuhren. Zwar viel halfen sie uns nicht; sie konnten nur mit den kleinsten Schiffen herbei, und das nicht nah genug; schossen auch wohl unter uns–Es that doch gut! Es brach die Welschen und hob unsern Mut. Da ging’s! Rick! rack! herüber, hinüber! Alles tot geschlagen, alles ins Wasser gesprengt. Und die Kerle ersoffen, wie sie das Wasser schmeckten; und was wir Holländer waren, gerad hinten drein. Uns, die wir beidlebig sind, ward erst wohl im Wasser, wie den Fröschen; und immer die Feinde im Fluß zusammengehauen, weggeschossen wie die Enten. Was nun noch durchbrach, schlugen euch auf der Flucht die Bauerweiber mit Hacken und Mistgabeln tot. Mußte doch die welsche Majestät gleich das Pfötchen reichen und Friede machen. Und den Frieden seid ihr uns schuldig, dem großen Egmont schuldig.

Alle. Hoch! dem großen Egmont hoch! und abermal hoch! und abermal hoch!

Jetter. Hätte man uns den statt der Margarete von Parma zum Regenten gesetzt!

Soest. Nicht so! Wahr bleibt wahr! Ich lasse mir Margareten nicht schelten. Nun ist’s an mir. Es lebe unsre gnäd’ge Frau!

Alle. Sie lebe!

Soest. Wahrlich, treffliche Weiber sind in dem Hause. Die Regentin lebe!

Jetter. Klug ist sie, und mäßig in allem, was sie thut; hielte sie’s nur nicht so steif und fest mit den Pfaffen. Sie ist doch auch mit schuld, daß wir die vierzehn neuen Bischofsmützen im Lande haben. Wozu die nur sollen? Nicht wahr, daß man Fremde in die guten Stellen einschieben kann, wo sonst Äbte aus den Kapiteln gewählt wurden? Und wir sollen glauben, es sei um der Religion willen. Ja, es hat sich. An drei Bischöfen hatten wir genug: da ging’s ehrlich und ordentlich zu. Nun muß doch auch jeder thun, als ob er nötig wäre; und da setzt’s allen Augenblick Verdruß und Händel. Und je mehr ihr das Ding rüttelt und schüttelt, desto trüber wird’s. (Sie trinken.)

Soest. Das war nun des Königs Wille; sie kann nichts davon, noch dazu thun.

Jetter. Da sollen wir nun die neuen Psalmen nicht singen. Sie sind wahrlich gar schön in Reimen gesetzt, und haben recht erbauliche Weisen. Die sollen wir nicht singen; aber Schelmenlieder, soviel wir wollen. Und warum? Es seien Ketzereien drin, sagen sie, und Sachen, Gott weiß. Ich hab‘ ihrer doch auch gesungen; es ist jetzt was Neues, ich hab‘ nichts drin gesehen.

Buyck. Ich wollte sie fragen! In unsrer Provinz singen wir, was wir wollen. Das macht, daß Graf Egmont unser Statthalter ist; der fragt nach so etwas nicht.–In Gent, Ypern, durch ganz Flandern singt sie, wer Belieben hat. (Laut.) Es ist ja wohl nichts unschuldiger, als ein geistlich Lied? Nicht wahr, Vater?

Ruysum. Ei wohl! Es ist ja ein Gottesdienst, eine Erbauung.

Jetter. Sie sagen aber, es sei nicht auf die rechte Art, nicht auf ihre Art; und gefährlich ist’s doch immer, da läßt man’s lieber sein. Die Inquisitionsdiener schleichen herum und passen auf; mancher ehrliche Mann ist schon unglücklich geworden! Der Gewissenszwang fehlte noch! Da ich nicht thun darf, was ich möchte, können sie mich doch denken und singen lassen, was ich will.

Soest. Die Inquisition kommt nicht auf. Wir sind nicht gemacht, wie die Spanier, unser Gewissen tyrannisieren zu lassen. Und der Adel muß auch beizeiten suchen, ihr die Flügel zu beschneiden.

Jetter. Es ist sehr fatal. Wenn’s den lieben Leuten einfällt, in mein Haus zu stürmen, und ich sitz‘ an meiner Arbeit und summe just einen französischen Psalm und denke nichts dabei, weder Gutes noch Böses; ich summe ihn aber, weil er mir in der Kehle ist; gleich bin ich ein Ketzer und werde eingesteckt. Oder ich gehe über Land, und bleibe bei einem Haufen Volks stehen, das einem neuen Prediger zuhört, einem von denen, die aus Deutschland gekommen sind; auf der Stelle heiß‘ ich ein Rebell und komme in Gefahr, meinen Kopf zu verlieren. Habt ihr je einen predigen hören?

Soest. Wackre Leute. Neulich hört‘ ich einen auf dem Felde vor tausend und tausend Menschen sprechen. Das war ein ander Geköch, als wenn unsre auf der Kanzel herumtrommeln und die Leute mit lateinischen Brocken erwürgen. Der sprach von der Leber weg; sagte, wie sie uns bisher hätten bei der Nase herumgeführt, uns in der Dummheit erhalten, und wie wir mehr Erleuchtung haben könnten.–Und das bewies er euch alles aus der Bibel.

Jetter. Da mag doch auch was dran sein. Ich sagt’s immer selbst, und grübelte so über die Sache nach. Mir ist’s lang im Kopf herumgegangen.

Buyck. Es läuft ihnen auch alles Volk nach.

Soest. Das glaub‘ ich, wo man was Gutes hören kann und was Neues.

Jetter. Und was ist’s denn nun? Man kann ja einen jeden predigen lassen nach seiner Weise.

Buyck. Frisch, ihr Herren! Über dem Schwätzen vergeßt ihr den Wein und Oranien.

Jetter. Den nicht zu vergessen! Das ist ein rechter Wall: wenn man nur an ihn denkt, meint man gleich, man könne sich hinter ihn verstecken, und der Teufel brächte einen nicht hervor. Hoch! Wilhelm von Oranien, hoch!

Alle. Hoch! hoch!

Soest. Nun, Alter, bring‘ auch deine Gesundheit.

Ruysum. Alte Soldaten! Alle Soldaten! Es lebe der Krieg!

Buyck. Bravo, Alter! Alle Soldaten! Es lebe der Krieg!

Jetter. Krieg! Krieg! Wißt ihr auch, was ihr ruft? Daß es euch leicht vom Munde geht, ist wohl natürlich; wie lumpig aber unser einem dabei zu Mute ist, kann ich nicht sagen. Das ganze Jahr das Getrommel zu hören, und nichts zu hören, als wie da ein Haufen gezogen kommt und dort ein andrer, wie sie über einen Hügel kamen und bei einer Mühle hielten, wieviel da geblieben sind, wieviel dort, und wie sie sich drängen, und einer gewinnt, der andere verliert, ohne daß man sein Tage begreift, wer was gewinnt oder verliert. Wie eine Stadt eingenommen wird, die Bürger ermordet werden, und wie’s den armen Weibern, den unschuldigen Kindern ergeht. Das ist eine Not und Angst, man denkt jeden Augenblick: „Da kommen sie! Es geht uns auch so.“

Soest. Drum muß auch ein Bürger immer in Waffen geübt sein.

Jetter. Ja, es übt sich, wer Frau und Kinder hat. Und doch hör‘ ich noch lieber von Soldaten, als ich sie sehe.

Buyck. Das sollt‘ ich übel nehmen.

Jetter. Auf Euch ist’s nicht gesagt, Landsmann. Wie wir die spanischen Besatzungen los waren, holten wir wieder Atem.

Soest. Gelt! die lagen dir am schwersten auf?

Jetter. Vexier Er sich.

Soest. Die hatten scharfe Einquartierung bei dir.

Jetter. Halt dein Maul.

Soest. Sie hatten ihn vertrieben aus der Küche, dem Keller, der Stube–dem Bette. (Sie lachen.)

Jetter. Du bist ein Tropf.

Buyck. Friede, ihr Herren! Muß der Soldat Friede rufen?–Nun, da ihr von uns nichts hören wollt, nun bringt auch eure Gesundheit aus, eine bürgerliche Gesundheit.

Jetter. Dazu sind wir bereit! Sicherheit und Ruhe!

Soest. Ordnung und Freiheit!

Buyck. Brav! das sind auch wir zufrieden.

(Sie stoßen an und wiederholen fröhlich die Worte, doch so, daß jeder ein anders ausruft, und es eine Art Kanon wird. Der Alte horcht und fällt endlich auch mit ein.)

Alle. Sicherheit und Ruhe! Ordnung und Freiheit!

Palast der Regentin.

Margarete von Parma in Jagdkleidern. Hofleute. Pagen. Bediente.

Regentin. Ihr stellt das Jagen ab, ich werde heut‘ nicht reiten. Sagt Machiavellen, er soll zu mir kommen. (Alle gehen ab.) Der Gedanke an diese schrecklichen Begebenheiten läßt mir keine Ruhe! Nichts kann mich ergötzen, nichts mich zerstreuen; immer sind diese Bilder, diese Sorgen vor mir. Nun wird der König sagen, dies sei’n die Folgen meiner Güte, meiner Nachsicht; und doch sagt mir mein Gewissen jeden Augenblick, das Rätlichste, das Beste gethan zu haben. Sollte ich früher mit dem Sturme des Grimmes diese Flammen anfachen und umhertreiben? Ich hoffte sie zu umstellen, sie in sich selbst zu verschütten. Ja, was ich mir selbst sage, was ich wohl weiß, entschuldigt mich vor mir selbst; aber wie wird es mein Bruder aufnehmen? Denn, ist es zu leugnen? Der Übermut der fremden Lehrer hat sich täglich erhöht; sie haben unser Heiligtum gelästert, die stumpfen Sinne des Pöbels zerrüttet und den Schwindelgeist unter sie gebannt. Unreine Geister haben sich unter die Aufrührer gemischt, und schreckliche Thaten sind geschehen, die zu denken schauderhaft ist und die ich nun einzeln nach Hofe zu berichten habe, schnell und einzeln, damit mir der allgemeine Ruf nicht zuvorkomme, damit der König nicht denke, man wolle noch mehr verheimlichen. Ich sehe kein Mittel, weder strenges noch gelindes, dem Übel zu steuern. O was sind wir Großen auf der Woge der Menschheit? Wir glauben sie zu beherrschen, und sie treibt uns auf und nieder, hin und her.

(Machiavell tritt auf.)

Regentin. Sind die Briefe an den König aufgesetzt?

Machiavell. In einer Stunde werdet Ihr sie unterschreiben können.

Regentin. Habt Ihr den Bericht ausführlich genug gemacht?

Machiavell. Ausführlich und umständlich, wie es der König liebt. Ich erzähle, wie zuerst um St. Omer die bilderstürmerische Wut sich zeigt. Wie eine rasende Menge, mit Stäben, Beilen, Hämmern, Leitern, Stricken versehen, von wenig Bewaffneten begleitet, erst Kapellen, Kirchen und Klöster anfallen, die Andächtigen verjagen, die verschlossenen Pforten aufbrechen, alles umkehren, die Altäre niederreißen, die Statuen der Heiligen zerschlagen, alle Gemälde verderben, alles, was sie nur Geweihtes, Geheiligtes antreffen, zerschmettern, zerreißen, zertreten. Wie sich der Haufe unterwegs vermehrt, die Einwohner von Ypern ihnen die Thore eröffnen. Wie sie den Dom mit unglaublicher Schnelle verwüsten, die Bibliothek des Bischofs verbrennen. Wie eine große Menge Volks, von gleichem Unsinn ergriffen, sich über Menin, Comines, Verwich, Lille verbreitet, nirgend Widerstand findet, und wie fast durch ganz Flandern in einem Augenblicke die ungeheure Verschwörung sich erklärt und ausgeführt ist.

Regentin. Ach, wie ergreift mich aufs neue der Schmerz bei deiner Wiederholung! Und die Furcht gesellt sich dazu, das Übel werde nur größer und größer werden. Sagt mir Eure Gedanken, Machiavell!

Machiavell. Verzeihen Eure Hoheit, meine Gedanken sehen Grillen so ähnlich; und wenn Ihr auch immer mit meinen Diensten zufrieden wart, habt Ihr doch selten meinem Rat folgen mögen. Ihr sagtet oft im Scherze: „Du siehst zu weit, Machiavell! Du solltest Geschichtschreiber sein. Wer handelt, muß fürs Nächste sorgen.“ Und doch, habe ich diese Geschichte nicht voraus erzählt? Hab‘ ich nicht alles voraus gesehen?

Regentin. Ich sehe auch viel voraus, ohne es ändern zu können.

Machiavell. Ein Wort für tausend: Ihr unterdrückt die neue Lehre nicht! Laßt sie gelten, sondert sie von den Rechtgläubigen, gebt ihnen Kirchen, faßt sie in die bürgerliche Ordnung, schränkt sie ein; und so habt Ihr die Aufrührer auf einmal zur Ruhe gebracht. Jede andern Mittel sind vergeblich, und Ihr verheert das Land.

Regentin. Hast du vergessen, mit welchem Abscheu mein Bruder selbst die Frage verwarf, ob man die neue Lehre dulden könne? Weißt du nicht, wie er mir in jedem Briefe die Erhaltung des wahren Glaubens aufs eifrigste empfiehlt? daß er Ruhe und Einigkeit auf Kosten der Religion nicht hergestellt wissen will? Hält er nicht selbst in den Provinzen Spione, die wir nicht kennen, um zu erfahren, wer sich zu der neuen Meinung hinüberneigt? Hat er nicht zu unsrer Verwunderung uns diesen und jenen genannt, der sich in unsrer Nähe heimlich der Ketzerei schuldig machte? Befiehlt er nicht Strenge und Schärfe? Und ich soll gelind sein? Ich soll Vorschläge thun, daß er nachsehe, daß er dulde? Würde ich nicht alles Vertrauen, allen Glauben bei ihm verlieren?

Machiavell. Ich weiß wohl; der König befiehlt, er läßt Euch seine Absichten wissen. Ihr sollt Ruhe und Friede wieder herstellen durch ein Mittel, das die Gemüter noch mehr erbittert, das den Krieg unvermeidlich an allen Enden anblasen wird. Bedenkt, was Ihr thut! Die größten Kaufleute sind angesteckt, der Adel, das Volk, die Soldaten. Was hilft es, auf seinen Gedanken beharren, wenn sich um uns alles ändert? Möchte doch ein guter Geist Philippen eingeben, daß es einem Könige anständiger ist, Bürger zweierlei Glaubens zu regieren, als sie durch einander aufzureiben.

Regentin. Solch ein Wort nie wieder! Ich weiß wohl, daß Politik selten Treu‘ und Glauben halten kann, daß sie Offenheit, Gutherzigkeit, Nachgiebigkeit aus unsern Herzen ausschließt. In weltlichen Geschäften ist das leider nur zu wahr; sollen wir aber auch mit Gott spielen, wie unter einander? Sollen wir gleichgültig gegen unsere bewährte Lehre sein, für die so viele ihr Leben aufgeopfert haben? Die sollten wir hingeben an hergelaufne, ungewisse, sich selbst widersprechende Neuerungen?

Machiavell. Denkt nur deswegen nicht übler von mir.

Regentin. Ich kenne dich und deine Treue, und weiß, daß einer ein ehrlicher und verständiger Mann sein kann, wenn er gleich den nächsten, besten Weg zum Heil seiner Seele verfehlt hat. Es sind noch andere, Machiavell, Männer, die ich schätzen und tadeln muß.

Machiavell. Wen bezeichnet Ihr mir?

Regentin. Ich kann es gestehen, daß mir Egmont heute einen recht innerlichen, tiefen Verdruß erregte.

Machiavell. Durch welches Betragen?

Regentin. Durch sein gewöhnliches, durch Gleichgültigkeit und Leichtsinn. Ich erhielt die schreckliche Botschaft, eben als ich, von vielen und ihm begleitet, aus der Kirche ging. Ich hielt meinen Schmerz nicht an, ich beklagte mich laut und rief, indem ich mich zu ihm wendete: „Seht, was in Eurer Provinz entsteht! Das duldet Ihr, Graf, von dem der König sich alles versprach?“

Machiavell. Und was antwortete er?

Regentin. Als wenn es nichts, als wenn es eine Nebensache wäre, versetzte er: Wären nur erst die Niederländer über ihre Verfassung beruhigt! Das übrige würde sich leicht geben.

Machiavell. Vielleicht hat er wahrer als klug und fromm gesprochen. Wie soll Zutrauen entstehen und bleiben, wenn der Niederländer sieht, daß es mehr um seine Besitztümer als um sein Wohl, um seiner Seele Heil zu thun ist? Haben die neuen Bischöfe mehr Seelen gerettet als fette Pfründen geschmaust, und sind es nicht meist Fremde? Noch werden alle Statthalterschaften mit Niederländern besetzt; lassen sich es die Spanier nicht zu deutlich merken, daß sie die größte, unwiderstehlichste Begierde nach diesen Stellen empfinden? Will ein Volk nicht lieber nach seiner Art von den Seinigen regieret werden, als von Fremden, die erst im Lande sich wieder Besitztümer auf Unkosten aller zu erwerben suchen, die einen fremden Maßstab mitbringen und unfreundlich und ohne Teilnehmung herrschen?

Regentin. Du stellst dich auf die Seite der Gegner.

Machiavell. Mit dem Herzen gewiß nicht; und wollte, ich könnte mit dem Verstande ganz auf der unsrigen sein.

Regentin. Wenn du so willst, so thät‘ es not, ich träte ihnen meine Regentschaft ab; denn Egmont und Oranien machten sich große Hoffnung, diesen Platz einzunehmen. Damals waren sie Gegner; jetzt sind sie gegen mich verbunden, sind Freunde, unzertrennliche Freunde geworden.

Machiavell. Ein gefährliches Paar.

Regentin. Soll ich aufrichtig reden, ich fürchte Oranien, und ich fürchte für Egmont. Oranien sinnt nichts Gutes, seine Gedanken reichen in die Ferne, er ist heimlich, scheint alles anzunehmen, widerspricht nie, und in tiefster Ehrfurcht, mit größter Vorsicht thut er, was ihm beliebt.

Machiavell. Recht im Gegenteil geht Egmont einen freien Schritt, als wenn die Welt ihm gehörte.

Regentin. Er trägt das Haupt so hoch, als wenn die Hand der Majestät nicht über ihm schwebte.

Machiavell. Die Augen des Volks sind alle nach ihm gerichtet, und die Herzen hängen an ihm.

Regentin. Nie hat er einen Schein vermieden; als wenn niemand Rechenschaft von ihm zu fordern hätte. Noch trägt er den Namen Egmont. Graf Egmont freut ihn sich nennen zu hören; als wollte er nicht vergessen, daß seine Vorfahren Besitzer von Geldern waren. Warum nennt er sich nicht Prinz von Gaure, wie es ihm zukommt? Warum thut er das? Will er erloschne Rechte wieder geltend machen?

Machiavell. Ich halte ihn für einen treuen Diener des Königs.

Regentin. Wenn er wollte, wie verdient könnte er sich um die Regierung machen, anstatt daß er uns schon, ohne sich zu nutzen, unsäglichen Verdruß gemacht hat. Seine Gesellschaften, Gastmahle und Gelage haben den Adel mehr verbunden und verknüpft als die gefährlichsten heimlichen Zusammenkünfte. Mit seinen Gesundheiten haben die Gäste einen dauernden Rausch, einen nie sich verziehenden Schwindel geschöpft. Wie oft setzt er durch seine Scherzreden die Gemüter des Volks in Bewegung, und wie stutzte der Pöbel über die neuen Livreen, über die thörichten Abzeichen der Bedienten!

Machiavell. Ich bin überzeugt, es war ohne Absicht.

Regentin. Schlimm genug. Wie ich sage: er schadet uns und nützt sich nicht. Er nimmt das Ernstliche scherzhaft, und wir, um nicht müßig und nachlässig zu scheinen, müssen das Scherzhafte ernstlich nehmen. So hetzt eins das andre; und was man abzuwenden sucht, das macht sich erst recht. Er ist gefährlicher als ein entschiednes Haupt einer Verschwörung; und ich müßte mich sehr irren, wenn man ihm bei Hofe nicht alles gedenkt. Ich kann nicht leugnen, es vergeht wenig Zeit, daß er mich nicht empfindlich, sehr empfindlich macht.

Machiavell. Er scheint mir in allem nach seinem Gewissen zu handeln.

Regentin. Sein Gewissen hat einen gefälligen Spiegel. Sein Betragen ist oft beleidigend. Er sieht oft aus, als wenn er in der völligen Überzeugung lebe, er sei Herr, und wolle es uns nur aus Gefälligkeit nicht fühlen lassen, wolle uns so gerade nicht zum Lande hinausjagen; es werde sich schon geben.

Machiavell. Ich bitte Euch, legt seine Offenheit, sein glückliches Blut, das alles Wichtige leicht behandelt, nicht zu gefährlich aus. Ihr schadet nur ihm und Euch.

Regentin. Ich lege nichts aus; ich spreche nur von den unvermeidlichen Folgen, und ich kenne ihn. Sein niederländischer Adel und sein golden Vließ vor der Brust stärken sein Vertrauen, seine Kühnheit. Beides kann ihn vor einem schnellen, willkürlichen Unmut des Königs schützen. Untersuch‘ es genau; an dem ganzen Unglück, das Flandern trifft, ist er doch nur allein schuld. Er hat zuerst den fremden Lehrern nachgesehn, hat’s so genau nicht genommen, und vielleicht sich heimlich gefreut, daß wir etwas zu schaffen hatten. Laß mich nur! Was ich auf dem Herzen habe, soll bei dieser Gelegenheit davon. Und ich will die Pfeile nicht umsonst verschießen; ich weiß, wo er empfindlich ist. Er ist auch empfindlich.

Machiavell. Habt Ihr den Rat zusammenberufen lassen? Kommt Oranien auch?

Regentin. Ich habe nach Antwerpen um ihn geschickt. Ich will ihnen die Last der Verantwortung nahe genug zuwälzen; sie sollen sich mit mir dem Übel ernstlich entgegensetzen oder sich auch als Rebellen erklären. Eile, daß die Briefe fertig werden, und bringe mir sie zur Unterschrift. Dann sende schnell den bewährten Vaska nach Madrid; er ist unermüdet und treu; daß mein Bruder zuerst durch ihn die Nachricht erfahre, daß der Ruf ihn nicht übereile. Ich will ihn selbst noch sprechen, eh‘ er abgeht.

Machiavell. Eure Befehle sollen schnell und genau befolgt werden.

Bürgerhaus.

Klare. Klarens Mutter. Brackenburg.

Klare. Wollt Ihr mir nicht das Garn halten, Brackenburg?

Brackenburg. Ich bitt‘ Euch, verschont mich, Klärchen.

Klare. Was habt Ihr wieder? Warum versagt Ihr mir diesen kleinen Liebesdienst?

Brackenburg. Ihr bannt mich mit dem Zwirn so fest vor Euch hin, ich kann Euern Augen nicht ausweichen.

Klare. Grillen! kommt und haltet!

Mutter (im Sessel strickend). Singt doch eins! Brackenburg sekundiert so hübsch. Sonst wart ihr lustig, und ich hatte immer was zu lachen.

Brackenburg. Sonst.

Klare. Wir wollen singen.

Brackenburg. Was Ihr wollt.

Klare. Nur hübsch munter und frisch weg! Es ist ein Soldatenliedchen, mein Leibstück.

(Sie wickelt Garn und singt mit Brackenburg.)

Die Trommel gerühret! Das Pfeifchen gespielt! Mein Liebster gewaffnet Dem Haufen befiehlt, Die Lanze hoch führet, Die Leute regieret. Wie klopft mir das Herze! Wie wallt mir das Blut! O hätt‘ ich ein Wämslein Und Hosen und Hut! Ich folgt‘ ihm zum Thor ’naus Mit mutigem Schritt, Ging‘ durch die Provinzen, Ging‘ überall mit. Die Feinde schon weichen, Wir schießen darein! Welch Glück sondergleichen, Ein Mannsbild zu sein!

(Brackenburg hat unter dem Singen Klärchen oft angesehen; zuletzt bleibt ihm die Stimme stocken, die Thränen kommen ihm in die Augen, er läßt den Strang fallen und geht ans Fenster. Klärchen singt das Lied allein aus, die Mutter winkt ihr halb unwillig, sie steht auf, geht einige Schritte nach ihm hin, kehrt halb unschlüssig wieder um und setzt sich.)

Mutter. Was giebt’s auf der Gasse, Brackenburg? Ich höre marschieren.

Brackenburg. Es ist die Leibwache der Regentin.

Klare. Um diese Stunde? Was soll das bedeuten? (Sie steht auf und geht an das Fenster zu Brackenburg.) Das ist nicht die tägliche Wache, das sind weit mehr! Fast alle ihre Haufen. O Brackenburg, geht! hört einmal, was es giebt? Es muß etwas Besonderes sein. Geht, guter Brackenburg, thut mir den Gefallen.

Brackenburg. Ich gehe! Ich bin gleich wieder da! (Er reicht ihr abgehend die Hand; sie gibt ihm die ihrige.)

Mutter. Du schickst ihn schon wieder weg.

Klare. Ich bin neugierig. Und auch, verdenkt mir’s nicht, seine Gegenwart thut mir weh. Ich weiß immer nicht, wie ich mich gegen ihn betragen soll. Ich habe Unrecht gegen ihn, und mich nagt’s am Herzen, daß er es so lebendig fühlt.–Kann ich’s doch nicht ändern!

Mutter. Es ist ein so treuer Bursche.

Klare. Ich kann’s auch nicht lassen, ich muß ihm freundlich begegnen. Meine Hand drückt sich oft unversehens zu, wenn die seine mich so leise, so liebevoll anfaßt. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich ihn betrüge, daß ich in seinem Herzen eine vergebliche Hoffnung nähre. Ich bin übel dran. Weiß Gott, ich betrüg‘ ihn nicht. Ich will nicht, daß er hoffen soll, und ich kann ihn doch nicht verzweifeln lassen.

Mutter. Das ist nicht gut.

Klare. Ich hatte ihn gern und will ihm auch noch wohl in der Seele. Ich hätte ihn heiraten können, und glaube, ich war nie in ihn verliebt.

Mutter. Glücklich wärst du immer mit ihm gewesen.

Klare. Wäre versorgt und hätte ein ruhiges Leben.

Mutter. Und das ist alles durch deine Schuld verscherzt.

Klare. Ich bin in einer wunderlichen Lage. Wenn ich so nachdenke, wie es gegangen ist, weiß ich’s wohl und weiß es nicht. Und dann darf ich Egmont nur wieder ansehen, wird mir alles sehr begreiflich, ja, wäre mir weit mehr begreiflich. Ach, was ist’s ein Mann! Alle Provinzen beten ihn an, und ich in seinem Arm sollte nicht das glücklichste Geschöpf von der Welt sein?

Mutter. Wie wird’s in der Zukunft werden?

Klare. Ach, ich frage nur, ob er mich liebt; und ob er mich liebt, ist das eine Frage?

Mutter. Man hat nichts als Herzensangst mit seinen Kindern. Wie das ausgehen wird? Immer Sorge und Kummer! Es geht nicht gut aus! Du hast dich unglücklich gemacht! mich unglücklich gemacht.

Klare (gelassen). Ihr ließet es doch im Anfange.

Mutter. Leider war ich zu gut, bin immer zu gut.

Klare. Wenn Egmont vorbeiritt und ich ans Fenster lief, schaltet Ihr mich da? Tratet Ihr nicht selbst ans Fenster? Wenn er heraufsah, lächelte, nickte, mich grüßte, war es Euch zuwider? Fandet Ihr Euch nicht selbst in Eurer Tochter geehrt?

Mutter. Mache mir noch Vorwürfe.

Klare (gerührt). Wenn er nun öfter die Straße kam und wir wohl fühlten, daß er um meinetwillen den Weg machte, bemerktet Ihr’s nicht selbst mit heimlicher Freude? Rieft Ihr mich ab, wenn ich hinter den Scheiben stand und ihn erwartete?

Mutter. Dachte ich, daß es so weit kommen sollte?

Klare (mit stockender Stimme und zurückgehaltenen Thränen). Und wie er uns abends, in den Mantel eingehüllt, bei der Lampe überraschte, wer war geschäftig, ihn zu empfangen, da ich auf meinem Stuhl wie angekettet und staunend sitzen blieb?

Mutter. Und konnte ich fürchten, daß diese unglückliche Liebe das kluge Klärchen so bald hinreißen würde? Ich muß es nun tragen, daß meine Tochter–

Klare (mit ausbrechenden Thränen). Mutter! Ihr wollt’s nun! Ihr habt Eure Freude, mich zu ängstigen.

Mutter (weinend). Weine noch gar! mache mich noch elender durch deine Betrübnis! Ist mir’s nicht Kummer genug, daß meine einzige Tochter ein verworfenes Geschöpf ist?

Klare (aufstehend und kalt). Verworfen? Egmonts Geliebte verworfen?– Welche Fürstin neidete nicht das arme Klärchen um den Platz an seinem Herzen! O Mutter–meine Mutter, so redetet Ihr sonst nicht. Liebe Mutter, seid gut! Das Volk, was das denkt, die Nachbarinnen, was die murmeln–Diese Stube, dieses kleine Haus ist ein Himmel, seit Egmonts Liebe drin wohnt.

Mutter. Man muß ihm hold sein! das ist wahr. Er ist immer so freundlich, frei und offen.

Klare. Es ist keine falsche Ader an ihm. Seht, Mutter, und er ist doch der große Egmont. Und wenn er zu mir kommt, wie er so lieb ist, so gut! wie er mir seinen Stand, seine Tapferkeit gerne verbärge! wie er um mich besorgt ist! so nur Mensch, nur Freund, nur Liebster.

Mutter. Kommt er wohl heute?

Klare. Habt Ihr mich nicht oft ans Fenster gehen sehn? Habt Ihr nicht bemerkt, wie ich horche, wenn’s an der Thür rauscht? Ob ich schon weiß, daß er vor Nacht nicht kommt, vermut‘ ich ihn doch jeden Augenblick, von morgens an, wenn ich aufstehe. Wär‘ ich nur ein Bube und könnte immer mit ihm gehen, zu Hufe und überall hin! Könnt‘ ihm die Fahne nachtragen in der Schlacht!–

Mutter. Du warst immer so ein Springinsfeld; als ein kleines Kind schon, bald toll, bald nachdenklich. Ziehst du dich nicht ein wenig besser an?

Klare. Vielleicht, Mutter! wenn ich Langeweile habe.–Gestern, denkt, gingen von seinen Leuten vorbei und sangen Lobliedchen auf ihn. Wenigstens war sein Name in den Liedern; das übrige konnt‘ ich nicht verstehn. Das Herz schlug mir bis an den Hals.–Ich hätte sie gern zurückgerufen, wenn ich mich nicht geschämt hätte.

Mutter, Nimm dich in acht! Dein heftiges Wesen verdirbt noch alles; du verrätst dich offenbar vor den Leuten. Wie neulich bei dem Vetter, wie du den Holzschnitt und die Beschreibung fandst und mit einem Schrei riefst: Graf Egmont!–Ich ward feuerrot.

Klare. Hätt‘ ich nicht schreien sollen? Es war die Schlacht bei Gravelingen; und ich finde oben im Bilde den Buchstaben C. und suche unten in der Beschreibung C. Steht da: „Graf Egmont, dem das Pferd unter dem Leibe totgeschossen wird.“ Mich überlief’s–und hernach mußt ich lachen über den holzgeschnitzten Egmont, der so groß war als der Turm von Gravelingen gleich dabei und die englischen Schiffe an der Seite.–Wenn ich mich manchmal erinnere, wie ich mir sonst eine Schlacht vorgestellt, und was ich mir als Mädchen für ein Bild vom Grafen Egmont machte, wenn sie von ihm erzählten, und von allen Grafen und Fürsten–und wie mir’s jetzt ist!

(Brackenburg kommt.)

Klare. Wie stehts?

Brackenburg. Man weiß nichts Gewisses. In Flandern soll neuerdings ein Tumult entstanden sein; die Regentin soll besorgen, er möchte sich hieher verbreiten. Das Schloß ist stark besetzt, die Bürger sind zahlreich an den Thoren, das Volk summt in den Gassen.–Ich will nur schnell zu meinem alten Vater. (Als wollt‘ er gehen.)

Klare. Sieht man Euch morgen? Ich will mich ein wenig anziehen. Der Vetter kommt, und ich sehe gar zu liederlich aus. Helft mir einen Augenblick, Mutter.–Nehmt das Buch mit, Brackenburg, und bringt mir wieder so eine Historie.

Mutter. Lebt wohl!

Brackenburg (seine Hand reichend). Eure Hand!

Klare (ihre Hand versagend). Wenn Ihr wiederkommt.

(Mutter und Tochter ab.)

Brackenburg (allein). Ich hatte mir vorgenommen, gerade wieder fortzugehn, und da sie es dafür aufnimmt und mich gehen läßt, möcht‘ ich rasend werden.–Unglücklicher! und dich rührt deines Vaterlandes Geschick nicht? der wachsende Tumult nicht?–und gleich ist dir Landsmann oder Spanier, und wer regiert und wer Recht hat?–War ich doch ein andrer Junge als Schulknabe!–Wenn da ein Exerzitium aufgegeben war: „Brutus‘ Rede für die Freiheit, zur Übung der Redekunst“; da war doch immer Fritz der erste, und der Rektor sagte: wenn’s nur ordentlicher wäre, nur nicht alles so über einander gestolpert.–Damals kocht‘ es und trieb! –Jetzt schlepp‘ ich mich an den Augen des Mädchens so hin. Kann ich sie doch nicht lassen! Kann sie mich doch nicht lieben!–Ach–Nein–Sie–Sie kann mich nicht ganz verworfen haben.–Nicht ganz–und halb und nichts! –Ich duld‘ es nicht länger!–Sollte es wahr sein, was mir ein Freund neulich ins Ohr sagte? daß sie nachts einen Mann heimlich zu sich einläßt, da sie mich züchtig immer vor Abend aus dem Hause treibt. Nein, es ist nicht wahr, es ist eine Lüge, eine schändliche verleumderische Lüge! Klärchen ist so unschuldig, als ich unglücklich bin.–Sie hat mich verworfen, hat mich von ihrem Herzen gestoßen–Und ich soll so fortleben? Ich duld‘, ich duld‘ es nicht.–Schon wird mein Vaterland von innerm Zwiste heftiger bewegt, und ich sterbe unter dem Getümmel nur ab! Ich duld‘ es nicht!–Wenn die Trompete klingt, ein Schuß fällt, mir fährt’s durch Mark und Bein! Ach, es reizt mich nicht, es fordert mich nicht, auch mit einzugreifen, mit zu retten, zu wagen.–Elender, schimpflicher Zustand! Es ist besser, ich end‘ auf einmal. Neulich stürzt‘ ich mich ins Wasser, ich sank–aber die geängstete Natur war stärker; ich fühlte, daß ich schwimmen konnte, und rettete mich wider Willen.–Könnt‘ ich der Zeiten vergessen, da sie mich liebte, mich zu lieben schien!–Warum hat mir’s Mark und Bein durchdrungen, das Glück? Warum haben mir diese Hoffnungen allen Genuß des Lebens aufgezehrt, indem sie mir ein Paradies von weitem zeigten?–Und jener erste Kuß! Jener einzige!–Hier (die Hand auf den Tisch legend), hier waren wir allein–sie war immer gut und freundlich gegen mich gewesen–da schien sie sich zu erweichen–sie sah mich an–alle Sinnen gingen mir um, und ich fühlte ihre Lippen auf den meinigen.–Und–und nun?–Stirb, Armer! Was zauderst du? (Er zieht ein Fläschchen aus der Tasche.) Ich will dich nicht umsonst aus meines Bruders Doktorkästchen gestohlen haben, heilsames Gift! Du sollst mir dieses Bangen, diese Schwindel, diese Todesschweiße auf einmal verschlingen und lösen.

Zweiter Aufzug.

Platz in Brüssel.

Jetter und ein Zimmermeister treten zusammen.

Zimmermeister. Sagt‘ ich’s nicht voraus? Noch vor acht Tagen auf der Zunft sagt‘ ich, es würde schwere Händel geben.

Jetter. Ist’s denn wahr, daß sie die Kirchen in Flandern geplündert haben?

Zimmermeister. Ganz und gar zu Grunde gerichtet haben sie Kirchen und Kapellen. Nichts als die vier nackten Wände haben sie stehen lassen. Lauter Lumpengesindel! Und das macht unsre gute Sache schlimm. Wir hätten eher, in der Ordnung, und standhaft, unsere Gerechtsame der Regentin vortragen und drauf halten sollen. Reden wir jetzt, versammeln wir uns jetzt, so heißt es, wir gesellen uns zu den Aufwieglern.

Jetter. Ja, so denkt jeder zuerst: was sollst du mit deiner Nase voran? Hängt doch der Hals gar nah damit zusammen.

Zimmermeister. Mir ist’s bange, wenn’s einmal unter dem Pack zu lärmen anfängt, unter dem Volk, das nichts zu verlieren hat. Die brauchen das zum Vorwande, worauf wir uns auch berufen müssen, und bringen das Land in Unglück. (Soest tritt dazu.)

Soest. Guten Tag, ihr Herrn! Was giebt’s Neues? Ist’s wahr, daß die Bilderstürmer gerade hierher ihren Lauf nehmen?

Zimmermeister. Hier sollen sie nichts anrühren.

Soest. Es trat ein Soldat bei mir ein, Tobak zu kaufen; den fragt‘ ich aus. Die Regentin, so eine wackre, kluge Frau sie bleibt, diesmal ist sie außer Fassung. Es muß sehr arg sein, daß sie sich so geradezu hinter ihre Wache versteckt. Die Burg ist scharf besetzt. Man meint sogar, sie wolle aus der Stadt flüchten.

Zimmermeister. Hinaus soll sie nicht! Ihre Gegenwart beschützt uns, und wir wollen ihr mehr Sicherheit verschaffen als ihre Stutzbärte. Und wenn sie uns unsere Rechte und Freiheiten aufrecht erhält, so wollen wir sie auf den Händen tragen.

(Seifensieder tritt dazu.)

Seifensieder. Garstige Händel! Üble Händel! Es wird unruhig und geht schief aus!–Hütet euch, daß ihr stille bleibt, daß man euch nicht auch für Aufwiegler hält.

Soest. Da kommen die sieben Weisen aus Griechenland.

Seifensieder. Ich weiß, da sind viele, die es heimlich mit den Calvinisten halten, die auf die Bischöfe lästern, die den König nicht scheuen. Aber ein treuer Unterthan, ein aufrichtiger Katholike–

(Es gesellt sich nach und nach allerlei Volk zu ihnen und horcht.)

(Vansen tritt dazu.)

Vansen. Gott grüß‘ euch Herren! Was Neues?

Zimmermeister. Gebt euch mit dem nicht ab, das ist ein schlechter Kerl.

Jetter. Ist es nicht der Schreiber beim Doktor Wiets?

Zimmermeister. Er hat schon viele Herren gehabt. Erst war er Schreiber, und wie ihn ein Patron nach dem andern fortjagte, Schelmstreiche halber, pfuscht er jetzt Notaren und Advokaten ins Handwerk, und ist ein Branntweinzapf.

(Es kommt mehr Volk zusammen und steht truppweise.)

Vansen. Ihr seid auch versammelt, steckt die Köpfe zusammen. Es ist immer redenswert,

Soest. Ich denk‘ auch.

Vansen. Wenn jetzt einer oder der andere Herz hätte, und einer oder der andere den Kopf dazu, wir könnten die spanischen Ketten auf einmal sprengen.

Soest. Herre! So müßt Ihr nicht reden. Wir haben dem König geschworen.

Vansen. Und der König uns. Merkt das.

Jetter. Das läßt sich hören! Sagt Eure Meinung!

Einige andere. Horch, der versteht’s! Der hat Pfiffe.

Vansen. Ich hatte einen alten Patron, der besaß Pergamente und Briefe von uralten Stiftungen, Kontrakten und Gerechtigkeiten; er hielt auf die rarsten Bücher. In einem stand unsere ganze Verfassung: wie uns Niederländer zuerst einzelne Fürsten regierten, alles nach hergebrachten Rechten, Privilegien und Gewohnheiten; wie unsre Vorfahren alle Ehrfurcht für ihren Fürsten gehabt, wenn er sie regiert, wie er sollte; und wie sie sich gleich vorsahen, wenn er über die Schnur hauen wollte. Die Staaten waren gleich hinterdrein; denn jede Provinz, so klein sie war, hatte ihre Staaten, ihre Landstände.

Zimmermeister. Haltet Euer Maul! das weiß man lange! Ein jeder rechtschaffene Bürger ist, so viel er braucht, von der Verfassung unterrichtet.

Jetter. Laßt ihn reden; man erfährt immer etwas mehr.

Soest. Er hat ganz recht.

Mehrere. Erzählt! erzählt! So was hört man nicht alle Tage.

Vansen. So seid ihr Bürgersleute! Ihr lebt nur so in den Tag hin; und wie ihr euer Gewerb von euern Eltern überkommen habt, so laßt ihr auch das Regiment über euch schalten und walten, wie es kann und mag. Ihr fragt nicht nach dem Herkommen, nach der Historie, nach dem Recht eines Regenten; und über das Versäumnis haben euch die Spanier das Netz über die Ohren gezogen.

Soest. Wer denkt da dran? Wenn einer nur das tägliche Brot hat!

Jetter. Verflucht! Warum tritt auch keiner in Zeiten auf und sagt einem so etwas?

Vansen. Ich sag‘ es euch jetzt. Der König in Spanien, der die Provinzen durch gut Glück zusammen besitzt, darf doch nicht drin schalten und walten, anders als die kleinen Fürsten, die sie ehemals einzeln besaßen. Begreift ihr das?

Jetter. Erklärt’s uns.

Vansen. Es ist so klar als die Sonne. Müßt ihr nicht nach euern Landrechten gerichtet werden? Woher käme das?

Ein Bürger. Wahrlich.

Vansen. Hat der Brüsseler nicht ein ander Recht als der Antwerper? der Antwerper als der Genter? Woher käme denn das?

Anderer Bürger. Bei Gott!

Vansen. Aber, wenn ihr’s so fortlaufen laßt, wird man’s euch bald anders weisen. Pfui! Was Karl der Kühne, Friedrich der Krieger, Karl der Fünfte nicht konnten, das thut nun Philipp durch ein Weib.

Soest. Ja, ja! Die alten Fürsten haben’s auch schon probiert.

Vansen. Freilich!–Unsere Vorfahren paßten auf. Wie sie einem Herrn gram wurden, fingen sie ihm etwa seinen Sohn und Erben weg, hielten ihn bei sich, und gaben ihn nur auf die besten Bedingungen heraus. Unsere Väter waren Leute! Die wußten was ihnen nütz war! Die wußten etwas zu fassen und fest zu setzen! Rechte Männer! Dafür sind aber auch unsere Privilegien so deutlich, unsere Freiheiten so versichert.

Seifensieder. Was sprecht Ihr von Freiheiten?

Das Volk. Von unsern Freiheiten, von unsern Privilegien! Erzählt noch was von unsern Privilegien!

Vansen. Wir Brabanter besonders, obgleich alle Provinzen ihre Vorteile haben, wir sind am herrlichsten versehen. Ich habe alles gelesen.

Soest. Sagt an.

Jetter. Laßt hören.

Ein Bürger. Ich bitt‘ Euch.

Vansen. Erstlich steht geschrieben: Der Herzog von Brabant soll uns ein guter und getreuer Herr sein.

Soest. Gut! Steht das so?

Jetter. Getreu? Ist das wahr?

Vansen. Wie ich euch sage. Er ist uns verpflichtet, wie wir ihm. Zweitens: Er soll keine Macht oder eignen Willen an uns beweisen, merken lassen, oder gedenken zu gestatten, auf keinerlei Weise.

Jetter. Schön! Schön! nicht beweisen.

Soest. Nicht merken lassen.

Ein anderer. Und nicht gedenken zu gestatten! Das ist der Hauptpunkt. Niemanden gestatten, auf keinerlei Weise.

Vansen. Mit ausdrücklichen Worten.

Jetter. Schafft uns das Buch.

Ein Bürger. Ja, wir müssen’s haben.

Andere. Das Buch! das Buch!

Ein anderer. Wir wollen zu der Regentin gehen mit dem Buche.

Ein anderer. Ihr sollt das Wort führen, Herr Doktor.

Seifensieder. O die Tröpfe!

Andere. Noch etwas aus dem Buche!

Seifensieder. Ich schlage ihm die Zähne in den Hals, wenn er noch ein Wort sagt.

Das Volk. Wir wollen sehen, wer ihm etwas thut. Sagt uns was von den Privilegien! Haben wir noch mehr Privilegien?

Vansen. Mancherlei, und sehr gute, sehr heilsame. Da steht auch: Der Landsherr soll den geistlichen Stand nicht verbessern oder mehren, ohne Verwilligung des Adels und der Stände! Merkt das! Auch den Staat des Landes nicht verändern.

Soest. Ist das so?

Vansen. Ich will’s euch geschrieben zeigen von zwei-, dreihundert Jahren her.

Bürger. Und wir leiden die neuen Bischöfe? Der Adel muß uns schützen, wir fangen Händel an!

Andere. Und wir lassen uns von der Inquisition ins Bockshorn jagen?

Vansen. Das ist eure Schuld.

Das Volk. Wir haben noch Egmont! noch Oranien! Die sorgen für unser Bestes.

Vansen. Eure Brüder in Flandern haben das gute Werk angefangen.

Seifensieder. Du Hund! (Er schlägt ihn.)

Andere (widersetzen sich und rufen). Bist du auch ein Spanier?

Ein anderer. Was? den Ehrenmann?

Ein anderer. Den Gelahrten?

(Sie fallen den Seifensieder an.)

Zimmermeister. Ums Himmels willen, ruht! (Andere mischen sich in den Streit.)

Zimmermeister. Bürger, was soll das?

(Buben pfeifen, werfen mit Steinen, hetzen Hunde an, Bürger stehn und gaffen, Volk läuft zu, andere gehn gelassen auf und ab, andere treiben allerlei Schalkspossen, schreien und jubilieren.)

Andere. Freiheit und Privilegien! Privilegien und Freiheit!

(Egmont tritt auf mit Begleitung.)

Egmont. Ruhig! Ruhig, Leute! Was gibt’s? Ruhe! Bringt sie aus einander!

Zimmermeister. Gnädiger Herr, Ihr kommt wie ein Engel des Himmels. Stille! seht ihr nichts? Graf Egmont! Dem Grafen Egmont Reverenz!

Egmont. Auch hier? Was fangt ihr an? Bürger gegen Bürger! Hält sogar die Nähe unsrer königlichen Regentin diesen Unsinn nicht zurück? Geht aus einander, geht an euer Gewerbe. Es ist ein übles Zeichen, wenn ihr an Werktagen feiert. Was war’s?

(Der Tumult stillt sich nach und nach, und alle stehen um ihn herum.)

Zimmermeister. Sie schlagen sich um ihre Privilegien.

Egmont. Die sie noch mutwillig zertrümmern werden–Und wer seid Ihr? Ihr scheint mir rechtliche Leute.

Zimmermeister. Das ist unser Bestreben.

Egmont. Eures Zeichens?

Zimmermeister. Zimmermann und Zunftmeister.

Egmont. Und Ihr?

Soest. Krämer.

Egmont. Ihr?

Jetter. Schneider.

Egmont. Ich erinnere mich, Ihr habt mit an den Livreen für meine Leute gearbeitet. Euer Name ist Jetter.

Jetter. Gnade, daß Ihr Euch dessen erinnert.

Egmont. Ich vergesse niemanden leicht, den ich einmal gesehen und gesprochen habe.–Was an euch ist, Ruhe zu erhalten, Leute, das thut; ihr seid übel genug angeschrieben. Reizt den König nicht mehr, er hat zuletzt doch die Gewalt in Händen. Ein ordentlicher Bürger, der sich ehrlich und fleißig nährt, hat überall soviel Freiheit, als er braucht.

Zimmermeister. Ach wohl! das ist eben unsre Not! Die Tagdiebe, die Söffer, die Faulenzer, mit Euer Gnaden Verlaub, die stänkern aus Langerweile, und scharren aus Hunger nach Privilegien, und lügen den Neugierigen und Leichtgläubigen was vor, und um eine Kanne Bier bezahlt zu kriegen, fangen sie Händel an, die viel tausend Menschen unglücklich machen. Das ist ihnen eben recht. Wir halten unsre Häuser und Kasten zu gut verwahrt; da möchten sie gern uns mit Feuerbränden davon treiben.

Egmont. Allen Beistand sollt ihr finden; es sind Maßregeln genommen, dem Übel kräftig zu begegnen. Steht fest gegen die fremde Lehre und glaubt nicht, durch Aufruhr befestige man Privilegien. Bleibt zu Hause; leidet nicht, daß sie sich auf den Straßen rotten. Vernünftige Leute können viel thun.

(Indessen hat sich der größte Haufe verlaufen.)

Zimmermeister. Danken Euer Excellenz, danken für die gute Meinung! Alles, was an uns liegt. (Egmont ab.) Ein gnädiger Herr! der echte Niederländer! Gar so nichts Spanisches.

Jetter. Hätten wir ihn nur zum Regenten! Man folgt‘ ihm gerne.

Soest. Das läßt der König wohl sein. Den Platz besetzt er immer mit den Seinigen.

Jetter. Hast du das Kleid gesehen? Das war nach der neuesten Art, nach spanischem Schnitt.

Zimmermeister. Ein schöner Herr!

Jetter. Sein Hals wär‘ ein rechtes Fressen für einen Scharfrichter.

Soest. Bist du toll? Was kommt dir ein?

Jetter. Dumm genug, daß einem so etwas einfällt.–Es ist mir nun so. Wenn ich einen schönen langen Hals sehe, muß ich gleich wider Willen denken: der ist gut köpfen.–Die verfluchten Exekutionen! man kriegt sie nicht aus dem Sinne. Wenn die Bursche schwimmen und ich seh‘ einen nackten Buckel, gleich fallen sie mir zu Dutzenden ein, die ich habe mit Ruten streichen sehen. Begegnet mir ein rechter Wanst, mein‘ ich, den säh‘ ich schon am Pfahl braten. Des Nachts im Traume zwickt mich’s an allen Gliedern; man wird eben keine Stunde froh. Jede Lustbarkeit, jeden Spaß hab‘ ich bald vergessen; die fürchterlichen Gestalten sind mir wie vor die Stirne gebrannt.

Egmonts Wohnung.

(Sekretär an einem Tische mit Papieren, er steht unruhig auf.)

Sekretär. Er kommt immer nicht! und ich warte schon zwei Stunden, die Feder in der Hand, die Papiere vor mir; und eben heute möcht‘ ich gern so zeitig fort. Es brennt mir unter den Sohlen! Ich kann vor Ungeduld kaum bleiben. „Sei auf die Stunde da,“ befahl er mir noch, ehe er wegging; nun kommt er nicht. Es ist so viel zu thun, ich werde vor Mitternacht nicht fertig. Freilich sieht er einem auch einmal durch die Finger. Doch hielt‘ ich’s besser, wenn er strenge wäre und ließe einen auch wieder zur bestimmten Zeit. Man könnte sich einrichten. Von der Regentin ist er nun schon zwei Stunden weg; wer weiß, wen er unterwegs angefaßt hat.

(Egmont tritt auf.)

Egmont. Wie sieht’s aus?

Sekretär. Ich bin bereit, und drei Boten warten.

Egmont. Ich bin dir wohl zu lang geblieben; du machst ein verdrießlich Gesicht.

Sekretär. Eurem Befehl zu gehorchen, wart‘ ich schon lange. Hier sind die Papiere.

Egmont. Donna Elvira wird böse auf mich werden, wenn sie hört, daß ich dich abgehalten habe.

Sekretär. Ihr scherzt.

Egmont. Nein, nein. Schäme dich nicht. Du zeigst einen guten Geschmack. Sie ist hübsch; und es ist mir ganz recht, daß du auf dem Schlosse eine Freundin hast. Was sagen die Briefe?

Sekretär. Mancherlei, und wenig Erfreuliches.

Egmont. Da ist gut, daß wir die Freude zu Hause haben und sie nicht von auswärts zu erwarten brauchen. Ist viel gekommen?

Sekretär. Genug, und drei Boten warten.

Egmont. Sag‘ an! das Nötigste.

Sekretär. Es ist alles nötig.

Egmont. Eins nach dem andern, nur geschwind!

Sekretär. Hauptmann Breda schickt die Relation, was weiter in Gent und der umliegenden Gegend vorgefallen. Der Tumult hat sich meistens gelegt. —

Egmont. Er schreibt wohl noch von einzelnen Ungezogenheiten und Tollkühnheiten?

Sekretär. Ja! Es kommt noch manches vor.

Egmont. Verschone mich damit.

Sekretär. Noch sechs sind eingezogen worden, die bei Verwich das Marienbild umgerissen haben. Er fragt an, ob er sie auch wie die andern soll hängen lassen.

Egmont. Ich bin des Hängens müde. Man soll sie durchpeitschen, und sie mögen gehen.

Sekretär. Es sind zwei Weiber dabei; soll er die auch durchpeitschen?

Egmont. Die mag er verwarnen und laufen lassen.

Sekretär. Brink von Bredas Kompagnie will heiraten. Der Hauptmann hofft, Ihr werdet’s ihm abschlagen. Es sind so viele Weiber bei dem Haufen, schreibt er, daß, wenn wir ausziehen, es keinem Soldatenmarsch, sondern einem Zigeuner-Geschleppe ähnlich sehen wird.

Egmont. Dem mag’s noch hingehen! Es ist ein schöner junger Kerl; er bat mich noch gar dringend, eh‘ ich wegging. Aber nun soll’s keinem mehr gestattet sein, so leid mir’s thut, den armen Teufeln, die ohnedies geplagt genug sind, ihren besten Spaß zu versagen.

Sekretär. Zwei von Euern Leuten, Seter und Hart, haben einem Mädel, einer Wirtstochter, übel mitgespielt. Sie kriegten sie allein, und die Dirne konnte sich ihrer nicht erwehren.

Egmont. Wenn es ein ehrlich Mädchen ist, und sie haben Gewalt gebraucht, so soll er sie drei Tage hinter einander mit Ruten streichen lassen, und wenn sie etwas besitzen, soll er so viel davon einziehen, daß dem Mädchen eine Ausstattung gereicht werden kann.

Sekretär. Einer von den fremden Lehrern ist heimlich durch Comines gegangen und entdeckt worden. Er schwört, er sei im Begriff, nach Frankreich zu gehen. Nach dem Befehl soll er enthauptet werden.

Egmont. Sie sollen ihn in der Stille an die Grenze bringen und ihm versichern, daß er das zweite Mal nicht so wegkommt.

Sekretär. Ein Brief von Euerm Einnehmer. Er schreibt: es komme wenig Geld ein, er könne auf die Woche die verlangte Summe schwerlich schicken; der Tumult habe in alles die größte Konfusion gebracht.

Egmont. Das Geld muß herbei! er mag sehen, wie er es zusammenbringt.

Sekretär. Er sagt: er werde sein Möglichstes thun, und wolle endlich den Raymond, der Euch so lange schuldig ist, verklagen und in Verhaft nehmen lassen.

Egmont. Der hat ja versprochen zu bezahlen.

Sekretär. Das letzte Mal setzte er sich selbst vierzehn Tage.

Egmont. So gebe man ihm noch vierzehn Tage; und dann mag er gegen ihn verfahren.

Sekretär. Ihr thut wohl. Es ist nicht Unvermögen; es ist böser Wille. Er macht gewiß Ernst, wenn er sieht, Ihr spaßt nicht.–Ferner sagt der Einnehmer: er wolle den alten Soldaten, den Witwen und einigen andern, denen Ihr Gnadengehalte gebt, die Gebühr einen halben Monat zurückhalten; man könne indessen Rat schaffen; sie möchten sich einrichten.

Egmont. Was ist da einzurichten? Die Leute brauchen das Geld nötiger als ich. Das soll er bleiben lassen.

Sekretär. Woher befehlt Ihr denn, daß er das Geld nehmen soll?

Egmont. Darauf mag er denken; es ist ihm im vorigen Briefe schon gesagt.

Sekretär. Deswegen thut er die Vorschläge.

Egmont. Die taugen nicht; er soll auf was anders sinnen. Er soll Vorschläge thun, die annehmlich sind, und vor allem soll er das Geld schaffen.

Sekretär. Ich habe den Brief des Grafen Oliva wieder hieher gelegt. Verzeiht, daß ich Euch daran erinnere. Der alte Herr verdient vor allen andern eine ausführliche Antwort. Ihr wolltet ihm selbst schreiben. Gewiß, er liebt Euch wie ein Vater.

Egmont. Ich komme nicht dazu. Und unter vielem Verhaßten ist mir das Schreiben das Verhaßteste. Du machst meine Hand ja so gut nach, schreib‘ in meinem Namen. Ich erwarte Oranien. Ich komme nicht dazu, und wünschte selbst, daß ihm auf seine Bedenklichkeiten was recht Beruhigendes geschrieben würde.

Sekretär. Sagt mir nur ungefähr Eure Meinung; ich will die Antwort schon aufsetzen und sie Euch vorlegen. Geschrieben soll sie werden, daß sie vor Gericht für Eure Hand gelten kann.

Egmont. Gieb mir den Brief. (Nachdem er hineingesehen.) Guter ehrlicher Alter! Warst du in deiner Jugend auch wohl so bedächtig? Erstiegst du nie einen Wall? Bliebst du in der Schlacht, wo es die Klugheit anrät, hinten?–Der treue Sorgliche! Er will mein Leben und mein Glück, und fühlt nicht, daß der schon tot ist, der um seiner Sicherheit willen lebt. –Schreib‘ ihm, er möge unbesorgt sein; ich handle, wie ich soll, ich werde mich schon wahren: sein Ansehn bei Hofe soll er zu meinen Gunsten brauchen und meines vollkommnen Dankes gewiß sein.

Sekretär. Nichts weiter? O, er erwartet mehr.

Egmont. Was soll ich mehr sagen? Willst du mehr Worte machen, so steht’s bei dir. Es dreht sich immer um den einen Punkt: ich soll leben, wie ich nicht leben mag. Daß ich fröhlich bin, die Sachen leicht nehme, rasch lebe, das ist mein Glück; und ich vertausch‘ es nicht gegen die Sicherheit eines Totengewölbes. Ich habe nun zu der spanischen Lebensart nicht einen Blutstropfen in meinen Adern, nicht Lust, meine Schritte nach der neuen bedächtigen Hof-kadenz zu mustern. Leb‘ ich nur, um auf’s Leben zu denken? Soll ich den gegenwärtigen Augenblick nicht genießen, damit ich des folgenden gewiß sei? Und diesen wieder mit Sorgen und Grillen verzehren?

Sekretär. Ich bitt‘ Euch, Herr, seid nicht so harsch und rauh gegen den guten Mann. Ihr seid ja sonst gegen alle freundlich. Sagt mir ein gefällig Wort, das den edeln Freund beruhige. Seht, wie sorgfältig er ist, wie leis‘ er Euch berührt.

Egmont. Und doch berührt er immer diese Saite. Er weiß von alters her, wie verhaßt mir diese Ermahnungen sind; sie machen nur irre, sie helfen nichts. Und wenn ich ein Nachtwandler wäre, und auf dem gefährlichen Gipfel eines Hauses spazierte, ist es freundschaftlich, mich beim Namen zu rufen und mich zu warnen, zu wecken und zu töten? Laßt jeden seines Pfades gehn; er mag sich wahren.

Sekretär. Es ziemt Euch, nicht zu sorgen; aber wer Euch kennt und liebt —

Egmont (in den Brief sehend). Da bringt er wieder die alten Märchen auf, was wir an einem Abend in leichtem Übermut der Geselligkeit und des Weins getrieben und gesprochen, und was man daraus für Folgen und Beweise durchs ganze Königreich gezogen und geschleppt habe.–Nun gut! wir haben Schellenkappen, Narrenkutten auf unsrer Diener Ärmel sticken lassen, und haben diese tolle Zierde nachher in ein Bündel Pfeile verwandelt; ein noch gefährlicher Symbol für alle, die deuten wollen, wo nichts zu deuten ist. Wir haben die und jene Thorheit in einem lustigen Augenblick empfangen gleich und geboren; sind schuld, daß eine ganze edle Schar mit Bettelsäcken und mit einem selbstgewählten Unnamen dem Könige seine Pflicht mit spottender Demut ins Gedächtnis rief; sind schuld–was ist’s nun weiter? Ist ein Fastnachtsspiel gleich Hochverrat? Sind uns die kurzen bunten Lumpen zu mißgönnen, die ein jugendlicher Mut, eine angefrischte Phantasie um unsers Lebens arme Blöße hängen mag? Wenn ihr das Leben gar zu ernsthaft nehmt, was ist denn dran? Wenn uns der Morgen nicht zu neuen Freuden weckt, am Abend uns keine Lust zu hoffen übrig bleibt, ist’s wohl des An- und Ausziehens wert? Scheint mir die Sonne heut‘, um das zu überlegen, was gestern war? und um zu raten, zu verbinden, was nicht zu erraten, nicht zu verbinden ist, das Schicksal eines kommenden Tages? Schenke mir diese Betrachtungen; wir wollen sie Schülern und Höflingen überlassen. Die mögen sinnen und aussinnen, wandeln und schleichen, gelangen wohin sie können, erschleichen, was sie können.–Kannst du von allem diesem etwas brauchen, daß deine Epistel kein Buch wird, so ist mir’s recht. Dem guten Alten scheint alles viel zu wichtig. So drückt ein Freund, der lang unsre Hand gehalten, sie stärker noch einmal, wenn er sie lassen will.

Sekretär. Verzeiht mir! Es wird dem Fußgänger schwindlig, der einen Mann mit rasselnder Eile daher fahren sieht.

Egmont. Kind! Kind! nicht weiter! Wie von unsichtbaren Geistern gepeitscht, gehen die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen durch; und uns bleibt nichts, als mutig gefaßt die Zügel festzuhalten, und bald rechts, bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die Räder wegzulenken. Wohin es geht, wer weiß es? Erinnert er sich doch kaum, woher er kam!

Sekretär. Herr! Herr!

Egmont. Ich stehe hoch, und kann und muß noch höher steigen; ich fühle mir Hoffnung, Mut und Kraft. Noch hab‘ ich meines Wachstums Gipfel nicht erreicht; und steh‘ ich droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehn. Soll ich fallen, so mag ein Donnerschlag, ein Sturmwind, ja ein selbst verfehlter Schritt mich abwärts in die Tiefe stürzen; da lieg‘ ich mit viel Tausenden. Ich habe nie verschmäht, mit meinen guten Kriegsgesellen um kleinen Gewinst das blutige Los zu werfen; und sollt‘ ich knickern, wenn’s um den ganzen freien Wert des Lebens geht?

Sekretär. O Herr! Ihr wißt nicht, was für Worte Ihr sprecht! Gott erhalt‘ Euch!

Egmont. Nimm deine Papiere zusammen. Oranien kommt. Fertige aus, was am nötigsten ist, daß die Boten fortkommen, eh‘ die Thore geschlossen werden. Das andere hat Zeit. Den Brief an den Grafen laß bis morgen; versäume nicht, Elviren zu besuchen, und grüße sie von mir.–Horche, wie sich die Regentin befindet; sie soll nicht wohl sein, ob sie’s gleich verbirgt. (Sekretär ab.)

(Oranien kommt.)

Egmont. Willkommen, Oranien. Ihr scheint mir nicht ganz frei.

Oranien. Was sagt Ihr zu unsrer Unterhaltung mit der Regentin?

Egmont. Ich fand in ihrer Art uns aufzunehmen nichts Außerordentliches. Ich habe sie schon öfter so gesehen. Sie schien mir nicht ganz wohl.

Oranien. Merktet Ihr nicht, daß sie zurückhaltender war? Erst wollte sie unser Betragen bei dem neuen Aufruhr des Pöbels gelassen billigen; nachher merkte sie an, was sich doch auch für ein falsches Licht darauf werfen lasse; wich dann mit dem Gespräche zu ihrem alten gewöhnlichen Diskurs: daß man ihre liebevolle, gute Art, ihre Freundschaft zu uns Niederländern nie genug erkannt, zu leicht behandelt habe, daß nichts einen erwünschten Ausgang nehmen wolle, daß sie am Ende wohl müde werden, der König sich zu andern Maßregeln entschließen müsse. Habt Ihr das gehört?

Egmont. Nicht alles; ich dachte unterdessen an was anders. Sie ist ein Weib, guter Oranien, und die möchten immer gern, daß sich alles unter ihr sanftes Joch gelassen schmiegte, daß jeder Herkules die Löwenhaut ablegte und ihren Kunkelhof vermehrte; daß, weil sie friedlich gesinnt sind, die Gärung, die ein Volk ergreift, der Sturm, den mächtige Nebenbuhler gegen einander erregen, sich durch ein freundlich Wort beilegen ließe, und die widrigsten Elemente sich zu ihren Füßen in sanfter Eintracht vereinigten. Das ist ihr Fall; und da sie es dahin nicht bringen kann, so hat sie keinen Weg, als launisch zu werden, sich über Undankbarkeit, Unweisheit zu beklagen, mit schrecklichen Aussichten in die Zukunft zu drohen, und zu drohen, daß sie–fortgehn will.

Oranien. Glaubt Ihr dasmal nicht, daß sie ihre Drohung erfüllt?

Egmont. Nimmermehr! Wie oft habe ich sie schon reisefertig gesehn! Wo will sie denn hin? Hier Statthalterin, Königin; glaubst du, daß sie es unterhalten wird, am Hofe ihres Bruders unbedeutende Tage abzuhaspeln? oder nach Italien zu gehen und sich in alten Familienverhältnissen herumzuschleppen?

Oranien. Man hält sie dieser Entschließung nicht fähig, weil Ihr sie habt zaudern, weil Ihr sie habt zurücktreten sehn; dennoch liegt’s wohl in ihr; neue Umstände treiben sie zu dem lang verzögerten Entschluß. Wenn sie ginge? und der König schickte einen andern?

Egmont. Nun, der würde kommen, und würde eben auch zu thun finden. Mit großen Planen, Projekten und Gedanken würde er kommen, wie er alles zurecht rücken, unterwerfen und zusammenhalten wolle; und würde heut‘ mit dieser Kleinigkeit, morgen mit einer andern zu thun haben, übermorgen jene Hindernis finden, einen Monat mit Entwürfen, einen andern mit Verdruß über fehlgeschlagne Unternehmen, ein halb Jahr in Sorgen über eine einzige Provinz zubringen. Auch ihm wird die Zeit vergehn, der Kopf schwindeln, und die Dinge wie zuvor ihren Gang halten, daß er, statt weite Meere nach einer vorgezogenen Linie zu durchsegeln, Gott danken mag, wenn er sein Schiff in diesem Sturme vom Felsen hält.

Oranien. Wenn man nun aber dem König zu einem Versuch riete?

Egmont. Der wäre?

Oranien. Zu sehen, was der Rumpf ohne Haupt anfinge.

Egmont. Wie?

Oranien. Egmont, ich trage viele Jahre her alle unsere Verhältnisse am Herzen, ich stehe immer wie über einem Schachspiele und halte keinen Zug des Gegners für unbedeutend; und wie müßige Menschen mit der größten Sorgfalt sich um die Geheimnisse der Natur bekümmern, so halt‘ ich es für Pflicht, für Beruf eines Fürsten, die Gesinnungen, die Ratschläge aller Parteien zu kennen. Ich habe Ursach‘, einen Ausbruch zu befürchten. Der König hat lange nach gewissen Grundsätzen gehandelt; er sieht, daß er damit nicht auskommt; was ist wahrscheinlicher, als daß er es auf einem andern Wege versucht?

Egmont. Ich glaub’s nicht. Wenn man alt wird und hat so viel versucht, und es will in der Welt nie zur Ordnung kommen, muß man es endlich wohl genug haben.

Oranien. Eins hat er noch nicht versucht.

Egmont. Nun?

Oranien. Das Volk zu schonen und die Fürsten zu verderben.

Egmont. Wie viele haben das schon lange gefürchtet. Es ist keine Sorge.

Oranien. Sonst war’s Sorge; nach und nach ist mir’s Vermutung, zuletzt Gewißheit geworden.

Egmont. Und hat der König treuere Diener als uns?

Oranien. Wir dienen ihm auf unsere Art; und unter einander können wir gestehen, daß wir des Königs Rechte und die unsrigen wohl abzuwägen wissen.

Egmont. Wer thut’s nicht? Wir sind ihm unterthan und gewärtig in dem, was ihm zukommt.

Oranien. Wenn er sich nun aber mehr zuschriebe und Treulosigkeit nennte, was wir heißen, auf unsere Rechte halten?

Egmont. Wir werden uns verteidigen können. Er rufe die Ritter des Vließes zusammen, wir wollen uns richten lassen.

Oranien. Und was wäre ein Urteil vor der Untersuchung? eine Strafe vor dem Urteil?

Egmont. Eine Ungerechtigkeit, der sich Philipp nie schuldig machen wird; und eine Thorheit, die ich ihm und seinen Räten nicht zutraue.

Oranien. Und wenn sie nun ungerecht und thöricht wären?

Egmont. Nein, Oranien, es ist nicht möglich. Wer sollte wagen, Hand an uns zu legen?–Uns gefangen zu nehmen, wär‘ ein verlornes und fruchtloses Unternehmen. Nein, sie wagen nicht, das Panier der Tyrannei so hoch aufzustecken. Der Windhauch, der diese Nachricht über’s Land brächte, würde ein ungeheures Feuer zusammentreiben. Und wo hinaus wollten sie? Richten und verdammen kann nicht der König allein; und wollten sie meuchelmörderisch an unser Leben?–Sie können nicht wollen. Ein schrecklicher Bund würde in einem Augenblick das Volk vereinigen. Haß und ewige Trennung vom spanischen Namen würde sich gewaltsam erklären.

Oranien. Die Flamme wütete dann über unserm Grabe, und das Blut unsrer Feinde flösse zum leeren Sühnopfer. Laß uns denken, Egmont.

Egmont. Wie sollten sie aber?

Oranien. Alba ist unterwegs.

Egmont. Ich glaub’s nicht.

Oranien. Ich weiß es.

Egmont. Die Regentin wollte nichts wissen.

Oranien. Um desto mehr bin ich überzeugt. Die Regentin wird ihm Platz machen. Seinen Mordsinn kenn‘ ich, und ein Heer bringt er mit.

Egmont. Aufs neue die Provinzen zu belästigen? Das Volk wird höchst schwierig werden.

Oranien. Man wird sich der Häupter versichern.

Egmont. Nein! Nein!

Oranien. Laß uns gehen, jeder in seine Provinz. Dort wollen wir uns verstärken; mit offner Gewalt fängt er nicht an.

Egmont. Müssen wir ihn nicht begrüßen, wenn er kommt?

Oranien. Wir zögern.

Egmont. Und wenn er uns im Namen des Königs bei seiner Ankunft fordert?

Oranien. Suchen wir Ausflüchte.

Egmont. Und wenn er dringt?

Oranien. Entschuldigen wir uns.

Egmont. Und wenn er darauf besteht?

Oranien. Kommen wir um so weniger.

Egmont. Und der Krieg ist erklärt, und wir sind die Rebellen. Oranien, laß dich nicht durch Klugheit verführen; ich weiß, daß Furcht dich nicht weichen macht. Bedenke den Schritt.

Oranien. Ich hab‘ ihn bedacht.

Egmont. Bedenke, wenn du dich irrst, woran du schuld bist: an dem verderblichsten Kriege, der je ein Land verwüstet hat. Dein Weigern ist das Signal, das die Provinzen mit einmal zu den Waffen ruft, das jede Grausamkeit rechtfertigt, wozu Spanien von jeher nur gern den Vorwand gehascht hat. Was wir lange mühselig gestillt haben, wirst du mit einem Winke zur schrecklichsten Verwirrung aufhetzen. Denk‘ an die Städte, die Edeln, das Volk, an die Handlung, den Feldbau, die Gewerbe! und denke die Verwüstung, den Mord!–Ruhig sieht der Soldat wohl im Felde seinen Kameraden neben sich hinfallen; aber den Fluß herunter werden dir die Leichen der Bürger, der Kinder, der Jungfrauen entgegenschwimmen, daß du mit Entsetzen dastehst, und nicht mehr weißt, wessen Sache du verteidigst, da die zu Grunde gehen, für deren Freiheit du die Waffen ergriffst. Und wie wird dir’s sein, wenn du dir still sagen mußt: Für meine Sicherheit ergriff ich sie.

Oranien. Wir sind nicht einzelne Menschen, Egmont. Ziemt es sich, uns für Tausende hinzugeben, so ziemt es sich auch, uns für Tausende zu schonen.

Egmont. Wer sich schont, muß sich selbst verdächtig werden.

Oranien. Wer sich kennt, kann sicher vor- und rückwärts gehen.

Egmont. Das Übel, das du fürchtest, wird gewiß durch deine That.

Oranien. Es ist klug und kühn, dem unvermeidlichen Übel entgegenzugehn.

Egmont. Bei so großer Gefahr kommt die leichteste Hoffnung in Anschlag

Oranien. Wir haben nicht für den leisesten Fußtritt Platz mehr; der Abgrund liegt hart vor uns.

Egmont. Ist des Königs Gunst ein so schmaler Grund?

Oranien. So schmal nicht, aber schlüpfrig.

Egmont. Bei Gott! man thut ihm unrecht. Ich mag nicht leiden, daß man unwürdig von ihm denkt! Er ist Karls Sohn und keiner Niedrigkeit fähig.

Oranien. Die Könige thun nichts Niedriges.

Egmont. Man sollte ihn kennen lernen,

Oranien. Eben diese Kenntnis rät uns, eine gefährliche Probe nicht abzuwarten.

Egmont. Keine Probe ist gefährlich, zu der man Mut hat.

Oranien. Du wirst aufgebracht, Egmont.

Egmont. Ich muß mit meinen Augen sehen.

Oranien. O, sähst du diesmal nur mit den meinigen! Freund, weil du sie offen hast, glaubst du, du siehst. Ich gehe! Warte du Albas Ankunft ab, und Gott sei bei dir! Vielleicht rettet dich mein Weigern. Vielleicht, daß der Drache nichts zu fangen glaubt, wenn er uns nicht beide auf einmal verschlingt. Vielleicht zögert er, um seinen Anschlag sicherer auszuführen; und vielleicht siehest du indes die Sache in ihrer wahren Gestalt. Aber dann schnell! schnell! Rette! rette dich!–Leb‘ wohl! –Laß deiner Aufmerksamkeit nichts entgehen: wie viel Mannschaft er mitbringt, wie er die Stadt besetzt, was für Macht die Regentin behält, wie deine Freunde gefaßt sind. Gieb mir Nachricht–Egmont–

Egmont. Was willst du?

Oranien (ihn bei der Hand fassend). Laß dich überreden! Geh mit!

Egmont. Wie? Thränen, Oranien?

Oranien. Einen Verlornen zu beweinen, ist auch männlich.

Egmont. Du wähnst mich verloren?

Oranien. Du bist’s. Bedenke! Dir bleibt nur eine kurze Frist. Leb‘ wohl! (Ab.)

Egmont. (allein). Daß andrer Menschen Gedanken solchen Einfluß auf uns haben! Mir wär‘ es nie eingekommen; und dieser Mann trägt seine Sorglichkeit in mich herüber.–Weg!–Das ist ein fremder Tropfen in meinem Blute. Gute Natur, wirf ihn wieder heraus! Und von meiner Stirne die sinnenden Runzeln wegzubaden, giebt es ja wohl noch ein freundlich Mittel.

Dritter Aufzug.

Palast der Regentin.

Margarete von Parma.

Regentin. Ich hätte mir’s vermuten sollen. Ha! Wenn man in Mühe und Arbeit vor sich hinlebt, denkt man immer, man thue das Möglichste; und der von weitem zusieht und befiehlt, glaubt, er verlange nur das Mögliche. –O die Könige!–Ich hätte nicht geglaubt, daß es mich so verdrießen könnte. Es ist so schön zu herrschen!–Und abzudanken?–Ich weiß nicht, wie mein Vater es konnte; aber ich will es auch.

(Machiavell erscheint im Grunde.)

Regentin. Tretet näher, Machiavell. Ich denke hier über den Brief meines Bruders.

Machiavell. Ich darf wissen, was er enthält?

Regentin. So viel zärtliche Aufmerksamkeit für mich, als Sorgfalt für seine Staaten. Er rühmt die Standhaftigkeit, den Fleiß und die Treue, womit ich bisher für die Rechte Seiner Majestät in diesen Landen gewacht habe. Er bedauert mich, daß mir das unbändige Volk so viel zu schaffen mache. Er ist von der Tiefe meiner Einsichten so vollkommen überzeugt, mit der Klugheit meines Betragens so außerordentlich zufrieden, daß ich fast sagen muß, der Brief ist für einen König zu schön geschrieben, für einen Bruder gewiß.

Machiavell. Es ist nicht das erste Mal, daß er Euch seine gerechte Zufriedenheit bezeigt.

Regentin. Aber das erste Mal, daß es rednerische Figur ist.

Machiavell. Ich versteh‘ Euch nicht.

Regentin. Ihr werdet.–Denn er meint, nach diesem Eingange: ohne Mannschaft, ohne eine kleine Armee werde ich immer hier eine üble Figur spielen. Wir hätten, sagt er, unrecht gethan, auf die Klagen der Einwohner unsre Soldaten aus den Provinzen zu ziehen. Eine Besatzung, meint er, die dem Bürger auf dem Nacken lastet, verbiete ihm durch ihre Schwere, große Sprünge zu machen.

Machiavell. Es würde die Gemüter äußerst aufbringen.

Regentin. Der König meint aber, hörst du?–Er meint, daß ein tüchtiger General, so einer, der gar keine Raison annimmt, gar bald mit Volk und Adel, Bürgern und Bauern fertig werden könne;–und schickt deswegen mit einem starken Heere–den Herzog von Alba.

Machiavell. Alba?

Regentin. Du wunderst dich?

Machiavell. Ihr sagt: er schickt. Er fragt wohl, ob er schicken soll?

Regentin. Der König fragt nicht; er schickt.

Machiavell. So werdet Ihr einen erfahrnen Krieger in Euren Diensten haben.

Regentin. In meinen Diensten? Rede g’rad‘ heraus, Machiavell.

Machiavell. Ich möcht‘ Euch nicht vorgreifen.

Regentin. Und ich möchte mich verstellen. Es ist mir empfindlich, sehr empfindlich. Ich wollte lieber, mein Bruder sagte, wie er’s denkt, als daß er förmliche Episteln unterschreibt, die ein Staatssekretär aufsetzt.

Machiavell. Sollte man nicht einsehen?–

Regentin. Und ich kenne sie inwendig und auswendig. Sie möchten’s gern gesäubert und gekehrt haben: und weil sie selbst nicht zugreifen, so findet ein jeder Vertrauen, der mit dem Besen in der Hand kommt. O, mir ist’s, als wenn ich den König und sein Conseil auf dieser Tapete gewirkt sähe.

Machiavell. So lebhaft?

Regentin. Es fehlt kein Zug. Es sind gute Menschen drunter. Der ehrliche Rodrich, der so erfahren und mäßig ist, nicht zu hoch will und doch nichts fallen läßt, der gerade Alonzo, der fleißige Freneda, der feste Las Vargas und noch einige, die mitgehen, wenn die gute Partei mächtig wird. Da sitzt aber der hohläugige Toledaner mit der ehrnen Stirne und dem tiefen Feuerblick, murmelt zwischen den Zähnen von Weibergüte, unzeitigem Nachgeben, und daß Frauen wohl von zugerittenen Pferden sich tragen lassen, selbst aber schlechte Stallmeister sind, und solche Späße, die ich ehemals von den politischen Herren habe mit durchhören müssen.

Machiavell. Ihr habt zu dem Gemälde einen guten Farbentopf gewählt.

Regentin. Gesteht nur, Machiavell: In meiner ganzen Schattierung, aus der ich allenfalls malen könnte, ist kein Ton so gelbbraun, gallenschwarz, wie Albas Gesichtsfarbe, und als die Farbe, aus der er malt. Jeder ist bei ihm gleich ein Gotteslästerer, ein Majestätsschänder; denn aus diesem Kapitel kann man sie alle sogleich rädern, pfählen, vierteilen und verbrennen.–Das Gute, was ich hier gethan habe, sieht gewiß in der Ferne wie nichts aus, eben weil’s gut ist.–Da hängt er sich an jeden Mutwillen, der vorbei ist, erinnert an jede Unruhe, die gestillt ist; und es wird dem Könige vor den Augen so voll Meuterei, Aufruhr und Tollkühnheit, daß er sich vorstellt, sie fräßen sich hier einander auf, wenn eine flüchtig vorübergehende Ungezogenheit eines rohen Volks bei uns lange vergessen ist. Da faßt er einen recht herzlichen Haß auf die armen Leute; sie kommen ihm abscheulich, ja wie Tiere und Ungeheuer vor; er sieht sich nach Feuer und Schwert um, und wähnt, so bändige man Menschen.

Machiavell. Ihr scheint mir zu heftig, Ihr nehmt die Sache zu hoch. Bleibt Ihr nicht Regentin?

Regentin. Das kenn‘ ich. Er wird eine Instruktion bringen.–Ich bin in Staatsgeschäften alt genug geworden, um zu wissen, wie man einen verdrängt, ohne ihm seine Bestallung zu nehmen.–Erst wird er eine Instruktion bringen, die wird unbestimmt und schief sein; er wird um sich greifen, denn er hat die Gewalt; und wenn ich mich beklage, wird er eine geheime Instruktion vorschützen; wenn ich sie sehen will, wird er mich herumziehen; wenn ich darauf bestehe, wird er mir ein Papier zeigen, das ganz was anders enthält; und wenn ich mich da nicht beruhige, gar nicht mehr thun, als wenn ich redete.–Indes wird er, was ich fürchte, gethan, und was ich wünsche, weit abwärts gelenkt haben.

Machiavell. Ich wollt‘, ich könnt‘ Euch widersprechen.

Regentin. Was ich mit unsäglicher Geduld beruhigte, wird er durch Härte und Grausamkeiten wieder aufhetzen; ich werde vor meinen Augen mein Werk verloren sehen, und überdies noch seine Schuld zu tragen haben.

Machiavell. Erwarten’s Eure Hoheit.

Regentin. So viel Gewalt hab‘ ich über mich, um stille zu sein. Laß ihn kommen; ich werde ihm mit der besten Art Platz machen, eh‘ er mich verdrängt.

Machiavell. So rasch diesen wichtigen Schritt?

Regentin. Schwerer, als du denkst. Wer zu herrschen gewohnt ist, wer’s hergebracht hat, daß jeden Tag das Schicksal von Tausenden in seiner Hand liegt, steigt vom Throne wie ins Grab. Aber besser so, als einem Gespenste gleich unter den Lebenden bleiben und mit hohlem Ansehn einen Platz behaupten wollen, den ihm ein anderer abgeerbt hat und nun besitzt und genießt.

Klärchens Wohnung.

Klärchen. Mutter.

Mutter. So eine Liebe wie Brackenburgs hab‘ ich nie gesehen; ich glaubte, sie sei nur in Heldengeschichten.

Klärchen (geht in der Stube auf und ab, ein Lied zwischen den Lippen summend).

Glücklich allein Ist die Seele, die liebt.

Mutter. Er vermutet deinen Umgang mit Egmont; und ich glaube, wenn du ihm ein wenig freundlich thätest, wenn du wolltest, er heiratete dich noch.

Klärchen (singt). Freudvoll Und leidvoll, Gedankenvoll sein; Langen Und bangen In schwebender Pein; Himmelhoch jauchzend, Zum Tode betrübt; Glücklich allein Ist die Seele, die liebt.

Mutter. Laß das Heiopopeio.

Klärchen. Scheltet mir’s nicht; es ist ein kräftig Lied. Hab‘ ich doch schon manchmal ein großes Kind damit schlafen gewiegt.

Mutter. Du hast doch nichts im Kopfe als deine Liebe. Vergäßest du nur nicht alles über das eine. Den Brackenburg solltest du in Ehren halten, sag‘ ich dir. Er kann dich noch einmal glücklich machen.

Klärchen. Er?

Mutter. O ja! es kommt eine Zeit!–Ihr Kinder seht nichts voraus und überhorcht unsre Erfahrungen. Die Jugend und die schöne Liebe, alles hat sein Ende; und es kommt eine Zeit, wo man Gott dankt, wenn man irgendwo unterkriechen kann.

Klärchen (schaudert, schweigt und fährt auf). Mutter, laßt die Zeit kommen wie den Tod. Dran vorzudenken ist schreckhaft!–Und wenn er kommt! Wenn wir müssen–dann–wollen wir uns gebärden, wie wir können.–Egmont, ich dich entbehren!–(In Thänen.) Nein, es ist nicht möglich, nicht möglich.

(Egmont in einem Reitermantel, den Hut ins Gesicht gedrückt.)

Egmont. Klärchen!

Klärchen (thut einen Schrei, fährt zurück). Egmont! (Sie eilt auf ihn zu.) Egmont! (Sie umarmt ihn, und ruht an ihm.) O du Guter, Lieber, Süßer! Kommst du? bist du da?

Egmont. Guten Abend, Mutter!

Mutter. Gott grüß‘ Euch, edler Herr! Meine Kleine ist fast vergangen, daß Ihr so lang ausbleibt; sie hat wieder den ganzen Tag von Euch geredet und gesungen.

Egmont. Ihr gebt mir doch ein Nachtessen?

Mutter. Zu viel Gnade. Wenn wir nur etwas hätten.

Klärchen. Freilich! Seid nur ruhig, Mutter; ich habe schon alles darauf eingerichtet, ich habe etwas zubereitet. Verratet mich nicht, Mutter!

Mutter. Schmal genug.

Klärchen. Wartet nur! Und dann denk‘ ich: wenn er bei mir ist, hab‘ ich gar keinen Hunger; da sollte er auch keinen großen Appetit haben, wenn ich bei ihm bin.

Egmont. Meinst du?

Klärchen (stampft mit dem Fuße, und kehrt sich unwillig um).

Egmont. Wie ist dir?

Klärchen. Wie seid Ihr heute so kalt! Ihr habt mir noch keinen Kuß angeboten. Warum habt Ihr die Arme in den Mantel gewickelt, wie ein Wochenkind? Ziemt keinem Soldaten noch Liebhaber, die Arme eingewickelt zu haben.

Egmont. Zu Zeiten, Liebchen, zu Zeiten. Wenn der Soldat auf der Lauer steht und dem Feinde etwas ablisten möchte, da nimmt er sich zusammen, faßt sich selbst in seine Arme und kaut seinen Anschlag reif. Und ein Liebhaber–

Mutter. Wollt Ihr Euch nicht setzen? es Euch nicht bequem machen? Ich muß in die Küche; Klärchen denkt an nichts, wenn Ihr da seid. Ihr müßt fürlieb nehmen.

Egmont. Euer guter Wille ist die beste Würze. (Mutter ab.)

Klärchen. Und was wäre denn meine Liebe?

Egmont. So viel du willst.

Klärchen. Vergleicht sie, wenn Ihr das Herz habt.

Egmont. Zuvörderst also. (Er wirft den Mantel ab und steht in einem prächtigen Kleide da.)

Klärchen. O je!

Egmont. Nun hab‘ ich die Arme frei. (Er herzt sie.)

Klärchen. Laßt! Ihr verderbt Euch. (Sie tritt zurück.) Wie prächtig! da darf ich Euch nicht anrühren.

Egmont. Bist du zufrieden? Ich versprach dir, einmal spanisch zu kommen.

Klärchen. Ich bat Euch zeither nicht mehr drum; ich dachte, Ihr wolltet nicht.–Ach und das goldne Vließ!

Egmont. Da siehst du’s nun.

Klärchen. Das hat dir der Kaiser umgehängt?

Egmont. Ja, Kind! und Kette und Zeichen geben dem, der sie trägt, die edelsten Freiheiten. Ich erkenne auf Erden keinen Richter über meine Handlungen, als den Großmeister des Ordens mit dem versammelten Kapitel der Ritter.

Klärchen. O, du dürftest die ganze Welt über dich richten lassen.–Der Sammet ist gar zu herrlich, und die Passementarbeit! und das Gestickte! –Man weiß nicht, wo man anfangen soll.

Egmont. Sieh dich nur satt.

Klärchen. Und das goldne Vließ! Ihr erzähltet mir die Geschichte und sagtet: es sei ein Zeichen alles Großen und Kostbaren, was man mit Müh‘ und Fleiß verdient und erwirbt. Es ist sehr kostbar–ich kann’s deiner Liebe vergleichen.–Ich trage sie ebenso am Herzen–und hernach–

Egmont. Was willst du sagen?

Klärchen. Hernach vergleicht sich’s auch wieder nicht.

Egmont. Wieso?

Klärchen. Ich habe sie nicht mit Müh‘ und Fleiß erworben, nicht verdient.

Egmont. In der Liebe ist es anders. Du verdienst sie, weil du dich nicht darum bewirbst–und die Leute erhalten sie auch meist allein, die nicht darnach jagen.

Klärchen. Hast du das von dir abgenommen? Hast du diese stolze Anmerkung über dich selbst gemacht? du, den alles Volk liebt?

Egmont. Hätt‘ ich nur etwas für sie gethan! könnt‘ ich etwas für sie thun! Es ist ihr guter Wille, mich zu lieben.

Klärchen. Du warst gewiß heute bei der Regentin?

Egmont. Ich war bei ihr.

Klärchen. Bist du gut mit ihr?

Egmont. Es sieht einmal so aus. Wir sind einander freundlich und dienstlich.

Klärchen. Und im Herzen?

Egmont. Will ich ihr wohl. Jedes hat seine eignen Absichten. Das thut nichts zur Sache. Sie ist eine treffliche Frau, kennt ihre Leute, und sähe tief genug, wenn sie auch nicht argwöhnisch wäre. Ich mache ihr viel zu schaffen, weil sie hinter meinem Betragen immer Geheimnisse sucht, und ich keine habe.

Klärchen. So gar keine?

Egmont. Eh nun! einen kleinen Hinterhalt. Jeder Wein setzt Weinstein in den Fässern an mit der Zeit. Oranien ist doch noch eine bessere Unterhaltung für sie und eine immer neue Aufgabe. Er hat sich in den Kredit gesetzt, daß er immer etwas Geheimes vorhabe; und nun sieht sie immer nach seiner Stirne, was er wohl denken, auf seine Schritte, wohin er sie wohl richten möchte.

Klärchen. Verstellt sie sich?

Egmont. Regentin, und du fragst?

Klärchen. Verzeiht, ich wollte fragen: ist sie falsch?

Egmont. Nicht mehr und nicht weniger als jeder, der seine Absichten erreichen will.

Klärchen. Ich könnte mich in die Welt nicht finden. Sie hat aber auch einen männlichen Geist, sie ist ein ander Weib als wir Nähterinnen und Köchinnen. Sie ist groß, herzhaft, entschlossen.

Egmont. Ja, wenn’s nicht gar zu bunt geht. Diesmal ist sie doch ein wenig aus der Fassung.

Klärchen. Wieso?

Egmont. Sie hat auch ein Bärtchen auf der Oberlippe, und manchmal einen Anfall von Podagra. Eine rechte Amazone!

Klärchen. Eine majestätische Frau! Ich scheute mich, vor sie zu treten.

Egmont. Du bist doch sonst nicht zaghaft–Es wäre auch nicht Furcht, nur jungfräuliche Scham.

Klärchen (schlägt die Augen nieder, nimmt seine Hand und lehnt sich an ihn).

Egmont. Ich verstehe dich! liebes Mädchen! du darfst die Augen aufschlagen. (Er küßt ihre Augen.)

Klärchen. Laß mich schweigen! Laß mich dich halten! Laß mich dir in die Augen sehen, alles drin finden, Trost und Hoffnung und Freude und Kummer. (Sie umarmt ihn und sieht ihn an.) Sag‘ mir! Sage! ich begreife nicht! bist du Egmont? der Graf Egmont? der große Egmont, der so viel Aufsehn macht, von dem in den Zeitungen steht, an dem die Provinzen hängen?

Egmont. Nein, Klärchen, das bin ich nicht.

Klärchen. Wie?

Egmont. Siehst du, Klärchen!–Laß mich sitzen!–(Er setzt sich, sie kniet sich vor ihn auf einen Schemel, legt ihre Arme auf seinen Schoß und sieht ihn an.) Jener Egmont ist ein verdrießlicher, steifer, kalter Egmont, der an sich halten, bald dieses, bald jenes Gesicht machen muß; geplagt, verkannt, verwickelt ist, wenn ihn die Leute für froh und fröhlich halten; geliebt von einem Volke, das nicht weiß, was es will; geehrt und in die Höhe getragen von einer Menge, mit der nichts anzufangen ist; umgeben von Freunden, denen er sich nicht überlassen darf; beobachtet von Menschen, die ihm auf alle Weise beikommen möchten; arbeitend und sich bemühend, oft ohne Zweck, meist ohne Lohn.–O laß mich schweigen, wie es dem ergeht, wie es dem zu Mute ist. Aber dieser, Klärchen, der ist ruhig, offen, glücklich, geliebt und gekannt von dem besten Herzen, das auch er ganz kennt und mit voller Liebe und Zutrauen an das seine drückt. (Er umarmt sie.) Das ist dein Egmont!

Klärchen. So laß mich sterben! Die Welt hat keine Freuden auf diese!

Vierter Aufzug.

Strasse.

Jetter. Zimmermeister.

Jetter. He! Pst! He, Nachbar, ein Wort!

Zimmermeister. Geh deines Pfads, und sei ruhig.

Jetter. Nur ein Wort. Nichts Neues?

Zimmermeister. Nichts, als daß uns vom neuem zu reden verboten ist.

Jetter. Wie?

Zimmermeister. Tretet hier ans Haus an! Hütet Euch! Der Herzog von Alba hat gleich bei seiner Ankunft einen Befehl ausgehen lassen, dadurch zwei oder drei, die auf der Straße zusammen sprechen, des Hochverrats ohne Untersuchung schuldig erklärt sind.

Jetter. O weh!

Zimmermeister. Bei ewiger Gefangenschaft ist verboten, von Staatssachen zu reden.

Jetter. O unsre Freiheit!

Zimmermeister. Und bei Todesstrafe soll niemand die Handlungen der Regierung mißbilligen.

Jetter. O unsre Köpfe!

Zimmermeister. Und mit großem Versprechen werden Väter, Mütter, Kinder, Verwandte, Freunde, Dienstboten eingeladen, was in dem Innersten des Hauses vorgeht, bei dem besonders niedergesetzten Gerichte zu offenbaren.

Jetter. Gehn wir nach Hause.

Zimmermeister. Und den Folgsamen ist versprochen, daß sie weder an Leibe, noch Ehre, noch Vermögen einige Kränkung erdulden sollen.

Jetter. Wie gnädig! War mir’s doch gleich weh, wie der Herzog in die Stadt kam. Seit der Zeit ist mir’s, als wäre der Himmel mit einem schwarzen Flor überzogen und hinge so tief herunter, daß man sich bücken müsse, um nicht dran zu stoßen.

Zimmermeister. Und wie haben dir seine Soldaten gefallen? Gelt! das ist eine andre Art von Krebsen, als wir sie sonst gewohnt waren.

Jetter. Pfui! Es schnürt einem das Herz ein, wenn man so einen Haufen die Gassen hinab marschieren sieht. Kerzengerad, mit unverwandtem Blick, ein Tritt, so viel ihrer sind. Und wenn sie auf der Schildwache stehen und du gehst an einem vorbei, ist’s, als wenn er dich durch und durch sehen wollte, und sieht so steif und mürrisch aus, daß du auf allen Ecken einen Zuchtmeister zu sehen glaubst. Sie thun mir gar nicht wohl. Unsre Miliz war doch noch ein lustig Volk; sie nahmen sich was heraus, standen mit ausgegrätschten Beinen da, hatten den Hut überm Ohr, lebten und ließen leben; diese Kerle aber sind wie Maschinen, in denen ein Teufel sitzt.

Zimmermeister. Wenn so einer ruft: „Halt!“ und anschlägt, meinst du, man hielte?

Jetter. Ich wäre gleich des Todes.

Zimmermeister. Gehn wir nach Hause.

Jetter. Es wird nicht gut. Adieu.

(Soest tritt dazu.)

Soest. Freunde! Genossen!

Zimmermeister. Still! Laßt uns gehen!

Soest. Wißt ihr?

Jetter. Nur zu viel!

Soest. Die Regentin ist weg.

Jetter. Nun gnad‘ uns Gott!

Zimmermeister. Die hielt uns noch.

Soest. Auf einmal und in der Stille. Sie konnte sich mit dem Herzog nicht vertragen; sie ließ dem Adel melden, sie komme wieder. Niemand glaubt’s.

Zimmermeister. Gott verzeih’s dem Adel, daß er uns diese neue Geißel über den Hals gelassen hat. Sie hätten es abwenden können. Unsre Privilegien sind hin.

Jetter. Um Gottes willen nichts von Privilegien! Ich wittre den Geruch von einem Exekutionsmorgen; die Sonne will nicht hervor, die Nebel stinken.

Soest. Oranien ist auch weg.

Zimmermeister. So sind wir denn ganz verlassen!

Soest. Graf Egmont ist noch da.

Jetter. Gott sei Dank! Stärken ihn alle Heiligen, daß er sein Bestes thut; der ist allein was vermögend.

(Vansen tritt auf.)

Vansen. Find‘ ich endlich ein paar, die noch nicht untergekrochen sind?

Jetter. Thut uns den Gefallen und geht fürbaß.

Vansen. Ihr seid nicht höflich.

Zimmermeister. Es ist gar keine Zeit zu Komplimenten. Juckt Euch der Buckel wieder? Seid Ihr schon durchgeheilt?

Vansen. Fragt einen Soldaten nach seinen Wunden! Wenn ich auf Schläge was gegeben hätte, wäre sein Tage nichts aus mir geworden.

Jetter. Es kann ernstlicher werden.

Vansen. Ihr spürt von dem Gewitter, das aufsteigt, eine erbärmliche Mattigkeit in den Gliedern, scheint’s.

Zimmermeister. Deine Glieder werden sich bald wo anders eine Motion machen, wenn du nicht ruhst.

Vansen. Armselige Mäuse, die gleich verzweifeln, wenn der Hausherr eine neue Katze anschafft! Nur ein bißchen anders; aber wir treiben unser Wesen vor wie nach, seid nur ruhig.

Zimmermeister. Du bist ein verwegener Taugenichts.

Vansen. Gevatter Tropf! Laß du den Herzog nur gewähren. Der alte Kater sieht aus, als wenn er Teufel statt Mäuse gefressen hätte und könnte sie nun nicht verdauen. Laßt ihn nur erst; er muß auch essen, trinken, schlafen wie andere Menschen. Es ist mir nicht bange, wenn wir unsere Zeit recht nehmen. Im Anfange geht’s rasch; nachher wird er auch finden, daß in der Speisekammer unter den Speckseiten besser leben ist und des Nachts zu ruhen, als auf dem Fruchtboden einzelne Mäuschen zu erlisten. Geht nur, ich kenne die Statthalter.

Zimmermeister. Was so einem Menschen alles durchgeht! Wenn ich in meinem Leben so etwas gesagt hätte, hielt‘ ich mich keine Minute für sicher.

Vansen. Seid nur ruhig. Gott im Himmel erfährt nichts von euch Würmern, geschweige der Regent.

Jetter. Lästermaul!

Vansen. Ich weiß andere, denen es besser wäre, sie hätten statt ihres Heldenmuts eine Schneiderader im Leibe.

Zimmermeister. Was wollt Ihr damit sagen?

Vansen. Hm! den Grafen mein‘ ich.

Jetter. Egmont! Was soll der fürchten?

Vansen. Ich bin ein armer Teufel und könnte ein ganzes Jahr leben von dem, was er in einem Abende verliert. Und doch könnt‘ er mir sein Einkommen eines ganzen Jahres geben, wenn er meinen Kopf auf eine Viertelstunde hätte.

Jetter. Du denkst dich was Rechts. Egmonts Haare sind gescheiter als dein Hirn.

Vansen. Red’t Ihr! Aber nicht feiner. Die Herren betrügen sich am ersten. Er sollte nicht trauen.

Jetter. Was er schwätzt! So ein Herr!

Vansen. Eben weil er kein Schneider ist!

Jetter. Ungewaschen Maul!

Vansen. Dem wollt‘ ich Eure Courage nur eine Stunde in die Glieder wünschen, daß sie ihm da Unruh‘ machte und ihn so lange neckte und juckte, bis er aus der Stadt müßte.

Jetter. Ihr redet recht unverständig; er ist so sicher wie der Stern am Himmel.

Vansen. Hast du nie einen sich schneuzen gesehn? Weg war er!

Zimmermeister. Wer will ihm denn was thun?

Vansen. Wer will? Willst du’s etwa hindern? Willst du einen Aufruhr erregen, wenn sie ihn gefangen nehmen?

Jetter. Ah!

Vansen. Wollt ihr Eure Rippen für ihn wagen?

Soest. Eh!

Vansen (sie nachäffend). Ih! Oh! Uh! Verwundert euch durchs ganze Alphabet. So ist’s und bleibt’s! Gott bewahre ihn!

Jetter. Ich erschrecke über Eure Unverschämtheit. So ein edler, rechtschaffener Mann sollte was zu befürchten haben?

Vansen. Der Schelm sitzt überall im Vorteil. Auf dem Armensünderstühlchen hat er den Richter zum Narren; auf dem Richterstuhl macht er den Inquisiten mit Lust zum Verbrecher. Ich habe so ein Protokoll abzuschreiben gehabt, wo der Kommissarius schwer Lob und Geld von Hofe erhielt, weil er einen ehrlichen Teufel, an den man wollte, zum Schelmen verhört hatte.

Zimmermeister. Das ist wieder frisch gelogen. Was wollen sie denn heraus verhören, wenn einer unschuldig ist?

Vansen. O Spatzenkopf! Wo nichts heraus zu verhören ist, da verhört man hinein. Ehrlichkeit macht unbesonnen, auch wohl trotzig. Da fragt man erst recht sachte weg, und der Gefangene ist stolz auf seine Unschuld, wie sie’s heißen, und sagt alles geradezu, was ein Verständiger verbärge. Dann macht der Inquisitor aus den Antworten wieder Fragen, und paßt ja auf, wo irgend ein Widersprüchelchen erscheinen will; da knüpft er seinen Strick an, und läßt sich der dumme Teufel betreten, daß er hier etwas zu viel, dort etwas zu wenig gesagt, oder wohl gar aus Gott weiß was für einer Grille einen Umstand verschwiegen hat, auch wohl irgend an einem Ende sich hat schrecken lassen: dann sind wir auf dem rechten Weg! Und ich versichre euch, mit mehr Sorgfalt suchen die Bettelweiber nicht die Lumpen aus dem Kehricht, als so ein Schelmenfabrikant aus kleinen, schiefen, verschobenen, verrückten, verdrückten, geschlossenen, bekannten, geleugneten Anzeichen und Umständen sich endlich einen strohlumpenen Vogelscheu zusammenkünstelt, um wenigstens seinen Inquisiten in effigie hängen zu können. Und Gott mag der arme Teufel danken, wenn er sich noch kann hängen sehen.

Jetter. Der hat eine geläufige Zunge.

Zimmermeister. Mit Fliegen mag das angehen. Die Wespen lachen Eures Gespinstes.

Vansen. Nachdem die Spinnen sind. Seht, der lange Herzog hat euch so ein rein Ansehn von einer Kreuzspinne; nicht einer dickbäuchigen, die sind weniger schlimm, aber so einer langfüßigen, schmalleibigen, die vom Fraße nicht feist wird und recht dünne Fäden zieht, aber desto zähere.

Jetter. Egmont ist Ritter des Goldnen Vließes; wer darf Hand an ihn legen? Nur von seinesgleichen kann er gerichtet werden, nur vom gesamten Orden. Dein loses Maul, dein böses Gewissen verführen dich zu solchem Geschwätz.

Vansen. Will ich ihm darum übel? Mir kann’s recht sein. Es ist ein trefflicher Herr. Ein paar meiner guten Freunde, die anderwärts schon wären gehangen worden, hat er mit einem Buckel voll Schläge verabschiedet. Nun geht! Geht! Ich rat‘ es euch selbst. Dort seh‘ ich wieder eine Runde antreten; die sehen nicht aus, als wenn sie so bald Brüderschaft mit uns trinken würden. Wir wollen’s abwarten, und nur sachte zusehen. Ich hab‘ ein paar Nichten und einen Gevatter Schenkwirt; wenn sie von denen gekostet haben, und werden dann nicht zahm, so sind sie ausgepichte Wölfe.

Der Culenburgische Palast. Wohnung des Herzogs von Alba.

Silva und Gomez begegnen einander.

Silva. Hast du die Befehle des Herzogs ausgerichtet?

Gomez. Pünktlich. Alle tägliche Runden sind beordert, zur bestimmten Zeit an verschiedenen Plätzen einzutreffen, die ich ihnen bezeichnet habe; sie gehen indes, wie gewöhnlich, durch die Stadt, um Ordnung zu erhalten. Keiner weiß von dem andern; jeder glaubt, der Befehl gehe ihn allein an, und in einem Augenblick kann alsdann der Cordon gezogen und alle Zugänge zum Palast können besetzt sein. Weißt du die Ursache dieses Befehls?

Silva. Ich bin gewohnt, blindlings zu gehorchen. Und wem gehorcht sich’s leichter als dem Herzoge, da bald der Ausgang beweist, daß er recht befohlen hat?

Gomez. Gut! Gut! Auch scheint es mir kein Wunder, daß du so verschlossen und einsilbig wirst wie er, da du immer um ihn sein mußt. Mir kommt es fremd vor, da ich den leichteren italienischen Dienst gewohnt bin. An Treue und Gehorsam bin ich der Alte; aber ich habe mir das Schwätzen und Räsonnieren angewöhnt. Ihr schweigt alle und laßt es euch nie wohl sein. Der Herzog gleicht mir einem ehrnen Turm ohne Pforte, wozu die Besatzung Flügel hätte. Neulich hört‘ ich ihn bei Tafel von einem frohen freundlichen Menschen sagen: er sei wie eine schlechte Schenke mit einem ausgesteckten Branntweinzeichen, um Müßiggänger, Bettler und Diebe herein zu locken.

Silva. Und hat er uns nicht schweigend hierher geführt?

Gomez. Dagegen ist nichts zu sagen. Gewiß! Wer Zeuge seiner Klugheit war, wie er die Armee aus Italien hierher brachte, der hat etwas gesehen. Wie er sich durch Freund und Feind, durch die Franzosen, Königlichen und Ketzer, durch die Schweizer und Verbundnen gleichsam durchschmiegte, die strengste Mannszucht hielt, und einen Zug, den man so gefährlich achtete, leicht und ohne Anstoß zu leiten wußte!–Wir haben was gesehen, was lernen können.

Silva. Auch hier! Ist nicht alles still und ruhig, als wenn kein Aufstand gewesen wäre?

Gomez. Nun, es war auch schon meist still, als wir herkamen.

Silva. In den Provinzen ist es viel ruhiger geworden; und wenn sich noch einer bewegt, so ist es, um zu entfliehen. Aber auch diesem wird er die Wege bald versperren, denk‘ ich.

Gomez. Nun wird er erst die Gunst des Königs gewinnen.

Silva. Und uns bleibt nichts angelegener, als uns die seinige zu erhalten. Wenn der König hierher kommt, bleibt gewiß der Herzog und jeder, den er empfiehlt, nicht unbelohnt.

Gomez. Glaubst du, daß der König kommt?

Silva. Es werden so viele Anstalten gemacht, daß es höchst wahrscheinlich ist.

Gomez. Mich überreden sie nicht.

Silva. So rede wenigstens nicht davon. Denn wenn des Königs Absicht ja nicht sein sollte, zu kommen, so ist sie’s doch wenigstens gewiß, daß man es glauben soll.

(Ferdinand, Albas natürlicher Sohn.)

Ferdinand. Ist mein Vater noch nicht heraus?

Silva. Wir warten auf ihn.

Ferdinand. Die Fürsten werden bald hier sein.

Gomez. Kommen sie heute?

Ferdinand. Oranien und Egmont.

Gomez (leise zu Silva). Ich begreife etwas.

Silva. So behalt‘ es für dich.

(Herzog von Alba.)

(Wie er herein- und hervortritt, treten die andern zurück.)

Alba. Gomez!

Gomez (tritt vor). Herr!

Alba. Du hast die Wachen verteilt und beordert?

Gomez. Aufs genaueste. Die täglichen Runden–

Alba. Genug. Du wartest in der Galerie. Silva wird dir den Augenblick sagen, wenn du sie zusammenziehen, die Zugänge nach dem Palaste besetzen sollst. Das übrige weißt du.

Gomez. Ja, Herr! (Ab.)

Alba. Silva!

Silva. Hier bin ich.

Alba. Alles, was ich von jeher an dir geschätzt habe, Mut, Entschlossenheit, unaufhaltsames Ausführen, das zeige heut‘.

Silva. Ich danke Euch, daß Ihr mir Gelegenheit gebt, zu zeigen, daß ich der Alte bin.

Alba. Sobald die Fürsten bei mir eingetreten sind, dann eile gleich, Egmonts Geheimschreiber gefangen zu nehmen. Du hast alle Anstalten gemacht, die übrigen, welche bezeichnet sind, zu fahen?

Silva. Vertraue auf uns. Ihr Schicksal wird sie, wie eine wohlberechnete Sonnenfinsternis, pünktlich und schrecklich treffen.

Alba. Hast du sie genau beobachten lassen?

Silva. Alle; den Egmont vor andern. Er ist der einzige, der, seit du hier bist, sein Betragen nicht geändert hat. Den ganzen Tag von einem Pferd aufs andere, ladet Gäste, ist immer lustig und unterhaltend bei Tafel, würfelt, schießt und schleicht nachts zum Liebchen. Die andern haben dagegen eine merkliche Pause in ihrer Lebensart gemacht; sie bleiben bei sich; vor ihrer Thüre sieht’s aus, als wenn ein Kranker im Hause wäre.

Alba. Drum rasch! eh‘ sie uns wider Willen genesen.

Silva. Ich stelle sie. Auf deinen Befehl überhäufen wir sie mit dienstfertigen Ehren. Ihnen graut’s; politisch geben sie uns einen ängstlichen Dank, fühlen, das Rätlichste sei, zu entfliehen. Keiner wagt einen Schritt, sie zaudern, können sich nicht vereinigen; und einzeln etwas Kühnes zu thun, hält sie der Gemeingeist ab. Sie möchten gern sich jedem Verdacht entziehen, und machen sich immer verdächtiger. Schon seh‘ ich mit Freuden deinen ganzen Anschlag ausgeführt.

Alba. Ich freue mich nur über das Geschehene, und auch über das nicht leicht; denn es bleibt stets noch übrig, was uns zu denken und zu sorgen gibt. Das Glück ist eigensinnig, oft das Gemeine, das Nichtswürdige zu adeln und wohlüberlegte Taten mit einem gemeinen Ausgang zu entehren. Verweile, bis die Fürsten kommen; dann gieb Gomez die Ordre, die Straßen zu besetzen, und eile selbst, Egmonts Schreiber und die übrigen gefangen zu nehmen, die dir bezeichnet sind. Ist es gethan, so komm hierher und meld‘ es meinem Sohne, daß er mir in den Rat die Nachricht bringe.

Silva. Ich hoffe diesen Abend vor dir stehn zu dürfen.

Alba (geht nach seinem Sohne, der bisher in der Galerie gestanden).

Silva. Ich traue mir es nicht zu sagen; aber meine Hoffnung schwankt. Ich fürchte, es wird nicht werden, wie er denkt. Ich sehe Geister vor mir, die still und sinnend auf schwarzen Schalen das Geschick der Fürsten und vieler Tausende wägen. Langsam wankt das Zünglein auf und ab; tief scheinen die Richter zu sinnen; zuletzt sinkt diese Schale, steigt jene, angehaucht vom Eigensinn des Schicksals, und entschieden ist’s. (Ab.)

Alba (mit Ferdinand hervortretend). Wie fandst du die Stadt?

Ferdinand. Es hat sich alles gegeben. Ich ritt, als wie zum Zeitvertreib, Straß‘ auf, Straß‘ ab. Eure wohlverteilten Wachen halten die Furcht so angespannt, daß sie sich nicht zu lispeln untersteht. Die Stadt sieht einem Felde ähnlich, wenn das Gewitter von weitem leuchtet: man erblickt keinen Vogel, kein Tier, als das eilend nach einem Schutzorte schlüpft.

Alba. Ist dir nichts weiter begegnet?

Ferdinand. Egmont kam mit einigen auf den Markt geritten; wir grüßten uns; er hatte ein rohes Pferd, das ich ihm loben mußte. „Laßt uns eilen, Pferde zuzureiten; wir werden sie bald brauchen!“ rief er mir entgegen. Er werde mich noch heute wiedersehn, sagte er, und komme auf Euer Verlangen, mit Euch zu ratschlagen.

Alba. Er wird dich wiedersehn.

Ferdinand. Unter allen Rittern, die ich hier kenne, gefällt er mir am besten. Es scheint, wir werden Freunde sein.

Alba. Du bist noch immer zu schnell und wenig behutsam; immer erkenn‘ ich in dir den Leichtsinn deiner Mutter, der mir sie unbedingt in die Arme lieferte. Zu mancher gefährlichen Verbindung lud dich der Anschein voreilig ein.

Ferdinand. Euer Wille findet mich bildsam.

Alba. Ich vergebe deinem jungen Blute dies leichtsinnige Wohlwollen, diese unachtsame Fröhlichkeit. Nur vergiß nicht, zu welchem Werke ich gesandt bin, und welchen Teil ich dir dran geben möchte.

Ferdinand. Erinnert mich, und schont mich nicht, wo Ihr es nötig haltet.

Alba (nach einer Pause). Mein Sohn!

Ferdinand. Mein Vater!

Alba. Die Fürsten kommen bald, Oranien und Egmont kommen. Es ist nicht Mißtrauen, daß ich dir erst jetzt entdecke, was geschehen soll. Sie werden nicht wieder von hinnen gehn.

Ferdinand. Was sinnst du?

Alba. Es ist beschlossen, sie festzuhalten.–Du erstaunst! Was du zu thun hast, höre; die Ursachen sollst du wissen, wenn es geschehn ist. Jetzt bleibt keine Zeit, sie auszulegen. Mit dir allein wünscht‘ ich das Größte, das Geheimste zu besprechen; ein starkes Band hält uns zusammengefesselt; du bist mir wert und lieb; auf dich möcht‘ ich alles häufen. Nicht die Gewohnheit zu gehorchen allein möcht‘ ich dir einprägen; auch den Sinn, auszudenken, zu befehlen, auszuführen wünscht‘ ich in dir fortzupflanzen; dir ein großes Erbteil, dem Könige den brauchbarsten Diener zu hinterlassen; dich mit dem Besten, was ich habe, auszustatten, daß du dich nicht schämen dürfest, unter deine Brüder zu treten.

Ferdinand. Was werd‘ ich dir nicht für diese Liebe schuldig, die du mir allein zuwendest, indem ein ganzes Reich vor dir zittert.

Alba. Nun höre, was zu thun ist. Sobald die Fürsten eingetreten sind, wird jeder Zugang zum Palaste besetzt. Dazu hat Gomez die Ordre. Silva wird eilen, Egmonts Schreiber mit den Verdächtigsten gefangen zu nehmen. Du hältst die Wache am Thore und in den Höfen in Ordnung. Vor allen Dingen besetze diese Zimmer hierneben mit den sichersten Leuten; dann warte auf der Galerie, bis Silva wiederkommt, und bringe mir irgend ein unbedeutend Blatt herein, zum Zeichen, daß sein Auftrag ausgerichtet ist. Dann bleib‘ im Vorsaale, bis Oranien weggeht; folg‘ ihm; ich halte Egmont hier, als ob ich ihm noch was zu sagen hätte. Am Ende der Galerie fordre Oraniens Degen, rufe die Wache an, verwahre schnell den gefährlichsten Mann; und ich fasse Egmont hier.

Ferdinand. Ich gehorche, mein Vater. Zum erstenmal mit schwerem Herzen und mit Sorge.

Alba. Ich verzeihe dir’s; es ist der erste große Tag, den du erlebst.

(Silva tritt herein.)

Silva. Ein Bote von Antwerpen. Hier ist Oraniens Brief! Er kommt nicht.

Alba. Sagt‘ es der Bote?

Silva. Nein, mir sagt’s das Herz.

Alba. Aus dir spricht mein böser Genius. (Nachdem er den Brief gelesen, winkt er beiden, und sie ziehen sich in die Galerie zurück. Er bleibt allein auf dem Vorderteile.) Er kommt nicht! Bis auf den letzten Augenblick verschiebt er, sich zu erklären. Er wagt es, nicht zu kommen! So war denn diesmal wider Vermuten der Kluge klug genug, nicht klug zu sein!–Es rückt die Uhr! Noch einen kleinen Weg des Seigers, und ein großes Werk ist gethan oder versäumt, unwiederbringlich versäumt; denn es ist weder nachzuholen, noch zu verheimlichen. Längst hatt‘ ich alles reiflich abgewogen und mir auch diesen Fall gedacht, mir festgesetzt, was auch in diesem Falle zu thun sei; und jetzt, da es zu thun ist, wehr‘ ich mir kaum, daß nicht das Für und Wider mir aufs neue durch die Seele schwankt.–Ist’s rätlich, die andern zu fangen, wenn er mir entgeht?–Schieb‘ ich es auf, und lass‘ Egmont mit den Seinigen, mit so vielen entschlüpfen, die nun, vielleicht nur heute noch, in meinen Händen sind? So zwingt dich das Geschick denn auch, du Unbezwinglicher? Wie lang gedacht! Wie wohl bereitet! Wie groß, wie schön der Plan! Wie nah die Hoffnung ihrem Ziele! Und nun im Augenblick des Entscheidens bist du zwischen zwei Übel gestellt; wie in einen Lostopf greifst du in die dunkle Zukunft; was du fassest, ist noch zugerollt, dir unbewußt, sei’s Treffer oder Fehler! (Er wird aufmerksam, wie einer, der etwas hört, und tritt ans Fenster.) Er ist es! Egmont!–Trug dich dein Pferd so leicht herein, und scheute vor dem Blutgeruche nicht und vor dem Geiste mit dem blanken Schwert, der an der Pforte dich empfängt?–Steig ab!–So bist du mit dem einen Fuß im Grab! und so mit beiden!–Ja, streichl‘ es nur, und klopfe für seinen mutigen Dienst zum letztenmale den Nacken ihm.–Und mir bleibt keine Wahl. In der Verblendung, wie hier Egmont naht, kann er dir nicht zum zweitenmal sich liefern!–Hört!

Ferdinand und Silva (treten eilig herbei).

Alba. Ihr thut, was ich befahl; ich ändre meinen Willen nicht. Ich halte, wie es gehn will, Egmont auf, bis du mir von Silva die Nachricht gebracht hast. Dann bleib‘ in der Nähe. Auch dir raubt das Geschick das große Verdienst, des Königs größten Feind mit eigener Hand gefangen zu haben. (Zu Silva.) Eile! (Zu Ferdinand.) Geh ihm entgegen! (Alba bleibt einige Augenblicke allein und geht schweigend auf und ab.)

(Egmont tritt auf.)

Egmont. Ich komme, die Befehle des Königs zu vernehmen, zu hören, welchen Dienst er von unserer Treue verlangt, die ihm ewig ergeben bleibt.

Alba. Er wünscht vor allen Dingen Euern Rat zu hören.

Egmont. Über welchen Gegenstand? Kommt Oranien auch? Ich vermutete ihn hier.

Alba. Mir thut es leid, daß er uns eben in dieser wichtigen Stunde fehlt. Euern Rat, Eure Meinung wünscht der König, wie diese Staaten wieder zu befriedigen. Ja, er hofft, Ihr werdet kräftig mitwirken, diese Unruhen zu stillen und die Ordnung der Provinzen völlig und dauerhaft zu gründen.

Egmont. Ihr könnt besser wissen als ich, daß schon alles genug beruhigt ist, ja noch mehr beruhigt war, eh‘ die Erscheinung der neuen Soldaten wieder mit Furcht und Sorge die Gemüter bewegte.

Alba. Ihr scheint andeuten zu wollen, das Rätlichste sei gewesen, wenn der König mich gar nicht in den Fall gesetzt hätte, Euch zu fragen.

Egmont. Verzeiht! Ob der König das Heer hätte schicken sollen, ob nicht vielmehr die Macht seiner majestätischen Gegenwart allein stärker gewirkt hätte, ist meine Sache nicht zu beurteilen. Das Heer ist da, er nicht. Wir aber müßten sehr undankbar, sehr vergessen sein, wenn wir uns nicht erinnerten, was wir der Regentin schuldig sind. Bekennen wir! Sie brachte durch ihr so kluges als tapferes Betragen die Aufrührer mit Gewalt und Ansehn, mit Überredung und List zur Ruhe und führte zum Erstaunen der Welt ein rebellisches Volk in wenigen Monaten zu seiner Pflicht zurück.

Alba. Ich leugne es nicht. Der Tumult ist gestillt, und jeder scheint in die Grenzen des Gehorsams zurückgebannt. Aber hängt es nicht von eines jeden Willkür ab, sie zu verlassen? Wer will das Volk hindern, loszubrechen? Wo ist die Macht, sie abzuhalten? Wer bürgt uns, daß sie sich ferner treu und unterthänig zeigen werden? Ihr guter Wille ist alles Pfand, das wir haben.

Egmont. Und ist der gute Wille eines Volks nicht das sicherste, das edelste Pfand? Bei Gott! Wann darf sich ein König sicherer halten, als wenn sie alle für einen, einer für alle stehn? Sicherer gegen innere und äußere Feinde?

Alba. Wir werden uns doch nicht überreden sollen, daß es jetzt hier so steht?

Egmont. Der König schreibe einen General-Pardon aus, er beruhige die Gemüter; und bald wird man sehen, wie Treue und Liebe mit dem Zutrauen wieder zurückkehrt.

Alba. Und jeder, der die Majestät des Königs, der das Heiligtum der Religion geschändet, ginge frei und ledig hin und wieder! Lebte den andern zum bereiten Beispiel, daß ungeheure Verbrechen straflos sind?

Egmont. Und ist ein Verbrechen des Unsinns, der Trunkenheit nicht eher zu entschuldigen, als grausam zu bestrafen? Besonders, wo so sichre Hoffnung, wo Gewißheit ist, daß die Übel nicht wiederkehren werden? Waren Könige darum nicht sicherer? Werden sie nicht von Welt und Nachwelt gepriesen, die eine Beleidigung ihrer Würde vergeben, bedauern, verachten konnten? Werden sie nicht eben deswegen Gott gleich gehalten, der viel zu groß ist, als daß an ihn jede Lästerung reichen sollte?

Alba. Und eben darum soll der König für die Würde Gottes und der Religion, wir sollen für das Ansehn des Königs streiten. Was der Obere abzulehnen verschmäht, ist unsere Pflicht zu rächen. Ungestraft soll, wenn ich rate, kein Schuldiger sich freuen,

Egmont. Glaubst du, daß du sie alle erreichen wirst? Hört man nicht täglich, daß die Furcht sie hie und dahin, sie aus dem Lande treibt? Die Reichsten werden ihre Güter, sich, ihre Kinder und Freunde flüchten; der Arme wird seine nützlichen Hände dem Nachbar zubringen.

Alba. Sie werden, wenn man sie nicht verhindern kann. Darum verlangt der König Rat und That von jedem Fürsten, Ernst von jedem Statthalter; nicht nur Erzählung, wie es ist, was werden könnte, wenn man alles gehen ließe, wie’s geht. Einem großen Übel zusehen, sich mit Hoffnung schmeicheln, der Zeit vertrauen, etwa einmal drein schlagen, wie im Fastnachtsspiel, daß es klatscht und man doch etwas zu thun scheint, wenn man nichts thun möchte: heißt das nicht, sich verdächtig machen, als sehe man dem Aufruhr mit Vergnügen zu, den man nicht erregen, wohl aber hegen möchte?

Egmont (im Begriff aufzufahren, nimmt sich zusammen, und spricht nach einer kleinen Pause gesetzt). Nicht jede Absicht ist offenbar, und manches Mannes Absicht ist zu mißdeuten. Muß man doch auch von allen Seiten hören: es sei des Königs Absicht weniger, die Provinzen nach einförmigen und klaren Gesetzen zu regieren, die Majestät der Religion zu sichern und einen allgemeinen Frieden seinem Volke zu geben, als vielmehr sie unbedingt zu unterjochen, sie ihrer alten Rechte zu berauben, sich Meister von ihren Besitztümern zu machen, die schönen Rechte des Adels einzuschränken, um derentwillen der Edle allein ihm dienen, ihm Leib und Leben widmen mag. Die Religion, sagt man, sei nur ein prächtiger Teppich, hinter dem man jeden gefährlichen Anschlag nur desto leichter ausdenkt. Das Volk liegt auf den Knieen, betet die heiligen gewirkten Zeichen an, und hinten lauscht der Vogelsteller, der sie berücken will.

Alba. Das muß ich von dir hören?

Egmont. Nicht meine Gesinnungen! Nur was bald hier, bald da, von Großen und von Kleinen, Klugen und Thoren gesprochen, laut verbreitet wird. Die Niederländer fürchten ein doppeltes Joch, und wer bürgt ihnen für ihre Freiheit?

Alba. Freiheit? Ein schönes Wort, wer’s recht verstände. Was wollen sie für Freiheit? Was ist des Freiesten Freiheit?–Recht zu thun!–und daran wird sie der König nicht hindern. Nein! nein! sie glauben sich nicht frei, wenn sie sich nicht selbst und andern schaden können. Wäre es nicht besser, abzudanken, als ein solches Volk zu regieren? Wenn auswärtige Feinde drängen, an die kein Bürger denkt, der mit dem Nächsten nur beschäftigt ist, und der König verlangt Beistand, dann werden sie uneins unter sich, und verschwören sich gleichsam mit ihren Feinden. Weit besser ist’s, sie einzuengen, daß man sie wie Kinder halten, wie Kinder zu ihrem Besten leiten kann. Glaube nur, ein Volk wird nicht alt, nicht klug; ein Volk bleibt immer kindisch.

Egmont. Wie selten kommt ein König zu Verstand! Und sollen sich viele nicht lieber vielen vertrauen als einem? und nicht einmal dem einen, sondern den wenigen des einen, dem Volke, das an den Blicken seines Herrn altert. Das hat wohl allein das Recht, klug zu werden.

Alba. Vielleicht eben darum, weil es sich nicht selbst überlassen ist.

Egmont. Und darum niemand gern sich selbst überlassen möchte. Man thue, was man will; ich habe auf deine Frage geantwortet und wiederhole: Es geht nicht! Es kann nicht gehen! Ich kenne meine Landsleute. Es sind Männer, wert, Gottes Boden zu betreten; ein jeder rund für sich, ein kleiner König, fest, rührig, fähig, treu, an alten Sitten hangend. Schwer ist’s, ihr Zutrauen zu verdienen; leicht, zu erhalten. Starr und fest! Zu drücken sind sie; nicht zu unterdrücken.

Alba (der sich indes einigemal umgesehen hat). Solltest du das alles in des Königs Gegenwart wiederholen?

Egmont. Desto schlimmer, wenn mich seine Gegenwart abschreckte! Desto besser für ihn, für sein Volk, wenn er mir Mut machte, wenn er mir Zutrauen einflößte, noch weit mehr zu sagen.

Alba. Was nützlich ist, kann ich hören, wie er.

Egmont. Ich würde ihm sagen: Leicht kann der Hirt eine ganze Herde Schafe vor sich hintreiben, der Stier zieht seinen Pflug ohne Widerstand; aber dem edeln Pferde, das du reiten willst, mußt du seine Gedanken ablernen, du mußt nichts Unkluges, nichts unklug von ihm verlangen. Darum wünscht der Bürger, seine alte Verfassung zu behalten, von seinen Landsleuten regiert zu sein, weil er weiß, wie er geführt wird, weil er von ihnen Uneigennutz, Teilnehmung an seinem Schicksal hoffen kann.

Alba. Und sollte der Regent nicht Macht haben, dieses alte Herkommen zu verändern? Und sollte nicht eben dies sein schönstes Vorrecht sein? Was ist bleibend auf dieser Welt? Und sollte eine Staatseinrichtung bleiben können? Muß nicht in einer Zeitfolge jedes Verhältnis sich verändern, und eben darum eine alte Verfassung die Ursache von tausend Übeln werden, weil sie den gegenwärtigen Zustand des Volkes nicht umfaßt? Ich fürchte, diese alten Rechte sind darum so angenehm, weil sie Schlupfwinkel bilden, in welchen der Kluge, der Mächtige, zum Schaden des Volks, zum Schaden des Ganzen, sich verbergen oder durchschleichen kann.

Egmont. Und diese willkürlichen Veränderungen, diese unbeschränkten Eingriffe der höchsten Gewalt, sind sie nicht Vorboten, daß einer thun will, was Tausende nicht thun sollen? Er will sich allein frei machen, um jeden seiner Wünsche befriedigen, jeden seiner Gedanken ausführen zu können. Und wenn wir uns ihm, einem guten, weisen Könige, ganz vertrauten, sagt er uns für seine Nachkommen gut? daß keiner ohne Rücksicht, ohne Schonung regieren werde? Wer rettet uns alsdann von völliger Willkür, wenn er uns seine Diener, seine Nächsten sendet, die ohne Kenntnis des Landes und seiner Bedürfnisse nach Belieben schalten und walten, keinen Widerstand finden, und sich von jeder Verantwortung frei wissen?

Alba (der sich indes wieder umgesehen hat). Es ist nichts natürlicher, als daß ein König durch sich zu herrschen gedenkt, und denen seine Befehle am liebsten aufträgt, die ihn am besten verstehen, verstehen wollen, die seinen Willen unbedingt ausrichten.

Egmont. Und eben so natürlich ist’s, daß der Bürger von dem regiert sein will, der mit ihm geboren und erzogen ist, der gleichen Begriff mit ihm von Recht und Unrecht gefaßt hat, den er als seinen Bruder ansehen kann.

Alba. Und doch hat der Adel mit diesen seinen Brüdern sehr ungleich geteilt.

Egmont. Das ist vor Jahrhunderten geschehen, und wird jetzt ohne Neid geduldet. Würden aber neue Menschen ohne Not gesendet, die sich zum zweitenmale auf Unkosten der Nation bereichern wollten, sähe man sich einer strengen, kühnen, unbedingten Habsucht ausgesetzt, das würde eine Gärung machen, die sich nicht leicht in sich selbst auflöste.

Alba. Du sagst mir, was ich nicht hören sollte; auch ich bin fremd.

Egmont. Daß ich dir’s sage, zeigt dir, daß ich dich nicht meine.

Alba. Und auch so wünscht‘ ich es nicht von dir zu hören. Der König sandte mich mit Hoffnung, daß ich hier den Beistand des Adels finden würde. Der König will seinen Willen. Der König hat nach tiefer Überlegung gesehen, was dem Volke frommt; es kann nicht bleiben und gehen wie bisher. Des Königs Absicht ist, sie selbst zu ihrem eignen Besten einzuschränken, ihr eigenes Heil, wenn’s sein muß, ihnen aufzudringen, die schädlichen Bürger aufzuopfern, damit die übrigen Ruhe finden, des Glücks einer weisen Regierung genießen können. Dies ist sein Entschluß; diesen dem Adel kund zu machen, habe ich Befehl; und Rat verlang‘ ich in seinem Namen, wie es zu thun sei, nicht was; denn das hat er beschlossen.

Egmont. Leider rechtfertigen deine Worte die Furcht des Volks, die allgemeine Furcht! So hat er denn beschlossen, was kein Fürst beschließen sollte. Die Kraft seines Volks, ihr Gemüt, den Begriff, den sie von sich selbst haben, will er schwächen, niederdrücken, zerstören, um sie bequem regieren zu können. Er will den innern Kern ihrer Eigenheit verderben; gewiß in der Absicht, sie glücklicher zu machen. Er will sie vernichten, damit sie etwas werden, ein ander Etwas. O, wenn seine Absicht gut ist, so wird sie mißgeleitet! Nicht dem Könige widersetzt man sich; man stellt sich nur dem Könige entgegen, der, einen falschen Weg zu wandeln, die ersten unglücklichen Schritte macht.

Alba. Wie du gesinnt bist, scheint es ein vergeblicher Versuch, uns vereinigen zu wollen. Du denkst gering vom Könige und verächtlich von seinen Räten, wenn du zweifelst, das alles sei nicht schon gedacht, geprüft, gewogen worden. Ich habe keinen Auftrag, jedes Für und Wider noch einmal durchzugehen. Gehorsam fordre ich von dem Volke–und von euch, ihr Ersten, Edelsten, Rat und That, als Bürgen dieser unbedingten Pflicht.

Egmont. Fordre unsre Häupter, so ist es auf einmal gethan. Ob sich der Nacken diesem Joche biegen, ob er sich vor dem Beile ducken soll, kann einer edeln Seele gleich sein. Umsonst hab‘ ich so viel gesprochen; die Luft hab‘ ich erschüttert, weiter nichts gewonnen.

(Ferdinand kommt.)

Ferdinand. Verzeiht, daß ich euer Gespräch unterbreche. Hier ist ein Brief, dessen Überbringer die Antwort dringend macht.

Alba. Erlaubt mir, daß ich sehe, was er enthält. (Tritt an die Seite.)

Ferdinand (zu Egmont). Es ist ein schönes Pferd, das Eure Leute gebracht haben, Euch abzuholen.

Egmont. Es ist nicht das schlimmste. Ich hab‘ es schon eine Weile; ich denk‘ es wegzugeben. Wenn es Euch gefällt, so werden wir vielleicht des Handels einig.

Ferdinand. Gut, wir wollen sehn.

Alba (winkt seinem Sohne, der sich in den Grund zurückzieht).

Egmont. Lebt wohl! entlaßt mich; denn ich wüßte, bei Gott! nicht mehr zu sagen.

Alba. Glücklich hat dich der Zufall verhindert, deinen Sinn noch weiter zu verraten. Unvorsichtig entwickelst du die Falten deines Herzens, und klagst dich selbst weit strenger an, als ein Widersacher gehässig thun könnte.

Egmont. Dieser Vorwurf rührt mich nicht; ich kenne mich selbst genug, und weiß, wie ich dem König angehöre; weit mehr als viele, die in seinem Dienst sich selber dienen. Ungern scheid‘ ich aus diesem Streite, ohne ihn beigelegt zu sehen, und wünsche nur, daß uns der Dienst des Herrn, das Wohl des Landes bald vereinigen möge. Es wirkt vielleicht ein wiederholtes Gespräch, die Gegenwart der übrigen Fürsten, die heute fehlen, in einem glücklichem Augenblick, was heut‘ unmöglich scheint. Mit dieser Hoffnung entfern‘ ich mich.

Alba (der zugleich seinem Sohn Ferdinand ein Zeichen gibt). Halt, Egmont! –Deinen Degen!–(Die Mitteltür öffnet sich: man sieht die Galerie mit Wache besetzt die unbeweglich bleibt.)

Egmont (der staunend eine Weile geschwiegen). Dies war die Absicht? Dazu hast du mich berufen? (Nach dem Degen greifend, als wenn er sich verteidigen wollte). Bin ich denn wehrlos?

Alba. Der König befiehlt’s, du bist mein Gefangener. (Zugleich treten von beiden Seiten Gewaffnete herein.)

Egmont (nach einer Stille). Der König?–Oranien! Oranien! (Nach einer Pause, seinen Degen hingebend). So nimm ihn! Er hat weit öfter des Königs Sache verteidigt, als diese Brust beschützt. (Er geht durch die Mitteltür ab; die Gewaffneten, die im Zimmer sind, folgen ihm; ingleichen Albas Sohn. Alba bleibt stehen. Der Vorhang fällt.)

Fünfter Aufzug.

Straße. Dämmerung.

Klärchen. Brackenburg. Bürger.

Brackenburg. Liebchen, um Gottes willen, was nimmst du vor?

Klärchen. Komm mit, Brackenburg! Du mußt die Menschen nicht kennen; wir befreien ihn gewiß. Denn was gleicht ihrer Liebe zu ihm? Jeder fühlt, ich schwör‘ es, in sich die brennende Begier, ihn zu retten, die Gefahr von einem kostbaren Leben abzuwenden, und dem Freiesten die Freiheit wiederzugeben. Komm! Es fehlt nur an der Stimme, die sie zusammenruft. In ihrer Seele lebt noch ganz frisch, was sie ihm schuldig sind; und daß sein mächtiger Arm allein von ihnen das Verderben abhält, wissen sie. Um seinet–und ihretwillen müssen sie alles wagen. Und was wagen wir? Zum höchsten unser Leben, das zu erhalten nicht der Mühe wert ist, wenn er umkommt.

Brackenburg. Unglückliche! du siehst nicht die Gewalt, die uns mit ehernen Banden gefesselt hat.

Klärchen. Sie scheint mir nicht unüberwindlich. Laß uns nicht lang vergebliche Worte wechseln. Hier kommen von den alten, redlichen, wackern Männern! Hört, Freunde! Nachbarn, hört!–Sagt, wie ist es mit Egmont?

Zimmermeister. Was will das Kind? Laß sie schweigen!

Klärchen. Tretet näher, daß wir sachte reden, bis wir einig sind und stärker. Wir dürfen nicht einen Augenblick versäumen! Die freche Tyrannei, die es wagt, ihn zu fesseln, zuckt schon den Dolch, ihn zu ermorden. O Freunde! mit jedem Schritt der Dämmerung werd‘ ich ängstlicher. Ich fürchte diese Nacht. Kommt! wir wollen uns teilen; mit schnellem Lauf von Quartier zu Quartier rufen wir die Bürger heraus. Ein jeder greife zu seinen alten Waffen. Auf dem Markte treffen wir uns wieder, und unser Strom reißt einen jeden mit sich fort. Die Feinde sehen sich umringt und überschwemmt, und sind erdrückt. Was kann uns eine Handvoll Knechte widerstehen? Und er in unsrer Mitte kehrt zurück, sieht sich befreit, und kann uns einmal danken, uns, die wir ihm so tief verschuldet worden. Er sieht vielleicht–gewiß, er sieht das Morgenrot am freien Himmel wieder.

Zimmermeister. Wie ist dir, Mädchen?

Klärchen. Könnt ihr mich mißverstehn? Vom Grafen sprech‘ ich! Ich spreche von Egmont.

Jetter. Nennt den Namen nicht! Er ist tödlich.

Klärchen. Den Namen nicht! Wie? Nicht diesen Namen? Wer nennt ihn nicht bei jeder Gelegenheit? Wo steht er nicht geschrieben? In diesen Sternen hab‘ ich oft mit allen seinen Lettern ihn gelesen. Nicht nennen? Was soll das? Freunde! Gute, teure Nachbarn, ihr träumt; besinnt euch. Seht mich nicht so starr und ängstlich an! Blickt nicht schüchtern hie und da beiseite. Ich ruf‘ euch ja nur zu, was jeder wünscht. Ist meine Stimme nicht eures Herzens eigne Stimme? Wer würfe sich in dieser bangen Nacht, eh‘ er sein unruhvolles Bette besteigt, nicht auf die Kniee, ihn mit ernstlichem Gebet vom Himmel zu erringen? Fragt euch einander! frage jeder sich selbst! und wer spricht mir nicht nach: „Egmonts Freiheit oder den Tod!“

Jetter. Gott bewahr‘ uns! Da giebt’s ein Unglück.

Klärchen. Bleibt! Bleibt und drückt euch nicht vor seinem Namen weg, dem ihr euch sonst so froh entgegen drängtet!–Wenn der Ruf ihn ankündigte, wenn es hieß: „Egmont kommt! Er kommt von Gent!“ da hielten die Bewohner der Straßen sich glücklich, durch die er reiten mußte. Und wenn ihr seine Pferde schallen hörtet, warf jeder seine Arbeit hin, und über die bekümmerten Gesichter, die ihr durchs Fenster stecktet, fuhr wie ein Sonnenstrahl von seinem Angesichte ein Blick der Freude und Hoffnung. Da hobt ihr eure Kinder auf der Thürschwelle in die Höhe und deutetet ihnen: „Sieh, das ist Egmont, der größte da! Er ist’s! Er ist’s, von dem ihr bessere Zeiten, als eure armen Väter lebten, einst zu erwarten habt.“ Laßt eure Kinder nicht dereinst euch fragen: „Wo ist er hin? Wo sind die Zeiten hin, die ihr verspracht?“–Und so wechseln wir Worte, sind müßig, verraten ihn!

Soest. Schämt Euch, Brackenburg! Laßt sie nicht gewähren! Steuert dem Unheil!

Brackenburg. Liebes Klärchen! wir wollen gehen! Was wird die Mutter sagen? Vielleicht–

Klärchen. Meinst du, ich sei ein Kind, oder wahnsinnig? Was kann vielleicht?–Von dieser schrecklichen Gewißheit bringst du mich mit keiner Hoffnung weg.–Ihr sollt mich hören, und ihr werdet; denn ich seh’s, ihr seid bestürzt, und könnt euch selbst in euerm Busen nicht wiederfinden. Laßt durch die gegenwärtige Gefahr nur einen Blick in das Vergangene dringen, das kurz Vergangene. Wendet eure Gedanken nach der Zukunft! Könnt ihr denn leben? Werdet ihr, wenn er zu Grunde geht? Mit seinem Atem flieht der letzte Hauch der Freiheit. Was war er euch? Für wen übergab er sich der dringendsten Gefahr? Seine Wunden flossen und heilten nur für euch. Die große Seele, die euch alle trug, beschränkt ein Kerker, und Schauer tückischen Mordes schweben um sie her. Er denkt vielleicht an euch, er hofft auf euch, er, der nur zu geben, nur zu erfüllen gewohnt war.

Zimmermeister. Gevatter, kommt.

Klärchen. Und ich habe nicht Arme, nicht Mark, wie ihr; doch hab‘ ich, was euch allen eben fehlt, Mut und Verachtung der Gefahr. Könnt‘ euch mein Atem doch entzünden! könnt‘ ich an meinen Busen drückend euch erwärmen und beleben! Kommt! In eurer Mitte will ich gehen!–Wie eine Fahne wehrlos ein edles Heer von Kriegern wehend anführt, so soll mein Geist um eure Häupter flammen, und Liebe und Mut das schwankende, zerstreute Volk zu einem fürchterlichen Heer vereinigen.

Jetter. Schaff‘ sie beiseite, sie dauert mich.

(Bürger ab.)

Brackenburg. Klärchen! siehst du nicht, wo wir sind?

Klärchen. Wo? Unter dem Himmel, der so oft sich herrlicher zu wölben schien, wenn der Edle unter ihm herging. Aus diesen Fenstern haben sie herausgesehn, vier, fünf Köpfe über einander; an diesen Thüren haben sie gescharrt und genickt, wenn er auf die Memmen herabsah. O, ich hatte sie so lieb, wie sie ihn ehrten! Wäre er Tyrann gewesen, möchten sie immer vor seinem Falle seitwärts gehn. Aber sie liebten ihn!–O ihr Hände, die ihr an die Mützen grifft, zum Schwert könnt ihr nicht greifen–Brackenburg, und wir?–Schelten wir sie?–Diese Arme, die ihn so oft fest hielten, was thun sie für ihn?–List hat in der Welt so viel erreicht.–Du kennst Wege und Stege, kennst das alte Schloß. Es ist nichts unmöglich, gieb mir einen Anschlag.

Brackenburg. Wenn wir nach Hause gingen.

Klärchen. Gut.

Brackenburg. Dort an der Ecke seh‘ ich Albas Wache; laß doch die Stimme der Vernunft dir zu Herzen dringen. Hältst du mich für feig? Glaubst du nicht, daß ich um deinetwillen sterben könnte? Hier sind wir beide toll, ich so gut wie du. Siehst du nicht das Unmögliche? Wenn du dich faßtest! Du bist außer dir.

Klärchen. Außer mir! Abscheulich! Brackenburg, ihr seid außer euch. Da ihr laut den Helden verehrtet, ihn Freund und Schutz und Hoffnung nanntet, ihm Vivat rieft, wenn er kam; da stand ich in meinem Winkel, schob das Fenster halb auf, verbarg mich lauschend, und das Herz schlug mir höher als euch allen. Jetzt schlägt mir’s wieder höher als euch allen! Ihr verbergt euch, da es not ist, verleugnet ihn und fühlt nicht, daß ihr untergeht, wenn er verdirbt.

Brackenburg. Komm nach Hause.

Klärchen. Nach Hause?

Brackenburg. Besinne dich nur! Sieh dich um! Dies sind die Straßen, die du nur sonntäglich betratst, durch die du sittsam nach der Kirche gingst, wo du übertrieben ehrbar zürntest, wenn ich mit einem freundlichen grüßenden Wort mich zu dir gesellte. Du stehst und redest, handelst vor den Augen der offnen Welt; besinne dich, Liebe! Wozu hilft es uns?

Klärchen. Nach Hause! Ja, ich besinne mich. Komm, Brackenburg, nach Hause! Weißt du, wo meine Heimat ist? (Ab.)

Gefängnis

durch eine Lampe erhellt, ein Ruhebett im Grunde.

(Egmont allein.)

Alter Freund! immer getreuer Schlaf, fliehst du mich auch, wie die übrigen Freunde? Wie willig senktest du dich auf mein freies Haupt herunter, und kühltest, wie ein schöner Myrtenkranz der Liebe, meine Schläfe! Mitten unter Waffen, auf der Woge des Lebens, ruht‘ ich leicht atmend, wie ein aufquellender Knabe, in deinen Armen. Wenn Stürme durch Zweige und Blätter sausten, Ast und Wipfel sich knirrend bewegten, blieb innerst doch der Kern des Herzens ungeregt. Was schüttelt dich nun? Was erschüttert den festen, treuen Sinn? Ich fühl’s, es ist der Klang der Mordaxt, die an meiner Wurzel nascht. Noch steh‘ ich aufrecht, und ein innrer Schauer durchfährt mich. Ja, sie überwindet, die verräterische Gewalt; sie untergräbt den festen hohen Stamm, und eh‘ die Rinde dorrt, stürzt krachend und zerschmetternd deine Krone.

Warum denn jetzt, der du so oft gewalt’ge Sorgen gleich Seifenblasen dir vom Haupte weggewiesen, warum vermagst du nicht die Ahnung zu verscheuchen, die tausendfach in dir sich auf und nieder treibt? Seit wann begegnet der Tod dir fürchterlich, mit dessen wechselnden Bildern, wie mit den übrigen Gestalten der gewohnten Erde, du gelassen lebtest?–Auch ist er’s nicht, der rasche Feind, dem die gesunde Brust wetteifernd sich entgegensehnt; der Kerker ist’s, des Grabes Vorbild, dem Helden wie dem Feigen widerlich. Unleidlich ward mir’s schon auf meinem gepolsterten Stuhle, wenn in stattlicher Versammlung die Fürsten, was leicht zu entscheiden war, mit wiederkehrenden Gesprächen überlegten, und zwischen düstern Wänden eines Saals die Balken der Decke mich erdrückten. Da eilt‘ ich fort, sobald es möglich war, und rasch aufs Pferd mit tiefem Atemzuge. Und frisch hinaus, da wo wir hingehören! ins Feld, wo aus der Erde dampfend jede nächste Wohlthat der Natur, und durch die Himmel wehend alle Segen der Gestirne uns umwittern; wo wir, dem erdgebornen Riesen gleich, von der Berührung unsrer Mutter kräftiger uns in die Höhe reißen; wo wir die Menschheit ganz, und menschliche Begier in allen Adern fühlen; wo das Verlangen, vorzudringen, zu besiegen, zu erhaschen, seine Faust zu brauchen, zu besitzen, zu erobern, durch die Seele des jungen Jägers glüht; wo der Soldat sein angebornes Recht auf alle Welt mit raschem Schritt sich anmaßt, und in fürchterlicher Freiheit wie ein Hagelwetter durch Wiese, Feld und Wald verderbend streicht, und keine Grenzen kennt, die Menschenhand gezogen.

Du bist nur Bild, Erinnerungstraum des Glücks, das ich so lang besessen; wo hat dich das Geschick verräterisch hingeführt? Versagt es dir, den nie gescheuten Tod im Angesicht der Sonne rasch zu gönnen, um dir des Grabes Vorgeschmack im ekeln Moder zu bereiten? Wie haucht er mich aus diesen Steinen widrig an! Schon starrt das Leben; vor dem Ruhebette wie vor dem Grabe scheut der Fuß.–

O Sorge! Sorge! die du vor der Zeit den Mord beginnst, laß ab!–Seit wann ist Egmont denn allein, so ganz allein in dieser Welt? Dich macht der Zweifel hilflos, nicht das Glück. Ist die Gerechtigkeit des Königs, der du lebenslang vertrautest, ist der Regentin Freundschaft, die fast, du darfst es dir gestehn, fast Liebe war, sind sie auf einmal, wie ein glänzend Feuerbild der Nacht, verschwunden, und lassen dich allein auf dunkelm Pfad zurück? Wird an der Spitzedeiner Freunde Oranien nicht wagend sinnen? Wird nicht ein Volk sich sammeln und mit anschwellender Gewalt den alten Freund erretten?

O haltet, Mauern, die ihr mich einschließt, so vieler Geister wohlgemeintes Drängen nicht von mir ab; und welcher Mut aus meinen Augen sonst sich über sie ergoß, der kehre nun aus ihren Herzen in meines wieder. O ja, sie rühren sich zu Tausenden! sie kommen! stehen mir zur Seite! Ihr frommer Wunsch eilt dringend zu dem Himmel, er bittet um ein Wunder. Und steigt zu meiner Rettung nicht ein Engel nieder, so seh‘ ich sie nach Lanz‘ und Schwertern greifen. Die Thore spalten sich, die Gitter springen, die Mauer stürzt vor ihren Händen ein, und der Freiheit des einbrechenden Tages steigt Egmont fröhlich entgegen. Wie manch bekannt Gesicht empfängt mich jauchzend! Ach, Klärchen, wärst du Mann, so säh‘ ich dich gewiß auch hier zuerst, und dankte dir, was einem Könige zu danken hart ist, Freiheit.

Klärchens Haus.

Klärchen (kommt mit einer Lampe und einem Glas Wasser aus der Kammer; sie setzt das Glas auf den Tisch und tritt ans Fenster).

Brackenburg? Seid Ihr’s? Was hört‘ ich denn? Noch niemand? Es war niemand! Ich will die Lampe ins Fenster setzen, daß er sieht, ich wache noch, ich warte noch auf ihn. Er hat mir Nachricht versprochen. Nachricht? Entsetzliche Gewißheit!–Egmont verurteilt!–Welch Gericht darf ihn fordern? und sie verdammen ihn! Der König verdammt ihn? oder der Herzog? Und die Regentin entzieht sich! Oranien zaudert, und alle seine Freunde!–Ist dies die Welt, von deren Wankelmut, Unzuverlässigkeit ich viel gehört und nichts empfunden habe? Ist dies die Welt?–Wer wäre bös genug, den Teuern anzufeinden? Wäre Bosheit mächtig genug, den allgemein Erkannten schnell zu stürzen? Doch ist es so–es ist!–O Egmont, sicher hielt ich dich vor Gott und Menschen, wie in meinen Armen! Was war ich dir? Du hast mich dein genannt, mein ganzes Leben widmete ich deinem Leben.–Was bin ich nun? Vergebens streck‘ ich nach der Schlinge, die dich faßt, die Hand aus. Du hilflos, und ich frei!–Hier ist der Schlüssel zu meiner Thür. An meiner Willkür hängt mein Gehen und mein Kommen, und dir bin ich zu nichts!–O, bindet mich, damit ich nicht verzweifle; und werft mich in den tiefsten Kerker, daß ich das Haupt an feuchte Mauern schlage, nach Freiheit winsle, träume, wie ich ihm helfen wollte, wenn Fesseln mich nicht lähmten, wie ich ihm helfen würde!–Nun bin ich frei! Und in der Freiheit liegt die Angst der Ohnmacht.–Mir selbst bewußt, nicht fähig, ein Glied nach seiner Hilfe zu rühren. Ach leider, auch der kleine Teil von deinem Wesen, dein Klärchen, ist wie du gefangen, und regt getrennt im Todeskrampfe nur die letzten Kräfte.–Ich höre schleichen, husten–Brackenburg–er ist’s!–Elender, guter Mann, dein Schicksal bleibt sich immer gleich; dein Liebchen öffnet dir die nächtliche Thür, und ach! zu welch unseliger Zusammenkunft!

(Brackenburg tritt auf.)

Klärchen. Du kommst so bleich und schüchtern, Brackenburg! was ist’s?

Brackenburg. Durch Umwege und Gefahren such‘ ich dich auf. Die großen Straßen sind besetzt; durch Gäßchen und durch Winkel hab‘ ich mich zu dir gestohlen.

Klärchen. Erzähl‘, wie ist’s?

Brackenburg (indem er sich setzt). Ach, Kläre, laß mich weinen. Ich liebt‘ ihn nicht. Er war der reiche Mann und lockte des Armen einziges Schaf zur bessern Weide herüber. Ich hab‘ ihn nie verflucht; Gott hat mich treu geschaffen und weich. In Schmerzen floß mein Leben von mir nieder, und zu verschmachten hofft‘ ich jeden Tag.

Klärchen. Vergiß das, Brackenburg! Vergiß dich selbst! Sprich mir von ihm! Ist’s wahr? Ist er verurteilt?

Brackenburg. Er ist’s! Ich weiß es ganz genau.

Klärchen. Und lebt noch?

Brackenburg. Ja, er lebt noch.

Klärchen. Wie willst du das versichern?–Die Tyrannei ermordet in der Nacht den Herrlichen! vor allen Augen verborgen fließt sein Blut. Ängstlich im Schlafe liegt das betäubte Volk, und träumt von Rettung, träumt ihres ohnmächtigen Wunsches Erfüllung; indes, unwillig über uns, sein Geist die Welt verläßt. Er ist dahin!–Täusche mich nicht! dich nicht!

Brackenburg. Nein, gewiß, er lebt!–Und leider! es bereitet der Spanier dem Volke, das er zertreten will, ein fürchterliches Schauspiel, gewaltsam jedes Herz, das nach Freiheit sich regt, auf ewig zu zerknirschen.

Klärchen. Fahre fort und sprich gelassen auch mein Todesurteil aus! Ich wandle den seligen Gefilden schon näher und näher, mir weht der Trost aus jenen Gegenden des Friedens schon herüber. Sag‘ an.

Brackenburg. Ich konnt‘ es an den Wachen merken, aus Reden, die bald da, bald dorten fielen, daß auf dem Markte geheimnisvoll ein Schrecknis zubereitet werde. Ich schlich durch Seitenwege, durch bekannte Gänge nach meines Vettern Hause, und sah aus einem Hinterfenster nach dem Markte.–Es wehten Fackeln in einem weiten Kreise spanischer Soldaten hin und wieder. Ich schärfte mein ungewohntes Auge, und aus der Nacht stieg mir ein schwarzes Gerüst entgegen, geräumig, hoch; mir grauste vor dem Anblick. Geschäftig waren viele rings umher bemüht, was noch von Holzwerk weiß und sichtbar war, mit schwarzem Tuch einhüllend zu verkleiden. Die Treppen deckten sie zuletzt auch schwarz, ich sah es wohl. Sie schienen die Weihe eines gräßlichen Opfers vorbereitend zu begehn. Ein weißes Kruzifix, das durch die Nacht wie Silber blinkte, ward an der einen Seite hoch aufgesteckt. Ich sah, und sah die schreckliche Gewißheit immer gewisser. Noch wankten Fackeln hie und da herum; allmählich wichen sie und erloschen. Auf einmal war die scheußliche Geburt der Nacht in ihrer Mutter Schoß zurückgekehrt.

Klärchen. Still Brackenburg! Nun still! Laß diese Hülle auf meiner Seele ruhn. Verschwunden sind die Gespenster, und du, holde Nacht, leih‘ deinen Mantel der Erde, die in sich gärt; sie trägt nicht länger die abscheuliche Last, reißt ihre tiefen Spalten grausend auf und knirscht das Mordgerüst hinunter. Und irgend einen Engel sendet der Gott, den sie zum Zeugen ihrer Wut geschändet; vor des Boten heiliger Berührung lösen sich Riegel und Bande, und er umgießt den Freund mit mildem Schimmer; er führt ihn durch die Nacht zur Freiheit sanft und still. Und auch mein Weg geht heimlich in dieser Dunkelheit, ihm zu begegnen.

Brackenburg (sie aufhaltend). Mein Kind, wohin? was wagst du?

Klärchen. Leise, Lieber, daß niemand erwache! daß wir uns selbst nicht wecken! Kennst du dies Fläschchen, Brackenburg? Ich nahm dir’s scherzend, als du mit übereiltem Tod oft ungeduldig drohtest.–Und nun, mein Freund–

Brackenburg. In aller Heiligen Namen!–

Klärchen. Du hinderst nichts. Tod ist mein Teil! und gönne mir den sanften schnellen Tod, den du dir selbst bereitetest. Gieb‘ mir deine Hand!–Im Augenblick, da ich die dunkle Pforte eröffne, aus der kein Rückweg ist, könnt‘ ich mit diesem Händedruck dir sagen: wie sehr ich dich geliebt, wie sehr ich dich bejammert! Mein Bruder starb mir jung; dich wählt‘ ich, seine Stelle zu ersetzen. Es widersprach dein Herz, und quälte sich und mich, verlangtest heiß und immer heißer, was dir nicht beschieden war. Vergieb‘ mir und leb‘ wohl! Laß mich dich Bruder nennen! Es ist ein Name, der viel Namen in sich faßt. Nimm die letzte schöne Blume der Scheidenden mit treuem Herzen ab–nimm diesen Kuß.–Der Tod vereinigt alles, Brackenburg, uns denn auch.

Brackenburg. So laß mich mit dir sterben! Teile! Teile! Es ist genug, zwei Leben auszulöschen.

Klärchen. Bleib! du sollst leben, du kannst leben.–Steh meiner Mutter bei, die ohne dich in Armut sich verzehren würde. Sei ihr, was ich ihr nicht mehr sein kann; lebt zusammen, und beweint mich. Beweint das Vaterland und den, der es allein erhalten konnte. Das heutige Geschlecht wird diesen Jammer nicht los; die Wut der Rache selbst vermag ihn nicht zu tilgen. Lebt, ihr Armen, die Zeit noch hin, die keine Zeit mehr ist. Heut‘ steht die Welt auf einmal still; es stockt ihr Kreislauf, und mein Puls schlägt kaum noch wenige Minuten. Leb‘ wohl!

Brackenburg. O, lebe du mit uns, wie wir für dich allein! Du tötest uns in dir, o leb‘ und leide! Wir wollen unzertrennlich dir zu beiden Seiten stehn, und immer achtsam soll die Liebe den schönsten Trost in ihren lebendigen Armen dir bereiten. Sei unser! Unser! Ich darf nicht sagen, mein.

Klärchen. Leise, Brackenburg! Du fühlst nicht, was du rührst. Wo Hoffnung dir erscheint, ist mir Verzweiflung.

Brackenburg. Teile mit den Lebendigen die Hoffnung! Verweil‘ am Rande des Abgrundes, schau‘ hinab und sieh auf uns zurück.

Klärchen. Ich hab‘ überwunden, ruf‘ mich nicht wieder zum Streit.

Brackenburg. Du bist betäubt; gehüllt in Nacht suchst du die Tiefe. Noch ist nicht jedes Licht erloschen, noch mancher Tag!–

Klärchen. Weh! über dich Weh! Weh! Grausam zerreißest du den Vorhang vor meinem Auge. Ja, er wird grauen, der Tag! vergebens alle Nebel um sich ziehn und wider Willen grauen! Furchtsam schaut der Bürger aus seinem Fenster, die Nacht läßt einen schwarzen Flecken zurück; er schaut, und fürchterlich wächst im Lichte das Mordgerüst. Neu leidend wendet das entweihte Gottesbild sein flehend Auge zum Vater auf. Die Sonne wagt sich nicht hervor; sie will die Stunde nicht bezeichnen, in der er sterben soll. Träge gehn die Zeiger ihren Weg, und eine Stunde nach der andern schlägt. Halt! Halt! nun ist es Zeit! mich scheucht des Morgens Ahnung in das Grab. (Sie tritt ans Fenster, als sähe sie sich um, und trinkt heimlich.)

Brackenburg. Kläre! Kläre!

Klärchen (geht nach dem Tisch und trinkt das Wasser). Hier ist der Rest! Ich locke dich nicht nach. Thu‘, was du darfst, leb‘ wohl. Lösche diese Lampe still und ohne Zaudern, ich geh‘ zur Ruhe. Schleiche dich sachte weg, ziehe die Thür nach dir zu. Still! Wecke meine Mutter nicht! Geh, rette dich. Rette dich, wenn du nicht mein Mörder scheinen willst. (Ab.)

Brackenburg. Sie läßt mich zum letztenmale, wie immer. O, könnte eine Menschenseele fühlen, wie sie ein liebend Herz zerreißen kann. Sie läßt mich stehn, mir selber überlassen; und Tod und Leben ist mir gleich verhaßt.–Allein zu sterben!–Weint, ihr Liebenden! Kein härter Schicksal ist als meins! Sie teilt mit mir den Todestropfen und schickt mich weg! von ihrer Seite weg! Sie zieht mich nach, und stößt ins Leben mich zurück. O Egmont, welch preiswürdig Los fällt dir! Sie geht voran; der Kranz des Siegs aus ihrer Hand ist dein, sie bringt den ganzen Himmel dir entgegen!–Und soll ich folgen? wieder seitwärts stehn? den unauslöschlichen Neid in jene Wohnungen hinübertragen?–Auf Erden ist kein Bleiben mehr für mich, und Höll‘ und Himmel bieten gleiche Qual. Wie wäre der Vernichtung Schreckenshand dem Unglückseligen willkommen!

(Brackenburg geht ab, das Theater bleibt einige Zeit unverändert. Eine Musik, Klärchens Tod bezeichnend, beginnt; die Lampe, welche Brackenburg auszulöschen vergessen, flammt noch einigemal auf, dann erlischt sie. Bald verwandelt sich der Schauplatz in das

Gefängnis.

(Egmont liegt schlafend auf dem Ruhebette. Es entsteht ein Gerassel mit Schlüsseln, und die Thür thut sich auf. Diener mit Fackeln treten herein; ihnen folgt Ferdinand, Albas Sohn, und Silva, begleitet von Gewaffneten. Egmont fährt aus dem Schlaf auf.)

Egmont. Wer seid ihr, die ihr mir unfreundlich den Schlaf von den Augen schüttelt? Was künden eure trotzigen, unsichern Blicke mir an? Warum diesen fürchterlichen Aufzug? Welchen Schrekkenstraum kommt ihr der halberwachten Seele vorzulügen?

Silva. Uns schickt der Herzog, dir dein Urteil anzukündigen.

Egmont. Bringst du den Henker auch mit, es zu vollziehen?

Silva. Vernimm es, so wirst du wissen, was deiner wartet.

Egmont. So ziemt es euch und euerm schändlichen Beginnen! In Nacht gebrütet und in Nacht vollführt. So mag diese freche Tat der Ungerechtigkeit sich verbergen!–Tritt kühn hervor, der du das Schwert verhüllt unter dem Mantel trägst; hier ist mein Haupt, das freieste, das je die Tyrannei vom Rumpf gerissen.

Silva. Du irrst! Was gerechte Richter beschließen, werden sie vorm Angesicht des Tages nicht verbergen.

Egmont. So übersteigt die Frechheit jeden Begriff und Gedanken.

Silva (nimmt einem Dabeistehenden das Urteil ab, entfaltet’s und liest’s). „Im Namen des Königs, und kraft besonderer von Seiner Majestät uns übertragenen Gewalt, alle seine Unterthanen, wes Standes sie seien, zugleich die Ritter des goldnen Vließes zu richten, erkennen wir–“

Egmont. Kann die der König übertragen?

Silva. „Erkennen wir, nach vorgängiger genauer, gesetzlicher Untersuchung, dich Heinrich Grafen Egmont, Prinzen von Gaure, des Hochverrats schuldig, und sprechen das Urteil: daß du mit der Frühe des einbrechenden Morgens aus dem Kerker auf den Markt geführt, und dort vorm Angesicht des Volks zur Warnung aller Verräter mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gebracht werden sollest. Gegeben Brüssel am“ (Datum und Jahrzahl werden undeutlich gelesen, so, daß sie der Zuhörer nicht versteht.) „Ferdinand, Herzog von Alba, Vorsitzer des Gerichts der Zwölfe.“ Du weißt nun dein Schicksal; es bleibt dir wenige Zeit, dich drein zu ergeben, dein Haus zu bestellen und von den Deinigen Abschied zu nehmen.

(Silva mit dem Gefolge geht ab. Es bleibt Ferdinand und zwei Fackeln; das Theater ist mäßig erleuchtet.)

Egmont (hat eine Weile in sich versenkt, stille gestanden und Silva, ohne sich umzusehen, abgehen lassen. Er glaubt sich allein, und da er die Augen aufhebt, erblickt er Albas Sohn). Du stehst und bleibst? Willst du mein Erstaunen, mein Entsetzen noch durch deine Gegenwart vermehren? Willst du noch etwa die willkommne Botschaft deinem Vater bringen, daß ich unmännlich verzweifle? Geh! Sag‘ ihm! Sag‘ ihm, daß er weder mich, noch die Welt belügt. Ihm, dem Ruhmsüchtigen, wird man es erst hinter den Schultern leise lispeln, dann laut und lauter sagen, und wenn er einst von diesem Gipfel herabsteigt, werden tausend Stimmen es ihm entgegen rufen: Nicht das Wohl des Staats, nicht die Würde des Königs, nicht die Ruhe der Provinzen haben ihn hierher gebracht. Um sein selbst willen hat er Krieg geraten, daß der Krieger im Kriege gelte. Er hat diese ungeheure Verwirrung erregt, damit man seiner bedürfe. Und ich falle, ein Opfer seines niedrigen Hasses, seines kleinlichen Neides. Ja, ich weiß es, und ich darf es sagen; der Sterbende, der tödlich Verwundete kann es sagen: mich hat der Eingebildete beneidet; mich wegzutilgen, hat er lange gesonnen und gedacht.

Schon damals, als wir noch jünger mit Würfeln spielten und die Haufen Goldes, einer nach dem andern, von seiner Seite zu mir herübereilten, da stand er grimmig, log Gelassenheit, und innerlich verzehrte ihn die Ärgernis, mehr über mein Glück, als über seinen Verlust. Noch erinnere ich mich des funkelnden Blicks, der verräterischen Blässe, als wir an einem öffentlichen Feste vor vielen tausend Menschen um die Wette schossen. Er forderte mich auf, und beide Nationen standen; die Spanier, die Niederländer wetteten und wünschten. Ich überwand ihn; seine Kugel irrte, die meine traf; ein lauter Freudenschrei der Meinigen durchbrach die Luft. Nun trifft mich sein Geschoß. Sag‘ ihm, daß ich’s weiß, daß ich ihn kenne, daß die Welt jede Siegszeichen verachtet, die ein kleiner Geist erschleichend sich aufrichtet. Und du! wenn einem Sohne möglich ist, von der Sitte des Vaters zu weichen, übe beizeiten die Scham, indem du dich für den schämst, den du gerne von ganzem Herzen verehren möchtest.

Ferdinand. Ich höre dich an, ohne dich zu unterbrechen! Deine Vorwürfe lasten wie Keulschläge auf einen Helm; ich fühle die Erschütterung, aber ich bin bewaffnet. Du triffst mich, du verwundest mich nicht; fühlbar ist mir allein der Schmerz, der mir den Busen zerreißt. Wehe mir! Wehe! Zu einem solchen Anblick bin ich aufgewachsen, zu einem solchen Schauspiele bin ich gesendet!

Egmont. Du brichst in Klagen aus? Was rührt, was bekümmert dich? Ist es eine späte Reue, daß du der schändlichen Verschwörung deinen Dienst geliehen? Du bist so jung und hast ein glückliches Ansehn. Du warst so zutraulich, so freundlich gegen mich. So lang ich dich sah, war ich mit deinem Vater versöhnt. Und eben so verstellt, verstellter als er, lockst du mich in das Netz. Du bist der Abscheuliche! Wer ihm traut, mag er es auf seine Gefahr thun; aber wer fürchtete Gefahr, dir zu vertrauen? Geh! Geh! Raube mir nicht die wenigen Augenblicke! Geh, daß ich mich sammle, die Welt und dich zuerst vergesse!–

Ferdinand. Was soll ich dir sagen? Ich stehe und sehe dich an, und sehe dich nicht, und fühle mich nicht. Soll ich mich entschuldigen? Soll ich dir versichern, daß ich erst spät, erst ganz zuletzt des Vaters Absichten erfuhr, daß ich als ein gezwungenes, ein lebloses Werkzeug seines Willens handelte? Was fruchtet’s, welche Meinung du von mir haben magst? Du bist verloren; und ich Unglücklicher stehe nur da, um dir’s zu versichern, um dich zu bejammern.

Egmont. Welche sonderbare Stimme, welch ein unerwarteter Trost begegnet mir auf dem Wege zum Grabe? Du, Sohn meines ersten, meines fast einzigen Feindes, du bedauerst mich, du bist nicht unter meinen Mördern? Sage, rede! Für wen soll ich dich halten?

Ferdinand. Grausamer Vater! Ja, ich erkenne dich in diesem Befehle. Du kanntest mein Herz, meine Gesinnung, die du so oft als Erbteil einer zärtlichen Mutter schaltest. Mich dir gleich zu bilden, sandtest du mich hierher. Diesen Mann am Rande des gähnenden Grabes, in der Gewalt eines willkürlichen Todes zu sehen, zwingst du mich; daß ich den tiefsten Schmerz empfinde, daß ich taub gegen alles Schicksal, daß ich unempfindlich werde, es geschehe mir, was wolle.

Egmont. Ich erstaune! Fasse dich! Stehe, rede wie ein Mann!

Ferdinand. O, daß ich ein Weib wäre! daß man mir sagen könnte: was rührt dich? was ficht dich an? Sage mir ein größeres, ein ungeheureres Übel, mache mich zum Zeugen einer schrecklichern That; ich will dir danken, ich will sagen: es war nichts.

Egmont. Du verlierst dich? Wo bist du?

Ferdinand. Laß diese Leidenschaft rasen, laß mich losgebunden klagen! Ich will nicht standhaft scheinen, wenn alles in mir zusammenbricht. Dich soll ich hier sehn?–Dich?–Es ist entsetzlich! Du verstehst mich nicht! Und sollst du mich verstehen? Egmont! Egmont! (Ihm um den Hals fallend.)

Egmont. Löse mir das Geheimnis.

Ferdinand. Kein Geheimnis.

Egmont. Wie bewegt dich so tief das Schicksal eines fremden Mannes?

Ferdinand. Nicht fremd! Du bist mir nicht fremd. Dein Name war’s, der mir in meiner ersten Jugend gleich einem Stern des Himmels entgegenleuchtete. Wie oft hab‘ ich nach dir gehorcht, gefragt! Des Kindes Hoffnung ist der Jüngling, des Jünglings der Mann. So bist du vor mir her geschritten; immer vor, und ohne Neid sah ich dich vor, und schritt dir nach, und fort und fort. Nun hofft‘ ich endlich dich zu sehen, und sah dich, und mein Herz flog dir entgegen. Dich hatt‘ ich mir bestimmt, und wählte dich aufs neue, da ich dich sah. Nun hofft‘ ich erst mit dir zu sein, mit dir zu leben, dich zu fassen, dich.–Das ist nun alles weggeschnitten, und ich sehe dich hier!

Egmont. Mein Freund, wenn es dir wohlthun kann, so nimm die Versicherung, daß im ersten Augenblick mein Gemüt dir entgegenkam. Und höre mich. Laß uns ein ruhiges Wort unter einander wechseln. Sage mir: ist es der strenge, ernste Wille deines Vaters, mich zu töten?

Ferdinand. Er ist’s.

Egmont. Dieses Urteil wäre nicht ein leeres Schreckbild, mich zu ängstigen, durch Furcht und Drohung zu strafen, mich zu erniedrigen, und dann mit königlicher Gnade mich wieder aufzuheben?

Ferdinand. Nein, ach leider nein! Anfangs schmeichelte ich mir selbst mit dieser ausweichenden Hoffnung; und schon da empfand ich Angst und Schmerz, dich in diesem Zustande zu sehen. Nun ist es wirklich, ist gewiß. Nein, ich regiere mich nicht. Wer giebt mir eine Hilfe, wer einen Rat, dem Unvermeidlichen zu entgehen?

Egmont. So höre mich. Wenn deine Seele so gewaltsam dringt, mich zu retten, wenn du die Übermacht verabscheust, die mich gefesselt hält, so rette mich! Die Augenblicke sind kostbar. Du bist des Allgewaltigen Sohn, und selbst gewaltig.–Laß uns entfliehen! Ich kenne die Wege; die Mittel können dir nicht unbekannt sein. Nur diese Mauern, nur wenige Meilen entfernen mich von meinen Freunden. Löse diese Bande, bringe mich zu ihnen und sei unser! Gewiß, der König dankt dir dereinst meine Rettung. Jetzt ist er überrascht, und vielleicht ist ihm alles unbekannt. Dein Vater wagt; und die Majestät muß das Geschehene billigen, wenn sie sich auch davor entsetzet. Du denkst? O, denke mir den Weg der Freiheit aus! Sprich, und nähre die Hoffnung der lebendigen Seele.

Ferdinand. Schweig‘! o schweige! Du vermehrst mit jedem Worte meine Verzweiflung. Hier ist kein Ausweg, kein Rat, keine Flucht.–Das quält mich, das greift und faßt mir wie mit Klauen die Brust. Ich habe selbst das Netz zusammengezogen; ich kenne die strengen festen Knoten; ich weiß, wie jeder Kühnheit, jeder List die Wege verrennt sind; ich fühle mich mit dir und mit allen andern gefesselt. Würde ich klagen, hätte ich nicht alles versucht? Zu seinen Füßen habe ich gelegen, geredet und gebeten. Er schickte mich hierher, um alles, was von Lebenslust und Freude in mir lebt, in diesem Augenblicke zu zerstören.

Egmont. Und keine Rettung?

Ferdinand. Keine!

Egmont (mit dem Fuße stampfend). Keine Rettung!–Süßes Leben! schöne, freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens! von dir soll ich scheiden! So gelassen scheiden! Nicht im Tumulte der Schlacht, unter dem Geräusch der Waffen, in der Zerstreuung des Getümmels giebst du mir ein flüchtiges Lebewohl; du nimmst keinen eiligen Abschied, verkürzest nicht den Augenblick der Trennung. Ich soll deine Hand fassen, dir noch einmal in die Augen sehn, deine Schöne, deinen Wert recht lebhaft fühlen, und dann mich entschlossen losreißen und sagen: Fahre hin!

Ferdinand. Und ich soll daneben stehn, zusehn, dich nicht halten, nicht hindern können! O, welche Stimme reichte zur Klage! Welches Herz flösse nicht aus seinen Banden vor diesem Jammer!

Egmont. Fasse dich!

Ferdinand. Du kannst dich fassen, du kannst entsagen, den schweren Schritt an der Hand der Notwendigkeit heldenmäßig gehn. Was kann ich? Was soll ich? Du überwindest dich selbst und uns; du überstehst; ich überlebe dich und mich selbst. Bei der Freude des Mahls hab‘ ich mein Licht, im Getümmel der Schlacht meine Fahne verloren. Schal, verworren, trüb‘ scheint mir die Zukunft.

Egmont. Junger Freund, den ich durch ein sonderbares Schicksal zugleich gewinne und verliere, der für mich die Todesschmerzen empfindet, für mich leidet, sieh mich in diesen Augenblicken an; du verlierst mich nicht. War dir mein Leben ein Spiegel, in welchem du dich gerne betrachtetest, so sei es auch mein Tod. Die Menschen sind nicht nur zusammen, wenn sie beisammen sind; auch der Entfernte, der Abgeschiedene lebt uns. Ich lebe dir, und habe mir genug gelebt. Eines jeden Tages hab‘ ich mich gefreut; an jedem Tage mit rascher Wirkung meine Pflicht gethan, wie mein Gewissen mir sie zeigte. Nun endigt sich das Leben, wie es sich früher, früher, schon auf dem Sande von Gravelingen hätte endigen können. Ich höre auf zu leben; aber ich habe gelebt. So leb‘ auch du, mein Freund, gern und mit Lust, und scheue den Tod nicht.

Ferdinand. Du härtest dich für uns erhalten können, erhalten sollen. Du hast dich selber getötet. Oft hört‘ ich, wenn kluge Männer über dich sprachen, feindselige, wohlwollende, sie stritten lang über deinen Wert; doch endlich vereinigten sie sich, keiner wagt‘ es zu leugnen, jeder gestand: ja, er wandelt einen gefährlichen Weg. Wie oft wünscht‘ ich, dich warnen zu können! Hattest du denn keine Freunde?

Egmont. Ich war gewarnt.

Ferdinand. Und wie ich punktweise alle diese Beschuldigungen wieder in der Anklage fand, und deine Antworten! Gut genug, dich zu entschuldigen; nicht triftig genug, dich von der Schuld zu befreien.–

Egmont. Dies sei beiseite gelegt. Es glaubt der Mensch sein Leben zu leiten, sich selbst zu führen; und sein Innerstes wird unwiderstehlich nach seinem Schicksale gezogen. Laß uns darüber nicht sinnen; dieser Gedanken entschlag‘ ich mich leicht–schwerer der Sorge für dieses Land; doch auch dafür wird gesorgt sein. Kann mein Blut für viele fließen, meinem Volk Friede bringen, so fließt es willig. Leider wird’s nicht so werden. Doch es ziemt dem Menschen, nicht mehr zu grübeln, wo er nicht mehr wirken soll. Kannst du die verderbende Gewalt deines Vaters aufhalten, lenken, so thu’s. Wer wird das können?–Leb‘ wohl!

Ferdinand. Ich kann nicht gehn.

Egmont. Laß meine Leute dir aufs beste empfohlen sein! Ich habe gute Menschen zu Dienern; daß sie nicht zerstreut, nicht unglücklich werden! Wie steht es um Richard, meinen Schreiber?

Ferdinand. Er ist dir vorangegangen. Sie haben ihn als Mitschuldigen des Hochverrats enthauptet.

Egmont. Arme Seele!–Noch eins, und dann leb‘ wohl, ich kann nicht mehr. Was auch den Geist gewaltsam beschäftigt, fordert die Natur zuletzt doch unwiderstehlich ihre Rechte; und wie ein Kind, umwunden von der Schlange, des erquickenden Schlafs genießt, so legt der Müde sich noch einmal vor der Pforte des Todes nieder und ruht tief aus, als ob er einen weiten Weg zu wandern hätte.–Noch eins.–Ich kenne ein Mädchen; du wirst sie nicht verachten, weil sie mein war. Nun ich sie dir empfehle, sterb‘ ich ruhig. Du bist ein edler Mann; ein Weib, das den findet, ist geborgen. Lebt mein alter Adolf? ist er frei?

Ferdinand. Der muntre Greis, der Euch zu Pferde immer begleitete?

Egmont. Derselbe.

Ferdinand. Er lebt, er ist frei.

Egmont. Er weiß ihre Wohnung; laß dich von ihm führen, und lohn‘ ihm bis an sein Ende, daß er dir den Weg zu diesem Kleinode zeigt.–Leb wohl!

Ferdinand. Ich gehe nicht.

Egmont (ihn nach der Thür drängend). Leb‘ wohl!

Ferdinand. O, laß mich noch!

Egmont. Freund, keinen Abschied!

(Er begleitet Ferdinanden bis an die Thür, und reißt sich dort von ihm los. Ferdinand, betäubt, entfernt sich eilend.)

Egmont (allein). Feindseliger Mann! Du glaubtest nicht, mir diese Wohlthat durch deinen Sohn zu erzeigen. Durch ihn bin ich der Sorgen los und der Schmerzen, der Furcht und jedes ängstlichen Gefühls. Sanft und dringend fordert die Natur ihren letzten Zoll. Es ist vorbei, es ist beschlossen! und was die letzte Nacht mich ungewiß auf meinem Lager wachend hielt, das schläfert nun mit unbezwinglicher Gewißheit meine Sinnen ein.

(Er setzt sich aufs Ruhebett. Musik.)

Süßer Schlaf! Du kommst wie ein reines Glück, ungebeten, unerfleht am willigsten. Du lösest die Knoten der strengen Gedanken, vermischest alle Bilder der Freude und des Schmerzes; ungehindert fließt der Kreis innerer Harmonieen, und, eingehüllt in gefälligen Wahnsinn, versinken wir und hören auf, zu sein.

(Er entschläft; die Musik begleitet seinen Schlummer. Hinter seinem Lager scheint sich die Mauer zu eröffnen, eine glänzende Erscheinung zeigt sich. Die Freiheit in himmlischem Gewande, von einer Klarheit umflossen, ruht auf einer Wolke. Sie hat die Züge von Klärchen, und neigt sich gegen den schlafenden Helden. Sie drückt eine bedauernde Empfindung aus, sie scheint ihn zu beklagen. Bald faßt sie sich, und mit aufmunternder Gebärde zeigt sie ihm das Bündel Pfeile, dann den Stab mit dem Hute. Sie heißt ihn froh sein, und indem sie ihm andeutet, daß sein Tod den Provinzen die Freiheit verschaffen werde, erkennt sie ihn als Sieger und reicht ihm einen Lorbeerkranz. Wie sie sich mit dem Kranze dem Haupte nahet, macht Egmont eine Bewegung, wie einer, der sich im Schlafe regt, dergestalt, daß er mit dem Gesicht aufwärts gegen sie liegt. Sie hält den Kranz über seinem Haupte schwebend; man hört ganz von weitem eine kriegerische Musik von Trommeln und Pfeifen; bei dem leisesten Laut derselben verschwindet die Erscheinung. Der Schall wird stärker. Egmont erwacht; das Gefängnis wird vom Morgen mäßig erhellt. Seine erste Bewegung ist, nach dem Haupte zu greifen; er steht auf und sieht sich um, indem er die Hand auf dem Haupte behält.)

Verschwunden ist der Kranz! Du schönes Bild, das Licht des Tages hat dich verscheuchet! Ja, sie waren’s, sie waren vereint, die beiden süßesten Freuden meines Herzens. Die göttliche Freiheit, von meiner Geliebten borgte sie die Gestalt; das reizende Mädchen kleidete sich in der Freundin himmlisches Gewand. In einem ernsten Augenblick erscheinen sie vereinigt, ernster als lieblich. Mit blutbefleckten Sohlen trat sie vor mir auf, die wehenden Falten des Saumes mit Blut befleckt. Es war mein Blut und vieler Edeln Blut. Nein, es ward nicht umsonst vergossen. Schreitet durch! Braves Volk! Die Siegesgöttin führt dich an! Und wie das Meer durch eure Dämme bricht, so brecht, so reißt den Wall der Tyrannei zusammen, und schwemmt ersäufend sie von ihrem Grunde, den sie sich anmaßt, weg!

(Trommeln näher.)

Horch! Horch! Wie oft rief mich dieser Schall zum freien Schritt nach dem Felde des Streits und des Siegs! Wie munter traten die Gefährten auf der gefährlichen, rühmlichen Bahn! Auch ich schreite einem ehrenvollen Tode aus diesem Kerker entgegen; ich sterbe für die Freiheit, für die ich lebte und focht, und der ich mich jetzt leidend opfre.

(Der Hintergrund wird mit einer Reihe spanischer Soldaten besetzt, welche Hellebarden tragen.)

Ja, führt sie nur zusammen! Schließt eure Reihen, ihr schreckt mich nicht. Ich bin gewohnt, vor Speeren gegen Speere zu stehn, und, rings umgeben von dem drohenden Tod, das mutige Leben nur doppelt rasch zu fühlen.

(Trommeln.)

Dich schließt der Feind von allen Seiten ein! Es blinken Schwerter; Freunde, höhern Mut! Im Rücken habt ihr Eltern, Weiber, Kinder!

(Auf die Wache zeigend.)

Und diese treibt ein hohles Wort des Herrschers, nicht ihr Gemüt. Schützt eure Güter! Und euer Liebstes zu erretten, fallt freudig, wie ich euch ein Beispiel gebe.

(Trommeln. Wie er auf die Wache los und auf die Hinterthür zugeht, fällt der Vorhang; die Musik fällt ein und schließt mit einer Siegessymphonie das Stück.)

Johann Wolfgang von Goethe – Die wunderlichen Nachbarskinder

Johann Wolfgang von Goethe: Die wunderlichen Nachbarskinder

Novelle aus Die Wahlverwandtschaften (1809)

Zwei Nachbarskinder von bedeutenden Häusern, Knabe und Mädchen, in verhältnismäßigem Alter, um dereinst Gatten zu werden, ließ man in dieser angenehmen Aussicht miteinander aufwachsen, und die beiderseitigen Eltern freuten sich einer künftigen Verbindung. Doch man bemerkte gar bald, daß die Absicht zu mißlingen schien, indem sich zwischen den beiden trefflichen Naturen ein sonderbarer Widerwille hervortat. Vielleicht waren sie einander zu ähnlich. Beide in sich selbst gewendet, deutlich in ihrem Wollen, fest in ihren Vorsätzen; jedes einzeln geliebt und geehrt von seinen Gespielen; immer Widersacher, wenn sie zusammen waren, immer aufbauend für sich allein, immer wechselsweise zerstörend, wo sie sich begegneten, nicht wetteifernd nach einem Ziel, aber immer kämpfend um einen Zweck; gutartig durchaus und liebenswürdig und nur hassend, ja bösartig, indem sie sich aufeinander bezogen.

Dieses wunderliche Verhältnis zeigte sich schon bei kindischen Spielen, es zeigte sich bei zunehmenden Jahren. Und wie die Knaben Krieg zu spielen, sich in Parteien zu sondern, einander Schlachten zu liefern pflegen, so stellte sich das trotzig mutige Mädchen einst an die Spitze des einen Heers und focht gegen das andre mit solcher Gewalt und Erbitterung, daß dieses schimpflich wäre in die Flucht geschlagen worden, wenn ihr einzelner Widersacher sich nicht sehr brav gehalten und seine Gegnerin doch noch zuletzt entwaffnet und gefangengenommen hätte. Aber auch da noch wehrte sie sich so gewaltsam, daß er, um seine Augen zu erhalten und die Feindin doch nicht zu beschädigen, sein seidenes Halstuch abreißen und ihr die Hände damit auf den Rücken binden mußte.

Dies verzieh sie ihm nie, ja sie machte so heimliche Anstalten und Versuche, ihn zu beschädigen, daß die Eltern, die auf diese seltsamen Leidenschaften schon längst achtgehabt, sich miteinander verständigten und beschlossen, die beiden feindlichen Wesen zu trennen und jene lieblichen Hoffnungen aufzugeben.

Der Knabe tat sich in seinen neuen Verhältnissen bald hervor. Jede Art von Unterricht schlug bei ihm an. Gönner und eigene Neigung bestimmten ihn zum Soldatenstande. Überall, wo er sich fand, war er geliebt und geehrt. Seine tüchtige Natur schien nur zum Wohlsein, zum Behagen anderer zu wirken, und er war in sich, ohne deutliches Bewußtsein, recht glücklich, den einzigen Widersacher verloren zu haben, den die Natur ihm zugedacht hatte.

Das Mädchen dagegen trat auf einmal in einen veränderten Zustand. Ihre Jahre, eine zunehmende Bildung und mehr noch ein gewisses inneres Gefühl zogen sie von den heftigen Spielen hinweg, die sie bisher in Gesellschaft der Knaben auszuüben pflegte. Im ganzen schien ihr etwas zu fehlen, nichts war um sie herum, das wert gewesen wäre, ihren Haß zu erregen. Liebenswürdig hatte sie noch niemanden gefunden.

Ein junger Mann, älter als ihr ehemaliger nachbarlicher Widersacher, von Stand, Vermögen und Bedeutung, beliebt in der Gesellschaft, gesucht von Frauen, wendete ihr seine ganze Neigung zu. Es war das erstemal, daß sich ein Freund, ein Liebhaber, ein Diener um sie bemühte. Der Vorzug, den er ihr vor vielen gab, die älter, gebildeter, glänzender und anspruchsreicher waren als sie, tat ihr gar zu wohl. Seine fortgesetzte Aufmerksamkeit, ohne daß er zudringlich gewesen wäre, sein treuer Beistand bei verschiedenen unangenehmen Zufällen, sein gegen ihre Eltern zwar ausgesprochnes, doch ruhiges und nur hoffnungsvolles Werben, da sie freilich noch sehr jung war: das alles nahm sie für ihn ein, wozu die Gewohnheit, die äußern, nun von der Welt als bekannt angenommenen Verhältnisse das Ihrige beitrugen. Sie war so oft Braut genannt worden, daß sie sich endlich selbst dafür hielt, und weder sie noch irgend jemand dachte daran, daß noch eine Prüfung nötig sei, als sie den Ring mit demjenigen wechselte, der so lange Zeit für ihren Bräutigam galt.

Der ruhige Gang, den die ganze Sache genommen hatte, war auch durch das Verlöbnis nicht beschleunigt worden. Man ließ eben von beiden Seiten alles so fortgewähren, man freute sich des Zusammenlebens und wollte die gute Jahreszeit durchaus noch als einen Frühling des künftigen ernsteren Lebens genießen.

Indessen hatte der Entfernte sich zum schönsten ausgebildet, eine verdiente Stufe seiner Lebensbestimmung erstiegen und kam mit Urlaub, die Seinigen zu besuchen. Auf eine ganz natürliche, aber doch sonderbare Weise stand er seiner schönen Nachbarin abermals entgegen. Sie hatte in der letzten Zeit nur freundliche, bräutliche Familienempfindungen bei sich genährt, sie war mit allem, was sie umgab, in Übereinstimmung; sie glaubte glücklich zu sein und war es auch auf gewisse Weise. Aber nun stand ihr zum erstenmal seit langer Zeit wieder etwas entgegen: es war nicht hassenswert; sie war des Hasses unfähig geworden, ja der kindische Haß, der eigentlich nur ein dunkles Anerkennen des inneren Wertes gewesen, äußerte sich nun in frohem Erstaunen, erfreulichem Betrachten, gefälligem Eingestehen, halb willigem halb unwilligem und doch notwendigem Annahen, und das alles war wechselseitig. Eine lange Entfernung gab zu längeren Unterhaltungen Anlaß. Selbst jene kindische Unvernunft diente den Aufgeklärteren zu scherzhafter Erinnerung, und es war, als wenn man sich jenen neckischen Haß wenigstens durch eine freundschaftliche, aufmerksame Behandlung vergüten müsse, als wenn jenes gewaltsame Verkennen nunmehr nicht ohne ein ausgesprochnes Anerkennen bleiben dürfe.

Von seiner Seite blieb alles in einem verständigen, wünschenswerten Maß. Sein Stand, seine Verhältnisse, sein Streben, sein Ehrgeiz beschäftigten ihn so reichlich, daß er die Freundlichkeit der schönen Braut als eine dankenswerte Zugabe mit Behaglichkeit aufnahm, ohne sie deshalb in irgendeinem Bezug auf sich zu betrachten oder sie ihrem Bräutigam zu mißgönnen, mit dem er übrigens in den besten Verhältnissen stand.

Bei ihr hingegen sah es ganz anders aus. Sie schien sich wie aus einem Traum erwacht. Der Kampf gegen ihren jungen Nachbar war die erste Leidenschaft gewesen, und dieser heftige Kampf war doch nur, unter der Form des Widerstrebens, eine heftige, gleichsam angeborne Neigung. Auch kam es ihr in der Erinnerung nicht anders vor, als daß sie ihn immer geliebt habe. Sie lächelte über jenes feindliche Suchen mit den Waffen in der Hand; sie wollte sich des angenehmsten Gefühls erinnern, als er sie entwaffnete; sie bildete sich ein, die größte Seligkeit empfunden zu haben, da er sie band, und alles, was sie zu seinem Schaden und Verdruß unternommen hatte, kam ihr nur als unschuldiges Mittel vor, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie verwünschte jene Trennung, sie bejammerte den Schlaf, in den sie verfallen, sie verfluchte die schleppende, träumerische Gewohnheit, durch die ihr ein so unbedeutender Bräutigam hatte werden können; sie war verwandelt, doppelt verwandelt, vorwärts und rückwärts, wie man es nehmen will.

Hätte jemand ihre Empfindungen, die sie ganz geheimhielt, entwickeln und mit ihr teilen können, so würde er sie nicht gescholten haben; denn freilich konnte der Bräutigam die Vergleichung mit dem Nachbar nicht aushalten, sobald man sie nebeneinander sah. Wenn man dem einen ein gewisses Zutrauen nicht versagen konnte, so erregte der andere das vollste Vertrauen; wenn man den einen gern zur Gesellschaft mochte, so wünschte man sich den andern zum Gefährten; und dachte man gar an höhere Teilnahme, an außerordentliche Fälle, so hätte man wohl an dem einen gezweifelt, wenn einem der andere vollkommene Gewißheit gab. Für solche Verhältnisse ist den Weibern ein besonderer Takt angeboren, und sie haben Ursache sowie Gelegenheit, ihn auszubilden.

Je mehr die schöne Braut solche Gesinnungen bei sich ganz heimlich nährte, je weniger nur irgend jemand dasjenige auszusprechen im Fall war, was zugunsten des Bräutigams gelten konnte, was Verhältnisse, was Pflicht anzuraten und zu gebieten, ja was eine unabänderliche Notwendigkeit unwiderruflich zu fordern schien, desto mehr begünstigte das schöne Herz seine Einseitigkeit; und indem sie von der einen Seite durch Welt und Familie, Bräutigam und eigne Zusage unauflöslich gebunden war, von der andern der emporstrebende Jüngling gar kein Geheimnis von seinen Gesinnungen, Planen und Aussichten machte, sich nur als ein treuer und nicht einmal zärtlicher Bruder gegen sie bewies und nun gar von seiner unmittelbaren Abreise die Rede war, so schien es, als ob ihr früher kindischer Geist mit allen seinen Tücken und Gewaltsamkeiten wiedererwachte und sich nun auf einer höheren Lebensstufe mit Unwillen rüstete, bedeutender und verderblicher zu wirken. Sie beschloß zu sterben, um den ehemals Gehaßten und nun so heftig Geliebten für seine Unteilnahme zu strafen und sich, indem sie ihn nicht besitzen sollte, wenigstens mit seiner Einbildungskraft, seiner Reue auf ewig zu vermählen. Er sollte ihr totes Bild nicht loswerden, er sollte nicht aufhören, sich Vorwürfe zu machen, daß er ihre Gesinnungen nicht erkannt, nicht erforscht, nicht geschätzt habe.

Dieser seltsame Wahnsinn begleitete sie überallhin. Sie verbarg ihn unter allerlei Formen; und ob sie den Menschen gleich wunderlich vorkam, so war niemand aufmerksam oder klug genug, die innere, wahre Ursache zu entdecken.

Indessen hatten sich Freunde, Verwandte, Bekannte in Anordnungen von mancherlei Festen erschöpft. Kaum verging ein Tag, daß nicht irgend etwas Neues und Unerwartetes angestellt worden wäre. Kaum war ein schöner Platz der Landschaft, den man nicht ausgeschmückt und zum Empfang vieler froher Gäste bereitet hätte. Auch wollte unser junger Ankömmling noch vor seiner Abreise das Seinige tun und lud das junge Paar mit einem engeren Familienkreise zu einer Wasserlustfahrt. Man bestieg ein großes, schönes, wohlausgeschmücktes Schiff, eine der Jachten, die einen kleinen Saal und einige Zimmer anbieten und auf das Wasser die Bequemlichkeit des Landes überzutragen suchen.

Man fuhr auf dem großen Strome mit Musik dahin; die Gesellschaft hatte sich bei heißer Tageszeit in den untern Räumen versammelt, um sich an Geistes- und Glücksspielen zu ergötzen. Der junge Wirt, der niemals untätig bleiben konnte, hatte sich ans Steuer gesetzt, den alten Schiffsmeister abzulösen, der an seiner Seite eingeschlafen war; und eben brauchte der Wachende alle seine Vorsicht, da er sich einer Stelle nahte, wo zwei Inseln das Flußbette verengten und, indem sie ihre flachen Kiesufer bald an der einen, bald an der andern Seite hereinstreckten, ein gefährliches Fahrwasser zubereiteten. Fast war der sorgsame und scharfblickende Steurer in Versuchung, den Meister zu wecken, aber er getraute sichs zu und fuhr gegen die Enge. In dem Augenblick erschien auf dem Verdeck seine schöne Feindin mit einem Blumenkranz in den Haaren. Sie nahm ihn ab und warf ihn auf den Steuernden. »Nimm dies zum Andenken!« rief sie aus. »Störe mich nicht!« rief er ihr entgegen, indem er den Kranz auffing; »ich bedarf aller meiner Kräfte und meiner Aufmerksamkeit.« – »Ich störe dich nicht weiter«, rief sie; »du siehst mich nicht wieder!« Sie sprachs und eilte nach dem Vorderteil des Schiffs, von da sie ins Wasser sprang. Einige Stimmen riefen: »Rettet! rettet! sie ertrinkt.« Er war in der entsetzlichsten Verlegenheit. Über dem Lärm erwacht der alte Schiffsmeister, will das Ruder ergreifen, der jüngere es ihm übergeben, aber es ist keine Zeit, die Herrschaft zu wechseln: das Schiff strandet, und in eben dem Augenblick, die lästigsten Kleidungsstücke wegwerfend, stürzte er sich ins Wasser und schwamm der schönen Feindin nach.

Das Wasser ist ein freundliches Element für den, der damit bekannt ist und es zu behandeln weiß. Es trug ihn, und der geschickte Schwimmer beherrschte es. Bald hatte er die vor ihm fortgerissene Schöne erreicht; er faßte sie, wußte sie zu heben und zu tragen; beide wurden vom Strom gewaltsam fortgerissen, bis sie die Inseln, die Werder weit hinter sich hatten und der Fluß wieder breit und gemächlich zu fließen anfing. Nun erst ermannte, nun erholte er sich aus der ersten zudringenden Not, in der er ohne Besinnung nur mechanisch gehandelt; er blickte mit emporstrebendem Haupt umher und ruderte nach Vermögen einer flachen, buschichten Stelle zu, die sich angenehm und gelegen in den Fluß verlief. Dort brachte er seine schöne Beute aufs Trockne; aber kein Lebenshauch war in ihr zu spüren. Er war in Verzweiflung, als ihm ein betretener Pfad, der durchs Gebüsch lief, in die Augen leuchtete. Er belud sich aufs neue mit der teuren Last, er erblickte bald eine einsame Wohnung und erreichte sie. Dort fand er gute Leute, ein junges Ehepaar. Das Unglück, die Not sprach sich geschwind aus. Was er nach einiger Besinnung forderte, ward geleistet. Ein lichtes Feuer brannte, wollne Decken wurden über ein Lager gebreitet, Pelze, Felle und was Erwärmendes vorrätig war, schnell herbeigetragen. Hier überwand die Begierde zu retten jede andre Betrachtung. Nichts ward versäumt, den schönen, halbstarren, nackten Körper wieder ins Leben zu rufen. Es gelang. Sie schlug die Augen auf, sie erblickte den Freund, umschlang seinen Hals mit ihren himmlischen Armen. So blieb sie lange; ein Tränenstrom stürzte aus ihren Augen und vollendete ihre Genesung. »Willst du mich verlassen«, rief sie aus, »da ich dich so wiederfinde?« – »Niemals«, rief er, »niemals!« und wußte nicht, was er sagte noch was er tat. »Nur schone dich«, rief er hinzu, »schone dich! denke an dich um deinet- und meinetwillen.«

Sie dachte nun an sich und bemerkte jetzt erst den Zustand, in dem sie war. Sie konnte sich vor ihrem Liebling, ihrem Retter nicht schämen; aber sie entließ ihn gern, damit er für sich sorgen möge; denn noch war, was ihn umgab, naß und triefend.

Die jungen Eheleute beredeten sich; er bot dem Jüngling und sie der Schönen das Hochzeitskleid an, das noch vollständig dahing, um ein Paar von Kopf zu Fuß und von innen heraus zu bekleiden. In kurzer Zeit waren die beiden Abenteurer nicht nur angezogen, sondern ganz geputzt. Sie sahen allerliebst aus, staunten einander an, als sie zusammentrafen, und fielen sich mit unmäßiger Leidenschaft, und doch halb lächelnd über die Vermummung, gewaltsam in die Arme. Die Kraft der Jugend und die Regsamkeit der Liebe stellten sie in wenigen Augenblicken völlig wieder her, und es fehlte nur die Musik, um sie zum Tanz aufzufordern.

Sich vom Wasser zur Erde, vom Tode zum Leben, aus dem Familienkreise in eine Wildnis, aus der Verzweiflung zum Entzücken, aus der Gleichgültigkeit zur Neigung, zur Leidenschaft gefunden zu haben, alles in einem Augenblick – der Kopf wäre nicht hinreichend, das zu fassen; er würde zerspringen oder sich verwirren. Hiebei muß das Herz das Beste tun, wenn eine solche Überraschung ertragen werden soll.

Ganz verloren eins ins andere, konnten sie erst nach einiger Zeit an die Angst, an die Sorgen der Zurückgelassenen denken, und fast konnten sie selbst nicht ohne Angst, ohne Sorge daran denken, wie sie jenen wiederbegegnen wollten. »Sollen wir fliehen? sollen wir uns verbergen?« sagte der Jüngling. »Wir wollen zusammenbleiben«, sagte sie, indem sie an seinem Hals hing.

Der Landmann, der von ihnen die Geschichte des gestrandeten Schiffs vernommen hatte, eilte, ohne weiter zu fragen, nach dem Ufer. Das Fahrzeug kam glücklich einhergeschwommen; es war mit vieler Mühe losgebracht worden. Man fuhr aufs ungewisse fort, in Hoffnung, die Verlornen wiederzufinden. Als daher der Landmann mit Rufen und Winken die Schiffenden aufmerksam machte, an eine Stelle lief, wo ein vorteilhafter Landungsplatz sich zeigte, und mit Winken und Rufen nicht aufhörte, wandte sich das Schiff nach dem Ufer, und welch ein Schauspiel ward es, da sie landeten! Die Eltern der beiden Verlobten drängten sich zuerst ans Ufer; den liebenden Bräutigam hatte fast die Besinnung verlassen. Kaum hatten sie vernommen, daß die lieben Kinder gerettet seien, so traten diese in ihrer sonderbaren Verkleidung aus dem Busch hervor. Man erkannte sie nicht eher, als bis sie ganz herangetreten waren. »Wen seh ich?« riefen die Mütter. »Was seh ich?« riefen die Väter. Die Geretteten warfen sich vor ihnen nieder. »Eure Kinder!« riefen sie aus, »ein Paar.« – »Verzeiht!« rief das Mädchen. »Gebt uns Euren Segen!« rief der Jüngling. »Gebt uns Euren Segen!« riefen beide, da alle Welt staunend verstummte. »Euren Segen!« ertönte es zum drittenmal, und wer hätte den versagen können!