Dreiundvierzigstes Kapitel.


Dreiundvierzigstes Kapitel.

Nachtwachen

Florence, seitdem längst aus ihrem Traume erwacht, bemerkte mit Wehmut die Entfremdung, die zwischen ihrem Vater und Edith stattfand und mit jedem Tage weiter und bitterer wurde. Der Schatten, der auf ihrem Lieben und Hoffen lag, wurde immer tiefer, und der alte Schmerz, der eine kleine Weile geschlummert hatte, lastete schwerer als je auf ihr.

Es war hart – wie hart, konnte niemand besser wissen als Florence –, die natürliche Zuneigung eines treuen, warmen Herzens in Kummer umwandeln und statt zärtlichen Schutzes und liebevoller Sorgfalt nur Hintansetzung und düstere Zurückweisung finden zu müssen. Wie schwer, in tiefster Seele ihre Gefühle zu tragen und nie das Glück auch nur einer leichten Erwiderung zu empfinden! Aber noch viel schlimmer war es, entweder an ihrem Vater oder an Edith, die ihr beide so teuer waren, zweifeln und an ihre Liebe zu dem einen oder der andern abwechselnd nur mit Scheu denken zu müssen.

Und doch kam es bei Florence allmählich so weit; es war eine Aufgabe, die ihr sogar von der Reinheit ihrer Seele auferlegt wurde und der sie nicht ausweichen konnte. Sie sah, daß ihr Vater gegen Edith ebenso kalt und starrsinnig, so hart und unbeugsam war, wie gegen sie selbst. War es möglich, fragte sie sich mit hervorquellenden Tränen, daß ihre eigene teure Mutter durch solche Behandlung unglücklich geworden – daß der Gram ihren frühen Tod herbeigeführt hatte? Dann dachte sie daran, wie vornehm und stolz sich Edith gegen jedermann benahm, nur gegen sie nicht – mit welcher Geringschätzung sie ihren Vater behandelte –, wie sie sich so fern von ihm hielt, und was sie ihr am Abend ihrer Ankunft im Hause gesagt hatte. In solchen Augenblicken kam es Florence fast als ein Verbrechen vor, daß sie jemand lieben konnte, der ihrem Vater so schroff gegenüberstand, und daß dieser, wenn er es wußte, sie in seinem einsamen Gemach für eine unnatürliche Tochter halten mußte, die zu dem alten, so viel beweinten Fehler, von Geburt an nie die väterliche Liebe gewinnen zu können, auch dieses neue Unrecht hinzufügte. Aber das nächste freundliche Wort, der nächste freundliche Blick von Edith erschütterte diese Gedanken wieder und ließ sie ihr im Lichte schwarzen Undanks erscheinen; denn wer, als die neue Mutter, hatte ihr tief verwundetes, vergehendes Herz aufgerichtet und war ihre beste Trösterin gewesen? So in ihrem edlen Wesen gegen beide hingezogen, ihr Elend fühlend und im steten Zweifel, ob sie ihre Pflicht gegen sie erfülle, legten Florence ihre umfassendere Liebe und Ediths Nähe eine weit schwerere Last auf, als sie getragen hatte, während sie noch ihr Geheimnis ungeteilt in dem traurigen Hause bewahrte und ehe ihre schöne Mama ein Dämmerlicht darauf geworfen hatte.

Ein großes Unglück, das dieses bei weitem überwogen haben würde, blieb Florence erspart. Sie hatte nie die mindeste Ahnung davon, daß Edith durch ihre Liebe zu ihr die Kluft zwischen ihrem Vater nur erweiterte und ihm neuen Grund zur Abneigung gab. Wie schmerzhaft hätte ihr der bloße Gedanke an eine solche Möglichkeit fallen müssen, welche Opfer würde nicht das arme, liebevolle Mädchen zu bringen versucht haben, und der Himmel weiß, wie schnell und sicher unter einer solchen Last ihr stiller Hingang zu jenem höheren Vater gewesen wäre, der die Liebe seiner Kinder nicht verschmäht und schwer geprüfte, gebrochene Herzen nicht zurückweist! Es war gut, daß ein solcher Argwohn nie in ihr auftauchte.

Zwischen Florence und Edith wurde nie ein Wort über diese Dinge gesprochen. Letztere hatte erklärt, daß sie sich hierin nie einigen könnten – daß ein Grabesschweigen darüber herrschen müsse, und Florence fühlte, daß sie recht hatte.

So standen die Dinge, als ihr Vater leidend und kaum der Bewegung fähig nach Hause gebracht wurde; er hatte sich düster in seine eigenen Zimmer zurückgezogen, wo Dienstboten seiner warteten, ohne daß ihm Edith nahe kam, und kein Freund oder Gesellschafter ihm zur Seite stand als Mr. Carker, der gegen Mitternacht das Haus verließ.

»Und was er für eine saubere Gesellschaft ist. Miß Floy«, sagte Susanna Nipper. »O, er ist ein köstliches Stück Ware. Wenn er je ein Zeugnis braucht, so soll er nur nicht zu mir kommen, dies möge er sich gesagt sein lassen.«

»Liebe Susanna, sprich nicht so«, entgegnete Florence.

»O, Ihr könnt gut sagen, ›sprich nicht so‹, Miß Floy«, erwiderte die Nipper in großer Gereiztheit; »aber mit Erlaubnis, wir kommen in der Tat in eine solche Enge, daß es einem alles Blut in Steck- und Nähnadeln umwandelt, die überall mit ihren Spitzen stechen. Mißversteht mich nicht, Miß Floy, ich will nichts gegen Eure Stiefmama sagen, die mich immer behandelt hat, wie man es von einer Lady erwarten darf, obschon sie’s etwas hoch nimmt, wenn ich gleich mir nicht anmaßen darf, ihr in dieser Beziehung einen Vorwurf zu machen; aber wenn nun gar solche Mrs. Pipchinsen kommen, die über uns gesetzt sind und an der Tür Eures Papas wie Krokodile auf der Lauer liegen – es ist nur gut, daß sie keine Eier legen –, so hat man allen Grund, außer sich zu geraten!«

»Du weißt, Susanna«, versetzte Florence, »Papa hat eine gute Meinung von Mrs. Pipchin und auch das Recht, seine Haushälterin zu wählen. Laß das also.«

»Gut, Miß Floy«, entgegnete die Nipper, »und wenn Ihr mir dies befehlt, so hoffe ich nichts mehr und nichts weniger, Miß, als daß Mrs. Pipchin wie unreife Stachelbeeren auf mich wirken.«

Susanna war an jenem Abend – es war der, an dem Mr. Dombey nach Haus gebracht worden war – in ihrem Vortrag ungewöhnlich eifrig und nahm gar keine Rücksicht auf die Punktation; denn Florence hatte sie hinuntergeschickt, um nach ihrem Vater zu fragen, und sie war bei dieser Gelegenheit genötigt gewesen, ihren Auftrag an ihre Todfeindin Mrs. Pipchin auszurichten, die, ohne Mr. Dombey davon in Kenntnis zu setzen, eine von Miß Nipper sogenannte schnippische Antwort auf eigene Verantwortlichkeit nahm. Die Jungfer legte dies als eine große Anmaßung von seiten dieser musterhaften Märtyrerin der peruvianischen Minen und für einen Schimpf gegen ihre junge Dame aus, der nicht verziehen werden könne, und insoweit war ihre Aufregung speziell. Aber seit der Hochzeit hatte sie sich in einem Zustande unablässig sich steigernden Argwohns und Mißtrauens befunden, da sie wie die meisten Menschen ihrer Geistesrichtung, die gegen Personen von weit höherer Stellung eine lebhafte und aufrichtige Zuneigung bewahren, sehr eifersüchtig war – eine Eifersucht, die natürlich Edith galt, weil diese ihr altes Reich teilte und zwischen sie und ihre junge Gebieterin getreten war. So sehr es auch Susanna Nipper zu stolzer Freude gereichte, daß Florence aus dem Schauplatz ihrer alten Vernachlässigung an den ihr gebührenden Platz vorrückte und die schöne Gattin ihres Vaters zur Gefährtin und Beschützerin hatte, konnte sie doch nicht ohne Murren und ohne ein unbestimmtes Gefühl von Groll irgendeinen Teil ihres alten Besitzes der schönen Frau überlassen, um so weniger, da sie den Stolz und die Leidenschaftlichkeit in dem Charakter der Dame schnell erfaßt hatte und diese Eigenschaften sehr uneigennützig zu würdigen wußte. Die Heirat hatte sie notwendig etwas in den Hintergrund gedrängt, und sie blickte daher auf die häuslichen Angelegenheiten im allgemeinen mit der unerschütterlichen Überzeugung, daß bei Mrs. Dombey nichts Gutes herauskommen könne, obschon sie bei allen möglichen Gelegenheiten anzukündigen bemüht war, daß sie nichts gegen dieselbe einzuwenden habe.

»Susanna«, bemerkte Florence, die noch in tiefen Gedanken an ihrem Tisch saß, »es ist sehr spät. Ich brauche heute nichts mehr.«

»Ach, Miß Floy«, entgegnete die Nipper, »ich wünsche mir wahrhaftig oft die alten Zeiten zurück, in denen ich mit Euch noch viel länger aufblieb und vor Müdigkeit einschlief, während Ihr noch brillenhell wachtet; aber Ihr habt jetzt eine Stiefmutter, Miß Floy, die Euch Gesellschaft leistet, und ich darf ihr in der Tat dankbar sein für diese Ablösung. Ich habe nicht ein Wort dagegen einzuwenden.«

»Ich werde nie vergessen, wer meine alte Gefährtin war, als ich keine andere hatte, Susanna«, erwiderte Florence sanft.

Dabei schlang sie ihren Arm um den Nacken ihrer dienenden Freundin, zog ihr Gesicht zu sich nieder, küßte sie und wünschte ihr gute Nacht. Dies rührte Miß Nipper dermaßen, daß sie zu schluchzen anfing.

»Ich will jetzt wieder hinuntergehen, meine teure Miß Floy«, sagte Susanna, »und sehen, was Euer Vater macht, denn ich weiß, Ihr grämt Euch um seinetwillen; laßt mich deshalb hinunter, damit ich selbst an seine Tür poche.«

»Nein«, sagte Florence. »Geh zu Bett. Wir werden es ja morgen hören. Ich will morgen selbst nachfragen. Ohne Zweifel ist Mama unten gewesen« – Florence errötete, da sie keiner solchen Hoffnung Raum gab – »oder vielleicht noch dort. Gute Nacht.«

Susanna war in einer zu weichen Stimmung, um über die Wahrscheinlichkeit von Mrs. Dombeys Besuch bei ihrem Gatten ihre eigene Ansicht auszudrücken, und entfernte sich schweigend. Sobald sich Florence allein sah, verbarg sie, wie sie oft in früheren Tagen getan hatte, ihr Antlitz in den Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Das Elend dieser häuslichen Zwietracht, die so lang gehegte, jetzt vernichtete Hoffnung – wenn man es anders eine Hoffnung nennen konnte –, je das Herz ihres Vaters zu gewinnen, ihr Zweifeln und Fürchten zwischen beiden, die Hinneigung ihres unschuldigen Herzens zu der neuen Mutter sowohl, als zu ihrem Erzeuger, der herbe Gram darüber, daß alles, was sie so verheißungsvoll vor sich gesehen, ein derartiges Ende nehmen sollte – dies waren die Betrachtungen, die sich in ihrem Geiste drängten und ihre Tränen reichlicher strömen ließen. Mutter und Bruder tot, der Vater kalt gegen sie, Edith schroff und abstoßend gegen ihn, aber doch voll Liebe gegen sie und von ihr geliebt – es schien, als ob ihre Zuneigung nie gedeihen könne, wem sie dieselbe auch zuwenden mochte. Diese vernichtende Vorstellung wurde zwar bald beseitigt; aber die Gedanken, denen sie entsprungen, waren zu zwingend und wahr, als daß sie auch dieser sich hätte entschlagen können. Sie verbrachte eine trostlose Nacht.

In ihrem Nachdenken trat stets das Bild ihres Vaters vor sie hin, der verwundet, in Schmerzen und allein in seinem Zimmer lag, die trägen Stunden in einsamer Qual verbringend, ohne daß ihn diejenigen pflegten, die ihm am nächsten stehen sollten. Der entsetzliche Gedanke, ob dem sie die Hände zusammenschlug, obschon er ihrem Geiste kein neuer war, drängte sich, ihren ganzen Körper erschütternd, ihr auf, er könnte sterben, ohne sie wiederzusehen oder ihren Namen auszusprechen. Zitternd vor Aufregung faßte sie den Entschluß, wieder die Treppe hinunterzuschleichen und sich an seine Tür zu wagen.

Sie horchte zuerst an ihrer eigenen. Im Hause herrschte die tiefste Ruhe, und alle Lichter waren ausgelöscht. Wie lange, lange her ist es, dachte sie, seit jener nächtlichen Wanderung nach seiner Tür. O wie lange – versuchte sie zu denken –, seit sie um Mitternacht in sein Zimmer getreten und er sie nach dem Fuß der Treppe zurückgeführt hatte!

Mit demselben kindlichen Gefühl wie ehedem, mit denselben schüchternen Augen und wallendem Haar schlich Florence, ihrem Vater in ihrer frühen, jungfräulichen Blüte so fremd wie in ihrer Kindheit, lauschend die Treppe hinunter und näherte sich seinem Zimmer. Niemand im Hause rührte sich. Die Tür war angelehnt, um der Luft Zutritt zu lassen, und drinnen alles so still, daß sie das Knistern des Feuers hören und die Pendelschläge der Uhr zählen konnte, die auf dem Kaminsims stand.

Sie blickte hinein. Die Haushälterin saß, von einer Decke umhüllt, in einem Armstuhl vor dem Feuer und schlief. Die Tür zwischen diesem und dem nächsten Zimmer war nicht ganz geschlossen, und ein Schirm stand davor; aber es brannte ein Licht dort, das den Rand seines Bettes erhellte. Alles war so still, daß man schon aus seinem Atem entnehmen konnte, er schlafe. Dies gab ihr den Mut, um den Schirm herumzugehen und in das Gemach hineinzusehen.

Der Anblick seines schlafenden Gesichtes machte sie so betroffen, als habe sie nicht erwartet, es zu sehen. Sie war wie an die Stelle gebannt und hätte bleiben müssen, selbst wenn er erwacht wäre.

Über seine Stirne lief eine Wunde, und man hatte sein Haar benetzt, das jetzt wirr und zusammengeklebt auf dem Kissen lag. Der eine seiner Arme lag, in einen Verband gehüllt, auf der Decke, und der Schlafende sah ungemein blaß aus. Es war jedoch nicht dies, was Florence nach dem ersten raschen Blick und der gewonnenen Überzeugung seines Schlafens an den Boden fesselte. Der feierliche Eindruck, den der Anblick auf sie machte, hatte einen ganz andern Grund.

Sie hatte in ihrem ganzen Leben sein Gesicht nie gesehen, ohne daß – wenigstens war es ihr so vorgekommen – ihre Nähe einen unangenehmen Einfluß auf dasselbe übte. Sie hatte es nie gesehen, ohne daß die Hoffnung in ihr erstarb und ihr Auge sich senkte vor seiner starren, lieblosen, abstoßenden Härte. Und als sie jetzt hinblickte, zeigte es sich ihr zum erstenmal frei von der Wolke, die es seit ihrer Kindheit umdüstert hatte. Statt ihrer lag jetzt stille, ruhige Nacht darauf. Er sah aus, als sei er schlafen gegangen mit einem Segenswunsche über seine Tochter.

Erwache, liebloser Vater! Erwache jetzt, finsterer Mann! Die Zeit entfleucht; die Stunde naht mit zornigem Tritt. Erwache!

Kein Wechsel auf seinem Gesicht! Sie blickte ängstlich hin, und die regungslose Ruhe rief ihr die Gesichter der Heimgegangenen ins Gedächtnis. So sahen sie aus, so mußte er einst aussehen, so sie, sein weinendes Kind, das sich nur nach dem Wann fragte, so die ganze umgebende Welt mit ihrer Liebe, ihrem Haß und ihrer Gleichgültigkeit! Wenn diese Zeit kam, wurde sie ihm vielleicht nicht schwerer um dessenwillen, was sie jetzt zu tun im Begriffe war, ihr aber sicherlich leichter.

Mit verhaltenem Atem schlich sie an sein Bett, beugte sich über ihn und gab seinem Gesicht einen leichten Kuß; dann legte sie ihr Köpfchen für eine kurze Weile an seine Seite und schlang den Arm, mit dem sie ihn nicht zu berühren wagte, um das Kissen, auf dem er ruhte.

Erwache, unseliger Mann, solange sie nahe ist! Die Zeit entfleucht; die Stunde naht mit zornigem Tritt; ihr Fuß ist schon im Hause. Erwache!

In ihrem Geiste betete sie zu Gott, er möchte ihren Vater segnen und ihn, wenn es möglich sei, milder gegen sie stimmen – wo nicht, ihm vergeben, wenn er unrecht tue, und ihr dieses Gebet verzeihen, das ihr fast eine Sünde zu sein schien. Dann blickte sie wieder mit von Tränen geblendeten Äugen auf ihn nieder, schlich sich schüchtern zurück, verließ sein Zimmer, ging durch das andere und war verschwunden.

Er kann jetzt fortschlafen. Er mag fortschlafen, solange er Lust hat. O daß er beim Erwachen sich umsehe nach jener schmächtigen Gestalt und sie in seiner Nähe finde, wenn die Stunde gekommen ist!

Traurig und mit gramerfülltem Herzen stieg Florence leisen Schrittes die Treppe hinan. Seit ihrem Herunterkommen war das ruhige Haus noch unheimlicher geworden. Der Schlaf, den sie aber in Mitte der stillen Nacht gesehen, hatte ihr zumal das feierliche Bild von Leben und Tod gezeigt. Ihr eigenes verstohlenes Treiben machte die Nacht geheimnisvoll, schweigsam und bedrückend. Sie war nicht imstande, in ihr Schlafzimmer zu gehen, sondern trat in den Salon, wo der umwölkte Mond durch die Blenden hereinschien, und schaute in die leeren Straßen hinaus.

Der Wind ächzte kläglich. Das Licht der Lampen brannte bleich und zitterte, als ob es friere. Fern am Himmel zeigte sich ein Dämmern von etwas, das nicht ganz Dunkelheit, aber auch nicht Licht zu nennen war, und die ahnungsvolle Nacht schauderte rastlos wie ein Sterbender vor seinem angstvollen Ende. Florence erinnerte sich, wie sie während einer ähnlich frostigen Nacht an einem Krankenlager gewacht hatte, und fühlte wie in einem geheimen, natürlichen Widerwillen dagegen ihren Einfluß. Es war jetzt so gar, so gar unheimlich.

Ihre Mama war in dieser Nacht nicht nach ihrem Zimmer gekommen – dies mit ein Grund, warum sie so lang aufgeblieben. In ihrer Unruhe und in ihrem glühenden Wunsche, jemand in ihrer Nähe zu haben, mit dem sie sprechen konnte, richtete Florence, um den schweren Bann des Düsters und Schweigens zu brechen, ihre Schritte nach dem Zimmer, wo Edith schlief.

Die Tür war innen nicht abgesperrt und wich leicht dem zögernden Druck ihrer Hand. Sie erstaunte sehr, ein hellbrennendes Licht zu finden, noch mehr aber, als sie beim Hineinsehen bemerkte, daß ihre Mama, erst halb entkleidet, noch immer vor der knisternden Asche des entschwindenden Feuers saß. Die Augen derselben waren aufwärts gerichtet, und in ihrem Glänze, in Ediths Gesicht, Gestalt und in den Händen, die die Armlehnen des Stuhls umfaßt hielten, als ob sie aufspringen wollte, erkannte Florence den Ausdruck einer so wilden Aufregung, daß sie davor erschrak.

»Mama«, rief sie; »was ist Euch?«

Edith fuhr zusammen, und in ihrem Gesicht drückte sich ein so eigentümlicher Zug von Furcht aus, daß Florence nur noch erschrockener wurde.

»Mama«, sagte sie, hastig näher tretend; »liebe Mama, was gibt es denn?«

»Ich bin nicht wohl gewesen«, versetzte Edith zitternd und mit demselben befremdlichen Ausdruck ihres Antlitzes. »Ich habe schlimme Träume gehabt, meine Liebe.«

»Und noch gar nicht im Bett gewesen, Mama?« entgegnete Florence.

»Nein«, erwiderte Edith. »Halbwache Träume.«

Ihre Züge wurden allmählich sanfter. Sie ließ Florence herankommen, schlang ihre Arme um sie und sagte in mildem Ton:

»Aber was macht mein Vögelchen hier – was macht mein Vögelchen hier?«

»Ich bin unruhig gewesen, Mama, weil ich Euch heute nacht nicht sah und weil ich nicht wußte, wie es dem Papa geht! Deshalb – –«

Florence hielt inne.

»Ist es schon spät?« fragte Edith, sanft die Locken zurückstreichend, die sich mit ihrem eigenen schwarzen Haar gemengt hatten und auf ihr Gesicht niedergefallen waren.

»Sehr spät. Nahezu Tag.«

»Nahezu Tag?« wiederholte sie erstaunt.

»Liebe Mama, was habt Ihr mit Eurer Hand gemacht?« fragte Florence.

Edith zog sie plötzlich zurück und betrachtete sie einen Augenblick mit dem früheren Ausdruck von Furcht – es lag eine Art scheuen Zurückbebens darin; dann aber entgegnete sie hastig.

»Nichts, nichts. Ein Stoß. Meine Florence!« fügte sie hinzu, und ihre Brust wogte schwer, während sie zugleich in ein leidenschaftliches Weinen ausbrach.

»Mama!« sagte Florence. »Was kann, was soll ich tun, um Euch glücklicher zu machen. Gibt es denn gar nichts?«

»Gar nichts«, lautete die Antwort.

»Wißt Ihr es auch gewiß? Wäre es nicht möglich? Ihr werdet mir gewiß keine Vorwürfe machen«, sagte Florence, »wenn ich jetzt, trotz unserer Übereinkunft von dem spreche, was meine Gedanken vorzugsweise beschäftigt.«

»Es ist vergeblich«, versetzte sie, »vergeblich. Ich habe dir gesagt, meine Liebe, daß ich von schlimmen Träumen heimgesucht wurde. Nichts kann sie anders machen, oder ihr Kommen hindern.«

»Ich verstehe Euch nicht«, entgegnete Florence, Edith in das aufgeregte Gesicht blickend, das immer düsterer zu werden schien.

»Ich träumte«, fuhr Edith mit gedämpfter Stimme fort, »von einem Stolz, der völlig machtlos ist fürs Gute, aber allmächtig für das Böse – von einem Stolz, der mich viele schimpfliche Jahre gequält und gehetzt hat, immer nur auf sich selbst zurückprallend –, von einem Stolz, der seine Besitzerin mit dem Bewußtsein der tiefsten Demütigung heimsuchte und sie nie unterstützte, dieselbe zu ahnden, ihr auszuweichen, oder zu sagen: ›dies darf nicht geschehen‹ – von einem Stolz, der unter gehöriger Leitung vielleicht zu besseren Dingen geführt haben würde, in seiner falschen, verkehrten Richtung aber wie alles andere, das der gleichen Besitzerin gehört, Selbstverachtung zur Folge hatte und am Ende nur in zugrunde richtender Unerschrockenheit bestand.«

Sie sah Florence nicht an und richtete auch ihre Worte nicht an das Mädchen, sondern sprach weiter, als ob sie allein wäre.

»Ich habe von Gleichgültigkeit und Härte geträumt, die aus dieser Selbstverachtung hervorgingen. O des elenden, unnützen, kläglichen Stolzes, der mit gedankenlosen Schritten sogar an den Altar trat, dem alten bekannten winkenden Finger nachgebend – o Mutter, Mutter! – während er ihn verachtete und ein für allemal lieber sich selbst gehaßt, als sich täglich seinen stets in neuer Gestalt auftretenden Foltern preisgegeben hätte. Trauriges, armes Geschöpf!«

Die Aufregung wurde übermächtig in ihr, und sie warf Florence wieder denselben Blick zu, wie bei ihrem Eintritt.

»Und ich träumte«, sagte sie, »daß er in einem ersten, späten Versuch, ein besseres Ziel zu erringen, niedergetreten wurde von einem schändlichen Fuß, obschon er Widerstand leistete. Es träumte mir, er sei verwundet, bedrängt und mit Hunden gehetzt worden. Aber er stellt sich zur Wehr und will sich nicht ergeben; nein, dies kann er nicht, selbst wenn er wollte; aber er sieht sich gezwungen, den Menschen zu hassen, gegen ihn aufzutreten und ihm Trotz zu bieten.«

Ihre Hand umfaßte den zitternden Arm, den sie in dem ihrigen hielt, fester, und als sie auf das verwunderte, erschreckte Antlitz niederschaute, wurden ihre Züge ruhiger.

»O Florence!« sagte sie, »ich bin heute nacht fast wahnsinnig geworden!«

Ihr stolzes Haupt sank demütig auf den Nacken des Mädchens nieder, und sie weinte abermals.

»Verlaß mich nicht! Bleibe mir nahe! Ich habe keine Hoffnung, als in dir!« Diese Worte wiederholte sie oft und vielmal.

Sie wurde bald wieder ruhiger. Florences Tränen und ihr Wachen zu so später Stunde erfüllte sie mit Mitleid. Da der Tag jetzt dämmerte, nahm Edith das Mädchen in ihre Arme, brachte es, ohne selbst niederzuliegen, auf ihr Bett, nahm daneben ihren Sitz und forderte es zu dem Versuch auf, zu schlafen.

»Denn du bist müde und unglücklich, mein Herz; du bedarfst der Ruhe.«

»Ach, teure Mama, heute nacht bin ich in der Tat unglücklich«, sagte Florence. »Aber auch Ihr seid müde und unglücklich.«

»Nicht, wenn du mir schlafend so nahe liegst, mein Herz.«

Sie küßten einander, und die erschöpfte Florence versank allmählich in einen sanften Schlummer. Aber als sich ihre Augen vor dem Gesicht neben ihr schlossen, kamen ihr so traurige Gedanken über das Gesicht oben, daß ihre Hand Edith nahete, als suche sie Trost bei ihr, obschon sie auch in dieser Gebärde zögerte, als fürchte sie, damit eine Sünde an ihm zu begehen. So versuchte sie in ihrem Schlaf die beiden zu versöhnen und ihnen zu zeigen, daß sie das eine wie das andere liebe; aber es wollte nicht gehen, und ihr wacher Gram bildete einen Teil ihrer Träume.

Edith, die an dem Bett saß, blickte auf die dunkeln Wimpern nieder, die feucht auf den glühenden Wangen lagen. Inniges Mitleid erfüllte ihre Seele, denn sie kannte die Wahrheit. Aber kein Schlaf senkte sich auf ihre Augen. Als der Tag kam, saß sie noch immer wachend da, die kleine Hand in der ihrigen, und wenn sie auf das geängstigte Gesicht niederschaute, flüsterte sie bisweilen: »Bleibe mir nahe, Florence. Ich habe keine Hoffnung, als in dir!«

Vierundvierzigstes Kapitel.


Vierundvierzigstes Kapitel.

Eine Trennung

Mit dem Tage, obschon nicht gleichzeitig mit der Sonne, stand Miß Susanna Nipper auf. Um die ungemein scharfen, schwarzen Augen dieser jungen Person lag eine Schwere, die das Funkeln derselben etwas minderte und im Widerspruch mit ihrer gewöhnlichen Eigenschaft auf die Möglichkeit hindeutete, daß sie bisweilen geschlossen seien. Auch ihr Gesicht sah geschwollen aus, als ob sie die Nacht über geweint hätte. Gleichwohl war die Nipper durchaus nicht niedergeschlagen, sondern auffallend lebhaft und kühn; sie schien alle ihre Tatkraft zu irgendeiner Heldentat aufgeboten zu haben. Dies gab sich sogar in ihrem Anzug, mit dem sie sich besondere Mühe gegeben, und in den gelegentlichen Rucken ihres Kopfes zu erkennen, die bei ihrem Umherschießen im Haus auf einen gewaltigen Entschluß hindeuteten. Mit einem Wort, sie hatte sich etwas Großes vorgenommen – nichts Geringeres, als bis zu Mr. Dombey zu dringen und diesen Gentleman unter vier Augen zu sprechen.

»Ich habe schon oft gesagt, ich wolle es tun«, bemerkte sie an jenem Morgen in drohender Weise und mit vielen Rucken ihres Kopfs gegen sich selbst; »aber jetzt muß es einmal geschehen.«

Mit einer Schärfe, wie sie nur ihr eigentümlich war, sich zur Ausführung dieses verzweifelten Planes spornend, spukte Susanna Nipper den ganzen Vormittag auf der Treppe und in der Halle umher, ohne für ihren Angriff eine günstige Gelegenheit zu finden. Sie ließ sich jedoch durch die vergeblichen Versuche nicht irre machen, sondern lauerte nur mit erhöhter Wachsamkeit, bis sie endlich gegen Abend bemerkte, ihre geschworene Feindin Mrs. Pipchin mache, weil sie die ganze Nacht über auf gewesen, in ihrem Zimmer ein Schläfchen und Mr. Dombey sei jetzt allein anzutreffen.

Mit einem Ruck – diesmal nicht bloß des Kopfes, sondern ihrer ganzen Person – schlich die Nipper auf den Zehen nach Mr. Dombeys Tür und klopfte.

»Herein!« sagte Mr. Dombey.

Susanna ermutigte sich mit einem Schlußruck und ging hinein.

Der auf einem Sofa liegende Mr. Dombey, der zum Zeitvertreib das Feuer betrachtet hatte, warf jetzt seinem Besuch einen erstaunten Blick zu und stützte sich ein wenig auf seinen Arm. Die Nipper machte einen Knix.

»Was wollt Ihr?« fragte Mr. Dombey.

»Mit Erlaubnis, Sir, ich wünsche mit Euch zu sprechen«, sagte Susanna.

Mr. Dombey bewegte seine Lippen, als wiederhole er die Worte, schien aber ob der Anmaßung des jungen Frauenzimmers so in Erstaunen verloren zu sein, daß er keinen Laut dafür finden konnte.

»Ich bin nun zwölf Jahre in Eurem Dienst, Sir«, sagte Susanna Nipper mit ihrer gewöhnlichen Geschwindigkeit, »und bediene so lang meine junge Lady, Miß Floy, die noch nicht recht sprechen konnte, als ich hierher kam, und ich war schon alt in diesem Hause, als Mrs. Richards neu war, und wenn ich auch kein Methusalem bin, so bin ich doch auch nicht ein Wickelkind.«

Mr. Dombey, der auf seinen Arm gestützt sie ansah, störte sie nicht in dieser einleitenden Aufzählung von Tatsachen.

»Es hat nie eine liebere oder gesegnetere junge Lady gegeben, als meine junge Lady ist, Sir«, fuhr Susanna fort, »und ich muß dies wohl besser wissen als irgend jemand, denn ich habe sie gesehen in ihrem Kummer und habe sie gesehen in ihrer Freude, was freilich nicht oft bei ihr vorkam, und ich habe sie gesehen mit ihrem Bruder und habe sie gesehen in ihrer Verlassenheit, und gewisse Personen haben sie nie gesehen, und ich sage jedem, der es hören will, ja, dies tue ich« – die Schwarzäugige schüttelte den Kopf und stampfte leicht mit dem Fuß – »daß Miß Floy der gesegnetste und liebevollste Engel ist, der je einen Lebensatem hatte, und je mehr man mich in Stücke reißen wollte, desto mehr würde ich es sagen, obschon ich vielleicht keine Märtyrerin bin.«

Der von seinem Sturz schon blasse Mr. Dombey wurde noch blasser vor Unwillen und Erstaunen, während seine Augen auf der Sprecherin hafteten, als glaubte er, daß diese Organe und seine Ohren dazu ihn betrögen.

»Man kann nichts anderes als treu und anhänglich an Miß Floy sein, Sir«, sagte Susanna, »und ich rechne mir meine zwölfjährige Dienstleistung nicht zum Verdienst an, denn ich liebe sie, – ja, und dies sage ich jedem, der es hören will!« – Die Schwarzäugige schüttelte abermals den Kopf, stampfte leicht mit dem Fuß und erstickte einen Seufzer; »aber meine treuen Dienste geben mir hoffentlich das Recht, zu sprechen, und sprechen muß und will ich jetzt, mag es nun recht oder unrecht ausfallen.«

»Was wollt Ihr damit, Weib?« rief Mr. Dombey sie mit großen Augen ansehend. »Wie könnt Ihr Euch unterstehen –«

»Ich will nur mit aller Achtung und ohne Anstoß zu geben mich aussprechen, Sir, und wie ich mich unterstehen kann, weiß ich selbst nicht, aber ich tue es einmal!« sagte Susanna. »O, Ihr kennt meine junge Dame nicht, Sir, Ihr kennt sie wahrhaftig nicht, denn wenn es der Fall wäre, würdet Ihr nicht so wenig von ihr wissen.«

Mr. Dombey streckte wütend seine Hand nach der Klingelschnur aus; aber sie befand sich nicht auf dieser Seite des Kamins, und er war nicht in der Lage, ohne Unterstützung aufzustehen und sich nach der andern hinüber zu begeben. Das rasche Auge der Nipper entdeckte augenblicklich seine Hilflosigkeit und wußte jetzt, wie sie nachher erklärte, daß sie ihn »fest« hatte.

»Miß Floy«, sagte Susanna Nipper, »ist die treuste, die geduldigste, die liebevollste und schönste von allen Töchtern, es gibt keinen Gentleman, nein, Sir, keinen, und wenn er so groß und so reich wie alle die Größten und Reichsten von ganz England zusammengenommen wäre, der nicht stolz sein dürfte auf sie, ja und stolz auf sie wäre und stolz auf sie sein sollte. Wenn er ihren Wert recht kennen würde, so würde er lieber seine Größe und sein Vermögen Stück für Stück aufgeben und sich in Lumpen von Tür zu Tür betteln – ja, dies erkläre ich jedem, der es hören will!« rief Susanna Nipper, in Tränen ausbrechend, »als über ihr zartes Herz das Leid bringen, das ich sie in diesem Hause habe erdulden sehen!«

»Weib«, rief Mr. Dombey, »verlaßt das Zimmer!«

»Mit Erlaubnis, nein, Sir«, entgegnete die beharrliche Nipper, »und wenn ich den Platz verlieren müßte, auf dem ich so viele Jahre gewesen und so viel gesehen habe, obschon ich hoffe, Ihr werdet nicht das Herz haben, mich um einer solchen Ursache von Miß Floy fortzuschicken. Ich gehe nicht, bis ich alles gesagt habe, ich bin vielleicht keine indianische Witwe, Sir, und will auch keine sein oder werden, aber wenn ich mir einmal vorgenommen hätte, mich lebendig zu verbrennen, so würde ich es tun, und jetzt habe ich den Entschluß gefaßt, weiter zu reden.«

Hieran ließ sich nicht zweifeln und Susanna Nippers Gesicht drückte es ebensogut aus, wie ihre Worte.

»Es gibt keine Person in Eurem Dienst, Sir«, fuhr die Schwarzäugige fort, »die vor Euch mehr Ehrfurcht gehabt hätte, als ich, und Ihr könnt Euch denken, wie wahr dies ist, wenn ich zu sagen so frei bin, daß ich hundert und hunderte Male daran gedacht habe, mit Euch zu reden, ohne zu einem Entschluß zu kommen, bis gestern nacht, aber die gestrige Nacht hat entschieden.«

In einer weiteren Zornaufwallung griff Mr. Dombey abermals nach der Klingelschnur, die nicht da war, und riß dann in Ermangelung derselben lieber an seinem Haar, als an gar nichts.

»Ich habe Miß Floy sich mühen und mühen sehen«, sagte Susanna Nipper, »als sie nur noch ein Kind war, so süß und geduldig, daß die besten Frauen sie zum Muster hätten nehmen können, ich habe gesehen, wie sie oft und vielmal die halbe Nacht aufblieb, um ihren zarten Bruder im Lernen zu unterstützen, ich habe gesehen, wie sie zu andern Zeiten ihm half und bei ihm wachte – manche Personen wissen wohl, wann –, ich habe gesehen, wie sie ohne Ermutigung und Beistand zu einer Lady heranwuchs, so daß sie, Gott sei Dank, der Stolz und die Zierde jeder Gesellschaft ist, in die sie geht, und habe immer gesehen, wie sie grausam vernachlässigt und ihr Herz bitter verletzt wurde – ja, dies erkläre ich jedermann, der es hören will – obschon sie nie ein Wörtchen darüber sagte – aber sich bescheiden und ehrerbietig gegen seine Oberen benehmen, ist noch kein Anbeten geschnitzter Bilder, und ich will und muß sprechen.«

»Ist denn niemand da!« rief Mr. Dombey laut hinaus. »Wo sind die Bedienten – wo die Weiber! Ist denn niemand da!«

»Ich verließ gestern nacht meine liebe junge Dame, wie sie noch nicht zu Bett gegangen war«, fuhr Susanna fort, ohne sich einschüchtern zu lassen, »und ich wußte, warum sie aufblieb, denn Ihr wart krank, Sir, und sie wußte nicht, wie krank, und dies reichte hin, um sie so elend zu machen, wie ich sie sah. Ich bin vielleicht kein Pfau, aber ich habe meine Augen, und ich blieb in meinem eigenen Stübchen auf, weil ich dachte, sie könnte in ihrer Einsamkeit mich brauchen, und da sah ich, wie sie die Treppe hinunterschlich und an diese Tür kam, als sei es ein Verbrechen, nach dem eigenen Pa zu sehen, und dann schlich sie wieder zurück in den langweiligen Salon, und weinte dabei so, daß ich es kaum mit anhören konnte. Nein, ich kann’s nicht mit anhören«, sagte Susanna, ihre schwarzen Augen wischend und sie furchtlos auf Mr. Dombeys wütendes Gesicht richtend. »Es ist nicht das erstemal, daß ich es gehört habe, o wie viel und vielmal, und ich wiederhole Euch, Ihr kennt Eure Tochter nicht, Sir, und wißt nicht, was Ihr tut, Sir, und ich erkläre jedem, der es hören will«, rief Susanna Nipper mit einem endlichen Losplatzen, »daß es eine Sünde und eine Schande ist!«

»Ei der Tausend!« rief die Stimme der Mrs. Pipchin, während das schwarze Bombassingewand jener schönen Märtyrerin der peruvianischen Minen in das Zimmer rauschte. »Was soll denn dies heißen?«

Susanna beglückte Mrs. Pipchin mit einem Blick, den sie schon bei der ersten Bekanntschaft ausdrücklich für sie erfunden hatte, und überließ die Antwort Mr. Dombey.

»Was dies heißen soll?« wiederholte Mr. Dombey fast schäumend. »Ich will an Euch diese Frage richten, Ma’am, denn bei Euch, die Ihr an der Spitze dieses Hauswesens steht und verpflichtet seid, es in Ordnung zu halten, ist sie wohl eher am Ort. Kennt Ihr dieses Weib?«

»Ich weiß nicht viel Gutes von ihr, Sir«, krächzte Mrs. Pipchin. »Wie kann ein solcher Racker sich unterstehen, hierher zu kommen! Fort mit Euch!«

Die unbeugsame Nipper beehrte jedoch Mrs. Pipchin nur mit einem weiteren Blick und blieb.

»Nennt Ihr es Ordnung im Hause halten, Madame«, sagte Mr. Dombey, »wenn eine Person, wie diese, hereinlaufen und mich anreden kann? Ein Gentleman – in seinem eigenen Hause – in seinem eigenen Zimmer – und nicht einmal sicher vor der Unverschämtheit weiblicher Dienstboten!«

»Ich beklage es ungemein, Sir«, entgegnete Mrs. Pipchin, und ihr hartes, graues Auge blitzte Rache. »Nichts kann ordnungswidriger, maßloser und toller sein; aber es tut mir leid, sagen zu müssen, Sir, daß diese junge Person aller Disziplin Trotz bietet. Sie ist von Miß Dombey verzogen worden und nimmt von niemand Belehrung an. Ihr wißt dies selbst am besten«, fügte Mrs. Pipchin mit Schärfe hinzu, indem sie gegen Susanna Nipper den Kopf schüttelte. »Pfui über den Racker! fort mit Euch!«

»Wenn Ihr in meinem Dienste Leute findet, die sich nicht fügen wollen, Mrs. Pipchin«, sagte Mr. Dombey, sich wieder dem Feuer zuwendend, »so wißt Ihr vermutlich, was mit ihnen zu geschehen hat. Es ist Euch doch bekannt, um wessen willen Ihr hier seid? Schafft sie fort!«

»Sir, ich weiß, was ich zu tun habe, und werde mich natürlich danach verhalten«, entgegnete Mrs. Pipchin. »Susanna Nipper«, fügte sie in kurz angebundener Abfertigung hinzu, »seht Euch auf heute über vier Wochen nach einem andern Platz um.«

»O, in der Tat?« rief Susanna, sich in die Brust werfend.

»Ja«, versetzte Mrs. Pipchin. »Ihr braucht nicht nach mir herzulächeln, Hexe, oder ich will den Grund wissen! Jetzt augenblicklich fort mit Euch!«

»Ja, Ich gehe augenblicklich, darauf mögt Ihr Euch verlassen«, entgegnete die zungenfertige Nipper. »Ich habe in diesem Haus meine junge Dame ein Dutzend Jahre bedient, will aber keine Stunde mehr bleiben, wenn ich von einer Person, die den Namen Pipchin führt, eine Kündigung annehmen muß, Mrs. P.«

»Gut, daß man dieses schlimme Unkraut los wird!« sagte die aufgebrachte alte Dame. »Fort mit Euch, oder ich lasse Euch in anderer Art den Weg weisen.«

»Es ist mir ein Trost«, entgegnete Susanna, auf Mr. Dombey zurückblickend, »daß ich mir heute doch ein Stückchen Wahrheit vom Herzen geschafft habe, das schon längst hätte heraus sollen und nie zu oft oder zu deutlich gesagt werden kann, gottlob, daß alle Pipchinsen der Welt – ich hoffe, ihre Anzahl ist nicht groß« (Mr. Pipchin stieß ein sehr scharfes »Fort mit Euch!« aus, und Miß Nipper wiederholte ihren Blick) – »nicht ungesprochen machen können, was ich gesagt habe, und wenn sie sich das ganze Jahr mit Kündigungen plagten von morgens zehn Uhr an ohne Unterlaß bis nachts zwölf und dann an Erschöpfung stürben, was eine Freude sein würde im Himmel und auf Erden.«

Mit diesen Worten ging Miß Nipper ihrem Feinde voran aus dem Zimmer und begab sich, zum bitteren Ärger der zornigen Pipchin, mit großer Stattlichkeit nach ihrem Zimmer hinauf, wo sie sich unter ihren Schachteln niedersetzte und zu weinen begann.

Aus dieser weichen Stimmung wurde sie bald durch die heilsame und erfrischende Wirkung geweckt, die Mrs. Pipchins Stimme vor der Tür draußen auf sie übte.

»Gedenkt die keckstirnige Schlumpe«, rief die schnöde Pipchin, »die Kündigung anzunehmen oder nicht?«

Miß Nipper erwiderte von innen, die angezogene Person wohne nicht in diesem Teil des Hauses; ihr Name sei Pipchin und man könne sie in dem Zimmer der Haushälterin finden.

»Naseweiser Balg!« erwiderte Mrs. Pipchin, mit der Hand an der Türklinke rasselnd. »Macht, daß Ihr noch in dieser Minute fortkommt. Packt augenblicklich Eure Sachen zusammen. Wie könnt Ihr Euch erdreisten, in solcher Weise mit einer anständigen Frau zu reden, die bessere Tage gesehen hat?«

Miß Nipper antwortete darauf aus ihrer Festung, sie habe Mitleid mit den besseren Tagen, die Mrs. Pipchin gesehen, und was sie selbst betreffe, so betrachte sie es für die schlimmsten Tage im Jahr, wenn man in Sehweite dieser Dame sein müsse, obschon sie für besagte Dame selbst noch viel zu gut seien.

»Ihr habt übrigens nicht nötig, so viel Lärm an meiner Tür zu machen«, fuhr Susanna Nipper fort, »und braucht auch das Schlüsselloch nicht mit Eurem Auge zu verunreinigen, denn Ihr könnt darauf schwören, daß ich jetzt zusammenpacke und mich zum Fortgehen fertig mache.«

Die Witwe drückte ihre lebhafte Zufriedenheit über diese Kunde aus und entfernte sich unter einigen Bemerkungen über junge Racker im allgemeinen nebst einigen besonderen Hindeutungen auf ihre Wertlosigkeit, wenn sie durch Miß Dombey verzogen seien, um den Lohn der anstößigen Person ins reine zu bringen. Susanna tummelte sich nun mit ihren Koffern, um sogleich einen würdevollen Weggang feiern zu können, schluchzte aber aus tiefstem Herzen, so oft sie an Florence dachte.

Der Gegenstand ihres Leides zögerte nicht lange, zu ihr zu kommen, denn die Kunde, Susanna Nipper habe mit Mrs. Pipchin Streit gehabt, verbreitete sich schnell durch das ganze Haus mit dem Zusatz, die beiden feindseligen Parteien hätten sich auf Mr. Dombey berufen, in dessen Zimmer ein beispielloser Auftritt stattgefunden habe; die Folge davon sei, daß Susanna fort müsse. Den letzteren Teil dieses verwirrten Gerüchtes erkannte Florence als Wahrheit; denn als sie in Susannas Zimmer trat, fand sie, daß ihre treue Dienerin schon den letzten Koffer geschlossen und mit ihrem Hut auf demselben Platz genommen hatte.

»Susanna!« rief Florence. »Du willst mich verlassen? Du?«

»O, um aller Barmherzigkeit willen. Miß Floy«, versetzte Susanna schluchzend, »redet doch kein Wort mit mir, oder ich mache mich gemein vor den Pi–i–ipchinsen, und ich möchte nicht um alle Welt, Miß Floy, daß sie mich weinen sähe!«

»Susanna!« versetzte Florence. »Mein liebes Mädchen – meine alte Freundin! Was soll ich anfangen ohne dich? Kannst du es über dich gewinnen, so zu gehen?«

»Nei–ei–ei–ein, meine liebe herzige Miß Floy, ich kann es in der Tat nicht«, schluchzte Susanna. »Aber es läßt sich nicht ändern, ich habe meine Pflicht getan, Miß, ja, das habe ich, und die Schuld liegt nicht an mir. Ich muß mich darein erge–ben. Ich könnte meinen Monat nicht aushalten oder könnte Euch dann gar nicht verlassen, meine teure Miß, und ich müßte es am Ende doch so gut wie jetzt; sprecht nicht mit mir, Miß Floy, denn wenn ich auch ziemlich fest zu sein glaube, bin ich doch kein marmorner Türpfosten, meine liebe Miß.«

»Was hat es denn gegeben? Warum dies?« fragte Florence. »Du willst es mir nicht sagen?« fügte sie hinzu, da Susanna den Kopf schüttelte.

»Nei–nei–nein, meine liebe Miß«, entgegnete Susanna. »Fragt mich nicht, denn ich kann nicht, und was Ihr auch tun mögt, so legt ja kein gutes Wort für mich ein, denn es geschähe doch nicht, und Ihr würdet nur Euch selbst unrecht tun, so behüt Euch Gott, mein liebes Herz, und vergebt mir, was ich Euch in allen diesen vielen Jahren zuleid getan habe!«

Mit dieser aus tiefstem Herzen kommenden Bitte schlang Susanna die Arme um ihre Gebieterin.

»Meine liebe Miß, es gibt viele, die Euch dienen können und froh darüber sein werden, ja, und wohl auch Euch gute, treue Dienste leisten«, sagte Susanna; »aber das ist mein Trost, daß Euch niemand mit so viel Anhänglichkeit dienen oder Euch nur halb so lieben kann, wie ich. Lebt wo–o–ohl, süße Miß Floy!«

»Und wohin willst du gehen, Susanna?« fragte Florence unter Tränen.

»Ich habe einen Bruder im Lande drunten. Miß – einen Farmer in Esser«, versetzte die Nipper unter herzbrechendem Schluchzen, »der immer so viele Kü–ü–ühe hält und Schweine, und ich will mit der Landkutsche zu ihm fahren und bei ihm bleiben; kümmert Euch nicht um mich, denn ich habe Geld in der Sparkasse, meine Liebe, und brauche nicht sogleich wieder in Dienst zu gehen, was ich jetzt ja doch nicht könnte, meine herzige Miß Floy.«

Susanna schloß mit einem Schmerzensausbruch, dem zu gelegener Zeit Einhalt geschah durch die Stimme der Mrs. Pipchin, die unten sprach. Sobald sie dies hörte, trocknete sie ihre roten, geschwollenen Augen und versuchte die nur schlecht gelingende Ausrede, Mr. Towlinson munter zuzurufen, er solle einen Wagen holen und ihre Koffer hinuntertragen.

Die arme Florence wagte es auch hier nicht, nutzlose Fürsprache einzulegen, weil sie eine neue Spaltung zwischen ihrem Vater und seiner Gattin, deren finsteres, entrüstetes Gesicht ihr schon vor einigen Augenblicken zur Warnung gedient hatte, zu veranlassen fürchtete; ja sie besorgte sogar, daß sie, ohne es zu wissen, Schuld trage an der Verabschiedung ihrer alten Dienerin und Freundin, weshalb sie der letzteren trostlos, blaß und unter Tränen in Ediths Salon nacheilte, wohin sich Susanna begeben hatte, um sich von Mrs. Dombey zu verabschieden.

»So, der Wagen ist da und die Koffer sind draußen. Jetzt fort mit Euch!« sagte Mrs. Pipchin, die fast in dem gleichen Augenblick eintrat. »Ich bitte um Verzeihung, Ma’am, aber Mr. Dombey hat die bestimmtesten Befehle erteilt.«

Edith, der das Kammermädchen sich ankleiden half – sie wollte auswärts speisen – bewahrte ihr stolzes Gesicht und tat, als ob sie nichts hörte.

»Hier ist Euer Geld«, sagte Mrs. Pipchin, die gemäß ihres alten Systems mit den Dienstboten umzugehen gewöhnt war, wie sie ihre jungen Brightoner Kostgänger behandelt hatte – zur unsterblichen Erbitterung des Master Bitherstone, »und je früher dies Haus Euern Rücken sieht, desto besser ist es.«

Susanna war so kleinlaut, daß sie nicht einmal Mrs. Pipchin den Blick zuwerfen konnte, der ihr von Rechts wegen gebührte; sie machte daher ihre Verbeugung gegen Mrs. Dombey, die, ohne ein Wort zu sprechen, den Kopf neigte und nur für Florence einen Blick zu haben schien, umschlang ihre junge Gebieterin noch einmal und nahm deren Abschiedsumarmung entgegen. Bei dieser Krisis zeigte das Gesicht der armen Susanna eine Reihe der außerordentlichsten physiognomischen Erscheinungen, die man je sehen konnte, denn sie war, trotz des Überströmens ihrer Gefühle, entschlossen, ihr Schluchzen zu ersticken, damit es nicht für Mrs. Pipchin hörbar würde und diese liebenswürdige Dame einen Triumph feiern könnte.

»Ich bitte um Verzeihung, Miß«, sagte Towlinson, der mit den Koffern vor der Tür stand, zu Florence, »aber Mr. Toots ist in dem Speisezimmer und läßt unter Vermeldung seiner Komplimente anfragen, wie es Diogenes und dem Herrn ergehe.«

Mit Gedankenschnelle glitt Florence aus dem Zimmer und eilte die Treppe hinunter, wo sie Mr. Toots in seiner prächtigsten Kleidung, der im Zweifel und in der Aufregung über den Zweck seines Erscheinens kaum atmen konnte, antraf.

»O, wie geht es Euch, Miß Dombey?« sagte Mr. Tools. »Um Gottes willen!«

Dieser letztere Ausruf hatte seinen Grund in seiner tiefen Teilnahme mit dem Kummer, den er in Florences Antlitz bemerkte. Mr. Toots hielt sogar in einem Anfall von Kichern inne und bot ein leibhaftiges Bild der Verzweiflung dar.

»Lieber Mr. Toots«, sagte Florence, »Ihr seid so freundlich gegen mich und so ehrlich, daß ich Euch gewiß um eine Gefälligkeit bitten darf.«

»Miß Dombey«, entgegnete Mr. Toots, »wenn Ihr mir etwas auftragen wollt, so werdet Ihr – werdet Ihr mir meinen Appetit wiedergeben, der mir«, fügte er mit Gefühl hinzu, »seit langer Zeit vergangen ist.«

»Susanna, eine alte Freundin von mir, die älteste, die ich habe«, sagte Florence, »ist im Begriff, plötzlich das Haus zu verlassen, und das arme Mädchen steht so ganz allein. Sie will in ihre Heimat auf dem Lande. Darf ich Euch bitten, daß Ihr Euch ihrer annehmt, bis sie in der Kutsche ist?«

»Miß Dombey«, erwiderte Mr. Toots, »Ihr erweist mir in der Tat eine Ehre und eine Liebe. Dieser Beweis Eures Vertrauens nach der erzdummen Weise, in der ich mich in Brighton benahm –«

»Ja«, versetzte Florence hastig – »nein, denkt nicht daran. Ihr wollt also die Güte haben, zu – zu gehen – und sie zu erwarten, bis sie herauskommt? Tausend, tausend Dank! Ihr erleichtert mir das Herz. Sie sieht dann doch nicht so ganz verlassen aus. Ihr könnt gar nicht glauben, wie verpflichtet ich mich Euch fühle oder welchen Freundschaftsdienst Ihr mir erweist.«

Und Florence dankte ihm in ihrem Eifer wieder und wieder, während Toots in dem seinen forteilte – aber rücklings, damit er ja keinen Blick von ihr verliere.

Florence hatte nicht den Mut, hinauszutreten, als sie die arme Susanna in die Halle kommen sah, Mrs. Pipchin hinter ihr drein und Diogenes um sie herhüpfend, bei welcher Gelegenheit letzterer Mrs. Pipchin im höchsten Grade durch sein wiederholtes Schnappen nach ihren Bombassinschößen und durch sein ohrzerreißendes Heulen bei dem Ton ihrer Stimme erschreckte; denn die gute Duenna war die teuerste Antipathie seiner Hundebrust. Aber sie sah, wie Susanna sämtlichen Dienstboten die Hand drückte und noch einmal sich umwandte, um ihre alte Heimat zu betrachten: und sie sah Diogenes, der mit ihr wollte, nach dem Wagen hinausstürzen, wo er fast nicht überzeugt werden konnte, daß er nicht mit zu der Fracht gehöre. Der Kutschenschlag wurde geschlossen, das Getümmel legte sich, und ihre Tränen flossen um den Verlust einer alten Freundin, die niemand ersetzen konnte. Niemand. Niemand.

Mr. Toots, die treue zuverlässige Seele, hatte im Nu den Wagen angehalten und teilte Susanna Nipper seinen Auftrag mit, über den sie nur um so heftiger weinte.

»Auf Leib und Seele!« sagte Toots, der seinen Sitz an ihrer Seite nahm, »ich fühle für Euch. Bei meinem Ehrenwort, ich glaube, Eure Empfindungen können Euch kaum so klar sein, als ich sie mir vorstelle. Es gibt gewiß nichts Schrecklicheres, als Miß Dombey verlassen zu müssen.«

Susanna gab sich jetzt ganz ihrem Schmerze hin, und es war in der Tat rührend, sie anzusehen.

»O, tut dies jetzt nicht«, sagte Mr. Toots. »Ich meine wenigstens, es wäre jetzt besser, wenn – –«

»Wenn was, Mr. Toots?« entgegnete Susanna.

»Wenn Ihr mit mir nach Hause ginget und ein Diner einnähmet, ehe Ihr aufbrecht«, sagte Mr. Toots. »Meine Köchin ist eine sehr achtbare Person – eine der mütterlichsten Personen, die ich je gesehen habe – und es wird sie freuen, wenn sie’s Euch gemütlich machen kann. Ihr Sohn«, fügte Mr. Toots als zugäbliche Empfehlung bei, »wurde in der Blaurockschule erzogen und flog mit einer Pulvermühle in die Luft.«

Da Susanna dieses freundliche Anerbieten gefiel, so führte Mr. Toots sie nach seiner Wohnung. Sie wurden daselbst von der fraglichen Matrone, die das ihr gespendete Lob vollkommen rechtfertigte, und von dem Preishahn empfangen, der, als er in dem Wagen eine Dame sah, anfänglich glaubte, Mr. Dombey sei in Gemäßheit seines alten Rats eingeknickt und Miß Dombey entführt worden. Dieser Gentleman setzte Miß Nipper in nicht geringeres Erstaunen, denn er hatte in dem Kampf mit einem übermütigen Jungen eine Niederlage erlitten, und infolge davon befand sich sein Gesicht in einem so kläglichen Zustand, daß er sich in Gesellschaft kaum zeigen konnte, ohne bei den Zuschauern Anstoß zu erregen. Der Preishahn selbst schrieb seinen Nachteil dem Umstand zu, daß der Straßenjunge zu unehrenhaften, nicht kampfgerechten Mitteln Zuflucht genommen habe, obschon die veröffentlichten Gerüchte über diesen großen Strauß das Gegenteil behaupteten und dem andern Streiter bezeugten, er habe den Preishahn in aller Ordnung gewalkt und gepfeffert, bis derselbe demütig weich nachgegeben habe.

Nach einem guten Mahl, bei dem es der gastfreundliche Toots an nichts fehlen ließ, brach Susanna wieder von ihrem Wirte begleitet in einem andern Wagen nach dem Beförderungsbureau auf. Bei dieser Gelegenheit bestieg der Preishahn den Bock, obschon dieser Ehrenmann – um seiner zahlreichen Pflaster willen – der kleinen Gesellschaft nicht sehr zur Zierde gereichte, wie hoch auch die Auszeichnung anzuschlagen sein mochte, die er derselben durch das moralische Gewicht und den Heroismus seines Charakters zuteil werden ließ. Der Preishahn hatte übrigens im geheimen ein Gelübde getan, von Mr. Toots, der im Innern seines Herzens sich sehnte, ihn los zu werden, bloß unter der Bedingung abzulassen, daß ihm derselbe durch seine Mittel zur Betreibung einer Wirtschaft behilflich sei – ein Geschäft, das ihm sein ehrgeiziger Wunsch, sich sobald als möglich tot zu trinken, besonders wünschenswert erscheinen ließ, und um diesen Zweck um so eher zu erreichen, war er mit sich einig geworden, seine Gesellschaft so unangenehm als möglich zu machen.

Die Nachtkutsche, deren sich Susanna zu ihrer Reise bedienen wollte, war eben im Begriff, abzufahren. Nachdem Mr. Toots die junge Dame im Innern untergebracht hatte, zögerte er noch unschlüssig an dem Schlage, bis der Kutscher sich anschickte, den Bock zu besteigen. Dann schwang er sich in den Tritt hinauf, zeigte im Licht der Lampe sein ängstliches, verwirrtes Gesicht und sagte abgebrochen:

»He, Susanna! Miß Dombey, Ihr wißt –«

»Ja, Sir.«

»Glaubt Ihr, sie könnte – Ihr wißt – wie?«

»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Toots«, versetzte Susanna, »aber ich höre Euch nicht.«

»Glaubt Ihr, sie könnte – Ihr versteht mich – nicht gerade auf einmal, aber mit der Zeit – wie lange es auch anstehen mag, dazu gebracht werden, mich – zu – zu lieben? So!« sagte der arme Mr. Toots.

»O Himmel, nein!« entgegnete Susanna, den Kopf schüttelnd. »Ich darf wohl sagen nie. Ni – ie!«

»Danke Euch«, sagte Mr. Toots. »Es ist von keinem Belang. Gute Nacht. Es ist von keinem Belang, danke Euch.«

Fünfundvierzigstes Kapitel.


Fünfundvierzigstes Kapitel.

Die zuverlässige Mittelsperson.

Edith ging an jenem Tag allein aus und kehrte früh wieder zurück. Es waren nur wenige Minuten nach zehn Uhr, als ihr Wagen in die Straße einfuhr, in der Mr. Dombeys Haus stand.

Auf ihrem Antlitz lag dieselbe erzwungene Ruhe, wie zur Zeit, als sich Susanna von ihr verabschiedete, und der Kranz auf ihrem Kopf umgab die nämliche kalte, feste Stirne. Es wäre aber ein minder bedrückender Anblick gewesen, wenn ihre leidenschaftliche Hand die Blätter und Blumen in Stücke zerrissen, oder das krampfhafte Pochen eines nach Ruhe sich sehnenden wirren Gehirns den Kranz formlos gemacht hätte. So starr, so unnahbar und unbeugsam, daß man glauben mußte, nichts könne das Herz eines solchen Weibes erweichen und alles im Leben habe nur dazu beigetragen, es zu verhärten.

Sie war vor der Haustür angelangt und wollte eben aussteigen, als jemand, der mit entblößtem Haupt in der Halle stand, herankam und ihr den Arm darbot. Da der Diener beiseite gedrängt worden war, so blieb ihr keine andere Wahl, als die Hilfe anzunehmen, und nun sah sie, wessen Arm ihr dieselbe geboten hatte.

»Was macht Euer Patient, Sir?« fragte sie mit aufgeworfener Lippe.

»Es geht besser«, versetzte Carker. »Es geht ihm ganz gut. Ich habe ihm bereits gute Nacht gewünscht.«

Sie beugte den Kopf und wollte eben die Treppe hinaufgehen, als er sie noch mit den Worten zurückhielt:

»Madame, darf ich mir die Gunst eines kurzen Gehörs erbitten?«

Sie blieb stehen und schaute nach ihm zurück.

»Die Zeit ist sehr unpassend, Sir, und ich bin müde. Habt Ihr ein so dringendes Anliegen?«

»Ein sehr dringendes«, versetzte Carker. »Da ich so glücklich war, Euch noch zu treffen, so gestattet mir, meine Bitte zu wiederholen.«

Sie blickte einen Moment auf seine glänzenden Zähne, während er nach ihr, die in ihrem stattlichen Anzug ein paar Treppen höher stand, hinaufsah und abermals dachte, wie schön sie sei.

»Wo ist Miß Dombey?« fragte sie den Diener laut.

»In dem Frühstückszimmer, Ma’am.«

»So geht dahin voran!«

Sie wandte ihre Augen abermals nach dem aufmerksamen Gentleman am Fuß der Treppe, bedeutete ihm mit einem leichten Winke ihres Kopfes, daß er ihr folgen könne, und ging weiter.

»Ich bitte um Verzeihung, Madame – Mrs. Dombey!« rief der glatte hurtige Carker, der im Nu an ihrer Seite war. »Ist mir die Bitte gestattet, mein Anliegen Euch nicht in Miß Dombeys Gegenwart vorbringen zu dürfen?«

Sie sah ihn mit einem raschen Blick, aber mit derselben Fassung und Festigkeit an.

»Ich möchte Miß Dombey die Kunde von dem ersparen, was ich Euch zu sagen habe«, fuhr Carker mit gedämpfter Stimme fort. »Wenigstens solltet Ihr entscheiden können, Madame, ob sie davon wissen soll oder nicht. Es geschieht um Eurer selbst willen, und ich glaube, Euch dies schuldig zu sein. Nach unserer früheren Besprechung wäre es schmählich von mir, wenn ich anders handelte.«

Sie wandte langsam ihre Augen von seinem Gesicht ab und rief dem Diener zu: »Ein anderes Zimmer.« Letzterer ging nach dem Salon voran, wo er Lichter aufstellte und sich sodann entfernte. Während seiner Abwesenheit wurde kein Wort gesprochen. Edith nahm auf einem Sofa neben dem Kamin Platz, während Mr. Carker, den Hut in der Hand und die Augen auf den Teppich gerichtet, in einiger Entfernung vor ihr stehen blieb.

»Ehe Ihr sprecht, Sir«, sagte Edith, sobald die Tür geschlossen war, »wünsche ich, daß Ihr mich anhöret.«

»Von Mrs. Dombey angeredet zu werden«, versetzte er, »selbst wenn es im Tone unverdienten Vorwurfs geschieht, ist eine Ehre, die ich so hoch zu schätzen weiß, daß ich, wäre ich auch nicht in allen Stücken ihr Diener, mich aufs bereitwilligste einem solchen Wunsche unterwerfe.«

»Wenn Ihr von dem Manne, den Ihr eben verlassen« – Mr. Carker erhob seine Augen, als wolle er damit Überraschung ausdrücken, aber der Blick, mit dem ihm die ihren entgegenkamen, taten ihm, wenn anders dies seine Absicht war, Einhalt – »einen Auftrag an mich auszurichten habt, so gebt Euch keine Mühe damit, denn ich werde ihn nicht annehmen. Ich brauche kaum zu fragen, ob Ihr zu einem solchen Zweck hier seid, denn ich habe längst etwas Derartigem entgegengesehen.«

»Leider bin ich ganz gegen meinen Willen in solcher Absicht hier«, versetzte er. »Erlaubt mir, zu bemerken, daß zwei Punkte mich zu Euch führen, den einen habt Ihr erraten.«

»Er ist abgetan, Sir«, erwiderte sie. »Oder wenn Ihr darauf zurückkommt – –«

»Kann Mrs. Dombey glauben«, sagte Carker, näher tretend, »daß ich so ihren Befehlen zuwiderzuhandeln imstande bin. Ist es möglich, daß Mrs. Dombey mit Absicht so ungerecht sein kann, ohne Rücksicht auf meine leidige Stellung mich stets für unzertrennlich von meinem Auftraggeber zu halten?«

»Sir«, entgegnete Edith, ihren dunkeln Blick voll auf ihn heftend und in einer steigenden Leidenschaftlichkeit sprechend, unter der ihre stolzen Nasenlöcher sich ausdehnten, der Busen schwoll und der leicht um ihre Schultern geworfene zarte weiße Schwanenpelz in seiner schneeigen Nachbarschaft unruhig sich bewegte, »warum tretet Ihr, wie Ihr es getan habt, vor mich hin, um mit mir von Liebe und Pflicht gegen meinen Gatten zu reden und Euch anzustellen, als haltet Ihr mich für glücklich verheiratet und als seiet Ihr der Meinung, ich ehre ihn? Wie erdreistet Ihr Euch, mich so zu kränken, während Ihr doch wißt – ich selbst weiß es nicht besser, Sir, denn ich habe dies in jedem Eurer Blicke gesehen, in jedem Eurer Worte gehört – daß zwischen uns statt Liebe Abneigung und Verachtung herrscht, daß ich ihn kaum weniger verabscheue, als ich mich selbst verabscheue, weil ich die Seinige heiße? Ungerechtigkeit! Hätte ich der Qual, die Ihr mich fühlen ließt, und dem Schimpf, den Ihr mir antatet, Genüge leisten wollen, so hätte ich Euch ermorden müssen!«

Sie hatte ihn gefragt, warum er dies getan habe. Wäre sie nicht durch ihren Stolz, ihren Zorn und ihre Selbstdemütigung geblendet gewesen – dies war der Fall, so wild sie auch ihren Blick auf ihn heftete – so hätte sie in seinem Gesicht die Antwort lesen können. Der Grund war, sie zu dieser Erklärung zu bringen.

Sie sah es jedoch nicht und kümmerte sich auch nicht darum, da sie nur ein Auge für die Beschimpfungen und Kämpfe hatte, die sie durchgemacht, die ihr noch bevorstanden und die eben jetzt ihr Innerstes durchwühlten. Während sie so dasaß und ihren Blick eher ihrer Zerrissenheit als ihm zuwandte, riß sie aus der Schwinge eines seltenen schönen Vogels, der an einem goldenen Kettchen von ihrem Armband niederhing, um ihr als Fächer zu dienen, die Federn und streute sie über den Boden.

Er bebte nicht zurück vor ihrem Blick, sondern blieb in der Erwartung, bis die äußeren Zeichen ihres unwillkürlich ausbrechenden Zornes sich gelegt hätten, mit der Miene eines Mannes stehen, der auf eine genügende Antwort gefaßt und sie vorzubringen bereit ist. Dann begann er mit einem festen Blick in ihre funkelnden Augen:

»Madame«, sagte er, »ich weiß und wußte längst, daß ich bei Euch nicht in Gunst stehe. Auch der Grund ist mir bekannt. Ja. Ich weiß, warum. Ihr habt offen gegen mich gesprochen, und ich fühle mich so erleichtert durch den Besitz Eures Vertrauens – –«

»Vertrauen!« wiederholte sie mit Verachtung.

»– Daß ich nicht versuchen will, etwas vor Euch zu verhehlen. Ich sah in der Tat von Anfang an, daß Ihr keine Liebe hegtet zu Mr. Dombey – wie hätte dies auch bei so verschiedenen Charakteren möglich sein können! Auch entging mir nicht, daß seitdem mächtigere Gefühle als bloße Gleichgültigkeit in Eurer Brust um sich griffen – wie ließ sich dies auch unter Verhältnissen, wie die Euren sind, anders erwarten! Aber kam es mir zu, dieses mein Mitwissen in Worten gegen Euch kundzugeben?«

»Kam es Euch zu, Sir«, versetzte sie, »einen andern Glauben zu heucheln und ihn dreist mir Tag für Tag vorzuhalten?«

»Ja, Madame«, entgegnete er hastig. »Hätte ich weniger getan, hätte ich überhaupt anders gehandelt, so könnte ich nicht so mit Euch sprechen, und ich sah voraus – wer könnte dies besser, als ein Mann, der Mr. Dombey so genau kennt, wie ich? – wenn Euer Charakter nicht ebenso nachgiebig und gehorsam wäre, als der seiner ersten unterwürfigen Gattin, was ich von Euch nicht annahm – –«

Ein stolzes Lächeln gab ihm Anlaß, zu glauben, daß er dies wiederholen könne.

»Ich sage, was ich von Euch nicht annahm – so müsse ohne Zweifel eine Zeit kommen, in der ein Einverständnis wie das, zu dem es jetzt zwischen uns gekommen ist, zweckmäßig werden könnte.«

»Für wen zweckmäßig, Sir?« fragte sie verächtlich.

»Für Euch. Ich will nicht hinzufügen, für mich, weil ich mich enthalten soll, Mr. Dombey auch das beschränkte Lob zu spenden, das ich ihm mit aller Ehrlichkeit nachrühmen kann. Ich möchte mir nicht das Unglück zuziehen, einer Dame, deren Widerwillen und Verachtung« – er sprach dies mit großem Nachdruck – »so bitter sind, etwas Unangenehmes zu sagen.«

»Es ist sehr ehrlich von Euch, Sir«, versetzte Edith, »dieses beschränkte Lob einzuräumen und sogar von ihm in solchem Ton der Geringschätzung zu sprechen, während Ihr doch sein Hauptratgeber und Schmeichler seid.«

»Ratgeber – ja«, sagte Carker. »Schmeichler – nein. Ich fürchte, ein wenig Rückhaltung einräumen zu müssen; aber unser Interesse und die Schicklichkeit überhaupt nötigen gemeiniglich viele von uns, sich in einer Weise zu benehmen, bei der das Gefühl sich nicht beteiligen kann. Es gibt jeden Tag Geschäftsverbindungen aus Interesse und Konvenienz, einen Verkehr im allgemeinen aus Interesse und Konvenienz, und Heiraten aus Interesse und Konvenienz.«

Sie biß sich in ihre blutrote Lippe, ohne jedoch den düsteren strengen Blick, mit dem sie ihn ins Auge faßte, von ihm zu wenden.

»Madame«, fuhr Mr. Carker fort, mit der Miene der tiefsten, rücksichtsvollsten Achtung sich auf einen in der Nähe stehenden Sessel niederlassend, »warum sollte ich jetzt, der ich mich ganz und gar Eurem Dienst geweiht habe, Anstand nehmen, offen zu sprechen? Es war natürlich, daß eine Dame von Euren trefflichen Eigenschaften es für möglich hielt, in manchem Betracht den Charakter ihres Gatten umzuwandeln und ihn in eine bessere Form zu gießen.«

»Bei mir war dies nicht natürlich, Sir«, entgegnete sie. »Ich habe nie etwas der Art erwartet oder beabsichtigt.«

Das stolze unerschütterliche Gesicht zeigte ihm, daß es entschlossen war, die ihm angebotene Maske nicht aufzunehmen, und rücksichtslos sich zeigen wollte, in was immer für einem Lichte es dann auch erscheinen mochte.

»Wenigstens war es natürlich«, nahm er wieder auf, »daß Ihr es für möglich hieltet, mit Mr. Dombey als Gattin zu leben, ohne Euch ihm zu unterwerfen oder ohne mit ihm in einen so entschiedenen Widerstreit zu kommen. Wenn Ihr übrigens dies glaubt, so habt Ihr, wie Euch seitdem die Erfahrung gelehrt haben muß, Mr. Dombey nicht gekannt. Ihr wußtet nicht, wie anspruchsvoll und stolz er ist. Wenn ich mich so ausdrücken darf, so möchte ich ihn den Sklaven seiner Größe nennen, denn er zieht im Joche seines eigenen Triumphwagens wie ein Lasttier, ohne einer andern Idee Raum zu geben, als daß er ihn hinter sich habe, und daß er über und durch alles fortgeschleppt werden müsse.«

Seine Zähne glänzten in boshaftem Behagen über diesen Gedanken, während er zu sprechen fortfuhr:

»Mr. Dombey, Madame, ist gegen Euch ebensowenig einer wahren Rücksicht fähig, als gegen mich. Der Vergleich scheint zwar einen ungeheuren Abstand zu bieten; aber sei es darum – er ist richtig. Im Gefühl seiner Machtvollkommenheit stellte mir Mr. Dombey gestern das Ansinnen, ich solle seine Mittelsperson gegen Euch machen – wie er mir selbst mitteilte, aus keinem andern Grund, als weil er weiß, daß ich Euch unangenehm bin, und er in dieser Weise die Strafe zu erhöhen meint: auch ist er in der Tat der Ansicht, daß die Verwendung seines bezahlten Dieners in solchen Aufträgen der Würde – nicht der Dame, mit der ich zu sprechen das Glück habe, denn diese ist für ihn gar nicht vorhanden, sondern seiner Gattin, eines Teils seiner eigenen Person, Abtrag tue. Ihr könnt Euch denken, wie rücksichtslos er gegen mich ist, und wie er sogar nicht die Möglichkeit zu fassen vermag, als könnte ich hierin anderer Meinung sein, wenn er mir so unumwunden mitteilt, daß er sich aus einem solchen Grunde meiner Vermittlung bediene. Auch erseht Ihr vollkommen seine Gleichgültigkeit gegen Eure Gefühle aus dem Umstand, daß er Euch mit einem solchen Boten drohte – denn natürlich ist Euch noch im Gedächtnis, daß er dies getan hat.«

Sie faßte ihn noch immer aufmerksam ins Auge, aber er sie gleichfalls, und es wurde ihm daraus klar, daß ein Mitwissen um einen Auftritt, der zwischen ihr und ihrem Gatten vorgegangen war, in ihrer stolzen Brust wie ein vergifteter Pfeil schmerzte.

»Ich führe dies nicht an, um die Kluft zwischen Euch und Mr. Dombey zu erweitern, Madame – der Himmel verhüte dies, denn was könnte es mir nützen – sondern nur um Euch zu beweisen, wie hoffnungslos es ist, ihn zur Überzeugung zu bringen, daß irgend jemand Rücksicht verdiene, sobald er in Frage kommt. Ich muß allerdings sagen, daß wir, die wir um ihn sind, in unsern verschiedenen Stellungen das Unsrige beigetragen haben, um ihn in dieser Denkweise zu befestigen; aber wäre es von uns nicht geschehen, so würden es andere getan haben – oder sie hätten’s nicht bei ihm aushalten können. So ist es immer gewesen, ich möchte sagen vom Beginn seines Lebens an. Mit einem Wort, Mr. Dombey hat nie mit jemand anders verkehrt, als mit unterwürfigen, abhängigen Personen, die Knie und Nacken vor ihm beugten. Er weiß nicht, was es heißt, beleidigten Stolz und den kräftigen Willen, eine Kränkung zu ahnden, gegen sich zu haben.«

»Jetzt soll er es erfahren«, schien sie zu entgegnen, obschon ihre Lippen sich nicht öffneten und ihr Auge unbeweglich blieb. Er sah den weichen Schwanenpelz abermals auf ihrer Brust zittern, sah, wie sie das Gefieder des schönen Vogels einen Augenblick an ihren Busen drückte, und schlug einen weiteren Ring des Taus, mit dem er sich ausgerüstet hatte.

»Obschon ein im höchsten Grade ehrenhafter Mann«, fuhr er fort, »so ist er doch sehr geneigt, selbst die Tatsachen, die gegen ihn sprechen, nach seinem eigenen Sinn zu verdrehen, und ich kann Euch kein besseres Beispiel davon geben, als wenn ich Euch sage: er glaubt aufrichtig (Ihr werdet die Torheit dessen, was ich nun vorbringe, entschuldigen, da sie nicht von mir ausgeht), seine entschiedene Meinungsäußerung gegen seine dermalige Gattin bei einem gewissen besonderen Anlaß, der, wie sie sich erinnern wird, vor dem viel beklagten Tode der Mrs. Skewton stattfand, habe eine vernichtende Wirkung geübt und sie für den Augenblick ganz zu Paaren getrieben.«

Edith lachte. Wie hart und unmusikalisch, brauchen wir nicht zu schildern. Es ist genug, daß er erfreut war, sie so lachen zu hören.

»Madame«, nahm er wieder auf, »genug davon, Eure eigenen Ansichten sind so energisch und, wie ich überzeugt bin, so unwandelbar« – er wiederholte diese Worte langsam und mit großem Nachdruck – »daß ich fast Euer Mißfallen von neuem auf mich zu ziehen fürchte, wenn ich sage, ich sei trotz dieser Mängel und meiner vollen Kenntnis derselben so an Mr. Dombey gewöhnt, daß ich ihn hochschätze. Glaubt mir übrigens, wenn ich so spreche, geschieht es nicht, um mit einem Gefühle zu prahlen, das so ganz im Widerstreit mit dem Euren ist und für das Ihr keine Sympathie haben könnt« – o wie bestimmt, klar und nachdrücklich war nicht dies! – »sondern um Euch eine Versicherung von dem Eifer zu geben, mit dem ich in dieser unglücklichen Angelegenheit Euch dienen möchte. Ihr könnt daraus entnehmen, mit welchem Unwillen mich die Rolle erfüllen muß, die zu spielen man von mir erwartet hat.«

Sie saß da, als scheue sie sich, ihre Augen von seinem Gesicht zu verwenden.

Und nun zu Abwindung des letzten Tauringes.

»Es wird spät«, sagte Carker nach einer Pause, »und Ihr seid, wie Ihr sagtet, ermüdet. Aber ich darf den zweiten Punkt dieser Unterredung nicht vergessen. Aus zureichenden Gründen muß ich Euch empfehlen – ja, Euch aufs dringlichste bitten, in Kundgebung Eurer Zuneigung für Miß Dombey vorsichtig zu sein.«

»Vorsichtig? Was meint Ihr damit?«

»Ihr müßt Sorge tragen, daß Ihr dieser jungen Dame nicht allzuviel Liebe erzeiget.«

»Allzuviel Liebe, Sir?« versetzte Edith, und ihre breite Stirne furchte sich, während sie von ihrem Sitze aufstand. »Wer urteilt über meine Liebe, oder ermißt sie? Ihr?«

»Nein, ich gewiß nicht.«

Er war verwirrt oder stellte sich wenigstens so.

»Wer denn?«

»Könnt Ihr dies nicht erraten?«

»Ich will nicht raten«, antwortete sie.

»Madame«, sagte er nach kurzem Zögern, während dessen sie sich gegenseitig in der früheren Weise angesehen hatten, »ich befinde mich in einer schwierigen Lage. Ihr habt mir erklärt, daß Ihr keinen Auftrag annehmen wollet, und das Verbot daran geknüpft, diesen Gegenstand überhaupt zu berühren; aber ich finde, die beiden Punkte sind so eng miteinander verflochten, daß ich die mir von Euch auferlegte Einschärfung zu verletzen genötigt bin, wenn Ihr Euch nicht mit dieser unbestimmten Warnung eines Mannes begnügen wollt, der jetzt die Ehre hat, Euer Vertrauen zu besitzen, obschon er dazu durch Euer Mißfallen sich Bahn brechen mußte.«

»Ihr wißt, daß Ihr die Freiheit habt, dies zu tun«, sagte Edith. »Sprecht.«

So blaß, so zitternd, so leidenschaftlich; er hatte sich also in der Wirkung nicht verrechnet.

»Er hat mir aufgetragen«, entgegnete er mit gedämpfter Stimme, »daß ich Euch erklären solle, Euer Benehmen gegen Miß Dombey sei ihm nicht angenehm. Es führe zu Vergleichen mit ihm, die ihm nicht günstig seien, und er verlange deshalb, daß es gänzlich geändert werde. Wenn es Euch ernst damit sei, so hoffe er um so zuversichtlicher, daß dies geschehe, denn die fortgesetzte Kundgebung Eurer Zuneigung dürfte dem Gegenstand derselben übel zustatten kommen.«

»Dies ist eine Drohung!« sagte sie.

»Ja, eine Drohung«, antwortete er in seiner tonlosen Weise und fügte dann laut hinzu, »die aber nicht Euch gilt.«

Sie stand ihm stolz, aufrecht und würdevoll gegenüber und richtete ihr blitzendes Auge voll auf ihn, als ob sie ihn durchbohren wolle; dann überflog ihr Antlitz ein Lächeln voll Verachtung und Bitterkeit, bis sie endlich niedersank, als ob der Grund unter ihr eingesunken wäre. Sie würde zu Boden gesunken sein, wenn er sie nicht mit seinen Armen aufgefangen hätte. Aber in dem Augenblick der Berührung schüttelte sie ihn ab, trat zurück und stand unbeweglich mit ausgestreckter Hand vor ihm.

»Habt die Güte, mich zu verlassen. Sprecht heute nichts mehr.«

»Ich fühle die Dringlichkeit des Umstandes«, sagte Mr. Carker, »weil es unmöglich ist, zu wissen, welche unvorhergesehene Folgen daraus entspringen mögen, oder wie bald sie stattfinden dürften, wenn Ihr nicht von seiner Stimmung unterrichtet seid. Wie ich höre, ist Miß Dombey schuld an der Entlassung ihrer alten Dienerin – vielleicht schon eine der kleineren Folgen. Ihr macht mir doch keinen Vorwurf, daß ich Euch bat, Miß Dombey bei unserer Besprechung nicht anwesend sein zu lassen? Darf ich dies hoffen?«

»Ich mache Euch keinen Vorwurf. Habt die Güte, mich zu verlassen, Sir.«

»Ich weiß und bin vollkommen überzeugt, daß Eure Liebe zu dieser jungen Dame sehr aufrichtig und innig ist; aber eben deshalb müßte es Euch sehr unglücklich machen, wenn in Eurem Innern der Gedanke Raum gewinnen könnte, Ihr selbst hättet ihre Stellung beeinträchtigt und ihre künftigen Hoffnungen zugrunde gerichtet«, sagte Carker hastig und mit großem Eifer.

»Heute nichts mehr. Verlaßt mich, wenn ich bitten darf.«

»Ich werde stets hier im Hause und um ihn sein, da dies schon die Geschäfte erfordern. Ihr erlaubt mir doch, Euch wieder zu besuchen, damit ich mich bei Euch über das, was zu geschehen hat, Rats erholen und Eure Wünsche kennenlernen kann?«

Sie winkte ihm nach der Tür.

»Ich bin noch nicht einmal mit mir im klaren, ob ich ihm sagen soll, daß ich mit Euch gesprochen habe, oder ob es nicht besser ist, ihn in dem Glauben zu lassen, ich sei nicht imstande gewesen, seinen Auftrag zu erfüllen, entweder aus Mangel an Gelegenheit, oder aus irgendeinem andern Grunde. Es dürfte daher nötig sein, daß ich mich hierüber sehr bald mit Euch verständige.«

»Wann Ihr wollt, nur jetzt nicht«, antwortete sie.

»Ihr werdet einsehen, daß auch bei der nächsten Besprechung Miß Dombey nicht anwesend sein kann. Darf ich des Glaubens leben, Ihr sähet bei jener Zusammenkunft in mir nur einen Mann, der das Glück hat, Euer Vertrauen zu besitzen, und bereit ist, Euch jeden ihm zu Gebot stehenden Beistand zu leisten – ja, vielleicht auch sich in der Lage befindet, von ihr Schlimmes abzuwehren?«

Von ihrer Seite noch immer dieselbe Furcht, ihn auch nur einen Moment von dem Einfluß ihres festen Blickes, welch derselbe auch sein mochte, zu entbinden. Sie antwortete mit Ja und hieß ihn abermals sich entfernen.

Er machte eine willfährige Verbeugung, wandte sich aber, als er die Tür nahezu erreicht hatte, noch einmal um und sagte:

»Erfreue ich mich Eurer Verzeihung und habe ich meinen Fehler aufgeklärt? Darf ich – um Miß Dombeys und um meiner selbst willen – Eure Hand ergreifen, ehe ich gehe?«

Sie reichte ihm die mit dem Handschuh bedeckte Hand, die sie abends zuvor verstümmelt hatte. Er nahm sie, drückte einen Kuß darauf und entfernte sich. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen, schwenkte er die Hand, in der die ihre gelegen, und legte sie auf seine Brust.

Zweiunddreißigstes Kapitel.


Zweiunddreißigstes Kapitel.

Der hölzerne Midshipman geht in die Brüche.

Der ehrliche Kapitän Cuttle versäumte, obgleich er schon Wochen in seinem befestigten Zufluchtsorte zugebracht hatte, keineswegs die klugen Vorsichtsmaßregeln gegen Überraschung, und ließ sich durch das Ausbleiben des Feindes nicht beirren. Er war der Ansicht, daß seine gegenwärtige Sicherheit viel zu tief und wunderbar sei, um für die Dauer bestehen zu können. Er wußte, daß der Wetterhahn selten nagelfest blieb, wenn der Wind aus einer ungünstigen Richtung blies, und war zu gut mit dem entschlossenen furchtlosen Charakter der Mrs. Mac Stinger bekannt, um daran zu zweifeln, daß diese heroische Dame nicht alle ihre Kräfte aufbieten werde, um ihn aufzufinden und wieder zu kapern. Zitternd unter dem Gewicht dieser Gründe, führte Kapitän Cuttle ein sehr stilles, zurückgezogenes Leben und ging selten anders als nach Einbruch der Dunkelheit aus. Selbst dann wagte er sich nur in die dunkelsten Straßen. Namentlich hütete er sich, an Sonntagen seine Wohnung zu verlassen, und bei jeder Gelegenheit, sowohl innerhalb wie außerhalb der Mauern seines Zufluchtsorte, mied er Weiberhüte, als würden sie von brüllenden Löwen getragen.

Der Kapitän ließ sich nie den Gedanken kommen, daß es, wofern Mrs. Mac Stinger ihn auf einem seiner Ausgänge ertappte, möglich sein könnte, ihr Widerstand zu bieten. Er fühlte, daß dieses nicht anging, und vergegenwärtigte sich sogar schon, wie er ganz zahm in eine Mietkutsche gepackt und nach seiner alten Wohnung abgeführt wurde. War er einmal dort eingemauert, so mußte er sich als verlorenen Mann betrachten. Sein Hut wurde in Beschlag gelegt, Mrs. Mac Stinger bewachte ihn Tag und Nacht, Vorwürfe fielen auf sein Haupt nieder vor der jungen Familie, und er selbst erschien als der schuldbeladene Gegenstand des Argwohns und Mißtrauens – in den Augen der Kinder als ein Werwolf, in denen der Mutter als ein entdeckter Verräter.

Der Kapitän wurde stets ganz kleinmütig, und der Schweiß brach ihm aus allen Poren, wenn er sich dieses düstere Bild seiner Einbildungskraft vergegenwärtigte. Das war in der Regel der Fall, ehe er nachts um der frischen Luft und der Bewegung willen sich aus dem Hause schlich. Im Gefühl der Gefahr, die ihn bedrohte, verabschiedete er sich bei solchen Anlässen von Rob mit der Feierlichkeit eines Mannes, der vielleicht nie wieder zurückkehrt. Er ermahnte ihn für den Fall seines plötzlichen zeitweiligen Verschwindens, auf den Pfaden der Tugend fortzuwandeln und die Messing-Instrumente blank zu erhalten.

Um übrigens keine Gelegenheit zu versäumen, sich für den schlimmsten Fall ein Mittel zu sichern, mit der äußern Welt in Verkehr zu treten, kam Kapitän Cuttle bald auf den glücklichen Gedanken, Rob, den Schleifer, über ein geheimes Signal zu belehren, wodurch dieser Anhänger ihm in der Stunde der Not seine Nähe und Treue bekunden konnte. Nach reiflicher Erwägung entschied er sich dafür, ihn die Melodie des Matrosenliedes: »Auf, Matrosen, die Anker gelichtet!« pfeifen zu lehren, und nachdem es Rob, der Schleifer, darin zu einer Vollkommenheit gebracht hatte, wie sie besser von einer Landratte nicht zu erwarten war, legte ihm sein Gebieter noch folgende geheimnisvolle Weisungen ans Herz:

»Jetzt halt bei, mein Junge! Wenn ich gefaßt werde –«

»Gefaßt, Kapitän?« unterbrach ihn Rob, seine runden Augen weit aufsperrend.

»Ah!« entgegnete Kapitän Cuttle geheimnisvoll, »wenn ich je fortgehe, in der Absicht, beim Nachtessen wieder da zu sein, und nicht wieder in Rufweite komme, so suchst du vierundzwanzig Stunden nach meinem Verschwinden Brig-Place auf und pfeifst dort in der Nähe meines alten Ankergrundes diese Melodie. Merke wohl, nicht als ob du etwas damit im Schild führst, sondern unter dem Anschein, als seiest du von ungefähr dahin getriftet. Gebe ich in der gleichen Weise Antwort, mein Junge, so stoppst du ab und kommst nach vierundzwanzig Stunden wieder; pfeife ich aber eine andere Melodie, so steuerst du aus und ein und wartest, bis ich dir weitere Signale zugehen lasse. Begreifst du diese Weisungen?«

»Wie soll ich denn aus- und einsteuern, Kapitän?« fragte Rob. »Auf dem Fahrwege?«

»Du bist mir ein pfiffiger Bursche«, rief der Kapitän, ihn finster ins Auge fassend, »der nicht einmal sein eigenes ABC versteht! Du gehst abwechselnd ein bißchen weg und kommst wieder zurück – begreifst du das?«

»Ja, Kapitän«, versetzte Rob.

»Gut also, mein Junge«, sagte der Kapitän in milderem Ton. »So wirst du es halten.«

Damit hierin ja kein Fehler vorgehe, ließ sich Kapitän Cuttle abends, nachdem der Laden geschlossen war, bisweilen herab, den Schleifer eine Probe des Patrouillenganges vornehmen zu lassen. Zu diesem Ende begab er sich in das Hinterstübchen, das die Wohnung einer vermeintlichen Mac Stinger vorstellen mußte, und faßte von dem Spionierloch aus, das er in die Mauer gebohrt hatte, das Benehmen seines Verbündeten sorgfältig ins Auge. Bei derartigen Gelegenheiten machte Rob, der Schleifer, seine Sache mit solcher Pünktlichkeit und Umsicht, daß ihm der Kapitän zu verschiedenen Zeiten als Zeichen seiner Zufriedenheit sieben Sechspencestücke schenkte. Anbei faßte allmählich in seinem Geiste die Ergebung eines Mannes Wurzel, der für den schlimmsten Fall seine Maßregeln getroffen und nichts versäumt hat, um sich gegen ein unvermeidliches Schicksal bestens zu verwahren.

Trotzdem hütete sich der Kapitän sorgfältig, das Schicksal herauszufordern, und er benahm sich um kein Haar waghalsiger, als zuvor. Zwar hielt er es für einen Anstands- und Ehrenpunkt, als Freund der Familie im allgemeinen Mr. Dombeys Trauung, von der ihm durch Mr. Perch Kunde zugegangen war, beizuwohnen und dem Bräutigam von der Emporkirche aus ein erfreutes, Beifall zollendes Gesicht zu zeigen. Aber er machte die Fahrt nach der Kirche in einer Mietkutsche, deren beide Blenden er niedergelassen hatte. Vielleicht würde er in seiner Furcht vor Mrs. Mac Stinger auch vor diesem Wagnis Anstand genommen haben. Aber da die erwähnte Dame unter die Gemeinde des ehrwürdigen Melchisedek gehörte, so war es sehr unwahrscheinlich, daß man ihrer in einem Gotteshause der bischöflichen Kirche begegnen könnte.

Der Kapitän war glücklich wieder nach Hause gekommen und fühlte seine neue Lebensweise fort, ohne daß von dem Feind eine unmittelbare Behelligung ausging, ausgenommen die tägliche Erscheinung von Weiberhüten auf der Straße. Aber jetzt begannen auch andere Gegenstände den Geist des Kapitäns zu bedrängen. Von Walters Schiff hatte man noch immer nichts gehört, und auch von dem alten Sol Gills lief keine Kunde ein.

Florence war nicht einmal von dem Verschwinden des alten Mannes unterrichtet, und dem Kapitän gebrach es an Mut, ihr die betreffende Mitteilung zu machen. In der Tat begannen seine Hoffnungen für den wackeren, hübschen, treuherzigen Jungen, den er nach seiner rauhen Art von Kindheit auf geliebt hatte, von Tag zu Tag mehr hinzuschwinden, weshalb schon der Gedanke an eine Rücksprache mit Florence ihm schmerzlich wurde. Freilich, wäre er der Überbringer guter Neuigkeiten gewesen, so würde er sich zu ihr Bahn gebrochen haben, trotz des neu herausgeputzten Hauses und der prächtigen Möbel, obschon ihm diese in Verbindung mit der Dame, die er in der Kirche gesehen, einen geheimen Schrecken einflößten. So aber umdüsterte ein schwarzer Horizont ihre gemeinschaftlichen Hoffnungen. Es kam dem Kapitän fast vor, als sei er für sie ein neuer Gegenstand des Unglücks und des Leides, so daß er sich vor einem Besuch bei Florence kaum weniger fürchtete, als vor dem Erscheinen der Mrs. Mac Stinger selbst.

Es war ein frostiger trüber Herbstabend, und Kapitän Cuttle hatte Feuer in dem kleinen Hinterstübchen anzünden lassen, das jetzt mehr als je wie die Kajüte eines Schiffes aussah. Der Regen fiel in Strömen nieder, und es stürmte sehr. Der Kapitän ging in dem windigen Dachstübchen, wo sein alter Freund zu schlafen pflegte, umher und stellte Witterungsbeobachtungen an. Aber das Herz erstarb ihm fast in seinem Innern, als er wahrnahm, wie wild und trostlos es draußen aussah. Zwar fiel es ihm nicht ein, das damalige Wetter mit dem Schicksal des armen Walter in Verbindung zu bringen, oder daran zu zweifeln, daß es längst mit ihm vorbei sein müsse, wenn die Vorsehung beschlossen habe, ihn durch Schiffbruch umkommen zu lassen. Jedoch unter dem äußeren Einflusse, wie verschieden er auch sein mochte von dem Hauptgegenstand seiner Gedanken, entsank dem Kapitän der Mut; und seine Hoffnungen erblichen, was auch weiseren Männern schon oft so ergangen ist und noch oft ergehen wird.

Das Gesicht gegen den scharfen Wind und den schräg einfallenden Regen kehrend, blickte Kapitän Cuttle nach der schweren Wolke hinauf, die schnell über das Labyrinth von Hausgiebeln hinflog, ohne auch nur eine Spur von Ermutigung darin zu finden. Die Aussicht in unmittelbarer Nähe war nicht besser. Zu seinen Füßen girrten in allerlei Teekisten und anderen rauhen Truhen die Tauben Robs, des Schleifers, gleich ebenso vielen aufspringenden unheimlichen Winden. Eine gichtbrüchige Windfahne, einen Midshipman mit dem Teleskop vor Augen darstellend, der vordem von der Straße aus sichtbar gewesen war, jetzt aber unter der Masse von Ziegeln verschwunden zu sein schien, ächzte und jammerte auf ihrem rostigen Stift, wie die pfeifenden Stöße, die den Midshipman umherdrehten und grausames Spiel mit ihm trieben. Auf der groben blauen Weste des Kapitäns standen die kalten Regentropfen gleich Stahlperlen, und er vermochte sich kaum zu halten vor dem steifen Nordwest, der gegen ihn andrängte, als habe er Lust, ihn über die Böschung aufs Pflaster hinunterzuwerfen. »Wenn an einem solchen Abend sich noch ein bißchen Hoffnung regt«, dachte der Kapitän, während er seinen Hut festhielt, »so ist sie sicherlich im Hause und nicht draußen«; er schüttelte daher verzagt den Kopf und ging hinunter, um nach ihr zu sehen.

Er stieg langsam nach dem kleinen Hinterstübchen hinab, setzte sich in seinen gewöhnlichen Stuhl und suchte sie in den Flammen des Feuers; aber da war sie nicht, obschon das Feuer hell aufloderte. Dann nahm er Tabak, Dose und Pfeife heraus, um zu rauchen. Er suchte sie in der roten Glut des Pfeifenkopfs und in den Dampfwolken, die von seinen Lippen aufwirbelten. Aber auch hier wollte sich nicht einmal ein Atom von dem Rost des Hoffnungsankers zeigen. Er versuchte es mit einem Glas Grog; indessen die traurige Wahrheit lag auf dem Boden dieses Brunnens, und er konnte nicht damit fertig werden. Dann machte er einige Gänge durch den Laden und spähte nach der Hoffnung unter den Instrumenten. Doch sie arbeiteten hartnäckig, trotz aller Einreden, die er vorzubringen vermochte, für das fehlende Schiff nur Gissungen aus, die mit dem Grunde des einsamen Meeres endigten.

Der Wind brauste fort, und der Regen klatschte noch immer gegen die geschlossenen Läden. Der Kapitän legte vor dem hölzernen Midshipman auf dem Ladentisch bei und machte sich, während er mit seinem Ärmel die Uniform des kleinen Offiziers trocknete, Gedanken, wie alt dieser wohl sein möge – wie wenige Wechsel (kaum irgendeiner) seine Schiffskameradschaft betroffen habe – wie die Veränderungen sozusagen fast auf einen Tag zusammenfielen – und wie erschütternder Art sie gewesen. Die kleine Gesellschaft des Hinterstübchens war aufgelöst und weit und breit hin zerstreut. Es gab keine Zuhörerschaft mehr für die liebliche Peg, selbst wenn jemand da gewesen wäre, um das Lied zu singen. Der Kapitän fühlte nämlich die moralische Überzeugung, außer ihm sei niemand einer derartigen Aufgabe gewachsen, und unter obwaltenden Umständen befand er sich nicht in der Stimmung, es auch nur zu versuchen. Es gab kein heiteres Wal’r-Gesicht im Hause – hier führte der Kapitän für einen Augenblick seinen Ärmel von der Uniform des Midshipmans nach der eigenen Wange – die bekannte Perücke und die Knöpfe des alten Sol Gills gehörten der Vergangenheit an. Richard Whittington war auf den Kopf geschlagen, und jeder Plan, jeder Entwurf, der Bezug auf den Midshipman hatte, lag ohne Mast und Steuer triftig auf der endlosen Wasserfläche.

Während der Kapitän mit trostlosem Gesicht sich in solchen Gedanken erging und teils in der liebevollen Zärtlichkeit alter Bekanntschaft, teils in der Zerstreutheit seines Geistes an dem Midshipman polierte, jagte ein Klopfen an die Ladentür Rob, dem Schleifer, einen mächtigen Schrecken ein. Dieser saß nämlich auf dem Ladentisch, verwandte keines seiner großen Augen von dem Gesicht des Kapitäns und überlegte schon hundertmal in seinem Innern, ob wohl sein Gebieter einen Mord verübt, daß er ein so böses Gewissen habe und alle Augenblicke Reißaus nehme.

»Was ist das?« fragte Kapitän Cuttle leise.

»Es klopft jemand, Kapitän«, antwortete Rob, der Schleifer.

Mit scheuer, schuldbewußter Miene schlich der Kapitän auf den Zehen in das kleine Hinterstübchen und schloß sich ein. Rob, der die Tür öffnete, hatte im Sinne, auf der Schwelle den Besuch wie ein Kriminalkommissar zu behandeln, falls sich dieser in weiblicher Verkleidung zeigte. Aber der Besuch gehörte seinem Äußern nach dem männlichen Geschlecht an, und da Cuttles Weisungen sich nur auf Weiber bezogen, so riß er die Tür auf und ließ den Gast eintreten, der seinerseits nicht zögerte und überfroh war, aus dem Regen zu kommen.

»Jedenfalls wieder Arbeit für Burgeß und Co.«, sagte der Besuch, der mit kläglicher Miene abwärts auf seine durchnäßten und mit Kot bespritzten Schuhe sah. »O, wie geht es Euch, Mr. Gills?«

Diese Begrüßung galt dem Kapitän, der tat, als komme er ganz zufällig aus dem Hinterstübchen heraus, obschon dieses Anstellen so erkünstelt war, daß man es auf den ersten Blick durchschauen konnte.

»Danke«, fuhr der Gentleman in demselben Atem fort, »ich bin in der Tat ganz wohl. Mein Name ist Toots – Mister Toots.«

Der Kapitän erinnerte sich, den jungen Herrn bei der Hochzeit gesehen zu haben, und machte eine Verbeugung. Mr. Toots antwortete mit einem Kichern, und da er sich, wie gewöhnlich, in großer Verlegenheit befand, so atmete er tief auf und schüttelte dem Kapitän geraume Zeit die Hand, um sodann in Ermangelung eines anderen Auskunftsmittels in der herzlichsten Weise mit Rob, dem Schleifer, dasselbe Manöver vorzunehmen.

»Wenn Ihr nichts dagegen habt, so möchte ich gern ein Wörtchen mit Euch sprechen, Mr. Gills«, sagte endlich Toots mit überraschender Geistesgegenwart. »Ihr wißt, ich meine wegen Miß D.D.M.«

Mit entsprechender geheimnisvoller Würde schwenkte der Kapitän seinen Haken nach dem Hinterstübchen, wohin ihm Mr. Toots folgte.

»O, ich muß Euch um Verzeihung bitten«, fuhr Mr. Toots fort und blickte, sobald er auf dem für ihn neben den Kamin gerückten Stuhl Platz genommen, zu Kapitän Cuttles Gesicht auf. »Ihr werdet wohl den Preishahn nicht kennen, Mr. Gills – oder?«

»Den Preishahn?« versetzte der Kapitän.

»Ja, den Preishahn«, sagte Mr. Toots.

Der Kapitän schüttelte den Kopf, und Mr. Toots setzte nun auseinander, daß er auf die berühmte öffentliche Person anspiele, die sich und sein Vaterland in dem Kampf gegen den Nobby aus Shropshire mit Lorbeeren bedeckt habe. Aber diese Mitteilung schien den Kapitän nicht sonderlich aufzuklären.

»Weil er draußen ist, meine ich«, sagte Mr. Toots. »Doch es ist von keinem Belang, obschon er vielleicht tüchtig durchnäßt wird.«

»Ich kann ihm augenblicklich das Signal zugehen lassen«, versetzte der Kapitän.

»Recht; wenn Ihr so gut sein wollt, so kann er bei Eurem jungen Mann im Laden draußen bleiben«, kicherte Mr. Toots. »Es wäre mir lieb; denn Ihr müßt wissen, daß er sich leicht beleidigt fühlt, und die Nässe könnte seinem Urstoff nachteilig werden. Ich will ihn hereinrufen, Mr. Gills.«

Mit diesen Worten kehrte Mr. Toots nach der Ladentür zurück und entsandte in die Nacht hinaus ein eigentümliches Pfeifen, worauf ein stoischer Gentleman mit zottigem, weißem Überrock, einem flachrandigen Hut, sehr kurzem Haar, zerbeulter Nase und einem beträchtlichen Strich kahlen und unfruchtbaren Bodens hinter jedem Ohr eintrat.

»Setzt Euch, Preishahn«, sagte Mr. Toots.

Der schmiegsame Preishahn spuckte einige Grashalme aus, an denen er sich eben geletzt hatte, und versah sich aus dem Büschelchen, das er in der Hand trug, mit neuem Vorrat.

»Ist da nichts zum Wärmen zur Hand?« fragte der Prelshahn im allgemeinen. »Es ist eine schwere Sudelnacht für einen Mann, der von seiner Stellung leben muß.«

Kapitän Cuttle brachte ein Glas Rum herbei, das der Preishahn mit zurückgeworfenem Kopf wie in ein Faß leerte, nachdem er zuvor den kurzen Trinkspruch hingeworfen hatte: »Eure Gesundheit!« Mr. Toots und der Kapitän kehrten alsdann wieder nach dem Hinterstübchen zurück, wo sie abermals vor dem Feuer Platz nahmen.

»Mr. Gills –«, begann Mr. Toots.

»Halt da!« versetzte der Kapitän. »Mein Name ist Cuttle.«

Mr. Toots zeigte ein sehr verwirrtes Gesicht, während der Kapitän gravitätisch fortfuhr:

»Kapt’n Cuttle ist mein Name, England ist mein Vaterland, dies hier ist mein Aufenthalt und schütz‘ uns Gottes Vaterhand – Hiob«, fügte der Kapitän als Hinweisung auf seine Autorität bei.

»Aber könnte ich denn nicht Mr. Gills sehen?« fragte Mr. Toots; »denn – –«

»Wenn Ihr Sol Gills sehen könntet, junger Mann«, versetzte der Kapitän mit Nachdruck, indem er seine schwere Hand auf das Knie seines Gefährten legte – »wohlgemerkt, den alten Sol – mit leiblichen Augen – und wie Ihr so dasitzt – so würdet Ihr mir willkommener sein, als ein Wind vom Stern her einem von Windstille betroffenen Schiff. Aber Ihr könnt Sol Gills nicht sehen. Und warum könnt Ihr ihn nicht sehen?« fragte der Kapitän, der aus dem Gesicht des jungen Gentleman entnahm, daß er einen tiefen Eindruck auf diesen machte. »Weil er unsichtbar ist.«

Mr. Toots wollte in seiner Aufregung eben erwidern, daß es nicht von Belang sei, besann sich aber eines Besseren und sagte:

»Gott behüte mich!«

»Jener Mann«, fuhr Kapitän Cuttle fort, »hat vermöge eines Schreibens mir die Obhut über alles hier vertraut. Aber obschon er mir fast wie ein geschworener Bruder war, weiß ich doch nicht, wohin oder warum er gegangen ist. Tat er es, um seinen Neffen zu suchen, oder weil es nicht ganz richtig in seinem Kopf stand – das ist für mich ein ebenso großes Rätsel wie für Euch. Eines Morgens um Tagesanbruch machte er sich über Bord – ohne Wellenschlag, ohne Plätschern«, sagte der Kapitän. »Ich habe hoch und nieder nach ihm durchsucht, aber von Stund‘ an weder etwas von ihm sehen noch hören können.«

»Ach du mein Himmel, und Miß Dombey weiß nicht –« begann Mr. Toots.

»Nun, ich frage Euch als einen Menschen von Gefühl«, unterbrach ihn der Kapitän mit gedämpfter Stimme, »warum sollte sie es auch wissen? Warum es ihr früher kundtun, als bis es einmal nicht mehr zu verheimlichen ist? Das süße Geschöpf hing an dem alten Sol Gills mit einer Liebe, einer Freundlichkeit, einer – doch was nützt es, wenn ich alles dies ausführe! Ihr kennt sie?«

»Ich sollte es meinen«, kicherte Mr. Toots mit einem schuldbewußten Erröten, das sich über sein ganzes Gesicht breitete. »Dann brauche ich Euch nur zu bemerken«, sagte der Kapitän, »daß Ihr einen Engel kennt und von einem Engel bevorrechtet seid.«

Mr. Toots ergriff augenblicklich die Hand des Kapitäns und bat ihn um seine Freundschaft.

»Ich gebe Euch mein Ehrenwort«, sagte Mr. Toots angelegentlich, »daß ich es als eine große Gunst betrachten würde, wenn Ihr näher mit mir bekannt werden wolltet. Es wäre mir sehr lieb, mich Eures Umgangs weiter erfreuen zu dürfen, Kapitän, denn es fehlt mir in der Tat an einem Freund. Der kleine Dombey war bei den alten Blimbers mein Freund und wäre es noch, wenn er nicht im Grabe läge. Der Preishahn«, fuhr Mr. Toots in schüchternem Flüstern fort – »ist wohl ganz recht – bewundernswürdig in seiner Art – vielleicht der schärfste Mann von der Welt. Jeder sagt, es gebe nichts, dem er nicht gewachsen sei – aber ich weiß nicht – er ist doch nicht alles. Ja, Kapitän, sie ist ein Engel. Wenn es irgendwo einen Engel gibt, so ist er in Miß Dombey zu finden. Das habe ich immer gesagt. Und eben deshalb«, fügte Mr. Toots bei, »werde ich es Euch sehr Dank wissen, wenn Ihr meine Bekanntschaft fördern wolltet.«

Kapitän Cuttle nahm diesen Antrag in höflicher Weise entgegen, ohne sich jedoch durch die Annahme desselben eine Blöße zu geben, indem er nur bemerkte:

»Ja, ja, mein Junge. Wir wollen sehen – wir wollen sehen.«

Dann erinnerte er Mr. Toots an den augenblicklichen Zweck seiner Sendung durch die Frage, welchem Umstand er die Ehre seines Besuchs zu danken habe.

»Die Sache verhält sich so«, antwortete Mr. Toots, »daß ich eben von dem jungen Frauenzimmer komme – nicht von Miß Dombey, müßt Ihr wissen, sondern von Susanne.«

Der Kapitän nickte mit ernstem Ausdruck, als wolle er andeuten, daß er vor dieser Person die größte Achtung habe.

»Und ich will Euch sagen, wie das kam«, fuhr Mr. Toots fort. »Ihr wißt, ich mache bisweilen Miß Dombey meinen Besuch. Wohlgemerkt, ich gehe nicht ausdrücklich deshalb hin, sondern nur, weil ich sehr oft in die Gegend komme. Und bin ich einmal in der Nähe – nun, so spreche ich auch vor.«

»Natürlich«, bemerkte der Kapitän.

»Ja«, versetzte Mr. Toots. »So war ich heute nachmittag dort. Auf Ehre, ich glaube nicht, daß man sich eine Vorstellung machen kann, wie so ganz engelgleich Miß Dombey sich heute nachmittag ausnahm.«

Kapitän Cuttle antwortete mit einem Ruck seines Kopfes, der ausdrückte, andern Leuten dürfte dies schwer werden, ihm aber nicht.

»Als ich wieder herauskam«, sagte Mr. Toots, »führte mich das junge Frauenzimmer in der unerwartetsten Weise in die Speisekammer.«

Dem Kapitän schien für den Augenblick ein derartiges Benehmen anstößig zu sein; denn er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Mr. Toots mit mißtrauischem, wo nicht mit drohendem Blick.

»Da zog sie nun diese Zeitung hervor«, sagte Mr. Toots. »Sie teilte mir mit, sie habe diese den ganzen Tag vor Miß Dombey verborgen, weil über eine Person etwas darin stehe, die ihr und Miß Dombey wohl bekannt sei; und dann las sie mir die Stelle vor. Gut also. Dann sagte sie – wartet ein wenig – was war es doch, was sie zu mir sagte?«

Mr. Toots, der sich alle Mühe gab, alle seine Geisteskräfte der gedachten Frage zuzuwenden, begegnete jetzt zufällig den Augen des Kapitäns und wurde durch dessen strengen Ausdruck so verwirrt, daß es ihn nur eine um so peinlichere Anstrengung kostete, den Faden des beabsichtigten Vortrags wieder aufzufinden.

»O!« rief Mr. Toots nach langem Besinnen. »O ja! Sie sagte, sie hoffe, daß doch noch die Möglichkeit einer Unwahrheit dieses Berichtes vorhanden sei. Da sie nun nicht wohl selbst herauskommen könne, ohne daß es Miß Dombey auffalle, so solle ich zu Mr. Solomon Gills, dem Instrumentenmacher, einem Onkel des betreffenden Menschen, der in dieser Straße wohne, gehen und ihn fragen, ob er der Nachricht Glauben schenke oder ob er nichts in der City gehört habe. Sie sagte, wenn er nicht mit mir darüber sprechen könne, sei ohne Zweifel Kapitän Cuttle in der Lage. Beiläufig«, setzte Mr. Toots hinzu, als sei er eben auf diese Entdeckung gekommen, »Ihr – Ihr werdet wissen –«

Der Kapitän schaute nach der Zeitung in der Hand des jungen Gentleman hin und atmete schwer.

»Der Grund nun«, fuhr Mr. Toots fort, »warum ich so spät komme, liegt darin, daß ich zuerst bis Finchley hinauf mußte, um von der ungemein schönen Vogelmiere, die dort wächst, einigen Vorrat für Miß Dombeys Vogel zu holen. Dann bin ich sogleich hiehergeeilt. Ihr habt ohne Zweifel die Zeitung zu Gesicht bekommen?«

Der Kapitän, der sich wohl vor dem Zeitungslesen hütete, aus Furcht, es könnte ihm sein von Mrs. Stingers eingerücktes volles Signalement vor Augen kommen, schüttelte den Kopf.

»Soll ich Euch die Stelle vorlesen?« fragte Mr. Toots.

Der Kapitän machte ein Zeichen der Bejahung, und Mr. Toots las aus den Schiffsnachrichten, wie folgt:

»›Southampton. Die Barke Defiance, Kommandeur Henry James, ist heute mit einer Ladung von Zucker, Kaffee und Rum in unserm Hafen eingelaufen. Sie meldet, daß ste am sechsten Tag nach ihrer Abfahrt von Jamaica unter – dieser und dieser Breite, Ihr kennt das ja« – sagte Mr. Toots, nachdem er mit den Zahlen einen schwachen Anlauf genommen, ohne übrigens mit ihnen fertig zu werden.

»– – Breite«, wiederholte Toots mit einem verlegenen Blick auf den Kapitän, »und Länge so und so von einer Windstille befallen wurde. Bei dieser Gelegenheit bemerkte der Ausluger eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang einige Schifftrümmer, die in der Entfernung von nicht ganz einer halben Seemeile schwammen. Das Wetter war klar, und da die Barke ruhig lag, so wurde ein Boot ausgehißt und Befehl erteilt, von dem Wrack Kenntnis zu nehmen. Es bestand nur noch aus einigen großen Spieren und einem Teil des Haupttakelwerks einer englischen Brigg von ungefähr fünfhundert Tonnen Last nebst einem Teil des Stern, auf dem die Worte und Buchstaben ›Sohn und E–‹ noch deutlich zu lesen waren. Auf den schwimmenden Trümmern zeigte sich keine Spur von toten Menschen. Das Log der Defiance gibt an, daß in der Nacht eine Brise aufsprang und von dem Wrack nichts weiter gesehen wurde. Es kann jetzt keinem Zweifel mehr unterliegen, daß alle Mutmaßungen übel das vermißte Schiff ›Sohn und Erbe‹, ausgefahren aus dem Hafen von London und nach Barbados bestimmt, als erledigt anzusehen sind, daß besagtes Schiff bei dem letzten Orkan zugrunde ging und daß die gesamte an Bord befindliche Mannschaft ein Raub der Wellen wurde.«

Wie jeder Mensch, hatte auch Kapitän Cuttle nicht gewußt, wie viel Hoffnung trotz aller ungünstigen Verhältnisse ihm übrig geblieben war, bis ihr dieser Todesstoß versetzt wurde. Während diese Notiz vorgelesen wurde und auch noch einige Minuten nachher saß er da wie verstört, seinen Blick auf den bescheidenen Mr. Toots heftend; dann erhob er sich plötzlich, setzte den Hut, den er zu Ehren seines Besuchs auf den Tisch gelegt hatte, auf den Kopf, wandte sich ab und beugte sein Gesicht auf den Kaminmantel nieder.

»O, auf mein Ehrenwort«, rief Mr. Toots, dessen empfindsames Herz sich von dem Anblick der tiefen Betrübnis, die der Kapitän so unerwartet zeigte, tief ergriffen fühlte, »es ist doch eine gar schlimme Sache um die Welt. Immer stirbt jemand oder bereitet andern Leid. Wahrhaftig, wenn ich das gewußt hätte, würde ich mich nicht so danach gesehnt haben, in mein Eigentum zu kommen. Ich habe nie eine solche Welt gesehen; sie ist bei weitem ärger, als die bei Blimber.«

Kapitän Cuttle gab, ohne seine Stellung zu ändern, Mr. Toots durch ein Zeichen zu verstehen, daß er sich nicht an ihn kehren möchte. Dann wandte er sich, den Glanzhut bis auf die Ohren niedergedrückt, um und fuhr mit der Hand über sein braunes Gesicht.

»Wal’r, mein lieber Junge«, sagte der Kapitän, »lebe wohl! Ich habe dich geliebt, als du ein Kind, ein Knabe und ein Jüngling warst«, fuhr er fort und schaute dabei in das Feuer. »Er gehörte mir nicht an durch die Bande des Fleisches und Blutes – ich habe kein Kind gezeugt – aber bei dem Verlust Wal’rs fühle ich etwas von dem, was ein Vater empfindet, der einen Sohn verliert. Und warum?« fuhr der Kapitän fort. »Weil es sich hier nicht um einen einzigen Verlust handelt, sondern um ein ganzes Dutzend. Wo ist der kleine Schuljunge mit dem frischen Gesicht und den Locken, der in diesem Stübchen hier die ganze Woche über so lustig war, wie eine Spieluhr? Mit Wal’r untergegangen. Wo ist der prächtige Junge, den nichts ermüden und erschöpfen konnte, dessen Auge, wenn man ihn mit der Herzensfreude aufzog, so hell glänzte und dessen Gesicht so glühend errötete, daß es eine Lust war, es mit anzusehen? Mit Wal’r untergegangen. Wo ist der feurige Geist des Jünglings, der es nicht ertragen konnte, wenn der alte Mann nur eine Minute kleinmütig war, und sich nie um sich selbst kümmerte? Mit Wal’r untergegangen. Es ist nicht ein einziger Wal’r, sondern es waren ihrer ein ganzes Dutzend, die ich kannte und liebte, und alle hielten sich an seinem Halse fest, als er in den Wellen versank. Ach, sie leben noch immer in meinem Herzen!«

Mr. Toots blieb schweigend sitzen und faltete die Zeitung auf seinem Knie so klein wie möglich zusammen.

»Und Sol Gills«, sagte der Kapitän, ins Feuer schauend, »armer, deines Neffen beraubter alter Sol – wo bist du hingekommen! Du wurdest meiner Obhut anvertraut; denn seine letzten Worte waren: ›Habt acht auf meinen Onkel‹ Was ist dir wohl zugestoßen, seit du gingst und Ned Cuttle im Stich ließest, und wie soll ich deinetwegen mich verantworten, wenn er jetzt auf mich niederschaut? Sol Gills, Sol Gills«, fügte der Kapitän mit langsamem Kopfschütteln hinzu, »wenn du jetzt fern von der Heimat diese Zeitung zu Gesicht bekommst und niemanden, der Wal’r kannte, in der Nähe hast, daß er dir ein Wort des Trostes spende, so wird die Nachricht wohl wie eine Breitseitensalve auf dich wirken, und es muß mit dir hinuntergehen, den Schnabel voran!«

Mit einem schweren Seufzer wandte sich der Kapitän wieder an Mr. Toots, der Anwesenheit dieses Gentleman jetzt eine bewußte Aufmerksamkeit schenkend.

»Mein Junge«, sagte der Kapitän, »Ihr müßt dem jungen Frauenzimmer mitteilen, daß diese unglückliche Neuigkeit leider nur zu wahr ist. Ihr seht, über solche Dinge schreibt man keine Romane. Es ist im Schiffslog eingetragen, und ein zuverlässigeres Buch gibt es auf der ganzen Welt nicht. Morgen früh will ich einen Ausgang machen und Nachforschungen anstellen«, fuhr er fort, »obschon ich voraussehe, daß sie zu nichts führen werden. Es ist auch nicht möglich. Wenn Ihr morgen vormittag vorsprechen wollt, so sollt Ihr erfahren, was ich gehört habe. Aber sagt nur dem jungen Frauenzimmer von dem Kapt’n Cuttle, daß es vorbei sei. Vorbei!«

Und der Kapitän holte mit seinem Haken den Glanzhut herab, langte aus der Krone sein Schnupftuch heraus, wischte sich verzweifelnd seinen grauen Kopf und warf das Tuch mit der Gleichgültigkeit des höchsten Kleinmuts wieder hinein.

»O, ich versichere Euch«, sagte Mr. Toots, »es tut mir in der Tat schrecklich leid. Ihr dürft mir auf mein Wort glauben, obschon ich mit dem betreffenden Menschen nicht bekannt war. Glaubt Ihr, Miß Dombey werde darüber sehr betrübt sein, Kapitän Gills – Mr. Cuttle, wollte ich sagen?«

»Aber Gott behüte Euch«, entgegnete der Kapitän wie in einem Anflug von Mitleid mit Mr. Toots‘ Unschuld. »Als sie noch nicht größer als so war, hatten sie einander schon so lieb wie ein Paar junge Tauben.«

»Was Ihr da sagt!« versetzte Mr. Toots mit erheblich länger werdendem Gesicht.

»Sie waren ganz füreinander geschaffen«, fuhr der Kapitän traurig fort. »Aber was will das jetzt besagen!«

»Auf Ehre«, rief Mr. Toots, mit einem eigentümlichen Gemisch von linkischem Kichern und Aufregung herausplatzend, »jetzt tut es mir um so mehr leid. Ihr müßt wissen, Kapitän Gills, ich – bete Miß Dombey eigentlich an; – ich – bin wahrhaftig ganz krank vor Liebe zu ihr;« die Art, wie sich dieses Geständnis dem unglücklichen Mr. Toots entrang, bekundete das Ungestüm seiner Gefühle; »aber wozu nützte es, solche Empfindungen gegen sie zu hegen, wenn ich nicht schmerzlichen Anteil nähme an ihrer Betrübnis, was auch die Ursache davon sein mag? Ihr wißt, meine Neigung ist nicht selbstsüchtig«, fuhr Mr. Toots mit dem Vertrauen fort, das Kapitän Cuttle durch die unverhohlene Äußerung seiner Gefühle in ihm geweckt hatte, »sondern von der Art, Kapitän Gills, daß mir auf der ganzen Welt nichts Entzückenderes begegnen könnte, als wenn ich um Miß Dombeys willen überrannt – oder – oder – niedergetreten – oder von einem hohen Platz heruntergeworfen – oder sonst mit etwas Ähnlichem heimgesucht würde.«

Mr. Toots sprach alles das mit gedämpfter Stimme, um zu verhindern, daß seine Worte das eifersüchtige Ohr des Preishahns erreichten, der keinen großen Gefallen fand an den zarteren Regungen der menschlichen Natur. Die Anstrengung wie auch die Innigkeit seiner Gefühle hatte ihm das Rot bis in die Ohren hinausgejagt, und er bot deshalb in den Augen des Kapitän Cuttle ein so ansprechendes Schauspiel von uneigennütziger Liebe dar, daß ihn dieser gute Gentleman tröstend auf den Rücken klopfte und wohlgemut sein hieß.

»Danke Euch, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots. »Es ist sehr freundlich von Euch, daß Ihr in Eurer eigenen Trauer so sprecht, und ich bin Euch sehr verbunden dafür. Wie ich Euch schon früher sagte, ich bedarf in der Tat eines Freundes, und es würde mich freuen, wenn Ihr mich mit Eurer Bekanntschaft beehren wolltet. Obgleich es mir ganz gut geht«, fuhr Mr. Toots mit Nachdruck fort, »so könnt Ihr Euch gar nicht denken, was ich für ein unglückliches Tier bin. Der große Haufen – Ihr wißt es ja – hält mich für glücklich, wenn er mich mit dem Preishahn und ähnlichen ausgezeichneten Persönlichkeiten umgehen sieht. Aber ich bin elend. Ich leide um Miß Dombeys willen, Kapitän Gills. Es schmeckt mir kein Essen, ich habe keine Freude mehr an meinem Schneider, und wenn ich allein bin, muß ich oft weinen. Ich versichere Euch, es wird mir ein Trost sein, wenn ich morgen und noch oft und oft zu Euch kommen kann.«

Mit diesen Worten drückte Mr. Toots dem Kapitän die Hand, um sodann jene Spuren der Aufregung, die sich in der Schnelligkeit verwischen ließen, vor dem durchbohrenden Blicke des Preishahns zu verbergen und sich diesem trefflichen Gentleman in dem Laden wieder anzuschließen. Der Preishahn, der auf die Erhaltung seines Übergewichts eifersüchtig war, faßte den Kapitän Cuttle nicht aufs freundlichste ins Auge, als sich dieser von Mr. Toots verabschiedete, folgte übrigens seinem Gönner, ohne anderweitig seinen Groll zu bekunden. Der Kapitän blieb mit seinem Leid zurück, während Rob, der Schleifer, sich überglücklich fühlte, weil er die Ehre gehabt hatte, den Besieger des Nobby aus Shropshire fast eine halbe Stunde lang zu beaugenscheinigen.

Rob schlief schon lang in seinem Bett unter dem Ladentisch, während der Kapitän noch immer am Feuer saß, bis dieses zuletzt ausging, so daß er unter einer Flut von fruchtlosen Gedanken an Walter und den alten Sol nur noch die rostigen Kaminstangen ansehen konnte. Der Rückzug nach der windigen Kammer unter dem Dache des Hauses brache ihm keine Ruhe, und er stand am andern Morgen bekümmert und unerfrischt wieder auf.

Sobald die Geschäftslokale der City geöffnet wurden, verfügte sich der Kapitän nach dem Kontor von Dombey und Sohn. An jenem Morgen blieben die Fenster des Midshipman geschlossen. Der Weisung des Kapitäns gemäß nahm Rob, der Schleifer, die Läden nicht ab, und das Haus glich einem Hause des Todes.

Zufällig langte mit Kapitän Cuttle auch Mr. Carker an der Tür an. Der erstere erwiderte die Begrüßung des Geschäftsführers mit ernstem Schweigen und erlaubte sich, jenem nach dessen Zimmer zu folgen.

»Das ist eine schlimme Geschichte, Kapitän Cuttle«, begann Mr. Carker, mit dem Hut auf dem Kopf seine gewöhnliche Stellung vor dem Kamin einnehmend.

»Ihr habt die Nachricht erhalten, die gestern im Druck ausgegeben wurde, Sir?« fragte der Kapitän.

»Ja«, sagte Mr. Carker; »sie ist bei uns eingegangen. Ein ganz genauer Bericht. Die Versicherungsgesellschaft erleidet beträchtlichen Verlust. Wir sind sehr bekümmert wegen dieses Vorfalls. Doch da ist nicht zu helfen. So geht es im Leben.«

Mr. Carker beschnitt sich mit einem Federmesser die Nägel und lächelte dem Kapitän zu, der an der Tür stand und ihn ansah.

»Es tut mir ungemein leid um den armen Gay und um die Mannschaft«, fuhr Carker fort. »Wie ich höre, waren einige von unsern besten Leuten darunter. So geht es leider immer. Noch dazu viele Familienväter. Es liegt ein Trost in dem Gedanken, daß der arme Gay keine Familie hinterließ, Kapitän Cuttle.«

Der Kapitän rieb sich das Kinn und schaute den Geschäftsführer an. Dieser blickte nach den ungeöffneten Briefen, die auf dem Tisch lagen, und nahm eine Zeitung auf.

»Kann ich noch etwas Weiteres für Euch tun, Kapitän Cuttle?« fragte er, von dem Zeitungsblatte aufschauend und einen lächelnden, ausdrucksvollen Blick nach der Tür werfend.

»Ich wünschte, Sir, Ihr könntet mich über etwas beruhigen, das mir schwer auf dem Herzen liegt«, versetzte der Kapitän.

»So?« rief der Geschäftsführer. »Und worin besteht das? Ich muß Euch bitten, Kapitän Cuttle, Euer Anliegen schnell vorzubringen, wenn Ihr so gut sein wollt. Ich habe viel zu tun.«

»Ja, schaut, Sir«, entgegnete der Kapitän, einen Schritt näher kommend. »Ehe mein Freund Walter diese unglückselige Reise antrat – –«

»Ei, ei, Kapitän Cuttle«, fiel ihm der Geschäftsführer lächelnd ins Wort, »sprecht nicht in solcher Weise von unglückseligen Reisen. Wir haben hier nichts mit unglückseligen Reisen zu schaffen, mein guter Freund. Ihr müßt mit Eurer Tagesration schon sehr früh angefangen haben, Kapitän, wenn Ihr Euch nicht erinnert, daß mit allen Reisen Gefahr verbunden ist, sei es zu Wasser oder zu Land. Ihr beunruhigt Euch doch nicht mit der Mutmaßung, der Junge, wie heißt er doch, sei in dem schlechten Wetter umgekommen, das in diesen Geschäftslokalen um ihn zusammengeblasen wurde – oder? Pfui, Kapitän! Schlaf und Sodawasser sind die besten Heilmittel für derartige Beunruhigungen.«

»Mein Junge«, entgegnete der Kapitän langsam – »Ihr seid jedenfalls noch sehr jung gegen mich, und ich bitte daher nicht um Verzeihung, daß mir dieses Wort entschlüpfte – wenn Ihr bei dieser Sache einen Spaß findet, so seid Ihr nicht der Gentleman, für den ich Euch hielt. Und wenn Ihr nicht der Gentleman seid, für den ich Euch hielt, so mag ich wohl Ursache haben, unruhig zu sein. Nun, dies ist schon so, wie es ist, Mr. Carker. – Ehe der arme Bursche seiner Weisung gemäß abfuhr, sagte er mir, er wisse wohl, daß man bei dieser Versendung nicht sein Bestes oder eine Beförderung im Auge habe. Ich glaubte, er habe hierin unrecht, und sagte es ihm auch. Um mich nun persönlich zu überzeugen, bin ich, während gerade Euer Chef abwesend war, hierher gekommen, um Euch in höflicher Art ein paar Fragen vorzulegen. Ihr habt mir darauf unverhohlen geantwortet. Es ist jetzt freilich alles vorüber, und wo nicht mehr zu helfen ist, muß man sich eben zufriedengeben – Ihr seid ein belesener Mann, und wenn Ihr in dem Buch, wo es steht, nachsehen wollt, so knickt ein Ohr hinein; – aber es würde mir das Gemüt doch sehr erleichtern, wenn ich, mit einem Wort, noch einmal erführe, daß ich nicht im Irrtum war, daß ich meine Pflicht nicht verabsäumte, als ich dem alten Mann vorenthielt, was mir Wal’r sagte, und daß der Wind gut in sein Segel blies, als er die Fahrt nach Barbadoes Hafen antrat. Mr. Carker«, fuhr der Kapitän in der Gutmütigkeit seines Wesens fort, »als ich zum letztenmal hier war, hat alles ganz angenehm zwischen uns gestanden. Wenn es meinerseits diesen Morgen wegen des armen Jungen nicht ganz so ist und ich gegen eine Bemerkung von Euch, die mir nicht gefiel, unwillig wurde, so ist mein Name Ed’ard Cuttle, und ich bitte Euch um Verzeihung.«

»Kapitän Cuttle«, erwiderte der Geschäftsführer mit aller möglichen Höflichkeit, »ich muß Euch bitten, mir eine Gunst zu erweisen.«

»Und die bestünde, Sir?« fragte der Kapitän.

»Darin, daß Ihr die Güte habt, Euch zu entfernen«, erwiderte der Geschäftsführer, seinen Arm ausstreckend, »und Euer Kauderwelsch anderswo anzubringen.«

Jeder Knauf im Gesicht des Kapitäns wurde weiß vor Erstaunen und Entrüstung. Sogar der rote Streifen auf seiner Stirne verblich wie ein Regenbogen unter sich auftürmenden Wolken.

»Ich will Euch was sagen, Kapitän Cuttle«, fuhr der Geschäftsführer fort, indem er seinen Zeigefinger nach ihm hinschüttelte und, obschon noch immer in liebenswürdigem Lächeln, alle seine Zähne wies, »ich war zu mild gegen Euch, als Ihr das letztemal hierher kamet. Ihr gehört zu einem hinterlistigen und kühnen Menschenschlag. Ich hatte Nachsicht mit Euch, mein guter Kapitän, weil ich dem Jungen, wie heißt er doch, die Schmach ersparen wollte, daß er Hals über Kopf aus dem Haus geworfen wurde. Das ist einmal, aber nur ein einziges Mal geschehen. Jetzt macht, daß Ihr fortkommt, mein Freund.«

Der Kapitän blieb sprachlos an den Boden gewurzelt stehen.

»Seid ein verständiger Mensch und geht«, sagte der lächelnde Geschäftsführer, indem er seine Frackschöße aufnahm und mit gespreizten Beinen auf dem Teppich vor dem Kamin sich aufpflanzte. »Laßt es nicht darauf ankommen, daß man Euch hinausschafft oder zu sonstigen gewaltsamen Maßregeln seine Zuflucht nimmt. Wäre Mr. Dombey hier, Kapitän, so könntet Ihr vielleicht in schimpflicherer Weise abziehen müssen. Ich sage daher nur – geht!«

Der Kapitän, der seine schwere Hand auf die Brust legte, um sich durch einen tiefen Atemzug zu unterstützen, betrachtete Mr. Carker vom Kopf bis zu den Füßen und sah sich in dem kleinen Zimmer um, als begreife er nicht recht, wo oder in wessen Gesellschaft er sich befinde.

»Ihr seid schlau, Kapitän Cuttle«, fuhr Carker mit der leichten, lebhaften Freimütigkeit eines Mannes fort, der die Welt zu gut kennt, um sich durch die Entdeckung eines Mißverhaltens aufbringen zu lassen, wenn es nicht eben ihn selbst betrifft, »aber doch nicht schlau genug, als daß man Euch nicht einigermaßen auf den Grund sehen könnte – weder Ihr, noch Euer abwesender Freund. Was habt Ihr mit Eurem abwesenden Freunde angefangen, he?«

Der Kapitän legte wieder seine Hand auf die Brust, atmete aufs neue tief und beschwor sich selbst »beizuhalten«. Dies geschah jedoch nur in einem Flüstern.

»Ihr heckt hübsche kleine Anschläge aus, haltet hübsche kleine Beratungen, macht hübsche kleine Bestellungen und empfangt auch hübsche kleine Besuche, Kapitän – he?« sagte Carker, seine Stirne runzelnd, aber nichtsdestoweniger alle seine Zähne zeigend, »Und dann die Kühnheit hintendrein, hierherzukommen! Das verträgt sich schlecht mit Eurer Klugheit! Verschwörer, Gewährer von Unterschlüpfen und Ausreißer sollten dies besser verstehen. Wollt Ihr mir jetzt den Gefallen erweisen, Euch zu entfernen?«

»Mein Junge«, keuchte der Kapitän in erstickter, bebender Stimme und mit einem eigentümlichen Zucken in seiner gewichtigen Faust, »ich hätte Euch noch allerlei zu sagen, weiß aber im Augenblick nicht recht, wo die Worte untergestaut sind. Nach meiner Gissung ist mein junger Freund Wal’r erst gestern abend ertrunken, und seht Ihr, das greift mich an. Aber wir werden schon wieder einmal zusammenkommen, mein Junge«, fügte der Kapitän bei, indem er seinen Haken ausstreckte, »wenn uns Gott das Leben schenkt.«

»Dies wäre in der Tat nichts weniger als klug von Euch, mein guter Freund«, erwiderte der Geschäftsführer mit demselben Freimut; »denn ich sage Euch im voraus, und Ihr mögt Euch darauf verlassen, daß ich dann Eure Schliche aufdecken und Euch bloßstellen werde. Ich maße mir nicht an, ein moralischerer Mann sein zu wollen, als meine Nebenmenschen, mein guter Kapitän. Aber das Vertrauen dieses Hauses oder eines Angehörigen dieses Hauses soll nicht mißbraucht werden, solange ich Augen und Ohren habe. Guten Tag!« fügte Mr. Carker hinzu und nickte mit dem Kopf.

Kapitän Cuttle faßte Mr. Carker fest ins Auge – ein Blick, der ebenso fest von dem Geschäftsführer erwidert wurde – und verließ das Bureau. Mr. Carker dagegen blieb mit gespreizten Beinen vor dem Feuer stehen, so ruhig und selbstgefällig, als ob seine Seele nicht mehr Flecken zeige, als das reine Weiß seiner Wäsche und seine glatte, weiche Haut.

Als der Kapitän durch das äußere Kontor ging, schaute er nach dem Pulte hin, wo sonst der arme Walter zu arbeiten pflegte. Es saß jetzt ein anderer Junge dort mit einem Gesicht, fast so frisch und hoffnungsvoll, wie das seine, als sie in dem kleinen Hinterstübchen die berühmte vorletzte Flasche des alten Madeira anbrachen. Die Gedankenkette, die sich knüpfte, kam dem Kapitän sehr zustatten: denn sie milderte seinen Zorn und trieb ihm Tränen in die Augen.

In dem Bereich des hölzernen Midshipman wieder angelangt, setzte sich der Kapitän in eine Ecke des dunkeln Ladens nieder, und so groß auch seine Entrüstung war, konnte sie doch vor seinem Kummer nicht recht aufkommen. Die Leidenschaftlichkeit schien nicht nur das Andenken an den Toten zu kränken, sondern auch beim Hinblick auf diesen den Todesstoß zu erhalten und in nichts zu zerfallen. Was waren auch alle lebenden Schurken und Lügner der Welt im Vergleich mit der Ehrlichkeit und Treue eines einzigen toten Freundes?

In diesem Gemütszustand wollte dem ehrlichen Kapitän außer dem Unglück, das Walter betroffen, nichts klar werden, als daß mit dem jungen Freund fast seine ganze eigene Welt in den Wellen versunken sei. Wenn er sich mitunter schwere Vorwürfe machte, daß er je auf Walters unschuldige Täuschung eingegangen sei, dachte er wenigstens ebenso oft an den Mr. Carker, den keine Woge zurückbringen konnte, an den Mr. Dombey, der für ihn nun außer dem Bereich aller menschlichen Hilfe zu liegen schien, an die »Herzensfreude«, die ihm fortan für immer fernbleiben sollte, und an die liebliche Peg, dieses gut gebaute und schmuck aufgetakelte Liebchen, das auf ein Riff gelaufen und in bloße Reimbalken und Planken zerschellt war. Der Kapitän saß in dem dunkeln Laden, wo er, ohne an die ihm selbst widerfahrene Kränkung zu denken, solchen Vorstellungen nachging, und schaute dabei mit trauernden Blicken auf den Boden, als sehe er in Wirklichkeit die Trümmer an sich vorbeischwimmen.

Trotzdem vergaß er nicht, dem Andenken Walters diejenigen gebührenden Achtungsbeweise darzubringen, die in seiner Macht lagen. Er raffte sich auf, weckte Rob, den Schleifer, der in dem unnatürlichen Dämmerlicht fest schlief, und machte sich, den Hausschlüssel in der Tasche, mit dem erwähnten Diener auf den Weg nach einer von jenen bequemen und die schönste Auswahl darbietenden Trödelbuden im Ostende Londons, um dort ohne Verzug zwei Traueranzüge zu kaufen – einen für Rob, den Schleifer. Dieser Anzug war übrigens unglücklicherweise viel zu klein; und einen für sich selbst, der bei weitem zu groß war. Ferner versah er Rob mit jener um ihrer Symmetrie und Brauchbarkeit willen so sehr beliebten Hutart, die unter dem Namen »Südwester« ein glückliches Mittelglied bildet zwischen der Kopfbedeckung eines Matrosen und der eines Kohlenträgers, demnach in dem Geschäft des Instrumentenhandels als eine außerordentliche Neuigkeit zu betrachten war. Diese Anzüge paßten der Erklärung des Verkäufers nach so herrlich, wie dies nur durch ein seltenes Zusammentreffen von günstigen Umständen möglich wurde, und mit ihrem Schnitt war seit Menschengedenken nichts zu vergleichen. Darein hüllten sich ohne Zögern der Kapitän und Rob, in ihrem neuen Putz ein Schauspiel darbietend, das die Bewunderung aller Zuschauer auf sich zog.

In solcher Weise war der Kapitän verändert, als Mr. Toots seinen zweiten Besuch machte.

»Ich bin für den Augenblick ganz niedergeschlagen, mein Junge«, sagte der Kapitän, »und kann nur bestätigen, daß die Neuigkeiten sehr schlimm sind. Bedeutet dem Mädchen, sie möge die Nachricht ihrer jungen Lady beizubringen suchen, und sagt ihr, sie beide sollen nicht mehr an mich denken – das heißt, wohlverstanden – nicht, daß ich nicht an sie denken wolle, wenn die Nacht kommt auf den Flügeln des Orkans und die Wellen sich berghoch auftürmen. Schlagt dies im Doktor Watts nach, Bruder, und wenn Ihr gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«

Der Kapitän behielt sich vor, die Freundschaftserbietungen des jungen Gentleman in nähere Erwägung zu ziehen, und so wurde Mr. Toots entlassen. Der wackere Mann fühlte sich in der Tat so niedergeschlagen, daß er halb und halb beschloß, von Stund‘ an keine weitere Vorsichtsmaßregel zur Abwehr eines Überfalls der Mrs. Mac Stinger zu beobachten, sondern sich dem Zufall zu überlassen und gelassen hinzunehmen, was da kommen möge. Mit Einbruch der Nacht trat aber auch eine bessere Stimmung ein, und er sprach mit Rob, dem Schleifer, dessen Achtsamkeit und Treue er gelegentlich lobte, viel über Walter. Rob errötete nicht über das ihm von dem Kapitän gespendete Lob, sondern sah seinen Gebieter nur mit großen Augen an, schneuzte sich in geheuchelter Teilnahme und stellte sich ganz fromm an, indem er wie ein echter junger Spion mit vielversprechender Arglist tat, als bewahre er jedes gesprochene Wort wie einen teuren Schatz in seinem Innern.

Rob war in sein Bett gekrochen und lag schon in tiefem Schlaf. Der Kapitän putzte das Licht, setzte seine Brille auf – er meinte, das gehöre zum Instrumentenhandel, obschon seine Augen so gut waren, wie die eines Sperbers – und schlug im Gebetbuch die Begräbnisgebete auf. So las er denn in dem kleinen Hinterstübchen leise vor sich hin, machte hin und wieder halt, um sich die Augen zu wischen, und übergab im Geiste treuer Einfalt Walters Leiche der Tiefe.

Sechstes Kapitel.


Sechstes Kapitel.

Pauls zweite Verwaisung.

Am Morgen kamen Polly so allerlei Bedenken, daß sie ohne das unaufhörliche Drängen ihrer schwarzäugigen Gefährtin alle Gedanken an den Ausflug aufgegeben und förmlich um die Erlaubnis sternchenland.com gebeten haben würde, Nummer 147 unter dem unheimlichen Schatten von Mr. Dombeys Dach zu sehen. Aber Susanna, die persönlich auf den Spaziergang erpicht war, konnte es durchaus nicht ertragen, wenn ihre eigenen Erwartungen getäuscht würden, wie standhaft sie sich auch bei den fehlgeschlagenen Hoffnungen anderer zu benehmen wußte. Sie brachte gegen diesen späteren Gedanken so viele scharfsinnige Zweifel, dann wieder so viele sinnreiche Gründe für die ursprüngliche Absicht zum Vorschein, daß Mr. Dombey seinem Hause kaum den stattlichen Rücken gedreht hatte, um seinen täglichen Gang nach der City zu machen, als sich sein nichtsahnender Sohn schon auf dem Wege nach Staggs Gärten befand.

Die vielverheißende Lokalität lag in einer Vorstadt, die bei den Bewohnern von Staggs Gärten unter dem Namen Camberling Town bekannt war – eine Bezeichnung, die die Fremdenkarte von London, die zwecks angenehmer und bequemer Benutzung auf Taschentücher gedruckt ist, mit einigem Schein von Grund in Cambden Town zusammengezogen hat. Dahin nun lenkten die zwei Wärterinnen, von ihren Pfleglingen begleitet, ihre Schritte. Richards trug natürlich den kleinen Paul, und Susanna, die Florence an der Hand führte, versetzte ihrer Mündel von Zeit zu Zeit so viele Rucke und Stöße, als ihr zweckdienlich schienen.

Der erste Stoß eines großen Erdbebens hatte eben damals diese ganze Gegend bis in ihren Mittelpunkt auseinander gerissen. Spuren seines Verlaufs waren noch zu jeder Seite sichtbar. Man bemerkte eingestürzte Häuser, zerrissene Straßen, tiefe Furchen und Gruben in dem Boden, Aufwürfe von Erde und Lehm, unterminierte Häuser, die wankend dastanden und durch schweres Holzgebälk abgestützt wurden. Hier lag ein Chaos von übereinander gestürzten Karren unten an einem steilen unnatürlichen Hügel, dort sah man Schätze von Eisen eingeweicht und rostend an einer Stelle, die zufälligerweise ein Teich geworden war. Überall befanden sich Brücken, die nirgends hinführten, völlig unpassierbare Straßen, babylonische Türme von Schornsteinen, die die Hälfte ihrer Höhe verloren hatten, zackige Holzhütten und Verzäunungen in den unwahrscheinlichsten Lagen, Gerippe von zerrissenen Baracken, Bruchstücke unvollendeter Mauern und Bogen, Schichten von Gerüsten, eine wahre Wildnis von Backsteinen, riesige Formen von Kranen und Dreifüßen, die über nichts ihre Beine breiteten. Hunderttausend unvollendete Formen und Substanzen, wild untereinander gemengt, das Unterste zu oberst gekehrt, bald in die Erde tauchend, bald in die Luft hinausstrebend oder im Wasser modernd, zeigten sich allenthalben wie die unverständlichen Bilder eines Traumes. Heiße Quellen und feurige Eruptionen, die gewöhnlichen Begleiter von Erdbeben, trugen dazu bei, die Verwirrung der Szene zu erhöhen. Kochendes Wasser zischte und prudelte in verfallenen Mauern, aus denen auch der Glanz und das Getöse von Flammen hervorging. Aschenhaufen benahmen den Straßen ihre Rechte und veränderten ganz und gar den gewohnten regelmäßigen Gang in der Umgegend. sternchenland.com Mit einem Worte, die noch uneröffnete und unvollendete Eisenbahn nahm ihren Fortgang, aus dem Herzen aller dieser wilden Unordnung glatt sich weiterstreckend im mächtigen Lauf der Zivilisation und des Fortschritts.

Aber bis jetzt war die Umgegend noch schüchtern und wagte es nicht, die Eisenbahn sich zuzueignen. Ein paar kecke Spekulanten hatten Straßen projektiert, einer davon sogar ein wenig gebaut, unter dem Schmutz und der Asche aber innegehalten, um sich noch eines weiteren zu besinnen. Eine Schenke, die noch nach Mörtel roch und ohne Bewurf war, hatte sich das Eisenbahn-Wappen zum Schild gewählt; die Unternehmung war vielleicht voreilig – indes stand doch zu hoffen, daß die Bahnarbeiter trinken wollten. So war eine Bierkneipe zum Zuspruchshaus für Grabarbeiter und die alte Garküche zum Eisenbahn-Speisehaus geworden, wo man täglich gebratene Schweinshaxen haben konnte; auch gab es noch weitere Umwandlungen aus eigennützigen Motiven einer ähnlich plötzlichen und populären Art. Die Vermieter von Zimmern und Schlafstätten zeigten sich ebenso wohlwollend, fanden aber aus den gleichen Gründen kein sonderliches Vertrauen, da man im allgemeinen noch nicht recht an das Ganze glaubte. Da sah man muffige Felder, Kuhställe, Dünger- und Kehrichthaufen, Gräben, Gärten und Plätze zum Teppichausklopfen sozusagen an der Tür der Eisenbahn. Zur Austernzeit Hügel von Austernschalen, oder zur Hummerzeit Berge von Hummernscheren, stets aber zerbrochenes Töpfergeschirr und welke Kohlblätter türmten sich an den hohen Plätzen auf. Pfosten, Geländer, alte Warnungstafeln für unberufene Personen, Hinterseiten von schlechten Häusern und Striche verkümmerter Vegetation stierten grimmig nach der Bahn hin; nichts war durch sie gebessert worden oder wollte um ihrerwillen besser sein. Wenn der jämmerliche Grund in der Nähe hätte lachen können, so würde er, wie so viele von den armseligen Nachbarn, seine Verachtung in dieser Weise ausgedrückt haben.

Staggs Gärten waren über die Maßen merkwürdig. Sie bestanden aus einer kleinen Reihe von Häusern mit kleinen, schmutzigen Plätzen davor, die mit alten Türen, Faßdauben, Fetzen von Teerleinwand oder abgestorbenen Hecken verzäunt waren, während die Lücken durch bodenlose Blechkessel und ausgediente eiserne Kaminschirme ausgefüllt wurden. Da zogen die Staggs-Gärtner Feuerbohnen, hielten Vögel und Kaninchen, bauten morsche Gartenhäuschen (eines aus einem alten Boot), trockneten Wäsche und rauchten Pfeifen. Einige waren der Ansicht, die Staggs-Gärten führten den Namen von einem verstorbenen Kapitalisten, einem gewissen Mr. Staggs, der sie zu seinem Vergnügen angelegt hätte. Andere von mehr ländlichem Geschmack meinten, die Bezeichnung rühre aus jenen Zeiten her, als die mit Geweihen versehene Herde, unter dem Namen Stags (Hirsche) bekannt, diese schattigen Räume besucht habe. Sei dem nun wie ihm wolle, die dortige Bevölkerung betrachtete Staggs Gärten als einen geheiligten Hain, der nicht durch Eisenbahnen verderbt sternchenland.com werden sollte, und lebte der völligen Überzeugung, sie würden alle derartige lächerliche Erfindungen lang überleben. Ja, der Hauptkaminfeger an der Ecke, der zugestandenermaßen der erste unter den Lokal-Politikern in den Gärten war, hatte öffentlich erklärt, am Tage der Eröffnung der Eisenbahn, wenn diese je stattfinde, müßten zwei von seinen Burschen auf die Schornsteine seines Hauses steigen und von dort aus das Fehlschlagen der Unternehmung mit Spott und Hohn begrüßen.

Nach diesem ungeheiligten Platz also, dessen Namen sogar Mrs. Chicks ihrem Bruder sorgfältig verschwiegen hatte, wurde jetzt der kleine Paul vom Fatum und von Richards getragen.

»Dort ist mein Haus, Susanna«, sagte Polly, und zeigte mit dem Finger darauf.

»Das ist es wirklich, Mrs. Richards?« versetzte Susanna herablassend.

»Und wahrhaftig, ich sehe meine Schwester Jemima an der Tür,« rief Polly, »mit meinem süßen köstlichen Bübchen auf den Armen!«

Dieser Anblick beflügelte Pollys Ungeduld, so daß sie ihre Schritte zu einem eigentlichen Rennen beschleunigte. Sie stürzte auf Jemima zu und hatte im Nu die beiden Kleinen ausgewechselt – zum unaussprechlichen Erstaunen der jungen Dame, auf welche der Erbe der Dombeys wie aus den Wolken herabgefallen zu sein schien.

»Ei, Polly!« rief Jemima. »Du! Was hast du da für eine Verwechslung vorgenommen? Wer hätte das je gedacht! Komm mit herein, Polly. Und wie gut du aussiehst! Die Kinder werden ganz außer sich geraten, wenn sie dich sehen, Polly.«

Und so war es auch, wenn anders man einen Schluß ziehen durfte aus dem Geschrei, das sie jetzt anfingen, und aus der Art, wie sie auf Polly zustürzten, um sie nach einem Schemel in der Kaminecke zu zerren, wo ihr Apfelgesicht plötzlich der Mittelpunkt eines Häufleins von Borsdorferäpfeln wurde, die ihre rosigen Wangen dicht daran schmiegten – alle augenscheinlich Erzeugnisse desselben Baumes. Was Polly betraf, so war sie ebenso laut und ungestüm, wie die Kinder, und in dieser Verwirrung trat erst eine Pause ein, als sie kaum noch zu Atem kommen konnte, ihr Haar zerzaust um das glühende Gesicht hing und ihr neues Taufkleid schon recht sehr zerknittert war. Aber auch dann noch blieb der zweitjüngste Toodle auf ihrem Schoß, ihren Hals mit seinen Armen fest umfassend, während der nächst ältere Toodle auf die Stuhllehne stieg und, das eine Bein in die Luft streckend, verzweifelte Anstrengungen machte, seine Mutter um die Ecke herum zu küssen.

»Seht, da ist eine hübsche kleine Dame zu euch auf Besuch gekommen«, sagte Polly. »Und wie ruhig sie ist! Ist es nicht ein hübsches Mädchen?«

Diese Hindeutung auf Florence, die von der Tür aus der Szene zugesehen hatte, wandte die Aufmerksamkeit der jüngeren Toodles ihr zu und übte in gleicher Weise die glückliche Wirkung, eine förmliche sternchenland.com Begrüßung der Miß Nipper herbeizuführen, die es schon wurmte, daß sie so vernachlässigt wurde.

»O kommt doch herein und nehmt ein Weilchen Platz, Susanna, ich bitte«, sagte Polly. »Das hier ist meine Schwester Jemima. Jemima, ich wüßte nicht, was ich je mit mir selbst anfangen sollte, wenn Susanna Nipper nicht wäre; ohne sie würde ich jetzt nicht hier sein.«

»O, so nehmt doch Platz, Miß Nipper, wenn ich bitten darf«, ergriff jetzt Jemima das Wort.

Susanna setzte sich mit stattlicher und zeremoniöser Miene auf das äußerste Ende eines Stuhls.

»In meinem Leben bin ich nie so erfreut gewesen, jemand zu sehen; ja wahrhaftig nicht. Miß Nipper«, sagte Jemima.

Susanna erweichte sich ein wenig, rückte auf ihrem Stuhl etwas weiter herauf und lächelte in Gnaden.

»Nehmt doch Euern Hut ab und tut, als ob Ihr zu Hause wäret. Miß Nipper«, bat Jemima. »Leider ist es nur ein armes Haus, und Ihr seid an dergleichen nicht gewöhnt; aber ich bin überzeugt, daß Ihr Nachsicht haben werdet.«

Durch dieses unterwürfige Benehmen wurde die Schwarzäugige so erweicht, daß sie die kleine Miß Toodle, welche an ihr vorbeiging, beim Händchen faßte und sie unverweilt nach Banbury-Croß führte.

»Aber wo ist mein netter Junge?« fragte Polly. »Mein armer Knabe? Ich bin hierher gekommen, um zu sehen, wie er sich in seinen neuen Kleidern ausnimmt.«

»Ach, wie schade!« rief Jemima. »Es wird ihm das Herz brechen, wenn er hört, daß seine Mutter hier war. Er ist in der Schule, Polly.«

»Schon angefangen?«

»Ja. Gestern ging er zum ersten Male hin, weil er fürchtete, von dem Lernen etwas zu verlieren. Aber es ist ein halber Vakanztag, Polly; wenn du nur hier bleiben könntest, bis er nach Hause kommt – du und Miß Nipper«, fügte Jemima bei, sich noch rechtzeitig der Würde der Schwarzäugigen erinnernd.

»Und wie sieht er aus, Jemima? Gott segne ihn!« stotterte Polly.

»Nun, er sieht wahrhaftig nicht so schlimm aus, als du wohl glauben magst«, erwiderte Jemima.

»Ah!« sagte Polly bewegt, »ich weiß, seine Beine müssen zu kurz sein.«

»Seine Beine sind freilich kurz«, erwiderte Jemima, »namentlich hinten; aber sie werden mit jedem Tag länger, Polly.«

Das war eine Art Trost von langsamer Aussicht, aber die Heiterkeit und Laune, mit welcher er angebracht ward, verlieh ihm einen Wert, den er dem Wesen nach nicht besaß. Nach einem kurzen Schweigen fragte Polly etwas aufgeräumter:

»Und wo ist der Vater, liebe Jemima?« – denn unter dieser sternchenland.com patriarchalischen Bezeichnung wurde in der Familie Mr. Toodle verstanden.

»Da haben wir es wieder!« sagte Jemima. »Wie schade! Der Vater hat heute morgen sein Mittagessen mitgenommen und kommt vor Nacht nicht nach Hause. Aber er spricht immer von dir, Polly, und erzählt den Kindern von dir. Er ist die friedliebendste, geduldigste und frohherzigste Seele auf der Welt, wie er es stets war und sein wird!«

»Ich danke dir, Jemima«, rief die einfache Polly, erfreut über diese Mitteilung, wie sehr ihr auch seine Abwesenheit leid tat.

»O, du brauchst mir nicht zu danken, Polly«, versetzte ihre Schwester, indem sie ihr einen schallenden Kuß auf die Wangen drückte und dann wohlgemut mit dem kleinen Paul umhertanzte. »Ich sage bisweilen das nämliche auch von dir, und es kommt mir von Herzen.«

Trotz der zweifachen getäuschten Erwartung war es unmöglich, einen Besuch, der solche Aufnahme gefunden hatte, im Lichte eines Fehlgangs zu betrachten. Die Schwestern sprachen daher voll Hoffnung über Familienangelegenheiten, über Sieder und über alle seine Brüder und Schwestern, während die Schwarzäugige, nachdem sie mehrere Gänge nach Banbury-Croß und zurück gemacht hatte, das Möbelwerk, die Schwarzwälderuhr, den Wandschrank, das Schloß auf dem Kaminsims mit seinen roten und grünen Fenstern, die das Licht einer innen angezündeten Kerze durchstrahlen lassen konnten, und die paar kleinen schwarzen Samtkätzchen musterte, von denen jedes einen Damenbeutel im Munde hatte. Die letzteren Stücke galten unter den Staggs Gärtnern als wahre Wunderwerke der nachahmenden Kunst. Da die Unterhaltung bald allgemein wurde, damit der Schwarzäugigen auch ihr Anteil zukommen möchte, so erzählte diese junge Dame in sarkastischer Weise Jemima alles, was sie von Mr. Dombey, seinen Aussichten, seiner Familie, seinem Treiben und Charakter wußte. Dann ging sie auf ein genaues Inventar ihrer eigenen Garderobe und auf eine Aufzählung ihrer hauptsächlichsten Verwandten und Freundinnen über. Nachdem sie in dieser Weise ihr Herz erleichtert hatte, nahm sie teil an den Garnelen und dem Porter, und befand sich in der Stimmung, ewige Freundschaft zu schwören.

Die kleine Florence versäumte gleichfalls nicht, diese Gelegenheit zu benützen; denn nachdem sie unter der Führung der beiden jungen Toodles einige Hexenschirme und andere Merkwürdigkeiten der Gärten inspiziert hatte, ließ sie sich mit ihnen wohlgemut auf die Herstellung eines zeitweiligen Damms durch eine kleine grüne Lache ein, die sich in einer Ecke gesammelt hatte. Sie war noch eifrig in diesem Geschäft begriffen, als sie von Susanna gesucht und aufgefunden wurde. Letztere hatte selbst unter dem humanisierenden Einfluß der Garnelen ihre Pflicht nicht vergessen und ergoß sich jetzt unter vielen Daumenstößen in eine moralische Rede über ihre entartete Natur, indem sie ihr zugleich Gesicht und Hände wusch und sternchenland.com die Prophezeiung beifügte, sie werde die grauen Haare ihrer ganzen Familie mit Leidwesen ins Grab bringen. Nach einiger Verzögerung, die ihren Grund in einem vertraulichen Gespräch zwischen Polly und Jemima über Geldangelegenheiten hatte (natürlich wurde das eine Treppe weiter oben abgemacht), fand wieder ein Austausch der Säuglinge statt, da Polly die ganze Zeit über ihr eigenes Kind für sich behalten und den kleinen Paul Jemima überlassen hatte. Dann verabschiedeten sich die Gäste.

Die jungen Toodles waren zuvor als Opfer einer frommen List insgesamt nach dem Laden eines benachbarten Spezereihändlers geschickt worden, unter dem ostensibeln Vorwand, sich für einen Penny etwas zu kaufen. Sobald die Küste frei war, flüchtete sich Polly. Jemima rief ihr noch nach, daß sie, wenn sie auf dem Rückwege die Citystraße einschlagen würden, sicher den von der Schule zurückkommenden Sieder treffen würden.

»Glaubt Ihr, wir haben noch Zeit, den kleinen Umweg in dieser Richtung zu machen, Susanna?« fragte Polly, als sie haltmachten, um Atem zu schöpfen.

»Warum nicht, Mrs. Richards?« entgegnete Susanna.

»Ihr wißt, es ist bald Mittagessenszeit«, sagte Polly.

Aber das bereits eingenommene Lunch machte ihre Begleiterin mehr als gleichgültig gegen diese gewichtige Rücksicht; sie nahm die Sache auf die leichte Achsel, und so wurde denn der Beschluß gefaßt, sich an dem kleinen Umwege nicht zu stoßen.

Des armen Sleders Leben war seit dem gestrigen Morgen durch den Umstand, daß er das Kostüm der barmherzigen Schleifer trug, sehr leidig geworden, da die Straßenjugend gewaltigen Anstoß daran nahm. Kein junger Galgenstrick konnte den Anblick desselben auch nur einen Moment aushalten, ohne sich auf den harmlosen Träger zu stürzen und ihm einen Possen zu spielen. Seine soziale Existenz glich mehr der eines Christen aus den ersten Zeiten, als der eines unschuldigen Kindes aus dem neunzehnten Jahrhundert. In den Straßen hatte man ihn gesteinigt, man warf ihn in die Gossen, besudelte ihn mit Kot oder drückte ihn ungestüm an die Eckpfosten. Wildfremde Jungen hatten ihm seine gelbe Kappe vom Kopf gerissen und sie in die Luft geworfen. Seine Beine mußten sich nicht nur Verbal-Kritiken und Schmähungen gefallen lassen, sondern wurden auch handgreiflich behandelt und gezwickt. Schon am Morgen hatte er auf seinem Wege nach der Anstalt der Schleifer ein vollkommen unerbetenes blaues Auge davongetragen und war deshalb von dem Schulmeister, einem hochbetagten alten Schleifer von wilder Gemütsart, den man zum Lehrer ernannt hatte, weil er nichts wußte, zu nichts taugte und mit seinem grausamen Rohr alle rundbäckigen kleinen Jungen in beharrlichem Schrecken erhalten konnte – in Strafe genommen worden.

So kam es denn, daß Sieder auf dem Heimwege die unbegangensten Pfade aufsuchte und durch enge Wege und Hintergassen schlich, um seinen Quälgeistern auszuweichen. Als er endlich in die sternchenland.com Hauptstraße einbiegen mußte, führte ihn sein Mißgeschick unter einen Bubenhaufen, der unter der Anführung eines wilden Metzgerlehrlings auf der Lauer lag, ob sich nichts ergebe, wodurch sie sich eine angenehme Aufregung verschaffen könnten. Da sie nun plötzlich einen barmherzigen Schleifer mitten unter sich sahen – sozusagen unerklärlicherweise ihren Händen überantwortet – stimmten sie ein allgemeines Gejohl an und stürzten auf ihn los.

Zu gleicher Zeit fügte es sich, daß Polly des Wegs kam. Sie war bereits eine gute Stunde gegangen und hatte hoffnungslos die Straße vor sich hinaufgesehen, so daß sie schon meinte, es nütze nichts, weiter zu gehen, als sie plötzlich diese Szene gewahr wurde. Kaum hatte sie ihren Knaben erkannt, als sie einen hastigen Schrei ausstieß, Master Dombey der Schwarzäugigen aufdrang und unter den Haufen stürzte, um ihren unglücklichen Sohn zu retten.

Überraschungen kommen gleich dem Unglück selten allein. Die erstaunte Susanna Nipper und ihre beiden jungen Pflegebefohlenen mußten, noch ehe sie wußten, was um sie vorging, von den Umstehenden vor den Rädern eines vorbeifahrenden Wagens weggerissen werden, und im gleichen Augenblick (es war Markttag) ließ sich der donnernde Lärmruf »ein wütender Ochse!« vernehmen.

Die wilde Verwirrung vor sich, Leute, die schreiend auf und ab rannten, Räder, die sie überfahren wollten, sich balgende Knaben, heranjagende tolle Stiere und die Amme, welche inmitten dieser Gefahren fast in Stücke gerissen wurde – alles das war zuviel für Florence; sie fing an zu schreien und lief davon. Sie lief fort, bis sie nicht mehr konnte, und drängte Susanna, dasselbe zu tun; als sie aber endlich haltmachte und daran dachte, daß sie die andere Amme zurückgelassen hatte, machte sie unter Händeringen und mit einem Schrecken, der sich nicht beschreiben läßt, die Entdeckung, daß sie ganz allein war.

»Susanna! Susanna!« rief sie, im Übermaß ihrer Angst die Händchen zusammenschlagend. »O, wo sind sie! wo sind sie!«

»Wo sie sind?« sagte ein altes Weib, die von der andern Seite des Weges humpelnd auf sie zukam. »Warum bist du ihnen entlaufen?«

»Ich fürchtete mich«, antwortete Florence. »Ich wußte nicht, was ich tat. Ich meinte, sie seien bei mir. Wo sind sie?«

Die Alte nahm sie bei der Hand und sagte:

»Ich will es dir zeigen,«

Es war ein sehr häßliches altes Weib mit roten Augenrändern und einem Munde, der immer mummelnde Bewegungen machte, auch wenn sie nicht sprach. Ihr Anzug war erbärmlich, und sie trug einige Felle über dem Arm. Allem Anschein nach war sie, wenigstens eine Strecke weit, Florence nachgegangen, denn sie konnte fast kaum zu Atem kommen. Ihr Schnauben machte sie noch häßlicher, und ihr welkes gelbes Gesicht samt dem Halse verzog sich dabei zu allen Arten von Verzerrungen.

»Du brauchst dich jetzt nicht mehr zu fürchten«, sagte die Alte, sie fest am Handgelenk haltend, »Komm nur mit mir.« sternchenland.com

»Ich – ich kenne Euch ja nicht. Wie heißt Ihr?« fragte Florence.

»Mistreß Brown«, sagte die Alte. »Die gute Mrs. Brown.«

»Wohnt Ihr in der Nähe?« fragte Florence, die sich wegführen ließ.

»Susanna ist nicht weit«, sagte die gute Mrs. Brown; »und die andern kommen gleich hinterher.«

»Ist jemand verletzt worden?« fragte Florence.

»O, nicht im geringsten«, entgegnete die gute Mrs. Brown.

Als die Kleine das hörte, vergoß sie Freudentränen und folgte der Alten bereitwillig, obschon sie nicht umhin konnte, im Weitergehen nach dem Gesicht und namentlich nach dem geschäftigen Mund der Alten aufzusehen, wobei sie sich Gedanken machte, ob die böse Mrs. Brown, wenn es anders eine solche Person gab, wohl eine Ähnlichkeit mit ihr haben könne.

Ihr Weg führte sie nicht sehr weit, wohl aber an manchen sehr unbequemen Plätzen, z. B. an Backsteinlagern und Ziegeleien vorbei; dann aber bog die Alte seitwärts in eine schmutzige Straße ein, wo der Kot in der Mitte des Wegs tiefe schwarze Fahrrinnen bildete. Sie machte halt vor einem schäbigen Häuschen, das so dicht verschlossen war, als es eine Hütte von Rissen und Spalten nur sein konnte. Nachdem sie mit einem Schlüssel, den sie aus ihrem Hut genommen, die Tür geöffnet hatte, schob sie das Kind vor sich her nach einem Hinterstübchen, wo ein großer Haufen von verschiedenfarbigen Lumpen auf dem Boden lag, daneben ein Berg von Knochen und ein Haufen Asche oder gesiebten Staubes. Möbelwerk war nirgends zu sehen, und Decke sowohl als Wände hatten eine völlig schwarze Farbe.

Die Kleine war so erschrocken, daß sie nicht zu sprechen vermochte und einer Ohnmacht nahe war.

»Na, sei kein Gänslein«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sie durch ein tüchtiges Rütteln wieder zum Leben brachte. »Ich will dir ja nichts tun. Setze dich auf die Lumpen dort.«

Florence gehorchte und streckte in stummer Bitte die gefalteten Hände aus.

»Ich will dich nicht dabehalten, nein, nicht einmal eine Stunde«, sagte Mrs. Brown. »Hast du mich verstanden?«

Mit großer Mühe konnte das Kind nur ein einfaches Ja herausbringen.

»Dann bring‘ mich nicht in Ärger«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sich auf den Knochenhaufen niedersetzte. »Ich sage dir, wenn du mich nicht reizest, soll dir nichts geschehen; tust du das aber, so bring‘ ich dich um. Ich kann dich umbringen zu jeder Zeit – ja selbst wenn du zu Haus in deinem Bette liegst. Jetzt laß hören, wer du bist, was du bist und dergleichen.«

Das Drohen und die Versprechungen der Alten, die Furcht, ihr Anstoß zu geben, und die bei einem Kind so selten vorkommende, aber bei Florence fast natürliche Gewohnheit, sich ruhig zu verhalten und sternchenland.com ihre Gefühle, die der Furcht sowohl als die der Hoffnung, zu unterdrücken, setzten die Kleine in den Stand, der Aufforderung zu entsprechen und ihre kurze Geschichte, so weit sie ihr selbst bekannt war, vorzutragen. Mrs. Brown hörte ihr aufmerksam zu, bis sie zu Ende gekommen war.

»Du heißt also Dombey, he?« fragte Mrs. Brown.

»Ja, Madame.«

»Ich brauche dieses kleine hübsche Röcklein, Miß Dombey«, sagte Mrs. Brown, »dieses kleine Hütlein, ein paar Unterröckchen und alles was du entbehren kannst. Tummle dich! Leg‘ ab!«

Florence gehorchte so schnell, als ihre zitternden Hände es gestatten wollten, und hielt dabei stets ihre furchtsamen Blicke auf Mrs. Brown gerichtet. Nachdem sie sich all der von der alten Dame bezeichneten Kleidungsstücke entledigt hatte, ließ sich Mrs. Brown Zeit zu einer gemächlichen Musterung des Erworbenen und schien mit der Qualität und dem Wert der Sachen ganz zufrieden zu sein.

»Hum!« sagte sie, und ließ ihre Augen über die schmächtige Gestalt des Mädchens hingleiten. »Ich sehe sonst nichts mehr, als die Schuhe. Ich muß die Schuhe haben, Miß Dombey.«

Die arme kleine Florence nahm sie mit der gleichen Behendigkeit ab und schätzte sich überglücklich, noch einige Mittel zu besitzen, um ihre Gesellschafterin freundlich zu stimmen. Die Alte klaubte sodann aus dem Lumpenhaufen verschiedene erbärmliche Ersatzstücke heraus, dazu noch ein ganz abgetragenes und sehr altes Kindermäntelchen, nebst den zerknitterten Überresten eines Hutes, der wahrscheinlich aus einem Graben oder von einem Düngerhaufen aufgelesen war. Dann befahl sie Florence, sich in diese appetitlichen Sachen zu hüllen, und die Kleine willfahrte der Aufforderung, womöglich mit noch größerer Bereitwilligkeit, weil sie ein Vorspiel ihrer Befreiung darin sah.

Als sie hastig den Hut, der eher wie ein Bausch zum Tragen von Lasten aussah, aufsetzte, verfing sich derselbe in ihrem wallenden Haar und konnte nicht gleich wieder losgemacht werden. Die gute Mrs. Brown zog eine Schere heraus und geriet in einen unerklärlichen Zustand von Aufregung.

»Warum konntest du mich nicht gehen lassen, du kleine Närrin, nachdem ich zufrieden war?« sagte Mrs. Brown.

»Verzeiht mir«, keuchte Florence; »ich weiß ja nicht, was ich getan habe, und konnte nicht dafür.«

»Konntest du nicht dafür?« rief Mrs. Brown. »Und weshalb glaubst du, daß ich dafür kann? Ach Himmel!« sagte die Alte, indem sie mit wütender Lust die Locken der Kleinen durchwühlte, »jedermann außer mir würde es zuerst auf sie abgesehen haben.«

Florence fühlte sich erleichtert, als sie fand, daß Mrs. Brown nur nach ihrem Haar, nicht nach ihrem Kopf verlangte; sie ließ sich darum alles ohne Widerstand oder Bitte gefallen und richtete bloß ihre unschuldigen Augen zu dem Gesicht der guten Seele auf.

»Wenn ich nicht selbst einmal ein Mädel gehabt hätte – jetzt weit über dem Meer drüben – das auf ihr Haar stolz war«, sagte sternchenland.com Mrs. Brown, »so müßte jedes Löckchen mir gehören. Sie ist weit weg! Oho! oho!«

Der Ausruf von Mrs. Brown war nicht melodisch; sie warf aber dabei voll leidenschaftlichen Grams ihre abgezehrten Arme in die Höhe, und das ging Florence so zu Herzen, daß sie sich mehr als je fürchtete. Vielleicht lag hierin auch der Grund, daß ihre Locken geschont wurden; denn nachdem Mrs. Brown sie einige Augenblicke gleich einer neuen Art von Schmetterling mit ihrer Schere umschwebt hatte, befahl sie ihr, sich den Kopf mit dem Hut zu bedecken und keine Spur von ihren Haaren blicken zu lassen, damit sie nicht in weitere Versuchung geführt werde. Nach diesem Sieg über sich selbst setzte sich die Alte wieder auf die Knochen nieder und rauchte mummelnd eine kurze schwarze Pfeife mit einer Gier, als ob sie das Rohr essen wolle.

Sobald die Pfeife ausgeraucht war, gab sie der Kleinen eine Kaninchenhaut über den Arm, damit sie sich wie ihre gewöhnliche Begleiterin ausnehmen möchte, und bedeutete ihr sodann, sie wolle sie jetzt nach einer Hauptstraße hinführen, wo sie sich nach dem Weg zu ihren Freunden erkundigen könne. Zugleich aber warnte sie Florence unter Drohungen summarischer und tödlicher Rache für den Fall eines Ungehorsams und verbot ihr, ja keine Fremden anzureden oder sich nach ihrem eigenen Hause zu begeben, das vielleicht für Mrs. Browns Bequemlichkeit zu nahe lag, sondern das Geschäftslokal ihres Vaters in der City aufzusuchen. Ferner sollte sie an der Straßenecke, wohin sie gebracht würde, warten, bis die Uhr drei geschlagen hätte. Diesen Weisungen gab Mrs. Brown noch größeren Nachdruck durch die Versicherung, daß sie mächtige Augen und Ohren im Dienst habe, die alles Tun und Treiben des Mädchens genau beobachten würden, und Florence versprach, allem, was ihr geboten worden, treu und eifrig nachzukommen.

Endlich brach Mrs. Brown auf und führte ihre so umgewandelte und zerlumpte kleine Freundin durch ein Labyrinth von engen Straßen, Gassen und Gäßchen, bis sie nach langer Zeit in einen Stallhof mit einer Einfahrt gelangten, in welchem das Getümmel einer belebten Hauptstraße hörbar war. Hier tat die Alte noch einen Abschiedsgriff nach den Locken des Kindes – ganz unwillkürlich und aus unbewältigbarem Impulse, wie es schien – deutete aber dann nach dem Tore hin und teilte Florence mit, wenn es drei geschlagen habe, solle sie sich nach links wenden; sie wisse jetzt, was sie zu tun habe, und solle danach handeln, aber dabei nicht vergessen, daß sie aufs schärfste beobachtet werde.

Mit leichterm Herzen, aber noch immer in großer Angst fühlte sich Florence nun befreit und eilte nach der Ecke hin. Dort angelangt schaute sie zurück und bemerkte noch den Kopf der guten Mrs. Brown, der zu dem niedrigen hölzernen Gang heraussah, wo die Abschiedseinschärfungen erteilt worden waren, zugleich aber auch die Faust, mit der die gute Mrs. Brown ihr drohte. Sooft sie aber auch später wieder zurückschaute – und sie tat das in ihrer erschreckten Erinnerung sternchenland.com an die Alte jede Minute – konnte sie nichts mehr von ihr entdecken.

Florence blieb, wo sie war, und schaute in das Gewühl auf der Straße, durch das sie immer noch mehr verwirrt wurde. Mittlerweile schienen die Glocken darauf versessen zu sein, nie und nimmermehr drei Uhr zu schlagen. Endlich klang es von dem Kirchturme herab – einer davon war ganz in der Nähe, und es konnte keine Täuschung obwalten. Die Kleine schaute oft über ihre Schulter zurück, ging oft ein Streckchen weit und kam ebensooft wieder nach der alten Stelle, damit die allgewaltigen Spione der Mrs. Brown keinen Anstoß nehmen sollten; dann aber eilte sie, so schnell es in ihren Schlappschuhen möglich war, mit ihrem Kaninchenfell in der Hand weiter.

Von den Geschäftslokalen ihres Vaters wußte sie weiter nichts, als daß sie Dombey und Sohn gehörten und daß diese Firma eine große zur City gehörige Macht war. Sie konnte daher nur nach Dombey und Sohn in der City fragen und erhielt, da sie sich hauptsächlich mit ihren Erkundigungen an Kinder wendete, weil sie sich scheute, erwachsene Personen um Auskunft zu bitten, sehr ungenügende Erwiderungen. Es gelang ihr aber doch durch ihre Nachfragen, die sie vorderhand nur auf den Weg nach der City beschränkte, allmählich dem Herzen jener großen Region näher zu kommen, die durch den schrecklichen Lord-Mayor beherrscht wird.

Müde vom Gehen, allenthalben hin und her gestoßen, betäubt von dem Lärm und der Verwirrung, voll Angst um ihren Bruder und die Wärterinnen, erschreckt durch das Vorgefallene und durch die Aussicht, ihrem zornigen Vater in einem so veränderten Zustand entgegenzutreten, wankte Florence mit tränenvollen Augen auf ihrem Wege weiter und konnte sich’s nicht erwehren, ein- oder zweimal haltzumachen, um ihr übervolles Herz durch ein bitterliches Weinen zu erleichtern. Aber in dem Gewande, das sie trug, achteten bei solchen Gelegenheiten nur wenige Leute auf sie, oder wenn es auch geschah, so glaubte man, sie sei dazu angehalten, um Mitleid zu erregen, und ging weiter. Doch bot die Kleine all die Festigkeit und Selbstzuversicht eines Charakters, der durch traurige Erfahrungen frühzeitig geprüft und gereift ist, auf und strebte stetig dem Ziele zu, das sie im Auge hatte.

Volle zwei Stunden später, nachdem sie ihren letzten abenteuerlichen Gang angetreten, gelangte sie aus dem Lärm einer engen Straße voller Karren und Frachtwagen nach einer Art Werft oder einem Landungsplatz an der Flußseite, wo viel Gepäck, Fässer und Kisten umherlagen. Neben einer großen hölzernen Wage stand ein kleines Bretterhaus auf Rädern, vor dem ein stämmiger Mann pfeifend, die Feder hinter dem Ohr und die Hände in der Tasche, als ob sein Tagwerk bald zu Ende sei, nach den benachbarten Masten und Booten hinsah.

»Was willst du?« sagte der Mann, der sich zufällig nach ihr umdrehte. »Wir haben nichts für dich, Mädchen. Mach‘, daß du fortkommst!«

»Mit Erlaubnis, ist hier die City?« fragte die zitternde Tochter der Dombeys.

»Ja, freilich ist es die City, aber ich denke mir, du weißt das ebenso gut. Marsch da! Wir haben nichts für dich.«

»Ich verlange nichts, danke Euch«, lautete die schüchterne Antwort. »Ich möchte nur den Weg zu Dombey und Sohn wissen.«

Der Mann, der sorglos auf sie zugegangen war, schien über diese Antwort in Staunen zu geraten; er sah ihr aufmerksam ins Gesicht und erwiderte:

»Der Tausend, was kannst du von Dombey und Sohn wollen?«

»Nur den Weg dahin, wenn ich bitten darf.«

Der Mann sah sie noch neugieriger an und rieb sich vor Verwunderung den Hinterkopf so eifrig, daß ihm der Hut herunterflog.

»Joe!« rief er einem andern Manne, einem Arbeiter zu, während er seine Kopfbedeckung aufhob und sie wieder aufsetzte.

»Was verlangt Ihr von Joe?« versetzte der Angerufene.

»Wo ist denn der junge Bursch von Dombey, der die Aufsicht über die Einschiffung der Güter hat?«

»Eben nach dem andern Tore gegangen«, sagte Joe.

»Ruft ihn auf einen Augenblick zurück.«

Joe lief rufend einen Bogenweg hinauf und kehrte mit einem blühend aussehenden Knaben zurück.

»Ihr seid Dombeys Jockei, nicht wahr?« fragte der erste Mann.

»Ich bin in Dombeys Haus, Mr. Clark«, entgegnete der Knabe.

»So seht dahin«, sagte Mr. Clark.

Der Andeutung von Mr. Clarks Hand entsprechend, ging der Knabe auf Florence zu, wie man sich denken kann, sehr verwundert, was er mit dem Geschöpfe wohl zu schaffen haben könnte. Sie aber, sobald sie gehört hatte, was vorging, und daraus die Beruhigung entnehmen konnte, plötzlich wohlbehalten am Ziel ihrer Reise angelangt zu sein, fühlte sich über die Maßen ermutigt durch das lebhafte jugendliche Gesicht und das Benehmen des Knaben; sie eilte hastig auf ihn zu, wobei einer ihrer Schlappschuhe auf dem Boden zurückblieb, und ergriff mit ihren beiden Händchen seine Hand.

»Ich habe mich verirrt«, sagte Florence.

»Verirrt!« rief der Knabe.

»Ja; ich hab‘ mich heute mittag, weit weg von hier, verirrt. Man hat mich meiner Kleider beraubt, und diese Lumpen gehören nicht mir. Ich heiße Florence Dombey und bin die Schwester meines kleinen Bruders – und, ach Gott, nehmt Euch meiner an, seid so gütig!« schluchzte Florence, indem sie ihren so lang unterdrückten kindlichen Gefühlen in vollem Maße Luft machte und in Tränen ausbrach. Zu gleicher Zeit war ihr erbärmlicher Hut abgefallen, so daß die Locken ihr über das Gesicht niederwallten – welch‘ ein Gegenstand für die sprachlose Bewunderung und das Mitleid des jungen Walters, des Neffen von Solomon Gills, dem Schiffsinstrumentenmacher.

Mr. Clark stand im größten Erstaunen da und bemerkte halblaut sternchenland.com vor sich hin, daß ihm auf dieser Werft nie zuvor etwas Ähnliches vorgekommen sei. Walter hob den verlorenen Schuh auf und paßte ihn dem kleinen Fuß an, wie es etwa der Prinz in dem Märchen Aschenbrödel getan haben mochte. Er hing das Kaninchenfell über seinen linken Arm, gab den rechten Florence und fühlte sich dabei, ich will nicht sagen wie Richard Whittington, denn das wäre nur ein matter Vergleich, sondern wie der heilige Georg von England, als der Drache tot zu seinen Füßen lag.

»Weint nicht, Miß Dombey«, sagte Walter im Übermaß seiner Begeisterung. »Eine wunderbare Fügung ist es, daß ich gerade hier bin. Ihr seid jetzt so sicher, als stündet Ihr unter dem Geleite einer ganzen Bootsmannschaft, der besten, die man von einem Kriegsschiff auswählen kann. O, weint nicht.«

»Ich will nicht mehr weinen«, versetzte Florence. »Ich habe es nur aus Freude getan.«

»Vor Freude geweint!« dachte Walter. »Und ich bin die Ursache davon! Kommt mit, Miß Dombey. Jetzt ist der andere Schuh auch abgefallen! Nehmt meine, Miß Dombey.«

»Nein, nein, nein«, entgegnete Florence, ihn abhaltend, als er eben im größten Eifer seine Schuhe ausziehen wollte. »Diese sind schon gut; ich komme ganz gut darin weiter.«

»Ei freilich«, erwiderte Walter, indem er seinen Fuß ansah, »meine sind um eine Meile zu groß. Was denke ich auch! Ihr könntet nie in meinen Schuhen gehen! Doch kommt mit, Miß Dombey. Wir wollen den Schurken sehen, der sich erdreisten wird. Euch jetzt zu belästigen.«

Bei diesen Worten schaute Walter mit unendlich wilder Miene umher und führte in der seligsten Stimmung Florence weiter. Sie gingen Arm in Arm ihrer Straße, ohne sich um das Erstaunen zu kümmern, das ihr Aussehen bei den Vorübergehenden erregte oder doch zu erregen imstande war.

Es wurde nachgerade dunkel, neblig, und am Ende fing es gar an zu regnen; aber sie kümmerten sich nicht darum. Beide waren zu sehr in die kürzlichen Abenteuer vertieft, welche Florence mit der unschuldigen Vertraulichkeit und Zuversicht ihrer Jahre erzählte, während ihr Walter zuhörte, als ergingen sie sich fern von dem Kot und Unflat der Themsestraße, allein unter den breiten Blättern und hohen Bäumen irgendeiner verlassenen Tropeninsel – ja es ist sehr gut möglich, daß er sich in diesem Augenblick sogar ein derartiges Bild vergegenwärtigte.

»Haben wir noch weit zu gehen?« fragte Florence endlich, die Augen zu dem Gesicht ihres Begleiters erhebend.

»Ah! beiläufig«, sagte Walter stehenbleibend, »laß mich sehen, wo wir sind. O! ich kenne mich aus. Aber die Geschäftslokale sind jetzt geschlossen, Miß Dombey. Es ist niemand dort. Mr. Dombey ist längst nach Hause gegangen. Vermutlich müssen wir auch nach Hause gehen – oder halt! Gesetzt, ich brächte Euch zu meinem Onkel, bei dem ich lebe – es ist ganz in der Nähe hier – und ließe sternchenland.com mich in einer Kutsche nach Eurer Wohnung fahren, um dort zu sagen, daß Ihr wohlbehalten seid, und holte für Euch Kleider? Wäre nicht das das beste?«

»Ich denke so«, antwortete Florence. »Meint Ihr nicht? Was haltet Ihr davon?«

Während sie noch überlegend auf der Straße standen, kam ein Mann an ihnen vorbei, der Walter einen raschen Blick zuwarf, als ob er ihn erkannt hätte; er schien jedoch den ersten Eindruck für einen Irrtum zu halten und ging sogleich wieder weiter.

»Ei, ist das nicht Mr. Carter gewesen?« sagte Walter. »Carter in unserm Hause. Nicht Carter der Magazinverwalter, Miß Dombey – der andere Carter, der jüngere. – He, Mr. Carter!«

»Seid Ihr es wirklich, Walter Gay«, entgegnete der andere, indem er haltmachte und wieder umkehrte. »Ich habe es nicht glauben können, Ihr seid in so seltsamer Gesellschaft.«

Er hörte mit Erstaunen Walters hastiger Auseinandersetzung zu, und da er gerade unter einer Straßenlaterne stand, so bot er einen merkwürdigen Gegensatz zu den beiden jugendlichen Gestalten, die Arm in Arm neben ihm standen. Er war nicht alt, aber sein Haar war weiß und sein Körper gebeugt wie unter der Last einer schweren Sorge; auch zeigten sich in seinem hagern melancholischen Gesichte tiefe Linien. Das Feuer seiner Augen, der Ausdruck seiner Züge und sogar die Stimme, mit der er sprach – alles war gedämpft und erloschen, als läge der ihm inwohnende Geist in Asche. Er trug eine anständige, obgleich sehr einfache schwarze Kleidung, aber die einzelnen Teile derselben, nach dem allgemeinen Charakter seiner Figur geformt, schienen auf ihm zusammenzuschrumpfen und sich der bekümmerten Bitte anzuschließen, die der ganze Mann vom Kopf bis zu den Füßen ausdrückte – man möchte seiner nicht achten und ihn gehen lassen in seiner Geringfügigkeit.

Und doch war sein Interesse an der Jugend und den Hoffnungsvollen nicht mit den übrigen Funken seiner Seele erloschen, denn er beobachtete das eifrige Gesicht des Sprechers mit ungewöhnlicher Sympathie, zugleich aber auch mit einer nicht erklärbaren Miene von Sorge und Mitleid, wie sehr er sich auch Mühe gab, diese Äußerungen zu unterdrücken. Als Walter zum Schluß ihm die Frage vorlegte, die er eben mit Florence beraten hatte, blieb Carter noch immer stehen und sah ihn mit dem gleichen Ausdruck an, als lese er in dessen Gesichte ein Schicksal, traurig genug und nicht im Einklang mit der Heiterkeit des Augenblicks.

»Was ratet Ihr mir, Mr. Carter?« fragte Walter lächelnd. »Ihr wißt, so oft Ihr mit mir sprecht, gebt Ihr mir stets einen guten Rat, obschon es freilich nicht oft geschieht.«

»Ich denke, Euer Gedanke ist der beste«, antwortete er, von Florence auf Walter und dann wieder auf Florence zurückblickend.

»Mr. Carter«, sagte Walter, in welchem ein großmütiger Gedanke auflebte, »hier bietet sich eine Gelegenheit für Euch. Geht Ihr zu Mr. Dombey und werdet so der Bote einer guten Kunde. Es sternchenland.com kann Euch nützlich werden, Sir. Ich will zu Hause bleiben. Geht Ihr.«

»Ich?« versetzte der andere.

»Ja. Warum nicht, Mr. Carter?« fragte der Knabe.

Er drückte ihm bloß die Hand zur Antwort, obschon es den Anschein hatte, als schäme und scheue er sich, auch nur dieses zu tun. Dann wünschte er ihm gute Nacht, riet ihm, sich zu beeilen, und ging weiter.

»Kommt, Miß Dombey«, sagte Walter, ihm im Weitergehen nachsehend, »wir wollen uns beeilen, daß wir schnell zu meinem Onkel kommen. Habt Ihr je Mr. Dombey von dem jüngeren Mr. Carter sprechen hören, Miß Florence?«

»Nein«, erwiderte das Kind sanft; »ich höre den Papa nicht oft sprechen.«

»Ach ja, es ist wahr; um so mehr Schande für ihn«, dachte Walter. Nach einer kurzen Pause, während welcher er auf das sanfte, geduldige Antlitz an seiner Seite niedergesehen hatte, bemühte er sich mit seiner gewohnten knabenhaften Lebhaftigkeit und Unruhe, den Gesprächsgegenstand zu ändern; und da ganz gelegen jetzt wieder einer von den unglücklichen Schuhen zurückblieb, machte er Florence den Vorschlag, er wolle sie auf den Armen nach dem Hause seines Onkels tragen. Trotz ihrer Ermüdung lehnte die Kleine lachend den Vorschlag ab, weil er sie fallen lassen könnte. Sie waren dem hölzernen Midshipman schon ziemlich nahe, und da Walter fortfuhr, verschiedene Vorgänge bei Schiffskatastrophen und andern ergreifenden Vorfällen zu erzählen, wo jüngere Knaben als er viel ältere Mädchen als Florence gerettet und triumphierend davongetragen hätten, so befanden sie sich noch in voller Unterhaltung darüber, als sie an der Tür der Instrumentenmacherswohnung anlangten.

»Holla, Onkel Sol!« rief Walter, in den Laden hineinstürzend und von dieser Zeit an für den ganzen übrigen Abend sehr unzusammenhängend und außer Atem redend. »Wir haben da ein wundervolles Abenteuer! Mr. Dombeys Tochter hier hat sich in den Straßen verirrt und ist durch eine alte Hexe von einem Weibsbild ihrer Kleider beraubt worden. Ich habe sie gefunden – nach unserm Hause gebracht, damit sie hier ausruhe – schaut her!«

»Gütiger Himmel!« rief Onkel Sol, gegen seinen Lieblingskompaß zurückprallend. »Es kann nicht sein! Na, das –«

»Nein, weder Ihr, noch jemand anders«, fiel ihm Walter ins Wort, dem begonnenen Satze vorgreifend. »Ihr wißt, niemand würde oder hätte es können. So! Wollt Ihr so gut sein, Onkel Sol, mir das kleine Sofa in die Nähe des Feuers rücken zu helfen? – Habt acht auf die Teller – richtet ihr etwas zum Essen her, wollt Ihr, Onkel? – werft diese Schuhe unter den Rost, Miß Florence – setzt Eure Füße zum Trocknen auf die Kaminstange – wie feucht sie sind! – ist das nicht ein Abenteuer, Onkel? Gott behüte mich, wie heiß es mir ist!«

Und Solomon Gills war es eben so heiß geworden, infolge seiner sternchenland.com Teilnahme sowohl, als seiner großen Verwirrung. Er streichelte Florence den Kopf, drängte sie zum Essen, nötigte ihr Trinken auf, rieb die Sohlen ihrer Füße mit seinem am Feuer gewärmten Taschentuch, folgte seinem beweglichen Neffen mit Augen und Ohren, und hatte von nichts eine klare Vorstellung, ausgenommen, daß er unaufhörlich gegen diesen aufgeregten jungen Gentleman anprallte oder über ihn stolperte, wenn derselbe im Zimmer umherschoß und zwanzig Dinge auf einmal auszuführen versuchte, ohne überhaupt mit einem einzigen zustande zu kommen.

»Wartet eine Minute, Onkel«, fuhr er fort und zündete ein Licht an, »bis ich die Treppe hinaufgeeilt bin und eine andere Jacke angezogen habe; dann will ich mich sogleich auf den Weg machen. Was meint Ihr, Onkel, ist das nicht ein Abenteuer?«

»Mein lieber Junge«, sagte Solomon, der mit seiner Brille auf der Stirne und dem großen Chronometer in der Tasche unaufhörlich zwischen Florence auf dem Sofa und seinem Neffen in allen Teilen des Zimmers hin und her oszillierte, »es ist das Alleraußerordentlichste –«

»Nein, Onkel, aber eßt jetzt – und eßt auch Ihr, Miß Florence – Ihr wißt, Onkel.«

»Ja, ja«, rief Solomon, indem er unverzüglich von einer Hammelkeule ein Stück abschnitt, als müßte er einen Riesen verproviantieren. »Ich will Sorge für sie tragen, Wally! Ich verstehe das liebe Herz – natürlich ganz ausgehungert. Und du, geh jetzt und mache dich fertig. Gott behüte mich. Sir Richard Whittington, dreimal Lord-Mayor von London!«

Walter brauchte nicht lange, um nach seinem luftigen Dachstübchen hinaufzueilen und wieder herunterzukommen; aber inzwischen war Florence, von Müdigkeit überwältigt, vor dem Feuer eingeschlummert. Der kurze Zwischenraum von Ruhe, obschon er nur einige Minuten dauerte, setzte Solomon Gills in den Stand, sich so weit zu sammeln, daß er für die Bequemlichkeit seines Gasts einige kleine Vorbereitungen treffen, das Zimmer verdunkeln und den Ofenschirm zum Schutz gegen die Feuerhitze vorschieben konnte. Als der Knabe wieder zurückkehrte, lag sie in ruhigem Schlafe.

»Das ist vortrefflich!« flüsterte er, indem er Solomon in einer Weise umarmte, daß diesem ein neuer Ausdruck in sein Gesicht gepreßt wurde. »Jetzt will ich fort. Gebt mir nur noch ein Brotkrüstchen mit auf den Weg, denn ich bin sehr hungrig – und – weckt sie nicht auf, Onkel Sol.«

»Nein, nein«, entgegnete Solomon. »Das hübsche Kind.«

»Jawohl, hübsch!« erwiderte Walter. »In meinem Leben habe ich noch nie ein solches Gesicht gesehen, Onkel Sol. Jetzt geh ich.«

»Recht so«, sagte Solomon, in hohem Grade erleichtert.

»He, Onkel Sol«, rief Walter, und steckte den Kopf wieder zur Tür herein.

»Da ist er schon wieder«, sagte Solomon.

»Wie sieht sie jetzt aus?«

»Ganz glücklich«, antwortete Solomon.

»Das ist herrlich! Jetzt flugs fort.«

»Hoffentlich ist es einmal an dem«, sagte Solomon zu sich selbst.

»He, Onkel Sol«, rief Walter, wieder zur Tür hereinschauend.

»Da haben wir ihn schon wieder!« sagte Solomon.

»Wir haben Mr. Carter, den Jüngeren, auf der Straße getroffen; er sah seltsamer aus als je. Er sagte mir Adieu, kam aber hinter uns drein – das ist doch kurios! – denn als wir die Haustür erreichten, schaute ich zurück und sah, daß er ruhig wegging, wie ein Diener, der mich auf dem Wege nach Hause beaufsichtigen wollte, oder wie ein treuer Hund. Wie sieht sie jetzt aus, Onkel?«

»So ziemlich wie vorhin, Wally«, versetzte Onkel Sol.

»Das ist recht. So, jetzt gehe ich!«

Diesmal hielt er auch richtig Wort, und Solomon Gills, dem der Appetit zum Essen vergangen war, setzte sich auf die andere Seite des Ofens, und wenn man ihn so im Schatten und in der Umgebung aller seiner Instrumente sah, nahm er sich wie ein in eine welsche Perücke und in einen kaffeebraunen Anzug verkleideter Magier aus, der das Kind in einem Zauberschlaf erhielt.

Mittlerweile fuhr Walter in einem Trabe, wie ihn selten ein Droschkengaul vom Stande weg zu erreichen vermag, nach Mr. Dombeys Haus, steckte aber dabei alle zwei oder drei Minuten den Kopf zum Fenster hinaus, um dem Kutscher ungeduldige Vorhaltungen zu machen. Am Ziel seiner Fahrt angelangt, sprang er hinaus, teilte atemlos einem Diener den Zweck seiner Ankunft mit und folgte ihm geradeswegs nach dem Bibliothekzimmer, wo Mr. Dombey, seine Schwester, Miß Tox, Richards und Nipper unter gewaltigem Zungenlärm versammelt waren.

»O, ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Walter, auf Mr. Dombey zueilend, »aber ich bin so glücklich, Euch sagen zu können, daß alles gut ist, Sir. Miß Dombey ist gefunden!«

Der Knabe mit seinem offenen Gesicht, dem wallenden Haar und den funkelnden Augen, während er vor Freude und Aufregung fast nicht zu Atem kommen konnte, bot einen wunderbaren Gegensatz zu Mr. Dombey, der in seinem Bibliothekstuhle saß.

»Ich sagte dir ja, Louisa, sie werde sich sicherlich finden«, bemerkte Mr. Dombey, indem er leicht über die Achsel nach dieser Dame hinsah, die gemeinsam mit Miß Tox weinte. »Bedeutet den Dienstboten, daß keine weiteren Schritte nötig sind. Der Knabe, der uns Nachricht bringt, ist der junge Gay aus dem Bureau. Wie ist meine Tochter gefunden worden, Sir? Ich weiß, wie sie verlorenging.« Dabei warf er einen geradezu majestätischen Blick auf Richards. »Aber wie wurde sie gefunden? Wer fand sie?«

»Je nun, ich glaube, daß ich Miß Dombey gefunden habe, Sir«, versetzte Walter bescheiden. »Freilich weiß ich nicht, ob ich Anspruch auf das Verdienst erheben kann, sie wirklich gefunden zu haben, Sir, aber ich war das glückliche Werkzeug –«

»Was meint Ihr damit, Sir«, unterbrach ihn Mr. Dombey, die sternchenland.com Freude und den augenscheinlichen Stolz des Knaben auf seinen Anteil an dem Vorfall mit instinktartigem Widerwillen betrachtend, »wenn Ihr sagt, Ihr habet meine Tochter nicht gerade gefunden, sondern seiet nur ein glückliches Werkzeug gewesen? Faßt Euch einfach und zusammenhängend, wenn ich bitten darf.«

Aber es war zuviel gefordert, wenn man von Walter verlangte, er solle zusammenhängend reden; er gab jedoch in seinem atemlosen Zustande die Aufklärung, so gut er konnte, und fügte hinzu, warum er allein gekommen sei.

»Ihr habt es gehört, Mädchen«, sagte Mr. Dombey mit einem finsteren Blick auf die Schwarzäugige. »Nehmt das Nötige und begleitet augenblicklich diesen jungen Menschen, um Miß Florence nach Haus zu holen. Gay, Ihr werdet morgen belohnt werden.«

»O, ich danke, Sir«, versetzte Walter. »Ihr seid sehr gütig. Aber ich habe nicht entfernt an eine Belohnung gedacht, Sir.«

»Ihr seid ein Knabe«, sagte Mr. Dombey gereizt und fast in grimmigem Tone, »und was Ihr denkt oder zu denken meint, hat wenig zu bedeuten. Ihr habt Euch ordentlich benommen, Sir – macht es nicht wieder zunichte. Louisa, sei so gut, gib dem Knaben etwas Wein.«

Als Walter Gay unter dem Geleite von Mrs. Chick das Zimmer verließ, folgte ihm Dombeys Blick mit großer Ungunst, und vielleicht sah ihm dessen geistiges Auge mit noch größerem Mißbehagen nach, als der Knabe mit Miß Susanna Nipper nach der Wohnung seines Onkels zurückfuhr.

Dort fanden sie Florence sehr erfrischt von ihrem Schlafe. Sie hatte mittlerweile gespeist und in der Bekanntschaft mit Solomon Gills, gegen den sie sich ganz vertraulich benahm, große Fortschritte gemacht. Die Schwarzäugige, die inzwischen so viel geweint hatte, daß man sie jetzt wohl die Rotäugige hätte nennen können, benahm sich sehr kleinlaut und niedergeschlagen. Sie umschlang die Wiedergefundene ohne ein Wort des Tadels oder Vorwurfs mit ihren Armen, so daß sich der Anblick recht rührend ausnahm; dann wurde die Wohnstube für den Augenblick in ein Privat-Ankleidezimmer umgewandelt. Miß Nipper putzte ihren Pflegling unter großer Sorgfalt mit passenden Bekleidungsstücken heraus und führte sie bald so ganz als eine Dombey vor, wie das bei ihren natürlichen schlechten Qualifikationen dafür nur möglich war.

»Gute Nacht!« sagte Florence, auf Solomon zueilend. »Ihr seid sehr gütig gegen mich gewesen.«

Der alte Sol war hierüber ganz entzückt und küßte sie, als wäre er ihr Großvater.

»Gute Nacht, Walter! Gott befohlen!« sagte Florence.

»Gott befohlen!« entgegnete Walter, indem er ihr beide Hände hinhielt.

»Ich werde Euch nie vergessen«, fuhr Florence fort. »Nein, gewiß nicht. Gott befohlen, Walter!«

In der Unschuld ihres dankbaren Herzens hob die Kleine ihr sternchenland.com Gesichtchen zu seinem empor. Walter beugte sich zu ihr nieder, erhob aber sein Antlitz glühend rot und brennend wieder, mit einem einfältigen Gesicht nach Onkel Sol hinsehend.

»Wo ist Walter!« »Gute Nacht, Walter!« »Gott befohlen, Walter!« »Noch einmal Eure Hand, Walter!« So hörte man Florence noch rufen, als sie bereits mit ihrer kleinen Wärterin in der Kutsche saß. Und als die Kutsche endlich abfuhr, erwiderte Walter noch auf der Türschwelle das Schwenken ihres Taschentuches, während der hölzerne Midshipman hinter ihm gleichfalls nur auf diese eine Kutsche versessen zu sein und kein Auge für alle vorüberfahrenden Equipagen zu haben schien.

Nach kurzer Zeit war Mr. Dombeys Wohnung erreicht, und aus der Bibliothek erscholl abermals der Zungenlärm. Auch die Kutsche erhielt wiederholt die Weisung, zu warten – »für Mrs. Richards«, flüsterte eine von Susannas Mitdienerinnen bedeutungsvoll, als diese mit Florence an ihr vorbeikam.

Der Eintritt des verlorenen Kindes machte einiges Aufsehen, aber nicht viel. Mr. Dombey, der sie nie gefunden haben würde, küßte sie ein einziges Mal auf die Stirn und warnte sie, nicht wieder wegzulaufen oder mit treulosen Dienstboten umherzuziehen, Mrs. Chick hielt ein mit ihren Lamentationen über die Verderbnis der Menschennatur, selbst wenn sie durch einen barmherzigen Schleifer auf den Pfad der Tugend zurückgerufen würde, und bewillkommte Florence in einer Weise, beinahe so, als wäre sie eine vollkommene Dombey. Miß Tox regulierte ihre Gefühle nach den Vorbildern, die sie vor sich hatte, und empfing sie mit einem Willkomm, der jedenfalls nicht so war, wie ihn eine vollkommene Dombey verdient haben würde. Nur Richards, die schuldige Richards, ergoß ihr Herz in gebrochenen Worten herzlicher Begrüßung und beugte sich über die Kleine nieder, als ob sie dieselbe wirklich lieb habe.

»Ach, Richards«, sagte Mrs. Chick mit einem Seufzer, »es wäre für Euch weit ziemender und für diejenigen, die von ihrem Nebenmenschen eine gute Meinung haben möchten, viel befriedigender gewesen, wenn Ihr zu rechter Zeit ein passendes Gefühl gezeigt hättet für das kleine Kind, das jetzt nur allzu früh seiner natürlichen Nahrung beraubt werden soll.«

»Abgeschnitten«, fügte Miß Tox in bedauerndem Flüstern bei, »von einer gemeinsamen Quelle.«

»Wenn ich mich eines solchen Falls von Undank schuldig gemacht hätte«, fuhr Mrs. Chick feierlich fort, »und ich an Eurer Stelle wäre, Richards, so wäre es mir immer, als ob die Tracht der barmherzigen Schleifer mein Kind verzehren und die Erziehung es ersticken müßte.«

Was das betraf – aber freilich wußte Mrs. Chick nichts davon – war der Knabe um des Anzugs willen jedenfalls schon sehr zerzaust worden, und vielleicht übte mit der Zeit auch die Erziehung die eben erwähnte vergeltende Wirkung, da sie aus nichts anderem als aus einem Sturm von Schlägen und Schmerzrufen bestand.

»Louisa!« sagte Mr. Dombey. »Es ist nicht nötig, dies Thema weiter zu verfolgen. Das Weib ist entlassen und bezahlt. Ihr verlaßt dieses Haus, Richards, weil Ihr meinen Sohn – meinen Sohn«, fügte Mr. Dombey mit erhöhtem Nachdruck der beiden letzten Worte hinzu – »in Spelunken und in eine Gesellschaft gebracht habt, an die man nicht ohne Schauder denken kann. Was den Unfall anbelangt, der heute morgen Miß Florence zustieß, so betrachte ich denselben in einem gewissen sehr bedeutungsvollen Sinn als einen glücklichen Umstand, insofern ich ohne denselben nie, und noch obendrein nicht von Euren eigenen Lippen erfahren haben würde, wessen Ihr Euch schuldig gemacht habt. Ich denke, Louisa, daß die andere Wärterin, die eine junge Person ist« – hier fing Miß Nipper an, laut zu schluchzen – »und sich deshalb natürlich von Pauls Amme verleiten ließ, im Hause bleiben kann. Sei so gut, dem Kutscher die Weisung zu erteilen, daß der Wagen für dieses Weib bezahlt ist nach –« Herr Dombey stockte und konnte das Wort fast nicht über die Lippen bringen – »nach den Staggs Gärten.«

Polly wandte sich nach der Tür; aber Florence hielt sich weinend an ihren Kleidern fest und bat sie auf das flehendlichste, nicht fortzugehen. Es war ein Dolchstoß für das Herz des hochmütigen Vaters und ein Pfeil in sein Gehirn, daß er sehen mußte, wie das Fleisch und Blut, das er sein eigen nennen mußte, in seiner Gegenwart sich an diese niedrige Fremde anklammerte. Nicht, weil er sich darum kümmerte, wen seine Tochter liebte oder mied. Das Schmerzgefühl, das ihn durchzuckte, haftete an dem Gedanken, was möglicherweise sein Sohn tun könnte.

Jedenfalls weinte sein Sohn die ganze Nacht hindurch mit Macht. In Wahrheit gesprochen, der arme Paul hatte einen weit besseren Grund für seine Tränen, als das bei Söhnen von ähnlichem Alter oft der Fall ist, denn ihm war seine zweite Mutter genommen worden – die erste, die er kannte – und zwar durch einen ebenso plötzlichen Streich, als es derjenige gewesen war, der das Band der natürlichen Liebe bei Beginn seines Lebens löste. Und in demselben Augenblicke hatte auch seine Schwester, die gleichfalls nur unter schmerzlichen Tränen ihren Schlummer fand, eine gute treue Freundin verloren. Doch das ist von gar geringem Belang; verlieren wir deshalb keine Worte mehr darüber.

Siebentes Kapitel.


Siebentes Kapitel.

Vogelperspektive von Miß Tors Wohnung und ihre Liebhabereien..

Miß Tor bewohnte ein dunkles Häuschen, das sich in einer früheren Periode der englischen Geschichte mitten hinein in eine fashionable Umgebung des Westendes von London gezwängt hatte, wo es wie eine arme Verwandte der um die Ecke herum liegenden sternchenland.com großen Straße im Schatten stand und von den mächtigen Nachbarhäusern nur über die Achsel angesehen wurde. Es stand nicht gerade in einem Hof, wohl aber in einer der langweiligsten Sackgassen, die noch beängstigender und hagerer wurde durch die fernen Doppelschläge. Dieser abgeschiedene Ort, wo zwischen den Pflastersteinen das Gras in die Höhe schoß, hieß der Prinzessinnenplatz, und auf dem Prinzessinnenplatz befand sich eine Prinzessinnenkapelle mit einer gellenden Glocke, in der sich bisweilen ein paar Dutzend Personen zum Sonntagsgottesdienst versammelten. Ferner sah man hier ein Wappen der Prinzessinnen, das häufig von Dienern in funkelnden Livreen besucht wurde, und innerhalb des Geländers vor den Wappen der Prinzessinnen stand eine Sänfte, die aber seit Menschengedenken nie herausgekommen war. An schönen Morgen waren die Spitzen sämtlicher Geländerstangen (ihrer Zahl nach 48, wie sich Miß Tor oft aus eigener Zählung überzeugt hatte) mit Zinnkrügen verziert. Auf dem Prinzessinnenplatz stand neben der Wohnung Miß Tor noch ein anderes Privathaus, dessen ungeheures Flügeltor, mit ein paar ungeheuren löwenköpfigen Klopfern daran, gar nicht erwähnt zu werden braucht, da es nie geöffnet wurde und vermutlich ein außer Brauch gekommener Eingang zu jemands Ställen war. Überhaupt herrschte auf dem Prinzessinnenplatz ein gewisser unverkennbarer Stallgeruch, und das hinten hinausgehende Schlafgemach der Miß Tor beherrschte eine Aussicht auf Ställe, wo stets Pferdeknechte mit irgendeiner Art Arbeit beschäftigt waren und sich dabei mit gewaltigem Geschrei unterhielten. Auch sah man dort die häuslichsten und vertraulichsten Kleider der Kutscher, ihrer Weiber und Familien, die gewöhnlich wie Macbeths Banner an den äußeren Mauern aufgehängt waren.

In dem andern Privathaus des Prinzessinnenplatzes, das von einem in Ruhestand getretenen und mit einer Wirtschafterin verehelichten Hausmeister bewohnt wurde, waren Gemächer an einen Junggesellen vermietet – nämlich an einen holzköpfigen, blaugesichtigen Major mit großen hervorquellenden Augen, in denen Miß Tor, wie sie sich selbst ausdrückte, »etwas so wahrhaft Militärisches« erkannte. Zwischen diesem Herrn und ihr fand ein gelegentlicher Austausch von Zeitungen und Flugschriften statt – ein platonisches Spiel, das durch einen schwarzen Diener des Majors vermittelt wurde. Miß Tor begnügte sich vollkommen damit, letzteren als einen »Eingeborenen« zu klassifizieren, ohne ihn mit irgendeiner geographischen Idee in Verbindung zu bringen.

Vielleicht hat es nie einen engeren Eingang und eine schmälere Treppe gegeben, als den Eingang und die Treppe von dem Hause der Miß Tor. Vielleicht war es im ganzen von oben bis unten genommen das unbequemste und verkrümmteste kleine Haus in ganz England; aber Miß Tor pflegte es mit den Worten zu entschuldigen – »aber die Lage!« Im Winter hatte man nur kurze Zeit ein wenig Tageslicht, und auch in den besten Zeiten war nie Sonnenlicht zu bekommen. Von der Luft ist bereits die Rede gewesen, und vom Verkehr war man ganz abgeschnitten. Dennoch sagte Miß Tor – »bedenkt nur, sternchenland.com welch eine Lage!« Der blaugesichtige Major mit seinen Glotzaugen war damit einverstanden und tat sich viel auf den Prinzessinnenplatz zugut, da er ihm Gelegenheit gab, in seinem Klub immer wieder das Gespräch auf die vornehmen Leute und die große Straße um die Ecke zu bringen, nur um sich den Hochgenuß zu bereiten, daß er sagen konnte, sie seien seine Nachbarn.

Das finstere Haus, das Miß Tor bewohnte, war ihr Eigentum und ihr von dem verstorbenen Besitzer des fischigen Auges in dem Schlosse vermacht worden; auch befand sich ein Miniaturporträt desselben mit gepuderten Haaren und Zopf als Gegenstück zu dem Kesselhalter auf der andern Seite des Kamins im Wohnstübchen. Der größere Teil des Möbelwerks stammte gleichfalls aus der Zeit des Puders und der Zöpfe; namentlich zeichnete sich darunter ein Tellerwärmer, der stets seine vier abgezehrten, gebogenen Beine jemand in den Weg streckte, und ein abgenutztes Klavier aus, um das sich der Name des Instrumentenmachers mit einer gewaltigen Erbsengirlande herumzog.

Obschon Major Bagstok bei dem großen Meridian des Lebens, wie man es in der feinen Literatur nennt, angelangt war und seine Wanderung abwärts mit kaum einem Halse, einem sehr starren Paar Backenknochen, langen, hängenden Elefantenohren und Augen in dem bereits erwähnten Zustande künstlicher Aufregung weiter verfolgte, so ließ er es sich doch gewaltig angelegen sein, in Miß Tor ein Interesse für sich zu wecken, und so kitzelte er denn seine Eitelkeit mit der Vorstellung, daß sie eine herrliche Frauensperson sei, die ihr Auge auf ihn geworfen habe. Er hatte das auch mehrere Male in seinem Klub angedeutet, und manche kleine Scherze damit in Verbindung gebracht, in denen der alte Joe Bagstok, der alte Joey Bagstok, der alte J. Bagstok, der alte Josh Bagstok usw. das ewige Thema bildeten; es gehörte nämlich sozusagen zu dem Bollwerk von des Majors heiterem Humor, stets mit seinem eigenen Namen auf dem vertraulichsten Fuß zu stehen.

»Joey B., Sir«, konnte der Major mit einer Schwenkung seines Spazierstocks sagen, »ist so viel wert, wie ein Dutzend von Euch. Wenn Ihr einige mehr von der Bagstokzucht unter Euch hättet, Sir, so würdet Ihr dadurch nicht schlechter fahren. Auch jetzt noch, Sir, braucht der alte Joe nicht lange nach einem Weibe suchen, wenn es ihm darum zu tun ist; aber der Joe ist hartherzig, Sir – er ist zäh, Sir, zäh und verteufelt schlau!«

Nach einer solchen Erklärung konnte man pfeifende Töne hören, und das blaue Gesicht des Majors vertiefte sich zum Purpur, während seine Augen in wahrhaft konvulsivischem Zustande hervorquollen.

Ungeachtet des sehr freigebigen Eigenlobes war übrigens der Major ein selbstsüchtiger Mann. Wir möchten bezweifeln, ob es je eine Person mit einem selbstsüchtigeren Herzen oder – um mich eines bessern Ausdrucks zu bedienen – mit einem selbstsüchtigeren Magen gab, zumal da man zugeben muß, daß er mit letzterem Organ sternchenland.com entschieden reichlicher bedacht worden war, als mit dem ersteren. Es fiel ihm nicht entfernt ein, daß er übersehen oder gering geschätzt werden könnte, am wenigsten aber ließ er sich träumen, daß etwas Derartiges gar von Miß Tor ausgehen könnte.

Und doch gewann es den Anschein, als ob Miß Tor ihn vergessen habe – allmählich vergessen habe. Sie machte damit den Anfang bald nach dem Auffinden der Toodle-Familie, fuhr dann fort bis zu der Zeit der Kindstaufe, und nachher hatte ihr Interesse für ihn ganz und gar aufgehört. Ihre Teilnahme mußte durch irgend etwas oder irgend jemanden verdrängt worden sein.

»Guten Morgen, Ma›am«, sagte der Major, als er ihr einige Wochen nach den im vorigen Kapitel erwähnten Veränderungen auf dem Prinzessinnenplatze begegnete.

»Guten Morgen, Sir«, versetzte Miß Tor mit großer Kälte.

»Es ist schon geraume Zeit her, Ma›am«, bemerkte der Major mit seiner gewohnten Galanterie, »daß Joe Bagstok nicht das Glück hatte, Euch an Eurem Fenster sein Kompliment zu machen. Joe fühlt sich hart behandelt, Ma›am. Seine Sonne hat sich hinter einer Wolke versteckt.«

Miß Tor neigte ihr Haupt, aber in der Tat nur sehr kühl.

»Joes Sonne ist vielleicht über Land gewesen, Ma’am?« inquirierte der Major.

»Ich – über Land? o nein; ich bin nicht aus der Stadt gekommen«, versetzte Miß Tor. »Ich war in letzter Zeit viel in Anspruch genommen und muß fast jeden freien Augenblick einigen sehr vertrauten Freunden widmen. Ich fürchte, daß ich sogar jetzt mit meiner Zeit geizen muß. Guten Morgen, Sir!«

Miß Tor verschwand mit ihrer höchst bezaubernden Haltung von dem Prinzessinnenplatz, und der Major sah ihr mit einem Gesichte nach, das blauer war als je; dabei murmelte und brummte er etwas vor sich hin, was durchaus nicht wie ein Kompliment klang.

»Ei, verdammt Sir«, sagte der Major, seine Hummeraugen über den Prinzessinnenplatz hin und her rollen lassend und dessen würzige Luft anredend, »noch vor sechs Monaten würde dieses Weib den Boden geküßt haben, auf dem Josh Bagstok einhertrat. Was hat das nun zu bedeuten?«

Nach längerer Erwägung kam der Major zu dem Schluß, daß es sich hier um eine Männerfalle handle – um ein Ränkespiel, um das Legen einer Schlinge – mit einem Worte, daß Miß Tor Fallgruben herrichte. »Aber den Joe fangt Ihr nicht, Ma’am, – J. B. ist zäh. Zäh und verteufelt schlau.«

Diese Entdeckung beglückte ihn dermaßen, daß er den ganzen Tag über vor sich hinkicherte.

Aber es verging ein Tag nach dem andern, und es hatte durchaus nicht den Anschein, als ob Miß Tor überhaupt auf den Major achte oder an ihn denke. In früheren Zeiten war es ihre Gewohnheit gewesen, hin und wieder wie zufällig aus einem ihrer kleinen dunkeln Fenster hinauszusehen und errötend den Gruß des Majors zu erwidern; sternchenland.com aber jetzt gab sie ihrem militärischen Nachbar nie mehr einen Anlaß dazu und kümmerte sich auch nicht darum, ob er über die Straße herübersah oder nicht. Es sollten auch noch andere Veränderungen vorgehen. Der Major konnte im Schatten seines eigenen Zimmers stehend die Wahrnehmung machen, daß die Wohnung der Miß Tor in letzter Zeit ein schmuckeres Aussehen gewonnen hatte. Für den alten kleinen Kanarienvogel war ein neuer Käfig mit vergoldeten Drähten angeschafft worden; verschiedener Zierat, aus Pappendeckel und Papier geschnitten, schien den Kaminsims und die Tische zu zieren; an den Fenstern waren plötzlich ein paar Pflänzlein aufgeschossen, und Miß Tor übte sich gelegentlich auf ihrem Klavier, dessen Erbsengirlande sich gar prunkhaft ausnahm und auf dem ein Notenheft mit einigen von Miß Tor selbst abgeschriebenen Walzern lag.

Vor allem war es jedoch der Umstand, daß sich Miß Tor längst mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Eleganz in eine leichte Trauer gekleidet hatte. Das half dem Major mit einem Male aus all seiner Schwierigkeit, und er kam dadurch zu dem Schluß, daß ihr irgendein kleines Legat zugefallen und sie deshalb stolz geworden sei.

Schon am anderen Tage, nachdem sich der Major durch diese Folgerung das Gemüt erleichtert hatte, sah er, wie er eben bei seinem Frühstück saß, eine so erstaunliche und wundervolle Erscheinung in dem kleinen Wohnstübchen der Miß Tor, daß er geraume Zeit auf seinem Sessel wie angenagelt sitzenblieb; dann stürzte er in sein Nebenkabinett und kehrte mit einem doppelröhrigen Operngucker zurück, mit dem er die Erscheinung einige Minuten lang aufs angelegentlichste betrachtete.

»Ich wette fünfzigtausend Pfund, es ist ein kleines Kind, Sir«, sagte der Major, indem er das Augenglas wieder zusammendrückte.

Das konnte der Major nicht vergessen. Er pfiff in einem fort, und seine Augen quollen so furchtbar hervor, daß sie in dem Zustande, wie sie früher waren, eigentlich als tiefliegend und eingesunken betrachtet werden konnten. Tag um Tag, zwei-, drei-, viermal in der Woche machte das Wickelkind seinen Besuch. Der Major fuhr fort, zu glotzen und zu pfeifen. Aber was er auch treiben mochte, niemand achtete seiner auf dem Prinzessinnenplatze, denn Miß Tor hatte aufgehört, an seinem Tun und Lassen Anteil zu nehmen. Sein Blau hätte sich ebensogut in Schwarz verwandeln können, ohne daß es sie in irgendeiner Weise interessiert hätte.

Die Beharrlichkeit, mit der sie den Prinzessinnenplatz verließ, um das Wickelkind und seine Wärterin zu holen, mit ihnen zu kommen, zu gehen und beständige Wache über sie zu halten – die Ausdauer, mit der sie es selbst pflegte, nährte, durch Spielen unterhielt oder durch Arien auf ihrem Klavier in Todesängste versetzte, war ganz außerordentlich. Auch befiel sie um dieselbe Zeit eine große Leidenschaft, nach einem gewissen Armband zu sehen und den Mond zu betrachten, an dem sie oftmals von ihrem Kammerfenster aus lange Beobachtungen anstellte. Nach was sie übrigens auch sehen mochte, nach Sonne, Mond, Sternen oder Armbändern – für den Major sternchenland.com hatte sie keinen Blick mehr. Und der Major, der vor Neugierde fast starb, pfiff, glotzte und düsselte in seinem Zimmer herum, ohne der Sache auf den Grund kommen zu können.

»Gewiß und wahrhaftig, Ihr werdet das Herz meines Bruders Paul noch ganz gewinnen«, sagte eines Tages Mrs. Chick.

Miß Tor erblaßte.

»Er wird mit jedem Tage Paul ähnlicher«, fuhr Mrs. Chick fort.

Miß Tox gab darauf keine andere Erwiderung, als daß sie den kleinen Paul in ihre Arme nahm und dessen Haubenband mit ihren Liebkosungen ganz zerknitterte.

»Ich habe die Bekanntschaft seiner Mutter erst durch Euch machen sollen, meine Liebe«, sagte Miß Tor. »Hat er überhaupt Ähnlichkeit mit ihr?«

»Nicht im geringsten«, entgegnete Louisa.

»Sie war – war hübsch, glaube ich?« stotterte Miß Tor.

»Nun ja, die liebe arme Fanny war interessant«, erwiderte Mrs. Chick nach längerem Bedenken. »Gewiß interessant. Sie besaß zwar nicht jene beherrschende Überlegenheit, die man fast als eine Sache, die sich von selbst versteht, an der Gattin meines Bruders zu finden erwartete, und ebensowenig die Kraft und Lebhaftigkeit des Geistes, die ein solcher Mann braucht.«

Miß Tor seufzte tief.

»Aber sie war angenehm«, fuhr Mrs. Chick fort, »sehr angenehm. Und sie meinte es gut – ach Himmel, wie gut meinte es nicht die arme Fanny!«

»Du Engel!« rief Miß Tor dem kleinen Paul zu. »Du treues Abbild deines Papas.«

Hätte der Major wissen können, wie viele Hoffnungen und Wagnisse, welche Menge von Plänen und Spekulationen sich an dieses kleine Kind knüpften – wäre es ihm möglich gewesen, Zeuge zu sein, wie sie in ihrer buntesten Verwirrung und Unordnung die zerdrückte Haube des nichts ahnenden kleinen Paul umschwebten, so würde er sicherlich allen Grund gehabt haben, die Augen aufzureißen. Er hätte nämlich unter dem Gewimmel einige ehrgeizige, ausschließlich Miß Tor angehörige Sonnenstäubchen und Strahlen erkennen können, und dann wäre ihm wahrscheinlich klar geworden, welche Beschaffenheit es mit der scheuen Teilnahme dieser Dame an der Firma Dombey hatte.

Hätte das Kind selbst in der Nacht geweckt werden können, damit es an den Vorhängen seiner Wiege die matten Reflexe von Träumen erschaue, die andere Leute an seine Person knüpften, so wäre es sicherlich aus guten Gründen vor Angst in Krämpfe gefallen. Aber Paul schlummerte sanft, ohne Ahnung von den liebevollen Absichten der Miß Tor, von der Verwunderung des Majors, von den frühen Leiden seiner Schwester und von den ernsteren Visionen seines Vaters; konnte er ja nicht dafür, daß irgendein Teil der Erde einen Dombey oder einen Sohn barg. sternchenland.com

Achtes Kapitel.


Achtes Kapitel.

Pauls weitere Fortschritte – sein Gedeihen und sein Charakter.

Unter den wachsamen Augen der Zeit – so ganz anderen, als die des Majors waren – ging mit Pauls Schlummern allmählich eine Veränderung hervor. Es gewann mehr und mehr Licht, immer bestimmtere und bestimmtere Träume störten ihn, und eine Menge von Gegenständen und Eindrücken umschwärmten sein Lager. Er ging aus dem Alter der hilflosen Kindheit in das der regsameren über und wurde ein plaudernder, umhergehender, neugieriger Dombey.

Nach dem Sturz der Verbannung der Richards wurde die Kinderstube nur provisorisch versorgt, wie es zuweilen auch bei Ministerien zu sein pflegt, wenn sich kein individueller Atlas finden läßt, um sie zu tragen. Die provisorisch Betrauten waren natürlich Mrs. Chick und Miß Tor, die sich ihren Obliegenheiten mit so erstaunlichem Eifer hingaben, daß Major Bagstok mit jedem Tage neu an sein Vergessensein erinnert wurde, während Mr. Chick, der häuslichen Oberaufsicht beraubt, sich in die lustige Welt warf, in Klubs und Kaffeehäusern speiste, bei drei verschiedenen Gelegenheiten nach Tabak roch, allein ins Theater ging und – um es kurz zu sagen – sich jeder sozialen Pflicht und jeder moralischen Verbindlichkeit – wie ihm einmal von Mrs. Chick bedeutet wurde – als enthoben erachtete.

Aber trotz der früheren guten Aussichten und trotz aller dieser Wachsamkeit und Sorgfalt wollte der kleine Paul doch nicht recht gedeihen. Von Natur aus zart, nahm er nach der Entfernung seiner Amme sehr ab, und es hatte geraume Zeit den Anschein, als warte er nur auf eine Gelegenheit, seinen neuen Wärterinnen aus den Händen zu gleiten und seine verlorene Mutter zu suchen. Den gefährlichen Boden auf der Rennjagd zu dem reiferen Alter fand er sehr schwer durchzumachen, und er wurde im Laufe derselben von allen erdenklichen Hemmnissen hart bedrängt. Jeder Zahn wurde für ihn zu einer halsbrechenden Verzäunung, jeder Masernflecken zu einer steinernen Mauer. Jeder Anfall von Keuchhusten warf ihn aufs Krankenlager, und er mußte ein ganzes Feld kleiner Krankheiten, die sich auf den Fersen folgten, um ihn ja nicht zum Aufstehen kommen zu lassen, überqueren. Ja sogar die Hühner wurden wütend, wenn sie etwas mit der Kinderkrankheit zu tun hatten, der sie ihren Namen liehen, und quälten den armen Paul wie Tigerkatzen.

Vielleicht hatte auch die Kälte bei Pauls Taufe irgendeinen empfindsamen Teil seines Wesens berührt, so daß er sich in dem kalten Schatten seines Vaters nicht erholen konnte; so viel ist gewiß, daß er von diesem Tage an ein unglückliches Kind war. Mrs. Wickham sagte oft, sie habe nie ein so liebes Geschöpf so schwer heimgesucht gesehen.

Mrs. Wickham war die Frau eines Kellners – was etwa gleichbedeutend sein dürfte mit der Witwe eines jeden andern Mannes – und ihre Bewerbung um ein Unterkommen in Mr. Dombeys sternchenland.com Dienst hatte unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sie augenscheinlich keinen Anhang haben konnte, geneigte Aufnahme gefunden. Einige Tage später nach Pauls schneller Entwöhnung war sie zu dessen Wärterin bestellt worden. Mrs. Wickham war eine bescheidene Frau mit weißem Teint, stets emporgezogenen Augenbrauen und unablässig gesenktem Kopfe. Stets bereit, sich selbst zu bemitleiden, bemitleidet zu werden, oder jemand anders zu bemitleiden, hatte sie eine überraschende natürliche Gabe, alle Gegenstände in einem gänzlich verlorenen beklagenswerten Lichte zu betrachten, die schauerlichsten Vorgänge damit in Verbindung zu bringen und aus der Übung ihre« Talents die größten Tröstungen abzuleiten.

Es ist kaum nötig, zu bemerken, daß kein Zug dieser ihrer Eigenschaft je zur Kenntnis des großmächtigen Mr. Dombey kam. Das wäre auch in der Tat merkwürdig gewesen, da es doch niemand im Haus – nicht einmal Mrs. Chick oder Miß Tor – je wagte, ihm bei irgendeiner Gelegenheit zuzuraunen, daß in Beziehung auf den kleinen Paul auch nur der mindeste Grund zur Unruhe vorhanden sei. Er hielt es für etwas Notwendiges, daß das Kind eine gewisse Reihe kleiner Krankheiten durchmachen müsse, und es sei nur um so besser, je früher das geschehe. Allerdings, wenn er imstande gewesen wäre, ihn loszukaufen oder einen Substituten an seine Stelle zu setzen, wie man das im Falle eines unglücklichen Zugs bei der Konskription zu tun pflegt, so würde er keine Geldausgabe gescheut haben; da das aber nicht möglich war, so wunderte er sich nur hin und wieder in seiner hochmütigen Weise, was denn die Natur damit bezwecke, und tröstete sich mit dem Gedanken, es sei wieder ein weiterer Meilenstein zurückgelegt und das große Ziel der Reise näher herangerückt. Das vorherrschendste Gefühl in seiner Seele, das sich immer mehr steigerte, je älter Paul wurde, war die Ungeduld – ein sehnsüchtiges Harren der Zeit, in welcher seine Träume von ihrer vereinten Bedeutsamkeit und Größe zur triumphierenden Wirklichkeit würden. Einige Philosophen sagen uns, daß unseren besten Neigungen immer die Selbstsucht zugrunde liege. Für Mr. Dombey war der kleine Paul von Anfang an als ein Teil seiner eigenen Größe oder – was damit gleichbedeutend ist – der Größe von Dombey und Sohn so entschieden wichtig, daß ohne Frage, wie mancher gute Oberbau eines unbescholtenen Rufs, seine väterliche Liebe sich leicht auf eine sehr niedrige Grundlage zurückführen ließ. Er liebte übrigens seinen Sohn mit aller Liebe, deren er fähig war. Wenn sich je in seinem frostigen Herzen ein warmer Winkel befand, so war dieser von dem Sohn in Anspruch genommen, und wenn die sehr harte Oberfläche desselben den Eindruck eines Bildes aufnehmen konnte, so war es das des Sohnes. Doch war es kaum das Bild des kindlichen oder knabenhaften, sondern vielmehr das des erwachsenen, des »Sohns« der Firma. Deshalb sah er so ungeduldig der Zukunft entgegen, deshalb wäre er so gern über die früheren Abschnitte der Entwicklung hinweggeeilt, und darum machte er sich, trotz seiner Liebe, nur so wenig oder gar keine Sorge darüber. Er schien der Überzeugung zu sein, sternchenland.com der Knabe habe ein gefeites Leben und müsse notgedrungen der Mann werden, mit dem sich schon jetzt unaufhörlich seine Gedanken beschäftigten, und für den er, wie für eine existierende Wirklichkeit, jeden Tag neue Pläne schmiedete.

Paul war jetzt beinahe fünf Jahre alt. Er war ein hübsches Knäblein, hatte aber dabei ein so schmächtiges, tiefsinniges Gesichtchen, daß Mrs. Wickham oft bedeutungsvoll den Kopf schüttelte und tief dabei seufzte. Seine Gemütsart stellte in Aussicht, daß er im späteren Leben sehr gebieterisch werden dürfte; auch wußte er seine eigene Bedeutsamkeit und die Pflicht zur Unterwerfung allen andern Personen und Gegenständen so deutlich klar zu machen, als es das Herz nur wünschen konnte. Zuweilen war er kindlich und scherzhaft genug, da er überhaupt keinen störrischen Charakter besaß; aber zu andern Zeiten hatte er eine gar befremdliche altmodische, gedankenschwere Art an sich, wenn er brütend in seinem kleinen Sesselchen saß und dabei wie eines jener schrecklichen kleinen Wesen in den Feenmärchen aussah oder redete, die bei einem Alter von hundertundfünfzig oder zweihundert Jahren phantastisch die Kinder repräsentieren, mit denen sie vertauscht wurden. Droben in der Kinderstube wandelte ihn gar oft diese frühreife Stimmung an, und er konnte mit dem Ausruf, daß er müde sei, urplötzlich darin verfallen, selbst wenn er gerade mit Florence spielte oder Miß Tor als Pferd am Leitseil gehen ließ. Nie aber befiel ihn diese Laune so sicher, als wenn sein kleiner Stuhl nach dem Zimmer seines Vaters gebracht wurde und er dort nach der Mahlzeit neben seinem Erzeuger am Feuer sitzen mußte. Zu solcher Zeit waren sie das seltsamste Paar, das je vom Feuerlichte beschienen wurde. – Mr. Dombey, so aufrecht und feierlich in die Flamme schauend, sein kleines Ebenbild aber mit einem alten, alten Gesicht, mit der gespannten und verzückten Aufmerksamkeit eines Zauberers in die rote Perspektive blickend. Mr. Dombey unterhielt sich mit verwickelten weltlichen Entwürfen und Plänen, Sohn aber erging sich in weiß der Himmel was für wilden Phantasien, halbgeformten Gedanken und unsteten Spekulationen. Mr. Dombey saß da, steif von Stärke und Anmaßung, Sohn als sein echter Sprößling in unbewußter Nachahmung. Beide waren sich so sehr ähnlich und bildeten doch einen so schreienden Gegensatz.

Bei einer dieser Gelegenheiten waren beide geraume Zeit vollkommen ruhig dagesessen, und Mr. Dombey entnahm das Wachen des Kindes nur dem Umstände, daß ihn hin und wieder ein Blitz seines Auges traf, in dem das helle Feuer wie aus einem Diamant funkelte, als der kleine Paul das Schweigen in folgender Weise unterbrach:

»Papa, was ist Geld?«

Diese plötzliche Frage hatte eine so unmittelbare Beziehung zu Mr. Dombeys Gedanken, daß dieser ganz betroffen wurde.

»Was Geld ist, Paul?« entgegnete er. »Geld?«

»Ja«, sagte das Kind und legte die Hände auf die Lehnen seines sternchenland.com kleinen Stuhls, während er zugleich das alte Gesicht Mr. Dombey zukehrte: »was ist Geld?«

Mr. Dombey sah sich in Verlegenheit. Er hätte ihm gerne eine Erklärung über die verschiedenen Bezeichnungen dieses Zirkulationsmittels, über Kurantmünze, nicht kursfähige Münze, Papier, Barren, Wechsel, den Marktwert der edlen Metalle usw. gegeben; als er aber auf den kleinen Stuhl niederblickte und dabei bemerkte, wie ferne noch ein gehöriges Verständnis des Gegenstandes lag, antwortete er:

»Gold, Silber und Kupfer, Guineen, Shillinge, Halbpence. Du weißt, was das ist?«

»O ja, das weiß ich wohl«, sagte Paul. »Das meine ich auch nicht, Papa. Ich möchte wissen, was Geld überhaupt ist.«

Himmel und Erde, wie alt sein Gesicht war, als er es abermals zu dem seines Vaters erhob!

»Was Geld überhaupt ist?« entgegnete Dombey, indem er seinen Stuhl ein wenig zurückschob, um in heller Verwunderung das anmaßende Atom, das eine solche Frage gestellt hatte, besser betrachten zu können.

»Ich meine Papa, was kann es ausrichten?« versetzte Paul, indem er die Arme kreuzte (sie waren kaum lang genug dazu) und seine Blicke zwischen dem Feuer und seinem Vater hin und her gleiten ließ.

Mr. Dombey rückte seinen Stuhl wieder an den früheren Platz und pätschelte Paul auf den Kopf.

»Du wirst es mit der Zeit erfahren, Bürschlein«, sagte er. »Geld, Paul, kann alles ausrichten.«

Er faßte dabei die kleine Hand des Knaben und klopfte leicht mit seiner darauf.

Aber Paul machte seine Hand los, sobald er konnte, rieb die Fläche derselben sachte auf der Stuhllehne hin und her, als ob sein Verstand darin sitze und er ihn schärfen wolle, schaute abermals ins Feuer, wie wenn ihm von diesem die Frage eingegeben worden sei, und wiederholte nach einer kurzen Pause:

»Alles Papa?«

»Ja, alles – beinahe«, sagte Mr. Dombey.

»Alles will soviel heißen, wie überhaupt alles – ist es nicht so, Papa?« fragte der Sohn, die Beschränkung entweder nicht bemerkend, oder vielleicht auch nicht verstehend.

»Ja«, versetzte Mr. Dombey.

»Warum hat Geld nicht meine Mama gerettet?« entgegnete das Kind – »es ist doch nicht grausam – oder?«

»Grausam!« sagte Mr. Dombey, indem er die Halsbinde zurechtrückte und sich über die Idee zu ärgern schien. »Nein. Etwas Gutes kann nicht grausam sein!«

»Wenn es etwas Gutes ist und alles kann«, sagte der kleine Bursche, nachdenklich wieder in das Feuer zurückschauend, »so wundere ich mich nur, warum es meine Mama nicht rettete.«

Er stellte diesmal seine Frage nicht an seinen Vater. Vielleicht sternchenland.com hatte er mit kindlichem Scharfsinn erfaßt, daß sie seinen Vater bereits unruhig gemacht. Aber er wiederholte den Gedanken laut, als sei es etwas Altes, das ihn längst beunruhigt habe, und legte das Kinn auf die Hand, wie wenn er sinnend in dem Feuer die Erklärung suche.

Mr. Dombey erholte sich schnell von seiner Überraschung, um nicht zu sagen von seiner Unruhe – denn es war das erstemal, daß der Knabe mit ihm über die Mutter sprach, obschon er ihn jeden Abend in derselben Weise an seiner Seite sitzen hatte – und erklärte ihm nun, daß das Geld zwar ein sehr gewaltiger Geist sei, den man unter keinen Umständen je vergeuden dürfe, aber gleichwohl nicht vermöge, Leute, deren Sterbestündlein gekommen sei, am Leben zu erhalten; leider müßten alle Menschen sterben, sogar in der City, und wenn sie auch noch so reich seien. Das Geld bewirke übrigens, daß man geehrt, gefürchtet, geachtet, gesucht und bewundert werde; es mache mächtig und herrlich in den Augen aller Menschen und könne sehr oft für eine geraume Zeit sogar den Tod abhalten. Es habe z.B. seiner Mama die Dienste des Mr. Pilkins gesichert, die Paul selbst ja oft zustatten gekommen seien, ebenso die des großen Doktors Parker Peps, den er noch nicht kennengelernt habe. Es könne alles ausrichten, was überhaupt sich ausrichten lasse. Das und ähnliches flößte Mr. Dombey dem Geiste seines Sohnes ein, der aufmerksam zuhörte und den größten Teil dessen, was ihm gesagt wurde, zu verstehen schien.

»Aber es kann mich nicht kräftig oder ganz gesund machen, Papa – oder kann es?« fragte Paul nach kurzem Schweigen und rieb sich die kleinen Händchen.

»Ei, du bist ja kräftig und gesund«, entgegnete Dombey, »oder bist du es etwa nicht?«

O wie alt war der Ausdruck des Gesichts, das sich nun wieder mit halb melancholischem, halb schlauem Ausdruck erhob.

»Wie, bist du etwa nicht so kräftig und so gesund, wie kleine Leute es gewöhnlich sind?« fragte Mr. Dombey.

»Florence ist zwar älter als ich; aber ich weiß, ich bin nicht so stark und gesund wie Florence«, entgegnete das Kind, »und ich glaube, als Florence so klein war, wie ich, konnte sie viel länger in einem fort spielen, ohne müde zu werden. Ich bin oft so müde«, sagte der kleine Paul, indem er sich die Hände wärmte und durch das Kamingitter sah, als fände dort ein gespenstisches Puppenspiel statt, »und meine Knochen tun mir so weh – Wickham sagt wenigstens, es seien die Knochen – daß ich nicht weiß, was ich tun soll.«

»Nun ja; aber das ist abends«, sagte Mr. Dombey, indem er seinen Stuhl näher zu dem seines Sohnes rückte und seine Hand sanft auf dessen Rücken legte; »kleine Leute müssen abends müde sein, wenn sie gut schlafen wollen.«

»O, es ist nicht nur abends, Papa«, versetzte das Kind; »auch am Tage, wenn ich in Florences Schoß liege und sie mir etwas vorsingt. Nachts träume ich sonderbare, wunderliche Dinge!«

Und er fuhr fort, seine Hände zu wärmen und sich Gedanken darüber zu machen, wie ein alter Mann oder ein junger Kobold.

Mr. Dombey war erstaunt, fühlte sich unbehaglich und wußte ganz und gar nicht, wie er die Unterhaltung fortführen sollte, so daß er sitzenblieb und seinen Sohn beim Schein des Feuers ansah, die Hand noch immer auf dessen Rücken liegen lassend, als würde sie dort durch magnetische Anziehung festgehalten. Einmal brachte er auch die andere Hand näher und drehte für einen Moment das kleine nachdenkliche Gesicht seinem eigenen zu; sobald er es aber wieder losgelassen hatte, suchte es aufs neue das Feuer und schaute auf die sprühenden Funken, bis die Wärterin erschien, um ihren Pflegling zu Bett zu bringen.

»Florence soll mich holen«, sagte Paul.

»Wollt Ihr nicht mit Eurer armen Wärterin Wickham kommen, Master Paul?« fragte die Dienerin mit großem Pathos.

»Nein, ich mag nicht«, versetzte Paul, sich wieder in seinem Armstuhl festpflanzend, als sei er der Herr im Hause.

Mit einem Segenswunsche über die liebe Unschuld entfernte sich Mrs. Wickham, und bald darauf erschien statt ihrer Florence. Das Kind stand augenblicklich mit großer Bereitwilligkeit auf und machte dabei, als es seinem Vater gute Nacht sagte, ein so viel heitereres, jüngeres und kindlicheres Gesicht, daß Mr. Dombey ganz erstaunt darüber war, obschon er über den Wechsel sehr beruhigt war. Nachdem die beiden das Gemach verlassen hatten, war es ihm, als höre er eine sanfte Stimme singen; er wußte von Paul, daß ihm seine Schwester vorzusingen pflegte, weshalb er neugierig die Tür öffnete, um zu hören und ihnen nachzusehen. Sie hatte den Kleinen auf ihren Armen und trug ihn mühevoll die große, weite, leere Treppe hinauf; Pauls Kopf lag auf ihrer Schulter, und seine Arme waren nachlässig um ihren Hals geschlungen. So ging es mit großer Anstrengung vorwärts; das Mädchen sang die ganze Zeit über, und bisweilen mischte Paul eine schwache Begleitung darein. Mr. Dombey sah ihnen nach, bis sie – freilich nicht, ohne unterwegs anzuhalten – die oberste Treppenstufe erreicht hatten und dort seinen Blicken entschwanden; aber auch dann schaute er noch immer aufwärts, bis die matten Strahlen des Mondes, die in melancholischer Weise durch das trübe Oberlichtfenster schienen, ihn nach seinem eigenen Zimmer zurücksandten. Beim Diner des nächsten Tages mußten sich Mrs. Chick und Miß Tor zum Zweck einer Beratung einfinden, und sobald das Tafeltuch entfernt war, eröffnete Mr. Dombey ihnen den Gegenstand, indem er ohne Rückhalt fragte, was denn eigentlich mit Paul sei und was Doktor Pilkins über ihn sage.

»Das Kind ist kaum so kräftig, als ich es wünschen möchte«, fügte Mr. Dombey hinzu.

»Mein lieber Paul«, versetzte Mrs. Chick, »mit deinem gewohnten glücklichen Scharfblick hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Unser Liebling ist nicht so kräftig, als wir wünschen, und der Grund dafür liegt darin, daß der Geist zu übermächtig in ihm wird. Seine sternchenland.com Seele ist viel zu groß für seinen Körper. Wenn man nur bedenkt, wie das liebe Kind spricht!« sagte Mrs. Chick ihren Kopf schüttelnd. »Niemand würde es glauben. Erst gestern seine Ausdrücke, Lukretia, über Leichenbegängnisse! –«

»Ich fürchte«, bemerkte Mr. Dombey, sie ärgerlich unterbrechend, »daß einige von den Personen droben das Kind mit unpassenden Gegenständen unterhalten. Erst gestern abend sprach er zu mir von seinen – von seinen Knochen«, sagte Mr. Dombey, einen gereizten Nachdruck auf das Wort legend. »Was in aller Welt hat man da mit den – mit den – Knochen meines Sohnes zu schaffen? Hoffentlich ist er doch kein lebendes Skelett!«

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Mrs. Chick mit einem nicht zu beschreibenden Ausdruck.

»Will’s aber auch meinen«, versetzte ihr Bruder. »Dann wieder Leichenbegängnisse! Wer spricht mit dem Kinde von Leichenbegängnissen? Wir sind doch keine Leichenbestatter, Stumme oder Totengräber, sollt‘ ich meinen.«

»Gewiß nicht«, entgegnete Mrs. Chick mit demselben tiefen Ausdruck, wie früher.

»Wer setzt ihm aber solche Dinge in den Kopf?« fragte Mr. Dombey. »In der Tat, ich war gestern abend in hohem Grade erschüttert. Wer setzt ihm solche Dinge in den Kopf, Louisa?«

»Mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick nach einer kurzen Pause, »diese Frage ist unnütz. Wenn ich gegen dich aufrichtig sein soll, so glaube ich nicht, daß Wickham eine sehr aufgeräumte, heitere Person ist – eine, wie soll ich sagen –«

»Eine Tochter des Momus«, ergänzte Miß Tor mit sanfter Stimme.

»Ganz richtig«, sagte Mrs. Chick; »aber sie benimmt sich ungemein achtsam, macht sich nützlich, wo sie kann, und ist durchaus nicht anmaßend. Ich habe in der Tat nie eine dienstwilligere Frauensperson gesehen. Wenn das liebe Kind –« fuhr Mrs. Chick im Tone einer Person fort, die, statt alles zum erstenmal zu sagen, das zusammenfaßt, über was man vorläufig völlig ins reine gekommen ist – »durch den letzten Anfall ein wenig geschwächt wurde und nicht ganz so gesund ist, als wir es wohl wünschen könnten – wenn in seinem System sich eine vorübergehende Entkräftung bemerkbar macht und es hin und wieder den Anschein hat, als könne er augenblicklich nicht gebieten über den Gebrauch seiner –«

Nach Mr. Dombeys kürzlichem Protest gegen die Knochen scheute sich Mrs. Chick, von Beinen zu sprechen, und wartete daher auf eine Einflüsterung von Miß Tor, die, ihrem Amte getreu, aufs Geratewohl das Wort »Glieder« hinwarf.

»Glieder!« wiederholte Mr. Dombey.

»Ich glaube, der Herr Doktor sprach diesen Morgen von Beinen, Louisa, ist es nicht so?« fragte Miß Tor.

»Ei freilich tat er das, meine Liebe«, entgegnete Mrs. Chick mit mildem Vorwurf. »Wie könnt Ihr mich nur fragen, da Ihr es ja sternchenland.com selbst gehört habt? Ich sage, wenn unser lieber Paul vorübergehend den Gebrauch seiner Beine verlieren sollte, so ist das nur eine Zufälligkeit, die bei vielen Kindern in seinem Älter oft vorkommt und sich weder durch Sorgfalt, noch durch Vorsicht verhindern läßt. Je eher du das einsiehst und zugestehst, Paul, desto besser ist es.«

»Zuverlässig weißt du, Louisa«, bemerkte Mr. Dombey, »daß ich deine natürliche Liebe und Achtung für das künftige Haupt meines Hauses nicht in Frage ziehe. Ich glaube, Mr. Pilkins ist heute morgen bei Paul gewesen?«

»Ja«, entgegnete die Schwester. »Miß Tor und ich, wir beide waren anwesend. Miß Tor und ich, wir fehlen nie bei solchen Gelegenheiten. Es ist für uns einfach Ehrensache. Mr. Pilkins kommt schon einige Zeit täglich ins Haus, und ich halte ihn für einen sehr gescheiten Mann. Er sagt, die Sache sei nicht der Rede wert, und ich kann dir diese Versicherung gehen, wenn du einen Trost darin findest; aber er empfahl heute Seeluft. Ich bin überzeugt, Paul, daß das ein sehr weiser Rat ist.«

»Seeluft?« wiederholte Mr. Dombey, seine Schwester ansehend.

»Es liegt durchaus nichts Beunruhigendes darin«, sagte Mrs. Chick. »Sie ist meinem George und meinem Friedrich, als sie ungefähr in gleichem Alter waren, ebenfalls verordnet worden, und auch ich selbst mußte mich ihrer oftmals bedienen. Ich bin ganz mit dir einverstanden, Paul, daß vielleicht droben unvorsichtigerweise Gegenstände vor ihm zur Sprache kommen, mit denen man seinen jungen Geist besser verschonen sollte; aber ich weiß in der Tat nicht, wie dem bei einem Kind von so rascher Auffassungsgabe abzuhelfen ist. Bei einem gewöhnlichen Kinde hätte es gar nichts auf sich. Ich muß daher sagen, daß ich die Ansicht der Miß Tor teile; eine kurze Abwesenheit von diesem Hause, die Luft von Brighton und die leibliche sowohl als die geistige Erziehung einer so verständigen Frau wie z.B. Mrs. Pipchin ist –«

»Wer ist Mrs. Pipchin, Louisa?« fragte Mr. Dombey, ganz entsetzt über die familiäre Erwähnung eines Namens, von dem er nie zuvor etwas gehört hatte.

»Mrs. Pipchin, mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick, »ist eine ältliche Dame – Miß Tor kennt ihre ganze Geschichte – die seit einiger Zeit mit bestem Erfolg die ganze Tätigkeit ihres Geistes dem Studium und der Erziehung der Jugend gewidmet hat; auch stammt sie aus guter Familie. Ihrem Gatten brach das Herz durch – wie habt Ihr gesagt, daß ihrem Gatten das Herz brach, meine Liebe? Ich habe die näheren Umstände vergessen.«

»Durch das Pumpen von Wasser aus den peruanischen Minen«, entgegnete Miß Tor.

»Er war natürlich nicht selbst Pompier«, sagte Mrs. Chick nach ihrem Bruder hinsehend; und es schien in der Tat nötig, eine solche Aufklärung zu geben, denn Miß Tor hatte von ihm gesprochen, als sei er an der Handhabung der Pumpe gestorben, »sondern hatte sein Geld bei der Spekulation angelegt, und diese schlug fehl. Ich sternchenland.com glaube, daß Mrs. Pipchin die Kinder ganz erstaunlich zu behandeln versteht. In den Privatzirkeln, die ich besuchte, habe ich sie stets – und, o du meine Güte, wie hoch – preisen hören!«

Mrs. Chicks Auge wanderte am Bücherschrank hinauf bis zur Büste des Mr. Pitt, die ungefähr zehn Fuß vom Boden entfernt war.

»Vielleicht sollte ich, mein teurer Sir«, bemerkte Miß Tor mit einem edlen Erröten, »da eben so bestimmt davon die Rede ist, beifügen, daß die Lobeserhebungen, in welchen sich Eure teure Schwester eben über Mrs. Pipchin ergangen hat, wohl berechtigt sind. Viele Ladies und Gentlemen, die nun zu interessanten Mitgliedern der Gesellschaft herangewachsen sind, haben ihrer Pflege viel zu verdanken. Das bescheidene Individuum, das Euch anzureden sich erdreistet, stand selbst einmal unter ihrer Obhut. Ich glaube sogar, daß der jugendliche Adel ihrer Anstalt nicht fremd ist.«

»Habe ich das so zu verstehen, daß diese achtbare Matrone ein Institut unterhält, Miß Tor?« fragte Mr. Dombey herablassend.

»Ich weiß in der Tat nicht«, erwiderte Miß Tor, »ob ich es mit Recht so nennen kann. Jedenfalls ist es keine Vorbereitungsschule. Drücke ich mich vielleicht treffend aus«, fügte sie mit eigentümlicher Süßigkeit hinzu, »wenn ich es als eine Kinderbewahrungsanstalt von der auserlesensten Beschaffenheit bezeichne?«

»In ungemein beschränktem und ausschließendem Maßstabe«, ergänzte Mrs. Chick mit einem Blick auf ihren Bruder.

»O! die Ausschließlichkeit selbst!« sagte Miß Tor.

Hierin lag etwas. Der Umstand, daß Mrs. Pipchins Gatten ob den peruanischen Minen das Herz brach, war gut – er hatte einen reichen Klang. Außerdem befand sich Mr. Dombey in einem Zustande, der sich fast zur Bestürzung steigerte, wenn er daran dachte, Paul solle auch nur noch eine Stunde im Hause bleiben, nachdem seine Entfernung durch den Arzt empfohlen worden war. Es handelte sich hier um eine neue Verzögerung und ein Hindernis auf dem Wege, den das Kind im besten Falle langsam genug zurücklegen mußte, ehe das Ziel erreicht war. Die Empfehlung der Mrs. Pipchin hatte bei ihm großes Gewicht, denn er wußte, daß die beiden Damen auf jede Einmengung bei ihrem Pflegling eifersüchtig waren, und es fiel ihm dabei keinen Augenblick ein, mit in Betracht zu ziehen, daß sie vielleicht auch auf andere Schultern eine Verantwortlichkeit abzuladen wünschten, in betreff deren er, wie sich eben erst gezeigt hatte, seine festgewurzelten Ansichten hatte. »Das Herz gebrochen wegen den peruanischen Minen«, dachte Mr. Dombey. »Nun, eine sehr achtbare Art, aus der Welt zu kommen.«

»Wir wollen morgen Nachfrage halten«, sagte Mr. Dombey nach einigem Erwägen: »und angenommen, wir entscheiden uns dafür, Paul zu dieser Dame nach Brighton zu schicken, wer soll mit ihm gehen?«

»Ich glaube, wir dürfen vorderhand nicht daran denken, das Kind irgendwohin zu schicken, ohne Florence, mein lieber Paul«, versetzte sternchenland.com seine Schwester stockend. »Er ist ganz vernarrt in sie. Du weißt, er ist noch so jung und hat seine Grillen.«

Mr. Dombey wandte den Kopf ab, ging langsam nach dem Bücherschranke, schloß ihn auf und langte ein Buch zum Lesen heraus.

»Wen sonst noch, Louisa?« fragte er, ohne aufzusehen in dem Buche blätternd.

»Natürlich die Wickham. Ich denke, Wickham genügt vollkommen«, entgegnete seine Schwester. »Wenn Paul in solchen Händen ist, wie bei Mrs. Pipchin, so kannst du kaum jemand mitschicken, der für sie nur ein weiteres Hindernis wäre. Natürlich machst du wenigstens einmal in der Woche einen Besuch dort.«

»Natürlich«, sagte Mr. Dombey und saß noch eine Stunde nachher immer vor derselben Seite seines Buches, ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben.

Die gefeierte Mrs. Pipchin war eine wunderbar häßlich aussehende, mißlaunige alte Dame von gebeugter Haltung, mit einem Gesicht, so fleckig wie schlechter Marmor, einer Hakennase und einem harten grauen Auge, das aussah, als könnte es auf einem Amboß gehämmert werden, ohne dadurch Schaden zu nehmen. Wenigstens vierzig Jahre waren vergangen, seit die peruanischen Minen Mr. Pipchin den Tod gebracht hatten; aber seine Hinterlassene trug noch immer schwarzen Bombasin von so glanzlosem, tiefem, toten, düsteren Schatten, daß nach Eintritt der Dunkelheit sogar eine Gaslampe sie nicht aufzuhellen vermochte und ihre Gegenwart jede auch noch so große Anzahl von Kerzenlichtern zum Erblinden brachte. Sie galt im allgemeinen als eine Person, die sehr gut mit Kindern umzugehen wußte, und das Geheimnis ihrer Behandlung bestand darin, daß sie jedem gab, was ihm unlieb war, und nichts, was es gerne hatte; dadurch wurden denn ihre Charaktere sehr gezähmt. Sie war eine so bittere alte Dame, daß man sich wohl versucht fühlen konnte, zu glauben, in der Anwendung der peruanischen Maschinerie habe ein Irrtum stattgefunden, und es sei, statt des Wassers aus den Minen, alles Wasser der Heiterkeit und alle Milch der Menschenliebe völlig aus ihr herausgepumpt worden.

Das Kastell dieser Werwölfin und Kinderbändigerin stand an einer abschüssigen Stelle in einer Nebenstraße von Brighton. Der Boden war daselbst mehr als gewöhnlich kalkig, kieselig und unfruchtbar, und die Häuser zeigten ein gar schmächtiges, gebrechliches Aussehen. Die kleinen Gärten vorn besaßen die unerklärliche Eigentümlichkeit, nichts anderes als Ringelblumen hervorzubringen, was man sonst auch säen mochte, und die Schnecken klebten stets an den Haustüren und anderen öffentlichen Plätzen, wo sie wohl nicht als Zierde dienen konnten, mit der Beharrlichkeit von Schröpfköpfen. Winters konnte die Luft nicht aus dem Kastell heraus- und sommers nicht hineingebracht werden. Auch gab es darin einen so unaufhörlichen Widerhall des Windes, daß es überall stets wie eine große Muschel tönte, die die Insassen gleichsam Tag und Nacht an die Ohren halten mußten, ob sie nun wollten oder nicht. Natürlich konnte von sternchenland.com einem frischen Geruch nicht die Rede sein, und vor dem Fenster des Vorderzimmers, das nie geöffnet wurde, unterhielt Mrs, Pipchin eine Sammlung von Topfpflanzen, die der ganzen Anstalt ihren eigenen erdigen Duft mitteilten.

Wie sorgsam gewählt auch in ihrer Art die Exemplare sein mochten, die Pflanzen standen jedenfalls in einem eigentümlichen Einklang mit dem ganzen Hause der Mrs. Pipchin. Da waren ein halb Dutzend Kaktusse, die sich wie haarige Schlangen um runde Stöcke wanden; ein anderes Gewächs derselben Art streckte breite Krallen hinaus, wie ein grüner Hummer, mehrere Kriechpflanzen hatten stechende klebrige Blätter, und ein einziger unfreundlicher Blumentopf, der von der Zimmerdecke herunterhing, schien durch Sieden übergelaufen zu sein und kitzelte jetzt die unter ihm befindlichen Personen mit seinen langen grünen Enden, die an eine Spinne erinnerten – eine Tiergattung, von der es in Mrs. Pipchins Wohnung wimmelte, obschon sie vielleicht zur geeigneten Jahreszeit von den Ohrwürmern noch überboten wurden.

Gleichwohl steigerten sich Mrs. Pipchins Anforderungen an alle, die es erschwingen konnten, sehr hoch, und da die Dame selten die gleichmäßige Schärfe ihres Wesens zugunsten irgendeines Pfleglings milderte, so galt sie als eine Frau von merkwürdiger Festigkeit, die in ihrer Behandlung des kindlichen Charakters ganz wissenschaftlich zu Werke gehe. Auf die Grundlage dieses Rufs und des gebrochenen Herzens ihres Gemahls hin gelang es ihr, nach dem Ableben des Mr. Pipchin Jahr für Jahr sich leidlich durchzuschlagen. Drei Tage, nachdem Mrs. Chick ihrer zum erstenmal Erwähnung getan hatte, erlebte die treffliche alte Dame die Freude, einer respektablen Erhöhung ihrer laufenden Einnahmen aus Mr. Dombeys Tasche entgegensehen zu können und Florence sowohl als deren kleinen Bruder Paul zu den Insassen des Kastells zählen zu dürfen.

Mrs. Chick und Miß Tor waren abends zuvor mit den Kleinen angelangt und hatten die Nacht in einem Gasthaus zugebracht. Nach Ablieferung ihrer Fracht fuhren sie wieder der Heimat zu, und Mrs. Pipchin musterte, ihren Rücken dem Feuer zugekehrt, die neuen Ankömmlinge wie ein alter Feldwebel. Eine ältliche Nichte der Dame, eine gutmütige, dienstbeflissene Sklavin, die aber eine sehr hagere, eisenfeste Außenseite besaß und viel von Schwären an der Nase zu leiden hatte, nahm eben dem Master Bitherstone den reinen Halskragen ab, den er bei der Parade getragen hatte. Miß Pankey, zurzeit die einzige weitere kleine Kostgängerin, war kurz zuvor nach dem Gefängnis des Kastells, einem leeren Hintergemach, das zu Korrektionszwecken dienen mußte, geschickt worden, weil sie in Anwesenheit der Gäste dreimal geschnüffelt hatte.

»Nun, Sir«, sagte Mrs. Pipchin zu Paul, »glaubt Ihr wohl, daß es Euch bei mir gefallen wird?«

»Ich denke nicht, daß es mir hier je gefallen kann«, versetzte Paul »Ich will wieder fort. Das hier ist nicht mein Haus.«

»Nein. Es gehört mir«, entgegnete Mrs. Pipchin.

»Es ist sehr garstig«, sagte Paul.

»Gleichwohl gibt es noch einen schlimmern Platz darin«, erwiderte Mrs. Pipchin, »wo wir unsere bösen Buben einsperren.«

»Ist der auch schon drinnen gewesen?« fragte Paul, auf Master Bitherstone deutend.

Mrs. Pipchin nickte bejahend, und Paul hatte für den Rest des Tags genug damit zu schaffen, indem er Master Bitherstone von Kopf bis zu Fuß musterte und die Bewegungen seines Gesichts mit dem vollen Interesse beobachtete, das ein Knabe mit geheimnisvollen und schrecklichen Erfahrungen einzuflößen imstande ist.

Ein Uhr war die Stunde des Mittagessens, das hauptsächlich aus Mehlspeisen und Gemüse bestand, und um diese Zeit wurde Miß Pankey (ein sanftes, blauäugiges kleines Mädchen) aus ihrem Gefängnis hervorgeholt. Die Werwölfin verrichtete dieses Amt in eigner Person und belehrte ihre kleine Pflegbefohlene, daß niemand, der vor den Gästen schnüffle, je in den Himmel komme. Nachdem ihr diese große Wahrheit gehörig ans Herz gelegt war, wurde sie mit Reis bewirtet und mußte dann die im Kastell herkömmliche Gebetformel vortragen, in der speziell die Klausel des Dankes gegen Mrs. Pipchin für das gute Essen eingeschlossen war. Mrs. Pipchins Nichte, Berinthia, erhielt kaltes Schweinefleisch, und Mrs. Pipchin, deren Konstitution warme Nahrung verlangte, setzte sich zu den Hammelrippchen, die zwischen zwei Platten ganz heiß hereingebracht wurden und sehr gut rochen.

Da sie wegen des Regens nach dem Mahl nicht an die Küste hinuntergehen konnten und Mrs. Pipchins Konstitution nach den Hammelrippchen der Ruhe bedurfte, so begaben sie sich mit Berry (sonst Berinthia) nach dem Gefängnis, einem leeren Zimmer, das nach einer gegipsten Wand und einem Wasserfaß hinaussah, keinen Ofen hatte und mit seinem zerrissenen Kamin einen sehr gespenstischen Eindruck machte. Wenn übrigens Geselligkeit Leben hineinbrachte, war hier am Ende der beste Platz; denn Berry spielte da mit den Kindern und schien an deren Ausgelassenheit eine ebenso große Freude zu haben, wie ihre Pfleglinge. Dies dauerte fort, bis Mrs. Pipchin, wie der wieder auflebende »schwarze Mann«, zornig an die Wand klopfte; dann ließen sie ab, und Berry erzählte ihnen im Flüsterton Märchen bis zur Abenddämmerung.

Statt des Tees war für die Kinder reichlich Milch und Wasser mit Butterbrot vorhanden. Nur für Mrs. Pipchin und Berry wurde ein kleiner schwarzer Teetopf nebst einer unbeschränkten Menge Röstschnitten mit Butter für Mrs. Pipchin aufgetragen, die ebenso heiß wie die Hammelrippchen ankamen. Obschon nun die Werwölfin infolge dieses Gerichts von außen sehr schmierig wurde, schien es sie doch von innen durchaus nicht geschmeidiger zu machen; denn sie blieb so wild wie immer, und das harte graue Auge wollte nichts von Weichheit wissen.

Nach dem Tee brachte Berry ein kleines Arbeits-Etui, auf dessen Deckel der königliche Pavillon zu sehen war, hervor und fing an, sternchenland.com emsig zu arbeiten, während Mrs. Pipchin ihre Brille aufsetzte, ein großes, in grüne Leinwand gebundenes Buch herausnahm und zu nicken begann. Sooft aber Mrs. Pipchin sich darüber ertappte, daß sie gegen das Fenster vorbeugte und daran aufwachte, gab sie Master Bitherstone einen Nasenstüber, weil er gleichfalls genickt hatte.

Endlich war es für die Kinder Schlafenszeit, und nachdem sie ihr Gebet hergesagt hatten, wurden sie zu Bett gebracht. Da die kleine Miß Pankey sich fürchtete, allein im Dunkeln zu schlafen, so übernahm Mrs. Pipchin stets das Amt, sie in Person gleich einem Schaf die Treppe hinaufzutreiben; und es war gar erbaulich, mitanzuhören, wenn Miß Pankey noch lange hernach in der allerschlechtesten Kammer weinte und Mrs. Pipchin hin und wieder hineinging, um sie zu zausen. Um halb zehn Uhr brachte der Geruch von heißen Kalbsbrieslein (der Mrs. Pipchin gestattete ihre Konstitution nicht, ohne Kalbsbrieslein schlafen zu gehen) eine Abwechslung in die vorherrschenden Düfte des Hauses, die Mrs. Wickham als »Häusergeruch« bezeichnete, und bald nachher lag das ganze Kastell im Schlummer.

Am andern Morgen war das Frühstück wie der Tee am Abend vorher, nur mit der Ausnahme, daß Mrs. Pipchin statt der Röstschnitten eine Semmel verspeiste und nachher nur noch gereizter zu sein schien. Master Bitherstone las den übrigen laut einen Stammbaum aus der Genesis (von Mrs. Pipchin absichtlich ausgewählt) vor und kam über die Namen mit der Ruhe und Klarheit einer Person weg, die in einer Tretmühle arbeitete. Nachdem das geschehen war, wurde Miß Pankey fortgetragen, um gewaschen zu werden, und an Master Bitherstone nahm man etwas anderes mit Salzwasser vor, aus dem er stets sehr blau und niedergeschlagen zurückkehrte. Paul und Florence gingen inzwischen mit Wickham, die unaufhörlich in Tränen zerfloß, nach dem Gestade, und um die Mittagsstunde hielt Mrs. Pipchin abermals bei einer Vorlesung die Oberaufsicht. Es gehörte mit zu Mrs. Pipchins System, den kindlichen Geist sich nicht wie eine junge Blume entwickeln und ausbreiten zu lassen, sondern ihn mit Gewalt gleich einer Auster zu öffnen; denn die Moral solcher Vorlesungen trug gewöhnlich einen ungestümen und einschüchternden Charakter: der Held – ein böser Knabe – wurde in Mitte der Katastrophe selten durch etwas Geringeres als durch einen Löwen oder Bären abgetan.

So war das Leben bei Mrs. Pipchin. Am Sonnabend kam Mr. Dombey herunter – eine Gelegenheit, bei der Florence und Paul zu ihm nach seinem Hotel kommen durften und Tee erhielten. Auch den ganzen Sonntag blieben sie bei dem Vater und fuhren gewöhnlich vor dem Mittagessen mit ihm aus. Bei solchen Anlässen schien Mr. Dombey, gleich Falstaffs Feinden, sich sozusagen zu »multiplizieren« und aus einem einzelnen steifleinwandenen Menschen ein ganzes Dutzend zu werden. Sonntagabend war der trübseligste Abend in der Woche; denn zu solchen Zeiten schien Mrs. Pipchin es darauf abgesehen zu haben, besonders widerwärtig zu sein. Miß sternchenland.com Pankey wurde in der Regel von einer Tante zu Rottendean in tiefer Betrübnis zurückgebracht, und Master Bitherstone, dessen Verwandte insgesamt in Indien waren, und der während der Gebete in aufrechter Haltung, den Kopf gegen die Zimmerwand gelehnt und ohne eine Hand oder einen Fuß zu rühren, dasitzen mußte, fühlte sich dabei in seinem jugendlichen Gemüt so niedergeschlagen, daß er eines Sonntags abends Florence fragte, ob sie ihm für den Rückweg nach Bengalen kein Mittel angeben könne.

Aber Mrs. Pipchin stand in dem Rufe, daß sie die Kinder systematisch zu behandeln wisse, und ohne Zweifel war das auch der Fall. Die wilden kamen zuverlässig zahm genug nach Haus, nachdem sie sich einige Monate unter ihrem wirtlichen Dache aufgehalten hatten. Auch sagte man sich allgemein, es machte Mrs. Pipchin große Ehre, daß sie, nachdem ihrem Mann durch die peruanischen Minen das Herz gebrochen war, sich dieser Lebensaufgabe gewidmet, ihre Gefühle zum Opfer gebracht und fortwährend gegen die Mühen ihrer Stellung so entschlossen standgehalten hatte.

Neben dieser exemplarischen alten Dame pflegte nun Paul in der Regel lange Zeit in seinem kleinen Armstuhl zu sitzen und ins Feuer zu schauen. Er schien nie zu wissen, was Müdigkeit war, so oft er einen festen Blick auf Mrs. Pipchin richtete. Zwar liebte er sie nicht und fürchtete sich auch nicht vor ihr. Aber in seinen wunderlichen alten Launen schien sie eine ganz eigentümliche Anziehung für ihn zu besitzen. Die Hände wärmend, schaute er nach ihr hin und schaute fort, daß sogar die Werwölfin bisweilen ganz verwirrt wurde. Als sie einmal allein waren, fragte sie ihn, an was er denke.

»An Euch«, versetzte Paul ohne den mindesten Rückhalt.

»Und was denkt Ihr von mir?« fragte Mrs. Pipchin.

»Ich mache mir Gedanken, wie alt Ihr wohl sein mögt«, sagte Paul.

»Von solchen Dingen müßt Ihr nicht sprechen, junger Gentleman«, versetzte die Dame. »Das schickt sich nicht.«

»Warum nicht?« sagte Paul.

»Weil es unhöflich ist«, versetzte Mrs. Pipchin schnippisch.

»Unhöflich?« fragte Paul.

»Ja.«

»Wickham sagt«, entgegnete Paul unschuldig, »es sei auch nicht höflich, alle Hammelrippchen und Röstschnitten allein zu essen.«

»Wickham«, erwiderte Mrs. Pipchin aufbrausend, »ist eine boshafte, unverschämte, dreiste Person.«

»Was soll das?« fragte Paul.

»Geht Euch nichts an, Sir«, entgegnete Mrs. Pipchin. »Denkt an die Geschichte von dem kleinen Knaben, der von einem tollgewordenen Ochsen totgestoßen wurde, weil er Fragen stellte.«

»Wenn der Ochse toll war«, sagte Paul, »wie konnte er wissen, daß der Knabe Fragen stellte? Niemand kann hingehen und einem tollen Ochsen Geheimnisse hinterbringen. Ich glaube nicht an diese Geschichte.«

»Ihr glaubt nicht daran, Sir?« wiederholte Mrs. Pipchin erstaunt.

»Nein«, sagte Paul.

»Auch nicht, wenn es zufälligerweise ein zahmer Ochse gewesen wäre, Ihr kleiner Ungläubiger?« erwiderte Mrs. Pipchin.

Da Paul den Gegenstand noch nicht in diesem Licht betrachtet und seine Folgerungen bloß auf die angeführte Mondsüchtigkeit der Ochsen gebaut hatte, so mußte er sich für den Augenblick zufrieden geben. Aber er brütete über dem Thema mit einer so augenscheinlichen Absicht, Mrs. Pipchin gleich wieder zu fassen, daß sogar diese zähe Dame es für ratsam hielt, sich zurückzuziehen, bis der Gegenstand vergessen wäre.

Von dieser Zeit an schien Paul für Pipchin ebensoviel Anziehungskraft zu haben wie Pipchin für Paul. Statt ihn auf der andern Seite des Feuers sitzen zu lassen, rückte sie seinen Stuhl auf ihre Seite hinüber, und da blieb denn Paul in einer Ecke zwischen dem Kamin und Mrs. Pipchin, alles Licht seines kleinen Antlitzes in die schwarzen Kleiderfalten vertiefend, jede Linie und Runzel ihres Gesichts studierend und das harte graue Auge in einer Weise durchbohrend, daß es Mrs. Pipchin bisweilen schloß, als ob sie schlummere. Mrs. Pipchin hatte eine alte schwarze Katze, die in der Regel mitten vor dem Kamin lag, wo sie aus reinem Privatvergnügen schnurrte und nach dem Feuer hinblinzelte, bis die zusammengezogenen Pupillen ihrer Augen wie zwei Ausrufungszeichen aussahen. Wie sie so zusammen bei dem Feuer dasaßen, hätte man die gute alte Dame – wir verwahren uns gegen alle respektwidrige Deutung – für eine Hexe und Paul nebst der Katze für ihre zwei vertrauten Geister ansehen können. Auch hätte es völlig zu der Szene gepaßt, wenn die ganze Gesellschaft in einer windigen Nacht einen Ausflug durch den Schornstein gemacht hätte, um nie wieder zurückzukommen.

So weit kam es nun allerdings nicht, sondern nach Einbruch der Dunkelheit sah man die Katze, Paul und Mrs. Pipchin stets an ihren gewöhnlichen Plätzen, und Paul, der die Kameradschaft des Master Bitherstone gerne mied, machte Abend für Abend seine Studien an Mrs. Pipchin, an der Katze und an dem Feuer, als wären sie ein Zauberbuch in drei Bänden.

Mrs. Wickham hatte für Pauls Besonderheiten ihre eigene Deutung und leitete aus alledem die unheimlichsten Betrachtungen ab. In solchen Deutungen wurde sie durch eine wirre Aussicht auf Schornsteine von dem Zimmer aus, wo sie sich gewöhnlich aufhalten mußte, durch das Getöse des Windes und durch die Langeweile ihres gegenwärtigen Lebens (Gespenstigkeit lautet der starke Ausdruck der Mrs. Wickham) bestärkt. Es gehöre mit zu Mrs. Pipchins Politik, zu verhindern, daß ihr eigenes »junges Weibsbild« – dies war ihre stehende Bezeichnung eines jeden weiblichen Dienstboten – in Verkehr mit Mrs. Wickham kam. Darum verwandte sie viel Zeit darauf, sich hinter Türen zu verbergen und auf das arme Mädchen sternchenland.com sternchenland.com zuzuspringen, sooft sich dieses Mrs. Wickhams Zimmer näherte. Indessen stand es doch Berry frei, in diesem Quartier, soweit es sich mit der Besorgung der vielfältigen Obliegenheiten vertrug, an denen sie unablässig von Morgen bis in die Nacht arbeiten mußte, sich wenigstens zu unterhalten, und so erleichterte dann Mrs. Wickham gegen sie ihr Herz.

»Was er für ein hübscher Junge ist, wenn er schläft!« sagte Berry, vor Pauls Bett stehenbleibend, nachdem sie Mrs. Wickham ihr Nachtessen hinaufgetragen hatte.

»Ach«, seufzte Mrs. Wickham, »er hat es wohl nötig.«

»Nun, er ist auch nicht häßlich, wenn er wacht«, bemerkte Berry.

»Nein, Ma’am. O nein. Ebenso wenig wie meines Onkels Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham.

Berry machte eine Miene, als möchte sie gar gerne den Gedankenzusammenhang zwischen Paul Dombey und der Betsey Jane des Onkels von Mrs. Wickham erforschen.

»Meines Onkels Frau«, fuhr Mrs. Wickham fort, »starb genau wie seine Mama. Das Kind meines Onkels fing gerade so an, wie Master Paul, und den Leuten lief oft darob das Blut kalt durch die Adern.«

»Wieso?« fragte Berry.

»Ich hätte nicht eine ganze Nacht allein bei Betsey Jane aufbleiben mögen!« sagte Mrs. Wickham, »nein, und wenn man meinem Mann am andern Morgen ein eigenes Geschäft angetragen hätte. Es wäre mir rein unmöglich gewesen. Miß Berry.«

Miß Berry fragte natürlich nach dem Grund. Aber Mrs. Wickham verfolgte nach dem Brauch mancher Damen von ihrer Stellung die Sache in ihrer eigenen Weise, ohne sich verwirren zu lassen.

»Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham, »war ein so süßes Kind, wie man nur eines zu sehen wünschen kann. Ich möchte mir kein lieberes wünschen. Betsey Jane überwand alles, was einem Kind an Krankheiten nur zustoßen kann. Die Masern waren bei ihr so leicht«, fügte Mrs. Wickham hinzu, »wie bei Euch das Hautjucken, Miß Berry.«

Miß Berry runzelte unwillkürlich die Nase.

»Aber der Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham, ihre Stimme dämpfend, indem sie zugleich im Zimmer umher und nach Pauls Bett hinsah, »ist ihre verstorbene Mutter in der Wiege erschienen. Ich kann nicht gerade sagen, wie oder wann, und ebenso wenig weiß ich, ob das liebe Kind davon wußte oder nicht. Aber Betsey Jane ist von ihrer Mutter bewacht worden, Miß Berry. Ihr sagt vielleicht, das sei Unsinn; ich nehme es nicht übel, Miß, und hoffe, ihr werdet imstande sein, mit gutem Gewissen zu glauben, daß es wirklich Unsinn sei. Euer Gemüt wird nur um so besser dabei fahren, da Ihr Euch an einem Platz befindet, der – Ihr werdet meine Freiheit entschuldigen – wie ein Begräbnisplatz aussieht und es wohl vermöchte, mich unter den Boden zu bringen. Master Paul ist ein wenig unruhig sternchenland.com in seinem Schlaf. Klopft ihn auf den Rücken, wenn Ihr so gut sein wollt.«

»Natürlich glaubt Ihr«, sagte Berry, indem sie tat, was ihr aufgetragen wurde, »auch seine Mutter habe sich seiner angenommen?«

»Betsey Jane«, erwiderte Mrs. Wickham in feierlichstem Ton, »wurde aufgezogen wie dieses Kind da, und veränderte sich so sehr, wie sich Paul verändert hat. Ich habe oft und oft gesehen, wie sie dasaß – in Gedanken, in Gedanken, in Gedanken, ganz wie er. Oft und oft bemerkte ich, wie sie gerade so alt, alt, alt aussah wie er. Vielmal hörte ich sie geradeso reden, wie er redet, und ich bin der Meinung, daß dieses Kind und Betsey Jane ganz in der nämlichen Lage sind, Miß Berry.«

»Ist Eures Onkels Kind noch am Leben?« fragte Berry.

»Ja, Miß, sie lebt«, entgegnete Mrs. Wickham mit triumphierender Miene; denn es war augenscheinlich, daß Miß Berry das Gegenteil erwartete; »und ist an einen Silberarbeiter verheiratet. O ja. Miß, sie lebt«, sagte Mrs. Wickham, einen bedeutsamen Nachdruck auf das »sie« legend.

Es ging also klar daraus hervor, daß jemand tot war, und Mrs. Pipchins Nichte erkundigte sich nach der betreffenden Person.

»Ich möchte Euch nicht unruhig machen«, entgegnete Mrs. Wickham, in ihrem Nachtessen fortfahrend. »Fragt mich nicht danach.«

Das war jedenfalls das sicherste Mittel, eine zweite Frage herbeizuführen. Miß Berry wiederholte sie daher, und nach einigem widerstrebenden Zögern legte Mrs. Wickham das Messer nieder, um nach Pauls Nett hinzublicken.

»Sie faßte Zuneigungen zu Leuten«, antwortete sie, »darunter gar wunderliche Zuneigungen. Und andere gewannen sie lieb, wie man dieses wohl erwarten konnte, aber nur in höherem Grad als gewöhnlich. Sie sind alle gestorben.«

Das war so gar unverhofft und schrecklich für Mrs. Pipchins Nichte, daß sie sich aufrecht auf den harten Rand der Bettstatt niedersetzte, nur kurz aufatmete und die Sprecherin mit Blicken des unzweideutigsten Entsetzens ansah.

Mrs. Wickham schüttelte verstohlen ihren Zeigefinger gegen das Bett, wo Florence lag, senkte ihn dann abwärts und winkte mehrere Male bedeutungsvoll nach dem Boden. Unmittelbar darunter befand sich nämlich das Zimmer, in dem Mrs. Pipchin ihre Röstschnitten zu verzehren pflegte.

»Denkt an meine Worte, Miß Berry«, sagte Mrs. Wickham, »und dankt Gott, daß Master Paul nicht allzu große Stücke auf Euch hält. Ich wenigstens kann Euch versichern, bin froh, daß er mir nicht zuviel zugetan ist, obschon man in diesem Gefängnis von einem Haus – entschuldigt mich, daß ich das so frei sage – sich nicht sonderlich seines Lebens freuen sollte.«

Vielleicht hatte Miß Berry in ihrer Aufregung Paul zu hart geklopft, oder es kam vielleicht daher, daß in dieser einförmigen Beschwichtigung eine Pause stattgefunden hatte – genug, Paul drehte sternchenland.com sich in demselben Augenblick im Bett um, erwachte und nahm eine sitzende Stellung ein. Seine Haare waren feucht von den Wirkungen eines kindischen Traumes. Er fragte nach Florence.

Bei dem ersten Ton seiner Stimme war sie aus ihrem Bettchen, beugte sich über sein Kissen nieder und sang ihn wieder in Schlaf. Mrs. Wickham schüttelte den Kopf, ließ einige Tränen fallen, machte Berry auf die kleine Gruppe aufmerksam und schlug ihre Augen zur Decke empor.

»Gute Nacht, Miß!« sagte Wickham leise. »Gute Nacht! Eure Tante ist eine alte Frau, Miß Berry, und Ihr habt einem solchen Ausgang oft schon entgegensehen müssen.«

Dieses tröstliche Lebewohl begleitete Mrs. Wickham mit einem Blick herzlich gefühlter Beklommenheit, und sobald sie mit den beiden Kindern allein war, erging sie sich, während der Wind draußen schauerlich blies, in dem wohlfeilsten und leicht erreichbaren Hochgenuß der Schwermut, bis sie vom Schlummer überwältigt wurde.

Obgleich Mrs. Pipchins Nichte, als sie die Treppe hinunterging, nicht gerade erwartete, den exemplarischen Hausdrachen auf dem Herdfries ausgestreckt zu finden, fühlte sie sich doch erleichtert, als sie bemerkte, daß die Dame ungewöhnlich zänkisch und herb war – mit einem Wort, in Aussicht stellte, als gedenke sie zur Freude aller, die sie kannten, noch recht lange zu leben. Auch zeigten sich im Lauf der nächsten Woche durchaus keine Merkmale von Hinfälligkeit, denn die ihrer Natur zusagenden Nährmittel verschwanden fortwährend in der regelmäßigen Reihenfolge, obgleich Paul sie so aufmerksam wie nur je studierte und mit unwandelbarer Beharrlichkeit seinen gewöhnlichen Sitz nahe den schwarzen Falten und dem Kaminvorsprung einnahm.

Da aber Paul nach Ablauf dieser Zeit nicht kräftiger geworden war, als er bei seiner Ankunft gewesen, obschon er im Gesicht viel gesünder aussah, so wurde für ihn ein Wägelchen besorgt, in dem er gemächlich mit seinem ABC und andern Elementarübungen liegen konnte, wenn man ihn nach der Küste hinunterführte. Konsequent in seinen wunderlichen Liebhabereien, verwarf der Knabe einen rotwangigen Jungen, der sich zum Wagenpferd erboten hatte, und wählte dafür dessen Großvater, einen schmächtigen, alten, sauertöpfischen Mann in einem schmierigen Anzug, der durch lange Salzwasserlauge zähe geworden war und einen Geruch wie moderiges Seegras zur Ebbezeit verbreitete.

Dieser denkwürdige Führer zog ihn jeden Tag nach dem Gestade des Ozeans hinunter, und Florence ging stets an seiner Seite her, während die schwermütige Wickham den Nachtrab bildete. Dort saß oder lag er nun stundenlang in seinem Wägelchen und fühlte sich nie übler gelaunt, als wenn ihm Kinder Gesellschaft leisten wollten – natürlich Florence stets ausgenommen.

»Sei so gut und geh weg«, konnte er zu einem Kinde sagen, das mit ihm Kameradschaft machen wollte. »Ich danke, aber ich brauche dich nicht.«

Fragte ihn wohl eine kleine Stimme in der Nähe, wie es ihm gehe, so pflegte er zu erwidern:

»Ich befinde mich recht gut, danke schön, aber es ist wohl am besten, wenn du zu deinem Spiel gehst. Tu mir den Gefallen.«

Dann drehte er den Kopf, um dem sich entfernenden Kinde nachzusehen, und sagte zu Florence:

»Nicht wahr, wir brauchen keine andern? Küsse mich, Floy.«

Zu solchen Zeiten konnte er auch die Wickham nicht leiden, und er freute sich, wenn sie wegging, was sie auch gewöhnlich tat, um Muscheln aufzulesen oder Bekanntschaften anzuknüpfen. Ein abgelegener Ort, weit weg von den gewöhnlichen Spaziergängen, war sein Lieblingsplatz, und Florence pflegte dann mit ihrer Arbeit an seiner Seite zu sitzen, ihm vorzulesen oder mit ihm zu plaudern. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und das Wasser schlug bis an die Räder seines beweglichen Bettes; mehr verlangte er nicht.

»Floy«, sagte er eines Tages, »wo ist Indien, der Aufenthalt der Verwandten jenes Knaben?«

»O, das ist weit, weit weg«, sagte Florence, die Augen von ihrer Arbeit erhebend.

»Wochen?« fragte Paul.

»Ja, mein Lieber. Man muß viele Wochen Tag und Nacht reisen.«

»Wenn du in Indien wärest, Floy«, sagte Paul, nachdem er eine Minute geschwiegen, »so würde ich – was war es, was die Mama tat? Ich habe es vergessen.«

»Mich lieben!« entgegnete Florence.

»Nein, nein. Liebe ich dich nicht jetzt schon, Floy? Was tat sie doch – ja sie starb. Wenn du in Indien wärest, Floy, so würde ich sterben.«

Sie legte hastig ihre Arbeit beiseite, senkte ihr Köpfchen auf sein Kissen nieder und überhäufte ihn mit Liebkosungen. Auch ihr würde es so ergehen, sagte sie, wenn er dort wäre. Es werde ihm übrigens bald besser ergehen.

»O, ich bin jetzt schon viel besser«, antwortete er. »Ich meine nicht dieses, sondern wollte nur sagen, ich würde sterben vor Betrübnis und Einsamkeit, Floy!«

Ein andermal schlummerte er an derselben Stelle ein und schlief geraume Zeit ruhig fort. Plötzlich erwachend, lauschte er, fuhr auf und setzte sich horchend hin.

Florence fragte ihn, was er zu hören glaube.

»Ich möchte wissen, was es sagt«, antwortete er, ihr fest ins Gesicht blickend. »Das Meer, Floy, was spricht es denn in einem fort?«

Sie entgegnete ihm, daß er nur das Getöse der rollenden Wellen höre.

»Ja, ja«, versetzte er. »Aber ich weiß, daß sie immer etwas sagen. Stets das nämliche. Was ist dort drüben für ein Ort?« Er richtete sich auf und schaute mit großer Spannung nach dem Horizont.

Sie sagte ihm, daß dort drüben ein anderes Land liege; aber er erwiderte, dieses meine er nicht, sondern weiter weg – weiter weg. sternchenland.com Später konnte er sehr oft in Mitte ihres Gesprächs plötzlich abbrechen, um zu lauschen, was doch die Wellen immer sagten: dann erhob er sich von seinem Lager, um nach jener unsichtbaren Gegend hinzusehen – weit weg.

Neuntes Kapitel.


Neuntes Kapitel.

In welchem den hölzernen Midshipman Angelegenheiten treffen.

Der Hang der Romantik und Liebe zum Wunderbaren hatte sich in ziemlich starker Menge in der Natur des jungen Walter angesammelt. Dieser Hang war unter der Obhut des alten Solomon Gills durch die Wasser einer ernsten praktischen Erfahrung nicht sonderlich geschwächt worden und veranlaßte, daß er für Florences Abenteuer mit der guten Mrs. Brown ein ungewöhnliches, begeistertes Interesse hegte. Er bewahrte es treulich in seinem Gedächtnis, namentlich all das, woran er selbst mitgewirkt hatte, und trug es so mit sich herum, bis es das verderbte, eigensinnige Kind seiner Phantasie wurde, das ganz nach eigener Laune handelte.

Die Erinnerung an diese Vorfälle und seine eigene Beteiligung dabei wurde vielleicht noch bezaubernder durch die wöchentlichen Träume des alten Sol und des Kapitän Cuttle, wenn sie an Sonntagen beisammen saßen. Kaum verging einer von diesen Anlässen, ohne daß der eine oder der andere dieser würdigen Kumpane geheimnisvolle Anspielungen auf Richard Whittington machte. Der Kapitän war sogar so weit gegangen, eine Ballade von beträchtlichem Altertum zu kaufen, die lange unter andern poetischen Seemannsergießungen an einer Mauer der Trödlerstraße geflattert hatte. Die dichterische Leistung behandelte die Werbung und die Hochzeit eines hoffnungsvollen jungen Köhlers mit einer gewissen »lieblichen Peg«, einer mit allen Vorzügen ausgestatteten Tochter des Meisters und Miteigentümers eines Newcastler Kohlenschiffes. In dieser aufregenden Geschichte entdeckte Kapitän Cuttle eine tiefe geheime Beziehung zu dem Fall zwischen Walter und Florence. Sie begeisterte ihn dermaßen, daß er bei sehr festlichen Anlässen, z. B. an Geburts- und andern nicht sonntäglichen Feiertagen in dem kleinen Hinterstübchen das ganze Lied herunterplärrte und bei dem Wort »Pe–e–eg«, mit dem jeder Vers zu Ehren der Helden des Stücke« schloß, einen ganz erstaunlichen Triller anbrachte.

Aber ein offener, freimütiger Junge ist nicht gerade in der Lage, die Natur der eigenen Gefühle zu analysieren, wie tief sie auch in ihm verwurzelt sein mögen: und Walter wäre es schwer geworden, über diesen Punkt zu einer Entscheidung zu kommen. Er hatte eine große Zuneigung zu der Stelle, wo er Florence begegnet war, und der Straße, durch die er sie, obschon sie an sich durchaus nicht bezaubernd genannt werden konnte, nach Hause geführt hatte. Die Schuhe, die ihr unterwegs so oft abgeglitten waren, bewahrte er in seinem eigenen sternchenland.com Stübchen auf, und wenn er abends in dem kleinen Hinterzimmer saß, entwarf er sich von der guten Mrs. Brown eine ganze Galerie von eingebildeten Porträts. Möglich, daß er auch nach jenen denkwürdigen Anlässen ein bißchen sorgfältiger in seinem Anzug wurde. Auch ist jedenfalls soviel gewiß, daß er während seiner freien Zeit gerne nach jenem Stadtteil spazierte, wo Mr. Dombeys Haus lag, in der unbestimmten Hoffnung, er könnte vielleicht der kleinen Florence auf der Straße begegnen. Aber bei alledem war sein Sinn so knabenhaft unschuldig, wie er es nur sein konnte. Florence war sehr hübsch, und es ist angenehm, ein hübsches Gesicht zu bewundern. Florence war zart und wehrlos. Was für ein stolzer Gedanke, daß er imstande gewesen, ihr seinen Schutz und seinen Beistand zu verleihen. Florence war das dankbarste kleine Geschöpf in der Welt: und es erfüllte ihn mit Entzücken, zu sehen, wie ihr dieses schöne Gefühl aus dem Antlitz leuchtete. Florence war vernachlässigt und wurde mit Kälte behandelt. Seine Brust quoll über von jugendlicher Teilnahme für das verachtete Kind in seiner öden stattlichen Heimat.

So kam es, daß Walter vielleicht ein halb dutzendmal im Lauf des Jahres auf der Straße vor Florence den Hut ziehen konnte, und sie pflegte dann haltzumachen, um ihm ihre Hand zu reichen. Mrs. Wickham war daran so gewöhnt, daß sie nicht darauf achtete, weil sie von der Geschichte ihrer Bekanntschaft unterrichtet war. Miß Nipper dagegen hatte auf derartige Anlässe ein schärferes Augenmerk. Ihr empfindsames Herz war im geheimen durch Walters gutes Aussehen gewonnen, und sie neigte sich zu dem Glauben, daß ihre Gefühle erwidert würden.

Die Entfernung von Florence diente nicht dazu, daß Walter die Bekanntschaft mit ihr vergaß oder sie aus dem Gesicht verlor. Im Gegenteil, er hütete die Erinnerung daran mehr denn je in seinem Innern. Was den abenteuerlichen Anfang und alle jene kleinen Umstände betraf, die ihr einen bestimmten Charakter und Hochgenuß verliehen, so nahm er die mehr als ein angenehmes Märchen, das seine Phantasie erquickte und nicht aus ihr verloren gehen durfte, weniger als den Teil einer Tatsache, an der er beteiligt war. In seiner Einbildungskraft diente sie wohl dazu, Florence zu heben, nicht aber ihn selbst. Bisweilen dachte er (und er beschleunigte dann seine Schritte), was es nicht Großes gewesen wäre, wenn er sich am Tag nach jener ersten Begrüßung auf ein Schiff begeben hätte, um auf der See Wunder zu tun und nach langer Abwesenheit als ein Admiral strahlend in allen Farben des Delphins oder wenigstens als ein Postkapitän mit Epauletten von blendendem Glanze wieder zurückzukommen. Dann hätte er Florence, die zu einer schönen Jungfrau herangewachsen war, heiraten und sie – Mr. Dombey, seinem Schlips und seiner Uhrkette zum Trotz – triumphierend irgendwohin nach der Riviera entführen können. Aber dieser Phantasieflug war nicht imstande, die Messingplatte von Dombey und Sohns Geschäftslokalen in ein Täfelchen goldener Hoffnung umzuwandeln oder einen helleren Glanz durch dessen erblindete Hochlichtfenster hereinzusenden, sternchenland.com und wenn die beiden Alten im Hinterstübchen von Richard Whittington und Chefstöchtern sprachen, so fühlte Walter wohl, daß er über die wahre Stellung von Dombey und Sohn weit besser unterrichtet war als sie.

So kam es denn, daß er fortfuhr, seine täglichen Pflichten mit heiterem, fröhlichem, unermüdetem Geist zu erfüllen. Zwar durchschaute er wohl den hitzigen Charakter von Onkel Sol und Kapitän Cuttle; aber dennoch unterhielt er tausend unbestimmte und träumerische Vorstellungen von eigener Schöpfung, gegen die die ihrigen nur alltägliche Wahrscheinlichkeiten waren. Dies also war seine Lage in der Pipchin-Periode, in der er zwar etwas – aber nicht um viel – älter aussah, als vordem. Er war noch derselbe leichtfüßige, leichtherzige Junge, wie zur Zeit, als er an der Spitze von Onkel Sol und der eingebildeten Enterer in das Wohnstübchen stürmte und dem Onkel bei dem Heraufbringen des Madeira leuchtete.

»Onkel Sol«, sagte Walter, »ich glaube, Ihr seid nicht ganz wohl. Ihr habt kein Frühstück genommen. Wenn es so bei Euch fortgeht, werde ich einen Arzt holen.«

»Er kann mir doch nicht geben, was ich brauche, mein Junge«, versetzte Onkel Sol. »Jedenfalls müßte er eine gute Praxis haben, wenn er es könnte, und wenn dies der Fall ist, tut er es nicht.«

»Was meint Ihr damit, Onkel? Kunden?«

»Jawohl«, entgegnete Solomon mit einem Seufzer. »Kunden würden gut angelegt sein.«

»Zum Kuckuck, Onkel!« sagte Walter, indem er seine Frühstücktasse klappernd niedersetzte und mit der Hand auf den Tisch schlug, »wenn ich auf der Straße draußen den ganzen Tag lang alle Minuten Scharen von Leuten am Laden hin und her gehen sehe, so fühle ich mich halb versucht, hinauszueilen, den nächsten besten am Kragen zu packen, hereinzubringen und ihn zu zwingen, daß er für fünfzig Pfund in bar – Instrumente kaufe. Was guckt Ihr zur Türe herein?« fuhr Walter gegen einen alten Herrn mit gepudertem Kopf fort, der ihn natürlich nicht hören konnte, wie er so dastand und interessiert ein Schiffsteleskop musterte. »Davon haben wir nichts, und ich könnt‘ das selber besorgen. Kommt herein und kauft es!«

Mittlerweile hatte der alte Herr seine Neugierde befriedigt und ging ruhig weiter.

»Da geht er!« sagte Walter. »So machen es alle. Aber, Onkel – he, Onkel Sol« – denn der alte Mann war in Gedanken verloren und hatte auf die erste Anrede nicht geantwortet. »Ihr müßt nicht kleinmütig werden. Seid nicht niedergeschlagen, Onkel. Wenn einmal Aufträge kommen, so werden sie in solcher Menge eintreffen, daß Ihr nicht imstande sein werdet, sie zu besorgen.«

»Übers Sorgen bin ich hinaus, wann sie auch kommen mögen, mein Junge«, entgegnete Solomon Gills. »Man wird nicht wieder in diesen Laden kommen, bis ich nicht mehr drinnen bin.«

»Onkel, aber! – Das dürft Ihr nicht sagen!« drängte Walter. »Nein, das dürft Ihr nicht!«

Der alte Sol bemühte sich, eine heiterere Miene anzunehmen, und lächelte, so gut es gehen wollte, über den Tisch hinüber dem Knaben zu.

»In der Sache liegt durchaus nichts, als der gewöhnliche Gang – ist es nicht so, Onkel?« entgegnete Walter, indem er seine Ellbogen auf das Teebrett stützte und sich vorbeugte, um mit dem Alten vertraulicher reden zu können. »Seid offen gegen mich, Onkel, und sprecht Euch unverhohlen aus.«

»Nein, nein, nein«, entgegnete der alte Sol. »Ungewöhnliches? Gewiß nicht. Was sollte auch Ungewöhnliches darin liegen?«

Walter antwortete mit einem ungläubigen Kopfschütteln.

»Das ist es eben, was ich wissen möchte«, sagte er. »Und Ihr fragt mich? Ich will Euch was sagen, Onkel, wenn ich Euch so sehen muß, tut es mir eigentlich leid, daß ich bei Euch bin.«

Der alte Sol machte unwillkürlich große Augen.

»Ja. Obgleich niemand je glücklicher war als ich, wenn ich mich bei Euch befand, so tut es mir doch leid, bei Euch zu leben, wenn ich sehen muß, daß Ihr etwas auf dem Herzen habt.«

»Ich weiß, ich bin in solchen Zeiten ein bißchen langweilig«, bemerkte Solomon, indem er demütig seine Hände rieb.

»Ich meine es so, Onkel Sol«, fuhr Walter fort, und bog sich noch weiter vor, um ihn auf die Schulter zu klopfen, »ich fühle dann, daß Ihr, statt hier zu sitzen und mir Tee einzugießen, ein nettes Frauchen an der Seite haben solltet – Ihr wißt, eine behagliche, treffliche, nette alte Dame, die gerade zu Euch paßte, Euch zu behandeln wüßte und Euch wohlgemut erhielte. Ich bin zwar stets gegen Euch – wie ich es auch verpflichtet war – ein liebevoller Neffe gewesen. Aber ein Neffe bleibt eben nur ein Neffe, und ich kann Euch eine solche Gesellschaft nicht ersetzen, wenn Ihr niedergeschlagen und traurig seid, obschon ich gewiß weiß, daß ich meinen letzten Heller hergeben wollte, wenn ich Euch damit aufheitern könnte. Deshalb sage ich wieder, wenn ich Euch mit so schwerem Herzen sehen muß, es tut mir sehr leid, daß Ihr nichts Besseres um Euch habt, als einen unruhigen, rauhen, jungen Burschen, der Euch zwar gerne trösten möchte, Onkel, aber nicht weiß, wie er es angreifen soll – der nicht die Art dazu hat«, fügte Walter bei, indem er noch weiter herüberlangte, um seinem Onkel die Hand zu drücken.

»Wally, mein lieber Junge«, sagte Solomon, »und wenn die nette kleine alte Dame schon vor fünfundvierzig Jahren in diesem Stübchen ihren Platz gehabt hätte, so wäre ich doch nicht imstande gewesen, sie mehr zu lieben, als dich.«

»Ich weiß das, Onkel Sol«, entgegnete Walter. »Gott segne Euch dafür, ich weiß es. Aber Ihr brauchtet nicht die ganze Last unbequemer Geheimnisse allein zu tragen, wenn Ihr eine Frau hättet: denn sie würde wissen, wie sie Euch Erleichterung verschaffen muß, und das ist durch mich nicht der Fall.«

»O, wohl, wohl«, erwiderte der Instrumentenmacher.

»Nun denn, heraus damit, Onkel Sol!« versetzte Walter schmeichelnd. »Sprecht, was habt Ihr auf dem Herzen?«

Solomon Gills beharrte darauf, daß es nichts sei, und blieb dabei so entschlossen, daß der Neffe keine andere Wahl hatte, als zu tun, daß er ihm glaube.

»Ich kann weiter nichts sagen, Onkel Sol, als daß, wenn etwas da ist« – –

»Aber es ist nichts da«, entgegnete Sol.

»Nun gut«, erwiderte Walter. »Dann habe ich nichts mehr zu sagen, und das ist ein Glück: denn ich muß jetzt ans Geschäft gehen. Wenn ich einen Ausgang zu machen habe, will ich gelegentlich Euch sprechen, um zu sehen, was Ihr treibt, Onkel. Und vergeßt nicht, Onkel, ich werde Euch nie wieder glauben und Euch nie mehr etwas von Mr. Carker dem Jüngeren erzählen, wenn ich finde, daß Ihr mich getäuscht habt.«

Solomon Gills forderte ihn lächelnd heraus, er solle ihn einmal über etwas der Art zu ertappen suchen, und Walter, der in seinen Gedanken alle Arten unmögliche Mittel erwog, wie er Geld erwerben und den hölzernen Midshipman in eine unabhängige Stellung versetzen könne, begab sich mit weit schwermütigerem Gesicht, als man sonst an ihm gewöhnt war, nach dem Geschäftslokal von Dombey und Sohn.

Dort lebte zu jener Zeit um die Ecke – in der äußeren Bischofstorstraße – ein gewisser Brogley, beeidigter Makler und Taxator, der einen Laden hielt, in dem alle Arten alter Möbel in schauerlichstem Gewirr und im seltsamsten Beieinander zur Schau standen. Dutzende von Stühlen hingen an Wäscheständern und hielten sich nur mit Not an den Schultern der Seitenbretter fest, die ihrerseits auf den Kehrseiten von Tischen standen, wobei letztere mit ihren gymnastisch aufwärts gestellten Beinen die Platten anderer Tische unterstützten. Porzellanservice, Weingläser und Flaschen waren in der Regel auf dem Boden einer vierpfostigen Bettstatt ausgebreitet, und der gemütlichen Gesellschaft schloß sich ein halb Dutzend Schürhaken nebst einer Flurlampe an. Eine Garnitur Fenstervorhänge ohne die dazu gehörigen Fenster hüllten anmutig eine Barrikade von Kommoden ein, die mit allerlei Gefäßen beladen waren, während ein heimatloser Herdfries, von seinem natürlichen Gefährten, dem Kamin, getrennt, in seiner Bedrängnis dem verschmitzten Ostwind Trotz bot und in melancholischem Akkord mit den schrillen Klagen eines Pianos zitterte, das alle Tage eine Saite springen ließ und in seinem klimpernden, verrückten Gehirn eine matte Resonanz zu dem Straßenlärm gab. An regungslosen Uhren, die nie einen Zeiger bewegten und ebenso unfähig schienen, erfolgreich aufgezogen zu werden, wie die pekuniären Angelegenheiten ihrer früheren Eigentümer, befand sich stets eine große Auswahl in Mr. Brogleys Laden. Mancherlei Spiegel, die zufälligerweise das gemischte Vergnügen verschiedenartiger Lichtbrechung boten, zeigten dem Auge eine unendliche Perspektive von Bankerott und Verderben.

Mr. Brogley selbst war ein triefäugiger, rotgesichtiger, kraushaariger Mann, sonst von stämmiger Figur und fröhlicher Gemütsart – denn die Leute wie Marius, die auf den Trümmern der Karthagos anderer Leute sitzen, haben gut lachen. Er war schon einigemal in Solomons Laden gewesen, um sich über einige Artikel zu erkundigen, die in das Geschäft des Instrumentenmachers einschlugen, und Walter kannte ihn hinreichend, um ihn, wenn sie sich in den Straßen begegneten, zu grüßen. Da dies jedoch die ganze Ausdehnung der Bekanntschaft zwischen dem Trödler und Solomon Gills war, so fühlte sich Walter nicht wenig überrascht, als er seinem Versprechen gemäß im Laufe des Vormittags zurückkam und Mr. Brogley, der seine Hände in den Taschen stecken und seinen Hut hinter der Tür aufgehangen hatte, in dem hinteren Stübchen sitzend fand.

»Nun, Onkel Sol«, sagte Walter. Der alte Mann saß mit einer Jammermiene an der andern Seite des Tisches und hatte – welch ein Wunder – die Brille vor den Augen, statt auf der Stirn. »Was ist mit Euch los?«

Solomon schüttelte den Kopf und winkte mit der einen Hand gegen den Trödler hin, als wollte er ihn vorstellen.

»Ist etwas vorgefallen?« fragte Walter mit verhaltenem Atem.

»O nein. Nichts«, sagte Mr. Brogley. »Laßt Euch die Sache nicht beunruhigen.«

Walter blickte in stummem Erstaunen von dem Trödler auf seinen Onkel.

»Die Sache ist die«, fuhr Mr. Brogley fort, »es handelt sich um eine kleine Zahlung für eine Bürgschaftsschuld – dreihundert und etliche siebzig Pfund – und ich bin im Besitz.«

»Im Besitz?« rief Walter, sich im Laden umsehend.

»Ja!« sagte Mr. Brogley in vertraulicher Zustimmung und nickte dazu mit dem Kopf, als wolle er beiden bemerklich machen, wie sie sich dabei füglicherweise vollkommen beruhigen könnten. »Es ist eine Beschlagnahme – weiter nichts. Laßt es Euch nicht zu Herzen gehen. Ich komme selbst, weil ich die Sache ruhig und freundschaftlich abmachen möchte. Ihr kennt mich. Es geschieht ganz unter uns.«

»Onkel Sol!« stotterte Walter.

»Wally, mein Junge«, entgegnete sein Onkel. »Es ist das erstemal. Solch ein Unglück ist mir noch nie begegnet. Ich bin ein alter Mann und muß jetzt so anfangen!«

Er schob die Brille wieder zurück; denn sie konnte jetzt doch seine Aufregung nicht länger verbergen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte laut, während ihm Tränen auf die kaffeefarbige Weste niederfielen.

»Onkel Sol – ich bitte, o tut es nicht!« rief Walter, den ein wahrer Schauer durchzuckte, als er den alten Mann weinen sah. »Um Gottes willen, tut es nicht. Mr. Brogley, kann ich in der Sache behilflich sein?«

»Ich würde Euch empfehlen, Euch nach einem Freund oder ähnlichem umzusehen, mit dem Ihr die Angelegenheit besprechen könnt«, sagte Mr. Brogley.

»Natürlich!« rief Walter, der nach jedem Strohhalm haschte. »Ja, ganz recht! Danke schön. Kapitän Cuttle ist der Mann, Onkel. Wartet, bis ich zu Kapitän Cuttle geeilt bin. Habt acht auf meinen Onkel – wollt Ihr so gut sein, Mr. Brogley? – und tröstet ihn, so gut Ihr könnt, bis ich wiederkomme. Ihr dürft nicht gleich verzweifeln, Onkel Sol. Na, seid lieb und heitert Euch auf!«

Er sprach dies mit großem Eifer und stürzte, ohne auf die gebrochenen Gegenvorstellungen des alten Mannes zu achten, zum Laden hinaus. Dann eilte er nach dem Bureau, um sich unter dem Vorwand einer plötzlichen Erkrankung seines Onkels zu entschuldigen, und brach in voller Hast nach Kapitän Cuttles Wohnung auf.

Während er so durch die Straßen lief, kam ihm alles ganz anders vor. Zwar war das gewöhnliche Gewirr und der Lärm von Karren, Wagen, Omnibussen und Fußgängern vorhanden: aber das Unglück, das den hölzernen Midshipman befallen hatte, ließ ihm alles in einem neuen, befremdlichen Lichte erscheinen. Häuser und Läden waren nicht mehr so wie sonst, und überall stand in großen Buchstaben Mr. Brogleys Bürgschaftsschuldschein zu lesen. Der Trödler schien sogar die Kirchen für sich gewonnen zu haben, denn ihre Türme stiegen mit einer ganz ungewohnten Haltung zum Himmel empor. Selbst das Firmament war verändert und sann augenscheinlich gleichfalls auf eine Beschlagnahme.

Kapitän Cuttle wohnte am Rande eines kleinen Kanals in der Nähe der Indiadocks und einer Drehbrücke, die sich hin und wieder auftat, um irgendein wanderndes Schiffsungeheuer, gleich einem gestrandeten Leviathan, die Straße passieren zu lassen. Der allmähliche Übergang von Land zu Wasser in der Umgebung von Kapitän Cuttles Wohnung war interessant. Er begann mit der Errichtung von Flaggenstöcken als Wahrzeichen der Wirtshäuser. Dann kamen die Läden der Matrosenkleiderhändler mit ihren Guernseyhemden, den Südwesterhüten und den mächtigen Hosen, den stärksten und weitesten aller Beinbekleidungen, die vor den Türen aufgehangen waren. Dann kamen Anker- und Kabelkettenschmiede, bei denen die Hämmer den ganzen Tag lang auf dem heißen Eisen klimperten – dann Häuserreihen, vor denen kleine, mit Fahnen versehene Masten zwischen den Scharlachbohnen sich in die Höhe richteten – dann Gräben – dann Bandweiden – dann wieder Gräben – dann unerklärbare Passagen mir schmutzigem Wasser, das kaum zwischen den darauf schwimmenden Schiffen sichtbar ward – dann der Geruch von Hobelspänen in der Luft und ringsum kein anderes Gewerbe als das der Zimmerleute, die Masten, Räder, Scheiben und Boote verfertigten. Weiterhin wurde der Grund sumpfig und unsicher. Dann roch man nichts weiter als Rum und Zucker. Und endlich hatte man Kapitän Cuttles Wohnung vor sich – ein Häuslein in Brig-Place, dessen erster Stock zugleich der Dachstock war.

Der alte Mann saß mit einer Jammermiene an der anderen Seite des Tisches… sternchenland.com Der Kapitän war einer von jenen eisenherzigen Männern, die auch die lebhafteste Einbildungskraft nie selbst von dem unbedeutendsten Teil ihres Anzugs trennen kann. Als daher Walter an die Tür klopfte und der Kapitän augenblicklich zu einem der kleinen Vorderfenster heraussah – den Glanzhut bereits auf dem Kopf und den segelartigen Hemdkragen sowohl, als den weiten blauen Anzug ganz in gewöhnlicher Art –, fühlte sich Walter vollkommen überzeugt, daß der Kapitän stets so sein müsse; als sei dieser Mann selbst ein Vogel, zu dem die Kleidung das Gefieder bildete.

»Wal’r, mein Junge!« sagte Kapitän Cuttle. »Nur standhaft und noch einmal geklopft. Tüchtig, es ist Waschtag.«

Walter ließ in seiner Ungeduld den Klopfer mit Macht niederfallen.

»So, das wäre kräftig genug!« sagte Kapitän Cuttle und zog augenblicklich seinen Kopf zurück, als ob er einen Sturm erwarte.

Und er hatte sich nicht getäuscht, denn eine verwitwete Dame, deren Ärmel bis zur Schulter aufgerollt waren, und deren mit Seifenschaum überzogene Arme von heißem Wasser dampften, entsprach der Aufforderung mit erstaunlicher Raschheit. Ehe sie Walter ins Auge faßte, besichtigte sie den Klopfer. Dann aber maß sie ersteren von Kopf bis zu den Füßen und sagte, sie wundere sich nur, daß noch etwas daran übrig geblieben sei.

»Ich weiß, Kapitän Cuttle ist zu Hause«, ergriff Walter mit einem versöhnenden Lächeln das Wort.

»Ist er?« versetzte die verwitwete Dame. »Wirklich?«

»Er hat eben mit mir gesprochen«, sagte Walter mit verhaltenem Atem.

»Hat er?« entgegnete die verwitwete Dame. »Dann seid Ihr vielleicht so gut, ihm von Mrs. Mac Stinger einen Gruß auszurichten und ihm zu sagen, wenn er das nächste Mal sich und seine Wohnung so weit herabwürdige, zum Fenster hinaus zu sprechen, so werde sie es ihm Dank wissen, wenn er auch selber herunterkomme und die Tür öffne.«

Mrs. Mac Stinger sprach sehr laut und horchte, ob sich nicht etwa aus dem ersten Stock herab eine Bemerkung vernehmen lasse.

»Ich werde es besorgen«, sagte Walter, »wenn Ihr so gut sein wollt, mich einzulassen, Ma’am.«

Er sah sich nämlich durch eine hölzerne Befestigung ausgeschlossen, die sich quer vor der Tür hindehnte und daselbst angebracht war, um die kleinen Mac Stingers zu hindern, daß sie in ihren Erholungsaugenblicken nicht die Treppe herunterpurzelten.

»Ich sollte meinen«, entgegnete Mrs. Mac Stinger verächtlich, »ein junger Mensch, der mir die Tür einschlagen kann, sei auch imstande, darüber wegzukommen.«

Walter nahm dies für eine Erlaubnis einzutreten und stieg darüber hinweg; aber Mrs. Mac Stinger fragte ihn nun, ob das Haus einer Engländerin ihr Schloß sei oder nicht, und ob sie es sich gefallen lassen müsse, daß der erste beste in dieses einbreche. In dieser sternchenland.com Sache war ihr Durst nach Belehrung noch immer sehr aufdringlich, als Walter bereits durch den künstlichen Waschnebel, der das Treppengeländer mit einem klebrigen Schweiß bedeckte, nach Kapitän Cuttles Zimmer hinaufgelangt war, wo dieser Herr hinter der Tür auf der Lauer lag.

»Bin ihr nie einen Penny schuldig geblieben, Wal’r«, sagte Cuttle in gedämpfter Stimme und mit sichtlichen Spuren der Angst auf dem Gesicht, »sondern habe ihr im Gegenteil eine ganze Welt voll guter Dienste geleistet – den Kindern obendrein. Gleichwohl, sie ist immer eine Hexe. Puh!«

»Dann würde ich ausziehen, Kapitän Cuttle«, versetzte Walter.

»Kann’s nicht. Wal´r«, entgegnete der Kapitän. »Sie würde mich ausfindig machen, wohin ich auch ginge. Nehmt Platz, was macht Gills?«

Der Kapitän genoß eben aus seinem Hut ein Stück kalten Hammelbraten, Porter und einige dampfend heiße Kartoffeln, die er selbst gekocht hatte und die er je nach seinem Bedarf aus einer kleinen Pfanne von dem Feuer holte. Zur Essenszeit pflegte er seinen Haken abzuschrauben und an dessen Statt ein Messer einzusetzen, mit dem er bereits eine Kartoffel für Walter zu schälen begonnen hatte. Seine Räume waren sehr klein und rochen stark nach Tabak, sahen aber anständig genug aus, da alles so gut untergebracht war, als habe man regelmäßig jede halbe Stunde ein Erdbeben zu gewärtigen.

»Was macht Gills?« fragte der Kapitän.

Walter war inzwischen wieder zu Atem gekommen, aber mit dem Feuer, das ihm sein rasches Rennen eingeflößt, hatte er auch allen Mut wieder verloren. Er sah den Frager einen Augenblick an und brach mit dem Rufe »o Kapitän Cuttle!« in Tränen aus.

Die Bestürzung des Kapitäns bei einem solchen Anblick läßt sich nicht durch Worte beschreiben. Mrs. Mac Stinger schwand davor in ein Nichts zusammen. Die Kartoffel und die Gabel entfielen seiner Hand – mit dem Messer würde es wohl ebenso gegangen sein, wenn es möglich gewesen wäre – und so saß er da, den Knaben anstarrend, als erwarte er im nächsten Augenblick zu hören, in der City habe sich eine Kluft aufgetan, die seinen alten Freund samt dem kaffeefarbigen Anzug, den Knöpfen, der Uhr, der Brille und allem verschlungen habe.

Nachdem ihm aber Walter mitgeteilt hatte, um was es sich handelte, entwickelte er nach augenblicklichem Nachdenken seine volle Tätigkeit. Er leerte aus einer kleinen Zinnbüchse, die auf dem oberen Sims des Wandschrankes stand, seinen ganzen Vorrat an barem Geld, dreizehn Pfund und eine halbe Krone betragend, und verpflanzte ihn nach einer der Taschen seines weiten blauen Rocks. Ferner bereicherte er dieses Magazin mit dem Inhalt seiner Silbertruhe, bestehend aus zwei abgebrauchten Fragmenten von Teelöffeln und einer abgenutzten zerbeulten Zuckerzange. Dann holte er seine ungeheure doppelgehäusige silberne Taschenuhr aus den Tiefen, in sternchenland.com denen sie ruhte, heraus, um sich zu überzeugen, daß dieses wertvolle Möbel gesund und heil war, befestigte den Haken an seinem rechten Handgelenk, ergriff seinen Knotenstock und forderte Walter auf, mit ihm zu kommen.

Plötzlich während dieser seiner tugendhaften Aufregung fiel ihm übrigens ein, Mrs. Mac Stinger könnte ihm unten auflauern. Er hielt daher plötzlich inne und warf einen Blick nach dem Fenster, als komme ihm der Gedanke, er wolle sich lieber dieses ungewöhnlichen Weges zum Fortkommen bedienen, als seinem schrecklichen Feind in den Weg treten. Zuletzt aber entschied er sich für eine Kriegslist.

»Wal’r«, sagte der Kapitän mit einem scheuen Blinzeln, »geht voraus, mein Junge. Wenn Ihr in den Flur kommt, so ruft mir zu: ›Lebt wohl, Kapitän Cuttle‹ und schließt die Tür. Ihr könnt dann an der Straßenecke warten, bis Ihr mich seht.«

Diese Andeutungen beruhten auf einer genauen Kenntnis von der Taktik des Feindes; denn als Walter die Treppe hinunterkam, stürzte Mrs. Mac Stinger wie ein Rachegeist aus der kleinen Hinterküche heraus. Da sie übrigens nicht, wie sie erwartet hatte, den Kapitän traf, so erlaubte sie sich nur eine weitere Andeutung auf den Klopfer und verschwand sodann wieder.

Es vergingen wohl fünf Minuten, ehe Kapitän Cuttle seinen Mut soweit zusammennehmen konnte, um den Fluchtversuch zu wagen. So wartete Walter an der Straßenecke und sah nach dem Hause zurück, ohne auch nur eine Spur von dem Glanzhut wahrnehmen zu können. Endlich aber brach der Kapitän mit der Plötzlichkeit einer Explosion zur Tür heraus, eilte rasch auf ihn zu und schaute auch nicht ein einziges Mal über die Schulter zurück. Sobald sie weit genug vom Hause weg waren, tat er dergleichen, als pfeife er ein Liedchen.

»Onkel schwer beigelegt, Wal’r?« fragte der Kapitän im Weitergehen.

»Ich fürchte es. Wenn Ihr ihn diesen Morgen gesehen hättet, würdet Ihr den Anblick nie vergessen haben.«

»Geht schnell, Wal’r, mein Junge«, entgegnete der Kapitän, indem er selbst auch seine Schritte beschleunigte, »und haltet es so Euer Leben lang. Laßt Euch das einen guten Rat sein und prägt ihn Euch gut ein!«

Der Kapitän ward fortan zu sehr von seinen Gedanken an Solomon Gills, vielleicht auch von einzelnen Betrachtungen über sein kürzliches Entkommen aus dem Haus der Mrs. Mac Stinger in Anspruch genommen, um zur moralischen Belehrung Walters weitere Zitate anzubringen. Sie gingen deshalb stumm nebeneinander her, bis sie die Tür des alten Sol erreicht hatten, wo der unglückliche hölzerne Midshipman mit seinem Instrument vor den Augen den ganzen Horizont zu mustern schien, ob sich nicht irgendwo ein Freund zeige, der ihm aus seiner Drangsal helfe.

»Gills!« rief der Kapitän in das Hinterstübchen eilend und seinen alten Freund ganz zärtlich bei der Hand fassend. »Legt Euern sternchenland.com Schnabel nur gut an den Wind und wir wollen uns schon durchkämpfen. Ihr habt weiter nichts zu tun«, fügte der Kapitän mit der Feierlichkeit eines Mannes bei, der eine der kostbarsten praktischen Weisheiten von sich gegeben hat, die nur je von menschlicher Weisheit entdeckt wurden; »nur den Schnabel gut an den Wind gelegt, und wir fechten uns durch.«

Der alte Sol erwiderte den Händedruck und dankte dem Sprecher.

Kapitän Cuttle legte sodann mit einer Würde, die ganz im Einklang mit der Natur des Anlasses stand, die beiden Teelöffel, die Zuckerzange, die silberne Uhr und das bare Geld auf den Tisch, worauf er Mr. Brogley, den Trödler, fragte, wie hoch sich der Schaden belaufe.

»Nun, wie hoch schlagt Ihr ihn an?« fragte Kapitän Cuttle.

»Ei, Gott behüt‘ Euch«, entgegnete der Trödler. »Ihr glaubt doch nicht, daß mit diesem Eigentum da abgeholfen ist?«

»Warum nicht?« fragte der Kapitän.

»Warum nicht? Es ist die Rede von dreihundertsiebzig und etlichen Pfunden«, versetzte der Trödler.

»Was tut das!« erwiderte der Kapitän, obschon durch die Zahl augenscheinlich sehr eingeschüchtert. »Schätzt wohl, es ist alles Fisch, was in Euer Netz kommt.«

»Jawohl«, sagte Mr. Brogley: »aber Ihr wißt, Sprotten sind keine Walfische.«

Die Weisheit dieser Bemerkung schien den Kapitän wie ein Blitz zu treffen. Er ging eine Minute mit sich zu Rat, faßte inzwischen den Makler mit der Miene eines tiefen Geistes ins Auge und rief dann den Instrumentenmacher beiseite.

»Gills«, sagte Kapitän Cuttle, »wie steht es mit dieser Sache? Wer ist der Gläubiger?«

»Pst!« entgegnete der alte Mann. »Kommt weiter weg. Sprecht nicht vor Wally. Es betrifft eine Bürgschaft für Wallys Vater – eine alte Bürgschaft. Ich habe schon viel davon abbezahlt, Ned, aber die Zeiten sind für mich so schlecht, daß ich jetzt nicht weiter kann. Ich habe es vorausgesehen, konnte es aber nicht ändern. Doch ja kein Wort vor Wally – nicht um die ganze Welt.«

»Ihr habt doch einiges Geld – oder nicht?« flüsterte der Kapitän.

»Ja, ja – o ja – ich habe einiges«, erwiderte der alte Sol, indem er zuerst seine Hände in die leeren Taschen steckte, dann aber damit seine welsche Perücke zusammendrückte, als glaube er, etwas Gold herausringen zu können: »aber ich – das wenige, das ich habe, ist nicht umsetzbar, Ned; ich kann es nicht flüssig machen. Ich habe versucht, etwas damit für Wally zu tun – aber ich bin aus der Mode gekommen und hinter der Zeit zurück. Es ist da und dort, und – und – kurz, es ist so gut wie nirgends«, fügte der alte Mann bei, indem er verwirrt umherschaute.

Er hatte dabei ganz das Aussehen eines irren Menschen, der sein Geld an verschiedenen Plätzen versteckt, aber das Wo vergessen hatte, so daß ihm der Kapitän mit den Augen folgte, nicht ohne eine kleine sternchenland.com Hoffnung, es könnte ihm einfallen, daß etliche hundert Pfund im Schornstein droben oder im Keller drunten versteckt seien. Aber Solomon Gills wußte es besser.

»Ich bin längst hinter der Zeit zurückgeblieben«, sagte Sol mit verzweifelter Ergebung. »Es nützt nichts, daß ich mich so weit hintendrein nachschleppe. – Es ist besser, der Vorrat wird verkauft – er ist mehr wert, als diese Schuld – und für mich ist’s am ratsamsten, wenn ich gehe und zur Ausgleichung irgendwo sterbe. Ich besitze keine Tatkraft mehr und weiß nichts mehr von diesen Dingen. Es ist am besten, wenn es so endet. Man soll den Vorrat verkaufen und ihn herunternehmen«, fügte der alte Mann bei, indem er matt nach dem hölzernen Midshipman hindeutete; »so ist es mit uns beiden auf einmal aus.«

»Und was gedenkt Ihr mit Wal’r anzufangen?« fragte der Kapitän. »Hier, hier – setzt Euch nieder, Gills, setzt Euch, und laßt mich darüber nachdenken. Wenn ich nicht ein kleines Jahresgehalt besäße, das bis heute für mich ausreichte, so hätte ich nicht nötig, mich darüber zu besinnen. Aber legt nur Euren Schnabel gut an den Wind«, fuhr der Kapitän in abermaliger Wiederholung dieses unwiderstehlichen Trostspruches fort, »und es wird alles gut werden!«

Der alte Sol dankte ihm von Herzen und ging hin, um statt des Schnabels den Kopf gegen den Kamin des Hinterstübchens zu lehnen.

Kapitän Cuttle promenierte eine Weile im Laden auf und ab und zog während seines tiefen Gedankengangs die buschigen schwarzen Augenbrauen so tief zur Nase herab, daß sie wie die umhüllenden Wolken eines Berges aussahen und Walter sich scheute, den Strom seiner Betrachtungen zu unterbrechen. Mr. Brogley, der der Gesellschaft durchaus keinen Zwang antun wollte und einen gar sinnreichen Geist hatte, ging mit leisem Pfeifen unter den Ladenvorräten umher, klopfte an die Wettergläser, schüttelte die Kompasse, als seien sie Pillenschachteln, und hob mit den Magneten Schlüssel auf, schaute durch Teleskope, suchte sich mit dem Gebrauch der Himmelskugeln bekannt zu machen, setzte Parallellineale rittlings auf seine Nase und vergnügte sich mit andern physikalischen Belustigungen.

»Wal’r!« sagte endlich der Kapitän. »Ich hab’s.«

»Wirklich, Kapitän Cuttle?« rief Walter mit großer Lebhaftigkeit.

»Kommt hierher, mein Junge«, fuhr der Kapitän fort; »der Ladenvorrat ist die eine Sicherheit. Ich bin die andere. Euer Chef ist der Mann, der das Geld vorschießen soll.«

»Mr. Dombey?« stotterte Walter.

Der Kapitän nickte gravitätisch.

»Schaut ihn an«, sagte er. »Schaut Gills an. Wenn man jetzt alle diese Dinge verkaufen wollte, so würde er den Tod davon haben. Das wißt Ihr so gut wie ich. Wir dürfen keinen Stein unumgekehrt lassen – und da ist jetzt ein Stein für Euch.«

»Ein Stein! – Mr. Dombey!« – stotterte Walter.

»Vor allem lauft Ihr nach dem Bureau hin und seht, ob er sternchenland.com dort ist«, sagte Kapitän Cuttle und klopfte ihn auf den Rücken, »Rasch!«

Walter fühlte, daß er gegen diesen Befehl keinen Widerspruch erheben durfte, und wenn ihm auch ein solcher Gedanke gekommen wäre, so würde ein Blick auf seinen Onkel ihn bald eines anderen belehrt haben. Er entfernte sich daher sofort, um den Auftrag zu vollziehen, kehrte aber bald nachher atemlos wieder zurück, um zu melden, daß Mr. Dombey nicht da sei. Es war Sonnabend, und der Chef befand sich zu Brighton.

»Ich will Euch was sagen, Wal’r!« bemerkte der Kapitän, der auf den Fall von Mr. Dombeys Abwesenheit Bedacht genommen zu haben schien. »Wir gehen auch nach Brighton. Ich will Euch decken, mein Junge. Ich bin Eure Rückendeckung, Wal’r. Wir gehen mit der Nachmittagskutsche nach Brighton.«

Wenn man sich überhaupt an Mr. Dombey wenden mußte – ein schrecklicher Gedanke –, so würde es Walter vorgezogen haben, das Geschäft allein und ohne Beistand zu übernehmen, als gedeckt von dem persönlichen Einfluß des Kapitäns Cuttle, auf den Mr. Dombey wahrscheinlich keinen sonderlichen Wert legte. Da jedoch der Kapitän ganz anderer Meinung zu sein schien, und sich seine Beteiligung bei der Sache nicht nehmen lassen wollte – da ferner seine Freundschaft zu ernst und eifrig war, als daß ein viel jüngerer Mensch sie geringschätzig hätte behandeln dürfen, so unterließ es Walter, auch nur den mindesten Einwurf zu erheben, Cuttle verabschiedete sich daher hastig von Solomon Gills und steckte – wie Walter mit Entsetzen glaubte – in der Absicht, auf Mr. Dombey einen großartigen Eindruck zu machen, das bare Geld, die Teelöffel, die Zuckerzange und die silberne Uhr wieder in seine Tasche. Dann begab er sich mit seinem jugendlichen Begleiter, ohne weiter zu zögern, nach dem Kutschen-Einschreibebureau und tröstete ihn unterwegs zu wiederholten Malen mit der Versicherung, er werde ihm mannhaft und ritterlich zur Seite stehen.

Fünftes Kapitel.


Fünftes Kapitel.

Pauls Gedeihen und Taufe.

Der kleine Paul, der von dem Blute der Toodles keinen Unglimpf erlitt, wurde mit jedem Tage stärker und kräftiger. Auch hätschelte ihn Miß Tox mit jedem Tage immer leidenschaftlicher, so daß schließlich Mr. Dombey ihre Anhänglichkeit an das Kind einigermaßen zu würdigen begann. Er sah sie nämlich allmählich als sternchenland.com Frauensperson von gutem natürlichen Verstand an, deren Gefühle ihr Ehre machten und wohl eine Aufmunterung verdienten. Er ging sogar in seiner Herablassung so weit, daß er sich bei verschiedenen Anlässen nicht nur in ganz besonderer Weise gegen sie verneigte, sondern auch seine Schwester mit manchen stattlichen Grüßen an sie beauftragte. Zum Beispiel sagte er ihr: »Ich bitte dich, deiner Freundin, Louisa, zu bemerken, daß sie sehr gütig ist«, oder »sage Miß Tox, Louisa, daß ich ihr sehr zu Dank verpflichtet bin«, – Besonderheiten, die auf die in solcher Weise ausgezeichnete Dame einen tiefen Eindruck machten.

Miß Tox pflegte Mrs. Chick oft zu versichern, daß »ihr nichts über die Teilnahme an allem gehe, was mit der Entwicklung dieses süßen Kindes im Zusammenhang stünde«, und wer Miß Tox genauer beobachtete, mußte aus ihrer Art sich zu geben selbstverständlich diesen Schluß ziehen, ohne daß es einer erklärenden Bestätigung bedurft hätte. So konnte sie z.B. mit unaussprechlicher Selbstzufriedenheit und fast mit einer Miene, als teile sie mit Richards das Glück der Ernährung, während der unschuldigen Labungen des jungen Erben den Vorsitz führen. Bei den kleinen Zeremonien des Bads und der Toilette leistete sie begeisterte Beihilfe. Die Anwendung kindlicher Dosen von Arzneimitteln weckte all die tätige Sympathie ihres Charakters, und einmal, als Mr. Dombey, von seiner Schwester begleitet, nach der Kinderstube kam, um nachzusehen, wie man seinen Sohn zu Bette legen wollte, der in seinem kurzen luftigen Jäckchen mit den Beinen an Richards‘ Kleidern hinaufstrampelte – sah ich Miß Tox, die vorher aus lauter Bescheidenheit in einen Geschirrschrank gekrochen war, so über die alberne Gegenwart hinausgerissen, daß sie nicht imstande war, sich des Ausrufs zu erwehren: »Ist er nicht schön, Mr. Dombey! Ist er nicht ein Liebesgott, Sir!« Dann aber brach sie, vor lauter Verwirrung und Erröten, hinter der Schranktür fast zusammen.

»Louisa«, sagte Mr. Dombey eines Tags zu seiner Schwester, »ich glaube wirklich, ich muß deine Freundin bei Gelegenheit von Pauls Taufe mit einem kleinen Andenken erfreuen. Sie hat sich von Anfang an so warm des Kindes angenommen und scheint ihre Aufgabe so durchaus zu verstehen – leider ein gar seltenes Verdienst in dieser Welt – daß ich ihr gerne eine Aufmerksamkeit erweisen möchte.«

Wir wollen den Vorzügen der Miß Tox keinen Abbruch tun, wenn wir andeuten, daß in den Augen Mr. Dombeys, wie in denen so mancher anderen, die man gelegentlich zu sehen kriegt, nur diejenigen zu jenem gewaltigen Stück Kenntnis, dem Verstehen ihrer eigenen Stellung gelangt waren, die der seinigen eine passende Verehrung zollten. Die Überzeugung, daß sie sich selbst kannten, hatte bei ihm lange nicht die hohe Bedeutung, als das Bewußtsein, daß sie ihn kannten und sich tief vor ihm verbeugten.

»Mein lieber Paul«, erwiderte seine Schwester, »du läßt Miß Tox nur Gerechtigkeit widerfahren, wie das von einem Manne mit sternchenland.com deinem Scharfblick zu erwarten ist. Ich glaube, wenn es drei Worte in der englischen Sprache gibt, vor denen sie eine Achtung hat, die sich fast zur Verehrung steigert, so sind diese Worte Dombey und Sohn.«

»Nun, ich glaube es«, versetzte Mr. Dombey. »Es macht Miß Tox Ehre.«

»Und was das Andenken betrifft, von dem du gesprochen hast, mein lieber Paul«, fuhr seine Schwester fort, »so kann ich mit voller Überzeugung behaupten, daß alles, mit dem du Miß Tox zu bedenken beabsichtigst, wie eine Reliquie aufbewahrt und geschätzt werden wird. Es gibt übrigens eine Art, mein lieber Paul, ihr deine Anerkennung für ihre Freundlichkeit in noch schmeichelhafterer Weise zu bekunden, falls du dazu geneigt sein solltest.«

»Und das wäre?« fragte Mr. Dombey.

»Paten sind natürlich im Punkte der Bekanntschaft und des Einflusses von großer Wichtigkeit«, fuhr Mrs. Chick fort.

»Ich sehe nicht ein, welchen Wert sie für meinen Sohn haben könnten«, versetzte Mr. Dombey kalt.

»Ganz richtig, mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick mit außerordentlicher Lebhaftigkeit, um das Plötzliche ihrer Bekehrung zu bemänteln, »und sehr würdig gesprochen. Ich hätte nichts anderes von dir erwarten sollen und zuvor schon wissen können, daß das deine Ansicht ist. Aber vielleicht ist gerade das«, fügte Mrs. Chick etwas zögernd hinzu, als ob sie sich bei der Sache nicht ganz behaglich fühle – »vielleicht ist das eben ein Grund, warum du weniger dagegen einzuwenden haben dürftest, wenn Miß Tox bei dem lieben Ding zu Gevatter steht, wäre es auch nur als Stellvertreterin für jemand anders. Ich brauche nicht zu sagen, mein lieber Paul, daß eine solche Erlaubnis als eine große Ehre und Auszeichnung aufgenommen werden würde.«

»Louisa«, sagte Mr. Dombey nach einer kurzen Pause, »man glaubt doch nicht –«

»Gewiß nicht«, rief Mrs. Chick, welche sich beeilte, der Abweisung zuvorzukommen; »ich habe in meinem Leben nie daran gedacht.«

Mr. Dombey sah sie ungeduldig an.

»Bringe mich nicht in Verwirrung, mein lieber Paul«, sagte seine Schwester, »denn das richtet mich zugrunde. Ich fühle mich überhaupt sehr angegriffen und bin nicht mehr ich selbst gewesen, seit die arme liebe Fanny heimgegangen ist.«

Mr. Dombey schaute nach dem Taschentuch, das seine Schwester nach ihren Augen führte, und sprach weiter:

»Ich sage, man werde doch nicht glauben –«

»Und ich sage«, murmelte Mrs. Chick, »daß ich in meinem Leben nie daran gedacht habe.«

»Gütiger Gott, Louisa!« sagte Mr. Dombey.

»Nein, mein lieber Paul«, erwiderte sie mit tränenvoller Würde, »du mußt mir schon erlauben zu sprechen. Ich bin nicht so gewandt, sternchenland.com so raisonierend, so beredt oder überhaupt etwas der Art, wie du. Ich weiß das recht wohl. Um so schlimmer für mich. Aber wenn es die letzten Worte wären, die von meinen Lippen kämen – und nach dem Heimgang der armen teuren Fanny sollten letzte Worte für dich und mich sehr feierlich sein, mein lieber Paul – so würde ich doch noch immer sagen, daß ich nie daran dachte. Und was noch mehr ist«, fügte Mrs. Chick mit zunehmender Würde hinzu, als ob sie das gewichtigste Argument bis zuletzt aufgespart hätte, »ich habe nie daran gedacht.«

Mr. Dombey ging nach dem Fenster und wieder zurück.

»Man darf nicht glauben, Louisa«, sagte er (Mrs. Chick hatte ihre Flagge an den Mast genagelt und wiederholte: Ich weiß es wohl! aber er nahm keine Notiz davon, sondern fuhr fort), »daß es nicht viele Personen gebe, die, angenommen, daß ich in irgendeinem solchen Fall überhaupt Ansprüche anerkenne, weit höhere Berechtigung an mich haben, als Miß Tox. Aber wie gesagt, ich erkenne nichts dergleichen an. Wenn einmal die Zeit kommt, so werden Paul und ich imstande sein, unser Eigentum zusammenzuhalten – oder mit andern Worten, das Haus wird für sich selbst und ohne dergleichen gemeine Beihilfen sich und sein Eigentum erhalten können. Die Art fremder Hilfe, welche man gewöhnlich für Kinder sucht, kann ich wohl entbehren, da ich hoffentlich darüber weg bin. Sofern Pauls Kindheit und Jugend nur gut verläuft – und er sich ohne Zeitverlust für die Laufbahn, für die ich ihn bestimmt habe, qualifiziert, so bin ich zufrieden. Im spätern Leben kann er sich nach Belieben mächtige Freunde suchen, wenn er nach Kräften die Würde und den Kredit der Firma aufrecht erhält, ja, wenn möglich, sie sogar noch ausdehnt. Bis dahin bin ich vielleicht genug für ihn und alles in allem. Ich wünsche nicht, daß jemand zwischen uns trete. Viel lieber möchte ich deshalb einer so verdienstvollen Person, wie deine Freundin ist, meine Anerkennung für ihr verbindliches Benehmen zeigen. Sei es darum, wie du gesagt hast. Dein Gatte und ich, wir beide werden dann wohl als übrige Paten ausreichen.«

Im Verlauf dieser Bemerkungen, die mit viel Majestät und Großartigkeit vorgetragen wurden, hatte Mr. Dombey die geheimen Gefühle seines Innern enthüllt. Ein unbeschreibliches Mißtrauen vor jedermann, der sich zwischen ihn und seinen Sohn stellen könnte, eine hochmütige Furcht, in der Achtung und in dem Gehorsam des Knaben einen Nebenbuhler oder Teilnehmer zu haben, eine peinigende Ahnung, welche erst kürzlich in ihm aufgestiegen war, daß seine Macht, den menschlichen Willen zu binden und zu beugen, zweifelhaft sei, und eine nicht minder quälende Besorgnis über irgendeinen zweiten Hemmstein oder Querstrich – waren damals die Haupttasten seiner Seele. In seinem ganzen Leben hatte er sich nie einen Freund erworben, da sein kaltes abgemessenes Wesen weder Freunde suchte, noch gewinnen konnte. Und nun, während diese Natur ihre ganze Gewalt so kräftig auf einen Lieblingsplan der väterlichen Teilnahme und des Ehrgeizes konzentrierte, schien es, als ob ihr eisiger sternchenland.com Strom, statt durch solchen Einfluß frei zu werden und klar zu laufen, nur für einen Augenblick aufgetaut sei, um die Last aufzunehmen und dann wieder zu einer einzigen, unnachgiebigen Masse zu gefrieren.

Kraft ihrer Unbedeutsamkeit war Miß Tox von Stund‘ an zur Patin des kleinen Paul erkoren, und Mr. Dombey deutete noch an, es sei ihm lieb, wenn die bereits schon so lang verschobene Zeremonie ohne weitere Verzögerung stattfinde. Seine Schwester, die einen so ausgezeichneten Erfolg nicht entfernt geahnt hatte, entfernte sich in möglichster Eile, um das erzielte Resultat der besten ihrer Freundinnen mitzuteilen, und Mr. Dombey blieb in seinem Bibliothekzimmer allein.

In dem Kinderzimmer sah es nichts weniger als einsam aus, denn Mrs. Chick und Miß Tox erfreuten sich daselbst eines geselligen Abends – sehr zum Verdruß der Miß Susanna Nipper, die jede Gelegenheit ergriff, um hinter der Tür schiefe Gesichter zu machen. Die Gefühle dieser jungen Dame waren so aufgeregt, daß sie es für unerläßlich fand, ihnen diese Erleichterung zu verschaffen, selbst ohne daß sie dabei den Trost irgendeines Auditoriums oder irgendeiner Sympathie hatte. Wie vor alters die fahrenden Ritter ihr Gemüt dadurch erleichterten, daß sie in Wildnissen, Wüsten und andern verlassenen Plätzen, wohin aller Wahrscheinlichkeit nach gewiß nie jemand zum Lesen kam, die Namen ihrer Gebieterinnen dem Gestein oder den Baumrinden anvertrauten, so rümpfte Miß Susanne Nipper ihre Mopsnase in Schubladen oder Kleiderkästen, warf verächtliche Schielblicke in Wandkästen, sandte ihr spottendes Blinzeln in steinerne Krüge und schimpfte aus Leibeskräften draußen auf dem Flurplatz.

Die beiden anstößigen Personen aber, die sich hinsichtlich der Gefühle der jungen Dame in glücklicher Unwissenheit befanden, sahen zu, wie der kleine Paul wohlbehalten alle Stadien des Entkleidens, Entlüftens, des Nachtessens und des Zubettgebrachtwerdens durchmachte; worauf sie sich vor dem Feuer zum Tee niedersetzten. Infolge der guten Dienste, die Polly geleistet hatte, schliefen jetzt die beiden Kinder in einem Zimmer, und erst als die Damen an ihrem Teetisch beisammensaßen, fügte es sich, als sie zufällig nach den kleinen Betten hinübersahen, daß sie an Florence dachten.

»Wie gesund sie schläft!« sagte Miß Tox.

»Na, Ihr wißt ja, meine Liebe«, entgegnete Mrs. Chick, »daß sie sich den ganzen Tag über viel Bewegung macht und um den kleinen Paul herumspielt.«

»Sie ist ein artiges Kind«, sagte Miß Tox.

»Meine Liebe«, erwiderte Mrs. Chick in gedämpfter Stimme, »ganz und gar ihre Mama!«

»Wirklich!« sagte Miß Tox. »Ach du mein Himmel!«

Miß Tox hatte das im Tone des außerordentlichsten Mitleids gesprochen; obgleich sie keine bestimmte Idee von dem Grunde hatte, sondern sich nur etwa dachte, daß das von ihr erwartet werde.

»Florence wird nie, nie und nimmermehr eine Dombey sein«, sagte Mrs. Chick, »und wenn sie tausend Jahre alt würde.«

Miß Tox zog ihre Augenbrauen empor und machte abermals eine Miene des Bedauerns.

»Ich härme mich unaufhörlich ab um ihretwillen«, fuhr Mrs. Chick mit einem Seufzer bescheidenen Verdienstes fort. »Wahrhaftig, ich sehe nicht ein, was aus ihr werden soll, oder welche Stellung sie einnehmen kann, wenn sie älter wird. Ihren Papa weiß sie gar nicht für sich zu gewinnen. Und wie ließe sich das auch erwarten, da sie den Dombeys so ganz unähnlich ist?«

Miß Tox machte ein Gesicht, als sehe sie durchaus kein Mittel, einem so zwingenden Argumente auszuweichen.

»Und das Kind, seht Ihr«, nahm Mrs. Chick im Tone besonderen Vertrauens wieder auf, »hat ganz die Natur der armen lieben Fanny. Ich stehe dafür, sie wird in ihrem ganzen spätern Leben nie eine Anstrengung machen. Nie! Sie wird es nicht versuchen, sich um das Herz ihres Papas zu schlingen und zu winden, wie –«

»Wie der Efeu«, ergänzte Miß Tox.

»Wie der Efeu«, pflichtete Mrs. Chick bei. »Nie! Sie wird nie hineinschlüpfen und sich ein Nestchen bauen in dem Busen der väterlichen Liebe, wie das –«

»Wie das aufgeschreckte Reh?« ergänzte Miß Tox.

»Wie das aufgeschreckte Reh«, sagte Mrs. Chick. »Nie! Die arme Fanny! Und doch, wie lieb ist sie mir gewesen!«

»Ihr müßt Euch nicht selbst betrüben, meine Liebe«, tröstete Miß Tox im Tone der Beschwichtigung. »In der Tat habt Ihr viel zu viel Gefühl.«

»Wir haben alle unsere Schwächen«, versetzte Mrs. Chick weinend und den Kopf schüttelnd, »das darf ich wohl sagen. Ich bin nie blind gegen die ihrigen gewesen und habe das auch nie behauptet. Gerade im Gegenteil. Und doch, wie sehr liebte ich sie!«

Welche Beruhigung war es für Mrs. Chick – eine ganz gewöhnliche, törichte Person, gegen die ihre Schwägerin ein wahrer Engel von weiblicher Einsicht und Zartheit gewesen – das Andenken dieser Dame zu patronisieren und dabei zärtlich zu tun, geradeso, wie sie es bei Lebzeiten der Lady getan hatte. Dabei setzte sie vollkommenen Glauben in sich, lobte sich und tat sich auf das Übermaß ihrer Duldung ungemein zugute! In wie hohem Grade lieblich muß die Tugend der Duldsamkeit sein, wo wir recht haben, wenn sie schon im entgegengesetzten Falle und unter Umständen so angenehm wirkt, wo man sich durchaus nicht erklären kann, wie wir zu dem Vorrecht, sie zu üben, gekommen sind.

Mrs. Chick trocknete sich noch die Augen und schüttelte den Kopf, als sich Richards die Freiheit nahm, ihr anzudeuten, daß Miß Florence wache und in ihrem Bette aufrecht sitze. Sie hatte sich, wie die Amme sagte, erhoben, und die Wimpern ihrer Augen waren naß von Tränen. Aber niemand sah sie glänzen, als Polly. Niemand anders beugte sich zu ihr hin, um ihr beruhigende Worte sternchenland.com zuzuflüstern, oder war nahe genug, um das laute Klopfen ihres Herzens zu hören.

»O, liebe Wärterin«, sagte das Kind angelegentlich zu ihrem Gesicht aufblickend, »laßt mich bei meinem Bruder liegen!«

»Warum, mein Schätzchen?« fragte Richards.

»O, ich denke, er liebt mich«, rief das Kind ungestüm. »Laßt mich bei ihm liegen. Ich bitte, tut es!«

Mrs. Chick legte sich mit einigen mütterlichen Worten ins Mittel und sprach davon, die Kleine solle schlafen wie ein liebes Kind; aber Florence wiederholte ihre Bitte mit erschreckter Miene und mit einer durch Schluchzen und Tränen unterbrochenen Stimme.

»Ich will ihn gewiß nicht aufwecken«, sagt sie, indem sie ihr Gesicht bedeckte und ihr Köpfchen hängen ließ. »Ich will ihn gern nur mit der Hand berühren und schlafen. O ich bitte, bitte, laßt mich heute nacht bei meinem Bruder liegen, denn ich glaube, daß er mich liebt.«

Richards nahm sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, heraus, trug sie nach dem Bettchen, in welchem das Knäbchen schlief, und legte sie an seiner Seite nieder. Sie schmiegte sich so nahe an Paul an, als sie nur konnte, ohne seine Ruhe zu stören, streckte einen ihrer Arme so aus, daß er schüchtern seinen Hals umschlang, verbarg ihr Gesicht mit dem andern, über den das feuchte wirre Haar lose niederfiel, und blieb regungslos liegen.

»Das arme Ding«, sagte Miß Tox. »Wahrscheinlich hat sie geträumt.«

Dieser unbedeutende Vorfall hatte den Faden der Unterhaltung so sehr unterbrochen, daß es schwer wurde ihn wieder aufzunehmen. Außerdem fühlte sich Mrs. Chick von der Betrachtung ihres eigenen toleranten Wesens so angegriffen, daß sie durchaus nicht bei Stimmung war. Die beiden Freundinnen tummelten sich daher, um mit ihrem Tee zu Ende zu kommen, und dann wurde ein Diener abgesandt, um für Miß Tox eine Mietkutsche herbeizuholen. Miß Tox hatte in Betracht der Mietkutsche große Erfahrung, und ihr Fortkommen brauchte in der Regel einige Zeit, da sie umfangreiche Vorbereitungsmaßregeln traf.

»Wenn ich bitten darf, Towlinson«, sagte Miß Tox, »habt vor allem die Güte, Feder und Tinte herauszuholen und die Nummer deutlich niederzuschreiben.«

»Ja, Miß«, versetzte Towlinson.

»Dann möcht‘ ich Euch auch um die Gefälligkeit bitten, Towlinson«, fuhr Miß Tox fort, »das Polster umzudrehen. Es ist in der Regel feucht, meine Liebe«, fügte sie, sich nach Mrs. Chick umdrehend, hinzu.

»Ja, Miß«, versetzte Towlinson.

»Auch möchte ich Euch, wenn Ihr die Güte haben wollt, Towlinson, mit dieser Karte und diesem Schilling bemühen«, sagte Miß Tox. »Er soll nach der auf dieser Karte angegebenen Adresse fahren, sternchenland.com und es versteht sich von selbst, daß er um keinen Preis mehr als den Schilling erhält.«

»Nein, Miß«, versetzte Towlinson.

»Und – es tut mir leid, Euch so viele Mühe zu machen, Towlinson« – sagte Miß Tor, sinnend nach ihm hinschauend.

»Ist durchaus nicht nötig, Miß«, versetzte Towlinson.

»So habt denn die Güte, Towlinson, dem Mann zu sagen«, sagte Miß Tor, »daß der Onkel der Dame eine Magistratsperson sei und er schrecklich bestraft werde, wenn er ihr mit einer von seinen Unverschämtheiten kommt. Wenn Ihr so gut sein wollt, könnt Ihr so tun, als sagtet Ihr ihm das bloß in freundschaftlicher Weise und weil Ihr wüßtet, daß es einem andern Manne, der jetzt zu den Toten zählt, so ergangen sei.«

»Soll nicht fehlen, Miß«, versetzte Towlinson.

»Und nun gute Nacht, mein süßes, süßes, süßes Patchen«, sagte Miß Tor, indem sie jede Wiederholung des Adjektivs mit einem sanften Schauer von Küssen begleitete. »Und Louisa, meine liebe Freundin, versprecht mir, daß Ihr vor dem Schlafengehen noch etwas Warmes nehmen und Euch nicht unnötigen Kummer machen wollt!«

Bei dieser Krise kam es die schwarzäugige Miß Nipper, die aufmerksam zusah, außerordentlich schwer an, sich zusammenzunehmen, obschon die peinliche Selbstbeherrschung fortdauern mußte, bis sich Mrs. Chick entfernt hatte. Sobald aber endlich die Kinderstube frei von Besuchern war, hielt sie sich für den erlittenen Zwang einigermaßen schadlos.

»Ihr könnt mich sechs Wochen in eine Zwangsjacke stecken«, sagte Nipper, »und wenn ich los bin, würde ich nur noch ärgerlicher sein, wer hat je so was von zwei Greisinnen gehört, Mrs. Richards?«

»Und dann zu sagen, das arme Ding habe geträumt!« entgegnete Polly.

»O ihr Schönheiten!« rief Susanna Nipper, und tat so, als werfe sie der Tür, durch welche sich die Damen entfernt hatten, ein Kußhändchen zu. »Sie wird also nie eine Dombey sein, es ist nie von ihr zu hoffen, wir brauchen keine solche mehr, wir haben an einer genug.«

»Weckt die Kinder nicht auf, liebe Susanna«, sagte Polly.

»Ich bin Euch sehr verbunden, Mrs. Richards«, entgegnete Susanna, die in ihrer Wut durchaus keinen Unterschied machte, »und es ist mir geradeso, als ob ich es mir zur Ehre rechnen müßte, Eure Befehle entgegenzunehmen, da ich Eure Sklavin und eine Mulattin bin. Mrs. Richards, wenn Ihr mir noch andere Aufträge erteilen wollt, so bitte ich, es ohne weiteres zu tun.«

»Unsinn – wer spricht von Aufträgen!« sagte Polly.

»O, Gott behüte Euch, Mrs. Richards«, rief Susanna, »die Temporären wollen hier immer den Permanenten kommandieren, habt Ihr dies nicht gewußt, ei, wo seid Ihr denn geboren, Mrs. Richards? Aber wo immer Ihr auch geboren sein mögt, Mrs. Richards«, fuhr Sprühteufel fort, indem sie entschlossen den Kopf sternchenland.com schüttelte, »und wann immer und wie immer (was Ihr selbst wohl am besten wissen werdet), so seid so gut, Euch zu erinnern, daß es etwas anderes ist, Befehle zu erteilen und etwas anderes, sie auszuführen. Eine Person kann zu einer andern Person sagen, sie soll kopfüber von einer Brücke fünfundvierzig Fuß tief ins Wasser hinunter springen, Mrs. Richards, aber es kann der Person einfallen, es recht hübsch bleiben zu lassen.«

»Ich weiß schon«, sagte Polly, »Ihr seid zornig, weil Ihr ein gutes kleines Ding seid und Miß Florence gerne habt; da wollt Ihr jetzt Eure Wut an mir auslassen, weil niemand anders da ist.«

»Es ist sehr leicht für manche, bei guter Stimmung und sanften Worten zu bleiben, Mrs. Richards«, entgegnete Susanna einigermaßen beruhigt, »wenn man aus ihrem Kind so viel macht, wie aus einem Prinzen, und wenn man es hätschelt und pätschelt, bis es seine Freunde weit weg wünscht, aber wenn eine süße junge hübsche Unschuld, zu der man nie ein häßliches Wort sagen sollte, mit Füßen getreten wird, so ist das natürlich ein ganz anderer Fall. Du gütiger, barmherziger Himmel, Miß Floy, Ihr garstiges sündhaftes Kind, wenn Ihr nicht augenblicklich Eure Augen schließt, so rufe ich die Kobolde herein, die sich in der Dachkammer droben herumtreiben, damit sie Euch lebendig auffressen!«

Hier stimmte Miß Nipper ein schreckliches Geheul an, um die Kleine glauben zu machen, es komme von einem gewissenhaften Kobold aus der Ochsenspezies her, der ungeduldig sei, das grausame Amt seiner Stellung zu erfüllen. Nachdem sie noch weiter ihren jungen Pflegling dadurch, daß sie ihm den Kopf mit Bettüchern zudeckte, zur Ruhe gebracht und dem Kissen drei oder vier zornige Klapse gegeben hatte, kreuzte sie die Arme, warf die Lippen auf, setzte sich vor den Kamin und sah für den Rest des Abends ins Feuer hinein.

Obschon der kleine Paul, wie es in der Ammensprache lautete, »für sein Alter schon sehr aufpaßte«, so nahm er doch von all dem, wie auch von den Vorbereitungen, die am übernächsten Tage zu seiner Taufe getroffen wurden, sehr wenig Notiz. Doch ging alles, was seiner Schwester und der beiden Wärterinnen persönlichen Putz betraf, mit großer Regsamkeit vor sich. Als endlich der wichtige Morgen anbrach, zeigte er durchaus keinen Sinn für die Wichtigkeit dessen, was nun stattfinden sollte, da er im Gegenteil ungewöhnlich zum Schlafen geneigt und gegen diejenigen, die ihn ankleiden wollten, über die Maßen widerwärtig war.

Es war ein eisengrauer Herbsttag mit einem unfreundlichen Ostwind – ein Tag, der mit den Vorgängen im Einklang stand. Mr. Dombey repräsentierte in seiner Person den Wind, den Schatten und den Herbst des Taufakts. Er stand so hart und kalt wie das Wetter in seiner Bibliothek, um die Gesellschaft zu empfangen, und als er durch das verglaste Zimmer nach den Bäumen in dem kleinen Garten hinaussah, flatterten die braunen und gelben Blätter nieder, als habe sein Anblick sie zum Fallen gebracht. sternchenland.com Huh – die Zimmer waren düster und kalt! Sie schienen gleich den Insassen des Hauses Trauer angelegt zu haben. Die Bücher, alle von gleicher Größe und gleich Soldaten in einer Linie aufgestellt, sahen in ihren kalten, harten, schlüpfrigen Uniformen aus, als hätten sie nur eine Aufgabe zu erfüllen – die des Gefrierens. Der verschlossene und mit Glastüren versehene Bücherschrank wies jede Vertraulichkeit zurück.

Obendrauf stand Mr. Pitt in Bronze, ohne eine Spur seines himmlischen Ursprungs in sich zu tragen, und hütete den unzugänglichen Schatz wie ein verzauberter Mohr. An jeder Ecke des Schranks predigte eine staubige Urne, aus altertümlichen Gräbern geholt, wie von zwei Kanzeln herunter Verödung und Hinfälligkeit, während der Spiegel über dem Kaminsims, der Mr. Dombey und sein Porträt mit einem Male reflektierte, sich in den melancholischsten Betrachtungen zu ergehen schien.

Die steifen, starren Feuereisen schienen vor allem übrigen die nächste Verwandtschaft mit Mr. Dombey ansprechen zu können, der in zugeknöpftem Frack, weißer Krawatte, knarrenden Stiefeln und mit einer schweren goldenen Uhrkette dastand. So verharrte er bis zur Ankunft von Mr. und Mrs. Chick, seinen gesetzmäßigen Verwandten, die sich bald nachher einstellten.

»Mein lieber Paul«, murmelte Mrs. Chick, als sie ihn umarmte, »hoffentlich der Anfang von vielen erfreulichen Tagen.«

»Danke dir, Louisa«, versetzte Mr. Dombey grämlich. »Wie geht es Euch, Mr. John?«

»Wie befindet Ihr Euch, Sir?« versetzte Chick.

Er reichte Mr. Dombey die Hand in einer Weise, als fürchte er, sie könnte ihn elektrisieren; Mr. Dombey aber nahm sie entgegen, als sei sie ein Fisch, ein Seeschwamm oder eine derartige schleimige Substanz, und ließ sie sogleich mit gesteigerter Höflichkeit wieder los.

»Vielleicht würdest du ein Feuer vorgezogen haben, Louisa?« bemerkte Mr. Dombey, seinen Kopf leicht in der Krawatte drehend, als bewege er sich in einem Scharnier.

»O, mein lieber Paul, nein«, versetzte Mrs. Chick, welche Mühe hatte, sich des Zähneklapperns zu erwehren; »um meinethalben ist es nicht nötig.«

»Mr. John«, sagte Mr. Dombey, »Ihr neigt doch nicht zur Erkältung?«

Mr. John, der bereits seine beiden Hände bis über die Handgelenke in die Taschen gesteckt hatte und gerade im Begriff war, denselben hundeartigen Chorus anzustimmen, der bei einer früheren Gelegenheit Mrs. Chick so viel Anstoß gegeben, versicherte, daß er es hier vollkommen behaglich finde.

Er fügte in gedämpfter Stimme bei, »mit dem Tiddle Tol Turull«, wurde aber glücklicherweise von Towlinson unterbrochen, der die Meldung machte:

»Miß Tor!«

Die holde Zauberin trat ein mit blauer Nase und einem unbeschreiblich sternchenland.com frostigen Gesicht, das sie dem Umstand verdankte, daß sie sich zu Ehren der Feierlichkeit in luftige und flatternde Fähnchen gehüllt hatte.

»Wie geht es Euch, Miß Tor?« sagte Mr. Dombey.

Miß Tor verbeugte sich inmitten des sie umgebenden Flitters sehr tief, so daß sie den Eindruck eines sich schließenden Opernglases erweckte. Sie knixte nämlich deshalb so tief, um Mr. Dombey für die Auszeichnung zu danken, daß er ihr ein paar Schritte entgegenkam.

»Ich kann diese Gelegenheit nie vergessen«, sagte Miß Tor mit weicher Stimme. »Das ist unmöglich! Meine teure Louisa, ich kann kaum dem Zeugnis meiner Sinne trauen.«

Wenn Miß Tor dem Zeugnis eines ihrer Sinne Glauben schenken konnte, so war es zuverlässig ein sehr kalter Tag. Das lag klar auf der Hand. Um die Zirkulation des Blutes in ihrer Nasenspitze zu fördern, rieb sie diese heimlich mit dem Taschentuch, damit sie den Säugling nicht zu sehr erschrecke, falls sie ihn küssen würde.

Der Kleine wurde bald nachher in großer Glorie von Richards hereingebracht, während Florence unter der Obhut der Susanna Nipper, die einer diensthabenden Polizistin glich, die Nachhut bildete. Obgleich sie jetzt alle leichtere Trauerkleidung trugen, lag doch noch genug im Äußeren der mutterlosen Kinder, um das Drückende des Tages hervortreten zu lassen. Auch der Säugling – vielleicht war die Nase der Miß Tor daran schuld gewesen – begann zu schreien und hinderte dadurch gefälligerweise Mr. Chick an der linkischen Erfüllung eines sehr wohlgemeinten Vorhabens, da er nämlich beabsichtigt hatte, viel aus Florence zu machen. Denn dieser Gentleman, der nichts von den überlegenen Ansprüchen einer vollkommenen Dombey wußte – vielleicht weil er selbst die Ehre hatte, mit einer Dombey vereinigt zu sein und deshalb mit Vortrefflichkeit vertraut war – liebte die Kleine wirklich, und war eben im Begriff, dieses in seiner eigenen Weise zu zeigen, als Paul zu schreien anfing und sich unverzüglich darauf sein teures Ehegemahl ins Mittel legte.

»Nun Florence, Kind?« sagte die Tante rasch. »Was treibst du, meine Liebe? Zeig dich ihm. Beschäftige seine Aufmerksamkeit!«

Die Atmosphäre wurde kälter und kälter oder hätte es wenigstens werden können, als Mr. Dombey so eisig dastand und seiner kleinen Tochter zusah, die ihre Händchen zusammenschlug, sich vor dem Thron seines Sohnes und Erben auf die Zehenspitzen stellte und ihm schmeichelte, daß er sich aus seiner Erhabenheit herabließ und sie ansah. Mrs. Richards hatte wohl die richtige Art, mit dem Kleinen umzugehen, denn er sah verklärt auf Florence herab und blieb jetzt ruhig. Als nun seine Schwester sich hinter der Amme versteckte, folgte er ihr mit seinen Augen, und als sie mit einem heiteren Zuruf wieder hervorguckte, streckte er sich, schrie lustig hinaus und lachte hell auf, als sie auf ihn zueilte. Er schien mit seinen kleinen Händchen ihre Locken liebhaben zu wollen, während sie ihn mit Küssen fast erstickte.

War Mr. Dombey wohl über diesen Anblick erfreut? Er bekundete wenigstens nicht durch das mindeste Muskelzucken ein Wohlbehagen. Aber äußere Merkmale irgendwelcher Gefühle waren bei ihm etwas Ungewöhnliches. Wenn sich je ein Sonnenstrahl in das Zimmer stahl, um die Kinder bei ihren Spielen zu beleuchten, so erreichte er nie sein Gesicht. Er sah so starr und kalt zu, daß das warme Licht sogar aus den lachenden Augen der kleinen Florence verschwand, als sie endlich zufällig den seinen begegnete.

Es war in der Tat ein trüber, grauer Herbsttag, und in der kurzen stummen Pause, die nun folgte, fielen die Blätter in Menge nieder.

»Mr. John«, sagte Mr. Dombey, nachdem er auf seine Uhr und nach seinem Hut und seinen Handschuhen griff, »Seid so gut, Euch meiner Schwester anzunehmen: mein Arm gehört heute Miß Tor. Es wird am besten sein, Richards, wenn Ihr mit Master Paul vorausgeht. Gebt aber wohl acht auf ihn.«

In Mr. Dombeys Wagen saßen Dombey und Sohn, Miß Tor, Mrs. Chick, Richards und Florence, während in einem kleineren Gefährt der Eigentümer desselben, Mr. Chick und Susanna Nipper folgten. Susanna sah ohne Unterlaß zum Kutschenschlag hinaus, um sich Erleichterung in der Verlegenheit zu verschaffen, dem breiten Gesichte dieses Gentleman gegenüber zu sitzen; dabei dachte sie, so oft sie etwas rauschen hörte, daß er ein anständiges klingendes Kompliment für sie in Papier einwickle.

Als sie sich auf dem Wege nach der Kirche befanden, klopfte Mr. Dombey zur Unterhaltung seines Sohnes in die Hände – ein Pröbchen seiner väterlichen Freude, über das Miß Tor ganz entzückt war. Aber abgesehen von diesem Vorfall bestand der Hauptunterschied zwischen der Taufpartie und einer Gesellschaft in einer Trauerkutsche nur in den Farben der Equipage und der Pferde.

An den Treppenstufen der Kirche angelangt, wurden sie von einem stattlichen Kirchendiener in Empfang genommen. Mr. Dombey verließ den Wagen zuerst, um den Damen herauszuhelfen, und sah, da er sich neben dem andern an dem Kutschenschlag aufpflanzte, wie ein zweiter Kirchendiener aus – als Büttel zwar weniger prunkhaft, aber schrecklicher, der Büttel des Privatlebens, der Büttel unserer Geschichte und unserer Herzen.

Die Hand der Miß Tor zitterte, als sie sie in Mr. Dombeys Arm legte und sich so die Treppe hinauf geleitet sah, voraus einen Eckenhut und einen babylonischen Kragen. Es kam ihr für einen Augenblick eine andere Feierlichkeit in den Sinn. »Willst du diesen Mann haben, Lukretia?« »Ja, ich will.«

»Wenn Ihr so gut sein wollt, so bringt das Kind hurtig aus der scharfen Luft herein«, flüsterte der Kirchendiener, indem er die innere Tür des Gotteshauses offen hielt.

Der Platz war so frostig und erdig, daß der kleine Paul mit Hamlet hätte fragen können: »In mein Grab?« Die hohe, verhüllte Kanzel und das Lesepult, die traurige Perspektive von leeren Stühlen, sternchenland.com Mrs. Richards hatte wohl die richtige Art, mit dem Kleinen umzugehen, denn er sah verklärt auf Florence herab und blieb jetzt ruhig. sternchenland.com die sich unter den Galerien hin erstreckten, und leere Bänke, die bis zu dem Dach hinaufstiegen und sich im Schatten der großen finsteren Orgel verloren, der staubige Teppich und die kalten Fliesensteine, die grauen freien Sitze in den Gängen und die feuchte Ecke bei dem Glockenseil, wo die schwarzen Schragen für die Leichenbegängnisse nebst einigen Schaufeln, Körben und ein paar unheimlich aussehenden Tauringen aufbewahrt waren, der befremdliche, ungewöhnliche und unbehagliche Geruch, die leichenhafte Erhellung – alles das stand im Einklang mit der kalten, unheimlichen Szene.

»Es geht eben eine Trauung vor, Sir«, sagte der Kirchendiener; »sie wird aber gleich vorüber sein. Wollt Ihr vielleicht inzwischen in die Sakristei hereinkommen?«

Ehe er sich wieder umwandte, um voranzugehen, verbeugte er sich vor Mr. Dombey mit einem halben Lächeln des Wiedererkennens, um ihm damit anzudeuten, daß er schon beim Begräbnis seiner Gemahlin das Vergnügen hatte ihn zu sehen, und er hoffte, es sei ihm, Mr. Dombey, inzwischen gut gegangen.

Auch die Hochzeitspartie sah sehr trübselig aus, als sie vor dem Altar vorbeiging. Die Braut war zu alt und der Bräutigam zu jung, die Hochzeitszeugen schauderten, und ein hoch in Jahren stehender Beau mit einem Auge, der das fehlende durch ein Augenglas ersetzte, führte die Dame hinweg. In der Sakristei rauchte das Feuer, und ein wohlbetagter, abgearbeiteter und schlecht bezahlter Attorny-Schreiber, der etwas suchte, ließ seine Zeigefinger über die Pergamentseiten eines ungeheuren Registers, aus einer langen Reihe ähnlicher Bände genommen, die gleichfalls mit Begräbnisaufzeichnungen vollgepfropft waren, herunterlaufen. Über dem Kamin befand sich ein Plan von den Grabgewölben unter der Kirche, und Mr. Chick, der, um die Gesellschaft zu beleben, den literarischen Teil davon laut zum besten gab, las die Hindeutung auf Mrs. Dombeys Ruhestätte vollständig, ehe er sich Einhalt zu tun vermochte.

Nach einem abermaligen kalten Zeitraume bot eine kleine magere Stuhlschließerin mit einem Asthma, das wohl auf den Kirchhof, aber nicht auf die Kirche hindeutete, die Gesellschaft nach dem Taufsteine auf. Hier warteten sie eine kleine Weile, während der die Hochzeitsgesellschaft sich in Reih und Glied setzte; die asthmatische Stuhlschließerin aber humpelte – teilweise infolge ihrer Gebrechlichkeit, aber auch um der Hochzeitsgesellschaft ihre Person in Erinnerung zu bringen – in dem Gebäude umher und hustete wie ein Nordkaper. Bald darauf erschien der Küster (hier der einzige heiter aussehende Gegenstand, obschon er zugleich Leichenbestatter war) mit einem Krug warmen Wassers, goß davon in den Taufkessel und sagte dabei etwas von möglicher Erkältung des Kindes, die bei dem gegenwärtigen Anlaß durch Millionen Eimer heißen Wassers nicht hätte vermieden werden können. Dann kam der Geistliche, ein angenehmer, mild aussehender junger Vikar, vor dem sich aber augenscheinlich das Kind fürchtete, gleich der Hauptfigur einer Geistergeschichte – »eine hohe, weiße Gestalt«. Wie Paul seiner ansichtig wurde, sternchenland.com erfüllte er die Luft mit seinem Geschrei und ließ nicht ab davon, bis er ganz schwarzblau im Gesicht war.

Ja selbst als es endlich zur großen Beruhigung von jedermann so weit gekommen war, hörte man ihn noch während des Restes der Zeremonie unter dem Portikus bald schwächer, bald lauter, bald gedämpft, bald aufs neue wieder losbrechen aus dem unwiderstehlichen Gefühl des an ihm begangenen Unrechts. Das verwirrte die Aufmerksamkeit der beiden Damen dermaßen, daß Mrs. Chick unaufhörlich nach dem mittleren Gang hinging, um durch die Stuhlschließerin etwas zu bestellen, während Miß Tox ihr Gebetbuch bei der Schießpulververschwörung offen hielt und gelegentlich aus diesem Kapitel ihre Antworten ablas.

Während dieses ganzen Vorgangs blieb Mr. Dombey so teilnahmslos und gentlemanisch, wie nur je; vielleicht verursachte seine Anwesenheit die Kälte, welche dazu Anlaß gab, daß dem jungen Vikar beim Lesen jeder Hauch seines Mundes dampfte. Nur einmal bemerkte man eine Veränderung in seiner Miene, und das geschah, als der Geistliche in einfachem Vortrag seine Schlußermahnung an die Paten des Kindes hielt und dabei sein Auge auf Mr. Chick ruhen ließ. Mr. Dombeys Miene war bei dieser Gelegenheit so majestätisch, daß sich deutlich darin ausdrückte, »ich möchte doch sehen, ob es dieser je nötig hat, solchen Verpflichtungen nachzukommen«.

Es dürfte für Mr. Dombey gut gewesen sein, wenn er ein bißchen weniger an seine eigene Würde und mehr an den hohen Ursprung und an den Zweck der Feierlichkeit gedacht hätte, bei der er eine so förmliche und steife Rolle spielte. Seine Anmaßung bildete einen befremdlichen Gegensatz zu der Geschichte der heiligen Handlung.

Nachdem alles vorüber war, gab er Miß Tox abermals seinen Arm und führte sie nach der Sakristei, wo er dem Geistlichen mitteilte, es würde ihm ein großes Vergnügen gemacht haben, wenn er sich zum Diner die Ehre seiner Gesellschaft hätte erbitten können; hierauf müsse er aber wegen des unglücklichen Zustandes seiner häuslichen Angelegenheiten verzichten. Die Eintragungen wurden gemacht, die Gebühr bezahlt und weder die Stuhlschließerin, deren Husten wieder sehr schlimm geworden war, noch der Kirchendiener oder der Küster, der wie zufällig in der Tür, die zur Treppe führte, stand und mit großem Interesse das Wetter betrachtete, vergessen. Dann stiegen sie wieder in den Wagen und fuhren in derselben kalten Geselligkeit nach Hause.

Dort war Mr. Pitt, der die Nase über einen kalten Imbiß rümpfte, der in kaltem Pomp von Glas und Silber aufgetragen war und eher einem toten Diner auf dem Paradebette, als einer sozialen Erfrischung glich. Bei ihrer Ankunft brachte Miß Tox einen Becher für ihr Patchen zum Vorschein, und Mr. Chick beschenkte es mit Messer, Gabel und Löffel in einem andern Futteral. Auch Mr. Dombey hatte sich mit einem Armband für Miß Tox versehen, und beim Empfang dieses Andenkens entwickelte besagte Dame eine große Rührung.

»Mr. John«, sagte Dombey, »wollt Ihr die Güte haben, unten am Tisch Platz zu nehmen? Was steht vor Euch, Mr. John?«

»Kalter Nierenbraten, Sir«, entgegnete Mr. Chick, die steifen Hände hart gegeneinander reibend. »Was habt Ihr dort, Sir?«

»Das«, versetzte Mr. Dombey, »ist, glaube ich, irgendein kaltes Präparat von Kalbskopf. Ich sehe noch kaltes Geflügel – Schinken – Pastetchen – Salat – Hummern. »Miß Tox, wollt Ihr mir die Ehre erweisen, etwas Wein anzunehmen? Champagner für Miß Tox.«

Lauter zahnwehmachende Dinge. Der Wein war so grimmig kalt, daß Miß Tox einen leichten Schrei ausstieß, und sie hatte große Mühe, ihn zu einem »hem« umzuwandeln. Der Nierenbraten kam aus einer so luftigen Speisekammer, daß der erste Bissen auf Mr. Chick den Eindruck machte, als ränne ihm kaltes Blei bis an die Zehenspitzen. Nur Mr. Dombey blieb unbewegt. Man hätte ihn auf einem russischen Jahrmarkt als Probe eines erfrorenen Gentlemans zum Verkauf aushängen können.

Der vorherrschende Eindruck war sogar für seine Schwester zu viel. Sie gab sich sogar keine Mühe, ihre sonstigen Schmeicheleien und ihre Redseligkeiten anzubringen, sondern richtete alle ihre Anstrengungen darauf hin, so warm, als sie nur konnte, auszusehen.

»Na, Sir«, sagte Mr. Chick, nach langem Schweigen einen verzweifelten Anlauf nehmend und sich dazu ein Glas Xeres füllend; »mit Eurer Erlaubnis, Sir, will ich ein Hoch auf den kleinen Paul ausbringen.«

»Gott segne ihn!« murmelte Miß Tox, von ihrem Weine schlürfend.

»Der liebe kleine Dombey!« flüsterte Mrs. Chick.

»Mr. John«, sagte Mr. Dombey mit ernster Gravität, »wenn mein Sohn die Gunst, die Ihr ihm erwiesen habt, zu würdigen wüßte, so würde er sich ohne Zweifel sehr verpflichtet fühlen und Euch seinen Dank ausdrücken. Doch ich hoffe zuversichtlich, er wird mit der Zeit den Beweis liefern, daß er jeder Verantwortlichkeit gewachsen ist, welche ihm die Verbindlichkeit seiner Verwandten und Freunde im Privatleben oder die beschwerliche Beschaffenheit unserer Stellung im öffentlichen auferlegen kann.«

Der Ton, in dem das gesprochen wurde, gab nichts Weiterem Raum, und Mr. Chick verfiel wieder in ein trübseliges Schweigen. Nicht so Miß Tox, welche Mr. Dombey sogar mit emphatischerer Aufmerksamkeit als gewöhnlich und mit einer ausdrucksvolleren Neigung ihres Kopfes auf die eine Seite zugehört hatte. Sie lehnte sich jetzt quer über den Tisch und sagte mit leiser Stimme zu Mr. Chick:

»Louisa!«

»Meine Liebe«, versetzte Mrs. Chick.

»Die beschwerliche Beschäftigung unserer Stellung im öffentlichen ihm – ich habe den Ausdruck wieder vergessen.«

»Zulegen könnte«, sagte Mrs. Chick.

»Verzeiht, meine Liebe«, erwiderte Miß Tox. »Ich glaube nicht. sternchenland.com Er war gerundeter und fließender. Die Verbindlichkeit seiner Verwandten und Freunde im Privatleben oder die beschwerliche Beschaffenheit der Stellung im öffentlichen – ihm – auflegen könnte?«

»Natürlich ihm auflegen könnte«, sagte Mrs. Chick.

Miß Tox schlug triumphierend, aber doch nur leicht ihre zarten Hände zusammen und fügte mit einem aufwärts gerichteten Blick hinein: »In der Tat Beredsamkeit!«

Mittlerweile hatte Mr. Dombey Befehl erteilt, daß die Richards herbeigerufen werden sollte, und diese trat jetzt mit Verbeugungen, aber ohne Bübchen, herein, da Paul nach den Anstrengungen des Morgens schläfrig geworden war. Mr. Dombey überreichte dieser Vasallin ein Glas Wein und redete sie mit nachstehenden Worten an, nachdem zuvor Miß Tox ihren Kopf zur Seite geneigt und alle übrigen Vorbereitungen getroffen hatte, sie in den Tiefen ihrer Seele einzugraben.

»Während der sechs Monate oder so, Richards, welche Ihr eine Insassin dieses Hauses gewesen seid, habt Ihr Eure Pflicht getan. Es war daher mein Wunsch, Euch bei dieser Gelegenheit einen kleinen Dienst zu erweisen. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich das am besten könnte, und befragte deshalb meine Schwester, Mistreß –«

»Chick«, flocht der Gentleman dieses Namens ein.

»O, seht, wenn ich bitten darf!« sagte Miß Tox.

»Ich wollte Euch sagen, Richards«, nahm Mr. Dombey mit einem streng zurechtweisenden Blick gegen Mr. John wieder auf, »daß meinen Entschluß die Erinnerung an ein Gespräch unterstützte, das ich mit Eurem Gatten in diesem Zimmer hatte, zur Zeit, als Ihr gemietet wurdet. Er entdeckte mir damals den traurigen Umstand, daß Eure Familie, ihn selbst, das Haupt, nicht ausgenommen, tief in Unwissenheit versunken sei.«

Richards bebte unter der Großartigkeit dieses Vorwurfs.

»Ich bin zwar durchaus kein Freund von dem«, fuhr Mr. Dombey fort, »was von den aufdringlichen Gleichmachern allgemein Erziehung genannt wird; aber es ist immerhin nötig, daß die unteren Klassen fortwährend unterrichtet werden, wie sie ihre Stellung erkennen und sich demgemäß gebührend aufführen müssen. Insoweit haben die Schulen meinen Beifall. Da es nun in meiner Macht steht, für eine alte Anstalt, die von einer verehrungswerten Gesellschaft den Namen der barmherzigen Schleifer erhalten hat, ein Kind zu nominieren – die Schüler erhalten dort nicht nur eine gesunde Erziehung, sondern auch einen mit dem Abzeichen des Instituts versehenen Anzug – so habe ich, nachdem ich zuerst durch Mrs. Chick mit Eurer Familie Rücksprache nehmen ließ, Euren ältesten Sohn für eine erledigte Stelle bezeichnet, und wie ich höre, trägt er schon heute die Montierung. Die Nummer ihres Sohnes«, fügte Mr. Dombey gegen seine Schwester bei, als ob er nicht von einem Kinde, sondern von einer Mietkutsche spreche – »ist, wie ich glaube, hundertsiebenundvierzig. Louisa, du kannst es ihr sagen.«

»Hundertsiebenundvierzig«, bekräftigte Mrs. Chick. »Die Montierung, sternchenland.com Richards, besteht aus einem netten, warmen blauwollenen Fräcklein, einer Mütze mit orangefarbigem Band, rotwollenen Strümpfen und sehr starken Lederhosen. Man könnte die Sachen selbst tragen«, fügte Mrs. Chick mit Enthusiasmus hinzu, »und Gott dafür danken.«

»So, Richards!« sagte Miß Tox. »Nun dürft Ihr in der Tat stolz sein. Die barmherzigen Schleifer!«

»Ich bin Euch gewiß sehr verbunden, Sir«, entgegnete Richards kleinlaut, »und weiß es sehr zu schätzen, daß Ihr meiner Kleinen gedenkt.«

Wie sie aber zu gleicher Zeit sich den Sieder als barmherzigen Schleifer dachte und sich seine sehr kleinen Beine in der dauerhaften Kleidung, wie sie Mrs. Chick beschrieben hatte, vergegenwärtigte, schwamm es ihr vor den Augen, so daß sie ganz feucht wurden.

»Es freut mich, zu bemerken, daß Ihr soviel Gefühl habt, Richards«, sagte Miß Tox.

»Ja wahrhaftig, es läßt einen fast hoffen«, sagte Mrs. Chick, die sonst sehr darauf hielt, die menschliche Natur durch das Auge des Argwohns zu betrachten, »daß vielleicht noch ein kleiner Funke von Dankbarkeit und richtigem Gefühl in der Welt übrig geblieben ist.«

Richards erwiderte diese Komplimente nur mit Knixen und gemurmelten Dankesäußerungen. Da es ihr aber unmöglich war, sich von der Verwirrung zu befreien, in welche sie das Bild ihres Sohnes mit der vorzeitigen Beinbekleidung versetzt hatte, so näherte sie sich allmählich der Tür und schätzte sich glücklich, durch dieselbe entkommen zu können.

Solche vorübergehende Anzeichen eines teilweisen Auftauens, die mit ihr aufgetaucht waren, verschwanden mit ihrer Entfernung wieder, und der Frost trat aufs neue so kalt und hart ein, wie nur je. Unten am Tisch hörte man zwar etliche Male Mr. Chick eine Arie summen, aber stets war es nur ein Bruchstück aus dem Totenmarsch im Saul. Die Gesellschaft schien kälter und kälter zu werden, ja zuletzt sich in einen gefrorenen und festen Zustand zu versetzen, gleich dem Imbiß, um den sie sich versammelt hatte. Endlich sah Mrs. Chick nach Miß Tox hin, und Miß Tox erwiderte den Blick; dann erhoben sich beide und sagten, daß es wahrhaftig Zeit sei, aufzubrechen. Mr. Dombey nahm diese Ankündigung mit völligem Gleichmut entgegen; die Anwesenden verabschiedeten sich von diesem Gentleman und entfernten sich ohne Zögerung unter dem Schutze des Mr. Chick, der, sobald sie dem Hause den Rücken gekehrt und den Gebieter desselben in seinem gewöhnlichen einsamen Zustande zurückgelassen hatten, die Hände in seine Taschen steckte, sich in den Wagen zurückwarf und ein »mit dem Heidideldumdidum!« ganz durchpfiff. Dabei legte er in sein Gesicht einen Ausdruck so voll düsteren und schrecklichen Trotzes, daß es Mrs. Chick nicht wagte, zu protestieren oder in irgendeiner Weise ihn zu belästigen.

Obgleich Richards den kleinen Paul auf ihrem Schoß hatte, konnte sie doch ihren eigenen Erstgeborenen nicht vergessen. Sie fühlte zwar sternchenland.com wohl, daß sie undankbar war; aber der Einfluß des Tages fiel sogar auf die barmherzigen Schleifer, und sie konnte sich kaum erwehren, das zinnerne Abzeichen mit Nummer hundertundsiebenundvierzig in irgendeiner Weise als einen Teil seiner Förmlichkeit und Kälte zu betrachten. Auch sprach sie in der Kinderstube von seinen »gesegneten Beinen«, und aufs neue fühlte sie sich durch sein Abbild in Uniform beunruhigt.

»Ich weiß nicht, was ich darum geben würde«, sagte Polly, »wenn ich den armen lieben Kleinen sehen könnte, ehe er sich daran gewöhnt hat.«

»Ei, so will ich Euch etwas sagen, Mrs. Richards«, entgegnete Nipper, die ins Vertrauen gezogen worden war, »besucht ihn, damit Ihr Euch darüber beruhigen könnt.«

»Mr. Dombey wird es nicht gerne haben«, sagte Polly.

»Warum nicht gar, Mrs, Richards«, erwiderte Nipper; »im Gegenteil, ich glaube, er würde sich freuen, wenn er darum gebeten würde.«

»Vermutlich würdet Ihr ihn nicht darum bitten wollen?« sagte Polly.

»Nein, Mrs. Richards, ganz im Gegenteil, und da, wie ich sie heute sagen hörte, jene zwei Inspektorinnen, Tox und Chick, morgen nicht Dienst zu tun gedenken, so wollen ich und Miß Floy morgen früh mit Euch gehen, recht gerne, Mrs. Richards, wenn es Euch recht ist, denn wir können dort so gut die Straße auf und ab spazieren, als anderswo, ja noch besser.«

Polly wies diesen Gedanken anfänglich ziemlich standhaft zurück; aber allmählich begann sie sich daran zu gewöhnen, um so mehr, da die verbotenen Bilder ihrer Kinder und ihrer Heimat ihr immer lebhafter vor die Seele traten. Endlich kam sie zu dem Schlusse, es schade ja nichts, wenn sie einen Augenblick an der Tür anspreche, und dieser Grund bewog sie, auf Klippers Vorschläge einzugehen.

Nachdem die Sache in dieser Weise beschlossen war, begann der kleine Paul kläglich zu schreien, als habe er eine Vorahnung, daß nichts Gutes dabei herauskommen würde.

»Was ist mit dem Kinde?« fragte Susanna.

»Es wird ihn frieren, denke ich«, entgegnete Polly, und ging mit ihm hin und her, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Es war in der Tat ein frostiger Herbstnachmittag, und als sie, ihren Pflegling pätschelnd, hin und her ging, ihn fester an ihre Brust drückte und durch die traurigen Fenster hinausschaute, fielen die welken Blätter mit Macht nieder.

Neunundzwanzigstes Kapitel.


Neunundzwanzigstes Kapitel.

Wie Mrs. Chick die Augen aufgehen.

Miß Tox wußte nicht das mindeste von den merkwürdigen Erscheinungen um Mr. Dombeys Haus, als da waren Gerüste, Leitern und Männer, die ihre Köpfe mit Taschentüchern umwickelten und gleich fliegenden Genien oder fremden Vögeln zu den Fenstern hineinschauten. In dem gegenwärtigen verhängnisvollen Zeitpunkt unserer Geschichte hatte sie eines Morgens in der gewohnten Weise ihr Frühstück eingenommen, das aus einer französischen Semmel, einem angeblich frisch gelegten Ei und einem kleinen Teetopf bestand, worin ein kleiner Kaffeelöffel voll des würzigen Krauts ihrer selbst wegen und ein anderer wegen des Teetopfs übergossen worden war – ein Phantasieflug, an dem gute Haushälterinnen eine besondere Freude zu haben scheinen. Nachdem sie ihr Mahl eingenommen, ging sie die Treppe hinauf, um auf ihrem Klavier den Vogelwalzer zu quälen, ihre Blumen zu begießen und zu ordnen, ihre Siebensachen abzustäuben und der täglichen Gewohnheit zufolge ihr kleines Wohnzimmer zur Zierde des Prinzessinnenplatzes zu machen.

Miß Tox pflegte diese Obliegenheiten in alten Handschuhen, die wie welke Blätter aussahen und die sonst vor allen menschlichen Blicken in der Tischlade verborgen waren, zu vollbringen. Dabei verfuhr sie ganz methodisch, indem sie mit dem Vogelwalzer anfing und infolge einer sehr natürlichen Ideenverknüpfung auf ihren Vogel überging – ein hochschultriges Exemplar der Kanarienzunft, der weit in den Jahren vorgerückt und sehr stutzfederig, aber dabei, wie der Prinzessinnenplatz wohl wußte, ein gellender Sänger war. Zunächst kam die Reihe an die kleinen Nippes-Sachen, an das Pechpapier für die Fliegen usw., bis endlich im Lauf der Zeit auch die Pflanzen bedacht wurden, die in der Regel aus einem botanischen Grund, der für Miß Tox sehr wichtig war, da und dort des Beschneidens mit der Schere bedurften.

Miß Tox kam jenen Morgen erst spät zu ihren Pflanzen. Das Wetter war warm, und der südliche Wind wehte wie ein Sommerseufzer über den Prinzessinnenplatz, so daß ihre Gedanken sich unwillkürlich dem Lande zuwandten. Der Bierjunge aus dem Prinzessinnenwappen sternchenland.com stand unten mit einer Gießkanne und befeuchtete den ganzen Prinzessinnenplatz in kühnen Schnörkeln, dadurch dem grasigen Grund einen frischen Duft verleihend – ein richtiger Geruch des Wachsens, wie Miß Tox sagte. Von der großen Straße um die Ecke aus ließ sich ein kleiner Sonnenblick unterscheiden, und die rauchbraunen Sperlinge hüpften darüber hin und her, während des Durchgangs frisch erglänzend, oder badeten sich darin wie in einem Strome und wurden zu verklärten Sperlingen, die in keiner Beziehung zu den Schornsteinen standen.

Legenden zum Preise des Ingwerbiers mit malerischen Illustrationen von durstigen Kunden, die ihre Nasen im Schaum stecken hatten oder von fliegenden Stöpseln betäubt waren, sah man in dem Fenster des Prinzessinnenwappens zur Schau ausgestellt. Irgendwo außerhalb der Stadt wurde Heu eingeerntet, und obgleich der Duft davon einen weiten Weg zu machen und mit allerlei widerstreitenden Gerüchen zu kämpfen hatte – Gottes Lohn über die würdigen Gentlemen, die für die Pest als für eine weise Einrichtung unserer Vorfahren Partei nehmen und nach ihren kleinen Kräften ihr Möglichstes aufbieten, um solche Wohnungen elend zu erhalten – so wehte er doch leicht nach dem Prinzessinnenplatz herüber und flüsterte von Natur und gesunder Luft. Das pflegen dergleichen Dinge ja auch unter Gefangenen und unterdrückten Unglücklichen zu tun, ohne sich an Aldermen und Ritter zu kehren; denn wie weise diese Ehrenmänner auch ihre Köpfe schütteln können – und sie können’s sicherlich in hohem Grade – so nimmt doch die rollende Welt fortwährend ihren alten Gang.

Miß Tox nahm an dem Fenstersitz Platz, sich in Gedanken an ihren guten Papa ergehend, an den seligen Zolleinnehmer Mr. Tox, und an ihre Kindheit, die sie unter einer beträchtlichen Menge kalten Teers und einiger Ländlichkeit in einer Hafenstadt zugebracht hatte. Sie erinnerte sich dabei der alten Zeiten mit ihren Wiesen, die sich im Schmuck ihrer gelben Butterblumen wie umgekehrte Firmamente mit zahllosen goldenen Sternen ausgenommen hatten. Sie gedachte der Ketten aus Löwenzahnstengeln, die sie für unterschiedliche, in Nanking gekleidete jugendliche Versicherer ewiger Liebe angefertigt hatte, obschon diese Fesseln gar bald welkten und zerbrachen.

Von ihrem Fenstersitze aus nach den Sperlingen und dem Sonnenblick hinschauend, dachte Miß Tox auch an ihre gute selige Mama, die Schwester eines Mannes mit gepudertem Kopf und Haarbeutel, an ihre Tugenden und an ihren Rheumatismus. Und als endlich ein latschbeiniger Mann mit rauher Stimme und auf dem Kopfe einen schweren Korb, der seinen Hut zu einer bloßen schwarzen Semmel zusammendrückte, durch den Prinzessinnenplatz herunter Blumen zum Verkauf ausbot, so daß bei jedem Ruf die schüchternen kleinen Maßliebchensprossen zitternd zusammenschauderten, als sei der Träger ein Werwolf, der mit kleinen Kindern hausiere, – da wurden in Miß Tox die Sommererinnerungen so übermächtig, daß sie den Kopf schüttelte und vor sich hinmurmelte, sie werde beziehungsweise sternchenland.com wohl alt werden, ehe sie es erfahre – eine Vermutung, die große Wahrscheinlichkeit für sich hatte.

Die Kette ihrer Gedanken folgte auch Mr. Dombeys Spur – ohne Zweifel, weil der Major wieder in seine Wohnung zurückgekehrt war und sich eben erst von seinem Fenster aus gegen sie verbeugt hatte. Welchen andern Grund konnte Miß Tox haben, Mr. Dombey mit ihren Sommertagen und den Löwenzahnketten in Verbindung zu bringen? War er heiterer? dachte sie. Hatte er sich in den Schluß des Schicksals gefunden? Heiratete er wohl wieder und – falls diese Frage zu bejahen war – wen? Was für eine Person mochte ihm jetzt zusagen?

Eine Glut – es war warm Wetter – breitete sich über ihr Gesicht, als sie im Laufe dieser Betrachtungen ihren Kopf umwandte und überrascht in dem Spiegel über dem Kamin ihres eigenen Abbildes ansichtig wurde. Diese Glut wiederholte sich bei dem Einfahren einer kleinen Equipage in den Prinzessinnenplatz, die geradewegs nach ihrer Tür einbog. Miß Tox stand auf, griff hastig nach ihrer Schere, um endlich an ihre Pflanzen zu kommen, und war eben eifrig mit diesen beschäftigt, als Mrs. Chick ins Zimmer trat.

»Wie geht es meiner teuersten Freundin?« rief Miß Tox mit offenen Armen.

In dem Benehmen der teuersten Freundin machte sich ein etwas vornehmes Wesen bemerklich; sie küßte jedoch Miß Tox und erwiderte:

»Danke Euch, Lukretia – es geht mir ziemlich gut, und ich hoffe von Euch dasselbe. Hem!«

Mrs. Chick litt an einem eigentümlichen, kurzen, einsilbigen Husten – er war eine Art ABC-Buchübung – eine leichte Einführung in die Kunst, zu husten.

»Wie freundlich ist es von Euch, daß Ihr mich so früh besucht, meine Liebe«, fuhr Miß Tox fort. »Habt Ihr schon gefrühstückt?«

»Ja, ich danke Euch, Lukretia«, versetzte Mrs. Chick. »Ich nahm es bei meinem Bruder ein«, fuhr sie fort und sah sich auf dem ganzen Prinzessinnenplatz um, der ein besonderes Interesse für sie gewonnen zu haben schien, »der wieder zurückgekehrt ist.«

»Ich hoffe, meine Liebe, er befindet sich besser?« stotterte Miß Tox.

»O ja – viel besser, ich danke Euch. Hem!«

»Meine liebe Louisa muß sich mit diesem Husten in acht nehmen«, bemerkte Miß Tox.

»Es macht nichts«, versetzte Mrs. Chick. »Nur die Veränderung des Wetters. Wir sehen einem Wechsel entgegen.«

»Des Wetters?« fragte Miß Tox in ihrer Einfalt.

»In allem«, erwiderte Mrs. Chick. »Es ist natürlich. Wir leben in einer Welt voll Wechsel. Ich müßte mich sehr wundern, Lukretia, und meine gute Meinung von dem Verstand der Person aufgeben, die es versuchen wollte, einer so augenfälligen Wahrheit zu widersprechen oder auszuweichen. Ja, Veränderung«, fuhr sie mit strenger Philosophie fort. »Du, mein Himmel, wo ist etwas, sternchenland.com das sich nicht veränderte! Sogar der Seidenwurm, von dem man wahrhaftig so etwas am allermindesten erwarten sollte, verändert sich in alle Arten unglaublicher Objekte.«

»Meine liebe Louisa ist immer sehr glücklich in ihren Bildern«, versetzte Miß Tox sanft.

»Ihr seid, glaube ich«, entgegnete Mrs. Chick ein wenig milder, »so gütig, zu sprechen, wie Ihr denkt, ich hoffe, Lukretia, wir beide werden nie Anlaß finden, von uns gegenseitig eine geringere Meinung zu gewinnen.«

»Gewiß nicht«, sagte Miß Tox.

Mrs. Chick hustete wieder wie zuvor und zog mit der Elfenbeinspitze ihres Sonnenschirms Linien auf den Teppich. Miß Tox, die ihre schöne Freundin aus Erfahrung kannte und recht wohl wußte, daß sich bei ihr unter der leichten Maske der Erschöpfung oder des Verdrusses eine Art redseliger Reizbarkeit zu verbergen pflegte, benutzte diese Pause, um auf einen andern Gegenstand überzugehen.

»Verzeiht mir, meine teure Louisa«, sagte sie, »aber ich glaube, in Eurem Wagen die männliche Gestalt des Mr. Chick bemerkt zu haben.«

»Er ist mitgekommen«, versetzte Mrs. Chick; »aber ich bitte, laßt ihn nur unten. Er hat seine Zeitung und ist damit für die nächsten paar Stunden vollkommen zufriedengestellt. Fahrt nur an Euren Blumen fort und erlaubt mir, daß ich hier niedersitze und ausruhe.«

»Meine Louisa weiß«, bemerkte Miß Tox, »daß zwischen Freundinnen, wie wir, von Förmlichkeiten entfernt nicht die Rede sein kann. Deshalb – –«

Deshalb endigte Miß Tox ihren Satz nicht mit Worten, sondern durch die Tat, indem sie die abgenommenen Handschuhe wieder anlegte, sich aufs neue mit der Schere bewaffnete und diese mit mikroskopischer Emsigkeit unter den Blättern arbeiten ließ.

»Florence ist auch zurückgekehrt«, sagte Mrs. Chick nach einer Weile, während der sie, den Kopf auf die Seite gesenkt, ihre Zeichnungen mit der Sonnenschirmspitze fortgesetzt hatte; »und in der Tat, sie ist jetzt viel zu alt, um länger das einsame Leben zu führen, das ihr zur Gewohnheit wurde. Dies fehlt nicht – es kann kein Zweifel darüber obwalten. Ich könnte wahrhaftig nicht viele Achtung vor der Person haben, die einer andern Ansicht das Wort reden wollte. Nein, ich vermöchte es wirklich nicht, sie zu achten, wie sehr sie auch das Gegenteil wünschte; denn so weit können wir nicht über unsere Gefühle gebieten.«

Miß Tox pflichtete ihr bei, obschon sie nicht recht begreifen konnte, was ihre Freundin eigentlich damit wollte.

»Wenn sie ein seltsames Mädchen ist«, fuhr Mrs. Chick fort, »und wenn sich mein Bruder nach allen den traurigen Vorgängen und den schrecklich getäuschten Erwartungen nicht recht behaglich fühlen kann in ihrer Gesellschaft – was läßt sich dann sagen? Daß er eine Anstrengung machen muß. Daß es seine Pflicht ist, eine Anstrengung sternchenland.com zu machen. Wir sind stets eine Familie gewesen, die sich durch Anstrengungen auszeichnete. Paul steht an der Spitze der Familie – ist fast der einzige noch übrig gebliebene Repräsentant – denn was bin ich? Ich komme nicht in Betracht –«

»Meine Teuerste«, verwies ihr Miß Tox.

Mrs. Chick trocknete die Augen, die für einen Augenblick zum Überlaufen gekommen waren, und sprach weiter:

»Folglich ist er mehr als je verpflichtet, eine Anstrengung zu machen. Und obwohl er es getan hat, wandelt es mich doch wie eine Art Schauder an; denn meine Natur ist sehr schwach und töricht, was ich gewiß nicht als einen Segen betrachten kann. Ich wünsche oft, mein Herz möchte eine Marmorplatte sein oder ein Pflasterstein –«

»Meine süße Louisa«, stellte ihr Miß Tox abermals vor.

»Dennoch liegt für mich ein Triumph in dem Bewußtsein, daß er sich so treu bleibt und daß sein Name Dombey ist – obwohl ich natürlich nichts anderes von ihm erwarten konnte. Ich hoffe nur«, sagte sie nach einer Pause, »daß sie sich auch des Namens würdig erweisen möge.«

Miß Tox füllte aus einem Krug ein grünes Gießkännchen, und als sie nach Verrichtung dieses Geschäftes zufällig aufblickte, wurde sie von der Fülle des Ausdrucks, den Mrs. Chick in ihr Gesicht legte, so überrascht, daß sie das kleine Kännchen auf den Tisch niedersetzte und neben diesem Platz nahm.

»Meine teure Louisa«, sagte Miß Tox, »würde es Euch vielleicht ein bißchen befriedigen, wenn ich daraufhin zu sagen habe, daß meiner geringen Ansicht nach Eure süße Nichte ein in jeder Beziehung vielversprechendes Mädchen ist?«

»Was wollt Ihr damit sagen, Lukretia?« entgegnete Mrs. Chick mit erhöhter Vornehmheit in ihrem Wesen. »Auf welche meiner Worte bezieht Ihr diese Erwiderung, meine Liebe?«

»Daß sie sich dieses Namens würdig erweisen werde, teure Luisa«, sagte Miß Tox.

»Wenn ich mich nicht klar ausgedrückt habe«, versetzte Mrs. Chick mit feierlicher Geduld, »so liegt der Fehler natürlich an mir. Es ist vielleicht kein Grund vorhanden, warum ich mich überhaupt darüber aussprechen sollte – wenigstens kein anderer, als die so lange zwischen uns bestehende Vertraulichkeit, und ich hoffe von Herzen, Lukretia – hoffe es zuversichtlich, daß sich nichts ereignen wird, was ihr Abtrag tun könnte. Warum sollte ich nicht? Ich wüßte keinen Gegenanlaß dafür – es wäre ungereimt. Aber ich wünsche mich klar auszudrücken, Lukretia; und um wieder auf jene Bemerkung zurückzukommen, muß ich sagen, daß sie sich in keiner Weise auf Florence bezog.«

»Nicht?« erwiderte Miß Tox.

»Nein«, sagte Mrs. Chick kurz und entschieden.

»Verzeiht mir, meine Liebe«, versetzte ihre milde Freundin; »so habe ich Euch wohl nicht verstanden. Ich fürchte, daß ich etwas schwer begreife.«

Mrs. Chick sah sich in dem Zimmer um und über den Weg hinüber, nach den Pflanzen, dem Vogel, der Gießkanne und fast allem Erblickbaren, nur nicht nach Miß Tox. Endlich traf ihr Auge auf dem Weg nach dem Boden diese Dame und blieb einen Augenblick auf ihr haften. Dann sagte sie, während ihre erhobenen Augenbrauen nach dem Teppich gelichtet waren:

»Wenn ich von der spreche, Lukretia, die seines Namens würdig sein soll, so meine ich die zweite Gattin meines Bruders Paul. Ich glaube, Euch, wenn auch nicht gerade mit den gleichen Worten, mitgeteilt zu haben, daß er sich wieder zu vermählen gedenkt.«

Miß Tox stand hastig von ihrem Sitz auf und kehrte zu ihren Pflanzen zurück, wo sie unter den Blättern und Stengeln ebenso unbarmherzig zwickte, wie ein Barbier, der einem Häuflein Armer die Haare schneidet.

»Ob sie die Auszeichnung, die ihr zuteil wird, vollkommen fühlt«, fuhr Mrs. Chick in hohem Ton fort, »ist eine ganz andere Frage. Ich hoffe, sie wird es. Es ist unsere Pflicht, von unsern Nebenmenschen Gutes zu denken, und ich hoffe, sie wird es. Ich bin darüber noch nicht einig geworden; und hätte ich ihm mit meinem Rat kommen wollen, so würde er wohl nur eine kurz angebundene Aufnahme gefunden haben. Es ist daher unendlich besser so, wie es ist. Die bestehende Sachlage ist mir lieber.«

Miß Tox schnitt mit gesenktem Haupte noch immer unter den Pflanzen fort, während Mrs. Chick unter jeweiligem energischen Kopfschütteln, als wollte sie jemanden herausfordern, in ihrer Rede fortfuhr:

»Wenn sich mein Bruder Paul mit mir beraten hätte – er tut es mitunter, oder vielmehr, er pflegte es mitunter zu tun; denn jetzt wird es natürlich nicht mehr vorkommen, und das ist ein Umstand, den ich als eine Entladung von schwerer Verantwortlichkeit betrachte«, sagte Mrs. Chick in hysterischer Aufregung, »da ich, dem Himmel sei Dank, nicht eifersüchtig bin« – – ein abermaliger Tränenerguß; »aber wenn mein Bruder Paul zu mir gekommen wäre und gesagt hätte: ›Louisa, rate mir, auf welche Eigenschaften soll ich vornehmlich bei der Wahl meiner Gattin sehen?‹ so würde ich zuverlässig geantwortet haben: ›Paul, du brauchst Familie, Schönheit, Würde und Verbindungen.‹ So hätte ich ihm geantwortet – ja, wahrhaftig, und wenn ich unmittelbar darauf zum Henkerblock geführt worden wäre«, fügte Mrs. Chick bei, als ob sie selbst an die Wahrscheinlichkeit einer solchen Folge glaube. »Ich würde zu ihm gesagt haben: ›Paul, du zum zweitenmal heiraten ohne Familie? Du heiraten ohne Schönheit? Du heiraten ohne Würde? Du heiraten ohne Verbindungen? Nur ein Hirnverrückter könnte glauben, daß du fähig wärest, einen so irrsinnigen Gedanken in dir aufkommen zu lassen!‹«

Miß Tox hielt mit dem Schneiden inne und hörte, den Kopf unter den Pflanzen verbergend, aufmerksam zu. Vielleicht dachte sie, in dieser Einleitung und in Mrs. Chicks Wärme liege Hoffnung. »Solche Vorstellungen hätte ich ihm machen müssen«, fuhr die sternchenland.com weise Dame fort, »weil ich hoffe, daß ich nicht auf den Kopf gefallen bin. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, als eine Person von überlegenem Verstand angesehen zu werden, – obschon ich glaube, gewisse Personen lassen es sich einfallen, mich dafür zu halten. Freilich bin ich nicht viel verzogen, und da wird man bald belehrt, wes Geistes Kind man wirklich ist. Aber ich hoffe, daß ich nicht ganz auf den Kopf gefallen bin. Wenn nun mir jemand sagen wollte«, fügte Mrs. Chick mit unaussprechlicher Verachtung bei, »daß mein Bruder Paul Dombey je an die Möglichkeit denken könnte, sich mit jemandem – gleichviel, wer sie auch sein möchte« – diese kurze Einschaltung wurde mit größerem Nachdruck vorgetragen als der ganze übrige Teil der Rede – »zu verbinden, die nicht alle diese Eigenschaften hat, so wäre das eine Beleidigung des Verstandes, den ich wirklich besitze, geradeso wie wenn man mir erklärte, ich sei als Elefant geboren und erzogen – denn ebensogut«, setzte sie mit Ergebung hinzu, »könnte man dies dann von mir behaupten. Es würde mich überhaupt gar nicht überraschen, und ich müßte es erwarten.«

Während der kurzen Pause, die nun folgte, hörte man die Schere ein- oder zweimal schnipsen; aber das Antlitz der Miß Tox blieb noch immer unsichtbar, und ihr Morgenkleid verriet große Aufregung. Mrs. Chick blickte durch die hindernden Pflanzen von der Seite nach ihr hin und sprach im Ton milder Überzeugung, wie wenn es sich um eine Tatsache handle, die keiner ausführlicheren Erörterung bedürfe, weiter:

»Darum hat mein Bruder natürlich gehandelt, wie von ihm zu erwarten stand und wie in dem Fall einer zweiten Vermählung vorauszusehen war. Ich gestehe zwar, es ist mir etwas überraschend gekommen, wie sehr ich mich auch freute; denn als Paul London verließ, dachte ich nicht entfernt daran, er könnte außerhalb der Stadt ein Verhältnis anknüpfen, obschon er bei seiner Abreise vollkommen frei war. Die Sache scheint jedoch von jedem Gesichtspunkte aus ungemein wünschenswert zu sein. Die Mutter ist ohne Zweifel eine sehr manierliche, elegante Frau, und ich habe durchaus kein Recht, mich darüber zu äußern, ob es klug sei, wenn sie bei den Eheleuten bleibt. Das ist Pauls Sache, nicht die meinige – und was Pauls Wahl betrifft, so habe ich bis jetzt nur das Porträt gesehen, das übrigens in der Tat schön ist. Sie hat auch einen schönen Namen«, sagte Mrs. Chick mit nachdrücklichem Kopfschütteln, indem sie sich in ihrem Stuhl zurechtsetzte. »Edith lautet ebenso ungewöhnlich, wie er meiner Meinung nach vornehm klingt. Ich zweifle daher nicht, Lukretia, die Kunde wird Euch freuen, daß die Vermählung in allernächster Zeit stattfinden soll. Natürlich freut Ihr Euch« – abermals ein großer Nachdruck – »und seid entzückt über diesen Wechsel in der Lage meines Bruders, der Euch bei verschiedenen Gelegenheiten so viele Aufmerksamkeit erwiesen hat.«

Die Erwiderung der Miß Tox bestand nicht in Worten, sondern sie nahm nur mit zitternder Hand die kleine Gießkanne auf und schaute hohlen Blicks umher, als gehe sie mit sich zu Rate, welcher sternchenland.com sternchenland.com Teil des Hausgerätes des Begießens wohl am bedürftigsten sein möchte. Bei diesem Wendepunkte ihrer Gefühle tat sich die Zimmertüre auf. Miß Tox fuhr zusammen, lachte laut hinaus und fiel in die Arme der eintretenden Person, zum Glück mit ebensowenig Bewußtsein von dem entrüsteten Gesichte der Mrs. Chick, als von dem an seinem Fenster stehenden Major, der sein doppelröhriges Augenglas in volle Tätigkeit setzte und dessen Gesicht und Gestalt breiter wurde in mephistophelischer Freude.

Nicht so erging es dem aus seinem Vaterland gebannten Eingeborenen, dem erstaunten Unterstützer von Miß Toxs ohnmächtiger Gestalt, der entsprechend den boshaften Weisungen seines Gebieters sich höflich nach der Gesundheit von Miß Tox erkundigen sollte und zufälligerweise eben im rechten Augenblick angekommen war, um die zarte Last mit seinen Armen und den Inhalt der kleinen Gießkanne in seinen Schuh aufzunehmen. – Diese Umstände machten ihn im Verein mit dem Bewußtsein von der aufmerksamen Wachsamkeit des zornigen Majors, der im Falle des Mißlingens ihm jeden Knochen unter der Haut zu zerschlagen gedroht hatte, zu einem lebendigen Schauspiel leiblicher und geistiger Not.

Einige Augenblicke hielt der bestürzte Ausländer mit einem Nachdruck, der in merkwürdigem Gegensatz zu seinem betroffenen Gesicht stand, Miß Tox an sein Herz gedrückt, während diese arme Dame langsam den Inhalt der Gießkanne bis auf den letzten Tropfen an ihm niedergleiten ließ, als sei er eine zarte exotische Pflanze, die vielleicht zum Blühen gebracht werden könnte, während der sanfte Regen auf sie niederfiel. Nachdem endlich Mrs. Chick Geistesgegenwart genug gewonnen hatte, um einzugreifen, befahl sie ihm, Miß Tox auf das Sofa niederzulassen und sich zu entfernen – eine Weisung, welcher der schwarze Diener schnelle Folge leistete. Dann schickte sie sich an, das Ihre beizutragen, um Miß Tox wieder zur Besinnung zu bringen.

Indes machte sich in Mrs. Chicks Benehmen nichts von jener zarten Sorgfalt, durch die sich Evas Töchter in der Regel bei ihrer gegenseitigen Pflege auszeichnen – überhaupt nichts von jener Freimaurerei beim Ohnmächtigwerden bemerklich, durch die sie in der Regel zu einem geheimnisvollen Schwesternbund verkettet sind. Mrs. Chick bediente sich der Riechflasche, des Klopfens auf die Hände, des Besprengens mit kaltem Wasser und anderer erprobter Hilfsmittel eher nach Weise des Henkers, der sein Opfer vor Anwendung der Folter zur Besinnung bringen will. Als nun endlich Miß Tox ihre Augen aufschlug und wieder zu Leben und Bewußtsein kam, trat Mrs. Chick wie vor einer Verbrecherin zurück, um sie im Gegensatz zu dem Vorgang des ermordeten dänischen Königs mehr mit zornglühenden, als mit bekümmerten Blicken zu betrachten.

»Lukretia!« sagte Mrs. Chick. »Ich will nicht versuchen, zu bemänteln, was ich fühle. Die Augen sind mir mit einem Male aufgegangen. Ich würde das nicht für möglich gehalten haben, selbst wenn es mir eine Heilige gesagt hätte.«

»Es war recht töricht von mir, daß ich mich von dieser Ohnmacht anwandeln ließ«, stotterte Miß Tox. »Aber es wird mir bald besser sein.«

»Es wird Euch bald besser sein, Lukretia?« wiederholte Mrs. Chick mit ungemeiner Verachtung. »Meint Ihr, ich sei blind? Glaubt Ihr etwa, ich stehe bereits in meiner zweiten Kindheit? Nein, Lukretia – da muß ich schönstens danken.«

Miß Tox richtete einen flehenden, hilflosen Blick auf ihre Freundin und verbarg ihr Gesicht mit dem Taschentuche.

»Wenn mir jemand das gestern oder auch nur vor einer halben Stunde gesagt hätte«, fuhr Mrs. Chick mit Majestät fort, »so hätte ich ihn wohl zu Boden geschlagen. Lukretia Tox, meine Augen sind mir mit einem Male über Euch aufgegangen. Die Schuppen sind abgefallen. – Mit der Blindheit meines Vertrauens ist es vorbei, Lukretia. Ihr habt es mißbraucht, Euer Spiel damit getrieben, und ich gebe Euch die Versicherung, daß von Ausflüchten nicht weiter die Rede sein kann.«

»Ach, auf was spielt Ihr denn so grausam an, meine Liebe?« fragte Miß Tox unter Tränen.

»Lukretia«, entgegnete Mrs. Chick, »laßt Euch Euer eigenes Herz darüber belehren. Ich muß Euch bitten, mich nicht mehr mit einem so vertraulichen Ausdruck anzureden, wie Ihr eben getan habt. Es ist mir noch einige Selbstachtung übrig geblieben, obschon Ihr das Gegenteil denken mögt.«

»O Louisa!« rief Miß Tox. »Wie könnt Ihr so mit mir sprechen!«

»Wie ich so mit Euch sprechen kann? entgegnete Mrs. Chick, die sich, um einen recht vernichtenden Eindruck zu machen, hauptsächlich auf solche Wiederholungen verließ, wenn es ihr an irgendeinem besonderen Unterstützungsgrund fehlte. »So sprechen? Ihr habt in der Tat allen Grund zu dieser Frage!«

Miß Tox schluchzte kläglich.

»Schon der Gedanke«, fuhr Mrs. Chick fort, »daß Ihr Euch wärmtet an dem Herd meines Bruders wie eine Schlange und durch meine Vermittlung Euch fast in sein Vertrauen einschlicht, Lukretia, um im geheimen hinterlistige Absichten auf ihn zu hegen und den dreisten Gedanken an die Möglichkeit zu pflegen, er könnte sich je mit Euch verbinden! Ha, der Gedanke ist so abgeschmackt«, rief Mrs. Chick mit sarkastischer Würde, »daß der Unsinn desselben fast seine Tücke überbietet!«

»Ich bitte, Louisa«, drängte Miß Tox, »sagt mir nicht so schreckliche Dinge.«

»Schreckliche Dinge?« wiederholte Mr«. Chick. »Jawohl, schreckliche Dinge! Ist es nicht eine Tatsache, Lukretia, daß Ihr eben erst nicht einmal imstande wart, Eure Gefühle auch nur vor mir zu verbergen, deren Augen Ihr so vollständig verblendet hattet?«

»Ich habe mich über nichts beklagt«, schluchzte Miß Tox – »habe gar nichts gesagt. Wenn Eure Neuigkeit mich ein wenig überwältigte, Louisa, wenn ein leiser Gedanke in mir Raum fand, daß mir Mr. sternchenland.com Dombey besondere Zuneigung schenke, so werdet sicherlich Ihr mich nicht verdammen.«

»Sie will sagen«, rief Mrs. Chick, sich mit einem inhaltsschweren Blick von Ergebung und Appellation an das gesamte Möbelwerk wendend – »ich wußte es ja, sie will auch noch sagen, ich habe sie ermutigt?«

»Es kommt mir nicht in den Sinn, Gegenvorwürfe zu erheben, meine teure Louisa«, schluchzte Miß Tox. »Auch ich will mich durchaus nicht beklagen. Aber zu meiner eigenen Rechtfertigung –«

»Ja«, rief Mrs. Chick, sich mit einem prophetischen Lächeln im Zimmer umsehend, »das ist es, was ich sagen will. Ich wußte es ja. Es ist am besten, Ihr bekennt jetzt Farbe. Sprecht nur offen! Sagt unverhohlen, Lukretia Tox«, fügte Mrs. Chick mit verzweifeltem Ernst bei, »was Euch auf dem Herzen liegt.«

»Zu meiner eigenen Rechtfertigung«, stotterte Miß Tox, »und nur als Abwehr Eurer unfreundlichen Worte, meine teure Louisa, will ich Euch nur fragen, ob Ihr nicht oft eine solche Vorstellung begünstigt und sogar gesagt habt, man könne nicht wissen, was noch geschehe.«

»Da haben wir den Kern«, entgegnete Mrs. Chick, sich in einer Weise erhebend, als ob sie nicht auf der schlechten Erde bleiben, sondern sich hoch aufschwingen wolle zu ihrem heimischen Himmel, »über den hinaus jede Geduld lächerlich, wo nicht zum Verbrechen wird. Ich kann viel ertragen, aber was zuviel ist, ist zuviel. Ich weiß nicht, welcher Zauber mich anwandelte, daß ich heute in dieses Haus kommen mußte. Aber ich hatte eine Ahnung – eine schwarze Ahnung«, fügte Mrs. Chick mit einem Schauder bei, »daß etwas vorgehen würde. Wohl war Grund dafür vorhanden, Lukretia, da ich finden mußte, wie das Vertrauen so vieler Jahre in einem Augenblick zerstört wurde. Die Augen sind mir jetzt aufgegangen, und ich sehe Euch in Euren wahren Farben. Lukretia, ich hatte mich in Euch getäuscht, und es ist für uns beide besser, daß die Sache hier ein Ende nehme. Ich wünsche Euch alles Glück – werde Euch stets nur Gutes wünschen. Aber als eine Person, die in ihrer geringen Stellung, wie diese nun sein oder nicht sein mag, sich selbst treu bleiben will – als die Schwester meines Bruders – als die Schwägerin der Gattin meines Bruders – als eine Verwandte der Mutter meiner Schwägerin – es ist mir wohl gestattet, auch noch beizufügen, als eine Dombey! – kann ich Euch nichts anderes wünschen als guten Morgen.«

Mit diesen Worten, die mit schneidender Milde, gedämpft und geläutert durch die stolze Haltung moralischer Rechtschaffenheit, vorgetragen wurden, gelangte die Sprecherin nach der Tür. Dort neigte sie noch einmal den Kopf in gespenstischer, statuenartiger Weise, um sich nach ihrem Wagen zurückzuziehen und in den Armen Mr. Chicks, ihres Gebieters, Trost zu suchen.

Das heißt – symbolisch gesprochen; denn Mr. Chicks Arme waren voll von seiner Zeitung. Auch richtete dieser Gentleman seine Augen nur verstohlen auf die Gattin, ohne daß er tat, als wolle er ihr Trost spenden. Mit einem Wort, er saß lesend da, summte die Schlußverse sternchenland.com von Liedern vor sich hin und warf gelegentlich einen Seitenblick nach ihr, ohne in Gutem oder Bösem eine Silbe verlauten zu lassen.

Inzwischen nahm Mrs. Chick mit aufgeblasenem Hochmut Platz und warf ihren Kopf auf, als spreche sie noch immer die feierliche Abschiedsformel an Lukretia Tox vor sich hin. Endlich rief sie laut:

O, wie weit sind mir heute nicht die Augen aufgegangen!«

»Über was sind dir die Augen aufgegangen, meine Liebe?« fragte Mr. Chick.

»Ach, rede nicht mit mir!« versetzte Mrs. Chick. »Wenn du es ertragen kannst, mich in diesem Zustand zu sehen, ohne zu fragen, was vorgefallen ist, so tust du am besten, für immer den Mund zu halten.«

»Nun, was hat es denn gegeben, meine Liebe?« fragte Mr. Chick.

»Schon der Gedanke«, sagte Mrs. Chick wie im Selbstgespräch, »daß sie sich je die schnöde Einbildung anwandeln lassen konnte, durch eine Heirat mit Paul in unsere Familie zu gelangen! Der Gedanke, daß sie, als sie mit dem lieben Kinde, das jetzt im Grabe liegt, Pferdchen spielte – es hat mir schon damals nicht gefallen – einen so tückischen Anschlag in ihrem Innern barg! Ich wundere mich, daß sie nie fürchtete, es könnte ihr etwas zustoßen; und sie darf von Glück sagen, daß es nicht geschah.«

»Ich habe wahrhaftig geglaubt, meine Liebe«, sagte Mr. Chick langsam, nachdem er eine Weile den Sattel seiner Nase mit der Zeitung gerieben hatte, »du seist bis auf heute morgen immer derselben Spur nachgegangen. Es kam mir vor, die Sache wäre angemessen genug, wenn sie zustande gebracht werden könnte.«

Mrs. Chick brach hierüber in Tränen aus und erklärte Mr. Chick, wenn er sie mit Füßen zu treten wünsche, so solle er es lieber gleich tun.

»Aber mit Lukretia Tox bin ich fertig«, sagte Mrs. Chick, nachdem sie sich zu Mr. Chicks großem Schrecken einige Minuten ihren Gefühlen hingegeben hatte. »Ich kann es ertragen, auf Pauls Vertrauen zugunsten einer Person zu verzichten, die, wie ich hoffe und glaube, es verdienen wird, und mit der er, wenn er will, die arme Fanny zu ersetzen vollkommen berechtigt ist. Ich kann es ertragen, daß mir Paul in seiner kalten Weise eine solche Veränderung seiner Pläne mitteilt, ohne mich je beraten zu haben, bis alles abgetan und im reinen war. Aber Hinterlist ertrage ich nicht, und mit Lukretia Tox bin ich fertig. Es wird besser sein, wie es ist«, sagte Mrs. Chick mit frommem Augenaufschlag; »viel besser. Nach diesem Vorgang würde es lang gedauert haben, ehe ich mich wieder gut mit ihr hätte stellen können, und ich weiß wahrhaftig nicht, ob das überhaupt angängig gewesen wäre und mir nicht Unehre gemacht haben würde, da es Paul so gar großartig nimmt. Es waltet eine Vorsehung in allem; was geschieht, muß ihren weisen Zwecken dienen, und wie schwer ich auch heute heimgesucht wurde, so kann ich es im ganzen nicht bedauern.«

Mit diesen christlichen Gedanken trocknete Mrs. Chick ihre Augen, strich ihr Kleid zurecht und nahm eine Haltung an, wie sie einer sternchenland.com Dame zusteht, die unter einem großen Unrecht leidet. Mr. Chick ersah, ohne Zweifel im Gefühl seines Unwertes, ehestens eine Gelegenheit, um sich an einer Straßenecke absetzen zu lassen, und ging, die Hände in die Tasche gesteckt und mit sehr erhobenen Schultern, pfeifend weiter.

Inzwischen befeuchtete die arme gebannte Miß Tox, die in ihrer tiefen Verehrung vor der Großartigkeit des Mr. Dombey wenigstens eine ehrliche und beständige Wohldienerin und stets eine treue Freundin ihrer Anklägerin gewesen war, ihre Blumen mit Tränen und fühlte, daß es auf dem Prinzessinnenplatz Winter sei.