Sagen aus dem Harz

Die fleiße Liese in Claustal

Vor langer Zeit lebten in Claustal zwei arme Mädchen. Sie hatten weder Vater noch Mutter noch hilfreiche Verwandte und mußten sich früh schon durch ihrer Hände Arbeit kümmerlich fortbringen. Weil aber damals Frauenarbeit an Haushalt und Spinnrad gebunden war, suchten sie mit Spinnen ihr tägliches Brot zu verdienen. Diese Geschwister glichen einander wie Strohhalm und Ähre, die ja auch aus der gleichen Wurzel stammen. und doch ganz verschieden geartet sind.

Die eine der Schwestern war hochfahrend und dumm, die andere voll Versonnenheit und Versponnenheit; war jene schwatzhaft und faul, so verrichtete dagegen diese emsig und still ihre Arbeit. Wenn die Fleißige um elf Uhr nachts ihr Spinnrad in die Ofenecke rückte, so hatte die Faule schon ein paar Stunden gefeiert oder geschlafen.

So kam Ostern ins Land. Am Vorabend dieses Festes saß die fleißige Liese wie immer am Rad und spann ihren Rocken auf; der glatte Faden rann ihr fließend aus den Fingern. Die Faule dagegen hielt es bei der Arbeit nicht aus; sie lief den Burschen nach und sprang mit ihnen um die Osterfeuer.

Der Türmer sang eben die elfte Stunde über die schweigsamen Dächer, da klinkte die Haustür, und herein trat eine schöne Frau, ganz weiß gekleidet. Sie trug lange goldene Haare und hielt einen vollen Rockenstock in der Hand, den man in dieser Gegend auch »Diesse« zu nennen pflegte. Er war so weiß wie Silber und glänzte wie Seide.

Die schöne Frau grüßte mit ernstem Nicken, trat näher, prüfte das Garn des Mädchens, das soeben den letzten Flachs als Faden auf ihre Rolle auflaufen ließ, und sagte lobend :

»Fleißige Liese,
Leer ist die Diesse,
Fein fühlt sich der Faden,
Bist wohl geraten«

Dann rührte sie mit der Silberdiesse an das Spinnrad des Mädchens, lächelte ihm zu und verließ die Kammer. Es war die Frau Holle.

Die Liese legte sich bald danach zu Bett. Aber einschlafen konnte sie erst, als die Schwester endlich von ihrem nächtlichen Ausgang zurückkam. Lachend warf sich die schöne Törin auf ihr Lager und prahlte wunders, was die Liese an diesem Abend versäumt und verloren habe.

Als nun die Ostermorgensonne durchs Fenster schien, da erwachte die Liese zuerst. Sie rieb sich verwundert die Augen, denn vom Morgenstrahl funkelte ihr Spinnrad wie Gold und blitzte, daß die ganze Kammer hell wurde. Schnell sprang sie aus dem Bett und prüfte mit ihrem Finger den goldenen Glanz, hob auch das Rad vom Boden. Aber es wog schwer und war von der Diesse bis hinunter zum Tretbrett aus gediegenem Gold. Und der Faden, den sie am Osterabend gesponnen hatte, erglänzte wie Seide. Sie haspelte ein Gebind nach dem andern, es hing je zehn und zehn nebeneinander. Aber die Rolle blieb voll, und das Garn wollte kein Ende nehmen. So hatte sie denn eine doppelte Quelle des Wohlstandes als Lohn für die treue, gediegene Arbeit.

Nun zerrte auch die Faule begierig ihr verstaubtes Spinnrad hervor. Aber wo sonst der ungesponnene Flachs auf der Diesse saß, raschelte nun graues Stroh. Und als sie in böser Ahnung schnell nach ihrem Leinenschatz in der Truhe kramte, fand sie statt der schönen, gewebten Ballen nur Häcksel und Stroh.

Darum sagt man noch heute im Harzland: Am Ostersonnabend muß die Diesse leer sein, sonst kommt Frau Holle und bringt Häckerling.

Frau Holle als Ehestifterin in Andreasberg

Drei Andreasberger Mädchen, die alle schon einen Bräutigam hatten, gingen eines Sonntagsnachmittags in den Wald nach dem Ort, der heute noch »Die drei Jungfern« heißt. Dort setzten sie sich ins Moos unter jungen Tannen und schwatzten von ihrem Schatz und von der Hochzeit. Als nun eine von ihnen zufällig aufschaute, verstummte sie plötzlich. Die andern blickten auch hin und bemerkten schaudernd, wie über die Tannen hinweg das greuliche Gesicht einer Frau zum Vorschein kam; die Haare hingen ihr lang über die Schultern und den Nacken hinab; halb gutmütig, halb zornig glotzte sie bald das eine, bald das andere Mädchen an. Auf einmal begann die Erscheinung zu reden, daß es den Mädchen kalt über den Rücken lief.

»Welche von euch dreien,« sagte sie, »heute nacht zwischen elf und zwölf Uhr nach dem Hahnenklee kommt und ihn scheuert, die soll bald ihren Bräutigam heiraten.« Nach diesen Worten löste sich das Gesicht in Dunst und Nebel auf.

Als die Mädchen sich von ihrem Schrecken erholt hatten, wanderten sie nach Hause und verabredeten unterwegs, sie wollten sich alle drei um halb elf Uhr oberhalb Andreasberg treffen und tun, was Frau Holle gesagt hatte; denn sie hatten den sehnlichen Wunsch, möglichst bald zu heiraten. Sie machten sich denn auch zur vereinbarten Stunde mitsammen auf den Weg.

Die Nacht war dunkel und unheimlich, es schienen weder Mond noch Sterne, die Eulen schrien so schaurig, in der Ferne donnerte es, man sah aber keinen Blitz. Stumm schritten die drei Mädchen dahin; ihr Ziel war der Hahnenklee.

Als die nächtlichen Wanderer die Stelle erreichten, die man das »Gesehr« nennt, seufzte das eine Mädchen: »Nein, ich gehe nicht weiter!« kehrte um und trat eilends den Heimweg an. Nicht lange danach machte es die zweite ebenso. Die dritte aber dachte: »Und wenn es mir das Leben kostet, ich gehe und tue, was mir befohlen ist!«

Sobald sie auf dem Hahnenklee angekommen war, machte sie sich gleich an die Arbeit. Da stand auf einmal wieder Frau Holle neben ihr und meinte freundlich lächelnd: »Du hast Wort gehalten, ich halte auch Wort. Bald wird dich dein Bräutigam zum Altar führen; die beiden andern kriegen nie einen Mann.« Mit dem letzten Wort war sie auch schon wieder weg. Als das Mädchen nach Hause ging, kam der Mond aus den Wolken heraus und schien ihr hell auf den Heimweg.

Das Mädchen, das auf dem Gesehr umgekehrt war, besaß einen Bergmann zum Bräutigam. Am folgenden Tag brachte man ihn zerschmettert nach Hause; er war im Schacht verunglückt. Das Mädchen aber starb drei Tage danach vor Gram und wurde an der Seite ihres Liebsten begraben. Der Bräutigam des zweiten Mädchens hatte in den Krieg ziehen müssen; er fiel wenige Wochen später, und auch sie hat tatsächlich nie geheiratet. Das dritte Mädchen aber, das den Hahnenklee gescheuert hatte, feierte bald Hochzeit.

Als die Vermählten dann an der Festtafel beisammensaßen, erschien Frau Holle zum drittenmal; sie guckte über den Ofen herüber und reichte dem Gast, der zunächst saß, eine silberne Wiege für das Brautpaar. Und wie man das Geschenk genauer besah, war es. ganz voll blanker Andreasberger Silbergroschen.

Seitdem heißt es in Andreasberg, wenn ein Mädchen keinen Mann bekommt: Es muß den Hahnenklee scheuern. Und wo man in den Häusern noch die alten Öfen hat, die zwei Stuben nebeneinander heizen, daß man darüber hinwegsehen kann, sagt man, wenn jemand überhebliche Worte spricht: »Schprich sachte, de Fra Holle horcht!«

Die Fahrt nach dem Brocken

Es war einmal ein junger Mann, der sich mit einem hübschen Mädchen verlobt hatte. Nach einiger Zeit fiel dem Bräutigam das merkwürdige Verhalten seiner Braut und deren Mutter auf. Beide waren nämlich Hexen. Als nun der Tag kam, an dem die Hexen nach dem Brocken ziehen, stiegen die beiden Frauen auf den Heuboden, nahmen ein kleines Glas und tranken daraus, dann waren sie auf einmal verschwunden. Den Bräutigam, der ihnen nachgeschlichen war und sie beobachtet hatte, lockte es, auch einmal einen Schluck aus dem Glas zu tun. Er nahm es und nippte ein wenig daran; da war er mit einemmal auf dem Brocken und sah, wie seine Braut und deren Mutter mitten unter den Hexen tollten, die um den Teufel tanzten, der in ihrer Mitte stand.

Nachdem der Tanz zu Ende war, befahl der Teufel, daß jede ihr Glas nehme und trinke, und gleich darauf flogen sie nach allen vier Windrichtungen auseinander. Der Bräutigam aber stand mutterseelenallein auf dem Brocken und fror, denn es war eine kalte Nacht. Ein Glas hatte er nicht mitgenommen, und so mußte er den Rückweg zu Fuß antreten.

Nach einer langen beschwerlichen Wanderung kam er endlich wieder bei seiner Braut an; aber diese war sehr zornig, und auch die Mutter zankte mit ihm, weil er aus dem Glas getrunken hatte. Mutter und Tochter kamen endlich überein, den Bräutigam in einen Esel zu verwünschen, was denn auch geschah.

Der arme Bräutigam war nun ein Esel geworden und trabte betrübt von einem Haus zum andern, wobei er sein trauriges ija, ija schrie. Da erbarmte sich ein Mann des Esels, nahm ihn in seinen Stall und legte ihm Heu vor; aber der Esel wollte begreiflicherweise nicht fressen und wurde nun mit Schlägen aus dem Stall getrieben.

Nach langem Umherirren kam das Langohr wieder einmal vor das Haus seiner Braut, der Hexe, und schrie recht kläglich. Die Braut sah ihren vormaligen Bräutigam, der als Esel mit gesenktem Kopf und herabhängenden Ohren vor der Tür stand. Da bereute sie, was sie getan hatte, und sprach zum Esel: »Ich will dir helfen, du mußt aber tun, was ich dir auftrage: Wenn ein Kind getauft wird, so stelle dich vor die Kirchentür und laß dir das Taufwasser über den Rücken gießen, dann wirst du wieder in einen Menschen verwandelt werden.«

Der Esel folgte dem Rat seiner Braut. Am nächsten Sonntag wurde ein Kind getauft; da stellte sich der Esel vor die Kirchentür. Als die Taufhandlung vorbei war, wollte der Küster das Taufwasser wegschütten, aber der Esel stand ihm im Wege.

»Geh, alter Esel!« meinte der Küster, aber der Esel wich nicht. Da wurde der Küster ärgerlich und goß dem Tier das Wasser über den Rücken. Nun war der Esel erlöst und verwandelte sich wieder in einen Mann; dieser eilte zu seiner Braut, heiratete sie und lebte fortan recht glücklich mit ihr.

Das Mädchen von der Quästenburg bei Roßla

Im Harz, nicht weit von Roßla und Wallhausen auf dem Quästenberg, der früher Finsterberg hieß, stehen die zerfallenen Reste einer Burg. Das Dorf Quästenberg aber, das am Fuß dieses Berges liegt, soll vorzeiten eine Stadt gewesen sein.

Einst ging das Töchterlein eines Burgherrn aus der Burg hinaus, um auf den Wiesen Blumen zu pflücken; dabei geriet es in den Wald, der die Wiesen rings umgibt. Als das Mädchen nicht heimkehrte, entstand in der Burg große Sorge. Die ganze Familie und die Dienerschaft machten sich auf, das Kind zu suchen. Indessen hatte ein Köhler im tiefen Wald das Mädchen schon gefunden, wie es gerade harmlos aus seinen Blumen einen Kranz wand. Der Mann hatte aber von dem Kind nichts über seine Herkunft erfahren können. Deshalb hatte er es in seine Hütte mitgenommen, ihm zu essen gegeben und es bei sich behalten.

In diese stille Waldeinsamkeit drang keine Kunde von der Sorge und dem Suchen, die dem verlorenen Kinde galten, bis einige Leute von Roda, einem mansfeldischen Dorfe, das Mädchen einmal auf einer Wiese im Wald wieder beim Kranzwinden trafen und von ihm zu der Köhlerhütte geleitet wurden. Diese Leute wußten von dem Verlust des Kindes, fragten den Köhler, wie er zu dem Kind gekommen sei, und erfuhren von ihm, daß er das kleine Mädchen im Walde allein aufgefunden habe. Nun eilten alle mit dem Kind nach der Finsterburg, und der Köhler trug den Kranz, den es gewunden hatte. Einen solchen Kranz nannte man aber damals Quäste.

Auf der Burg herrschte große Freude über die Wiederkehr des Kindes. Der Ritter schenkte dem Köhler und den Einwohnern von Roda die Wiese, auf der man sein Töchterlein wiedergefunden hatte, und ordnete ein Volksfest an, das alle Jahre am Tag der Auffindung des Kindes, am dritten Pfingsttag, abgehalten werden sollte.

Das Fest besteht heute noch. Die Burschen des Dorfes richten auf der Anhöhe über dem Ort einen starken, entästeten Eichenstamm auf. Aus Birken- und Buchenzweigen wird ein großer Kranz gefertigt und am Stamme befestigt. Rechts und links davon hängen aus Laub gewundene Quästen. Auch im Gottesdienst wird an diese Begebenheit erinnert. Der Ritter aber nannte seine Burg von da an Quästenburg.

Die Entstehung der Bergwerke zu Rammelsberg

In alter Zeit herrschte auf dem Brocken die Zauberjette. Elf jungen Mädchen oblag die Pflicht, sie zu bedienen.

Einst waren zwei Ritter auf dem Brocken vom Weg abgekommen. Der eine von ihnen hieß Otto, der andere Ramme. Schon mehrere Tage waren sie umhergeirrt, aber sie fanden keinen Ausweg aus der Wildnis. Plötzlich stürzten mitten im Wald mehrere Männer auf sie zu. Es waren Räuber, die sich auf der Flucht vor ihren Verfolgern nach dem Brocken durchgeschlagen hatten. An diese Bande mußten die Ritter sich anschließen, wenn sie in dem wilden Gebiet ihr Leben erhalten wollten. Alle versprachen einander, sich gegenseitig zu helfen.

Zunächst galt es, eine Unterkunft zu suchen. Deshalb gruben sie in den steinigen Boden eine Höhle. Was sie aber am ersten Tag gearbeitet hatten, war tags darauf zusammengefallen. Die Männer konnten nicht begreifen, wieso das geschehen war.

Am zweiten Tag arbeiteten sie trotzdem an der Höhle weiter. Aber diesmal stellten sie zwei Räuber als Wache davor. Aber alles, was sie unter Tags gebaut hatten, war am nächsten Morgen wieder auseinandergerissen.

In der dritten Nacht wachten die beiden Ritter mit dem Räuberhauptmann zusammen. Gegen Mitternacht sah der ältere der beiden Ritter, Ramme, elf Mädchen daherkommen. Jede von ihnen hatte einen kleinen Hammer und klopfte damit an den Pfeiler, den die Räuber als Stütze der Höhle gebaut hatten. Darauf floß alles auseinander wie Wasser. Ritter Ramme aber zog sein Schwert, packte eines der Mädchen und fragte sie, warum sie ihre Arbeit vernichte. Aber niemand antwortete; auch auf die zweite Frage blieb es still. Erst als der Ritter zum drittenmal fragte, entgegnete das Mädchen, es könne ihm den Grund nicht angeben, er solle es zur Herrin des Berges begleiten, dort werde er Weiteres erfahren.

Beide Ritter folgten nun dem Mädchen. Sie wurden in eine große steinerne Höhle an der Nordwestseite des Brockens geführt. Die Höhle war groß und schön wie ein fürstliches Schloß. Drin trafen sie die Zauberjette. Auf die Frage der Ritter, warum sie Befehl zur Vernichtung ihrer Arbeit gebe, erhielten sie den Bescheid, auf dem Brocken sei der Bereich der Zauberjette, und sie wolle allein im Berge herrschen. Wollten die Ritter in ihren Dienst treten, so sei sie mit deren Bleiben einverstanden; sie werde dann auch die Räuberbande dulden. Die Ritter entschlossen sich, bei der Zauberin zu bleiben.

Nach einiger Zeit machten die beiden Ritter eine merkwürdige Beobachtung: die Macht der Zauberin wurde täglich schwächer. Sie war nämlich, bevor sie die Dienste der Ritter angenommen hatte, jede Nacht um zwölf Uhr zum Wolfsbrunnen geeilt, der unten am Brocken liegt, und hatte dort drei Handvoll Wasser getrunken. Daher rührte ihre Zauberkraft. Dies hatte sie aber, seit die Ritter bei ihr waren, versäumt. Deshalb nahm ihre Kraft fortwährend ab.

Als die Zauberjette merkte, daß sie dem Tode nahe sei, zeigte sie den Rittern all ihre Schätze. Fünf ihrer Dienerinnen ließ sie frei. Dann holte sie eine Flasche und einen goldenen Becher, um noch einmal auf das Wohl der Ritter zu trinken. Während der Ritter Ramme gerade zum Trinken ansetzte, trat aus dem Hintergrund der Höhle ein alter Mann hervor und rief: »O du alte Zauberjette, nun sind die zwölf Jahre um, für die du mich in den Schlaf gezaubert hast.« Der Ritter Ramme ließ vor Schrecken den Becher zu Boden fallen: in dem alten Mann erkannte er seinen Vater. Dieser sagte zu ihm: »Ich bin dein Retter, mein Sohn; denn was du hättest trinken sollen, ist das übelste Gift.«

Darauf zog der Sohn sein Schwert und schlug der Zauberjette den Kopf ab. Ein furchtbares Krachen im Berge entstand. Der schwarze Hund, der eben noch in der Höhle gekauert war, winselte auf und zog sich zurück. Nun kamen auch die Räuber angesprungen. Da verwandelte sich der Hund in einen alten Mann, der aufatmend jubelte: »Gott sei gelobt! Das bedeutet für mich die Erlösung, ich habe jetzt nichts mehr zu bewachen, alles ringsum gehört nun euch.«

Auch heute noch sind die Goslaer Bergwerke tätig, die Schätze der Zauberjette zu heben.

Der Weinkeller von der Himmelspforte bei Wernigerode

Ein Förster zu Öhrenfeld wollte seine silberne Hochzeit feiern und hatte sich dazu hinreichend mit Wein versorgt; da sich aber mehr Gäste einfanden, als er erwartet hatte, ging sein Wein schon sehr früh zur Neige; deshalb schickte er seine Dienstmagd noch um elf Uhr nachts zu dem Weinhändler in Wernigerode, gab ihr das Rechnungsbüchlein mit und hieß sie so viel Wein von der kürzlich gelieferten Sorte mitbringen, als sie in ihrem Korb tragen könne.

Das Mädchen, des Weges nicht sehr kundig, fragte, wo sie denn hingehen solle. Der Förster aber antwortete ärgerlich: »Geh in die Himmelspforte!« So hieß eine alte Klosterruine, die in der Nähe lag.

Das Mädchen nahm das für Ernst, schwang ihren Tragkorb auf den Rücken und trollte in die Nacht hinein nach der Himmelspforte. Sie war noch nicht weit gekommen, da sah sie ein Licht brennen, schritt darauf zu und traf eine einfach gekleidete Frau, die eine Laterne in der Hand hielt und einen Schlüsselbund an der Seite trug; sie stand vor einer offenen Kellertür. Das Mädchen nahm an, das sei die Ehefrau des Weinhändlers und brachte ihr Anliegen vor, ihrem Herrn von dem letzterhaltenen Wein so viel Flaschen zu schicken, als sie tragen könne.

Die Frau entgegnete kein Wort, schloß die Kellertür auf, ging voran und winkte dem Mädchen zu folgen. Sie stiegen viele Stufen hinab, durchschritten ein langes Kellergewölbe und blieben endlich vor einem alten, verschimmelten Faß stehen. Hier zapfte die Frau einige Flaschen Wein ab, packte sie in den Korb und half dem Mädchen, diesen auf den Rücken zu nehmen. Nun reichte die Magd das Büchelchen hin und bat die Frau, den Preis für die Flaschen einzuschreiben. Diese aber schob das Buch unwillig zurück und schüttelte verneinend den Kopf.

Das Mädchen dachte, auch gut; lief über die Treppen hinauf, wünschte gute Nacht, erhielt aber keinen Dank und eilte nach Hause.

Der Förster, der sie nicht so bald wieder zurückerwartet hatte, fragte sie verwundert: »Wo hast du denn den Wein hergeholt, daß du schon wieder hier bist?«

Die Magd antwortete: »Wie Ihr mir befohlen habt, in der Himmelspforte.«

Der Förster glaubte, das Mädchen wolle ihn zum besten halten, fragte noch einige Male, erhielt aber immer die gleiche Antwort. Er meinte daher, das Mädchen habe auf dem Weg von dem Wein gekostet und sei nun etwas betrunken, und da er überdies von den Gästen in der Stube verlangt wurde, ließ er die Sache für diesen Abend auf sich beruhen.

Am andern Morgen nahm er die Magd wieder ins Gebet, diese aber beharrte bei ihrer Aussage und erzählte den ganzen Hergang der Sache, wie es sich zugetragen hatte. Der Förster wußte nicht, was er davon denken solle, um so mehr, als der Wein viel besser geschmeckt hatte als der frühere, ja, er glaubte überhaupt noch nie einen so guten Tropfen getrunken zu haben. Er schickte also einen Boten nach Wernigerode zu dem Weinhändler und ließ fragen, ob vorige Nacht seine Magd dort den Wein geholt habe. Als der Bote mit der Nachricht zurückkehrte, niemand sei dort gewesen, kam dem Förster die Sache bedenklich vor. Er schickte deshalb nach dem Pastor und dem Lehrer, nahm einige Bauern und Jägerburschen mit, und so zog der ganze Schwarm unter Führung des Mädchens nach der Himmelspforte. Dort fand man zwar noch die Ruinen eines im Bauernkrieg zerstörten Klosters, aber weder von der Kellertür noch von der seltsam gekleideten Frau war eine Spur zu sehen.

Seitjener Zeit wurde die Himmelspforte und besonders die Klosterruine, die schon lange bei den umwohnenden Bauern verrufen waren, noch mehr gemieden; jedem klopfte das Herz hörbar in der Brust, wenn er an den Mauerresten vorüberging, jeder erwartete, daß die Kellertür sich öffnen und die seltsame Frau hervortreten würde; doch hat sich seit jenen Tagen nichts Ähnliches mehr ereignet.

Das Mädchen von der Wegsmühle

Auf der Wegsmühle diente vor langer Zeit ein großes, starkes und schönes Mädchen. Eines Abends spät kam ein Mann in die Mühle, der einen vollen Hedesack (Hede = Werg, Abfall von Flachs) trug.

Ob er nicht in der Mühle im Stalle übernachten könne, fragte der Mann. Beinahe wäre es ihm gestattet worden, denn der Müller tat manchem Armen Gutes. Aber er wollte an diesem Abend mit seiner Frau in ein Dorf zu Verwandten gehen, wo man ihn zu einer kleinen Lustbarkeit eingeladen hatte; es war nämlich gerade Fastnacht. Da machte es sich nicht gut, daß der Fremde in der Mühle blieb, weil das Mädchen ganz allein zu Hause war.

Nun erklärte der Mann, er wolle ins nächste Dorf zurückgehen, seinen Hedesack aber auf der Mühle in den Kuhstall stellen, damit er ihn nicht wieder zurückschleppen müsse; am nächsten Morgen werde er ihn dann abholen. Das sei ihm ganz recht, meinte der Müller. Der Harzker stellte also seinen Hedesack. in den Kuhstall und ging fort; eine Weile darauf entfernten sich auch der Müller und die Müllerin. Als aber das Mädchen nach einiger Zeit im Kuhstall ihre Arbeit verrichtete, bemerkte es beim Melken, daß der Hedesack, der in der Ecke lehnte, bald groß und bald klein wurde und sich auf und nieder bewegte. Da lief die Magd geschwind ins Haus und holte eine geladene Flinte heraus, die in der Stube an der Wand hing. Mit der Flinte in der Hand trat sie vor den Sack hin und rief: »Wer da?« Sie erhielt aber keine Antwort und drückte ab. Ein Aufschrei erscholl aus dem Hedesack, und als das Mädchen ihn aufband, schwamm da ein großer Mann in seinem Blut, der hatte ein Messer und eine Pfeife neben sich liegen.

Der Mann winselte, daß er nun vor Gottes Richterstuhl treten solle, und bekannte, daß ihrer zwölf Brüder seien, die alle das Räuberhandwerk betrieben. Zehn davon hätten in der Nacht hier einbrechen wollen, der elfte, das sei der jüngste, der sitze in der Räuberhöhle bei der steinalten Mutter, die ihn nicht fortlassen wolle. Er selbst sei der zwölfte, ihn hätten sie in einen Sack gebunden und das große Messer neben ihn gelegt, damit er den Sack zur rechten Zeit durchschneiden und heraussteigen könne. Dann habe er vor die Öffnung der Mühle, wo der Mühlbach durchs Haus geht, hintreten und den andern pfeifen sollen. Die elf Räuber lägen schon draußen vor der Mühle versteckt und lauerten nur auf den Ton seiner Pfeife. Das Mädchen möge im Dunkeln rasch entfliehen und die Mühle ihrem Schicksal überlassen, sonst sei es verloren. Dann starb er.

Entfliehen aber konnte das Mädchen nicht, denn der Müller hatte die Hoftür zugeschlossen und den Schlüssel eingesteckt, damit die Magd nicht auf ihn und seine Frau in der Nacht zu warten brauche und damit sie selbst, wenn sie heimkehrten, aufschließen könnten. Das Mädchen überlegte nun, was zu tun sei, nahm das große Räukermesser und die Pfeife und ging damit in die Mühle hinein. Dann trat sie vor die Öffnung in der Mühle und blies in die Pfeife. Plumps erklang es vom Wasser, und halb schwamm, halb watete der Kerl, der den Hedesack getragen hatte. Es war der Räuberhauptmann selbst, bald darauf streckte er seinen häßlichen Kopf unter der Mühlschwelle herein. Den packte die Magd nun bei den Haaren, fesselte ihn und legte ihm eine Schnur um den Hals, so daß er nicht schreien konnte, und zog ihn dann vollends herein. Nachher blies sie wieder auf der Pfeife. Ein Plumpser, und schon kam der zweite Räuber daher, dem es nicht anders erging als dem ersten. So lockte das Mädchen alle zehn Räuber unter die Schwelle der Mühle.

Als der Müller mit seiner Frau nach Hause kam, fand er das Mädchen ganz verstört und mit Blut befleckt in der Stube sitzen. Nachdem die Magd den Müllersleuten den ganzen Vorfall erzählt und die dingfest gemachten Räuber gezeigt hatte, wurde das tapfere Mädchen als Retterin der Mühle gepriesen. Sie lebte nun in der Mühle hinfort mehr als Freundin denn als Magd und wurde weit und breit berühmt wegen ihrer Heldentat. Es fanden sich auch junge Burschen aus dem Dorfe ein, die sie gerne gefreit hätten. Das Mädchen aber war eigenwillig und erklärte, es wolle keinen andern zum Manne haben als den, der verspreche, nach ihrer Pfeife zu tanzen, womit sie die Räuber herbeigelockt habe. Und weil sie so schön war, fand sich zuletzt in der Mühle ein feiner Herr aus der Stadt ein; der ging auf Freiersfüßen, war sehr reich und hielt um das Mädchen an. Sie wollte zuerst auch von ihm nicht viel wissen, aber er machte ihr die kostbarsten Geschenke, und der Müller und die Müllerin sagten, der Mann müsse einen großen Goldkasten zu Hause stehen haben, und wer da einmal hineingreifen dürfe, sei wohl sein Leben lang glücklich zu preisen. Und so fand sich das Mädchen mit dem Gedanken ab, den Städter als ihren Verlobten anzusehen.

Eines Tages erklärte der fremde Bräutigam, er wolle das Mädchen einmal in der Kutsche abholen und ihm sein Haus zeigen, wie prächtig es sei. Der Müller gab die Erlaubnis, daß das Mädchen mit ihm fahren dürfe. Dieses selbst hatte anfangs wieder keine rechte Lust, mit dem Bräutigam, den es nicht liebte, zu fahren, doch war es neugierig, einmal sein Hauswesen zu sehen, und darum setzte es sich in die Kutsche.

Der Fremde fuhr nun mit dem Mädchen in den Wald. Als sie mitten im Forst waren, ließ er den Kutscher, der ein Lohnfuhrmann war, halten und hieß das Mädchen mit ihm aussteigen. Den Fuhrmann hatte er schon vorher gut bezahlt und ihm mitgeteilt, was er im Wald tun solle. Darum schlug der Kutscher nun auf seine Pferde ein, jagte davon und ließ das Mädchen mit dem Fremden im Wald stehen. Nun griff der ungestüme Freier das Mädchen hart an, und weil er stärker war als sie, so mußte sie ihm folgen, und er schleppte sie in eine Räuberhöhle. Da saß die steinalte Mutter der elf Räuber, die das Mädchen zur Strecke gebracht hatte. Der Fremde aber sagte, er sei der zwölfte Bruder und habe seiner Mutter geschworen, die andern elf Brüder an ihr zu rächen; darum habe er sich verkleidet und sie hierher gelockt. Hier müsse sie nun sterben.

So mutig das Mädchen auch war, diese Not ging über ihre Kraft; sie weinte und klagte und bat den jüngsten Bruder der Räuber um ihr Leben. Dieser hätte sie gerne leben lassen, denn ihre Schönheit hatte schon längst sein Herz betört. Weil die alte Mutter das merkte und das Mädchen sich erbot, die Wirtschaft in der Höhle zu führen und das Weib des jungen Räubers zu werden, so beschlossen Mutter und Sohn, die Gefangene am Leben zu lassen.

Aber das stolze Mädchen konnte es nicht verwinden, daß es die Frau eines Mordgesellen sein sollte. Als der junge Räuber einmal schlief, verließ es den Wald und kehrte wieder zu dem Müller zurück. Dieser rief die Obrigkeit herbei, und das Mädchen führte die Häscher zur Räuberhöhle. Dort fanden sie die Alte dicht vor der Höhle, weil sie vor Altersschwäche nicht hatte entfliehen können, nahmen die Häscher sie und ihren Sohn mit und ließen ihnen die gerechte Strafe zuteil werden.

Das Mädchen aber erhielt alle Schätze, die sich in der Räuberhöhle vorfanden. So war sie nun steinreich geworden. Von den Burschen aus dem Dorf aber, denen sie früher sehr schnöde begegnet war, fand sich kein Bewerber um sie wieder ein, weil sie drei Tage bei dem jungen Räuber in der Höhle verbracht hatte. So lebte das Mädchen weitbekannt und sehr reich, aber einsam bis an ihr Ende.

Der starke Zwerg auf dem Kyffhäuser

In Sondershausen lebte vor vielen Jahren ein Müller namens Lau, der die Wippermühle von der Stadt gepachtet hatte. Er war ein großer, kräftiger Mann, stark wie ein Bär, und hatte am Hofe zu Potsdam bei den langen Grenadieren gedient.

Einmal fuhr Lau mit seinem Mühlknappen nach dem Kyffhäuser, um sich einen Mühlstein zu holen. Er selbst stieg einen Fußsteig hinan und ließ den Knecht auf dem Fahrweg nachkommen. Die Sonne war schon untergegangen, als er oben bei dem alten Turm anlangte. Da stolzierte auf einmal ein dicker, stämmiger Zwerg hinter dem Turm den Berg herauf, zeigte dem Müller eine Höhle, die kaum groß genug war, einen Dachs aufzunehmen, und verlangte, daß er sich da in die Höhle hineinarbeiten und ihm helfen solle, einen Stein loszubrechen, der sie beide glücklich machen werde.

Der Müller aber hatte keine Lust dazu und schlug das Ansinnen ab.

Da wurde der Zwerg grob und fing an zu schimpfen und zu drohen. Doch der Müller war nicht faul und knallte dem Wicht eins hinter die Ohren. Der Knirps aber hängte sich dem Manne wie ein Bleiklumpen an den Hals und warf ihn auf die Erde, daß ihm alle Rippen krachten. Der Müller kriegte den Kleinen zwar wieder herum, aber der Zwerg umfaßte ihn wie eine Kneifzange und zwickte ihn derart, daß er laut aufschreien mußte. Es gab eine Rauferei, wie sie der Müller noch nie mitgemacht hatte, bis er schließlich ganz ermattet war.

Da kam gerade noch zur rechten Zeit der Mühlknappe herbei. Dieser schlug mit seinem Stock auf den Angreifer los, daß die Splitter flogen. Nun erst ließ der Zwerg von dem Müller ab und verschwand wie ein Regenwurm in einem Loch, das kaum eine Spanne groß war. Dem Müller taten alle Glieder weh, und er war am ganzen Leib voll blauer Flecken. Noch mehr ärgerte ihn aber, daß er, der bärenstarke Mann, dem kleinen Knirps fast unterlegen wäre; aber was war zu machen?

Er lud mit seinem Knappen den Mühlstein auf und fuhr heim. Der starke Zwerg aber war seither nicht mehr zu sehen.

Der Schäfer von Wernigerode und der Alte aus dem Berg

Unweit der Stadt Wernigerode befindet sich in einem Tal eine Vertiefung im steinigen Boden, die das Weinkellerloch genannt wird. Darin sollen große Schätze aufgestapelt sein. Vor vielen Jahren weidete ein armer Schäfer, ein gutmütiger, stiller Mann, in jenem Tal seine Herde. Einmal gegen Abend trat ein Greis zu ihm und sprach: »Komm mit mir, ich will dir Schätze zeigen, wovon du dir nehmen kannst, soviel du Lust hast.«

Der Schäfer überließ dem Hund die Bewachung der Herde und folgte dem Alten. Sie gingen nicht weit, da öffnete sich plötzlich der Boden vor ihnen; sie traten ein und stiegen in die Tiefe, bis sie zu einem Raum gelangten, worin ungeheure Reichtümer an Gold und edlen Steinen aufgetürmt lagen. Während sich der Schäfer einen Goldklumpen wählte, ertönte eine unsichtbare Stimme, die sprach : »Bringe das Gold dem Goldschmied in die Stadt, der wird dich reichlich bezahlen.« Darauf geleitete ihn sein Führer wieder zum Ausgang.

Der Schäfer tat, wie ihm geheißen war, und erhielt von dem Goldschmied eine Menge Geld. Erfreut brachte er es seinem Vater. Dieser redete ihm zu, nochmals in die Tiefe zu steigen. »Ja, Vater,« erwiderte der Schäfer, »ich habe außerdem meine Handschuhe unten liegenlassen. Geht mit mir, wir wollen sie holen!«

In der Nacht machten sich beide auf den Weg, fanden die Stelle und die Öffnung im Boden und gelangten auch zu den unterirdischen Schätzen. Es war noch alles so wie das erstemal, auch die Handschuhe des Schäfers lagen da, wo er sie hingelegt hatte. Beide füllten so viel in ihre Taschen, als sie tragen konnten, und eilten dann wieder ins Freie. Hinter ihnen schloß sich der Eingang mit lautem Krachen.

In der folgenden Nacht wollten sie es zum drittenmal wagen; lange suchten sie hin und her, konnten aber den Eingang nicht mehr finden. Plötzlich trat ihnen der alte Mann entgegen und sagte zum Schäfer: »Hättest du deine Handschuhe nicht mitgenommen, sondern unten liegenlassen, so würdest du auch diesmal den Eingang gefunden haben, denn dreimal sollte dir die Schatzkammer offenstehen. Nun aber ist dir der Eingang auf immer verschlossen.«

Der Schäfer hatte nicht gewußt, daß Geister nichts behalten dürfen, was irdischen Menschen gehört, sonst hätte er seine Handschuhe sicher wieder unten liegenlassen.

Die Roßtrappe

Die Roßtrappe nennt man einen Felsen mit einer ovalen Vertiefung, die einige Ähnlichkeit mit dem Abdruck eines riesenhaften Pferdehufs hat. Dieser Fels liegt in dem hohen Vorgebirge des Harzes, hinter Thale, und viele Reisende pflegen ihn – besonders der schönen romantischen Aussicht wegen – zu besteigen. Über das Entstehen jener Vertiefung erzählt die Volkssage:

Vor tausend und mehr Jahren, lange bevor auf den umliegenden Bergen Raubritter die Hoymburg, die Lauenburg, die Stecklenburg und die Winzenburg erbauten, war das ganze Land rings um den Harz von Riesen bewohnt. Diese kannten keine Freude als Raub, Mord und Gewalttat. Fehlte es ihnen an Waffen, so rissen sie die nächste sechzigjährige Eiche aus und fochten damit. Was sich ihnen entgegenstellte, schlugen sie mit ihren Keulen nieder.

lin Böhmerwald hauste zu der Zeit ein Riese, Bodo genannt, ungeheuer groß und stark, des ganzen Landes Schrecken. Vor ihm beugten sich alle Riesen in Böhmen und Franken. Aber die Königstochter vom Gebirge der Riesen, Emma, vermochte er nicht zu seiner Liebe zu zwingen. Hier half nicht Stärke, nicht List.

Einst sah Bodo die Jungfrau jagend und sattelte sogleich seinen Zelter, der meilenweite Fluren in Minuten übersprang. Er schwur bei allen Geistern der Hölle, diesmal Emma zu fangen oder zu sterben. Schneller als ein Habicht fliegt, sprengte er heran. Und fast hätte er sie erreicht, bevor sie es merkte. Doch als sie ihn, zwei Meilen von sich entfernt, erblickte und ihn an den Torflügeln eines zerstörten StädtIeins, die ihm als Schild dienten, erkannte, da wendete sie schnell ihr Roß. Es flog, von ihren Sporen getrieben, vonBerg zuBerg, von Klippe zu Klippe, durch Täler und Moräste und Wälder, daß, von dem Hufschlag getroffen, die Buchen und Eichen wie Stoppeln umherstoben. So flog sie durch das Thüringer Land und kam in das Gebirge des Harzes. Oft hörte sie einige Meilen hinter sich das Schnauben von Bodes Roß und trieb dann den nimmermüden Zelter zu neuen Sprüngen an.

Jetzt stand ihr Roß, sich verschnaufend, auf dem furchtbaren Fels, der heute Hexentanzplatz heißt. Angstvoll blickte Emma, zitternd blickte ihr Roß in die Tiefe hinab. Denn mehr als tausend Fuß fiel senkrecht, wie ein Turm, die Felsmauer zum grausenden Abgrund ab. Tief unter sich hörte sie das dumpfe Rauschen des Stroms, der sich hier in einem furchtbaren Wirbel dreht. Der entgegenstehende Fels auf der anderen Seite des Abgrundes schien ihr noch weiter entfernt als der Strudel und kaum für einen Vorderfuß ihres Rosses Raum zu haben.

Da stand sie zweifelnd. Hinter sich wußte sie den Feind, den sie ärger haßte als den Tod. Vor sich sah sie den Abgrund, der seinen Rachen weit vor ihr auftat. – Jetzt hörte Emma von neuem das Schnauben von Bodos keuchendem Roß. In der Angst ihres Herzens rief sie die Geister ihrer Väter um Hilfe, und, ohne sich länger zu besinnen, drückte sie ihrem Zelter die langen Sporen in die Seiten!

Und das Roß sprang! Sprang über den tausend Fuß tiefen Abgrund hinweg, erreichte glücklich die spitze Klippe und schlug seinen Huf vier Fuß tief in das harte Gestein, daß die stiebenden Funken wie Blitze das ganze Land umher erhellten. – Das ist jener Roßtrapp! Die Länge der Zeit hat die Vertiefung kleiner gemacht, aber kein Regen kann sie ganz verwaschen.

Gerettet war Emma! Doch die schwere goldene Krone, der Königstochter fiel, während das Pferd sprang, von ihrem Kopf in die Tiefe hinab. Bodo, der nur Emma, und nicht den Abgrund sah, sprang der Fliehenden auf seinem Streitroß nach und stürzte in den Strudel des Stroms, dem er den Namen Bode gab. Hier soll er, in einen schwarzen Hund verwandelt, die goldene Krone der Prinzessin bewachen, damit kein Beutegieriger sie aus dem wirbelnden Schlund heraufhole.

Otmar

Die weiße Jungfrau in der Burg Osterode

Am Ostersonnabend trug ein armer Leinweber ein Stück Leinen nach Claustal, um es zu verkaufen. Da er sich dabei verspätet hatte, blieb er dort über Nacht. Am andern Morgen in aller Frühe machte er sich auf den Heimweg. Als die Sonne aufging, war er schon über die Vorstadt von Osterode, die Freiheit genannt, hinaus und näherte sich der Söse. Da erblickte er eine weißgekleidete Jungfrau mit einem Bund Schlüssel am Gürtel. Sie wusch sich im Fluß. Weil sie seinen Gruß so freundlich erwiderte, faßte der Weber Mut und fragte: »Ei, seid Ihr schon so früh aufgestanden und wäscht Euch am Flusse?«

»Ja, das tue ich an jedem Ostermorgen,« antwortete sie. »Da bleibe ich jung und schön.«

Der Leinweber sah, daß sie eine schöne Lilie an der Brust trug. Er wunderte sich sehr darüber, weil doch zur Osterzeit noch keine Lilien blühen.

»Ihr habt wohl einen schönen, warmen Garten, daß es bei Euch schon Lilien gibt,« forschte er weiter.

»Komm nur mit,« entgegnete die Jungfrau, »ich zeige ihn dir.«

Sie führte den Leinweber zu den Trümmern der Burg Osterode. Diese nahmen sich an jenem Morgen gar seltsam aus. Eine eiserne Tür war sichtbar, die der Weber noch nie bemerkt hatte, so oft er auch vorbeigekommen war. Davor blühten drei Lilien. Die Jungfrau pflückte eine und schenkte sie dem Weber.

»Nimm sie mit nach Hause und verwahre sie gut,« sagte, sie.

Der Weber steckte sich die Blume an den Hut. Als er aber wieder aufschaute, waren Jungfrau und Tür verschwunden; die alte Burgruine sah wieder aus wie sonst. Da machte sich der Mann eilends davon.

Als er daheim die Iilie seiner Frau zeigte, meinte diese : »Das ist keine gewöhnliche Lilie, es ist eine goldene Blüte. Du hast die Osterjungfer gesehen.«

Ja, da brauchte sich der Mann nicht mehr zu wundern, daß ihm unterwegs der Hut so schwer geworden war. Nach der Kirche trug er die Blume gleich zum Goldschmied. Dieser machte große Augen, als der arme Mann das glänzende Ding auspackte. Er sagte: »Du, die Blume ist aus dem feinsten Gold und Silber, das es gibt. Die ganze Stadt Osterode hat nicht Geld genug, sie dir zu bezahlen.«

Die Geschichte von der wundersamen Blume wurde bald im ganzen Orte bekannt, und auch dem Rat kam sie zu Ohren. Dieser ließ den Leinweber vorladen, und er mußte erzählen, wie sich alles zugetragen hatte.

»Du mußt deine Blume dem Herzog verkaufen,« meinten die Ratsherren. Sie fertigten ihm ein Schreiben aus, worin der ganze Hergang der Begebenheit ausführlich und säuberlich aufgezeichnet war.

Nun reiste der Leinweber ins Hoflager. Der Herzog fand den größten Gefallen an der Blume. »Bezahlen kann ich dir die Lilie freilich auch nicht,« sprach er zum Leinweber, »aber ich will dir und den Deinen einen jährlichen Betrag aussetzen, daß ihr für euer ganzes Leben versorgt seid.«

Die Blume wurde von der Herzogin nur an hohen Festtagen getragen. Der Herzog aber nahm zur Erinnerung drei Lilien in sein Wappen auf; sie sind heute noch darin zu sehen.

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