Der Weg der Tugend.

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Ein braver Mann, namens des Glands, begegnete eines Tages in der Rue d’Anjou im Faubourg Saint-Honoré, einer kleinen, mageren und buckligen Frau, die ein hübsches Mädchen von ungefähr 13 Jahren an der Hand führte, das sehr unanständig, wenn auch geschmackvoll, gekleidet war. Herr des Glands konnte sich nicht enthalten, ihr mit den Augen zu folgen. Da bemerkte er, daß die Alte, erfreut über sein Interesse, ihm verstohlen zulächelte, und der brave Mann trat näher.

»Welch reizendes Geschöpfchen!« bemerkte er zu der Buckligen.

»Nicht wahr, mein Herr, sie ist reizend!«

Das Kind gab ihm ohne jede Schüchternheit die Hand.

»Ist das Ihre Tochter, gute Frau?«

»Freilich!«

»So? Und was denken sie aus ihr zu machen?«

»Sie soll einen braven Mann glücklich machen.«

»Sie ist noch sehr jung!«

»Und die Unschuld selbst …!«

Herr des Glands war innerlich empört, doch unterdrückte er seine Gefühle, denn er wollte die Unglückliche retten.

»Haben sie schon jemand in Aussicht?« fragte er weiter.

»Ja. Wir kommen gerade von einem Herrn in der Chaussee d’Autin, aber der ist leider krank.«

»Welches Schicksal will er denn dem Kinde bereiten?«

»Oh! … sein Glück machen.«

»Hat er schon bestimmte Versprechungen gemacht?«

»Nein, gerade heute wollten wir die Sache abschließen. Er hat Psyche, so heißt sie, erst ein einziges Mal gesehen, gesprochen noch gar nicht, weil gerade einer seiner Freunde dazu kam, dem er die Sache verheimlichen will, aber er ist entzückt von ihr.«

»Wie alt ist er?«

»Oh! Er ist alt, sehr alt.«

»Wenn Fräulein Psyche mich ihm vorziehen will, so werde ich die gleichen Verpflichtungen ihr gegenüber eingehen, wie dieser greise Wüstling.«

»Von Herzen gern,« mischte sich da die Kleine ein, »denn der Alte ist mir zuwider.«

»Sie haben es eilig, kleines Fräulein,« fuhr die Alte auf.

»Also lassen sie mal Ihre Vorschläge hören,« forderte des Glands sie auf.

»Nur bei mir zu Hause,« entgegnete die Alte.

Sie begaben sich sofort in ihre Wohnung, die ein sehr ärmliches Aussehen hatte. Des Glands sah dort alte Kleider Psyches, die zwar verschlissen waren, aber einst sehr schön gewesen sein mußten und darauf deuteten, daß Psyche früher einem höheren Stande angehört haben mußte. Des Glands hatte nicht die Absicht, das Laster zu belohnen. Er wollte vor allem die Wahrheit entdecken und war entschlossen, der Alten eine kleine Pension auszusetzen, wenn sie Psyches Mutter wäre, oder aber sie bestrafen zu lassen, wenn sie eine Kindesräuberin oder Kupplerin wäre. Aber es war nicht so leicht, sich Klarheit zu verschaffen. Er mußte erst geduldig die Alte anhören, wie sie all die schönen Sachen der Reihe nach anführte, die der alte Krösus ihr geben wollte.

»Ich kann das alles auch geben, Madame, aber ich will der guten Aufführung Psyches sicher sein, und deshalb muß sie bei mir wohnen.«

Dieser Vorschlag entlockte der Alten eine kleine Grimasse.

»Sie selber,« fuhr des Glands fort, »mögen nach Ihrem Belieben sie begleiten oder bleiben, wo Sie sind. In beiden Fällen setze ich Ihnen eine kleine, lebenslängliche Pension aus. Also entweder behalte ich Psyche unter meinen Augen oder ich verzichte.«

»Sie scheinen ja sehr eifersüchtig zu sein!« bemerkte die Kleine.

»Das nicht, mein Kind, aber ich will Dein Bestes!«

Die Alte war sehr unschlüssig, obwohl das Angebot einer Pension verlockend war. Herr des Glands hielt es für gut, ein wenig durch Angstmachen nachzuhelfen, und erwähnte daher unauffällig seine Bekanntschaft mit einflußreichen Leuten, Beamten und Ministern. Die großen Namen wirkten in der Tat auf die Alte. Als des Glands sie gehörig bearbeitet glaubte, gab er ihr zu verstehen, daß er entschlossen sei, von Psyche nicht mehr abzulassen, und sprach, zwar höflich, aber in einem so befehlenden Ton, daß der Alten nichts weiter übrig blieb, als sich deutlich auszusprechen und nachzugeben. Sie gestand, daß das Geschäft mit dem alten Herrn bereits abgeschlossen sei und daß sie eine Abschlagssumme erhalten habe. Diesen Morgen hätte sie Psyche ihm zum ersten Male zuführen wollen, habe ihn aber krank angetroffen und sei deshalb wieder mit ihr fortgegangen. Unterwegs hätten sie einen so gut aussehenden, freundlichen Herrn gesehen, und da habe sie Psyche vorgeschlagen, sich von ihm ansprechen zu lassen. Da er dem jungen Mädchen gefallen habe, so wäre es damit einverstanden gewesen. So ständen die Dinge. Herr des Glands sah wohl, daß sie Ausflüchte machen wollte, kümmerte sich aber nicht darum, sondern erklärte ihr kurz und bündig, er sei nur deshalb mit ihr gegangen, um Psyche vor dem Untergang zu retten. Dem jungen Mädchen streckte er die Hand entgegen und sagte zu ihr:

»Ich will Ihnen ein Schicksal in Ehren bereiten und Sie dem wahren Glück entgegenführen. Eine Frau, die Sie verderben will, kann nicht Ihre Mutter sein. Betrachten sie mich als Ihren Vater, der sie wie eine Tochter lieben wird, wenn sie sich dessen würdig zeigen.«

Die Alte wollte auffahren, aber Herr des Glands drohte ihr mit der Polizei und versicherte ihr, daß ihr nach ihren eignen, eben gemachten Aussagen das Gefängnis sicher sei, er fügte hinzu, daß er vielleicht in der Tat am besten täte, sich gleich an die Polizei zu wenden, um zu erfahren, inwieweit sie schon Mißbrauch mit ihrem Kinde getrieben habe. Diese Drohungen versetzten sie so in Schrecken, daß sie ihm zu Füßen stürzte und ihn anflehte, sie nicht ins Unglück zu stürzen. »Gut denn, aber unter der Bedingung, daß ich Psyche sofort mit mir nehme!« entschied Herr des Glands. Die Alte erhob lebhaften Einspruch gerade gegen diesen Punkt, aber der brave Mann blieb fest und wirkte so geschickt durch Furcht auf das Weib und durch freundliche Überredung auf das Mädchen ein, daß er seinen Willen durchsetzte. Er ließ einen Wagen holen. Psyche machte noch einige Schwierigkeiten, einzusteigen, da er ihr doch immerhin unbekannt war, aber schließlich gab sie seiner Entschlossenheit nach.

Als der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte, hörten sie Geschrei hinter sich. Es war die Alte, die sich auf einmal überlegt hatte, ein Schurke könnte sie angeführt haben, der Psyche Gott weiß wohin brächte, und die nun schrie, man entführe ihre Tochter. Der Kutscher wollte anhalten, aber des Glands befahl ihm, weiterzufahren und wußte sich Gehorsam zu verschaffen. Man stieg vor dem Hause des Ehrenmannes aus, und dieser sagte zum Kutscher:

»Mein Freund, dies ist meine Wohnung. Wenn sie von den Behörden befragt werden sollten, dann geben Sie meine Adresse an. Von der Frau, die hinter uns herschrie, kann Ihnen das Fräulein sagen, ob sie ihre Mutter ist.«

Psyche schwieg. Sie zitterte vor Erregung, sich in den Händen dieses entschlossenen und offenbar hochangesehenen Mannes zu sehen.

Herr des Glands wies Psyche eine sehr hübsche Wohnung an und stellte ihr zwei Zofen zur Verfügung, denen er befahl, stets um sie zu sein, ohne sie nur eine Sekunde zu verlassen. Er selbst nahm sich vor, sie nicht außer Augen zu lassen und ihr vor allem eine geeignete Erzieherin zu verschaffen, die ihr Vertrauen zu gewinnen und ihren Charakter zu bilden vermöchte. Er wandte sich zu diesem Behuf an eine sehr ehrenwerte Dame seiner Bekanntschaft, und durch sie an eine Witwe aus guten Kreisen, die durch Unglück in die Lage geraten war, von anderen abhängig sein zu müssen, und die in einem Kloster von der Pension lebte, die einige brave Männer ihr ausgesetzt hatten. Herr des Glands suchte sie auf und war so glücklich, sie für sich zu gewinnen. Frau Saint-Didier wollte am nächsten Tage eintreten, aber des Glands hatte seine Gründe, sie zu ersuchen, noch am selben Abend ihre Schülerin zu sehen und die Nacht bei dieser zuzubringen. So geschah es.

Psyche hatte in seiner Abwesenheit zwei Fluchtversuche unternommen, aber die Zofen hatten es bemerkt und waren so glücklich gewesen, sie zu vereiteln. Des Glands und Frau Saint-Didier fanden sie in Tränen schwimmend. Sie trösteten sie, und besonders die neue Gouvernante bewies ihr eine so zärtliche Freundschaft, daß Herr des Glands darüber hocherfreut war. Es kostete ihm daher auch keine Mühe, sie zu veranlassen, bei ihrem Zögling zu bleiben, sie selber bat darum.

Nun war Herr des Glands außer Sorge und konnte sich ganz der köstlichen Wonne hingeben, in seinem Hause eine junge und rührende Schönheit heranwachsen zu sehen, deren Retter er war.

Am anderen Morgen benutzte Frau Saint-Didier einen Augenblick, wo ihre Schülerin, ohne spielen zu können, auf dem Klavier klimperte, um Herrn des Glands nach den näheren Umständen zu fragen, unter denen er Psyche aufgefunden hätte. Als er die alten Kleider Psyches erwähnte, äußerte die Gouvernante den lebhaftesten Wunsch, diese zu sehen. Er versprach ihr, dafür Sorge zu tragen und bat sie, vor allem aus Psyche herauszubringen, ob die Elende ihre Mutter sei. »Sobald ich drüber im klaren bin,« fügte er hinzu, »werde ich weitere Anordnungen treffen.«

»Ich glaube, Ihnen versichern zu können,« äußerte darauf Frau Saint-Didier, »daß sie es nicht ist.«

»Hat das Mädchen es Ihnen bereits eingestanden?«

»Nein, ich wollte sie auch noch nicht danach fragen. Heute werde ich es tun, und seien sie sicher, daß ich die Wahrheit gesagt habe.«

Als die Erzieherin mit Psyche allein war, fragte sie sie:

»Mein liebes Kind, kennen sie Ihre Eltern nicht? Denn es ist doch nicht möglich, daß diese Elende, die Sie verderben wollte, Ihre Mutter ist!«

»Doch, doch, sie ist es, und ich möchte sie gern wiedersehen.«

»Sie ist es? Ich glaube eher, daß sie Sie gefunden oder vielleicht sogar geraubt hat.« Psyche seufzte und erwiderte:

»Nein, sie ist meine Mutter. Ich muß es am besten wissen!«

»Allerdings sollten sie es wissen.«

»Und sie war so gut zu mir!«

»Oh! Ich werde noch besser zu Ihnen sein, mein liebes Kind!«

»Hören sie, ich habe, wenn ich offen sein soll, Ihre Manieren nicht so gern, Ihr ewiges Geseufze gefällt mir nicht.«

»Dann werde ich es lassen.«

»Frau Blondelat war dagegen stets heiter und lustig. Nie sagte sie, wie Sie beständig zu mir: ›Du mußt dies, du mußt das‹. Bei ihr galt nur mein Wille.«

»Mein liebes Kind!« …

»Da fangen sie schon wieder an!«

»Ich möchte, daß Sie mich lieb gewinnen, Psyche!«

»Hören sie, ich weiß recht gut, was Ihre Schmeicheleien und Ihre Freundlichkeit bezwecken: nur daß ich zu Herrn des Glands so sein soll, wie er gern möchte: ich werde es mir gesagt sein lassen und verspreche es Ihnen, also strengen sie sich nicht so an und lassen Sie Ihre Verstellung beiseite.«

»Sie sind klug, meine Tochter, das sehe ich. Ich fühle, daß ich vorläufig mit Ihnen noch nicht über die einfachsten Dinge sprechen kann, die ich Ihnen doch naturgemäß sagen müßte. Sie wollen mich heiter sehen: gut, ich werde es sein und Herrn des Glands bitten, Ihnen Zerstreuungen zu verschaffen.«

»So ist’s recht! Ich habe ihn übrigens gern, doch auch ein wenig Furcht vor ihm, aber sie brauchen ihm das nicht wiederzusagen.«

»Wie Sie wünschen. Wollen wir irgend etwas spielen?«

»Gern. Wir wollen die Karten legen und sehen, ob ich heute jemandem ins Auge gefallen bin? Mama Blondelat belustigte mich damit, es war manchmal zum Totlachen. Sie erzählte so komische Geschichten.«

»Ich möchte wohl, aber ich verstehe davon nichts.«

»Oh! Ich kenne mich darin aus.«

»Nun erzählen sie mir mal ganz vertraulich, liebe Psyche, was Ihnen eigentlich passiert ist, alles, damit wir gegenseitig Vertrauen zueinander fassen. Ich werde Ihnen auch eines Tages meine Geschichte erzählen.«

»Später, später, wenn ich Sie näher kenne.«

»Sie sind sehr vorsichtig, aber sie haben recht, also warten wir damit noch, wenn sie es so wünschen.«

»Also die Karten … Gut!«

»Da Sie sich darauf verstehen, liebe Psyche, so sehen Sie mal nach, wie wir in einiger Zeit miteinander stehen werden.«

»Gern … Ich bin Pique Dame, da ist sie … Der Treffbube ist die Liebe … Carreau … Großer Gott, das bedeutet Blut …, aber es ist nicht schlimm! … Cœurdame … die Freundschaft.«

»Ah! die habe ich mir gewählt,« unterbrach sie Frau Saint-Didier.

»Nun gut, wir werden also, wenn sich nichts dazwischen stellt, Freundinnen sein … Treffkönig … Ein Liebhaber wird sich dagegenstellen … Pique … mit dem ich mich zanke … Cœur … Sie werden uns wieder aussöhnen … Treffdame … eine Nebenbuhlerin … Carreauzwei… Ich werde ihr oder sie mir die Augen auskratzen … Piquebube … Ich werde sie ihr auskratzen, denn der Bube ist mein Verteidiger … Piquekönig … Das ist offenbar Herr des Glands … Cœurbube … Ah! Er wird mich lieben, wenn meine Farbe darauffolgt … Piquezehn … da ist sie! … Cœurkönig … das ist Ihr Mann … Wo weilt er?… Man sollte meinen, er komme aus fernem Lande … Guter Gott, was haben sie denn, meine Beste? Sie weinen?«

»Mein Mann ist in der Tat in Amerika.«

»Sehen sie, wie richtig die Karten sagen? … Cœuraß … Er liebt Sie noch immer … Piqueaß … Er wird mich nicht hassen, da meine Farbe auf ihn folgt … Carreaukönig … Ah! Das bedeutet Unglück! Er trachtet danach, Sie oder mich zu töten … Sehen wir wen? Piquesieben … Mich! … Weiter, Cœurzehn … und Sie verhindern ihn daran, denn da ist Ihre Farbe, besonders wenn er Liebe empfindet … Wahrhaftig, denn da ist Treffneun! …

Das Eintreten des Herrn des Glands unterbrach dieses leichtfertige Spiel mit der Zukunft. Er nahm Frau Saint-Didier beiseite, während Psyche fortfuhr, Karten zu legen. Er zeigte der Gouvernante ein altes Kleid ihres Zöglings nebst verschiedenen Nippsachen, die er die Blondelat herauszugeben gezwungen hatte, und erzählte dann, was sich zwischen ihm und dem Weibe zugetragen hatte.

»Als ich zu ihr kam, begann sie zu heulen und jammern, obwohl ihre Augen ganz trocken waren. Ich befahl ihr unter Drohungen, ruhig zu sein. Großen Eindruck machte es auf sie, als ich ihr geradezu heraussagte, Psyche sei nicht ihre Tochter. Trotzdem blieb sie aber dabei und schwor, es beweisen zu können. Dann fragte ich sie:

›Sind das da frühere Kleider Psyches?‹

›Ja gewiß,‹ erwiderte sie.

›Vertrauen sie sie mir an, ich werde Ihnen diese Gefälligkeit hoch anrechnen.‹

›Was wollen sie damit?‹

›Sie können mir eines Tages nützlich werden.‹

›Herr, geben sie mir meine Tochter wieder.‹

›Sie erinnern sich doch, wozu Sie sie bestimmt hatten?‹

›Und Sie haben sich ihrer bemächtigt, damit Sie mir Ihre Versprechungen nicht zu halten brauchen.‹

›Sie sind im Irrtum, denn für die Mutter Psyches werde ich stets Sorge tragen, dessen können sie gewiß sein.‹

Sie schüttelte den Kopf und fing an zu weinen. Das rührte mich, und ich versprach ihr, ihr eine anständige Existenz zu sichern. Darauf gab sie mir die Sachen. Ich bat sie, 25 Louis anzunehmen, halb überzeugt, daß sie doch die Mutter Psyches ist.«

Des Glands zog sich darauf sofort wieder zurück, und Frau Saint-Didier machte sich eifrig daran, die Sachen zu untersuchen. Da war ein Kinderkleid aus Wollenstoff mit Gaze garniert, alles zerlumpt, eine kleine Schildpattschachtel, aus welcher zwei goldene Reifen herausgerissen waren, auf dem Deckel der Schachtel war ein Porträt, ein altes Etui, das mal mit Gold beschlagen gewesen war, ein kleines goldenes Herz von geringem Wert, ein altes Nähkissen, offenbar von einer Nonne gearbeitet, eine Brillantnadel, woraus der echte Stein entfernt und durch einen falschen ersetzt worden war, und noch verschiedenes anderes ohne Belang. Frau Saint-Didier untersuchte diese ärmlichen Gegenstände mit immer größer werdender Rührung und reichliche Tränen vergießend. Psyche gesellte sich zu ihr und rief beim Anblick der Sachen aus:

»Ah! Da sind ja meine Sachen! Liebste, Beste, ist denn Mama hier?«

»Ich bin da, liebes Kind: Ihr Beschützer hat die Blondelat aufgesucht und sie hat ihm alles mitgegeben. Sie war ziemlich vernünftig, und da hat Herr des Glands ihr 25 Louis geschenkt.«

»Gut! Das ist doch immerhin ein Anfang,« bemerkte darauf die Kleine lachend. »Die Karten hatten mir das übrigens schon gesagt, während Sie sich zusammen unterhielten.«

»Wessen Porträt ist dies, liebes Kind?«

»Ah! Mama hat auch meine Schachtel hergegeben? Und sie küßte das Bild, »Ich weiß es nicht, aber man hat mir stets gesagt, ich solle das Bild küssen, es sei meine Mutter.«

Frau Saint-Didier fühlte ihr Herz sich zusammenschnüren. Das Bild war halb verwischt, aber man konnte bei einiger Aufmerksamkeit die Züge doch noch unterscheiden.

»Ist es das Bild Ihrer Mutter Blondelat?«

»Nein« … Dieses Nein war ihr herausgefahren wie der Blitz. Nun errötete sie darüber, sich verschnappt zu haben, faßte sich und fügte hinzu: »Es ist das Bild meiner guten Mama.«

Frau Saint-Didier vermied es, weiter in sie zu dringen und sie mit Fragen zu beunruhigen. Sie hielt es für besser, damit zu warten, bis sie Psyches Freundschaft gewonnen hätte.

Dieses vernünftige Verhalten hatte Erfolg, aber es gehörten drei Monate dazu. Herr des Glands, dem die Gouvernante über alle ihre Schritte Bericht erstatten mußte, war voll Bewunderung für die Klugheit, mit der sie vorging, um sich die Liebe ihrer Schülerin zu erwerben. Endlich wurde Psyche von dem freundlichen Wesen ihrer Erzieherin gerührt und, besiegt von dem Luxus, mit dem ihr Beschützer sie umgab, den Vergnügungen, die er ihr verschaffte, den schönen Kleidern, die er ihr schenkte, und der zärtlichen Freundschaft, die er ihr bezeigte, fing sie allmählich an, sich einzugewöhnen. Man konnte es daran bemerken, daß sie zu suchen begann, was den anderen wohl Freude bereiten könnte. Dieser erste Schritt zum Guten war die Folge der unbegrenzten Freundlichkeit, die man ihr entgegenbrachte, und ihres Nachdenkens darüber. Man hatte sie sonst noch gar nicht unterrichtet, weil sie sich gleich anfangs gegen jede Belohnung empört hatte, so sehr war ihre junge Seele schon dem Laster verfallen gewesen. Hätte man gleich Zwang anwenden wollen, so wäre alles verloren gewesen, denn dann würde sie gelernt haben, die Ehrbarkeit zu hassen. So machte man sie ihr im Gegenteil liebenswert und erzielte damit den besten Erfolg.

Sobald es nun klar war, daß Psyche wirklich einige Anhänglichkeit für die Erzieherin und viel Dankbarkeit für Herrn des Glands im Herzen trug, fingen diese unmerklich wieder an, ihr Fragen zu stellen und einiges Interesse für ihre Vergangenheit zu bezeigen, ohne aber dringlicher zu werden.

Nach Verlauf von acht Tagen nahm Psyche plötzlich nach Tisch Herrn des Glands bei der Hand, führte ihn zu Frau Saint-Didier und sagte dann zu beiden: »Ich will nun nicht länger ein Geheimnis vor Ihnen haben und Ihnen alles erzählen. Mama Blondelat ist nicht meine Mutter … Ich will alles sagen … Ich habe andere Eltern, die, wie ich glaube, der guten Gesellschaft angehörten, aber durch Schicksalsschläge gezwungen wurden, ins Ausland zu fliehen. Mich ließ man in den Händen einer Dienerin meiner Mutter zurück, der man, wie ich habe sagen hören, auch alles übergeben hatte, was man vom Vermögen meiner Eltern retten konnte. Diese Frau hat mich bis zu meinem elften Lebensjahre behütet. Sie war es auch, die mir das Kinderkleidchen angefertigt hat. Sie starb vor zwei Jahren, und ich stand verlassen da, als Mama Blondelat, die gerade ihren Mann verloren hatte, mich sah, sich meiner aus Mitleid annahm und mir eine Freundschaft bewies, die ich ebensowenig jemals vergessen werde, wie die Ihrige. Sie sagte mir immer, sie wolle mich glücklich machen, viel glücklicher, als die verheirateten Frauen daran wären, die meistens in ihrer Ehe sehr zu leiden hätten, und sie wolle dafür sorgen, daß ich von einem reichen Manne ausgehalten werde. Um mir zu beweisen, daß sie recht habe, führte sie alle verheirateten Leute unserer Bekanntschaft an und besuchte mit mir das Kolosseum, sowie andere Vergnügungsorte wo sie mir die ausgehaltenen Damen zeigte, die alle reich geschmückt und zufrieden waren und nur dem Vergnügen lebten. Ich sah, daß sie recht hatte und folgte ihr daher in allem, was sie von mir verlangte, war es doch zu meinem Guten. Ich nahm die Haltung, den Schritt, den Blick und das Lächeln an, wie sie’s mir vorschrieb, um den Männern zu gefallen. Denn sie gab mir wohl zu verstehen, daß wir dazu geschaffen seien, den reichen Männern zu gefallen, denen wir durch unser Äußeres in die Augen fallen müßten, damit sie uns liebten und unterhielten. So kam es, daß ich auch Ihnen gefiel, mein guter Freund des Glands, und ich hoffe, daß Sie mich nun als Ihre Mätresse behalten werden. Denn ich selber fühle, daß ich Sie herzlich lieb haben werde, einmal weil Sie noch besser zu mir sind, als Mama Blondelat mich es jemals hatte hoffen lassen, und dann, weil ich Sie sehr liebenswert finde.«

»Was für schreckliche Dinge hat denn die Blondelat angeführt, die man von den Männern zu erdulden hätte?«

»Es würde zu weit führen,« erwiderte die Kleine lächelnd, »wenn ich alle Einzelheiten erzählen wollte, übrigens wissen sie das ebenso gut wie sie, aber schreckliche Dinge sind’s, die sie mir noch dazu empfahl, geduldig zu ertragen und sogar mit Liebkosungen zu erwidern. Daher kann ich auch gar nicht sagen, wie sehr ich meinen guten Freund des Glands liebe, der mir nichts Böses tut und mich dabei doch so lieb hat.«

»Hat die Blondelat Sie nie mit Männern zusammengebracht?«

Psyche lächelte wiederum und antwortete: »Ja, aber sie haben ihr alle gesagt, indem sie ihr Geld in die Hand drückten: ›Gebt gut acht auf den kleinen Engel, in einiger Zeit werden wir sehen.‹ Aber wenn es Ihnen Freude macht, zu wissen, daß keiner von ihnen wiedergekommen ist, so müssen sie den Zufall segnen, der sie gerade zur rechten Zeit in die Rue d’Anjou geführt hatte, denn an diesem Tage wollte mich Mama Blondelat, nachdem wir den alten Herrn, zu dem sie mich geführt hatte, erkrankt angetroffen hatten, einem anderen vorstellen, da begegneten wir Ihnen. Mama Blondelat hatte mir auch ein Fräulein Blondelat gezeigt, die Tochter ihres Mannes, der sie ebenfalls einen Herrn verschafft hatte, welcher sie unterhielt. Sie sagte immer, wie glücklich diese sei, aber ich glaubte es nicht, denn sie sah immer so traurig aus, und einmal hörte ich sie sagen: ›Ach! wenn Papa wüßte, was aus mir geworden ist!‹ … Ihr Vater war ein braver Mann, der viel Geist besaß und ein dickes Buch verfaßt hat. Er hatte Mama Blondelat geheiratet, die bei ihm Dienstmädchen war, und starb bald darauf. Sie brachte seinen Sohn ins Armenhaus, aber die Tochter, die sehr hübsch war, behielt sie bei sich, führte sie dann einem alten Herrn zu, und erhielt dafür eine Pension ausgesetzt. Oh! wie häßlich war der alte Herr, und ganz schwarz, so schwarz, daß man Furcht vor ihm hatte! So, nun wissen sie alles.«

»Sie ist noch unschuldig,« äußerte Herr des Glands zu Frau Saint-Didier, die ihre Tränen nicht zurückzuhalten vermochte und Psyche zweimal küßte, indem sie zu ihr sagte:

»Oh! mein liebes, liebes Kind, welchem Schicksal sind Sie entronnen! Aus Unerfahrenheit hätten sie sich, wie so manche andere, dem Laster ergeben und wären aus Gewohnheit darin geblieben. Die Elende! Wie schwer hat sie sich versündigt! Bald werden sie das begreifen, denn ich werde Sie aufklären, meine teuere Freundin, Ihnen die nötigen Begriffe von Sittenreinheit, Ehrbarkeit, Anstand und Scham beibringen. Diese Eigenschaften sind unserem Geschlecht angeboren, sie leben in uns fort, doch hat man sie bei Ihnen nicht aufkommen lassen. Wie werden sie staunen, wenn eines Tages die Binde von Ihren Augen fällt! Psyche, wie teuer bist du meinem Herzen! Oh! Wenn du für mich nur den hundertsten Teil von der Liebe hättest, die ich für dich empfinde, so wäre ich glücklich mein Lebelang! … Ich werde alles daran setzen, meine Tochter, dein Glück zu begründen, aber ein festes, dauerhaftes, auf Tugend beruhendes. Herr des Glands wird mir die Mittel dazu liefern. Wie dankbar wirst du ihm eines Tages sein, wenn du die ganze Größe seines Edelmutes erkannt hast! Er hat dir mehr als das Leben gerettet: du warst im Rachen des Wolfes, der dich verschlingen wollte, er hat dich daraus errettet!«

»Ich bin froh,« bemerkte Psyche zu ihrem Wohltäter, »Ihnen soviel zu verdanken, und wenn Ihnen meine Freundschaft etwas gilt, so betrachten sie mich als Ihre Freundin.«

»Ja, liebe Psyche, Ihre Freundschaft ist mir kostbar. Glauben sie dem, was Ihnen Ihre Gouvernante gesagt hat, oder vielmehr Ihre Mutter, denn Mutter wird sie Ihnen sein, solange sie lebt. Ihre andere Mutter, diese Elende, werden sie niemals genug verabscheuen können.«

»Verabscheuen? Das wird mir kaum möglich sein!«

»Welch liebenswürdige Unschuld!« sagte lächelnd der brave des Glands zur Gouvernante … »Nun, das war’s übrigens, was wir zu wissen wünschten. Also Frau Saint-Didier, ich vertraue Ihnen meine Psyche an, bilden Sie sie heran und machen Sie sie ihrer selbst würdig, dann wird sie auch Ihrer und meiner würdig sein.«

Psyche verstand kein Wort von dem, was man ihr sagte, da sie sich aber mehr und mehr an ihre neuen Beschützer anzuschließen begann, so nahm sie sich vor, ihren Ratschlägen zu folgen und alles zu tun, um ihre Zufriedenheit zu erwerben: das war die Folge der moralischen Freiheit, die ihre Gouvernante ihr gelassen hatte, denn Freiheit erzeugt Gutheit. Nichts ist wahrer, als jenes Wort Homers: Wen die Götter zum Sklaven machen wollen, dem nehmen sie die Hälfte seiner Tugenden. Damit soll nicht gesagt sein, daß man Kinder niemals zwingen dürfte, ohne Zwang würde die Mehrzahl von ihnen nichts lernen und eines Tages der Gesellschaft zur Last fallen, aber die Vernunft sollte sie zwingen, mehr als der Mensch. Statt dessen aber schwingen unsere verdammten Lehrer nur den Stock … Doch genug darüber. Psyche befand sich übrigens in einer weit gefährlicheren Lage als die unvernünftigen Kinder. Kinder wissen nicht, was gut, was schlecht ist: Psyche aber kannte nur das Gute nicht, während die niederträchtigste Gemeinheit in ihren unschuldigen Augen vollkommen berechtigt erschien. Nur Vernunft und gesunder Menschenverstand konnten die junge Seele retten und sie wieder auf den rechten Weg bringen, indem sie ihr verschrobenes Urteil wieder gerade richteten.

Psyche hatte nichts weiter gelernt, als Lesen. Frau Saint-Didier wollte dies ausnutzen, indem sie ihr Bücher zu lesen gab, die ihrer Auffassungsweise und ihrem Geschmack angepaßt waren. Sie besprach sich darüber mit Herrn des Glands, und dieser meinte:

»Ich sehe in diesem Augenblick nichts Besseres für sie, als den Roman: Die Frau als Mädchen, Gattin und Mutter. Der erste Teil desselben enthält eine Schilderung, für die sie Verständnis haben wird. Es ist darin von einem Mädchen die Rede, das wie sie ungefähr durch die gleichen falschen Lehren verdorben worden ist. Das wird ihr die Augen öffnen und ihr begreiflich machen, daß sie auf falschem Wege ist. Das Buch wird sie zudem durch die rasch aufeinanderfolgenden Episoden unterhalten. Auch von Moral ist darin die Rede, aber nur so nebenbei, und in Aussprüchen, die dem Munde eines Wüstlings unwillkürlich entschlüpfen, was noch überzeugender wirkt, kurz, ich halte diesen ersten Teil für sehr unterrichtend für ein junges Mädchen, wie Psyche, obwohl er allerdings für ein unschuldiges Wesen etwas zu frei ist. Der zweite Teil ist anderer Art, aber auch im Geschmack des Verfassers gehalten, der die Moral so ganz zufällig und wie gegen seinen Willen behandelt. Er wird Psyche vollends über ihre Lage aufklären und ihre Ansichten berichtigen und reinigen. Der dritte Teil enthält die Belohnung der Tugend. Das Buch paßt vorzüglich für Mädchen in Psyches Lage, aber auch nur für solche. Und so ein Buch brauchen wir gerade, um sie ehrbar zu machen. Der Verfasser desselben ist offenbar ein Mann, der mehr in schlechter, als in guter Gesellschaft gelebt hat, der also gerade deswegen bei Personen in der Lage Psyches volles Verständnis finden wird. Seine Werke können diesen von unendlichem Nutzen sein, unschuldigen Seelen dagegen, die niemals das schlechte gekannt haben, verderblich werden … Doch genug darüber, Madame. Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß ich diese Lektüre nicht unüberlegt anrate. Ein zweites Buch, das sie danach lesen könnte, wäre ›Der verführte Landmann‹. Die Schilderungen dieses Werkes werden auf Psyche Eindruck machen und sie veranlassen, Ihnen Fragen zu stellen, auf die Sie die nötige Antwort erteilen werden. Ich weiß noch nicht, ob es weiter notwendig sein wird, ihr erst noch andere Werke desselben Verfassers zum Lesen zu geben, bevor wir zu reineren Dingen übergehen. Er hat Bücher geschrieben, die eine wahre Schule der Tugend sind, so sein Neuer Abälard und Das Leben meines Vaters. Es wäre nicht schlecht, wenn Psyche an der Hand desselben Führers ihre sittliche Reinigung vollziehen würde. Wenn sie einen bestimmten höheren Bildungsgrad erreicht und Kenntnis von Gut und Böse erhalten haben wird, dann können sie ihr Die Neue Heloise in die Hand geben. Auch dieses Werk ist für ein unschuldiges Mädchen noch voller Gefahren, wird aber Psyche nur nützlich werden. Danach können sie den Emile 3

lesen lassen, wonach Sie dann ganz natürlich zu den moralischen Schriften kommen werden. Aber hüten sie sich wohl, mit letzteren anzufangen! Sie würden Ihrer Schülerin dadurch die Lektüre nur verhaßt machen.«

Frau Saint-Didier versprach, diesen Vorschriften in allem zu folgen und gab noch am gleichen Tage ihrem Zögling das erste Werk zu lesen.

Das junge Mädchen verschlang das Buch. Sie las auf ihrem Zimmer, die Erzieherin befand sich im Nebenzimmer, und hörte sie alle Augenblicke laut auslachen. Bisweilen kam sie auch zu ihr gelaufen, um ihr die Stellen zu zeigen, die sie am meisten belustigten. Sie lachte gerade hell auf, als Herr des Glands eintrat. Die Erzieherin sagte zu ihm:

»Der Inhalt des Buches muß sehr scherzhaft sein!«

»Hm, aber eigentlich nur, weil der Verfasser ein Original ist. Seine Romane sind aber wenigstens zu etwas gut, nicht wie so viele andere, die zu nichts taugen! Beobachten sie die Wirkung, die dieser da auf Ihren Zögling haben wird, und dann werden sie mir recht geben. Er interessiert sie, weil sie darin unter Bekannten ist, aber zugleich wird er ihr einen Widerwillen gegen die Blondelat einflößen und damit gegen das Laster … Da lacht sie wieder. Sie müssen herausbekommen, welche Stelle ihr so viel Spaß macht.«

Sogleich ging die Gouvernante zu ihr und fragte sie:

»Warum lachst du, Kind?«

»Weil da einem widerlichen Finanzmann eine famose Falle gestellt wird … Haha! Wenn Mama Blondelat das Buch gekannt hätte!«

»Dann würde sie darüber errötet sein, denn sie würde sich selbst und ihr infames Betragen darin wiedererkannt haben.«

»Wahrhaftig, darin haben sie recht! Sie hat mir fast dasselbe gesagt, was ich in einem anderen Kapitel gelesen habe.«

»Fahre nur fort, Kind, und du wirst bald sehen, wie Solche Weiber beurteilt werden müssen. Sei auch versichert, der Verfasser hätte die Geschichte dieser Elenden nicht niedergeschrieben, wenn sie in der Folge nicht den verdienten Lohn finden würde! Nur Tugend allein führt zum Glück.«

»Schön, ich will weiter lesen, das Buch interessiert mich, bitte, lassen sie mich allein.«

Frau Saint-Didier gab Herrn des Glands die Stelle an, über die Psyche so herzlich gelacht hatte, und er erwiderte:

»Sie lachte mehr aus jugendlicher Unerfahrenheit, als aus Verdorbenheit. Sie ist übrigens schon gegen den Finanzier eingenommen. Ich will ihr das nicht als Verdienst anrechnen, da es nur zu natürlich ist, aber sie fängt doch schon an, richtig zu empfinden. Achten Sie auf alle ihre Eindrücke bei der Lektüre. Da sehen Sie, jetzt ist sie sehr ernst … Sie muß beim folgenden Kapitel, Der Geliebte, sein. Das wird ihr zu denken geben, und sie wird mich für einen zweiten de Combleval zu halten geneigt sein. Im folgenden Kapitel, wo dieser der schönen Felizitas enthüllt, welch infames Weib die Verführerin ist, wird sie noch mehr aufgeklärt werden. Ich will mir doch das Vergnügen machen, in ihren Zügen die Erregungen ihrer Seele zu lesen, wenn sie an diese Stelle kommt …«

Als Psyche an dieses Kapitel gekommen war, las sie mit noch größerer Aufmerksamkeit. An einer bestimmten Stelle hörte sie auf, zu lesen, ließ ihre Blicke umherschweifen und sagte dann leise vor sich hin:

»Man läßt mich auch hier lesen, aber keine Bücher, die mich verderben sollen, dieses da klärt mich auf.«

Sie fuhr fort zu lesen. Aber kaum war sie zwei Seiten weiter, als sie aufsprang, mit dem Buch in der Hand zu ihrer Erzieherin eilte und ausrief:

»Ah! meine liebste Freundin, hat Herr des Glands denn dieses Buch eigens für mich schreiben lassen? Sagen Sie es mir, bitte, da lese ich gerade etwas, was mir Mama Blondelat stets zu sagen pflegte.«

Dann las sie mit Eifer weiter, bis sie an das Kapitel Moral kam. Die Tugendlehren, von denen es wimmelt, setzen in Erstaunen, denn man möchte kaum glauben, daß sie aus der Feder desselben Verfassers stammen, der in so manchen seiner Werke die Tugend in Freudenmädchen verkörpert, wenn man nicht seinen Stil und seine Schreibweise kennen würde. Psyche unterbrach oft die Lektüre, um nachzudenken. Als sie das Kapitel beendet hatte, kam sie zu ihrer Erzieherin gelaufen und sagte:

»Das ist ein ausgezeichnetes Buch, soweit ich es verstehe, vielen Dank dafür, daß Sie es mir zu lesen gegeben haben! Ich bin sehr gespannt darauf, was aus Felizitas geworden ist. Lassen sie mich morgen recht früh wecken, damit ich mehr Zeit zum Lesen habe.«

Ich will mich in weitere Einzelheiten, zu denen die Lektüre dieses Werkes Anlaß gab, nicht mehr einlassen, ich will nur noch anführen, daß, als sie beendet war, Psyche schon eine ganz andere zu sein schien. Sie fing an, zu begreifen, was für sonderbare Ansichten ihr bisher beigebracht worden waren, wie falsche Grundsätze die Blondelat gehabt hatte, mit einem Wort, sie verstand jetzt, daß es eine Tugend und viele Laster gäbe.

Die Lektüre des Verführten Landmanns klärte sie vollends auf. Psyche fand in Zéphire ein Mädchen, das in gleicher Lage war, wie sie, da sie ebenfalls über dieselbe aufgeklärt wird und dann Abscheu davor empfindet.

»Das bin ich,« sagte sie im Lesen, »großer Gott, wie gut ist doch Frau Saint-Didier und wie edel und nachsichtig Herr des Glands! Wie soll ich soviel Güte jemals lohnen?«

Später sind Mucker, Böswillige und Schafsköpfe über dieses Werk hergefallen, der Verfasser aber, der seiner Sache sicher war, ließ sich durch ihr Gebrüll nicht anfechten und erwiderte darauf einfach: »Nicht die geistig Gesunden, sondern die Kranken bedürfen der Medizin.«

Was die geistige Erziehung Psyches vollendete und ihr Geschmack an der Tugend beibrachte, war die Heloise von Jean Jaques Rousseau. Dann folgten die Romane Richardsons. Nach der Lektüre von Clarissa empfand sie endlich Abscheu vor dem Scheusal, das im Begriff gewesen war, sie zu verderben, und dessen Händen sie nur durch das Zusammenwirken verschiedener Umstände entronnen war. Ihr schauderte.

Nun ging es alle Tage besser mit ihr; sie wurde bescheiden, schüchtern, und da sie im Grunde einen ausgezeichneten Charakter besaß, von Natur aus sich zur Tugend hingezogen fühlte und nur aus Unerfahrenheit auf Abwege geraten war, so kehrte sie unmerklich auf den Pfad der Tugend zurück und wurde ein reizendes Mädchen. Frau Saint-Didier verfolgte mit einem Gemisch von Furcht und Hoffnung die Fortschritte ihres Zöglings und verdoppelte ihre Zärtlichkeit für sie. Endlich kam der Augenblick, wo sie offen über alles mit ihr sprach, ihr die ganze Größe ihrer Pflichten vor Augen führte und so durch das lebendige Wort und durch moralisches Beispiel beendete, was die Bücher begonnen hatten. Ich will hier eines ihrer Gespräche bringen.

»Liebe Frau Saint-Didier, ich habe Ihnen heute Morgen viel zu sagen! Schenken sie mir wenigstens eine Stunde und schicken sie mich nicht, wie sonst, wenn ich Sie etwas frage, gleich wieder zu meinen Büchern, denn ich habe sie alle gelesen. Also sagen sie mir, sind die Frauen nicht für die Männer geschaffen?«

»Gewiß, mein Kind.«

»Ah! Gut! denn sonst hätte ich mich nicht mehr ausgekannt … Warum hat man in dem, was ich gelesen habe, stets das größte Lob für den Widerstand, den sie dem Willen der Männer entgegensetzen?«

»Ihrem Willen? Nicht doch, nur dem Mißbrauch, den sie mit ihrer Macht treiben.«

»Was ist Mißbrauch? Ich verstehe das nicht recht. Denn wenn wir für die Männer da sind, dann ist es doch sonderbar, Mißbrauch zu nennen, was sie von uns verlangen, und es uns als Verdienst anzurechnen, wenn wir widerstehen?«

»Dein Erstaunen kommt daher, daß du die Begriffe verwechselst: in allem Erlaubten und Anständigen müssen wir ihnen zu Willen sein, das ist unsere Verpflichtung.«

»Aber was ist erlaubt?«

»Ihnen entgegenzukommen, freundlich zu ihnen zu sein, ihnen gefällig zu sein und Kummer zu ersparen.«

»Sehr gut! Sie sprechen beinahe wie die Blondelat!«

»Ich denke doch nicht! Denn es gibt Dinge, mein liebes Kind, in denen man ihnen nicht zu willen sein darf … sei still, ich will deinen Fragen zuvorkommen: gerade in ihren zügellosen, leidenschaftlichen Liebeswünschen, von denen deine Verführerin dir gesprochen hat, darf man ihnen nicht zu willen sein.«

»Und warum denn nicht?«

»Ich will es dir sagen, und alles, was ich dir darüber auseinandersetzen werde, ist in der Natur begründet und beruht auf Sitte und Moral. Die Natur lehrt unser Geschlecht, die Liebkosungen der Männer und die Freiheiten, die sie sich gegen uns erlauben, zu fliehen. Der Grund dafür ist ein doppelter: erstens, weil zu leichtes Sichergeben die Männer abstößt, ihr Gefühl für uns abstumpft und ihnen Verachtung und Abscheu gegen uns einflößt, und zweitens, weil die Frau bei diesen Liebesspielen viel, der Mann nichts verliert. Sie verliert Schönheit und Gesundheit, denn Schwangerschaft und Kindernähren hinterlassen stets verheerende Spuren. Deshalb verlangt die Natur, daß die Frau soviel als möglich widersteht. Damit aber die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes nicht darunter leidet, hat sie andrerseits auch wieder gewollt, daß dieser Widerstand den Mann reizt, das Weib zu begehren, und so fort. Daraus folgt, daß eine leicht zugängliche, oder, wie die Männer sagen, schwache Frau, die alles über sich ergehen läßt und sich ihnen an den Hals wirst, ihr Mißfallen erregt, und die Gesellschaft hat als feststehenden Grundsatz angenommen, diese Frauen als minderwertig und entartet zu bezeichnen, indem sie sie liederliche, schamlose und wollüstige Weibsbilder nennt und aus ihrer Mitte ausstößt. Die Männer haben aus dieser Auffassung ein Gesetz gemacht, und dieses Gesetz muß jede Frau beobachten, wenn sie Anspruch auf das, was man Ehre nennt, machen will.«

»Ich fange an, zu begreifen! Das alles habe ich wahrhaftig nicht geahnt!«

»Alle jungen Mädchen, die etwas auf ihre Ehre halten, suchen daher auch wie einen kostbaren Schatz die Blume ihrer Keuschheit zu bewahren, weil man sie nur einmal und dann für immer verliert.«

»Aber wozu sie bewahren, liebste Freundin?«

»Meine liebe Psyche: wie man den Frauen zum Gesetz gemacht hat, den Wünschen der Männer zu widerstehen, hat man uns auch andrerseits die Möglichkeit gegeben, unserem natürlichen Drange folgen zu können, indem man die Ehe einrichtete, einen heiligen Stand, den Gesetze und Religion autorisieren, und in dem die beiden Geschlechter das Recht haben, sich miteinander zu vermischen. Ich will dir beweisen, liebes Kind, daß nicht eine bloße Laune oder der Wille der Männer allein diesen Akt in der Ehe zu einem erlaubten, selbst geweihten gestempelt hat, der nach denselben Gesetzen und derselben Religion sonst ein Verbrechen darstellt. Indem die Gesetze eine Frau einem Manne geben und erstere dazu verpflichten, diesem ihre Schönheit und Freiheit zu opfern, folgen sie dem Gebote der Natur, verpflichten aber gleichzeitig den Mann, die Stütze der Frau zu sein und sie in allen Übeln, die die Natur für sie fürchtet, der Schwangerschaft, der Niederkunft, der Kindesernährung usw. zu behüten. Da es aber nicht genügen würde, wenn die Frau, um alle diese Vorteile im Laufe eines langen Lebens zu genießen, sich nur einfach hingebe, so verlangen Gesetze und Religion, um sie dem Manne noch teurer zu machen, daß sie sich rein hingibt, das heißt, ohne vorher mit anderen Männern zu tun gehabt zu haben, ohne anderen ihre Reize dargeboten zu haben, ohne anderen das Vergnügen bereitet zu haben, das eine Folge der Liebkosungen zwischen Ehegatten ist. Du wirst verstehen, daß dies eine Frau noch wertvoller machen muß, gerade wie wir im gewöhnlichen Leben auch das höher bewerten, was nicht Gemeingut aller ist. Aus eben denselben Grundsätzen folgt, daß die Frau nach ihrer Hochzeit dem Manne treu bleiben muß, damit er sie beständig liebe, damit er sicher sei, die Kinder seien von ihm, und damit er diese liebe, beschütze, ernähre und für sie wie für die Mutter mit Freude und Zufriedenheit, in Ruhe und Frieden arbeite.«

»Jetzt begreife ich alles, beste Frau Saint-Didier, und sehe, daß die Blondelat mich irre geführt hat! Was sie mir gesagt hat, ist im Grunde auch wahr, aber sie hat es falsch angewandt. Ich sehe ein, daß die Vernunft auf Ihrer Seite ist, daß jene nur ihren Vorteil im Auge, und daß sie die Absicht hatte, von meiner Unerfahrenheit Gebrauch zu machen, indem sie mich allen Männern auslieferte. Danach wäre ich nicht mehr würdig gewesen, die Gattin eines einzelnen zu werden.«

»Es ist nun nötig, Psyche, daß du alles vergessest, was die Blondelat dir gesagt hat, auch die Frau selbst vergessest, deren Bild deine Phantasie nur beschmutzt.«

»Die neuen Bücher, die ich nun noch bekomme, werde ich jetzt mit noch größerem Interesse lesen. Zudem finde ich, daß ich Herrn des Glands noch viel mehr verdanke, als ich dachte. Aber ich vermute, daß er mich zur Frau wünscht, weil er sich soviel Mühe mit mir gibt ?«

»Nur aus reiner Menschlichkeit handelt er so, liebes Kind. Es ist keine Rede davon, daß er dich jemals heiratet, denn er besitzt ein großes Vermögen, und du hast nichts!«

»Ach! Darin gleiche ich Pamela, und wenn er mich heiraten will, dann werde ich ihn lieben, wie sie B* liebte, nachdem sie seine Frau wurde.«

»Liebe Psyche, es klingt nicht schicklich, wenn ein junges Mädchen laut verlangt, einen Mann zu heiraten.«

»Wie, meinen Wohltäter? Doch, doch! Sie übertreiben wirklich die Zurückhaltung!«

»Nein, liebes Kind, ich übertreibe nicht.«

»Oh, was wäre dann überhaupt erlaubt? Sie sagten selber, die einzige gesetzmäßige Art und Weise, einen Mann zu lieben, sei die Ehe?«

»Denk einmal nach, ob eines der Mädchen in deinen Romanen zuerst verlangt hat, einen Mann zu heiraten? Das ist unnatürlich, da unserem Geschlecht das Gefühl angeboren ist, den Mann zu fürchten und zu fliehen. Alle warten, daß man ihnen Anträge macht, und ergeben sich dann schüchtern und zurückhaltend.«

»Gewiß, das habe ich gelesen, aber nicht besonders darauf geachtet. Ich war sogar ein wenig ärgerlich auf sie, besonders auf diese Clarissa Harlowe, die nicht weiß, was sie will. Aber da Sie mir dies sagen, so will ich ihr verzeihen. Wie wäre es denn zu erreichen, daß Herrn des Glands der Gedanke kommt, mich zu heiraten, denn ich denke nur noch daran? Wie gern möchte ich seine Frau sein, um ihn so recht auf meine Art lieben zu können!«

»Ich kenne seine Absichten nicht, liebes Kind. Ich sehe auch vorläufig nicht, wie diese Heirat jemals zustande kommen könnte. Wie man ihn auf diesen Gedanken bringen könnte? Ich muß gestehen, das weiß ich selber nicht, glaube übrigens auch nicht, daß es mir erlaubt wäre, ihn darauf hinzuweisen. Es gibt übrigens einen Grund, der menschlich ist und ihn verhindern könnte, an eine Heirat mit dir zu denken.«

»Das verstehe ich nun wieder gar nicht.«

»Wer bist du, daß er dich zu seiner Gefährtin, zu seiner Gemahlin erwählen könnte, zu seinem anderen Ich, das ihn in seinem Hause vertreten könnte?«

»Oh, ich bin doch weiter nichts, als sein und Ihr Werk.«

»Mein liebes Kind,« erwiderte darauf Frau Saint-Didier, gerührt durch diese naive Bemerkung, »sei bescheidener und weniger ehrgeizig.«

»Ich wäre ehrgeizig? Ich weiß nicht, was Ehrgeiz ist!«

»Ich weiß es, du sprichst nur in deiner Unschuld so« …

Herr des Glands, der ihre Unterhaltung belauscht hatte, unterbrach sie hier. Er war von den Fortschritten seines Mündels gleich erfreut, wie von dem gefühlvollen Auftreten der Erzieherin, und die Tränen, die letztere bei der Antwort Psyches: »ich bin nichts weiter, als sein und Ihr Werk«, nicht hatte zurückhalten können, hatten ihn mit großer Genugtuung erfüllt.

»Madame,« sagte er bei seinem Eintreten, »wie finden sie unser Kind?«

»Sehr vernünftig, Herr des Glands, sie lernt aus allem.«

»Das hatte ich von Ihrer Sorgfalt für sie erwartet. Wäre es aber jetzt, wo wir sicher sind, daß sie sich zu einem ausgezeichneten Charakter heranbilden wird, nicht an der Zeit, Nachforschungen nach ihrer Geburt anzustellen?«

»Ich denke nicht, Herr des Glands, denn wer weiß, vielleicht gehört die Ärmste Leuten an, die noch viel unglücklicher sind, als sie selbst, und deren Auffinden für sie eine Schande und für sie eine Last wäre!«

»Weder das eine, noch das andere, seien sie dessen gewiß! Wenn sie solchen Standes wären, daß Psyche darüber erröten müßte, so würde ich dafür sorgen, daß sie nie kennen lernen sollte. Sind sie aber nur arm, so würde ihre Armut eine Last sein, die ich mit Freuden erleichtern würde.«

»Ich weiß, Herr, daß Sie edel sind! Aber wie die Ärmsten auffinden? Psyche kennt sie nicht.«

»Das Bild meiner Mutter«, mischte Psyche sich ins Gespräch, »ist auf dem Deckel der Schachtel, die Sie eingeschlossen haben.«

»Sind Sie sicher,« fragte darauf Herr des Glands, »daß es das Porträt Ihrer Mutter ist?«

»Man hat es mir immer gesagt, als ich noch Kind war.«

»Wie alt waren sie, als sie Ihre Eltern verloren haben?«

»Ich glaube, drei Jahre alt.«

»Wissen sie nicht, was sie waren?«

»Nein. Aber sie waren Edelleute, hatten Lakaien und eine Kammerzofe, dieselbe, bei der man mich zurückgelassen hat.«

»Hat diese Ihnen niemals etwas von Ihren Eltern erzählt?«

»Doch, aber sie hat mir nie ihren Namen genannt. Sie wollte es erst tun, wenn ich älter wäre, sie hätte ihre Gründe dafür und fürchtete meine Indiskretion, sagte sie.«

»Waren denn nicht irgendwelche Dokumente vorbanden?«

»Ich weiß es nicht gewiß, glaube es aber, denn die Blondelat sagte eines Tages zu mir: »Wenn wir recht viel Geld angehäuft haben, und dann ein junger Mann aus guter Familie sich in dich verliebt, dann habe ich etwas in Händen, das dir die Heirat erleichtern wird …« Sie schien es aber zu bereuen, so gesprochen zu haben, denn als ich sie aus Neugier einmal danach fragte, leugnete sie es ab und meinte, ich müsse geträumt haben. Doch ich versichere Ihnen, es war kein Traum.«

»Ich muß die Papiere haben, Frau Saint-Didier.«

»Ich werde mich damit befassen,« erwiderte diese.

»Nein, nein, Sie werden bei dieser Elenden nichts durchsetzen.«

Er ging, aber ohne zu sagen, daß er die Blondelat aufsuchen wolle. Er behandelte sie mit gewohnter Strenge, doch besänftigte er das Weib, indem er eine goldgefüllte Börse vor ihren Augen glänzen ließ. Er sagte ihr auf den Kopf zu, daß sie Dokumente in Händen habe, die Aufschlüsse über die Geburt Psyches geben könnten. Zuerst leugnete sie hartnäckig, so daß sie des Glands beinah überzeugte, daß solche Papiere nicht daseien. Bevor er sich aber ergab, wandte er noch ein letztes Mittel an, indem er seinem Anerbieten die Drohung hinzufügte, er müsse sonst die Polizei veranlassen, bei ihr in seiner Anwesenheit eine Hausuntersuchung vorzunehmen. Das wirkte. Das Weibsbild war wütend und schimpfte, des Glands wolle ihr, nachdem er ihr das von ihr so sorgfältig erzogene Kind entführt, nun auch die Beweismittel wegnehmen, die ihr eines Tages eine schöne Belohnung einbringen könnten.

»Jawohl!« unterbrach des Glands sie, »eine Belohnung! Sie sollen die verdiente haben, wenn sie sich nicht fügen.« Nachdem sie sich noch lange gesträubt hatte, lieferte sie ihm endlich ein Dokument aus und gab auch zu, daß er alle übrigen Papiere, die sie noch besaß, prüfte. Aber nur das eine bezog sich auf Psyche. Er übergab der Elenden die versprochene Summe und eilte dann nach Hause. Er begab sich sofort zu Psyche und Frau Saint-Didier und las ihnen das Schriftstück vor, es lautete:

»Wir, Alexander-Diomedes-Basil de S*** und Leonore Psyche de la F***, haben unserer Kammerzofe Claudia Julia Leclapart unsere einzige Tochter anvertraut, die uns in legitimer Ehe geboren und auf die Namen Theodora Psyche de S*** getauft wurde. Sie ist drei Jahre alt. Damit Sie sie gut erziehen könne, lassen wir ihr alles zurück, was uns ehrenwerte Leute in Paris noch schulden, im ganzen eine Summe von 25000 Franken. Wir hoffen, unser liebes Kind wiederzusehen, bevor das Geld aufgebraucht ist. Unterzeichnet von uns, damit Claudia Julia sich damit ausweisen und bezahlt machen könne.

Geschehen zu Paris, den 16. März 17**
**de S***
Leonore-Psyche de la F***
**de S****«

»Sie sehen, Frau Saint-Didier,« bemerkte des Glands nach dem Verlesen, »daß Psyche die Tochter vornehmer Eltern ist, die nach der unglücklichen Geschichte, welche vor zwölf Jahren soviel Staub auswirbelte, verschwunden sind. Wir haben ein kostbares Pfand in Händen und müssen jeden Augenblick bereit sein, darüber Rechenschaft ablegen zu können.«

»Sie haben recht, Herr des Glands,« erwiderte Frau Saint-Didier errötend.

Als sie mit Psyche allein war, wies sie sie auf ihre hohe Geburt hin, um sie noch mehr zur Tugend hinzuführen und sie anzuregen, mit Mut den beschrittenen Weg weiter zu verfolgen.

»Jedermann, liebes Kind,« meinte sie, »hat die Verpflichtung zur Tugend, da aber Edelleute und Reiche der Gesellschaft weit mehr schuldig sind, als die Armen, so sind sie auch desto mehr gehalten, die Tugend zu üben, die die Stütze derselben Gesetze ist, dank denen sie ihre Vorrechte genießen. Gewöhnliche Menschen machen sich schuldig, wenn sie sie verletzen, Edelleute aber werden dadurch zu Schuldbeladenen und Narren zugleich, die höchster Verachtung wert sind.«

Psyche fühlte die ganze Bedeutung dieser weisen Belehrung, und ihre Seele, die sich bei der Kenntnisnahme von ihrer sozialen Stellung erweitert hatte, legte nun vollends alles Niedrige und Gemeine ab, in das die Blondelat sie getaucht hatte.

Am nächsten Tage stellte des Glands heimlich Nachforschungen nach den Eltern seiner Schutzbefohlenen an. Er erfuhr auf Umwegen, daß Psyches Mutter nach Verlauf von sieben oder acht Jahren nach Frankreich zurückgekehrt sei und Zuflucht in einem Kloster gefunden habe, nachdem sie vergebens ihre Tochter gesucht habe. Nun handelte es sich nur darum, zu wissen, in welches Kloster sie sich zurückgezogen habe. Eine Person, die es wußte, führte ihn dahin, es war dasselbe, das auch Frau Saint-Didier aufgenommen hatte. Schwester*** wurde ins Sprechzimmer gerufen. Sie kam und erklärte, die betreffende Dame habe das Kloster verlassen, um eine Stelle als Erzieherin anzunehmen. »Aus welchen Gründen«, fügte sie hinzu, »erkundigen sie sich nach der ***de S***?«

»Nur, um sie zu Dank zu verpflichten, indem ich ihr ihre Tochter wiedergebe.«

»Aber es ist doch sonderbar, daß gerade Sie, der sie doch zu sich genommen hat, nach Frau Saint-Didier fragen!«

»Wie? Frau Saint-Didier wäre die ***de S***?«

»Sie selbst! … Wie? Sie wußten es nicht? Da war ich vielleicht zu voreilig!«

»Nein, Schwester, nein, denn diese Entdeckung erfüllt mich mit der höchsten Freude. Sollten sie Frau Saint-Didier sehen, so verschweigen sie ihr, ich bitte Sie darum, daß Sie mich von allem unterrichtet haben, denn sie soll von meiner Seite so schnell noch nichts erfahren.«

Darauf kehrte er nach Hause zurück, außer sich vor Freude, daß er seinem Zögling die eigne Mutter als Erzieherin gegeben hatte. Er konnte natürlich nicht daran zweifeln, daß Frau Saint-Didier ihre Tochter an dem Porträt auf der Schachtel sofort wieder erkannt habe, aber er wollte ihr Geheimnis achten, da sie selbst es gewahrt wissen wollte, nur nahm er sich vor, ihr von nun volle Autorität über Psyche zu lassen. Von diesem Augenblick an konnte er mit wahrem Vergnügen beobachten, mit welcher Geschicklichkeit die zärtliche Liebe einer Mutter zu handeln verstand, welche Besorgnisse sie für die Tochter hegte, und welche Anstrengungen sie machte, um ihr eine Tugend beizubringen, die sie mit Sicherheit in den Stand setzen sollte, ihr in allem gehorsam zu sein an dem Tage, wo sie ihr eröffnen würde, daß sie ihre Mutter wäre.

In der Tat gönnte Frau Saint-Didier sich keinen Augenblick Ruhe und machte sich jeden Umstand zu nutze, ihre Tochter zu unterrichten und auf ihr Herz einzuwirken. Wenn Psyche bisweilen wieder in Ideen zurückfiel, die nach der Blondelat rochen, dann konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Besonders geschah dies bei einer Gelegenheit. Die Elende hatte einstmals zu Psyche gesagt: »Wenn du zufällig erführest, du seist von vornehmer Geburt, wie ich es glaube, so wäre das um so besser. Du würdest dadurch noch größere Leichtigkeit haben, mit der Welt zu verkehren und eines Tages vielleicht eine zweite Ninon de Lenclos werden können.« Zu gleicher Zeit hatte sie ihr eine Lebensgeschichte dieser berühmten Kurtisane vorgelesen, aber dabei wohlweislich alles Anständige ausgelassen. Als Psyche ihr diesen Streich in naivster Weise erzählte, hatte Frau Saint-Didier vor innerer Angst gezittert und ihre Tränen vor Herrn des Glands nicht verbergen können. Doch brauchte sie jetzt keine Angst mehr zu haben, denn Psyche wurde täglich ihrer Mutter und ihrer selbst würdiger. Sie wurde schüchtern und zurückhaltend. Wenn sie früher Herrn des Glands, sobald sie ihn bemerkte, entgegengesprungen war, so errötete sie jetzt, wenn er ihr Zimmer betrat und grüßte ihn in bescheidener Verlegenheit. Sie schämte sich nun ihrer früheren Vorstellungen von den Männern und wurde in ihren Worten, Blicken und Bewegungen zurückhaltender, als jede andere.

Wenn Herr des Glands bisher nur Gefallen an ihr gefunden hatte, so erfaßte ihn jetzt die zärtlichste Neigung für sie. Als Frau Saint-Didier dies bemerkte, gab sie ihrer Tochter weitere Lehren. Sie sagte, die Frauen müssen es sich wohl merken, daß Kühnheit und ein gewisser Leichtsinn, der bisweilen bis zur Frechheit gehe, und wie ihn die Pariserinnen von heutzutage an den Tag legen, wohl Gefallen hervorzurufen vermögen, aber nie wahre Zuneigung und aufrichtige Liebe. Man brauchte, meinte sie, nicht weit zu suchen, um den Grund dafür zu finden, daß die leidenschaftlichen Gefühle, die die Frauen heute erwecken, so wenig lange andauern. Psyche, in ihrer schüchternen Bescheidenheit, flößte Achtung ein, und diese Achtung erzeugte eine Liebe, wie ein ehrlicher Charakter sie nicht heißer empfinden konnte. Sobald Herr des Glands sich über seine Gefühle klar war, beschloß er, Psyche zu heiraten. Er beglückwünschte sich, daß er Frau Saint-Didier nicht hatte merken lassen, daß er von allem unterrichtet sei, denn der Gouvernante gegenüber fühlte er sich weniger beengt, als angesichts einer Mutter. Zudem stand Psyche an Geburt über ihm, und wer konnte wissen, ob man ihm nicht die Hand des jungen Mädchens verweigern würde, wenn die Angelegenheiten ihres Hauses inzwischen wieder einen günstigen Aufschwung genommen hätten? Er nahm sich daher vor, die Heirat zu beschleunigen, was keinen Mangel an Edelsinn verraten konnte, da er ja seine junge Gattin zur glücklichsten aller Frauen machen wollte. Er war reich, liebenswert, hochangesehen, er war sogar Edelmann, allerdings ohne Titel. Er beeilte insgeheim die Vorbereitungen zur Hochzeit, nicht in der Absicht, sie der Mutter zu verheimlichen, sondern nur, um ihr zeigen zu können, daß alles bereit sei, und um unvorhergesehenen Ereignissen weniger Zeit zum Eingreifen zu lassen. Als alles bereit war, sprach er eines Morgens bei seinem Schützling vor, als sie gerade folgendes Gespräch mit Frau Saint-Didier gehabt hatte:

»Du urteilst richtig, liebes Kind,« hatte diese zu ihr gesagt, »wenn du meinst, daß ich von den zärtlichsten Gefühlen für dich durchdrungen bin, aber deine Lage beunruhigt mich. Schon lange habe ich mit dir sprechen wollen, aber es war noch zu früh. Heute will ich es tun. Wo bist du, wenn wir es richtig betrachten wollen? Du, das junge, schöne Mädchen wohnst bei einem Manne, bei einem ledigen Herrn, der für dich sorgt, und von dem du alles empfängst! Welche Stellung! Was würde die Welt dazu sagen, wenn du bekannt wärest und sie es erführe? Wofür würde man dich halten? Denn man kennt ja die näheren Umstände nicht und weiß nicht, aus welcher Lage er dich gezogen hat. Man darf es nicht einmal wissen! Wirst du daher nicht für ein ausgehaltenes Mädchen gehalten werden? … Und ich? … Der Gedanke ist furchtbar, er wäre noch furchtbarer, wenn du wüßtest, wer ich bin!«

»Liebste Freundin, Sie stimmen mich traurig, um so trauriger, als ich keinen Ausweg sehe.«

»Es gäbe einen: komm mit mir in ein Kloster, dort könnten wir von meiner Pension leben.«

»Oh! Wie grenzenlos undankbar wäre es, den zu verlassen, den sie stets meinen Retter, meinen Wohltäter nennen? Ihn ohne sein Wissen zu verlassen?! … Dazu bin ich unfähig! … Er liebt mich so zärtlich!«

»Ja, Psyche, er liebt dich! Er liebt dich heißer denn je, ich habe es wohl bemerkt, und das gerade macht mich zittern!«

»Beruhigen sie sich, Beste, er ist edel!«

»Ich weiß es, Kind, aber er hat ein Herz und du auch. Ist es da richtig, daß du bei deinem Geliebten wohnst und ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert bist? … Das Mittel, das ich vorschlage, ist hart, aber ich betone, es ist der einzige Ausweg aus dieser Lage!« …

»Ach, liebste Freundin, das geht über meine Kräfte! … Aber warum quälen sie mich, da es doch nichts nützt? … Doch will ich Ihnen eins sagen mit all der Aufrichtigkeit, die Sie an mir kennen: hielte nicht die Furcht, undankbar zu sein, mich davon ab, so würde ich Ihnen ins Kloster folgen … Sagen sie mir, würden Sie sich nicht auch diesen Vorwurf machen?«

»Wenn du die Welt kenntest, liebes Kind, die Strenge, mit der so etwas beurteilt wird nach Brauch und Sitte, dann würdest du nicht zaudern.«

»Er liebt mich, tausendmal hat er es mir gesagt und versichert, daß meine Anwesenheit sein Glück sei, daß mein Fortgehen ihn zum beklagenswertesten aller Menschen machen würde … Oh! Ich Unselige, warum mußte ich seine Ruhe stören, indem ich mich hier eindrängte!«

»Du bist ihm mehr zugetan, als du denkst, liebe Psyche!«

»Mehr zugetan, als ich denke? Ich hänge an ihm, wie an einem Vater, dem ich das Leben verdanke, und an Ihnen, wie an meiner Mutter.«

Frau Saint-Didier küßte ihre Tochter zärtlich, und da Herr des Glands befürchtete, daß sie sich entdecken würde, so unterbrach er diese Szene, indem er eintrat.

»Psyche,« wandte er sich an seinen Schützling, »seit einiger Zeit beschäftige ich mich ernstlich damit, eine gute Partie für sie zu finden, seit Wochen arbeite ich daran. Sie kennen mich, ich kenne Sie. Ich glaube, unsere Charaktere passen zu einander, und so biete ich Ihnen denn meine Hand und meinen Namen an. Sprechen sie. Alles ist bereit! … Wenn ich nicht früher gesprochen habe, so geschah dies nur – denn Ihrer, reizendes Mädchen, war ich sicher, Sie würden mich nicht Lügen gestraft haben –, um Ihnen und Frau Saint-Didier jede Mühe und Unruhe zu ersparen, und weil wir uns sonst, wenn sie meine Heiratsabsichten gekannt hätten, hätten trennen müssen, obwohl Sie hier bei einem Freunde, einem zweiten Vater wohnen. Mein Vorgehen hat diese Unannehmlichkeit vermieden, worauf mich auch der Pfarrer unserer Gemeinde, der uns trauen wird, aufmerksam gemacht hat. Teure Psyche, sind Sie damit zufrieden, daß ich alles vorbereitet habe, was Ihr Schicksal an das meine ketten soll? … Reden sie, teures Mädchen.«

»Sie sehen, liebste Freundin, wie er handelt! … Lieber Herr des Glands, alles, was mich fester an sie ketten kann, macht mein Glück aus!«

»Oh, Psyche! Sie sind mein Glück, mein alles! … Ihre Liebe macht mich zum glücklichsten der Menschen! … Unterzeichnen sie dieses Schriftstück … Wollen Sie, liebe Frau Saint-Didier, Mutterstelle an ihr vertreten und ebenfalls unterzeichnen …«

»Ich? Und wenn Psyche Eltern hat?«

»Die ganze Welt würde auf meiner Seite sein, Frau Saint-Didier, wenn sie versuchten, uns zu trennen. Ich habe alle Rechte über Psyche erworben, ich habe ihre Ehre, vielleicht ihr Leben gerettet …, ich liebe sie und werde von ihr wiedergeliebt. Alles ist bereit, der Altar erwartet uns. Unterzeichnen sie, ich bitte Sie darum, erweisen sie einem Freunde diesen Dienst!«

»Oh! Unterzeichnen sie, beste Frau Saint-Didier bat auch Psyche.

»Sie gehen in die Kirche, Herr des Glands?«

»In die Kirche. Alles ist vorbereitet, der Pfarrer benachrichtigt, er kennt meine Absichten und hat sich von Psyches Gefühlen selbst überzeugt.«

»Das ist wahr,« bestätigte diese.

»So hört mich alle beide an: mit welchem Recht berauben sie Psyches Eltern der liebevollen Pflicht, selbst über ihr Kind zu verfügen?«

»Ihr Kind? Sie ist mein Kind!« rief des Glands aus.

»Ich will zugeben, daß sie Ihnen ebensoviel, vielleicht mehr noch verdankt, als ihren Eltern, obwohl Sie nicht wissen können, was diese für sie, seitdem sie bei Ihnen weilt, getan haben.«

»Madame, die Zeit drängt. Sie wissen, daß ich Psyche liebe, Sie wissen ferner, wie ich mich mit dieser Leidenschaft für das reizende Geschöpf im Herzen gegen sie betragen habe, die ich täglich um mich hatte, haben Sie nun auch Mitleid mit mir und gewähren sie mir Ihre Hilfe … oder, wir gehen allein.«

»Warten sie noch einen Augenblick! … Lieber Herr des Glands … Setzen sie sich an meine Stelle … ich habe einen unglücklichen, geächteten Mann … darf ich ihm das letzte seiner Rechte antasten und seine Tochter gegen seinen Willen verheiraten?«

»Seine Tochter!« riefen des Glands und Psyche wie aus einem Munde … »Sie sind also …« fuhr letztere fort …

»Deine unglückliche Mutter, mein liebes, liebes Kind!«

Bei diesen Worten fiel Psyche ihr zu Füßen, und eine Zeitlang war nichts als Schluchzen zu vernehmen. Auch Herr des Glands ließ seinen Tränen freien Lauf. Als alle sich ein wenig beruhigt hatten, dankte Frau Saint-Didier ihm für alles, was er für ihre Tochter getan hatte und besonders für die Art und Weise, wie er seinem Werke die Krone aussetzen wolle und fuhr dann fort:

»Sie sehen, Herr des Glands, wieviel ich, die Mutter, Ihnen danke, ich danke Ihnen noch viel mehr, als sie, denn ich liebe sie mehr, als mein Leben. Ich will daher auch, obwohl ich ihre Mutter bin, nicht von den Rechten einer solchen Gebrauch machen. Sie sind ihr Herr und der meine. Ihre Handlungsweise hat Mutter und Tochter gewissermaßen zu Ihrem Eigentum gemacht. Aber gestatten sie mir nur, Sie eines zu fragen: muß ihr Vater nicht erst von allem unterrichtet werden? Würden sie sich seine ungerechte Verbannung zunutze machen wollen? Werden ihm Tochter und Schwiegersohn solchen Kummer bereiten wollen?«

»Ich will Ihnen gehorchen, gnädige Frau,« gab Herr des Glands darauf traurig zur Antwort, »Sie verzichten scheinbar auf Ihre Rechte, nur um ihnen noch größere Kraft zu verleihen, als ob der Titel Mutter durch mich je hätte verletzt werden können: Sie sind die Mutter Psyches, daher auch die meine, gebieten sie Ihren Kindern!«

»Herr des Glands,« nahm nun das junge Mädchen das Wort, »Sie ist meine Mutter, und ich würde vorziehen, unglücklich zu werden, als ihr ungehorsam zu sein, aber auch lieber zu sterben, als mich Ihnen undankbar zu erweisen. Ich fühle es, daß Ihr heutiger Vorschlag allen Unannehmlichkeiten ein Ende bereiten würde, die Mama mir vorhin vor Augen geführt hat. Ich unterwerfe mich Ihnen beiden, meiner Mutter aus Pflicht und kindlicher Liebe, Ihnen, Sie wissen warum! Verfügt beide über mich, eure Anrechte sind die gleichen, aber ich besitze kein Recht mehr, seitdem ich eine Mutter habe.«

Solche Gefühle erfüllten die Mutter mit stolzer Freude. Sie schlug vor, sofort an ihren Mann zu schreiben. Herr des Glands sah diese Notwendigkeit ein, bat sie aber, Psyche in seinem Hause zu lassen, bis die Antwort einträfe. Sie antwortete ihm darauf:

»Mein lieber des Glands, ich will nicht, daß Mutter und Tochter Ihnen mit Undank lohnen, der Beweis von Aufmerksamkeit und Achtung, den wir meinem Manne geben, genügt mir. Ich will ihm schreiben. Richten auch Sie und meine Tochter einige freundliche Zeilen an den unglücklichen Vater!«

Alle nahmen sofort die Feder in die Hand und schrieben, was das Herz ihnen eingab. Frau Saint-Didier las dann ihren Brief mit Ausnahme einer halben Seite ihren Kindern vor und überflog die anderen beiden Briefe. Sie war mit deren Inhalt sehr zufrieden und besonders sehr erfreut von dem, was Psyche geschrieben hatte. Darauf schickte sie die Schreiben durch einen Diener an eine Adresse, die sie ihm näher bezeichnete.

»Mein lieber Freund,« sagte sie darauf zu ihrem zukünftigen Schwiegersohne, »die Hochzeit kann trotzdem noch heute stattfinden, nämlich sogleich nach der Rückkehr des Dieners.«

Diese Worte führten die Freude wieder in die Herzen der Liebenden zurück, und sie bedeckten die Mutter mit ihren Liebkosungen. Kurze Zeit darauf kehrte der Diener zurück. Ein Greis, in einen langen Mantel gehüllt, begleitete ihn. Sofort eilte Frau Saint-Didier auf diesen zu und fragte ihn erstaunt:

»Wie? Sie kommen selbst?«

»Ja,« erwiderte der Greis, »ich konnte es mir nicht versagen, meine Tochter zu sehen und den edlen Mann persönlich kennen zu lernen, von dessen Taten sie mir seit zwei Jahren soviel Gutes berichtet haben.«

Und er schloß, halb ohnmächtig vor Freude und innerlicher Rührung, Psyche in seine Arme.

»Und damit gebe ich dich ihm,« sagte er dann zu ihr, »deinem Wohltäter, ihm, der die arme, von allen Verlassene, in sein Herz schloß und sie, die Tiefgesunkene, achtete. Aber er wird dabei nicht verlieren, denn mein Prozeß ist untersucht und wieder aufgenommen worden, ich habe meine Freiheit wieder, seit heute Morgen weiß ich es … Herr des Glands, Ihre Gattin bringt Ihnen in die Ehe mehrere schöne Güter mit und einen Titel, den ich Ihnen verschaffen werde. Ihr Verdienst ist darum nicht geringer, da Sie im Begriff waren, sie als arme Waise zu heiraten! Und nun zur Kirche.«

Meine jungen Leser, glaubt mir: welchen Reiz das Laster auch haben mag, welche Vergnügungen auch immer es verspricht – seid trotzdem gewiß, daß die Tugend trotz ihrer anscheinenden Herbheit doch ganz andere Freuden gewährt. Urteilt selbst darüber aus obiger Erzählung: Angenommen, des Glands wäre ein Lüstling gewesen und hätte das Gastrecht verletzt, oder das junge Mädchen nur deshalb zu sich genommen, um seine rohe Leidenschaft zu befriedigen, welch‘ trauriges Vergnügen hätte ihm das lasterhafte Treiben mit diesem Kinde gewähren können, Selbst wenn ihn keine Gewissensbisse geplagt hätten? Wahrhaftig ein gemeines Vergnügen, wie es ihm auch die gemeinste Dirne verschafft hätte! Was hat ihm im Gegenteil die Tugend gewährt! Ah! Selbst ohne den Reichtum, den Titel und die Ehren, die man ihm in Aussicht gestellt hat, ist er durch die schöne Psyche der glücklichste Ehemann geworden!

  1. Die beiden letztgenannten Bücher von Rousseau, die anderen sämtlich von Retif selber. C.

Der Weg des Lasters.

»Principiis obstac, sagt Ovid.
Widerstehe dem Anfang des Bösen.

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Indem ich meiner Gewohnheit folge, nur wahre Begebnisse zu erzählen, wird diese Novelle vielleicht weniger pikant werden, als ich sie sonst hätte machen können, denn die Steigerungen des Wahren lassen sich oft nicht mit derselben Genauigkeit abstufen, wie die des Wahrscheinlichen. Aber der Leser wird dadurch einen anderen Vorteil haben, er wird herausfühlen, daß man häufig bei diesen Steigerungen nicht stehen bleiben darf, und daß in der Wirklichkeit Umstände eintreten können, die bewirken, daß ein Mensch, der seinem Untergang zueilt, oft nach dem ersten Schritt gleich in den Abgrund stürzt. Ganz so wird es der Heldin dieser Geschichte indessen nicht ergehen, sie geht allmählich zugrunde. Aber ich muß gestehen, daß sie meinem Zweck nicht ganz so dient, wie ich es gewünscht hätte. Ich hatte mir vorgenommen, ein Bild zu entwerfen, das Eltern und Kindern gleich nützlich hätte sein können, indem er beide über die Schliche der kleinen Mädchen aufklärte, über die Fallen, die diesen von den Lüstlingen gestellt werden, und über die grausame und verächtliche Behandlung, die sie nach ihrem Falle zu erleiden haben. Das ist mir nicht ganz gelungen. Ich hätte meine Phantasie zu Hilfe rufen können, aber dann wäre es besser gewesen, gleich von A bis Z eine Geschichte zu erfinden, was gegen meine Absicht verstoßen hätte. Diese Vorrede ist etwas lang, sie war aber nötig, um der Kritik Böswilliger von vornherein den Stachel zu nehmen und nicht diejenigen gegen den Verfasser einzunehmen, die ihm wohlwollend gegenüberstehen.

In einer der beiden Rues du Plâtre zu Paris – ich weiß nicht mehr, in welcher von beiden – wohnte eine sehr hübsche Person, namens Elise Reidid, ein sehr talent- und verdienstvolles junges Mädchen. Sie hatte viel Leid erfahren und mußte, nachdem sie mehrere sehr gute Partien ausgeschlagen hatte, sich damit abfinden, entweder alte Jungfer zu werden, oder eine sehr gewöhnliche Ehe einzugehen. Sie glaubte sich für letzteres entschließen zu müssen. Der Mann, dessen Antrag sie annehmen wollte, hatte eine junge Nichte, die er aufzog, sie war vierzehn Jahre alt und von sehr sinnlichem Äußeren. Der Onkel schlug Elise vor, seine Nichte, Fanchonnette Geti mit Namen, zu sich zu nehmen, um sie zu erziehen. Elise nahm dieses Amt an. Fanchonnette zog also zur zukünftigen Frau ihres Onkels, und in wenigen Tagen verband die beiden jungen Mädchen eine innige Freundschaft. Das dauerte drei Jahre, das heißt, solange die kleine Fanchonnette mit dem lachenden Munde, dem Stupsnäschen und dem herausfordernden Blick noch ein Kind war.

Elise war so unvorsichtig gewesen, bei sich einige Freunde des Mannes zu empfangen, dem sie eines Tages angehören sollte, und sah auf diese Weise mehr Männer bei sich, als es einem Mädchen ihres Alters und ihres Standes, das mit einer alten Mutter allein wohnte, erlaubt ist. Für Fanchonnette war das ein großes Unglück. Sie war an und für sich schon zu lebhaft, anziehend und kokett, und hatte schon im Hause ihrer Eltern zu viel Freiheit gehabt. Man begegnet in der Pariser Gesellschaft nur allzuoft zynischen Männern, die es sich zur Aufgabe machen, ihre Sittenverderbtheit selbst den Unschuldigsten beizubringen. Sie suchen sich dazu besonders junge Mädchen aus und verlangen von ihnen, wenn sie mit ihnen allein sind, allerlei Unzüchtigkeiten. Aus Unerfahrenheit und Unschuld oder durch kleine Geschenke verführt, geben die Mädchen sich dazu her und gehen dann zu allerlei Berührungen über, die, ohne gerade verbrecherisch zu erscheinen, die Vorläufer der größten Zügellosigkeiten sind. Man muß in Häusern, wo man gezwungen ist, viele Leute bei sich zu sehen, die strengste Beaufsichtigung der kleinen Mädchen walten lassen und hauptsächlich auf die Männer acht geben, die sich ihnen nähern, besonders wenn sie ein angenehmes Äußere haben. … Man darf auch nicht so verfahren, wie ein Handwerker, den ich kenne, der im übrigen durchaus ehrenwert war und der seine beiden allerliebsten Töchter im Alter von zehn und zwölf Jahren seine Arbeiten zu den Kunden tragen ließ. Sie wurden des öfteren belästigt, ohne aber darüber zu sprechen. Erst als sie älter waren und wieder mal ein Kunde Gewalt anwenden wollte, um bei ihnen etwas zu erreichen, erzählten sie, was ihnen fast täglich passierte. So war es auch Fanchonnette ergangen. Ihr Vater war, wenn ich nicht irre, Schwertfeger und sandte seine Tochter stets zu den Kunden, die sich gegen sie Freiheiten erlaubten, über die sie nicht weiter sprach, weil sie sich dagegen sträubte und dachte, daß alle Männer so mit den Mädchen umgingen. Sie war also schon verdorben, als sie Elise anvertraut wurde. Leider sollte dieses neue Heim sie in ihren ersten Ansichten bestärken. Sie sah viele Männer bei der Herrin des Hauses und fand es ganz natürlich, daß alle ihr den Hof machten. Es war vielleicht nicht einer unter allen diesen, der sich nicht schon in petto vorgenommen hatte, eines Tages diese zarte Blume zu pflücken.

Mit sechzehn Jahren war Fanchonnette, wenn nicht schön, so doch so hübsch, daß sie selbst über Schönheiten den Sieg davontrug, da ihr Gesicht dem Geschmack unserer Zeit für unregelmäßige, aber doch reizvolle Züge entsprach. Der erste, der ihr bestimmte Anträge machte, war ein Student der Medizin, ein strammer Bursche, der von Gesundheit strotzte und, wie die meisten der jungen Männer von heutzutage, schamlos, unverschämt und spöttisch war. Er war der intimste Freund des ersten Geliebten Elisens und hatte geheime Absichten auf diese, die er sicherlich, wenn er ihren Charakter besser gekannt hätte, schnellstens aufgegeben haben würde. Demgemäß machte er ihr eifrigst den Hof, fiel aberglänzend bei ihr ab, und Elise nahm sich vor, in Zukunft den schönen Worten der Männer etwas weniger zu trauen. Ihre Zurückhaltung nahm dem Großtuer jede Hoffnung, und so beschloß er denn, sich an Fanchonnette schadlos zu halten, die weniger erfahren war. Aber es war schwer, sie allein unter vier Augen zu sprechen. Er machte täglich seinen Besuch im Haufe und suchte das junge Mädchen durch sein tadelloses Benehmen zu bestricken. Es konnte nicht ausbleiben, daß sich ihm schließlich doch einmal eine günstige Gelegenheit bot. Eines Tages war Elise ausgegangen, und der Student fand Fanchonnette allein zu Haufe. Er fing an, ihr Komplimente zu machen, die der Eitelkeit der Kleinen schmeichelten, sie lächelte ihm zu und spielte die große Dame, indem sie Haltung und Manieren ihrer zukünftigen Tante annahm. Im Grunde war sie es zufrieden, einen Verehrer dieser Art zu haben, denn d’Est*** – das war der Name des Studenten – stellte alle anderen Besucher Elisens in den Schatten. Er beherrschte sie und unterwarf sie sich durch seine imponierende Haltung oder machte sie durch seine beißende Ironie lächerlich. Das sind aber gerade die Männer, die die Frauen gern haben. Als er sah, daß er angenehmen Eindruck gemacht hatte, wagte er eine ziemlich leichtfertige Erklärung, die von kühnen Liebkosungen begleitet war. Fanchonnette stieß ihn zurück, aber so schwach, daß er daraus erkennen konnte, sie verlange nichts Besseres, als ihm nachzugeben. Die Dinge gingen daher bei diesem ersten tête-à-tête so weit, als es möglich war. Am nächsten Tage machte d’Est* ihr ein Geschenk. Er begegnete Fanchonnette auf der Treppe, als sie gerade vor ihm zu Elise hinaufgehen wollte. Er umfaßte ihre Hüften und sagte zu ihr:

»Wie schön sind Sie gewachsen!«

Die Kleine drehte sich um, und er raubte ihr einen Kuß. Sie errötete und wollte sich losmachen. D’Est*, der in ihren Augen keine Strenge sah, legte ihr einen sehr hübschen Schmuck um den Hals und sagte zu ihr:

»Teure Fanchonnette, tragen sie dieses zum Andenken an mich.«

»Ich trage es nicht.«

»Doch, es muß sein.«

»Was wird Fräulein Reidid dazu sagen?«

»Was sie will! Hat sie nicht auch von ihren Geliebten Geschenke angenommen? Glauben sie, daß sie von allen ihren Besuchern nichts erhält? Nur merken sie es nicht, denn sie ist schlauer als sie.«

»Dann … darf ich es auch tun. Ich werde Ihr Geschenk gut verschließen, damit sie es nicht sieht.«

»So ist’s recht, teure Fanchonnette.«

So nahm sie also das erste Geschenk des Verführers an. D’Est* küßte sie noch einmal und ließ sie dann vorangehen.

Er selbst folgte einen Augenblick später nach.

In Elisens Gegenwart nahm der Verführer sich zusammen und stellte sich, als ob er nur ihretwegen gekommen wäre. Elise beging einen großen Fehler. Sie hatte mit ihrem ersten Geliebten gebrochen und durfte daher dessen Freunde nicht mehr empfangen. Aber so sind die Frauen, sie sehen in den meisten Fällen falsch. In einer Anwandlung unangebrachten Ehrgefühls fuhr sie fort, die Freunde des Mannes zu empfangen, den sie hinausgewiesen hatte, nachdem sie nicht mehr hoffen konnte, seine Frau zu werden. Ohne es sich selbst einzugestehen, handelte sie wahrscheinlich so, um ihn zu kränken, aus Eigenliebe und kleinlicher Rachsucht, Motive, die uns automatisch leiten, ohne daß wir uns genau Rechenschaft davon geben. Die Besten lassen sich oft von Rachsucht leiten, obwohl sie behaupten und sogar glauben, sie fühlten keinerlei Zorn gegen den Menschen, der sie beleidigt hat. Man soll niemandem Böses tun und wäre es auch nur einer unschuldigen Taube, denn früher oder später wird man darunter zu leiden haben.

D’Est* hatte also sein Auge auf Fanchonnette geworfen, und da er sich auf dem besten Wege zum Erfolg sah, zähmte er seinen zänkischen Charakter, um sich bei Elise einzuschmeicheln. Dieser Mensch verfolgte eine Politik, wie man sie oft bei solchen Spottgeistern findet: niemals zu viel den Frauen nachgeben, die man gewinnen oder für seine Zwecke ausnützen will, im Gegenteil stets über sie eine Art Überlegenheit bewahren, um sie beherrschen und in Abhängigkeit halten zu können. Diese gefährlichen Charaktere wollen als Geliebte nur eine Sklavin und finden deren, selbst in unserer Zeit, so viel sie nur wollen , haben sie aber genug von einer Frau, und liegt es in ihrem Interesse, ihrer zu schonen, dann werden sie unterwürfig und glatt wie der Filinte Molieres oder der Hickmann Richardsons. Diese Haltung beobachtete d’Est* jetzt auch Elisen gegenüber, die davon entzückt war, und sich bereits überlegte, ob sie ihm nicht ihr Herz schenken sollte. Zum Glück erinnerte sie sich aber beizeiten ihres ersten Entschlusses, bei dem zu beharren sie sich vornahm.

So standen die Sachen, als der frühere Geliebte Elisens sie eines Tages durch d’Est* dringend um eine Unterredung bat. Er bestand so sehr darauf, daß sie nicht glaubte, sie ihm verweigern zu dürfen, sie verlangte aber, daß ihr gemeinschaftlicher Freund und Fanchonnette derselben beiwohnen sollten. Als aber der Unbeständige erschien, verlangte er, mit ihr unter vier Augen zu sprechen. D’Est* setzte es durch, daß Elise sich damit einverstanden erklärte, wofern die Unterredung in demselben Zimmer, am äußersten Ende, in der Fensternische statthaben könnte. so geschah es, und dort stellte der Ungetreue der Verlassenen den sonderbarsten und beleidigendsten Antrag, nachdem er ihr in einer langen Einleitung zu beweisen gesucht hatte, er sei gezwungen, eine reiche Frau zu heiraten, die sein Onkel für ihn bestimmt habe. Er fügte hinzu, daß er nichts für seine Zukünftige empfände, und wenn ihre Herzen noch füreinander schlügen, dann würden sie noch glücklich sein können,

»Inwiefern glücklich?« unterbrach ihn Elise naiv.

»Gewiß glücklich. Ich werde großen Reichtum haben. Durch meine Heirat erhalte ich das Vermögen meines Onkels und das meiner Frau. Ich will meinen Reichtum mit Ihnen teilen.«

»Mit mir?«

»Ja. Sie sollen der einzige Gegenstand meiner Liebe bleiben. Wir werden fortfahren, uns zu sehen, und ich werde dafür sorge tragen, daß Ihre Mittel …«

»Halten sie ein mein Herr!« unterbrach ihn Elise, die endlich ihn begriff, »kein Wort weiter! Sie hatten nicht nötig, Ihrer Wortbrüchigkeit und Ihren falschen Eiden noch diese gemeine Beschimpfung hinzuzufügen! Gehen sie, sonst halte ich mich nicht mehr vor Fanchonnette und Ihrem Freunde zurück. Hinaus!«

Während dieser Unterredung hatte d’Est* eine andere mit Fanchonnette.

»Ich bringe Ihnen eine gute Nachricht,« hub er an, »Fräulein Reidid wird nicht Ihre Tante werden.«

»Wieso?«

»Es werden andere Vereinbarungen getroffen werden.«

»Oh! bitte, erzählen sie!«

»Ihr erster Geliebter wird sich verheiraten. Da er indessen durch diese Heirat sehr reich werden wird und Elise immer noch liebt, so schlägt er ihr jetzt vor, er wolle sie als seine Mätresse unterhalten. Wie es scheint, willigt sie ein, denn, wenn sie nicht wollte, würde die Unterhaltung wohl etwas stürmischer sein.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Mein Freund wird eine Witwe heiraten, die sein Onkel für ihn bestimmt hat. Er liebt sie nicht und wird daher Elisen, die er liebt, wie seine Frau behandeln. Er wird ihr alles geben, was sie verlangt, und sie wird seine Mätresse sein.«

»So etwas ist also möglich?«

»Natürlich! In Paris gibt es wenigstens zehntausend kleine Haushaltungen dieser Art.«

»Ah! Das wußte ich nicht.«

»Also, meine reizende Fanchonnette, da ich ungefähr in der gleichen Lage bin, wie mein Freund, so werden wir es auch so machen müssen. Sie werden meine kleine Frau, und ich werde Sie von Herzen liebhaben.«

»Wie stürmisch Sie sind! … Oh! ich bin noch viel zu jung, um an so etwas zu denken! … Und dann darf ich auch so ohne weiteres nicht über mich verfügen. Ich werde mich beraten.«

»Fragen sie niemand darüber um Rat. Solche Sachen müssen geheim bleiben. Ich würde Ihnen zürnen, wenn Sie darüber sprächen. Die Sache ist erlaubt, sie geschieht überall, davon können sie sich überzeugen, wann sie wollen, aber – man spricht nicht davon!«

»Schön, schön, und ich kann Ihnen vertrauen?«

»Gewiß. Ich liebe Sie, und der Geliebte sorgt stets für seine Mätresse, wie kein anderer.«

»Sie sind also mein Geliebter?«

»Gewiß bin ich das!«

»Bis jetzt habe ich noch nicht gewußt, daß ich Ihre Mätresse bin!«

»Seit heute sind Sie es, das ist eine abgemachte Sache.«

»Durch Sie allein abgemacht?«

»Natürlich! Denn weiß vielleicht ein Kind, wie Sie, was ihm nottut?«

»Das ist wahr. Und ich will Ihnen vertrauen. Beschließen sie über mich, Sie sind mein Vater!«

»Das bin ich durch meine Liebe für sie und den Wunsch, Sie glücklich zu sehen.«

»Ich danke Ihnen von Herzen für solche Gefühle, aber wirklich, Ihre Mätresse zu sein … das ist doch zu komisch!«

»Ihre verflossene Tante ist weniger schwer zugänglich!«

»Ihr Beispiel ist für mich nicht bestimmend …«

In diesem Augenblick hörte man Elise mit erhobener Stimme zu ihrem ehemaligen Geliebten sagen: »Gehen Sie!« Dieser verließ in der Tat das Zimmer. Sein Freund blieb. Da Elise kein Wort von dem erwähnte, was zwischen ihnen vorgegangen war, so blieb Fanchonnette davon überzeugt, daß d’Est* ihr die Wahrheit gesagt habe. Sie dachte über seine Vorschläge nach und fand im Grunde nichts dagegen einzuwenden. Nachmittags fand sie Gelegenheit, allein auszugehen. D’Est* begegnete ihr und lud sie ein, mit ihm den Jahrmarkt von Saint-Laurent zu besuchen. Er machte ihr verschiedene kleine Geschenke und drang dann solange mit Bitten in sie, bis sie nachgab und mit ihm zu Nicolet ging. Fanchonnette war entzückt von dem, was auf der Bühne vorging. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie lachte aus vollem Herzen und gab sich ganz dem Vergnügen hin, obwohl sie von Zeit zu Zeit eine Unruhe empfand, die sie auch d’Est* gegenüber ausdrückte. Doch dieser beruhigte sie und gab ihr, obgleich er wußte, daß es nicht wahr sei, zu verstehen, Elise dächte gar nicht an sie, sie sei mit ihrem Geliebten zusammen usw.

Hinter Fanchonnette saß ein schon älterer Herr, der gespannt ihr Gespräch belauschte. Er war reich, sah, daß er eine Unschuld vor sich hatte und nahm sich vor, das Wild dem Studenten abzujagen, den er kannte, dem er selber aber unbekannt war.

Als sie hinausgingen, folgte er ihnen und fuhr ihnen nach. Bald verließ der Fiaker, in dem das Pärchen saß, den Boulevard und durchfuhr dann die einsamen Straßen des Marais. In der Nähe der Rue des Rosiers hielt er. D’Est* stieg aus, versuchte aber vergeblich, Fanchonnette zu überreden, ein gleiches zu tun. Sie weigerte sich, den Wagen zu verlassen und gab ziemlich laut ihre Gründe dafür an, so daß der Herr, der ihnen gefolgt war und der seinen Wagen ebenfalls hatte anhalten lassen, alles hören konnte.

»Man würde mich ausschelten,« hörte er sie sagen, »es ist schon sehr spät, ich kann nicht, ich will nicht!«

»Doch, doch, Sie müssen, ich will Ihnen nur einen Augenblick meine Wohnung zeigen und Sie nicht lange aufhalten …«

Aber Fanchonnette blieb fest, und d’Est* mußte wieder zu ihr in den Wagen steigen. Man fuhr also weiter, aber kaum hatte man einige fünfzig Schritte zurückgelegt, als sich trotz dem Gerassel der beiden Wagen Geschrei des jungen Mädchens vernehmen ließ. Der Herr, der sich für Fanchonnette interessierte, befahl seinem Kutscher, dem anderen Wagen vorzufahren und ihm dann den Weg zu versperren. Dies getan, stieg er aus und riß, begleitet von seinen Leuten, die Wagentür des Fiakers auf, um der Dame, die danach zu verlangen schien, seine Hilfe anzubieten. D’Est * war sehr unangenehm überrascht und stammelte einige Worte. Fanchonnettens Kleider waren in Unordnung. Der Besitzer der Equipage ließ sie in seinen Wagen tragen. Er sagte laut, er wolle sie nach Hause fahren lassen und bat sie, ihre Adresse anzugeben. Man schlug sofort den Weg nach ihrer Wohnung ein, einen ganz anderen, als d’Est* genommen hatte. Der Befreier Fanchonnettes bezeigte ihr die größte Achtung. Das junge Mädchen erholte sich bald von ihrer Erregung und wollte d’Est* rechtfertigen, ja sie bat ihren Befreier sogar, sie wieder zu ihm zu bringen, da sie besonders Schlimmes gegen ihn nicht vorbringen könnte. Aber die beiden Wagen waren schon zu weit voneinander entfernt, so daß ihr Wunsch nicht befriedigt werden konnte. Man traf zu Hause ein, wo Elise schon von der größten Unruhe verzehrt wurde. Herr D.I.C., der Befreier, entschuldigte Fanchonnette, bevor sie noch ein Wort sagen konnte, und versicherte, daß sie keine Schuld träfe, und daß er sie aus den Händen eines Mannes befreit hätte, gegen den sie sich zu verteidigen gehabt hätte. Das junge Mädchen wollte als reine Unschuld dastehen und wagte daher kein Wort zur Verteidigung d’Est*s, den Herr D.I.C. mit Namen bezeichnet hatte. Als Elise diesen Namen hörte, stieß sie einen schweren Seufzer aus, sie sah darin, was gar nicht der Fall war, ein Komplott, sie und alles, was mit ihr zusammenhinge, in den Schmutz zu ziehen. Herr D.I.C. nannte sich, und da fand es sich, daß sie ihn als einen reichen Finanzmann kannte. Sogleich hatte sie Vertrauen zu ihm, erzählte ihm ihre ganze Geschichte und verhehlte ihm auch ihren Verdacht nicht. Herr D.I.C. hatte die beiden im Theater vertraulich beieinander gesehen und konnte daher nicht an irgendwelche Vergewaltigung glauben, doch stellte er sich so, bot den beiden Schönen seinen Schutz an und zog sich erst zurück, nachdem Elise dieses Anerbieten angenommen hatte.

Am anderen Morgen hatte Fanchonnette zufällig den Schmuckgegenstand angelegt, den d’Est* ihr zum Geschenk gemacht hatte. Elise fragte sie, woher sie ihn hätte, und, als sie darüber in Verwirrung geriet, erriet sie die Wahrheit, zumal da sie den Gegenstand schon im Besitze d’Est*s gesehen hatte, und machte Fanchonnette die lebhaftesten Vorwürfe über ihre Unvorsichtigkeit. Diese, die noch immer an die Fabel d’Est*s über das Verhältnis Elisens zu ihrem Onkel glaubte, erwiderte ihr mit einer Unverschämtheit, die ihr eine Ohrfeige einbrachte. Wütend über diese Zurechtweisung erspähte sie geschickt eine Gelegenheit, wo sie heimlich das Haus verlassen konnte, und eilte dann zu d’Est, diesem ihr Leid zu klagen. Der Verführer nutzte diese gute Gelegenheit aus und opferte das junge Mädchen seinen brutalen Gelüsten. Fanchonnette verließ ihn entehrt.

Die Kleine sah ihren Fehltritt ein und war so vernünftig, zu Elise zurückzukehren. Sie bat diese um Verzeihung und erzählte ihr, sie hätte soeben den Schmuck wieder zurückgegeben. Sie hatte ihn in der Tat bei d’Est* gelassen. Elise, die etwas lebhaft war, aber ein gutes Herz hatte, verzieh ihr und gab darauf dem Mädchen die klarsten Beweise dafür, daß sie die Vorschläge ihres ersten Geliebten, Herrn de R**, zurückgewiesen hatte. Sie beschlossen, Herrn d’Est* nicht mehr zu empfangen, und vereinbarten, daß Fanchonnette jede weitere Beziehung zu ihm abbrechen solle.

Die Heirat Elisens mit Geti, dem Onkel Fanchonnettens, kam bald darauf zustande. Einige Wochen nach diesem Ereignis zwangen Geschäfte den jungen Ehegatten, eine Reise auf drei Monate anzutreten. Frau und Nichte blieben allein im Hause. Die Freunde ihres ersten Geliebten hatte Elise nach ihrer Hochzeit nicht mehr empfangen, d’Est* war also nicht der alleinige Verbannte. Da er das Haus nicht mehr betreten konnte, so lauerte er davor, um eine Gelegenheit zu erspähen, wieder mit Fanchonnette zusammenzukommen. Das konnte denn auch nicht ausbleiben, und da er einen tiefen Eindruck auf die junge Schöne gemacht hatte, die ihn nur sehr gegen ihren Willen mied, so erreichte er es bald, daß sie wieder in seine Wohnung kam. So wurde die kleine Geti die Mätresse dieses schlechten Menschen, fast ohne es zu merken.

Aber auch Herr D.I.C. ließ Fanchonnette nicht außer Augen. Er rechnete auf ihren Bruch mit d’Est und beeilte sich vorläufig nicht, ihr Anträge zu machen, um sie nicht abzuschrecken. Doch stellte er sich endlich eines Tages in ihrer Wohnung ein, als er sicher war, sie allein anzutreffen. Er war dessen sicher, denn er selbst hatte Elise durch eine Dame seiner Bekanntschaft rufen lassen.

»Kennen sie mich noch, liebes Fräulein?« fragte er sie. »Oh ja! mein Herr, Sie sind mein Befreier, und ich werde Sie nie vergessen.«

»Ihre Gefühle, schönes Fräulein, sind mir schmeichelhaft, aber das genügt mir nicht. Sie sind reizend und verdienen ein besseres Schicksal. Ich bin imstande, Ihnen eine glänzende Zukunft zu bieten und stelle von heute ab alles zu Ihrer Verfügung, was sie sich nur irgendwie wünschen können, eine schöne Wohnung, Lakeien, Kammerzofen, Equipagen, Pferde. Sollten Sie Ärgernis befürchten, so will ich Ihnen monatlich eine bestimmte Summe für Ihre kleinen Bedürfnisse aussetzen, Sie bleiben bei Ihrer Tante, wir mieten eine Wohnung in der Nähe, wo wir uns sehen werden, Ihre Zofe wird dort wohnen, wir geben sie als Ihre Freundin aus, die Sie besuchen, selbst Ihre Tante könnte deren Bekanntschaft machen. Kleider, Schmuck, Geld, alles was sie wünschen, steht Ihnen nach Belieben zur Verfügung …«

»Mein Herr, ich weiß nicht … Ihre Anerbietungen sind ja glänzend …, aber, eine Sache, wie diese…«

»Ich zeige Ihnen den Weg zur Freude und zum Glück. Heute noch müssen sie Ihren Entschluß fassen, wer weiß, wann ich wieder einmal das Glück haben werde, Sie allein zu treffen. Seien sie vernünftig, liebes Fräulein, die Zukunft, die ich Ihnen biete, ist glänzend. So etwas wird einem nur einmal im Leben und nur in Ihrem jetzigen Alter geboten. Denken Sie an die schönen Kleider, den Schmuck, die Reichtümer, die ich Ihnen schenken werde, an Theater, Bälle, Vergnügungen aller Art, die ich Sie kosten lassen werde, sobald Ihre Kammerzofe Ihre Tante kennen gelernt hat, wofern sie nicht vorziehen, öffentlich mit mir zu verkehren. In diesem Falle werde ich Sie unter die Schülerinnen der Oper aufnehmen lassen, und dann können sie auf Ihre Verwandten und auf das ›was wird man dazu sagen‹, pfeifen …«

Fanchonnette verfiel in tiefes Nachdenken.

»Im Grund genommen,« dachte sie, »habe ich d’Est* alles gewährt, der sehr hart mit mir ist, äußerst anspruchsvoll mich am Gängelbande führt, als ob ich ihm alles verdankte, und der sich offenbar einbildet, ich könne Gott danken, einen so schönen Mann, wie ihn, mein zu nennen. Kleider und Schmuck würden mir mehr Relief verleihen … Alles würde geheim bleiben … Meine Zofe würde als meine Freundin gelten … Ausgezeichnete Idee … Die Tante würde nichts erfahren … Die Gefahr gewisser unangenehmer Folgen, die mein Verhältnis zu d’Est* mit sich bringt, bleibt dieselbe, wenn ich auch diesen noch hinzunehme …« Schließlich sagte sie zu D.I.C.:

»Sie drängen zu sehr, mein Herr, ein Mädchen in meinem Alter entschließt sich nicht so rasch.«

»Mein schönes Kind, tun sie mir den Gefallen und fassen sie einen schnellen Entschluß, ich werde darüber desto froher und dankbarer sein. Lassen sie alle Skrupeln beiseite und sagen sie ja. Sie sind nicht reich. Wenn sie durchaus an eine Heirat denken, so ist der Weg, den ich Ihnen eröffnen will, dazu der sicherste, denn ausgehaltene Frauen sind heute gesuchter, als andere. Sie kennen Ihren Nachbarn, den ***R**?«

»Ja.«

»Nun wohl, die Dame, die sein Haus, seine Börse und sein Herz beherrscht, ist nicht seine Gattin, sondern seine Geliebte, und doch sind sie geehrt, geachtet und gern gesehen! Ihre Tochter, diese impertinente Person, die man lateinisch lernen läßt, um sie ganz unausstehlich zu machen, wird sicher mal einen Edelmann heiraten, ein Bürgerlicher würde für sie nicht gut genug sein. Solche Beispiele mögen sie beruhigen, wenn sie aber wollen, kann ich noch hundert andere anführen, wie solche Frauen Heiraten gemacht haben, auf die sie niemals hätten hoffen können, wenn sie anständig geblieben wären, und wie sie die Dummköpfe, die sie eingegangen sind, an der Nase führen. Mätressen werden zudem stets bis in ihr spätestes Alter, wenn sie selbst abstoßend häßlich geworden sind, geehrt und geachtet.«

Alle diese Gründe, geschickt vorgebracht, bestimmten endlich Fanchonnette, zuzusagen, und der ***R** ist Schuld an ihrem Verderben, denn sein Betragen hat das junge Mädchen verführt, sich aus Interesse hinzugeben. Sie schlug die Augen nieder und antwortete, rot werdend:

»Sie scheinen mir ein ehrlicher Mann zu sein und flößen mir Vertrauen ein. Doch muß ich mir die Sache erst noch überlegen, denn sie ist zu wichtig für mich.«

Herr D.I.C. sah, daß sie ihm gehörte, ein schönes Geschenk war seine Antwort. Er sagte, daß eine Wohnung vom nächsten Tage an in der Rue des Anglais bereitstehen würde, in einem Hause, das er ihr näher bezeichnete. Er bat sie, sich dort einzufinden, damit er sie ihr übergeben könne.

Am darauffolgenden Tage fand Fanchonnette Gelegenheit, nachmittags gegen drei Uhr ausgehen zu können. Sie begab sich klopfenden Herzens in die bezeichnete Wohnung. Ein netter Diener erwartete sie, und D.I.C. stellte sie der Kammerzofe als Herrin des Hauses vor. Nach Tisch setzte D.l.C. sich in Besitz der Kleinen.

Es waren zwei Gründe dafür vorhanden, daß er nicht geliebt wurde: er zahlte und er war älter, als d’Est*. Dieser blieb also der Bevorzugte. Er stieg sogar noch in der Gunst Fanchonnettens, die allmählich alles Zartgefühl beiseite setzte und sich ihm rückhaltlos so zu sagen an den Hals warf. Er mißbrauchte sie, wie alle Männer seiner Art, mögen sie mit anständigen oder anderen Frauen zu tun haben. Er behandelte sie wie die gemeinste Dirne, beschimpfte sie, wo er konnte und mißhandelte sie, wenn sie das Unglück hatte, die Stunde zu verpassen, die er ihr zum Rendezvous bestimmt hatte.

Herr D.I.C., der sich für den Alleinbesitzer der jungen Schönen hielt, wußte es bald so einzurichten, daß deren Kammerzofe sich an Elise anschloß. Sie hatte sich ihr als eine Witwe vorgestellt, die von ihren Renten lebte. Frau Geti fühlte sich von ihrer Freundschaft sehr geehrt und aß oft mit ihrer Nichte bei Frau Deboussonville, die beide Damen auf das zuvorkommendste behandelte. Auch vertraute sie ihr Fanchonnette so oft an, wie sie darum ersuchte. Aber ein verbrecherisches Treiben ist nie von Dauer, man will andere täuschen, täuscht sich selbst, und alles kommt an den Tag. Die Vergnügungen, die Herr D.I.C. Fanchonnette verschaffte, Theater, Promenaden u.s.w. nahmen deren ganze Zeit in Anspruch und hatten oft zur Folge, daß sie die Rendezvous mit d’Est* verfehlte, oder vielmehr sich gegen seine Befehle verfehlte. Nachdem er es aufgegeben hatte, sie an mehr Pünktlichkeit zu gewöhnen, wollte er wenigstens wissen, was dahinter steckte. Er folgte ihr und es dauerte auch nicht lange, bis er entdeckt hatte, wohin sie stets ihre Schritte lenkte. Er zog in der Nachbarschaft Erkundigungen über Frau Deboussonville ein und sah, daß ihr von allen Seiten Weihrauch gestreut wurde. Er wußte nicht, was er denken sollte. Als Fanchonnette das nächste Mal zu ihm kam, wandte er ein stärkeres Mittel an, um hinter die Wahrheit zu kommen. Er schrie sie mit fürchterlicher Miene an:

»Ich weiß alles! Was tust du bei der sogenannten Frau Deboussonville in der Rue des Anglais? Lüge nicht, denn ich bin von allem unterrichtet.« Dann folgten die gröbsten Ausfälle. Fanchonnette wurde verlegen, glaubte, es sei alles entdeckt, und fing statt jeder Antwort zu weinen an. Die Tränen überraschten sogar d’Est*, darauf war er nicht gefaßt gewesen, denn er hatte angenommen, sie würde sich mit zwei Worten rechtfertigen können. Nun geriet er in maßlosen Zorn und drohte ihr, er würde, wenn sie ihm nicht selbst sofort die Wahrheit gestände, die er schon wüßte, überall erzählen, was vorginge, und bei ihrer Tante den Anfang machen. Fanchonnette schwieg. Eine Ohrfeige bekräftigte die Drohung. Nun wollte sie gerade unter Schluchzen ihre Beichte beginnen, als ein Freund von d’Est* dazu kam. Er verehrte das junge Mädchen heimlich, obwohl er ihr Verhältnis mit d’Est* kannte, der sich dessen gerühmt hatte. Er äußerte verblüfft:

»Wie? liebes Fräulein, Tränen?«

»Ja, das liebe Fräulein beträgt sich wie eine Straßendirne.«

»Ich glaube nicht ein Wort davon,« erwiderte der Freund, »und übernehme jede Garantie für sie.«

»Und doch ist es sicher. Sie geht zu einer gewissen Deboussonville …«

»Frau Deboussonville! Eine sehr ehrenwerte Dame! Ich kenne sie zufällig, eine äußerst achtbare Frau!«

»Aber das Fräulein gesteht selbst ein …«

»Was gesteht sie ein? Was haben sie gesagt, Fräulein?«

»Aber gar nichts, nicht ein Wort, ich konnte vor Weinen nicht sprechen, weil er brutal gegen mich war.«

»Ah! d’Est*, dein Betragen ist gemein, du verdienst nicht dein Glück!«

»Aber sie wurde doch bei dem Namen Deboussonville verlegen!«

»Weil sie sah, daß du bei jeder Gelegenheit Verdacht hast.« Nach weiterem Hin- und Herreden bot der Freund sich an, Fanchonnette nach Hause zu bringen. Sie nahmen einen Fiaker. Unterwegs stachelte er sie auf, sich an d’Est* zu rächen, der ihrer unwürdig sei. Sie weigerte sich dessen. Als sie zu Hause angelangt waren, wollte das Unglück, daß die Tante ausgegangen war, und da stürmte er mit aller Macht auf sie ein. Schließlich erhielt er von ihr das Versprechen, daß sie Mitleid mit seiner Pein haben und ihn zum Rächer für alle Brutalitäten d’Est*’s annehmen würde. Und so geschah es.

D’Est* war über die Persönlichkeit der Deboussonville doch nicht so ganz beruhigt. Bevor er aber noch näheres über sie erfahren hatte, geschah es, daß er eines Tages jenen Freund, der Fanchonnette nach Hause begleitet hatte, besuchen wollte. Da der Hausmeister gerade nicht anwesend war, so trat er bei ihm ein, ohne sich anmelden zu lassen. Im Vorzimmer hörte er Stimmen, und zwar besonders die Stimme einer Frau, die ihm sehr bekannt vorkam. Er wollte eintreten, fand aber die Tür von innen verriegelt. Nach einigen Sekunden öffnete sein Freund die Tür, er schien sehr erregt zu sein. D’Est* sagte zu ihm:

»Ich bitte um Entschuldigung, du bist wahrscheinlich mit einer hübschen Patientin beschäftigt, und da will ich nicht stören.«

»In der Tat, lieber Freund, du läßt dich übrigens ja gar nicht mehr sehen, komme nachher zum Diner wieder.«

D’Est* sagte zu und ging. Er verließ aber nicht das Haus, sondern trat beim Pförtner ein, bat um Feder und Papier und tat so, als ob er einen Brief zu schreiben hätte. Er blieb dort ungefähr eine Stunde. Diese Zeit hatte für die Konsultation Fanchonnettens genügt. D’Est*, den man weit vom Schuß glaubte, sah sie das Haus verlassen. Einige Minuten später ging er wieder zu seinem Freunde hinauf und sagte zu ihm:

»Man hat mir unten gesagt, du seist jetzt frei.«

»Ganz recht.«

»War die Patientin hübsch?«

»Reizend.«

»Nicht grausam?«

»Durchaus nicht, wirklich entzückend.«

D’Est* ließ das Thema fallen und speiste in heiterster Laune. Während der Mahlzeit sagte er seinem Diener, der ihm gefolgt war, etwas ins Ohr. Man war beim Dessert, als Fanchonnette plötzlich eintrat. Sofort rief d’Est* ihr zu:

»Mein Fräulein, mein Freund hat mir erzählt, was diesen Morgen zwischen ihm und Ihnen hier vorgegangen ist. Ich habe Sie hierher bitten lassen, um Sie zu behandeln, wie eine gemeine Dirne es verdient.«

Er wollte sich auf sie stürzen, wurde aber festgehalten, und die unselige Fanchonnette lief in schmerzlicher Verlegenheit davon. Der Diener, der sie geholt hatte, stieg mit ihr in den Wagen und wollte sie ohne ihr Wissen in die Wohnung seines Herrn bringen, wie dieser heimlich befohlen hatte. Als sie aber das Haus erkannte, weigerte sie sich, auszusteigen. Der Diener stellte ihr vor, er werde fortgejagt werden, im Grunde wisse sein Herr gar nichts, sie habe nichts zu befürchten, und es sei doch besser, sie setze sich mit ihm auseinander, als sich mit ihm zu verfeinden. Sie gab nach und ging mit ihm die Wohnung. Dort schloß sich der unverschämte Lakei mit ihr ein und machte ihr klar, daß jeder Widerstand vergeblich sein würde! … So mußte sie auch diesen höchsten Schimpf über sich ergehen lassen. D’Est* kam mit seinem Freunde dazu, und Fanchonnette stand vor diesem im häßlichen Lichte da. D’Est* versicherte ihm, sie sei schon seit langem in seinen Diener verliebt, und endlich sei jetzt sein Verdacht bestätigt worden. Darauf jagte er sie mit Schimpf und Schande zum Hause hinaus.

Der Freund folgte ihr nach und bot ihr seinen Wagen an.

»Nein,« erwiderte sie empört, »nein, alle Männer sind Ungeheuer. Was ich heute erlebt habe, beweist mir, daß sie nur wilde Tiere sind. Gehen sie, lassen Sie mich!«

»Wie? Sollten sie unschuldig sein ?«

»Haben sie diese Niederträchtigkeit geglaubt? Dann sind Sie nicht mehr wert als Ihr unwürdiger Freund!«

»Erklären sie mir alles, ich bin geneigt, Ihnen Glauben zu schenken … Aber kommen sie mit in meinen Wagen.« Sie sträubte sich eine Zeitlang sehr heftig, dann stieg sie doch ein. Im Wagen brach sie in Tränen aus, dann klärte sie ihn über die gemeine Handlungsweise des d’Est* auf und bewies ihm, daß alles auf dessen Befehl geschehen sei. Der junge Mann war empört und schwur, mit d’Est zu brechen.

»Rächen sie mich,« flehte Fanchonnette ihn an.

»Ja, liebe Freundin, von Herzen gern, wenn Ihnen nur nicht die Geschichte mit dem Lakei passiert wäre!«

Das war zu viel, das ging über die Kräfte des jungen Mädchens. Sie bekam einen Wutanfall, zerschlug eines der Wagenfenster und verlangte, auszusteigen. Zum Glück waren sie in der Nähe ihrer Wohnung, und es war schon spät. So konnte sie unbemerkt eintreten.

Als sie zu Elise ins Zimmer trat, fiel sie in Ohnmacht. Frau Geti war so erschrocken, daß sie kaum imstande war, ihr zu Hilfe zu eilen. Als sie wieder zu sich gekommen war, bat ihre Tante sie, ihr zu erzählen, wer sie in solchen Zustand versetzt habe. »D’Est*,« war die Antwort, »der mich gewaltsam verführt hat.« Zugleich bat sie ihre Tante, ihn nicht anzuzeigen, denn sonst würde sie entehrt dastehn. Tags darauf fühlte sie sich wieder besser, und die Wunden an der Hand, die das Fenster eingeschlagen hatte, heilten. Sie besuchte Frau Deboussonville, und diese zeigte ihr einen Brief d’Est*’s, worin er ihr schrieb, sie empfange eine Dirne usw.

»Er kennt mich nicht, wie Sie sehen,« bemerkte die Kammerzofe, »also weiß er von nichts. Es liegt daher in Ihrer Hand, und erfährt Herr D.I.C. niemals, daß Sie einen anderen Geliebten gehabt haben: schließen Sie mir den Mund und teilen sie mit mir!«

Fanchonnette willigte darein ein und lebte fortan mit Herr D.I.C. allein, ohne d’Est* oder dessen Freund wiederzusehen.

So verlebte sie acht Tage in aller Ruhe, als sie eines Morgens ihre Wohnung ausgeräumt fand. Die Türen standen offen, und kahle Wände stierten sie an. Sie erkundigte sich erstaunt bei den Nachbarn und erfuhr, daß Frau Deboussonville und ein Mann am frühen Morgen den Umzug besorgt hätten, nachdem sie die fällige Miete bezahlt hätten. Fanchonnette verlor dadurch nicht nur alles, was sie geschenkt bekommen hatte, sondern auch viele Sachen, die ihr gehört hatten und die sie dort aufbewahrte. Man händigte ihr einen Brief ein, den der Mann für sie bei der Wirtin abgegeben hatte. Sein Inhalt lautete:

»Ich kenne Ihre Aufführung. Sie haben so niedrige Gelüste, daß ich Sie meines Tadels und meiner Rache für nicht würdig halte. Leben sie wohl.«

Es war Fanchonnette nicht schwer zu vermuten, woher dieser neue Schlag kam. Verzweifelt kehrte sie zu ihrer Tante zurück. Sie traf sie gerade beim Lesen eines anderen Briefes an, der alle Einzelheiten ihrer Aufführung mit den nötigen Weisungen enthielt, wie man sich von der Wahrheit der Behauptungen überzeugen könnte. »Da lesen sie, Fräulein!« Damit gab sie Fanchonnetten den Brief zu lesen. Da hier nichts mehr abzuleugnen war, fing sie an zu weinen. Die Tante sagte dann :

»Sie haben sich wie eine Elende betragen. Ihres Bleibens bei mir kann nicht länger sein. Wohin kann ich Sie bringen lassen?«

»Ich flehe Sie an, behalten sie mich bis morgen.«

Elise antwortete nicht. Im Grunde sah sie keine Möglichkeit, sie wegzuschicken, und hatte so nur gesprochen, um ihr ihren ganzen Abscheu wegen ihrer Aufführung zu bezeigen. Die untröstliche arme Fanchonnette wußte am anderen Tage nicht, was sie anfangen und wohin sie gehen sollte. Sie war noch nicht verdorben genug, um bis zur letzten Stufe zu sinken. Sie rief das Mitleid ihrer Tante an, diese ließ sich rühren und versprach, ihrem Mann alles zu verheimlichen, wofern sie sich von nun an musterhaft aufführen würde.

Die Ärmste versprach alles. Sie kleidete sich bescheiden, nicht einmal ihrem Stande gemäß, wie eine gewöhnliche, kleine Arbeiterin. Drei Monate lang betrug sie sich so, daß Elise sie vollkommen geändert glaubte und ihr wieder ihre Freundschaft zuwandte, obwohl sie dabei immer noch eine gewisse Zurückhaltung beobachtete. Der Onkel war zurückgekehrt. Er hielt seine Nichte für eine Frömmlerin und machte sich oft über sie lustig, bis Elise ihn bat, mit ihr nicht zu vertraulich zu werden.

Die Ruhe tat Fanchonnette gut. Sie wurde wieder frisch und blühend, und bald war sie in ihrer einfachen Tracht wieder so anmutig wie früher. So sah sie ein alter Lüstling, der ihr bald durch eine jener Händlerinnen Anträge machen ließ, die von Haus zu Haus gehen, um ihre Waren abzusetzen. Diese Vorschlage waren glänzend. Fanchonnette fing an, das traurige Leben, das sie führte, satt zu bekommen, und nahm an. Aber sie zog vorher Erkundigungen ein. Durch ihre traurigen Erfahrungen gewitzigt, wollte sie von einer Dame Deboussonville nichts mehr wissen. Sie suchte sich selbst eine Kammerzofe aus und behielt die Schlüssel ihrer neuen Wohnung.

Elise bemerkte bald, welche Veränderung mit ihrer Nichte vorgegangen war, und hielt sich für verpflichtet, ihren Mann darauf aufmerksam zu machen, und ihn zu bitten, sie zu beobachten. Bald kam man hinter die Wahrheit, und da es sich um einen so schweren Rückfall handelte, so beschloß man, sie in eine Besserungsanstalt zu bringen. Man sprach mit jemandem, der die geeigneten Schritte dazu tun mußte, und benachrichtigte Fanchonnette. Am selben Tage, als der Befehl dazu ausgeführt werden sollte, fand sie trotz strenger Beaufsichtigung Gelegenheit, durchzubrennen und sich nach der Neuen Halle zu flüchten, wo sie ein kleines möbliertes Zimmer mietete. In die Wohnung, die der alte Herr ihr gemietet hatte, getraute sie sich nicht aus Furcht, dort entdeckt zu werden. Dort blieb sie einige Zeit und ging nur in der Dunkelheit aus, um ihre Einkäufe zu machen.

Eines Abends sprach ein Herr sie an und machte ihr Anträge. Da Fanchonnettens Mittel zu Ende gingen, fühlte sie sich versucht, darauf einzugehen, und antwortete halb zögernd. Der Herr hielt ihre halbe Zurückweisung für eine Zusage und begleitete sie auf ihr Zimmer. Dort wurde die schwache Fanchonnette behandelt, wie ein Mädchen der Gattung, der sie anzugehören schien und ebenso verächtlich verlassen. Am folgenden Tag das gleiche Abenteuer … Endlich verfiel sie der Gewohnheit, obwohl sie sich täglich vornahm, ihre Zuflucht zu dem alten Herrn zu nehmen, sobald sie ohne Gefahr sich wieder in ihrer Wohnung zeigen könnte.

Während sie dieses Leben führte, wurde sie von einer Nachbarin beobachtet, die ein gleiches führte. Als diese bemerkt hatte, daß sie Herren empfing, näherte sie sich ihr und machte ihr Komplimente über ihr anständiges Aussehen und die Vorsicht, mit der sie sich aufführte.

»Sie tun recht daran«, fügte sie hinzu, »und ich werde Ihrem Beispiel folgen. Aber einen Rat will ich Ihnen doch geben. Man läuft zweierlei Gefahr, wenn man mit Herren verkehrt: erstens droht die Polizei, und zweitens kann man krank werden. Folgen sie meinem Beispiel …«

Ihr Rat ging dahin, sie solle sich in den Öffentlichen Gärten zeigen. Dort, meinte sie, wäre man mit einiger Vorsicht sicher gegen alle Gefahren.

Fanchonnette folgte zitternd diesem gefährlichen Rat und verfiel in den tiefsten Grad von Herabgekommenheit … Doch empfand sie Scham drüber und verzichtete ganz auf diese schimpfliche Erwerbsquelle, als sie einmal beinahe von der Polizei erwischt wurde, wie es ihrer Nachbarin geschah, während sie selber ihre Rettung nur ihrem ehrbaren Äußeren verdankte.

Am darauffolgenden Tage verließ sie ihre Wohnung aus Furcht, ihre Gefährtin könnte sie angegeben haben, und begab sich endlich in die Wohnung, die ihr der alte Herr gemietet hatte. Dort traf sie ihre Zofe an, die bei ihrem Anblick wie eine Närrin lachte und sie aufforderte, einzutreten. Sie ging geradenwegs in ihr Zimmer und wollte mit ihrem Schüssel öffnen, aber das Schloß war geändert. Beim Geräusch, das sie verursachte, wurde die Tür plötzlich geöffnet, und sie sah ein junges Mädchen ihres Alters vor sich, das ebenso hübsch und noch frischer und blühender war, als sie und sie fragte:

»Was wünschen sie, Madame?«

»Was ich wünsche? Ich bin hier bei mir zu Hause!«

»Das ist sonderbar, denn auch ich bin hier in meiner Wohnung! …«

Fanchonnette bemerkte, daß sie eines ihrer schönsten Kleider anhatte. Entrüstet darüber, schrie sie sie an:

»Wie? Sogar meine Kleider tragen sie! Ah! Das ist zu stark, und wir wollen doch einmal sehen …«

»Toinette,« unterbrach die neue Herrin des Hauses sie, »holen sie Herrn ****, er soll mir sagen, was diese Verrückte will.«

Toinette hörte zwar nicht auf den Befehl, Fanchonnette aber, empört über das, was sie erleben mußte, warf sich auf ein Sofa und weinte bittere Tränen. Dann stand sie auf, um in den Kommoden nachzusehen, wurde daran aber von ihrer Nebenbuhlerin verhindert. Toinette schüttelte sich vor Lachen während dieses Streites. Endlich kam der alte Herr ungerufen. Er war starr vor Staunen, als er Fanchonnette erblickte, die er in einer Besserungsanstalt glaubte. Sein Herz sprach zu ihren Gunsten. Er gab zu, daß die Wohnung ihr gehörte, versprach aber, der anderen eine gleiche einzurichten und ihr alles zu ersetzen, was sie Fanchonnette überlassen würde. Bei diesem Vorschlage kam Fanchonnette der Gedanke, darin läge die Möglichkeit für sie, sich in Sicherheit zu bringen, wenn sie die neue Wohnung nähme und ihrer Nebenbuhlerin die ihrige überließe. Ihr Vorschlag wurde angenommen. Der alte Herr bat die Mädchen, den Tag wie zwei Schwestern miteinander zu verleben, abends würde er dann Fanchonnette in die neue Wohnung geleiten.

Fanchonnette war mit der neuen Anordnung sehr zufrieden. Da sie den Alten nicht liebte, war sie gern bereit, ihn mit einer anderen zu teilen. Aber die Nebenbuhlerin war verletzt, weil dieser seine Vorliebe für seine frühere Geliebte zu deutlich gezeigt hatte und weil sie fühlte, daß Fanchonnette sie aus dem Sattel heben würde. Doch ließ sie sich nichts anmerken und plauderte mit Fanchonnette über ihre eigenen Erlebnisse, um dadurch auch diese zu veranlassen, näheres über ihr Schicksal zu erzählen. Dieser Plan gelang ihr allerdings nicht, aber am Nachmittag erhielt sie Besuch von einer Bekannten.

»Mein Gott,« äußerte diese, »wie traurig ist doch unser Gewerbe! Ich war früher Näherin und verdiente täglich zehn Sous, grade genug, um barfuß gehen und Hungers sterben zu können. Da verspricht mir ein älterer Herr eine gesicherte Zukunft, ich denke, nun bin ich reich: jawohl! Er läßt mich sitzen. Ein anderer folgt ihm, der war noch schlimmer! Wenn mich nun dieser wieder verläßt, dann weiß ich nicht mehr, wohin ich soll! In die Öffentlichen Gärten … denn ich würde niemals wagen, bei mir Herren zu empfangen … Aber auch die Gärten … Ich war gestern in den Tuilerien und habe zugesehen, wie man zwei Damen aufhob, die eine sah sehr anständig aus, übrigens Ihnen ähnlich …, doch, ich irre mich nicht, Sie waren es, Madame! Sind Sie wieder entlassen worden?«

»Sie befinden sich im Irrtum,« erwiderte Fanchonnette, rot werdend.

»Nein, nein, Sie waren es! Dasselbe Kleid, dieselbe Frisur, ich sehe Sie ganz so wie gestern vor mir. Übrigens muß ein jeder zusehen, wie er sich durchbringt, und wenn man keine anderen Mittel hat …«

Fanchonnette fuhr fort, zu leugnen, die andere ließ sich aber nicht davon abbringen, bis der alte Herr dazwischen trat. Die Desrays teilte ihm mit, worum es sich handelte, aber der Gutmütige hielt die Geschichte für eine Falle und nahm Fanchonnette mit sich. Am nächsten Tage gab er der Nebenbuhlerin ihren Abschied, und diese befand sich nunmehr in derselben Lage wie Fanchonnette tags vorher. So endigen drei Viertel aller ausgehaltenen Mädchen. Nur wenige behalten Oberwasser und machen ihren Weg. Es ist ein Spiel, eine Art Lotterie, und es grenzt an Wahnsinn, dabei auf einen Gewinn zu rechnen. Bei der ungeheuer großen Anzahl dieser Mädchen in Paris ist die Gewinnaussicht eins zu hundert.

Fanchonnette fühlte sich fast glücklich in ihrer neuen Lage, wenn sie sie mit der verglich, aus der sie entronnen war. Aber eine grausame Enttäuschung harrte ihrer! Eines Tages bemerkte sie, daß sie sich eine scheußliche Krankheit zugezogen hatte … Sie begab sich, der Verzweiflung nahe, in ärztliche Behandlung und hoffte schon, daß diesmal noch alles gut abgehen würde, als ein neuer Schlag sie traf. Eines Tages kam der alte Herr vor Wut schäumend zu ihr und schrie sie an:

»Sie sind mir ja eine nette Person! Soeben erfahre ich von meinem Arzt, daß Sie sich mit Lakeien und mit Studenten der Medizin belustigt haben, und ich hielt Sie für …«

Fanchonnette bat ihn, sich zu beruhigen und wenigstens ihre Verteidigung zu hören. Sie erzählte ihm dann ausführlich ihre Geschichte, und wie niederträchtig gemein dieser d’Est* gegen sie gehandelt hatte. Auch wegen ihres Verkehrs mit seinem Freunde strich sie sich heraus, so daß sie den Alten zu ihren Gunsten stimmte. Am anderen Morgen aber war dieser von ihrem Abenteuer mit D.I.C. unterrichtet. Sie leugnete, konnte sich aber doch nicht ganz rein waschen. Endlich sahen zwei Freunde des alten Herrn diesen mit ihr auf der Promenade und erkannten in ihr das Mädchen, das sie in der neuen Halle auf ihrem Zimmer besucht hatten. Sie machten ihm in ihrer Gegenwart Vorwürfe wegen seiner unpassenden Wahl, und voller Entrüstung und Scham ließ er sie stehen und setzte mit seinen Freunden den Spaziergang fort.

Fanchonnette verlor nicht den Kopf. Sie fuhr nach Hause, kam dort vor dem alten Herren an, packte alles Geld, alle Schmucksachen und die besten Sachen ein und flüchtete damit in eine kleine Wohnung in der Rue Saintonge im Marais, wo sie vor ihren Verfolgern in Sicherheit war. Abends ging sie aus, um sich durch ihr schändliches Gewerbe die nötigen Mittel zu verschaffen, und gab sich dem ersten besten hin. Doch die Katastrophe blieb nicht aus.

Eines Abends hatte sie das Unglück, daß niemand für ihre Reize empfänglich sein wollte, so blieb sie etwas länger auf der Straße und war weniger vorsichtig. Da bemerkte sie auf der anderen Seite der Straße einen Herrn und überschritt den Fahrdamm, um ihm entgegenzugehen. Wie groß war ihre Überraschung, als sie ihren Onkel erkannte! … Sie hüllte sich in ihren Schal, verdoppelte ihre Schritte, überschritt ein zweites Mal den Damm und hoffte schon, sich aus der Klemme gerettet zu haben, als ein Polizist sie ansprach und sie fragte, was sie da so spät noch mache. Sie gab genügende Auskunft, und der Polizist ließ sie wieder los. Aber der Onkel hatte gesehen, daß der Polizist das Mädchen anhielt, war zu ihnen getreten und hatte eine ihm bekannte Stimme zu hören geglaubt. Er folgte dem Mädchen unbemerkt und ging ihr ins Haus nach. Sie öffnete ihre Türe, ohne sie wieder zu schließen, da sie erst Licht machen wollte, und diesen Augenblick benutzte der Onkel, um ebenfalls leise ins Zimmer zu treten. Dort blieb er unbeweglich stehen, auf den Lichtschein wartend, der ihm seine Vermutung bestätigen oder ihn eines anderen belehren sollte. Endlich flammte die Kerze auf, und Fanchonnette drehte sich um. Beim Anblick ihres Onkels stieß sie einen gellenden Schrei aus und sank ohnmächtig um.

»Schandweib,« schrie Geti, »dich verdirbst du und mich entehrst du, wenn deine Aufführung bekannt wird. Aber das soll nicht sein! Dies ist dein letzter Augenblick!« Und außer sich vor Zorn und Empörung wollte er sie, anstatt ihr zu helfen, erwürgen. Doch bald nahmen ihn menschlichere Gefühle gefangen. Er verließ das Zimmer, schloß es ab, ging hinunter, fuhr nach Hause und holte seine Frau, die sofort, nachdem sie alles erfahren hatte, der Ärmsten zu Hilfe eilte. Vor dem Hause fanden sie eine Menge Menschen vor. Man teilte ihnen mit, ein junges Mädchen habe sich aus dem Fenster gestürzt, und man habe sie schwerverletzt wieder in ihr Zimmer getragen. Entsetzt eilten sie zu ihr. Sie lag im Sterben, aber erkannte noch ihre Verwandten. Mit schwacher stimme flüsterte sie:

»Verzeiht mir den Kummer, den ich euch durch meine Lebensweise verursacht habe. Ich bin dafür bestraft worden, ich leide furchtbar … Ich wollte mich eurer Strenge und euren Vorwürfen entziehen. Aus Verzweiflung darüber, daß ich nicht hinauskonnte, habe ich mich aus dem Fenster …«

Elise bat sie, zu schweigen und sich zu beruhigen. Sie schickte ihren Mann um Hilfe fort. Ein Arzt eilte herbei, ließ die Sterbende zur Ader, gab ihr einen Wundbalsam und versicherte, daß sie gerettet wäre, wenn sie vierundzwanzig Stunden aushielte.

Seine Voraussage war richtig. Die treue Pflege Elisens gab die Unglückliche dem Leben wieder zurück, und ihr Leid verschaffte ihr die Verzeihung der Tante. Diese behielt sie bei sich und bezeigte ihr die herzlichste Freundschaft. Fanchonnette wurde allmählich wieder hergestellt. Zugleich wurde die üble Krankheit behandelt, deren Symptome an ihr bemerkt worden waren. Sie wurde wieder reizend, war sie doch erst zwanzig Jahr alt. Der furchtbare Schlag besserte sie. Jetzt hatte Sie einsehen gelernt – allerdings etwas spät –, daß das Laster, entweder im natürlichen Verlauf oder durch Zufälle, die es hervorruft, nur zum Unglück führt. Sie verlebte nun vier Jahre in vollständiger Zurückgezogenheit. Sie ging auf keine Promenade, in kein Theater, und nur tief verschleiert in die Kirche. Ihr Onkel hatte ihretwegen die Wohnung gewechselt, und in dem neuen Viertel kannte niemand ihre Geschichte. Nach Ablauf der vier Jahre bat ein ehrenwerter Mann, der sie nach ihrer Wiedergeburt kennen gelernt hatte, um ihre Hand. Fanchonnette war unschlüssig, aber Onkel .und Tante redeten ihr zu, so daß sie schließlich einwilligte. Sie heiratete also und führte zuerst einen ehrbaren Lebenswandel. Aber unmerklich kehrte ihr Hang zu Vergnügungen zurück. Ihr Mann nahm sie mit auf die Promenade, ins Theater, sie sah Menschen, man fand sie schön, man sagte es ihr. Ein Galan machte ihr eine Erklärung. Fanchonnette nahm sich vor, vernünftig zu sein, aber sie hatte keinen inneren Halt mehr und konnte nicht, wie Frauen, die immer anständig geblieben sind, zu sich sagen: »ich habe mir nichts vorzuwerfen«, so fiel sie leichter, als eine andere, fast ohne es zu merken. Dem ersten Fall folgten andere … und schließlich führte sie ein tolleres Leben denn zuvor.

Eines Tages traf sie in einer Gesellschaft mit dem Freunde d’Est*s zusammen, ihr Mann war bei ihr. Da sie Indiskretionen befürchtete, so beeilte sie sich, dem zuvorzukommen und sprach ihn freundlich an. Der Freund sah, daß sie die Frau eines achtungsvollen Mannes war und antwortete in ehrerbietiger Weise, da er unfähig gewesen wäre, ihr ein Unrecht zuzufügen. Bei seiner ersten Begegnung mit d’Est* aber konnte er sich nicht enthalten, ihm mitzuteilen, daß er Fanchonnette gesehen habe und daß sie anständig verheiratet sei.

»Verheiratet,« war die Antwort, »das ist möglich, anständig, das ist ein ander Ding. Sie wäre nicht die erste, die einen ehrlichen Burschen hineingelegt hätte. Doch dahinter will ich kommen.«

Noch am selben Tage sandte er ihr durch seinen Diener, denselben, der sie geschändet hatte, einen Brief des Inhaltes: »Herr d’Est* grüßt Madame*** und bittet sie, sich morgen 11 Uhr Rue ****, im neuen Hause, benannt zum ***, einzufinden und nach dem Sekretär zu fragen. N. S. Madame**** wird die Güte haben, zu kommen, sie kennt Herrn d’Est und weiß, daß mit ihm nicht zu spaßen ist.«

Hätte Fanchonnette ein reines Gewissen gehabt, so würde sie den d’Est* mit Verachtung gestraft haben, so aber hatte sie Angst vor seiner Drohung. Sie ging zu ihm. D’Est* sagte ihr, daß der Makel, den sein Lakei ihr aufgedrückt habe, durch ihre Heirat ausgewischt sei, und daß er sie nun wieder begehre. Was sollte sie machen? Sie war ihm gefügig. Doch nicht damit zufrieden, sie zu knechten, verfügte er auch über ihre Börse und verursachte ihr solche Kosten, daß sie bald das Vermögen ihres Mannes, der ihr blind vertraute, vergeudet hatte. Als er es endlich bemerkte, war die angerichtete Verwüstung kaum wieder gut zu machen. Er beobachtete seine Frau, entdeckte bald alles, erfuhr auch ihre Vergangenheit und brachte sie schließlich in eine Anstalt.

So wird es jedem Mann gehen – ich sage es, weil ich es erlebt habe –, der eine Dirne heiratet. Nie wird eine gefallene Seele sich wieder so weit erheben können, daß sie imstande wäre, fest bei ihrer Pflicht zu bleiben. Man darf daher nicht erstaunt sein, wenn Männer, welche galante Frauen ehelichen, Ehre, Vermögen und Glück verlieren. Die Frau muß zwei Dinge in die Ehe mitbringen: Schönheit und Ehrbarkeit. Diese aber ist das wesentliche, obwohl Schönheit von nicht zu unterschätzendem Werte ist. Eine Frau, die aller Ehrbarkeit bar ist, muß der Gesellschaft und dem heiligen Bunde der Ehe ferngehalten werden, deren Zweck und Ziel ist, dem Staate gute Bürger zu schenken. Denn wie könnte eine leichtfertige Mutter ihren Kindern Gefühl für Ehre und Pflicht beibringen? Schon im Mutterleibe wird den Kindern solcher Weiber die Seele vergiftet, denn sie sind das Erzeugnis niedriger Leidenschaften ihrer Väter, die nur ihren verächtlichen tierischen Gelüsten folgten.

Das Modell

281

In der Rue Saint-Germain-l’Auxerrois, nahe am Fort l’Evêque, lebte eine arme Frau mit einer Tochter, die schön war, wie die Grazien. Der Hauptreiz der kleinen Genoveva Bignicour bestand in ihrem kindlichen, unschuldigen Gesichtsausdruck, der sie ganz geeignet erscheinen ließ, als Modell für das Antlitz der Jungfrau Maria zu dienen, oder mit einem Kopftuch umhüllt eine entzückende Nonne darzustellen. Ihre Mutter, eine arme Näherin, hatte aber lange Zeit keine Ahnung von diesen Eigenschaften ihrer Tochter. Genoveva war ungefähr 12 Jahre alt, sie ging, kam, machte Besorgungen, und so geschah es öfters, daß ihr hübsches Gesichtchen, ihr schlanker Wuchs und ihre Unschuldsmiene ihr Angriffe zuzogen. Da sie aber sehr flink war, so entzog sie sich solchen stets leicht durch die Flucht.

Nicht weit von der Wohnung Genovevas entfernt bewohnte in der Rue Béthisi ein junger Maler ein möbliertes Zimmer. Er hieß Dutertre, hatte großes Talent und ein sehr feuriges Temperament. Eines Tages bemerkte er die kleine Näherin, die auf dem Nachhausewege war.

Er war von ihrer Anmut so betroffen, daß er wünschte, ihre Bekanntschaft zu machen, ohne dabei an Gelüste und Liebesgefühle zu denken. Er sollte gerade für den Herzog von ** ein galantes Bild, Corisandra, ausführen. Er folgte ihr, sah sie ins Haus treten und ging ihr nach. Sie betrat ein Zimmer im vierten Stock, er ebenfalls, er bemerkte sogleich, daß er sich bei einer Näherin befand, und sagte zu der Mutter:

»Sie machen Kleider?«

»Ja, mein Herr.«

»Dann bin ich hier wohl richtig. Ich möchte gern für meine Schwester, die auf dem Lande wohnt, eine hübsche Polonaise aus indischer Baumwolle anfertigen lassen. Meine Schwester ist 13 bis 14 Jahre alt … Ah! Das trifft sich gut: sie hat ungefähr dieselbe Figur, wie das junge Mädchen da! … Welches wäre der Preis?«

»Zehn Ellen, fünf Franken die Elle … Sie wollen doch etwas Nettes?«

»Ja, aber nicht zu teuer.«

»Macht 50 Franken, das Futter könnte man im Saintesprit nehmen … Also sagen wir drei Louis.«

»Nicht etwas billiger?

»Unmöglich, denn zum indischen Stoff gehört ein gutes Futter. Oder nehmen sie Südfranzösisches Linnen, das braucht nicht gefüttert zu werden.

»Hier haben sie einen Louis, morgen bringe ich den zweiten, den dritten werde ich Ihnen bei der Ablieferung bezahlen.«

»Besseres kann ich mir nicht wünschen! Aber wie soll ich Maß nehmen?«

»Nehmen sie das Ihrer Tochter und tun sie ganz, als ob das Kleid für sie wäre.«

»Gut. Junge Mädchen in dem Alter sind ziemlich eins wie das andere.«

»Wollte Gott, es wäre so!«

»Sie sind nicht meiner Ansicht, mein Herr?«

»Nein, meine liebe Frau, denn wenn dem so wäre, so säße ich augenblicklich nicht in einer großen Verlegenheit.«

»Wieso?«

»Weil ich ein Modell für ein interessantes Bild brauche und nicht finden kann. Ich bin Maler, bin nicht reich und muß daher bei der Wahl eines hübschen Modells leider an meine Börse denken.«

»Nun, ich werde arbeiten, als ob die Bestellung für meine Tochter wäre.«

»Tun sie das. Adieu Madame, ich werde dabei sein, wenn sie ihr das Kleid anproben.«

Dutertre wollte bei seinem ersten Besuch sich nicht zu weit vorwagen, er fürchtete, abgewiesen zu werden. Als er aber draußen war, kam ihm ein glücklicher Gedanke: »Wie wär’s, wenn ich mich erböte, die hübsche Kleine zu malen? Ich würde dann ihr Bild unter dem Vorwande, es sei noch nicht fertig, bei mir behalten … Das werde ich morgen abzumachen versuchen. Da ich ja keine Schwester habe, kann sie das Kleid für ihre Mühe behalten.«

Am folgenden Tage brachte der Maler der Näherin den zweiten Louis. Der Stoff war bereits gekauft, und die schöne Genoveva stand im Schnürleib da, um sich Maß nehmen zu lassen. Ihr Wuchs war tadellos, Dutertre nahm seinen Bleistift zur Hand und begann zu zeichnen.

»Sie erlauben, liebe Frau, daß ich eine kleine Skizze mache?«

»Mit Vergnügen, mein Herr …«

Nach einigen Minuten zeigte er die Zeichnung: es war Genoveva, wie sie leibte und lebte.

»Das ist ja meine Tochter.«

»Ganz recht, Madame. Aber ich möchte Ihnen gern ihr Bild schenken! Wenn das Fräulein mir diese Woche einige Stunden sitzen will, dann hoffe ich, wird ihr Porträt mir gelingen.« Und sich zur Mutter wendend, fügte er leise hinzu: »Wenn es mir nicht gelingt, so beweist das nur, daß Sie, Madame, eben geschickter waren, als alle Maler, denn sie haben die Natur übertroffen.«

Die Bignicour war schnell damit einverstanden, daß der junge Künstler das Porträt ihrer Tochter malte, und die erste Sitzung fand sofort am gleichen Tage statt, weil Dutertre schon eine Leinewand mitgebracht hatte. Er ging mit solchem Eifer an die Arbeit, daß das Bild am ersten Tage in seinen Umrissen fertig wurde, und daß es ganz beendet war, als auch das Kleid fertig war. Er zahlte den dritten Louis, nahm aber das Kleid unter dem Vorwande, er habe noch keine Gelegenheit, es zu schicken, noch nicht mit. Aber das Bild nahm er mit nach Hause und gab seiner Corisandre den Kopf Genovevas. Er war so schön geworden, daß er damit sogleich zum Herzog eilte, nachdem er den Rest des Bildes nur skizziert hatte. Der Herzog war überrascht von so viel Schönheit und fragte den Maler:

»Wie war es möglich, daß Sie so tadellose Züge erfinden konnten.«

»Es sind die Züge eines Porträts, das man mir geliehen hat.«

Der Herzog wurde nicht müde, das Bild zu bewundern, und äußerte schließlich:

»Lieber Freund, Sie müssen das Original auffinden und auch den Körper zum Modell zu bekommen suchen, denn sonst wird es Ihnen nicht gelingen, etwas hervorzubringen, was zu diesen Reizen paßt.«

»Herr Herzog, das ist leider nicht möglich. Das Original war ein junges Mädchen, das vor sechs Monaten gestorben ist. Man hat das Bild aus der Wohnung der Eltern entfernt, bis ihr erster Schmerz sich etwas gelegt hat.«

»Nun, dann nehmen sie eine andere Leinewand für Ihr Bild und lassen sie mir den Kopf da. Sie können ihn ja nach Ihrer Fantasie wieder malen, wie auch den Körper dazu erdenken, so daß Ihr Werk dann ein harmonisches Ganzes darstellt.

Dutertre ließ also dem Herzog den Kopf und fing am folgenden Tage das Bild von neuem an. Aber nach den ersten Strichen fühlte er, daß er schwerlich imstande sein werde, die schönen Formen Genovevas wiederzugeben. Er hörte daher auf und dachte nach.

»Wenn ich sie als Modell haben könnte …! Das wird aber die Mutter nie zugeben …; sie selber noch weniger … Doch ich will mit der Mutter sprechen. Was wage ich dabei? Abgewiesen zu werden! Nun schön, wenn ich aber nicht spreche, bin ich auch nicht weiter. Darauf faßte er seinen Entschluß und begab sich zur Näherin. Genoveva war gerade mit einem kleinen Lehrmädchen ausgegangen, und die Bignicour war allein zu Häufe.

»Sie wissen ja, liebe Frau, daß ich Maler bin,« redete er sofort auf sie ein.

»Gewiß, und ein ganz ausgezeichneter!«

»Sie haben es in der Hand, es mir zu ermöglichen, ein Meisterwerk zu schaffen. Ich habe für einen Herren bei Hofe ein Bild zu malen, wozu ich ein junges Mädchen brauche. Sie müssen darin einwilligen, daß Fräulein Genoveva mir als Modell dient.«

»Du lieber Gott, ich habe nichts dagegen.«

»Sie willigen ein?«

»Gern.«

»Was wird aber Ihre Tochter dazu sagen? Wird sie wollen?«

»Warum nicht? Übrigens habe ich sie zum Gehorsam gegen mich erzogen.«

»Sie erfüllen mein Herz mit Freude, Frau Bignicour! seien sie versichert, daß ich Ihnen, sobald ich den Preis für das Bild erhalte, reichlich meine Erkenntlichkeit bezeigen werde,«

»Ich handle nicht aus Interesse. Wenn ich reicher wäre, könnten sie versichert sein, daß Ihnen Genoveva so viel sitzen würde, wie Sie wünschten, hier natürlich in meinem Beisein, denn ich werde ja meine Tochter nicht mit einem jungen Manne allein lassen.«

»Das versteht sich. Aber kommen sie beide lieber zu mir, wo ich alles nötige zur Hand habe. Werden Sie mich auch darin unterstützen, das Modell Stellungen einnehmen zu lassen, die ein bescheidenes, schüchternes junges Mädchen mir vielleicht verweigern würde?«

»Gewiß. Da der Zweck ein ehrenwerter ist, bin ich zu allem bereit.«

»Sie sollen beide für ihre Mühe reichlich entschädigt werden. Setzen sie Ihren Preis fest, ich werde nicht abhandeln. Und wenn sie selbst den vollen Preis verlangen würden, den ich für das Bild bekomme, so würde ich dabei noch gewinnen, da das Werk mich bekannt machen wird.«

Als Genoveva zurückkam, sprach die Mutter ihr von dem Vorschlag des Malers und brachte sie dahin, daß sie ihre Einwilligung gab. Dutertre war außer sich vor Freude und sagte zu dem jungen Mädchen:

»Mein Fräulein, finden sie das für meine Schwester bestimmte Kleid schön?«

»Es ist reizend.«

»Dann behalten sie es, bitte. Ich habe gar keine Schwester und wollte mich durch die Bestellung nur auf eine anständige Art und Weise bei Ihnen einführen. Ich rechnete darauf, daß es schließlich doch Ihnen gehören würde, und ließ es daher nach Ihrem Maß und Ihrem Geschmack anfertigen.«

Genoveva war über das Geschenk sehr erfreut, und man setzte Tag und Stunde der ersten Sitzung fest.

Den übernächsten Tag stellten Mutter und Tochter sich zur verabredeten Stunde im Atelier des Malers ein. Genoveva hatte ihr neues Kleid angezogen und sah darin wirklich entzückend aus.

»Sehen sie nur, wie das Kleid ihr steht,« bemerkte die Näherin, »Sie haben da vielleicht ein schöneres Modell, als sie sich selbst vorgestellt haben.«

»Wahrhaftig, Fräulein ist ganz reizend … Doch alles ist bereit. Ich will erst noch ein wenig am Kopf verbessern, der nicht so schön ist, wie das Original …«

»Ah! Herr Dutertre, welch schönes Bild! … Machen sie nichts mehr daran! Sie würden es nur verderben!«

»Ich muß ihm noch das reizende Lächeln und die bescheidene, liebliche Röte der schönen Genoveva geben … Sehen sie jetzt, was sagen sie nun?«

»Sie hatten recht! Nun und jetzt? Was werden Sie nun vornehmen?«

»Den Körper.«

»Richtig. Nun, Kindchen, halt dich hübsch gerade. Was machen sie da?«

»Ich warf die Umrisse der Stellung auf die Leinewand, um das Fräulein weniger lange zu belästigen …«

»Ich sehe nur weiße Striche.«

»Jetzt, liebe Frau, muß Ihre Tochter die Stellung einnehmen.

»Wie soll sie sich halten?«

»Ja, beste Frau Bignicour, sie muß ihr Kleid ausziehen.«

»Ihr Kleid? Im Mieder also?«

»Ja, ziehen sie ihr das Kleid nur aus … und nun das Mieder auch.«

»Das ist aber doch etwas stark, Herr Dutertre!«

»Meine liebe Frau Bignicour, denken sie an das, was ich Ihnen sagte: ich bekomme für das Bild 25, vielleicht 50 Louis!«

»Für dieses Bild da?«

»Gewiß!«

»Sie haben einen schönen Beruf gewählt! Denn sie können alle Jahre gewiß so ein Dutzend davon anfertigen. So, jetzt ist das Mieder auch weg. Mein Gott, mein Püppchen, wie du zitterst! Er wird dich nicht beißen!«

»Das Häubchen und die Schuhe kann sie auch nicht anbehalten: lassen sie mich ihre Haare arrangieren.«

»Man kann Ihnen nichts abschlagen, Herr Dutertre! …«

»Nun nur noch eins, liebe Frau Bignicour, man müßte noch … zum Teil dieses … Hemd ausziehen…«

»Sagen sie mal, mein Herr Maler, wofür halten sie uns eigentlich? … Zieh dich wieder an, mein Kind, und für Ihr Kleid danken wir, Herr!«

»Meine einzige Frau Bignicour, ich flehe Sie kniefällig an, lassen sie mich nicht sitzen! Bringen sie mich nicht um mein Bild und meine Zukunft! Reden sie! Was verlangen sie von mir? Ich will Ihnen jedes Opfer bringen.«

»Ich will nichts!«

»Bitte, stellen sie Ihre Bedingungen, tun sie es. Ich kann meinen Weg machen. Jedermann sagt, ich habe viel Talent. Ich bin noch jung. Sprechen sie.«

»Das ist denn doch ein zu starkes Stück, Herr! Sie hätten sich an unsere Nachbarin, die Rosette, wenden sollen. Das und noch Schlimmeres ist ihr Handwerk!«

»Ach, Madame, welchen Schaden würde ihre reizende Tochter erleiden, wenn …«

»Welchen Schaden? Welchen Schaden? Und wenn man es erfährt, wie man alles erfährt, wer würde sie dann noch wollen?«

»Oh! liebe Frau Bignicour, wenn es nur das ist! Ich, ich selber werde sie heiraten, aber lassen sie mich mein Bild malen!«

»Das ist allerdings etwas anderes! … Aber geben Sie mir das schriftlich! …«

»Von ganzem Herzen! Ich habe keine Feder hier, aber ein Bleistift genügt, diktieren sie, was ich schreiben soll.«

»Ich verspreche Fräulein Genoveva Bignicour hiermit die Ehe und erkenne es als richtig an, daß ihre Mutter nur durch dieses Eheversprechen dazu bestimmt worden ist, darin einzuwilligen, daß Fräulein Genoveva mir als Modell diente. Ich verpflichte mich dazu bei meiner Ehre und gebe ihr zum Pfande mein Bild, das Fräulein Genoveva zu vollem Eigentum gehören würde, wenn ich mein Versprechen nicht erfüllte.

Gegeben zu Paris, in meiner Wohnung, Rue Bettisi, am 13. Juni 1774.«

Dutertre schrieb das Eheversprechen nieder und unterzeichnete es. Danach hatte er nur noch die allerdings zahlreichen Schwierigkeiten zu bekämpfen, die das junge Mädchen ihm lange Zeit entgegensetzte. Endlich aber ließ sie sich durch ihre Mutter überzeugen, die ihr vorstellte, daß sie sich ja doch nur ihrem zukünftigen Gatten zeige, verbarg ihr Gesicht in beiden Händen und stellte den Blicken des jungen Malers alles zur Schau, was die Natur ihr an Schätzen zuerteilt hatte.

»Welch eine Vollendung! rief er alle Augenblicke, Sie könnte den Grazien als Modell dienen!« Genoveva suchte mit den Händen einen Teil ihrer Schönheiten zu verdecken, da ihr das aber nur halb gelang, so erhöhte sie dadurch nur den pikanten Reiz dessen, was unbedeckt blieb. Als das Modell und seine Mutter von der Sitzung ermüdet waren, wurde sie aufgehoben, und alle drei gingen zusammen speisen. Es wurde vereinbart, daß bis zur Vollendung des Bildes täglich eine Sitzung stattfinden, und der Erlös aus demselben die Heiratskosten decken sollte.

Obgleich Genoveva in der Tat ein köstliches Geschöpf war, empfand der junge Maler dennoch keine Liebe für sie, sei es, daß er ganz nur mit seiner Kunst und dem Fortschreiten seines Werkes beschäftigt war, oder seine Stunde noch nicht geschlagen hatte. Solange er noch immer an dem Bilde zu arbeiten hatte, dachte er wenig an die Verpflichtung, die er gegen sein Modell eingegangen war. Aber alles nimmt einmal ein Ende, und so die Sitzungen auch. Das Bild war ein Meisterwerk geworden. Außer sich vor freudiger Erregung überbrachte der Künstler es dem Herzoge, dem er meldete, daß es fertig sei.

»Wie? Fertig, ohne daß Sie mich einmal um Rat gefragt haben? … Das wird etwas Schönes geworden sein! Nun zeigen sie mal.«

Es wurde ins rechte Licht gesetzt. Kaum hatte der Herzog einen Blick darauf geworfen, als er sprachlos vor Entzücken davor stehen blieb. Endlich konnte er dem Künstler nicht anders seine Bewunderung ausdrücken, als, indem er ihn umarmte und äußerte:

»Ein Wunderwerk, mein Lieber, haben sie da geschaffen!«

»Ja, aber es kommt mir teuer zu stehen! Ich habe das Modell nur mittels eines Eheversprechens bekommen können.«

»Das Urbild lebt? … Da sind Sie wahrhaftig nicht zu beklagen! … Wollen sie es denn nicht heiraten?«

»Ich habe noch wenig Sinn für die Ehe. Die unangenehmen Seiten derselben können meiner Entwicklung nur schaden. Aber ich habe nun einmal das Versprechen gegeben.

»Ich werde die Sache in die Hand nehmen, mein Bester, lassen sie mich die Bekanntschaft Ihres Modells machen, und ich werde für seine Zukunft sorgen.«

»Oh! Herr Herzog, damit würden sie mir einen unschätzbaren Dienst leisten! Sie ist die Tochter einer armen Arbeiterin.«

»Bei Gott! Ich will sie sehen, Sie müssen mich zu ihr führen.«

»Morgen frühstücken sie bei mir. Sie kommen, um zu hören, ob mein Bild Erfolg gehabt hat, und um weitere Anordnungen zu treffen.«

»Da werde ich auch mitmachen, Kunst und Schönheit ehren jeden Stand! Für das Bild zahle ich Ihnen 6000 Franken, nicht um Sie zu begünstigen, sondern weil es soviel wert ist, ich werde Ihnen die Summe anweisen lassen. Auf morgen also, mein lieber Dutertre… Es ist nicht möglich, daß Ihr Modell so schön ist! Ich schenke ihm die Hälfte seiner Schönheit!«

»Und ich sage, daß Genovevas Schönheit das Werk noch weit übertrifft, Herr Herzog!«

Von seinem doppelten Erfolg beglückt, sprach der junge Maler darauf bei Genovevas Mutter vor, um ihr zu berichten, wie sein Bild aufgenommen worden war, und ihr ans Herz zu legen, beim Frühstück ja nicht zu fehlen.

Gegen 9 Uhr erschien sie pünktlich mit ihrer Tochter. Genoveva, die für die Vorzüge des Künstlers nicht unempfindlich war, hatte eine gewählte Kleidung angelegt: ihre hübsche neue Polonaise, ein damit harmonierendes Kleid, ein niedliches Häubchen, einen durchsichtigen Gazeschleier über ihrem knospenden Busen, elegante Schuhe und Strümpfe, kurz sie strahlte mehr denn je im lieblichen Glanze ihrer siegreichen Anmut. Der Herzog war noch nicht da. Die Damen bereiteten das Frühstück, um zehn Uhr setzte man sich zu Tisch, und der Herzog erschien.

»Oh! Himmel! Der Herr Herzog!«

»Ich ging an Ihrem Hause vorüber und da dachte ich, ich wolle Sie einen Augenblick besuchen. Man erweist sich selbst eine Ehre, wenn man Leute von Ihrem Verdienst aufsucht … Aber, meine Damen, ich bitte um Entschuldigung! Ich will nicht stören. Doch was sehe ich? Sollte ich mich so täuschen? …«

»Nein, Herr Herzog. Ich ahne, daß Sie … Ja, sie ist es«.

»Ich will an Ihrem Frühstück teilnehmen, mein Lieber, Ihre Gäste sind zu sehr nach meinem Geschmack, als daß ich mich ihrer Gesellschaft berauben möchte: ich werde mit der schönsten der Grazien und ihrer Mutter speisen.«

»Gnädiger Herr sind zu gütig,« erwiderte die Bignicour verlegen und entzückt zugleich.

Der Herzog saß bei Tisch zwischen Mutter und Tochter, der er aufs angelegentlichste den Hof machte. Er konnte nicht aufhören, die glückliche Wahl des jungen Künstlers zu bewundern: das war wirklich Corisandre in Person, und eine beseelte Corisandre. Die schöne Genoveva errötete über die Komplimente des Herzogs, die sich beständig auf die Reize bezogen, die er auf dem Bilde gesehen hatte. Sie war damals erst 13 bis 14 Jahre alt. Das Frühstück verlief in heiterster Stimmung, Der Herzog tat sein Bestes dazu, und die Näherin fühlte sich so geehrt, daß sie vor Befriedigung beinahe erstickte. Doch vergaß sie darüber nicht den Eheparagraphen. Beim Ende des Frühstücks kam die Rede darauf, und der Herzog äußerte sich mit unbefangener Miene darüber:

»Das wäre ein schöner Unsinn! Sie wollen wohl den Schwung dieses jungen Mannes lähmen, der ein großer Maler werden kann, indem Sie ihn in die Fesseln der Ehe schlagen? Seine Zukünftige ist allerdings schön genug, um seine Liebe zu besitzen, aber sie werden Kinder in die Welt Setzen, die eine Last sind, und Ihre Tochter wird die Frau eines armen Malers sein! … Überlassen sie Dutertre sich selber. Ich nehme es auf mich, Ihre Tochter unter die Haube zu bringen, und glauben sie mir, das Original der auf dem Bilde – meiner Meinung nach einem Meisterwerke – wiedergebenen Person wird mir ebenso teuer sein, wie sein Konterfei.«

»Sehr gütig, Herr Herzog,« entgegnete die Mutter, »aber … meine Tochter liebt ihren Maler.«

»Ist das wahr, schöne Genoveva?«

»Ich will keinen anderen Mann, als ihn,« antwortete Genoveva errötend und mit einer Träne im Auge. »Nun gut, dann sollen sie ihn haben, aber verderben wir ihm nicht seine Karriere. Ich will ihm den Weg bahnen und ihm, da er unbedingt in Rom gewesen sein muß, Empfehlungen an Kardinal Bernis und einige vornehme Herrschaften mitgeben. So wird er auch andere Leute kennen lernen und es nicht wie die übrigen Schüler machen, die nur unter sich leben und mitten in Rom immer in Paris sind. Nach seiner Rückkehr soll die Hochzeit gefeiert werden. Er wird berühmt werden und Ihnen eine glückliche Zukunft bereiten. Ich will aber nicht, daß Sie inzwischen von Ihrer Hände Arbeit leben. Ich werde Ihnen ein Jahresgehalt von 100 Louis aussetzen und Ihnen darüber heute abend oder morgen eine Anweisung auf das Stadthaus übersenden, so daß Sie die Summe selber erheben können.«

»Oh! Gnädigster Herr Herzog! wie gut sind Sie! erwiderte die Näherin tränenden Auges auf sein Anerbieten, »meine Tochter und ich werden Ihnen für so viel Gnade ewig dankbar sein!«

»Ja, aber wird dadurch nicht die Heirat verhindert werden, Mama?« fragte das liebenswürdige Modell naiv.

»Nein, mein Kind, im Gegenteil. Aber du bist noch zu jung, und dein Zukünftiger muß erst noch, wie du gehört hast, nach Rom gehen.«

»Ach, so weit!«

»Das ist nicht so schlimm. Man steigt, wie hier in einen Fiaker, in ein Schiff, und schon ist man da …«

»Und wenn er ertrinkt, Mama?«

»Oh! man wird schon ein so gutes Schiff auswählen, daß keine Gefahr dabei ist … Was ist die Kleine für ihr Alter doch noch unschuldig!«

»Ich werde Ihnen in seiner Abwesenheit den Hof machen, schöne Genoveva,« nahm der Herzog wieder das Wort, »und Ihnen so viele Zerstreuungen verschaffen, daß Sie keine Langeweile empfinden sollen.«

Die Bignicour begriff ungefähr, was der Herzog beabsichtigte, aber gegen die Zumutungen eines Mannes von diesem Range war sie nicht genügend gewappnet. Das Handwerk einer Näherin ist kümmerlich und der Verdienst so gering, daß selbst die härteste Arbeit bisweilen nicht vor Not schützt. Sie beschloß daher, die Gelegenheit auszunützen, wie es die Mütter der Operntänzerinnen tun. Zu fühlbare Not ertötet in gewissen Volksschichten jedes Gefühl von Tugend, und da das Ehrgefühl dieser Leute nur auf einigen Vorurteilen beruht, so gibt es nach, sobald die verführerische Lockspeise persönlichen Vorteils sich darbietet. So wird bisweilen ein Wesen, das im Besitze nur des einfach Nötigen eine Lukrezia gewesen sein würde, im Drang der Bedürftigkeit zur Vettel. Genovevas Mutter war fürs Solide und sah besseren Vorteil in einem Abkommen mit dem Herzog, als in der Heirat ihrer Tochter mit dem jungen Künstler. Demgemäß gab sie auch dem Herzog, der nach Tisch etwas energischer auf Genoveva eindrang und die Kleine dadurch scheu gemacht hatte, einen Wink, wodurch sie ihm andeuten wollte, daß sie sie schon zähmen würde.

Am nächsten Tage brachte der Herzog Mutter und Tochter in einem hübschen, elegant möblierten Häuschen unter, gab ihnen die nötige Anzahl Diener und bestimmte für Genoveva eine Zofe, auf die er sich verlassen konnte. Das unschuldige Kind sah darin nur, was man ihr zeigen wollte, und was ihre Mutter wollte, das sie sehen sollte. Sie arbeitete nicht mehr, man lehrte sie Musik und Tanz, und Dutertre gab ihr Unterricht im Zeichnen. In dieser letzteren Kunst machte sie am raschesten Fortschritte, denn Liebe machte sie ihr teuer: die Kleine betete Dutertre an, der ihr gegenüber immer noch gleichgültig war. Wie es scheint, sah in dem Kopfe des begeisterten und strebsamen Künstlers die Liebe anders aus, als in den Köpfen anderer Sterblicher, er war der höchsten Vollendung aller Reize gegenüber unempfindlich geblieben, die Unschuld und rührende Naivität der Kleinen hatten keinen Eindruck auf ihn gemacht, nun aber wurde er von der Arbeitsfreudigkeit und dem Eifer seiner jungen Schülerin, von der Biegsamkeit ihrer Hand und der kostbaren Reinheit ihrer Zeichnungen besiegt, und es vergingen nicht zwei Monate, da war auch er ebenso sterblich in sie verliebt. Überrascht von einem Gefühle, dessen er sich nicht für fähig gehalten hatte, eifersüchtig auf den Herzog, verzweifelt über seinen dummen Streich, das geliebte Weib nicht geheiratet, sie dem Herzog gezeigt und beinahe ausgeliefert zu haben, erschien er jetzt in ihrem Beisein stets nachdenklich und träumerisch. Genoveva bemerkte es. Sie war jetzt geradezu von bezaubernder Anmut, da Sie in ihrem Umgange mit dem Herzog und seinen Gästen, die er ins Haus zog, sich zu ihrer Schönheit auch noch die Manieren der großen Welt angewöhnt hatte. Eines Tages konnte sie sich nicht enthalten, mit zärtlichstem Ausdruck Dutertre zu fragen:

»Langweilen sie sich, wenn ich bei Ihnen bin? Sehnen sie sich so sehr nach Ihrem Rom?«

»Ich mich bei Ihnen langweilen, schöne Genoveva! Nein, Geliebte, wenn ich Ihnen traurig erscheine, so bin ich es darüber, daß ich Sie schon nach einer Stunde wieder verlassen muß.«

»Ah! Wie schmeichelhaft für mich!«

»Es ist die Wahrheit!« …

»Sind Sie mir nicht zum Gemahl bestimmt, sobald Sie es nur wollen?«

»Oh! liebes Fräulein! Ich müßte Sie kniefällig für den Fehler um Verzeihung bitten, den ich begangen habe …, daß ich Sie nämlich mit dem Herzog bekannt gemacht habe … Sie gehören jetzt ihm an und ich kann nicht mehr darauf hoffen, Sie jemals die meine zu nennen, oder doch erst dann, wenn seine Schwärmerei für sie vorüber ist!«

»Für mich? Niemals werde ich ihm angehören!«

»Das ist aber sein Ziel. Er will Sie zur Geliebten haben, wenn sie es nicht schon sind. Ihre Mutter ist für ihn, und ich verdanke das Glück, Ihnen Zeichenunterricht geben zu dürfen, nur dem Umstande, daß man mich für unempfindlich gegen Ihre Reize hält. Ich bin mir meiner Gefühle für Sie, schöne Genoveva, zu spät bewußt geworden. Mein Herz gehörte Ihnen schon immer, und ich wußte es nicht. Und ich habe Sie zu meinem Unglück dem Herzoge ausgeliefert!«

»Gott im Himmel! Aber ich will nicht mehr …«

»Teure Genoveva, wir müssen fortfahren, zu heucheln, sonst bin ich verloren! Aber versprechen sie mir, den Angriffen des Herzogs Widerstand entgegenzusetzen, und ich werde darauf sinnen, einen Ausweg zu finden.«

»Ich liebe Sie, Sie wissen es,« erwiderte Genoveva, »und ich werde alles tun, was sie sagen. Wenn wir fliehen müssen, so fliehe ich mit Ihnen, dann heiraten wir, um uns nie mehr zu trennen!«

»Oh! Wie segne ich Ihren Entschluß! Aber wie? Sie wollten Reichtum und alle Behaglichkeit, die Sie hier genießen, im Stich lassen, um mir, dem armen Künstler, zu folgen?«

»Alles, was ich hier habe, hat nur Wert für mich durch Sie. Ohne Sie, ohne die so kurzen Minuten, die wir allein sind, könnte ich dieses Leben nicht ertragen. seien Sie meiner sicher, aber kann ich auch auf Sie bauen?«

»Ich schwöre Ihnen, daß ich Sie heiraten werde, sobald wir dazu die Möglichkeit haben!«

»Und ich schwöre, mit Ihnen zu fliehen! Ich liebe meine Mutter und würde sie gewiß nie verlassen. Aber, da ich weiß, daß sie mit dem Herzog einig ist und mich ihm ausliefern will, jetzt schwindet meine Liebe zu ihr …«

In diesem Augenblick wurde die Tür mit furchtbarem Geräusch aufgerissen, und Genovevas Mutter stürzte ins Zimmer.

»Ah! Ungeheuer!« schrie sie dem Maler entgegen, »das also ist der Unterricht, den du meiner Tochter erteilst! Hinaus mit dir, auf der Stelle hinaus! Soeben ist der Herzog gekommen. Wenn ich ihm alles sage, wird er dich zum Fenster hinauswerfen lassen!« Und sie packte Dutertre bei den Schultern und warf ihn zur Tür hinaus. Genoveva stand da mehr tot, als lebendig. Nun wandte ihre Mutter sich an sie, aber sehr maßvoll, und sagte:

»Wie! Mein liebes Kind, du schenkst diesem Elenden Gehör? Diesem Hungerleider, der dich gegen deine Mutter aufhetzt? Komm, du hast ihn nicht nötig, dein Glück ist gemacht, der Herzog liebt dich von ganzem Herzen, das ist Tatsache. Denke an den Vorteil, liebe Tochter, den wir daraus ziehen können! Kann ein Mädchen sich ein größeres Glück wünschen? Du bist bezaubernd und wirst ihn stets fesseln. Wer weiß, was noch mehr geschieht … Sei vernünftig, liebes Kind, sieh hier deine Mutter zu deinen Füßen, die dich anfleht, dein und ihr Glück zu machen … Du hast es in der Hand, meine liebe Kleine, der Herzog ist liebenswert, mächtig und hochgeehrt. Alle Tage kannst du, wenn du willst, Feste feiern und ins Theater gehen. Du hast nun gelernt, dich in der großen Welt zu bewegen, er wird dich überall hinführen, und ich werde deine Begleiterin sein und freudig mein Amt ausfüllen, denn bin ich nicht deine gute Mutter? Vergiß den häßlichen Menschen, der dich jetzt ins Unglück stürzen will, nachdem er beabsichtigt hatte, aus dir eine Dirne zu machen, als er dich dem Herzoge auslieferte. Er hat gedacht, der Herzog würde sich mit dir belustigen, dich dann sitzen lassen, und du würdest dann froh sein, wenn er sich deiner annähme. Der Herzog hat mir alles gesagt, Dutertre hatte ihn gebeten, ihn von uns loszumachen, jetzt aber, wo er sieht, daß du eine große Dame werden wirst, da packt ihn die Eifersucht. Laß du ihn jetzt fahren und sei nicht so töricht, ihn auch nur eine Minute lang zu bedauern!«

Genoveva ließ ihre Mutter sagen, was sie wollte. Sie hatte den Tod im Herzen, wenn sie daran dachte, sie würde nun ihren Geliebten nicht wieder sehen. Im Grunde ihres Herzens war sie davon überzeugt, daß er sie liebte. Nur um eins bat sie die Mutter: ihr die Fortsetzung des Zeichenunterrichts zu erlauben, da sie diese Kunst leidenschaftlich liebe. Die Mutter schlug es ab. Genoveva versicherte ihr, sie würde sie dadurch in Verzweiflung stürzen, und machte den Vorschlag, daß die Mutter demselben beiwohnen könnte. Aus Furcht, es mit ihrer Tochter ganz zu verderben, wenn sie dies ablehnte, bat sie um eine Stunde Bedenkzeit. Sie verwandte diese darauf, den Herzog um Rat zu fragen. Dem vornehmen jungen Herrn war der Zwischenfall sehr ärgerlich. Er war im Grunde sehr edeldenkend und deshalb geneigt, die beiden jungen Leute, wenn sie sich liebten, zu vereinigen. Aber Genovevas Mutter bekämpfte diese gute Absicht und suchte seine Hoffnungen wieder zu beleben.

»Es gibt ein sehr gutes Mittel für sie, das Herz der Geliebten zu gewinnen: verheiraten sie den Maler.«

»Von Herzen gern, wenn er einwilligt.«

»Lassen sie mich machen, ich werde ihm schon eine Frau finden. Nur möchte ich Sie bitten, alles zu tun, was ich Ihnen sagen werde, wenn es einmal so weit ist. Gehen sie jetzt zu Genoveva, beklagen sie sie und sagen sie ihr, Sie wünschten, daß sie den Unterricht bei ihrem Zeichenlehrer fortsetzte. Ich werde es so einrichten, daß ich stets dabei bin und werde die beiden nicht außer Augen lassen.«

Der Herzog tat also, tröstete Genoveva liebevoll und stellte sich, als er von nichts anderem wüßte, als nur von einem Streit zwischen ihrer Mutter und dem Maler. Er versprach ihr, daß er die beiden wieder versöhnen werde, und bat sie freundlich, sich zu beruhigen. So viel Güte rührte Genoveva, und sie hätte vielleicht dem Herzog ihr Herz ausgeschüttet, wenn in diesem Augenblick nicht ihre Mutter dazu gekommen wäre.

In derselben Straße, wo der Maler das junge Mädchen getroffen hatte, lebte ein anderes Mädchen, das Modell von Beruf war. Rosette war tadellos gewachsen, hatte aber ziemlich gemeine Gesichtszüge. Die Bignicour hatte für sie geschneidert und wußte daher, daß der Maler sie nicht kannte. Diese wollte sie zu seiner Frau machen, einmal, um ihn auf diese Weise loszuwerden, und dann, um sich an ihm zu rächen. Sie suchte Rosette auf. Sie fing damit an, ihr weitschweifig die glückliche Lage zu schildern, worin sie sich jetzt befände, und schlug ihr dann vor, sie wolle sie mit einem jungen, talentvollen Maler verheiraten und ihr eine schöne Mitgift verschaffen, wenn sie alles täte, was sie von ihr verlangen würde. Sie versicherte ihr, daß der Handel durchaus ehrenwert sei, und schilderte ihr besonders den Maler in so vorteilhafter Weise, daß Rosette einwilligte. Als sie von dieser Seite sicher war, handelte es sich nur noch darum, das Komplott anzuzetteln.

Der Herzog beabsichtigte, noch mehrere andere Bilder in derselben Art wie jenes anfertigen zu lassen, zu dem Genoveva Modell gestanden hatte. Seitdem er aber zu dieser in Liebe entbrannt war, wollte er sie den Blicken des Malers nicht mehr aussetzen. Das wußte die Bignicour, sie erwartete daher am Tage nach ihrem Besuche bei Rosette den Herzog mit Ungeduld. Sobald er erschien, sagte sie zu ihm:

»Ich habe gefunden, was sie für Ihre Bilder brauchen: ein junges Mädchen mit ebenso vollkommenen Körperformen wie Genoveva, nur sind ihre Gesichtszüge nicht sehr einnehmend. Sie würde gern als Modell dienen und ich hoffe, auch noch zu anderem. Da Ihr kleiner unverschämter Schützling in meine Tochter verliebt ist, so werde ich, um seine Phantasie mehr zu entflammen, ihm weismachen, sie wolle ihm wieder sitzen, schäme sich aber so sehr, daß sie verlangt habe, es solle ihm verheimlicht werden … Er wird daher auch niemals ihr Gesicht sehen. Ich selbst werde den Kopf des Modells stets verhüllt halten, wie wenn ich das Schamgefühl meiner Tochter schonen wollte, und als ob ich noch ärgerlich auf ihn wäre.«

Der Herzog ging auf die Sache ein, wollte aber vorher wissen, ob Rosette sich auch als Modell eignen würde. Die Bignicour ließ sie kommen und sie das Kostüm der Mutter Eva anziehen. Man mußte gestehen, daß nur eine Genoveva ihr gleichkam, oder sie vielmehr übertraf, da sie viel jünger war, und sich nicht, wie Rosette, mit gewissen Scherzen befaßt hatte. Der Herzog war zufrieden und überließ alles Weitere einer Frau, die ihm so ergeben war. Als der Maler sich eines Tages wieder einstellte, um seinen Unterricht zu erteilen, allerdings jetzt stets im Beisein der Signicour, nahm diese ihn beiseite und sagte zu ihm:

»Der gnädige Herr Herzog wünscht, daß Genoveva Ihnen noch einmal Modell steht, er wagt aber nicht, es ihr vorzuschlagen, und ich möchte es auch nicht tun. Wäre es nicht möglich, es so einzurichten, daß sie als Modell dient, ohne es zu wissen? Es wäre aber dann erforderlich, daß Sie nicht mit ihr sprächen, während ich sie in ihrer Unschuld die geeigneten Stellungen annehmen lassen würde.«

Der junge Maler wünschte nichts Besseres, als die Reize wiederzusehen, deren Wert er jetzt anders zu schätzen wußte, wie das erstemal, als er sie nur mit Künstleraugen angesehen hatte.

Am nächsten Tage war alles zur Sitzung bereit. Die Bignicour befand sich im Nebenzimmer und hatte auf ihrem Schoße ein tadellos gebautes junges Mädchen im Naturzustande. Nur der Kopf der schönen war mit einem schwarzen Schleier verhüllt. Die Bignicour sagte zu ihr:

»Du darfst nichts sehen, meine Liebe, wenn man dir den Schleier abnähme, würdest du aus reiner Angst krank werden. Wenn du aber nichts siehst, wirst du auch nichts fühlen und fast gar nichts bemerken. Aber einige Zeit ist für die Operation nötig, wir werden dazu acht Tage lang wenigstens eine Stunde täglich brauchen.«

Dann sah sie den Maler fragend an, um zu wissen, welche Stellung das Modell einnehmen solle, und fuhr fort:

»Erhebe diesen Arm da, gut! Lege dich so hin … sehr gut, und nun halte dich ruhig …«

Wieder sah sie den Maler an.

»Nun nimm ein wenig den Körper vor, damit ich es bequemer habe … Nicht wahr, du fühlst nichts?«

»Nein, Mama,« flüsterte die Verschleierte leise.«

»Und doch habe ich schon viel getan!« schloß die Bignicour.

Auf diese Weise wurde die Sitzung fortgesetzt. Als sie zu Ende war, kam Genovevas Mutter zum Maler auf sein Zimmer und sagte zu ihm, wie eine Verrückte lachend:

»Ich habe meiner Tochter vorgeredet, sie habe plötzlich am ganzen Körper linsengroße, schwarze Flecke bekommen, und die werde ich ihr wieder wegbringen, ohne daß sie es merkte, indem ich ihr mit einem kleinen Pinsel darüberhinfahre. Sie haben gesehen, wie gut die Operation verlaufen ist! Ich habe ihr auch wirklich einige Flecke gemacht an Stellen, wo sie es sehen kann.

Sie weiß aber, daß noch nicht alles zu Ende ist, und ich werde sie in dem Glauben belassen, bis sie Ihr Bild beendet haben.«

»Aber sie wird den Betrug bald merken?«

»Nein, sie ist ein zu gutes Schäfchen!«

»Ein kostbarer Schatz ist sie, den ich zu spät gewürdigt habe!«

»Hören sie, lassen sie es sich nicht einfallen, ihr den Irrtum zu benehmen! Sagen sie ihr kein Wort davon! Besser so, als wenn sie sich schamlos mit Vergnügen als Modell hingeben würde!«

»Sie haben recht.«

Am nächsten Morgen und die folgenden Tage das gleiche Verfahren. Endlich nach dem vierten oder fünften Male kam die Bignicour zu dem jungen Maler und sagte zu ihm:

»Herr Dutertre, heute will ich mich überzeugen, ob sie wirklich verschwiegen sein können. Ich habe zu tun und bin gezwungen, meine Tochter mit Ihnen allein zu lassen. Da Ihr Bild ein Mädchen im Bade darstellt, so können sie sich gleich das Bad zunutze machen, das sie nachher nehmen wird, da ich aber nicht will, daß sie Sie sieht, so habe ich ihr vorgeredet, daß man mit ihr nach dem Bade eine schreckliche Operation vornehmen müsse, die die Hand eines geschickten Chirurgen erforderte, von dem sie aber später nicht wiedererkannt werden dürfe. Sie ist natürlich der Meinung, daß weder der Herzog noch Sie davon wissen, verstehen sie? Sonst würde sie vor Scham sterben. Ich habe ihr daher das Gesicht wie gewöhnlich verhüllt, so gut, daß sie nicht imstande ist, den Schleier abzumachen. Sie sollen die Rolle des Chirurgen spielen, aber sprechen sie nicht oder verstellen sie wenigstens Ihre Stimme. Wenn sie eine besondere Pose nötig haben, so können sie sie einnehmen lassen. Ich habe die Schleife gesiegelt, man kann also den Schleier nicht abnehmen, ohne daß ich es merke. Ich verlasse sie jetzt. Führen sie sich so auf, daß ich mich mit Ihnen wieder versöhnen kann. Nach dieser Warnung führte sie das Modell herein und legte sich dann selbst in den Hinterhalt.

Der Künstler ging an die Arbeit. Aber diesmal war es etwas anderes, er war verliebt, er hatte Gelüste, und wenn er auch mit viel Feuer arbeitete, so wurde die Arbeit doch ein wenig unkorrekt. Endlich ließ er sein Modell eine wollüstige Stellung annehmen, wozu das junge Mädchen sich mit solcher Bereitwilligkeit hingab, daß er in Ekstase geriet.

»Schöne Genoveva,« flüsterte er ihm zu, »erkennen Sie mich nicht? Ich bin’s, Ihr Geliebter, der sie anbetet!«

»Wie? Sie sind nicht der Chirurg?« entgegnete eine gedämpfte Stimme.

»Ah! Geliebte, Sie haben keinen Chirurgen nötig. Mit der Hautkrankheit hat man Ihnen nur etwas vorgemacht, Ihre Schönheit ist unbefleckt… Aber stellen Sie sich weiter so, als ob Sie daran glauben, ich werde dann versuchen, unsere Sitzungen auszunutzen, um unseren Fluchtplan zur Ausführung zu bringen.«

»Ich bin mit allem einverstanden,« erwiderte das Modell.

Mit allem! … Dieses Wort gab dem Künstler zu denken:

»Mit allem! … Da liegt sie! Wenn ich die Situation ausnützte!« seine Sinne Sprachen und die Gelegenheit war einzig! Er nutzte sie aus, und … das Modell setzte keinen Widerstand entgegen. Darauf nahm er hochbeglückt seine Arbeit wieder auf. Am Schluß der Sitzung trat die Bignicour ganz atemlos ins Zimmer und nahm das Modell mit sich.

Am darauffolgenden Tage nahm Genoveva keinen Zeichenunterricht, aber die Sitzung fand statt. Der Maler war wieder allein mit dem Modell und widmete sich ausschließlich dem Vergnügen. Als aber seine Ekstase den Höhepunkt erreichte, stürzte die Bignicour plötzlich wie eine Furie ins Zimmer und schrie:

»Ah! Elender! … Oh! Du Schamlose! … Herbei, zu Hilfe!«

Der Herzog eilte herbei. Er sah alles und sagte ernst zum Künstler:

»Herr Dutertre, Ihr Betragen ist unwürdig!«

»Herr Herzog,« erwiderte der junge Mann in höchster Verwirrung, »Sie wissen, daß …«

»Sie hatten sie mir abgetreten,« unterbrach er ihn, »das ist alles, was ich weiß. Aber nach dem Vorgefallenen gibt es nur eins: Sie müssen sich jetzt mit der verheiraten, die Sie überrumpelt haben, das soll Ihre Strafe und meine Rache sein!«

»Und meine Belohnung, Herr Herzog!«

»Nun, dann ist alles gut! Ich bin nicht boshaft, und wenn die Strafe Ihnen als eine Belohnung erscheint, so soll mir das auch recht sein! Jedenfalls entwaffnen Sie dadurch meinen Zorn, den ich natürlich über Ihre Handlungsweise empfinden mußte … Während der Vorbereitungen zur Hochzeit bitte ich Sie, an meinen Bildern fortzuarbeiten, aber ich will, daß die Schöne stets verhüllt sei, denn es würde Ihnen zu viel Vergnügen bereiten, sie ganz zu sehen. Den Kopf können Sie dann später malen.«

Die Bignicour schien sehr unzufrieden mit diesem Urteil zu sein, und wollte sich an ihrer Tochter rächen, aber der Herzog hielt sie zurück und bat sie, sich zu entfernen.

Es wurden nun also die Vorbereitungen für die Hochzeit des Künstlers getroffen. Das Aufgebot wurde erlassen, und der Kontrakt aufgesetzt. Der Herzog gab der Zukünftigen eine Mitgift von 6000 Franken und bezahlte dem Maler die Bilder in freigebigster Weise.

Am Abend vor der Feierlichkeit, als der Kontrakt unterzeichnet werden sollte, befahl der Herzog der Bignicour, ihre Tochter kommen zu lassen.

»Sie ist bei einer früheren Nachbarin von uns, erwiderte diese, »die die Nacht bei ihr bleiben soll. Darf sie diese mitbringen, Herr Herzog?«

»Nein! Aber beide mögen hier nacheinander verschleiert erscheinen. Dutertre kann sich nicht täuschen.«

Notar und Zeugen waren noch zugegen, als die erste der beiden erschien, es war Rosette, das Mädchen, das dem ersten besten Künstler Modell zu stehen gewohnt war.

»Wenn sie wahrhaft lieben,« wandte sich der Herzog an den Maler, »So werden sie sicher die, die Sie lieben, erkennen. Ist es diese?« Rosette trug eines von Genovevas Kleidern mit einem Pelzmantel, der bis über die Knie ging.

»Ich weiß nicht,« erwiderte der junge Mann.

»Sie müssen sie herausfinden und werden die heiraten, die Sie als Ihre Geliebte erkennen werden, ohne ihr Gesicht zu sehen.«

»Gut,« sagte der Maler darauf, »aber dann will ich sie sehen, wie ich sie bei den Sitzungen gesehen habe.«

»Einverstanden,« entgegnete der Herzog. Und Rosette ging in ein Nebenzimmer und nahm eine Pose als Modell an. Als sie bereit war, wurde der Maler eingeführt. Er betrachtete sie aufmerksam und sagte dann:

»Das ist nicht meine Geliebte!«

Nichts war begreiflicher, als dieser Entscheid, denn man hatte die Zofe untergeschoben, die nicht die vollendeten Formen Rosettes, noch weniger die Genovevas besaß.

»Nun sollen sie die andere sehen,« bemerkte der Herzog lachend. Rosette nahm dieselbe Stellung ein, und sofort rief der Maler:

»Ja, die ist es!«

»Bleiben sie bei ihr,« sagte darauf der Herzog und befahl Notar und Zeugen eintreten zu lassen. Man kleidete die Schöne vor ihnen an, übergab sie verschleiert ihren Händen und beauftragte sie, sie am nächsten Tage um fünf Uhr morgens in die Kirche zu führen. Der Maler begleitete die Verschleierte bis an das Zimmer, in dem sie die Nacht zubringen sollte, schloß die Tür dazu ab und steckte den Schlüssel ein. Dann suchte er, da die Sitte verbietet, daß zwei Brautleute die Nacht vor ihrer Hochzeit unter ein und demselben Dache zubringen, die kleine Wohnung auf, die er vorher bewohnt hatte.

Kaum graute der Tag, als man ihn holte, damit er seine Geliebte aus ihrem Gefängnis befreite. Man forderte von ihm, daß er sie, bevor sie das Zimmer verlasse, auf eine Weise anerkenne, die er für unfehlbar halte. Sodann verlangte man, daß sie zusammen im selben Wagen in die Kirche führen, was eigentlich gegen die Sitte war.

In der Kirche gab der Herzog der Braut den Arm und führte sie bis zum Fuß des Altars, ihre Schritte sorgfältig leitend, da sie des Schleiers wegen nicht sehen, aber auch nicht gesehen werden konnte.

Als nun der Geistliche im Augenblick des Ehesegens forderte, daß die Braut den Schleier abnehme, da erschien vor den Augen der Versammelten nicht Genoveva, sondern Rosette. Rosettes Name stand auch auf dem Aufgebot und im Ehevertrag; Rosette hatte den letzten Bildern als Modell gedient und Rosette hatte die Liebesfreuden des Malers geteilt. Der Bräutigam hatte schon das Ja ausgesprochen, und Rosette hatte es ebenfalls getan, während sie sich entschleierte. Ihr Gatte sah sie mit einer Verblüffung an, die ihn hinderte, die Zeremonie zu unterbrechen. Schließlich wollte er protestieren, aber der Herzog schlug einen so entschlossenen Ton an, daß er dadurch eingeschüchtert wurde. Was hätte er denn auch tun können? Er hatte ja das Urteil des Notars und der Zeugen gegen sich.

In einem Winkel der Kirche hatte die Bignicour mit ihrer Tochter der Zeremonie beigewohnt. Sie hatte Genoveva von der Untreue des Malers zu überzeugen gewußt. Genoveva hatte Rosette niemals gesehen, der Herzog hätte auch nicht geduldet, daß diese sich ihr näherte, denn dazu liebte er sie zu sehr. Er dachte zwar nicht an Ehe, aber er war entschlossen, ihr stets die zärtlichste Achtung zu bezeugen. Genoveva ließ also alles ohne Einspruch geschehen und hatte sich schon zurückgezogen, bevor der Herzog gezwungen war, gegen den Neuvermählten so energisch aufzutreten. Da der Maler die Gesetze nicht kannte und sich für gebunden hielt, so glaubte er, nichts Besseres tun zu können, als sich mit dem schönen Körper Rosettes zu trösten, deren Gewerbe er nicht kannte. Man hatte ihr nämlich unter den schrecklichsten Drohungen verboten, jemals davon ein Wort zu sagen, ihr aber vollen Schutz versprochen, wenn sie vernünftig wäre. Sie versuchte, das Vertrauen ihres Mannes zu gewinnen, und da sie nicht dumm war, so gelang es ihr, ihm zu gefallen, ohne ihm aber leidenschaftliche Gefühle einzuflößen. Bald wurde der Künstler wieder von Liebe zu Arbeit und Ruhm erfaßt, seine Frau diente ihm als Modell, der Herzog begönnerte ihn, und er faßte sich in Geduld.

Da Genoveva überzeugt war, daß ihr Geliebter sie verraten hatte, ließ sie sich von ihrer Mutter überreden und erhörte endlich den Herzog infolge eines kleinen Betruges, den man ihrer Unschuld vormachte, indem man ihr versicherte, Herzögen sei es erlaubt, eine Frau zweiter Ordnung zu nehmen. Man führte bekannte Beispiele an, die für sie greifbar waren, und der Herzog war glücklich, sie bei einem Glauben belassen zu können, der sie ihm noch teurer machte.

Aber alles kommt schließlich an den Tag!

Der Maler lebte im Schoße seiner jungen Ehe glücklich dahin, obwohl er in seine Frau nicht verliebt war und Genoveva nicht vergessen konnte, als er eines Tages den Besuch eines seiner Kollegen erhielt. Als Rosette ihn erblickte, verschwand sie, aber zu spät, er hatte sie bemerkt. Nachdem die beiden Maler ihr Geschäft besprechen hatten, fragte der Fremde seinen Freund:

»Potztausend! Ich habe soeben mein Modell bei dir gesehen! Seit einem Jahr suche ich nach ihr und kann sie nicht entdecken …«

»Da halt du dich geirrt,« erwiderte Dutertre.

»Gewiß nicht. Kein Zweifel, es ist Rosette.«

»Rosette?«

»Sie selbst. Sie wohnte früher am Fort L’Beveque … Ist sie deine Geliebte? Wenn ja, so leih sie mir, ich werde dein Vertrauen nicht mißbrauchen: übrigens habe ich sie so oft gesehen …«

»Du irrst dich gewiß,« wiederholte der Maler, »die Frau, die du sahst, ist die meinige, ich habe ihre Bekanntschaft beim Herzog von *** gemacht, der mich veranlaßt hat, sie zu heiraten.«

»Bei Gott, ich muß wissen, woran ich bin. Rufe sie mal her …«

Aber Rosette hatte sich versteckt. Der Fremde ging und sagte, er werde mit einem ihrer Freunde am nächsten Tage wiederkommen. Als er fort war, kam Rosette wieder zum Vorschein.

»Ich weiß nicht, was der Mensch da faselt,« wandte ihr Mann sich zu ihr, »dieser Maler hält dich für ein Modell, das er ganz genau gekannt hat?«

Als Rosette sah, daß doch nun alles herauskommen würde, zog sie es vor, lieber gleich alles einzugestehen, und tat das denn auch gründlich.

Sie fiel ihrem Manne zu Füßen und sagte ihm, daß die Bignicour das ganze Komplott angezettelt habe. Sie sei gezwungen worden, alles zu tun, was von ihr verlangt worden sei, man habe ihr gedroht, sie zugrunde zu richten, und ihr alles versprochen, wenn sie gefügig wäre. Sie weihte ihn in alle Schliche ein, die man angewandt hatte, und bezeigte ihm so viel Anhänglichkeit, daß der Künstler schließlich zu ihr sagte:

»Sei ehrbar, wie du es seit unsrer Verheiratung warst, und ich werde dir zugetan bleiben.«

»Wenn du mir freie Hand lassest, so wollen wir deinen Freund morgen behandeln, wie er es verdient. Rufe mich, wenn er da ist.«

Am folgenden Tage erschien der Maler mit einem Freunde. Beide sahen bei ihrem Eintreten Rosette, die sich stellte, als ob sie fliehen wollte. Sie packten sie beim Arm und sagten zu ihr: »Mein Fräulein oder geehrte Frau, wir haben sie nötig.«

»Und ich bedarf Ihrer,« erwiderte sie, »Sie werden sehen.«

Lachend führten sie sie vor ihren Mann.

»Bist du nicht Rosette, unser Modell?«

»Und wenn dem so wäre?«

»Sie ist es«, sagten sie darauf zu Dutertre, »und du bist schön angeführt worden, wenn sie deine Frau ist.«

»Und in welcher Absicht, meine Herren, klären sie meinen Mann darüber auf, was ich vorher gewesen bin?«

»Nun, um ihm zu zeigen, daß er hinters Licht geführt worden ist.«

»Und um sich dann über sein Unglück, wenn es eins ist, zu freuen? Ich war allerdings das, was sie sagen, aber in den achtzehn Monaten, die ich verheiratet bin, hat Dutertre es dahin gebracht, daß ich eine ehrbare liebevolle und sparsame Hausfrau geworden bin!«

»Das muß ich bestätigen,« sagte ihr Gatte.

»Warum kommen also die sogenannten Freunde, die nur boshafte Geschöpfe sind, jetzt hierher, unsere Ruhe und unser Glück zu vergiften! Hilf mir, sie mit Schimpf und Schande aus dem Haufe zu jagen. Ich für mein Teil werde fortfahren, dich glücklich zumachen.«

Dutertre machte sich ihre Auffassung zu eigen und setzte die beiden Maler an die Luft, während seine Frau sie mit allen Küchenwaffen ziemlich empfindlich bis zur letzten Treppenstufe verfolgte …

Nach diesem Gefecht umarmten sich die beiden Ehegemächte und versprachen sich von neuem, nichts zu tun, was ihr beiderseitiges Glück untergraben könnte. Dutertre, der sehr beschäftigt war und seine Kunst liebte, hatte keine Zeit, unglücklich zu sein, wie sonst so viele Menschen, denen man aus der Erde begegnet.

Indessen wollte er doch an der Bignicour sein Mütchen kühlen. Er klärte ihre Tochter über das Geschehene und über ihre wahre Stellung zum Herzog auf. Genoveva geriet darüber in Verzweiflung. Sie beklagte sich bitter beim Herzog, der ganz erstaunt war, daß sie über alle diese Dinge so wohl unterrichtet sei. Da sie im Grunde ihres Herzens durchaus tugendhaft war, und der Herzog von nun an ihren Widerstand nicht mehr besiegen konnte, so blieb ihm nichts anders übrig, als sie gehenzulassen. Er schenkte ihr das Haus, das sie bewohnte, mehrere Rentenbriefe und ein kleines Gut in der Brie, das auf ihren Namen gekauft war und fünftausend Franken Rente abwarf. Ihre Tugend hatte ihn gerührt. Kurze Zeit darauf starb Rosette, die sich bis zu ihrem letzten Atemzuge die Achtung ihres Mannes bewahrt hatte. Ungefähr zur selben Zeit verheiratete der Herzog sich und teilte selber dem Maler mit, daß Genoveva frei sei. Es ist kennzeichnend für die französischen Edelleute, daß sie durchweg alle einen Schatz an Tugend und Menschlichkeitsgefühl besitzen, der ihrem Tun jenen Makel gemeiner Gesinnungsweise nimmt, den ihm die krankhafte Phantasie unserer modernen Romanschreiber so gern aufdrücken möchte. so wollte auch der Herzog sein Unrecht wieder gut machen.

Nun kam endlich doch, trotz der Bignicour, die ihre Tochter einem anderen hohen Herren hätte ausliefern mögen, die Hochzeit der beiden Liebenden zustande. Die Bignicour bat, sich auf das Gut zurückziehen zu dürfen, wo sie von nun an für sich allein hauste, während ihre Tochter und Dutertre nur ihrem Glücke lebten.

Dieses Abenteuer, das ich versucht habe, bis in alle Einzelheiten wiederzugeben, ist mir vom Maler selbst erzählt worden.

Johannistrieb oder Das erste und letzte Abenteuer einer Frau von vierzig Jahren.

2-251

Früher oder später muß ein jeder der Liebe seinen Tribut zahlen. Glücklich, wer es in einem Alter tut, wo man noch gefällt, und wer auf einen Gegenstand trifft, der sein Herz für immer fesselt! Was für Kummer und Leid erspart sich ein solcher, wie vielen törichten und verächtlichen Streichen geht er aus dem Wege! Ja, die Moralisten haben recht! Man muß die Liebe fliehen; sie vergiftet das Leben der Unglücklichen, für die es keine Gegenliebe mehr gibt!

Cydippe-Felicité C-let, entstammte einer ehrenwerten Familie. Sie war in ihrem achtzehnten Jahre mit einem noch jungen Witwer verheiratet worden, für den sie weder Liebe noch Abneigung empfand. Er bekleidete eine hohe Stellung, war viel reicher als sie, stand auch gesellschaftlich über ihr, aber ihre Schönheit hatte es ihm angetan. Cydippe heiratete Herrn de F** aus geschmeichelter Eitelkeit, denn sie wollte fortan die erste Rolle in einer bedeutenden Stadt, einer Provinzialstadt, spielen. Sie glaubte sogar ihren Mann zu lieben, und wäre zweifellos ihr Leben lang glücklich gewesen, da sie niemals in Paris gewohnt hatte. Die Stadt A** hatte weder ein Theater noch schöne Promenaden oder Tanzgelegenheiten, alles war dort noch einfach und zur Aufrechterhaltung der guten Sitten geeignet. Das war vor zehn Jahren, heute sieht es dort auch anders aus. Cydippe genoß die Zerstreuungen, die es gab; sie empfing bei sich Gesellschaft, man machte ihr den Hof, aber alles das war nicht sehr verführerisch, und sie brauchte bei den Grundsätzen, die man ihr, einer Tochter guter Bürger, beigebracht hatte, keine große Anstrengung zu machen, um ihrem Manne treu zu bleiben. Nicht, daß sich unter der Zahl der von der Schönheit der Frau de F** angezogenen nicht liebenswerte Männer befunden hätten! – Da war besonders ein dem Ritterstande angehöriger dreißigjähriger Junggeselle aus Hang für das weibliche Geschlecht, und der schönste Mann der Stadt, der sich ernstlich vor ihren Wagen spannte. Er reichte ihr den Arm auf der Promenade, führte sie bei offiziellen Festen in die Kirche, auf den Schützenplatz oder in die großen Häuser, die gelegentlich Einladungen ergehen ließen, aber dieser galante Provinziale, der weder Crébillon noch Dorat noch irgendeinen der Modernen gelesen hatte, war innerhalb zwei Jahren bei ihr nicht weitergekommen, als daß er ihr einmal die behandschuhte Hand geküßt hatte. Er besaß dazu noch die Ungeschicklichkeit, sich dabei von dem Manne erwischen zu lassen, der bei diesem Anblick sofort eine hoheitsvolle Miene annahm, daß er darüber wohl erschrocken sein durfte. Cydippe war gleichfalls über diese Tat aufgebracht und nahm gegen den Junggesellen einen so spröden, eisigen Ton an, daß er für immer von dem Gedanken geheilt wurde, der Liebhaber der Frau seines Vorgesetzten sein zu wollen.

Von diesem Zeitpunkt an bis zum Alter von ungefähr sechsunddreißig Jahren hatte Cydippe sich über keine Zudringlichkeit mehr zu beklagen, im Gegenteil, jedermann war von ihrer Tugend so überzeugt, daß man ihr nur mit ehrfurchtsvollem Schauer nahte. Und nichtsdestoweniger war sie entzückend; nichts fehlte ihr, sie befaß Anmut in ihren Bewegungen und Geschmack in ihren Toiletten, die herausfordernd und sinnereizend waren, auch fehlte es ihr nicht an Gefallsucht, aber sie hatte noch nicht das Bedürfnis zu lieben verspürt. Mit zweiunddreißig Jahren, schön und begehrenswert, hatte sie einem fünfzehnjährigen Jüngling Liebe eingeflößt. Es war ein entfernter Verwandter ihres Mannes, der aus einem großen Marktflecken mitten in der Heide stammte, und den seine, übrigens sehr reichen Eltern nach A*** geschickt hatten, damit er dort Manieren lerne. Der junge Mann war voller Geist, aber eine grobe Rinde verhüllte den Glanz dieses Geistes und verkleidete seine Feinfühligkeit. Vor allem hatte er ein empfindsames Herz und konnte Cydippe nicht sehen, ohne sich sterblich in sie zu verlieben. Da er jedoch in den Grundsätzen einer strengen Moral erzogen war, hielt er es für ein Verbrechen, nach einer verheirateten Frau Gelüste zu tragen, und es erschien ihm als ein der höchsten Strafe werter Verstoß gegen die guten Sitte, der Frau seine Gefühle zu gestehen, die ihn entflammt hatte. Ein langsames, verdecktes Feuer verzehrte ihn, aber von Zeit zu Zeit sprühten Funken auf, die ihn verrieten. Cydippe bemerkte in der Tat, was er für sie empfand. Aber der junge R** befaß noch nicht die nötigen Eigenschaften, um eine so kalte, stolze Frau gefangenzunehmen. Wie konnte sich eine solche um die Gefühle eines Schuljungen kümmern und zu ihm herabsteigen?

Aber der Schuljunge, dessen Leidenschaft Jahre überdauerte, wurde zu einem recht gut gewachsenen jungen Mann. Er war achtzehn Jahre alt, als er, verliebter den je in Frau de F**, ihr einen sehr starken Beweis von der Heftigkeit seiner Leidenschaft für sie gab.

Eines Tages hatte sie mit ihrem Manne, einem Fräulein de Bourgoin, ihrer unzertrennlichen Freundin, den Eltern dieser Dame und noch einigen anderen Personen einen Ausflug gemacht. Die Gesellschaft hatte ein Boot genommen, um nach einer bewaldeten Insel überzufahren, wo das Essen eingenommen werden sollte. Lauschige Plätzchen unter schattenspendenden Bäumen auf grünender Wiese boten beim Gezwitscher der Vögel und dem Duft der Maiglöckchen einen köstlichen Aufenthalt. Zwischen den Wurzeln der Bäume befanden sich kleine natürliche Hohlräume, worin man den Wein kühlen konnte, und unter den Steinen nahe am Ufer des Flusses fand man Krebse, die ein Kellner des Restaurants fing und gleich zubereitete. Der junge R* war auch von der Partie. Man belustigte sich, und Heiterkeit erfüllte alle Herzen. Cydippe vor allen anderen war köstlicher Laune. Ihr Herz war frei, und dieser Zustand eignet sich besser für die Vergnügungen der Tafel und der Gesellschaft, als wenn man Herzensgeschichten hat. Nur R** lächelte bloß mit den Mundwinkeln. Ihn verbrannten tausend Feuer: Cydippe erschien ihm herrlicher denn je, und er litt furchtbar unter den Qualen der Eifersucht, er war der Verzweiflung nahe. Indessen langweilte er sich nicht, er sah sogar mit Schrecken das Ende des Aufenthaltes auf der Insel herannahen, wo er doch wenigstens frei mit seinem Abgott sprechen, ihm dienen, seine Launen befriedigen konnte, er war sogar so glücklich, ihr ein Nest mit kleinen Vögeln vom Baume herunterholen zu können, das sie entdeckt hatte und gern haben wollte. Aber schließlich ging der Tag zu Ende, und die Dämmerung verjagte die lustige Gesellschaft von dem paradiesischen Fleckchen Erde. Man bestieg mehrere kleine Boote zur Überfahrt. Man erreichte das andere Ufer und alle sprangen aus den Booten, Cydippe schickte sich auch dazu an als die letzte. Doch im Augenblick, als sie den Fuß auf den Rand des Bootes setzte, löste sich die kleine Kette, die es am Ufer festhielt, das Boot fing an zu treiben und Cydippe wurde allein und ohne Ruder von dem sehr starken Strom davon getrieben. R** zögerte keine Sekunde, er sprang ins Wasser, während alle anderen sich damit begnügten, Schreie auszustoßen, und die beiden Bootsleute ratlos dastanden, er schwamm dem Boote nach, erreichte es, brachte es in weniger tiefes Wasser am Ufer und zog es dann, im Wasser watend, hinter sich her bis zu einer Stelle, wo Cydippe herausspringen konnte, ohne sich auch nur den Fuß naß zu machen. Sodann führte er sie auf einem Fußpfad, der dem Ufer folgte, zur Gesellschaft zurück, als diese bereits anfing, zu verzweifeln, und im Hause eines Anwohners ein Pferd nehmen wollte, um Cydippe nachzureiten und ihr zu helfen. Denn niemand hatte in der Aufregung und bei der Dunkelheit R**s Tat bemerkt.

Während man noch hin und her sprach und ein Diener des Herrn de F** fortgeeilt war, um das Pferd zu holen, trat Cydippe, nachdem sie sich einen Augenblick damit vergnügt hatte, dem Gespräch der Gesellschaft zu lauschen, plötzlich lachenden Mundes mitten unter sie. Man umringte und fragte sie nach ihrer Rettung.

»Dort steht mein Retter,« erwiderte sie, auf R* deutend, »ohne ihn wäre ich verloren gewesen.«

Alle bewunderten den Mut des jungen Mannes. Fräulein de Bourgoin, die zärtliche Freundin Cydippes, die ihn vorher gar nicht beachtet hatte, warf sich ihm sogar in die Arme und küßte ihn dreimal. Cydippe drang auf schnelle Rückkehr R**s wegen, dessen Kleider ganz durchnäßt waren, und der jetzt unter der Abendkühle zu leiden anfing. Sie selbst ging eiligst voraus, um ein gutes Beispiel zu geben, und als man zu Hause angelangt war, befahl sie sofort, das Bett R**s zu wärmen, der sich inzwischen in der Küche vor einem großen Feuer entkleidete. Als er im Bett lag, besuchte sie ihn mit ihrer Freundin und gab ihm eigenhändig einen großen Becher warmen Glühwein zu trinken, um ihn in Schweiß zu versetzen. Als sie Miene machte, sich zurückzuziehen, da ergriff er ihre Hand und drückte einen Kuß darauf, ohne daß sie sich bemühte, ihre Hand zurückzuziehen.

R** schöpfte neue Hoffnung, und da er sterblich verliebt war, fühlte er sich selig. Tausend abenteuerliche Gedanken schwebten seiner Phantasie im Delirium vor, die aber beim Erwachen am anderen Morgen wie Träume in nichts zerflossen. Als Frau de F** ihn am anderen Tage zum ersten Male sah, da lächelte sie ihm anmutig zu. Er war glücklich darüber und näherte sich ihr mit der schüchternen und unruhigen Haltung, die die Leidenschaft gibt, aber Cydippe sah nur die Schüchternheit und ermutigte nur diese. Sie bat R**, neben ihr Platz zu nehmen, behandelte ihn als Freund, als einen Mann, dem sie das Leben verdankte, legte aber nichts in ihren Dank hinein, woraus er hätte auf Liebe schließen können. Das merkte auch der junge Mann, er war aber für den Augenblick trotzdem glücklich. Seine Augen glänzten, er wurde beredt und drückte sich in Worten voller Kraft und Energie aus, aber er verdeckte seine Gefühle, indem er seine Freude aussprach, eine so liebenswürdige Dame gerettet zu haben, und schien nur davon freudig berührt zu sein. Alles das war wohl geeignet, in einem Frauenherzen Liebe zu erwecken, aber Cydippes Herz war noch weit davon entfernt, der erzürnte Amor wollte offenbar nicht, daß sie zu einer Zeit Liebe empfände, da sie mit zärtlichster Gegenliebe beglückt worden wäre, mit der Gegenliebe eines Mannes, der am meisten fähig gewesen wäre, sie ewig zu lieben, und der ihrer Liebe würdig gewesen wäre.

Einige Jahre verflossen, ohne daß der junge R** es hätte über sich bringen können, seine Schüchternheit zu überwinden und sich mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg zu erklären. Er war daher auch nicht weitergekommen als am ersten Tage. Cydippe zeichnete ihn aus, behandelte ihn freundlich, fühlte aber keine Liebe für ihn. Der charaktervolle junge Mann sagte sich endlich – ohne Zweifel, weil seine Leidenschaft schon nachzulassen begann, – daß es unsinnig sei, sich darauf zu versteifen, eine verheiratete Frau ihren Pflichten abspenstig machen zu wollen, und suchte Heilung in der Liebe zu einer anderen, was ihm nicht schwer wurde. In der Nachbarschaft wohnte ein großgewachsenes, schlankes junges Mädchen von siebzehn Jahren, weiß wie eine Lilie, mit schwarzen Augen, einer tadellosen Taille, schönen Armen, reizenden Händen, üppigem Busen und sonst allen möglichen begehrenswerten Reizen. Auf diese appetitliche Schöne fielen die Augen des jungen R**. Er machte ihr den Hof und wurde nicht abgewiesen; allmählich wurde ihr Verhältnis inniger, schließlich vergötterte er sie und wurde von ihr wiedergeliebt. Seine Leidenschaft für die reizende Rosa L*** war bald ebenso feurig, wie die für Cydippe gewesen war, mit anderen Worten, letztere war ihm nunmehr vollkommen gleichgültig.

Der Ehrbarkeit seiner neuen Geliebten vertrauend und fast sicher, ihre Hand zu erhalten, sobald er eine Stellung haben würde, riß R** sich von ihr los, um daran zu arbeiten, sie sich zu gewinnen. Er war vier Jahre abwesend, die er in der Hauptstadt zubrachte.

Inzwischen vollendete Cydippe ihr vierzigstes Lebensjahr. Sie war noch schön, hatte aber an Frische verloren und war viel weniger anziehend. Da lernte sie einen Freund ihres Gatten kennen, einen großen, stattlichen Mann, der mit Auszeichnung in der Marine gedient hatte und nun einen hohen Posten in der Admiralität bekleidete. Er war ledig und hieß de Caulette. Er hatte sich an Herrn de F** angeschlossen in der ausgesprochenen Absicht, Cydippe kennen zu lernen, von der er schon vor seiner Ankunft hatte sagen hören, sie sei eine reizende, aber unnahbare Frau. Er machte sich übertriebene Vorstellungen von ihr. Als er sie dann zum ersten Male sah, fand er, daß sie seinen Ideen entsprach, und er seinerseits gefiel der Frau de F** vom ersten Augenblick an. Sie wollte liebenswürdig erscheinen und war, von einem für sie neuen Gefühle belebt, in ihrer Ausdrucksweise, ihren Manieren, – kurz, ihrer ganze Haltung sanfter und anziehender als sonst. Sie bezauberte de Caulette, aber weit weniger, als sie selbst von ihm bezaubert war.

Es ist klar, daß bei den Gefühlen, die sie einander entgegenbrachten, schnell ein Verhältnis zwischen ihnen entstehen mußte. Cydippe, der ihr Gemahl zu mißfallen gefürchtet hatte, indem er ihr einen neuen Bekannten zuführte, war die erste, de Caulette aufzufordern, recht oft zu ihnen zu kommen, Herr de F** drückte darüber seinem neuen Freunde seine angenehme Überraschung aus, als er ihn hinausbegleitete, und sagte zu ihm:

»Meiner Treu, Sie können sich geschmeichelt fühlen! Sie sind der erste Mann, dem meine Frau in dieser Weise entgegenkommt. Benutzen wir also die Situation, um uns alle Tage zu sehen, Wenn sie dann später ihre Laune ändert, nachdem Sie einmal bei uns ein und aus gehen, dann lassen wir sie reden, und sie kann sich abfinden, wie sie will.«

De Caulette versprach, daß er gegen alle ihre Launen fest bleiben würde, wozu nicht viel Mut gehörte.

Cydippes Zuvorkommen wurde immer ausgesprochener, aber sie selbst war sich der Ursache davon noch nicht bewußt. Sie glaubte, ihre beginnende Zuneigung für de Caulette sei nur Freude darüber, daß seine Freundschaft ihr eine Quelle neuer Vergnügungen sein würde, und gab sich ihrer Neigung rückhaltlos hin. Sie glaubte sich durch ihre Ehrbarkeit gepanzert gegen alle Verfehlungen irgendwelcher Art.

De Caulette dachte ganz anders. Er sah in der Frau seines neuen Freundes nur eine leicht zu stürmende Festung und nahm sich vor, aus einem Verhältnis mit dieser schon älteren Frau gewisse Vorteile für sich zu ziehen. Solche Absichten sprachen freilich weder für seine Selbstlosigkeit noch für Schönheit seiner Seele. Aber auf so etwas wird sich eine Frau, deren Leidenschaften zu spät einsetzen, stets gefaßt machen müssen. Man sieht über die tollen Streiche der Jugend hinweg, man hat aber nur Verachtung für die Seitensprünge des reiferen Alters, und gerade der Mann, der als Gegenstand solcher späten Liebe zuerst die tolle Leidenschaft teilt, wird früher oder später dahin gelangen, die von der Leidenschaft erfaßte Frau dafür zu bestrafen, indem er sie anführt.

Cydippe lieferte sich selbst den schlechten Absichten eines Mannes aus, den die Hauptstadt geschult oder vielmehr verdorben hatte, denn sie zeigte ihm zu offen, ein wie großes Vergnügen ihr seine Besuche bereiteten. Da sie niemals lebhaftere Gefühle für einen Mann empfunden hatte und sich in ihrem Alter eine gewisse Zurückhaltung nicht auferlegen zu müssen glaubte, so wurde diese vorher bescheidenste aller Frauen bald zur frechsten.

Caulette würde sicher über das Entgegenkommen, das sie ihm bezeigte, errötet sein, wenn der Ruf der Unnahbarkeit, den sie sich erworben hatte, diesem Entgegenkommen in seinen Augen nicht einen gewissen pikanten Reiz verliehen hätte. Es war ihm sehr angenehm, daß jedermann vermuten konnte, er habe endlich dieser Frau den Kopf verdreht, die noch niemals schwach geworden war. Cydippe hatte sich schon weit von allen Regeln des Wohlanstandes entfernt, bevor sie sich Rechenschaft darüber ablegte, daß sie Liebe empfand. Ihr Gatte konnte sie nicht darüber aufklären, denn er sah und merkte nichts, so sehr war er von seinem Vertrauen geblendet. Wie so häufig, geschah es auch in diesem Falle, daß die ganze Stadt die Aufführung seiner Frau kannte, bevor er selber nur den geringsten Verdacht hatte.

De Caulette hatte indessen von ihr noch nichts weiter erlangt als ihre Liebe. Die Umgebung der Frau de F** stand ihm im Wege, ihre Freundin de Bourgoin, die sich inzwischen verheiratet hatte, verließ sie fast niemals. Da beschloß er, sich krank zu stellen, um sie in seine Wohnung zu locken und sie dann zur letzten Unvorsichtigkeit zu verführen. Eines Tages kam er nicht. Cydippe war darüber beunruhigt und sandte am Abend ihre treue Zofe Toinette zu ihm, während Herr de F** seinen Diener Tourangeot zu gleicher Zeit ausschickte, um sich nach dem Grunde seines Ausbleibens zu erkundigen. Die beiden stießen vor Caulettes Tür aufeinander.

»Bei Gott?« sagte der Lakai, »man beunruhigt sich sehr wegen der kostbaren Gesundheit dieses Herrn!«

»Madame noch mehr als der Herr,« bemerkte Toinette, »denn ich habe sogar Tränen in ihren Augen gesehen, als er zum Diner nicht erschienen war.«

»Meiner Treu! Der Herr ist auch ganz aus dem Häuschen! Dieser Mann hat sie alle beide behext! … Nun wollen wir einmal sehen, was ihm fehlt. Wollen wir zusammen eintreten?«

»Ich denke nicht.«

»Dann gehen Sie zuerst, Toinette, da unsere Herrin es sicher eiliger hat.«

»Ich glaub’s. Da ich aber wahrscheinlich länger aufgehalten werde und du zu lange warten müßtest, mein armer Tourangeot, so geh‘ du zuerst hinein und kehre dann schnell zurück.«

Tourangeot verlangte nichts Besseres. Er wurde zu Herrn de Caulette geführt, der in einem Sessel saß, sehr gut aussah und durchaus nicht krank erschien.

»Ah! Freund Tourangeot!«

»Ich komme, gnädiger Herr, um mich im Auftrage meines Herrn nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen.«

»Jetzt geht’s mir etwas besser, aber vorher war ich ganz kaputt. Ich war sehr abgespannt, doch die Ruhe hat mir gut getan.«

»Das werde ich berichten.«

»Tun Sie das und fügen Sie meine besten Grüße hinzu. Wie geht’s der gnädigen Frau?«

»Ich will nicht in anderer Rechte eingreifen, gnädiger Herr, Fräulein Toinette ist vor der Tür und wird Ihnen Nachricht von der gnädigen Frau bringen.«

»Gut. Du bist intelligent. Das verdient ein Trinkgeld, da nimm … Es geht mir nicht so gut, als ich vor dir scheinen wollte, aber sage davon nichts zu meinem Freunde. Adieu, Tourangeot, du bist ein tüchtiger Diener, aber Herr de F** kennt auch deine Verdienste.«

Nachdem er auf diese Weise diesen Burschen auf seine Seite gebracht hatte – Geld und Lobsprüche tun stets ihre Schuldigkeit – , entließ er ihn voller Ungeduld, Toinette zu sprechen. Sobald sie eintrat, rief er ihr entgegen :

»Ach, meine gute Toinette! Welch einen schauderhaften Tag habe ich durchmachen müssen!«

»Sie waren aber sehr krank, gnädiger Herr?«

»Ja, ich habe sehr gelitten! Aber tausendmal weniger durch mein Übel, als durch die Entbehrungen, die es mir auferlegt hat … Wenn es noch einige Tage andauert, dann sterbe ich daran, … wofern deine Herrin nicht lindert, was mir am unerträglichsten ist: die Verzweiflung, sie nicht zu sehen.«

»Oh! gnädiger Herr, in dieser Hinsicht ist meine Herrin ebenso übel daran wie Sie. Sie leidet in gleichem Maße darunter, denn ich sah sie sogar weinen, als Sie heute nicht zu Tisch kamen.«

»Und du glaubst, sie weinte meinetwegen?«

»Ganz gewiß, gnädiger Herr.«

»Wußte sie schon etwas von meiner Unpäßlichkeit?«

»Nein, nicht ein Sterbenswörtchen, sie weinte vor Kummer, weil Sie nicht da waren.«

»Ach, meine liebe Toinette, was gäbe ich nicht darum, daß es so wäre!«

»Sie wären Ihr eigener Feind, wenn Sie daran zweifelten, es ist so.«

»So will ich dir denn glauben und dich für die gute Nachricht belohnen. Da hast du etwas, beste Toinette, um dir zwei Morgenröcke machen zu lassen, – Baumwollenstoff mit Musselin garniert, ich hatte das Geschenk eigentlich für meine Schwester bestimmt, nimm noch dieses Stück Barchent dazu, das gibt ein Mieder und einen Unterrock.«

»Ah! gnädiger Herr! Sie sind zu gütig, wie soll ich Ihnen dafür meinen Dank bezeigen … ?«

»Indem du mir bei deiner Herrin dienst. Ich werde auch den Macherlohn bezahlen, denn ich will dir kein Geschenk machen, das dich in Unkosten stürzt. Da hast du noch einen Louis.«

»Ich bin ganz verwirrt, gnädiger Herr …«

»Bringe deine Herrin dahin, mich zu besuchen!«

»Ich werde mein möglichstes aufbieten, aber ich wage nicht zu versprechen, daß es mir gelingen werde.«

»Ich bin schon zufrieden, wenn du dich bemühen willst und mir recht oft Nachrichten von ihr bringst.«

»Oh! in dieser Hinsicht, gnädiger Herr, sollen Sie mit mir zufrieden sein.«

Toinette verließ ihn hocherfreut. Das Geschenk, das er ihr gemacht hatte, schmeichelte ihr in Anbetracht ihrer Stellung mehr als eine gefüllte Börse, wie man sie bisweilen unseren Theaterdamen schenkt. Sie schloß zuerst ihre kostbaren Stoffe ein und ging dann zu ihrer Herrin. Unterwegs begegnete ihr Tourangeot und sagte zu ihr:

»Ah! der brave Herr de Caulette, denke dir, er hat mir sechs Franken gegeben!«

»Ich glaub’s. Ich denke, wir wollen uns zusammentun, um ihm gut zu dienen.«

»Gern, wofern er nur nicht beabsichtigt, unserem Herrn einen gewissen schlechten Streich zu spielen, denn darin verstehe ich keinen Spaß! Unsere Ehre steht dabei auf dem Spiel, und was würde man von uns sagen.«

»Darin hast du recht. Du könntest dich vor deinem Herrn nicht mehr sehen lassen.«

»Ich bin Diener des Herrn und Hüter der gnädigen Frau. Erinnerst du dich, wie ich mal betrunken war und den kleinen Laffen, den R**, packte, als er bei Madame saß, die er aus dem Wasser gezogen hatte, und ihr süße Blicke zuwarf? Verdammt! Ich bin eifersüchtig!«

»Ich weiß, ich weiß! Und ein anderes Mal, als du wieder betrunken warst und die Ecksteine des Rathauses küßtest und sie fragtest, wo Herr de F** wohne. Später zogst du dich dann aus und wolltest durchaus in das Schlafzimmer der Gnädigen gehen. Du schriest dabei, du wollest bei ihr schlafen, Herr de F** habe jetzt genug bei ihr geschlafen, und jetzt seist du an der Reihe. Geschah das, um ihre Ehre zu bewahren oder die deines Herrn? … Weißt du denn, ob jetzt nicht die Reihe an Herrn de Caulette gekommen ist?«

»Oh! Das ist etwas anderes. Ich war damals betrunken und wußte nicht mehr, was ich sagte.«

»Sei still, mein guter Tourangeot, in vino veritas, wie der Domherr Disson öfters sagt, wenn er seine sechs Flaschen Wein bei Tisch getrunken hat. Kümmere dich also lieber um deine Sachen: unserer Gnädigen Ehre ist in meinen Händen besser aufgehoben, als in denen eines Tölpels wie du!«

»Auch nicht schlecht. Ich denke, Mamsell Toinette hat alle Mühe, die ihrige zu bewahren, wie will sie es da fertig bringen, auch noch die der Gnädigen zu verteidigen?«

»Mühe oder nicht, jedenfalls verteidige ich die meinige, und ich glaube nicht, daß es dir schon gelungen ist, sie anzutasten!«

»Mir nicht, aber anderen.«

»Unverschämter! Du verdientest … Welchen anderen? Sprich! Nenne sie!«

»Mein Gott, ich weiß nicht. Der Fant, der R** nahm dich manchmal aus Wut, daß er Madame nicht haben konnte.«

»Armer Tropf! Und wenn dem so wäre! Dann würde es mir nur hoch anzurechnen sein, denn ich hätte damit meiner Herrin einen Dienst geleistet … Aber es ist nicht wahr.«

»Und der Herr de Bourgoin? … da oben, in der kleinen Kammer? Verdammt, ich habe es doch mit meinen eignen Augen gesehen!«

»Ich habe ihn geprügelt, wie er es verdiente!«

»Haha! Ja, so wie man den Stall zuschließt, wenn die Pferde gestohlen sind!« Sie gibt ihm eine Ohrfeige.

»Da nimm das. So bezahle ich die Unverschämten.«

»Das werde ich Ihnen anstreichen, Mamsell Toinette! Sie haben mich geschlagen, daß ich Feuer gesehen habe! Ich werde mich beim Herrn beschweren, einen so zu ohrfeigen!«

»Jedesmal, wenn du frech wirst.«

In diesem Augenblick kam der Herr dazu und fragte seinen Diener, als er ihn in solcher Erregung sah, was er hätte?

»Mamsell da hat sich angemaßt, mich zu ohrfeigen.«

»Warum sagst du solche Unverschämtheiten?«

»Gnädiger Herr, ich will Ihnen alles erzählen,«

»Gib Frieden!« entschied da der Herr, »Toinette hat recht. Und du,« wandte er sich zu dieser, »warte auf mich, ich habe mit dir zu sprechen …«

Als sie allein waren, fuhr er fort:

»Ich habe die Ohrfeige gesehen. Du hast eine rasche Hand. Aber, meine hübsche Toinette, ich will dir deine Lebhaftigkeit verzeihen, obwohl ich sehr viel auf den Burschen halte, wenn du schön artig sein willst … Du bist wirklich allerliebst … Was für ein schöner Arm, und wie weiß er ist! Und das nette Patschhändchen!«

»Madames Hände sind schöner und weißer, gnädiger Herr.«

»Ich vergleiche nicht, mein Engel. Du bist entzückend und ich habe dich von Herzen lieb.«

»Sie tun mir zu viel Ehre an, gnädiger Herr, ein Mädchen wie ich, kann glücklich darüber sein, daß ein Mann wie Sie, es bemerkt.«

»Liebe gleicht alles aus, mein schönes Kind.«

»Aber, gnädiger Herr, Sie haben eine so schöne, junge Frau!«

»Gott! Wir sind schon seit zwanzig Jahren verheiratet.«

»Nicht möglich. Da müssen Sie Madame ja schon in der Wiege geheiratet haben! …«

Ich muß hier einschalten, daß Tourangeot, obwohl er der Liebling seines Herren war und diesem eifrig und treu diente, sich doch nicht vor Zorn gegen Toilette hatte halten können und eiligst zu Frau de F** gelaufen war, um sie herbeizurufen, als er gehört hatte, welche Wendung die Unterhaltung nahm. Sie kam mit ihm zurück, versteckte sich und fing den letzten Teil des Gesprächs noch auf.

»Ich sehe,« hörte sie ihren Mann sagen, »du willst meiner Frau schmeicheln. Sie ist zwar immerhin noch nicht zu verachten, aber, liebste Toinette, sie ist nicht so frisch wie du, sie ist eben schon an die vierzig!«

»Madame vierzig Jahre alt? Ich glaube, gnädiger Herr, Sie wollen Spaß mit mir treiben, alles, was Sie mir da sagen, ist zum Lachen.«

»Nein, nein, ich spreche im Ernst.«

»Es fällt einem Manne wie Sie nicht schwer, sich auf Kosten einer Einfalt, wie ich es bin, zu amüsieren.«

»Bei meiner Ehre, süße Toinette, ich liebe dich!«

Und er will sie küssen.

»Wie gut Sie Ihre Rolle spielen, gnädiger Herr! sollte man nicht meinen, es wäre Ihnen Ernst? Sie wollen mich auf die Probe stellen, aber ich werde diese mit Ehren bestehen, und Sie und die gnädige Frau werden sich dann überzeugt haben, daß Sie es mit einem anständigen Mädchen zu tun haben.«

»Ich weiß nur eins, meine teure Toinette, nämlich, daß ich dich anbete. Um dir einen Beweis dafür zu geben, da hast du zehn Louis, nimm sie, ich will es …«

»Gut, gnädiger Herr, ich nehme sie, weil ich überzeugt bin, daß das ein Tugendpreis ist, den Sie als weiser Beamter zur Belohnung ausgesetzt haben, und keine Bezahlung für lasterhafte Willfährigkeit. Ich nehme sie an als Preis für den ehrerbietigen Widerstand, den ich Ihnen leiste.«

»Du bezauberst mich und stürzest mich zugleich in Verzweiflung, mein Püppchen. Aber höre mich doch an! Du bist so lieb, daß ich dir nicht widerstehen kann. Sei meine Freundin, meine liebe Freundin, und du wirst sehen, daß du nicht schlecht dabei fahren wirst!«

»Oh! Ihre ehrerbietige Freundin, gnädiger Herr, von Herzen gern, alle meine Sorgfalt soll darauf gerichtet sein, Ihrer würdigen Frau Gemahlin treu zu dienen und Ihnen auf diese Weise den Hof zu machen, denn ich bin überzeugt, es gibt kein besseres Mittel als dieses, um mir die zehn Louis zu verdienen, die ich mit Dank annehme.«

»Zum Teufel, so habe ich nicht gerechnet,« rief da Herr de F** aus, indem er sich sehr große Freiheiten erlaubte, »du wirst mich erhören oder …«

»Langsam, mein Herr Gemahl,« hörte er da plötzlich seine Frau sagen, die sich endlich zeigte, »nur langsam! Was hat sie Ihnen denn getan, daß Sie sie so malträtieren …? Gehen Sie, Toinette, wenn Sie sich tatsächlich schwer gegen meinen Mann vergangen haben, dann kann ich Sie nicht länger behalten … Wollen Sie mir bitte sagen, worin sie sich verfehlt hat, lieber Freund?«

»Sie war unverschämt …, aber im Grunde ist sie entschuldbar, und ich bitte Sie, ihr zu verzeihen.«

»Gern … Seien Sie, Toinette, ein anderes Mal etwas vorsichtiger und vergessen Sie nicht wieder der Achtung, die Sie meinem Gemahl schuldig sind! … Ich preise Ihr gutes Herz, lieber Freund, denn was hätte das arme Mädchen anfangen sollen, wenn ich gezwungen gewesen wäre, sie zu entlassen? Haben Sie Dank für Ihr menschliches Gefühl!« Damit ging Cydippe frohen Herzens in ihre Gemächer, sie brauchte sich nun keine Gewissensbisse mehr darum zu machen, daß sie ihren Verehrer liebte!

Sie hatte Toinette ein Zeichen gegeben, ihr zu folgen, und sagte zu ihr:

»Du siehst, wie mein Mann sich aufführt! Es ist nicht die erste Treulosigkeit, die er gegen mich begeht …«

»Oh! Madame, wenn er nicht Schlimmere begangen hat als diese …«

»Seine Schuld war es nicht, daß es nicht schlimmer wurde, und andere wären weniger zurückhaltend gewesen als du. Ich hatte Beweise gegen ihn in der Hand zu einer Zeit, wo mir seine Seitensprünge sehr gleichgültig waren, denn eine junge Frau ist wohl kaum eifersüchtig, wenn sie einen alten Mann hat. Heute aber denke ich anders darüber und will, daß er für sein Laster bestraft werde: Herr de F** war für einen Gatten, wie er einer ist, zu glücklich, und nun will ich meine Rache dafür nehmen!«

»Verteufelt! Dazu hat Madame gerade eine schöne Gelegenheit! Und ohne gerade gegen die Gebote Gottes zu handeln, könnte Madame Herrn de F** schön Angst machen! Herr de Caulette liebt Sie wie seinen Augapfel! Er hat mir ein hübsches Geschenk gemacht, nur um Sie zu veranlassen, ihn morgen in seiner Krankheit zu besuchen. Ich glaube, Madame, er ist nur vor Liebe krank, denn er sah nicht kränker aus als Sie und ich, obwohl er sich so stellte.«

»Nun gut, beste Toinette! Ich werde ihn besuchen. Geh‘ zu ihm und benachrichtige ihn, daß ich zwischen neun und zehn Uhr kommen werde, also gleich nach dem Aufstehen, er möge seine Anordnungen treffen, daß ich nicht gesehen werde. Ich will dir meine Gefühle für ihn nicht verhehlen, ich liebe ihn zärtlich, und er ist dessen würdig!«

»Wahrlich, das ist er, gnädige Frau! Er ist der liebenswürdigste, höflichste und edelste Mensch! Ich werde nicht verfehlen, ihn zu benachrichtigen.«

»Meinen Mann kannst du inzwischen amüsieren … mit Hoffnungen … ihn hinhalten. Verstehst du mich? Das wird ihn beschäftigen! Seine Geschenke nimm nur an, die werden eines Tages deiner kleinen Mitgift zugute kommen! …«

»Ich werde nach Ihren Befehlen handeln, gnädige Frau. Wenn er indessen zu weit gehen sollte? …«

»Bah, dazu ist er zu alt!«

»Meinen Sie, gnädige Frau? …«

»Dessen bin ich gewiß.«

»Nun gut, dann bin ich beruhigt.«

Am anderen Morgen lief Toinette eilends zu Herrn de Caulette, um ihn zu benachrichtigen, daß Madame, um von niemanden gesehen zu werden, durch die Hintertür kommen werde, die nach der Ruelle Saintloup hinausgehe. De Caulette war außer sich vor Freude und machte der Zofe wieder ein Geschenk. Als diese gegangen war, schickte er eiligst seinen Diener zu seinen intimen Freunden und ließ diese bitten, zwischen neun und zehn Uhr spätestens zu ihm zu kommen. Da er tags zuvor unsichtbar gewesen war und alle ihn für krank hielten, so eilten sie schnell herbei. Es waren also etwa zehn Personen um sein Bett versammelt, als Toinette, die ihrer Herrin vorausgeeilt und durch das Haupttor eingetreten war, ihm ihre Ankunft meldete. Da sagte der hinterlistige Caulette zu seinen Besuchern:

»Meine lieben Freunde, geht in dieses Nebenzimmer. Eine Dame, die ich hochschätze, besucht mich. Sie will nicht dabei betroffen werden, daß sie einem Junggesellen einen Besuch macht. Vor euch habe ich keine Geheimnisse, aber Frau de F** ist nicht verpflichtet, zu euch dasselbe Vertrauen zu haben.«

»Frau de F**!« schrien alle auf einmal heraus.

»Sie selber, da kommt sie schon.«

Alle beeilten sich, in das Nebenzimmer zu treten. Sie waren neugierig darauf, in welchem Tone de Caulette mit der Frau verkehren würde, die man für die unnahbarste der Stadt, der Provinz, ja des ganzen Landes hielt.

Cydippe trat ein. Caulette, in seinem Bett ausgestreckt, reichte ihr die Hand und sagte:

»Ach, gnädige Frau, wie habe ich mich nach Ihrem Anblick gesehnt!«

Anstatt zu antworten, ließ die schwache Cydippe ihren Tränen freien Lauf, sie war bis ins Innerste ihrer Seele bewegt und fest überzeugt, daß nur die Liebe zu ihr ihren Verehrer aufs Krankenlager geworfen hatte. Ihr erstes Wort war daher:

»Mein teurer Caulette! Wie ist es möglich, daß Sie sich so ihrem Schmerze hingeben können?«

»Ich liebe Sie, Sie wissen es, aber die Umstände sind gegen mich, und mir bleibt nur die Verzweiflung …«

»Die Verzweiflung! Oh, lieber Freund, wie wenig kennen Sie doch meine Gefühle! Sie haben die ganze zärtliche Empfindsamkeit meines Herzens erregt!«

»Gebe es der Himmel! Möge ich des gleichen Glücks teilhaftig werden wie R**!«

»Dann wäre Ihr Schicksal nicht zu beneiden. R** hat niemals dieses Herz besessen, das für Sie bestimmt ist, obwohl der junge Mann für eine Leidenschaft, die bis zur Raserei ging, mir die staunenswertesten Beweise gab! Aber niemals konnte er sich des geringsten Entgegenkommens von meiner Seite rühmen. Seine Leidenschaft für mich bot mir nichts, was zu meinem Herzen hätte sprechen können. Ich schuldete ihm Dank, aber obwohl ich eine gefühlvolle Seele besitze, wurde auch dieses Gefühl in mir beinahe ausgelöscht, als er es zum zweiten Male wagte, mir von Liebe zu sprechen.«

»Mir hat man anderes gesagt, schöne Cydippe, und ich werde von Eifersucht verzehrt.«

»Mit Unrecht, teurer Caulette, ich habe nur Sie geliebt!«

De Caulette küßte ihr die Hand, ohne ein Wort zu erwidern. Die leidenschaftliche Cydippe entzog sie ihm nicht, er bedeckte sie weiter mit Küssen und drückte sie schließlich an sein Herz. Die Freunde des Verräters wurden, als sie nichts mehr hörten, neugierig, zu sehen, was vorging. Sie öffneten ein wenig die Tür und sahen die gefühlvolle Cydippe, wie sie die Küsse ihres Geliebten erwiderte. Als Caulette der Ansicht war, daß seine Freunde genug gesehen hätten, bat er um die Erlaubnis, seinen Morgenrock anziehen zu dürfen, er stieg aus dem Bett und ging mit der zärtlichen Cydippe, die er fast in seinen Armen trug, in ein anderes Zimmer. Seinen Freunden ließ er sagen, sie möchten ihn entschuldigen, er wäre mit seiner Schönen beschäftigt und müßte sich des Vergnügens berauben, wieder zu ihnen zurückzukehren. Diese gingen sehr befriedigt von dem, was sie gesehen hatten, von dannen, obwohl die meisten von ihnen ein wenig eifersüchtig waren. Aber das Vergnügen, nun üble Nachrede führen zu können, entschädigte sie für ein süßeres, das ihnen entgangen war, worauf sie indessen nun erst recht für die Zukunft hofften.

Cydippe war jetzt allein mit Caulette und auf Gnade und Ungnade einem Manne ausgeliefert, der sie nur erniedrigen wollte, um sie nachher zu beherrschen und sie auf eine Stufe mit jenen verrückten alten Weibern zu stellen, die sich leidenschaftlich in junge Männer verlieben und von diesen ihrer Liebestrunkenheit entsprechend verachtet werden. Sie sollte keinen Anspruch mehr auf Mitleid haben, man sollte von ihr nicht sagen können: Schade um sie, die einst den kühnsten Verführern junger Mädchen standhielt. Caulette wollte sie nur so weit bringen, ihr den Mund zu stopfen, wenn sie in der Folge einmal wagen sollte, ihm etwas abzuschlagen. Indem er ihr heftige Gefühle heuchelte, nahm er ihr die Ehre und fügte seinem Verbrechen noch alle Niederträchtigkeiten hinzu, durch die sein Opfer in den Schmutz gezogen werden konnte. Cydippes Unerfahrenheit in Liebesabenteuern hatte zur Folge, daß sie nicht einmal merkte, zu welchen Ausschweifungen sie dienen mußte, und was für häßliche Dinge von ihrer Willfährigkeit verlangt wurden. Geschändet kehrte sie nach Hause zurück. Gewissensbisse plagten sie, und sie empfand einen heimlichen Schmerz über die Art, wie der Geliebte ihr seine Liebe bewiesen hatte. Aber ihre Leidenschaft zu ihm war so heftig, ,daß sie die Gewissensbisse erstickte und alle Gefühle beherrschte. Am anderen Morgen sah man Caulette freudestrahlend einherstolzieren. Seine Freunde fragten ihn lachend, welchem wirksamen Heilmittel er seine überraschende Heilung verdanke und machten Anspielungen auf Frau de F**. Caulette antwortete nur durch ein vielsagendes Stillschweigen, begleitet von einem befriedigten Lächeln, das mehr sagte als alle langen Reden. Darauf ging er zu Frau de F**, nach der er, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, zuerst fragte. Erst von ihr ging er dann zu ihrem Gemahl, eine vertrauliche Haltung zur Schau tragend, die jedermann überraschte, nur nicht Herrn de F**. Bei Tisch, wozu man ihn eingeladen hatte, schlug er den nachlässigsten Ton an. Die arme Cydippe wußte sich solches nicht zu erklären und schämte sich. Nach dem Essen blieb er sitzen, als ob er dort zu Hause wäre, und ließ Herrn de F**, den seine Geschäfte abriefen, ruhig hinausgehen. Dann wurde er wieder zärtlich gegen Cydippe, aber auf eine so unverschämte Weise, daß ihr Stolz sich zwanzigmal dagegen empörte und sie vielleicht vom gänzlichen Verderben gerettet hätte, wenn sie diesem Gefühl nachgegeben hätte, aber die unglückliche Leidenschaft, die ihr Herz mit der ganzen Gewalt einer ersten Liebe erfaßt hatte, brachte die Stimme der Vernunft zum Schweigen und stieß sie in den Abgrund hinab. Nur um noch den Anschein zu wahren, läutete sie ihrer Zofe. Toinette kam, aber Caulette, der im Begriff war, es sich bequem zu machen, legte sich vor ihr nicht den geringsten Zwang auf, so daß ihre Herrin es vorzog, sie wieder fortzuschicken. Cydippe machte ihrem Geliebten Vorwürfe darüber, wogegen er anführte, sie brauchten eine Vertraute, obwohl er im Grunde nur die Absicht hatte, seine Geliebte vor der Dienerin herabzusetzen, um sie ganz unterzuzwingen. Sein niedriger und erbärmlicher Charakter rühmte sich noch dieses elenden Vorgehens, wenn er mit seinen Freunden beisammen war, oft sagte er zu ihnen:

»Sie ist eine alte Närrin. Solche Weiber muß man kirre machen, indem man ihren Ruf und hauptsächlich ihre Börse angreift, dann werden sie endlich sehen, was sie wert sind. Ich verfolge dabei noch einen sehr philosophischen und nützlichen Zweck! Ich will dadurch unsere jungen Damen weniger spröde und mehr zugänglich machen: sie halten sich alle für göttliche Wesen, und da muß man ihnen zeigen, daß die schönste Rose eine … (ein häßliches Wort) werden kann, bisweilen sehr schnell! Indem ich Frau de F** erniedrige, die noch schön, voller Anmut und begehrenswert ist, die es noch mit manchem Mädchen von zwanzig Jahren aufnehmen kann, erschrecke ich die Prüden und mache sie bescheiden. Der Staat müßte mich, meine Freunde, für meine Haltung belohnen, die ihr für verbrecherisch haltet.«

So also war der Mann, dem die arme Cydippe sich hingab, von einer heftigen, unbekannten und willenlosen Leidenschaft fortgerissen.

Nachdem Caulette Cydippe davon überzeugt hatte, daß ihnen eine Vertraute nötig sei, zog er sich sehr befriedigt von diesem Schritt zurück, der sie unter die Abhängigkeit ihrer Zofe brachte, von der er, da sie jung und schön war, noch vieles erhoffte. Die nächsten Tage suchte er sich seine Stellung noch mehr zu sichern, indem er Frau de F** im Beisein Toinettes mit der größten Ungeniertheit behandelte. Er erwiderte auf ihre Einwände, man müsse sich abstumpfen und zeigen, daß man vor nichts Furcht habe. Nur dadurch könne man das Mädchen in Schranken halten und ihrer Verschwiegenheit sich versichern, wenn sie aber annehmen könnte, daß man sie fürchte und vor ihr die Liebesszenen zu verbergen suche, so würde sie sich berechtigt glauben, über alles, was sie durch Überraschung erfahren würde, sprechen zu dürfen. Cydippe fügte sich nur schwer solchen Vernunftgründen, die nur darauf ausgingen, sie alle Scham beiseite setzen zu lassen, aber sie konnte nicht mehr in sich selbst die nötige Widerstandskraft finden. De Caulette begriff, welche Macht er über sie gewonnen hatte und zögerte nun nicht länger, sie auszuüben. Seine Absicht war, Frau de F** Toinettes Jungfernschaft mit klingender Münze bezahlen zu lassen. Er wollte der Zofe eine so behagliche Lage schaffen, wie ihre Herrin sie genoß, und sie dann den Dienst aufgeben lassen, sobald er Cydippe nicht mehr nötig hatte.

Demgemäß fing er an, von Cydippe unter verschiedenen Vorwänden Geld zu entlehnen. Nur ihrer Liebe lebend, setzte die freigebige Frau ihrer Aufopferung für den Geliebten keine Schranken. Sie gab ihm alle ihre sehr beträchtlichen Ersparnisse. Als diese verbraucht waren, wandte sie sich unter allen möglichen Vorwänden um Geld an ihren Gatten, der ihr zuerst auch bereitwilligst alles gewährte. Als es sich aber um immer größere Summen handelte, öffnete er die Augen und wurde vorsichtiger. Er wollte näheres über die Verwendung der Gelder wissen und verweigerte schließlich jede weitere Zahlung, da ihm die angeführten Gründe nicht stichhaltig erschienen. Da bestahl sie ihn.

Wo blieben die Gelder, die der galante Schurke seiner Geliebten erpreßte?

Caulette hatte seine Augen auf Toinette geworfen. Doch hatte dieses Mädchen, obwohl sie sehr auf ihren Vorteil bedacht war, wie alle Mädchen vom Lande, auch ihre guten Seiten. Sie stand nicht mehr auf seiten Caulettes, seitdem sie die Gemeinheit seines Vorgehens bemerkt hatte, und litt darunter, ihre Herrin in den Händen eines Mannes zu wissen, der mit dem Übergewicht, das er über sie gewonnen hatte, Mißbrauch trieb. In dieser Stimmung befand sie sich, als Caulette ihr Anträge machte. Das junge Mädchen beschloß, sich ihrer Herrin nützlich zu erweisen, sollte auch ihr eigener Ruf dabei geschädigt werden. Sie wies den Mann, den sie zu verachten begann, nicht ab, schien ihn sogar mit Teilnahme anzuhören. Sie zeigte sich sehr gierig nach Geschenken und ließ ihn für die Zukunft alles hoffen, wenn er ihre Wünsche befriedigen würde. An dem Vorgehen Caulettes gegen ihre Herrin nahm sie sich ein Beispiel, sie verlangte von ihm Geld für alles mögliche und betonte, daß sie ihre Zukunft erst sicher gestellt wissen wolle, bevor sie ihm ihre Ehre zum Opfer brächte und sich dadurch jeder Gelegenheit beraube, eines Tages heiraten zu können. Caulette brannte vor Begier, sie zu besitzen, einmal weil sie begehrenswert war, und dann in dem Gedanken, eines Tages die Verachtung, die er Cydippe bezeigen wollte, sobald sie sich weigerte, seine Launen zu befriedigen, dadurch noch schmerzlicher zu gestalten. Er erfüllte daher Toinettes Wünsche, und obgleich er die niedrige Gesinnung besaß, einen Teil des erpreßten Geldes für seinen eigenen Gebrauch zu verwenden, so sackte sie doch wenigstens drei Viertel davon ein. Bisweilen drängte sie ihn sogar, ganz unverschämte Forderungen zu stellen, worauf er mit wahrhaft boshaftem Vergnügen einging, denn der Gedanke, daß er seine alte Geliebte quäle, um ihre jugendliche Zofe zu befriedigen, war seinem scheußlichen Charakter eine Wonne. Toinettes Zweck bei ihren wiederholten übermäßigen Ansprüchen war, Cydippe endlich die Augen zu öffnen, aber dies gelang ihr nicht.

Um diese Zeit erhielt Herr de F** einen bedeutenden Posten, der seinen ständigen Aufenthalt in der Hauptstadt erforderte. De Caulette kaufte sich auf Drängen Cydippes ebenfalls ein Amt, so daß also alle nach Paris übersiedelten. Dort wollte Caulette Cydippe erst recht auf Abwege führen. In Paris, wo ein gewisser Grad von Gleichheit herrscht, der den Untergebenen von gewissen Rücksichten gegen seine Vorgesetzten zu entbinden scheint, auf die man in der Provinz noch etwas hält, hing de Caulette nicht mehr so sehr von Herrn de F** ab.

Als man sich in dem neuen Heim in der Hauptstadt eingerichtet hatte, in der für Cydippe Gefahren drohten, weil sie sie zu spät kennen lernte, und wo Toinette im Gegenteil an Eleganz und Frische gewann, da verdoppelte Caulette seine Angriffe auf letztere, demgemäß auch auf Cydippes Börse. Es dauerte denn auch nicht lange, so merkte Herr de F**, daß sein Geldschrank bestohlen wurde. Er machte sich nun einige Zeichen, nach denen er die Höhe der verschwundenen Summen feststellen konnte, er paßte auf und erwischte endlich – seine Frau. Er machte ihr ernstliche Vorwürfe, begnügte sich aber damit, überall Sicherheitsschlösser anzulegen, so daß jeder weitere Diebstahl unmöglich wurde. Toinette aber gab nicht nach, ja sie verlangte gerade in diesem Augenblicke eine bedeutende Summe, die sie durchaus haben müßte. De Caulette, der zu diesem Zweck eine Frau martern mußte, die er mit Vergnügen peinigte, um sie dafür zu züchtigen, daß sie ein solches Scheusal wie ihn liebte, wandte die stärksten Mittel an, um sich das Geld zu verschaffen. Er warf gemeinerweise Cydippe vor, sie sei daran schuld, daß er einen Teil seines Vermögens geopfert habe, um nach Paris überzusiedeln und ihre Liebeswut zu befriedigen, und dergleichen mehr. Cydippe hätte ihm erwidern können, daß es in Paris noch andere Männer außer ihm gäbe, aber sie liebte ihn noch immer, sie versprach, tat, was in ihren Kräften stand, konnte aber ihr Versprechen nicht halten.

Nun hatte sie von seiner Seite den blutigsten Schimpf zu erdulden. Er kam zu ihr, zog die Fenstergardinen zu und schrie sie zornig an, obgleich er bis auf die andere Seite der Straße gehört werden konnte. Cydippe weinte. Anstatt sich durch ihre Tränen rühren zu lassen, nannte er sie eine alte Närrin, packte sie in schamlosester Weise bei offenen Fenstern an und sagte, er wolle sie vor aller Welt als das zeigen, was sie sei. Cydippe flehte verzweifelt das Ungeheuer an, sie zu schonen, er ließ aber erst von ihr ab, als sie ihm genügend Diamanten und Schmuck ausgeliefert hatte, um die Summe zu decken, die ihr Henker verlangte. Diese Gegenstände brachte er sofort zu Toinette, die über sein Vorgehen innerlich so empört war, daß sie kaum ihre Selbstbeherrschung bewahren konnte. Aber das sollte sein letzter Streich sein, denn sie hatte sich vorgenommen, sobald sie die verlangte Summe in Händen hatte, ihrer Herrin alles zu entdecken und sie dadurch zu heilen. Die Schmuckgegenstände sollten ihr noch besser dazu helfen als Geld, da sie noch stärkere Beweisgründe waren.

Sie erwartete mit Ungeduld den Augenblick, wo sie ihre Herrin sprechen, aufklären und sie zum notwendigen Bruche mit Caulette geneigt machen könnte, als man einen Besuch ankündigte, der ihr viel Freude machte, den des Herrn R**, des jungen Mannes, der Cydippe so innig geliebt hatte, gegen dessen Liebe diese aber unempfindlich geblieben war. Frau de F**, die sie fragte, ob sie ihn empfangen wolle, schwamm in Tränen und erwiderte, daß sie in diesem Zustande niemand sehen wolle.

»Und warum, gnädige Frau?« fragte darauf die Zofe, »gerade wenn Sie Kummer haben, sollten Sie einen alten Freund empfangen und ihm den Grund Ihrer Leiden anvertrauen!«

»Ach, meine arme Toinette! Davor werde ich mich hüten, mein Kummer ist derartig, daß ich ihn in den tiefsten Tiefen meines Innern verbergen muß!«

»Wer weiß, gnädige Frau! Übrigens werde ich Herrn R** sagen, er möge warten. Versprechen Sie mir nur, ihn später zu empfangen. Ich werde sagen, Sie seien gerade mit Ihrem Gatten beschäftigt.«

Frau de F** war damit einverstanden. Vielleicht hoffte sie noch, bei ihrem ehemaligen Verehrer einige seiner ersten Gefühle für sie wiederzufinden, die ihrem erniedrigten Gemüt zu schmeicheln und ihr einige Selbstachtung wiederzugeben vermocht hätten.

Toinette kam zurück und sagte zu Herrn R**:

»Madame ist mit dem gnädigen Herrn beschäftigt. Sie ersucht Sie, sich einen Augenblick zu gedulden und wird Sie dann mit Freude empfangen.«

»Auch ich wünsche lebhaft, sie wiederzusehen.«

»Sie sind traurig, Herr R**?«

»Ich habe große Teilnahme für Frau de F**.«

»Und das stimmt Sie traurig?«

»Ich kann darüber nur mit ihr selbst sprechen, liebe Toinette.«

»Vielleicht auch mit mir, Herr R**… Wenn ich nur ungefähr wüßte, was Sie auf dem Herzen haben, dann könnte ich Ihnen auch etwas mitteilen.«

»Nun, Sie wissen doch zweifellos, wie sie mit Herrn de Caulette steht?«

»Leider ja.«

»Der ist ein gemeiner Verbrecher. Er rühmt sich … leider vielleicht mit Recht …«

»Warten Sie, Herr R**, Sie werden Madame gleich sehen, ich zweifle nicht daran, daß Sie hergekommen sind, um ihr zu helfen?«

»Ganz gewiß will ich das.«

»Nun, dann müssen Sie ihr offen erklären: de Caulette ist ein Scheusal, der die gnädige Frau hintergeht, entehrt und sie auf alle Weise ruiniert … Er zieht ihr heraus, was er kann, er hat ihr alles genommen, er hat sie dahin gebracht, ihren Mann zu bestehlen … gerade erst hat sie ihm ihren Schmuck und ihre Diamanten gegeben, und diese sind in dem Augenblick, wo ich mit Ihnen spreche, mit all dem übrigen Gelde in der Hand eines Mädchens, das dieser Unmensch mit dem Gelde der Gnädigen bezahlt.«

»Sind Sie dessen, was Sie da sagen, vollkommen sicher?«

»So wahr ich lebe, ich habe selbst gesehen, wie er ihr die Sachen gab.«

»Dann habe ich keinen Einwand mehr. Ich denke, Toinette, Sie lieben Ihre Herrin, und ich schätze Sie darum um so mehr, je seltener man heutzutage diese Eigenschaft bei Ihresgleichen antrifft.«

»Ja, besonders wenn sie Verehrer haben, die sie ihrer Geliebten vorziehen!«

»Ah! beste Toinette, ich glaube, ich ahne die Wahrheit! Wenn es so ist, wie ich vermute, dann sind Sie … das ehrenwerteste Geschöpf Ihres Geschlechts.«

»Ich bitte Sie nur um eines, Herr R**, setzen Sie alles daran, um das Verhältnis meiner guten Herrin mit diesem Scheusal zu lösen. Sollten Sie meiner dazu bedürfen, so brauchen Sie mich nur zu rufen. Aber überstürzen Sie nichts, denn im Besitz meines Geheimnisses kann ich ihr jederzeit dienlich sein, kommt aber alles zur Unzeit heraus, so verliere ich für die Folge meine Beweismittel.«

»Ich interessiere mich für Ihre Herrin, Toinette, denn eine Frau, für die man einmal im Leben Liebe gefühlt hat, wird einem niemals ganz gleichgültig, wofern sie nicht in die niedrigsten Laster verfällt. Dann allerdings löschen Empörung und Verachtung den letzten Funken des göttlichen Feuers aus, das sie in uns entzündet hatte. Ich bin gekommen, ihr zu dienen und ihr über die Niedertracht eines Mannes die Augen zu öffnen, den sie mit ihrer Freundschaft beehrt. Er verschreit sie überall und rühmt sich zu großer und empörender Scheußlichkeiten, als daß sie glaubhaft seien.«

In diesem Augenblick hörte Toinette ihre Herrin im Zimmer auf und ab gehen und ging daher zu ihr, um sie an die Anwesenheit des Herrn R** zu erinnern. Cydippe ließ ihn zu sich bitten. Sie schlossen sich ein.

»Sie glauben nicht, wie es mich freut, Sie wiederzusehen«, hub Cydippe an. »Sie sind für mich jetzt ein alter, erprobter Freund.«

»Das bin ich, gnädige Frau, und ich bin hergekommen, um Ihnen das zu beweisen.«

»Ich vermutete es.«

»Ihr Glaube schmeichelt mir und läßt mich hoffen, daß es mir gelingen werde, Sie … Nur in Ihrem Interesse komme ich zu Ihnen, gnädige Frau. Man sagt, Sie stehen in einem engen Verhältnis zu Herrn de Caulette.«

»Ja, und ich rühme mich dessen.«

»Ihre Antwort überrascht mich, gnädige Frau! Ich hatte mich stets geweigert, den Gerüchten Glauben zu schenken.«

»Und warum, Herr R**?«

»Weil er selbst in der gemeinsten Weise darüber Bemerkungen machte, die …«

»Halten Sie ein, Herr R**, ich dulde nicht, daß man einen Freund verleumdet!«

»Ich verleumde nicht, gnädige Frau, und bin bereit, Ihnen hundert Zeugen dafür beizubringen, daß er täglich im Kreise seiner Freunde die schimpflichsten Bemerkungen über Sie macht.«

»Wie weit doch die Eifersucht jemanden treiben kann! Wie, Herr R**, solche Umwege braucht Ihre Liebe zu mir, um einen Gegner unschädlich zu machen? Ich hielt diese Liebe nach meiner Haltung gegen Sie für erloschen, jedenfalls aber habe ich gedacht, Sie hatten einen edleren Charakter!«

»Madame, gestatten Sie mir, Ihnen darauf zu antworten. Nicht aus Eifersucht handle ich, sondern aus lebhafter Teilnahme für alles, was Sie angeht. Ich empfinde keine Liebe mehr für Sie, da ich eine andere liebe. Ich kann daher in Caulette keinen Nebenbuhler erblicken. Ich bin höchst überrascht, gnädige Frau, über die Sprache, die Sie fuhren, und die Sie nicht führen würden, wenn Sie den Menschen kennten, der sich schmählich an Ihnen versündigt. Ich kann Ihnen Zeugen dafür anführen, daß er Sie in gemeinster Weise beschimpft, erst vor wenigen Minuten – und das ist der Grund, warum ich nicht länger zögerte, Sie aufzusuchen – hat er sich gerühmt, Sie hier, in Ihrer Wohnung mit der äußersten Verächtlichkeit behandelt zu haben bis zur … ich wage die infamen Ausdrücke nicht zu wiederholen. Ebenso hat er Ihnen eben erst Ihre Schmucksachen abgeschwindelt. Der Ausdruck ist stark, aber noch nicht einmal stark genug!«

»Oh! Wie man doch in alles Gift träufelt!« rief Frau de F** gezwungen lachend aus, »das war nur ein Spaß: diese vermeintlichen Schmucksachen sind nur Tand, den er sich von mir für einen Ball entlehnt hat. Aber denken Sie nur, was daraus entstanden wäre, wenn Sie das einem anderen erzählt hätten, was würde man von mir glauben!«

R** war sprachlos über diese Antwort und schloß daraus, daß Cydippe, wie alle Frauen, die von einer späten Leidenschaft befallen werden, ganz und gar verhext sei, oder daß sie für ihre Haltung Gründe habe, die Toinette unbekannt seien. Er hätte sich gern erst noch weiter mit letzterer auseinandersetzen wollen, aber konnte er die Antworten voraussehen, die er erhalten würde? Er bemerkte schließlich:

»Gnädige Frau, ich will wünschen, daß es so ist, wie Sie sagen, fürchte aber, daß Sie sich einer Selbsttäuschung hingeben! Jedenfalls bitte ich Sie, davon überzeugt zu sein, daß nichts anderes als die reinste Teilnahme für Sie mir die Zunge gelöst hat. Herr de Caulette verlästert Sie überall und erzählt, daß er Ihnen Gelder abnehme, um damit eine jüngere Geliebte zu unterhalten …«

»Eine jüngere …«

»Er sagt so, gnädige Frau!«

»Oder Sie sagen so …«

»Wie es Ihnen beliebt, Madame. Oh! gnädige Frau! Ich finde Sie so verändert, daß ich Sie nicht wiedererkenne!«

»Sie werden ungezogen Herr R**, ich muß sagen, ich bin überrascht, daß Sie es wagen, hierherzukommen, um mich zu beschimpfen und mich mit meinen Freunden zu entzweien.«

Herr R** sah ein, daß bei solcher Verbohrtheit für ihn nichts zu erreichen war. Er erhob sich daher, machte eine stumme Verbeugung und ging.

Zu Toinette, die ihn hinausgeleitete, sagte er:

»Ihre Herrin ist verloren! Es wird niemals gelingen, ihr die Augen zu öffnen, Caulette allein kann diese Heilung durchführen.«

»Ich habe es gleich gedacht, Herr R**, und habe mein möglichstes dazu beigetragen. Doch bin ich nun am Ende. Dieses Geschenk ist das letzte. Wenn ich nun dem Scheusal jede Hoffnung nehme, dann ist er imstande, mir einen bösen Streich zu spielen, mich zu vernichten, vielleicht des Diebstahls anzuklagen, denn ich bin im Besitz des Schmuckes! Bei der Verblendung, worin, wie Sie sagen, sich meine Herrin befindet, habe ich alles zu befürchten.«

»Ihre Lage ist allerdings schwierig, und ich sehe nicht recht, wie Sie sich aus der Schlinge ziehen können … Doch warten Sie ab, stellen Sie sich krank, – kurz, wenden Sie Ihren ganzen Scharfsinn an, um Zeit zu gewinnen und, wenn Sie nicht mehr aus noch ein können, eröffnen Sie sich Ihrer Herrin und lassen Sie sich mit ihm erwischen, indem Sie mit ihm ein Gespräch führen, das ihr die Augen öffnet.«

»Sie haben recht, Herr R**, aber helfen Sie mir dabei! Sie kennen den Tölpel Tourangeot, den Diener unseres Herrn, versuchen Sie es, ihn mir auf den Hals zu schicken, wenn Caulette kommt. Ich werde es dann so einrichten, daß er mich mit ihm abfaßt. Sagen Sie ihm, er solle alles meiner Herrin mitteilen, was er hören und sehen werde.«

R** ging darauf ein und traf alle entsprechenden Anordnungen. Er traf Tourangeot an der Haustür, nahm ihn beiseite und beauftragte ihn geheimnisvoll – Dummköpfe fängt man am besten mit Geheimniskrämerei –, alle Gespräche Toinettes mit einem Manne auszuspionieren, den er ihm nur andeutungsweise bezeichnete, was bei Tourangeot viel stärker wirkte, als wenn er ihm einfach den Namen genannt hätte.

Am anderen Morgen gab Tourangeot seinem Herrn zu verstehen, daß er imstande sein würde, ihm sehr wichtige Mitteilungen zu machen, wenn er ihn zu Hause lasse.

Herr de F**, der die Treue und den Eifer seines Dieners kannte, gab ihm unbeschränkte Vollmacht. Caulette stellte sich um elf Uhr ein. Toinette erwartete ihn und bemerkte zu ihrer Genugtuung, daß Tourangeot auf der Lauer lag, danach richtete sie ihre Taktik ein.

»Guten Tag, meine Königin«, begrüßte Caulette sie.

»Ihre Dienerin, Herr de Caulette.«

»Warum so kalt?«

»Wie es sich schickt, mein Herr.«

»Haha! Was bedeutet diese Sprache?«

»Das will ich Ihnen sagen. Empört über die Gemeinheit, mit der Sie sich gegen meine Herrin aufführen, deren Endziel ich begriffen habe, tat ich so, als ob ich Ihre Anträge erhörte, um Ihnen alles wieder abzunehmen, was Sie aus ihr herausgepreßt hatten, und es ihr dann wiederzugeben. Ich habe noch mehr getan: ich habe mir einen einwandfreien Zeugen für meine Aufführung gesichert, einen ehrenwerten, geachteten Mann, Ihresgleichen an Stand, Ihnen aber überlegen an Ehre und Würde. Nun können Sie bei der gnädigen Frau eintreten, aber wagen Sie es nicht, wiederzukommen, denn im Laufe des Tages werden ihr die Augen geöffnet und wird ihr Gemahl von allem unterrichtet werden, und dann, fürchte ich, werden Sie durchs Fenster hinausbefördert werden! Treten Sie also ein, wenn Sie den Mut dazu haben.«

»Das sind ja sonderbare Reden, meine Beste!«

»Es ist die Wahrheit, und ich spreche in Ihrem Interesse. Haben Sie wirklich geglaubt, daß ich einen ebenso schmutzigen Charakter habe wie Sie? Ich hätte ein solches Scheusal erhören sollen, das mich anekelt? Sie, in dem ich nur den Peiniger meiner Herrin erblicke? Glücklicherweise hat sie sich nichts vorzuwerfen, Sie haben nichts bei ihr erreicht, und ihre Ehre ist unangetastet, das weiß ich; aber nun hüten Sie sich! Sie werden dieses Haus nicht ungestraft verlassen, wenn Sie nicht den letzten Augenblick zu Ihrem Heil benutzen. Ich meine, Ihnen diese kleine Warnung für die kleinen Geschenke schuldig zu sein, die Sie Tourangeot und mir gemacht haben, als wir noch in Unkenntnis der Sachlage waren, aber nun sind wir quitt! Alles übrige werde ich meiner Herrin zurückerstatten. Es ist eine anständige runde Summe, natürlich nicht alles, da Sie einen Teil des Geldes für sich verbraucht haben, ich weiß nämlich, wieviel sie Ihnen gegeben hat.«

»Toinette, es kann Sie schwer gereuen, so mit mir gesprochen zu haben! Nehmen Sie sich in acht, mein Kind! Ich sehe jetzt, daß Sie eine Schurkin sind, die mich angeführt hat!«

»Ich fürchte niemanden, Sie am allerwenigsten. Ich bin stets ehrlich gewesen, und was ich getan habe, wird mir zur Ehre gereichen!«

»Ein Wurm wie Sie, kann es mit einem Manne wie ich nicht aufnehmen!«

»Mein bester Herr, verlieren Sie Ihre Zeit nicht! Das Gewitter grollt über Ihrem Haupte!«

»Seien Sie nicht so unverschämt, elendes Geschöpf!«

In diesem Augenblick hörte man Tourangeot husten und in Gelächter ausbrechen. De Caulette hörte es mit sprachlosem Erstaunen. Er wollte gerade antworten, als er flüstern hörte. Um zu sehen, was da vorginge, stieß er die Tür auf und erblickte Tourangeot, der ihn angrinste. Er wollte auf ihn zugehen, als er plötzlich von zwei Männern gepackt wurde, die sich auf ihn warfen. Er erkannte Herrn de F** und Herrn R**. Sie hielten ihn fest und befahlen Tourangeot, ihn zu binden. Dann schleppten sie ihn in das Zimmer Toinettes. Dort sagte Herr de F** zu ihm:

»Elender, jetzt sind wir Herren deines Geschicks. Gestehe oder du bist ein Kind des Todes!«

Toinette befahl er darauf, ihre Herrin zu holen, damit sie, ohne sich zu zeigen, alles hören könnte, und bei ihr zu bleiben.

Herr de F** und Herr R** bedrohten Caulette mit ihren Degen, um ihn zum sprechen zu bringen. R**, der nunmehr von allem unterrichtet war, verhörte ihn bis in alle Einzelheiten. Caulette gestand aus Furcht für sein Leben alles ein. Als er aber Toinette belasten wollte, setzte R** ihm die Spitze seines Degens auf die Brust und legte ihm dadurch Schweigen auf.

Herr de F** war leider schon von dem Treiben seiner Frau unterrichtet und hatte beschlossen, sie durch ihren Mitschuldigen und diesen durch sie selbst zu bestrafen. Er ließ sie eintreten und sagte zornentbrannt zu ihr: »Da ist der Mensch, den Sie so schamlos waren, mir vorzuziehen, der Sie verachtete und Sie verächtlich machte, während Sie sich erniedrigten, indem Sie ihn vergötterten. Er soll durch Ihre Hand den wohlverdienten Lohn erhalten!«

Zugleich erteilte er Tourangeot bestimmte Befehle. Dieser kehrte nach einigen Minuten zurück und hatte ein Eisen in der Hand, wie es die Buchbinder benutzen, um den Einbänden die Titel aufzudrucken. Herr de F** händigte es rotglühend seiner Frau ein und befahl ihr, es dem nackten Oberschenkel de Caulettes aufzudrücken. Als sie dies getan hatte, hielt Tourangeot ihre Hand fest, bis der Verführer vor Schmerz laut aufschrie. Erst dann erlaubte Herr de F**, daß sie das Eisen zurückzog, und nun konnte man das Wort Verführer auf dem Schenkel lesen. Nachdem die Operation beendet war, wurde das Eisen mit anderen Buchstaben versehen, wieder glühend gemacht, und Caulette dann gezwungen, es auf den Oberarm Cydippes zu drücken. Man befahl ihm nicht, es darauf zu lassen, aber der Bösewicht zog es nicht wieder fort. Die empörte Frau rief darauf schmerzlich aus:

»Ah! Elender! Endlich zeigst du dein wahres Gesicht!«

Toinette warf sich beim Schmerzensschrei ihrer Herrin auf ihn und entriß ihm das Eisen. Auf der gebrandmarkten Stelle las man in großen Buchstaben das Wort: Ehebrecherin. Als nun die beiden Schuldigen auf diese Weise bestraft waren, ließ Herr de F** de Caulette durch Tourangeot losbinden, ihn sich ankleiden und von allen seinen Leuten hinausjagen. Cydippe wurde noch am selben Abend in ein Kloster für Büßerinnen gebracht.

Am Tage nach diesen Vorgängen gab Toinette alles heraus, was sie von Caulette erhalten hatte und sagte weinend zu Herrn de F**:

»Ich hatte vor, die Sachen meiner Herrin einzuhändigen, damit sie eines Tages wieder Frieden mit Ihnen schließen könnte.«

»Alles soll dir gehören,« erwiderte Herr de F**.

»Ich will es annehmen,« entgegnete Toinette, »unter der Bedingung, daß ich das Geld meiner Herrin überbringen und ihr auch in Zukunft weiter dienen darf.«

»Nein, es soll deine Mitgift sein.«

»Aber ich nehme es nur unter der gestellten Bedingung an.«

»Gutes Mädchen,« sagte darauf Herr de F**, »was du zu tun entschlossen bist, ändert meinen Willen. Ich liebe dich und wollte dir einen Antrag machen, aber ich fühle, daß ein Mädchen mit deinen Gesinnungen Achtung verdient, und ich lasse dich freie Herrin deiner Entschließungen bleiben.«

Toinette beeilte sich hocherfreut, ihre Herrin aufzusuchen und ihr alles Geld und den Schmuck einzuhändigen. Sie blieb allerdings nur noch kurze Zeit bei ihr, denn Cydippe starb, Verzweiflung im Herzen, schon zwei Monate später. Herr de F**, der große Achtung vor Toinettes Tugend empfand, hielt um ihre Hand an, aber Toinette bat sich Bedenkzeit aus, und die Ehe ist noch nicht geschlossen worden.

Der Jüngling als Mädchen

035

In einem ehrsamen Hause in Paris, das nur von ehrenwerten Leuten bewohnt wurde, hauste ein Bruder mit seiner Schwester. Beide hatten angenehme Gesichtszüge und sahen einander so ähnlich, daß man sie nicht voneinander unterscheiden konnte, wenn beide die Kleidung desselben Geschlechts anhatten.

Die Schwester, Aglaé Caile mit Namen, war nur ein Jahr älter, als ihr Bruder. Als sie ihr siebzehntes Lebensjahr vollendete, machte sie die Eroberung eines vornehmen Mannes mit hervorragenden Eigenschaften. Der hohe Herr sah sie mit ihrer Familie auf der Promenade im Bois de Boulogne. Die junge Caile trug eine jener polnischen kurzen Pekeschen von Taubenhalsfarbe, die der Jugend so gut stehen, und deren Eleganz durch einen Besatz von Seidenspitzen mit silbernen Quasten noch erhöht wurde. Sie war so allerliebst in diesem Kostüm, daß sie die allgemeine Bewunderung erregte.

Der oben erwähnte Herr fuhr in seinem Wagen vorüber, als die Eltern Aglaés gerade die Chaussee des Bois de Boulogne überschritten, um auf der Seite des Kolosseums wieder zurückzukehren. Er ließ anhalten, stieg aus, ging mehrmals unauffällig an dem jungen Mädchen vorüber und verließ die Promenade erst, nachdem Aglaé fortgegangen war. Aber am Ausgang der Tuilerien gab er seinem Kutscher Befehl, den vier Personen bis in ihre Wohnung zu folgen. Da diese einen Fiaker genommen hatten, so konnten sie den Wagen, der ihnen folgte, nicht bemerken.

Der junge Caile, der ebenfalls dabei war, hatte soeben die Schule absolviert, er besaß einen durchdringenden Verstand. Als er den Kutscher bezahlte, bemerkte er den Wagen und erkannte in seinem Besitzer an der Livree des Kutschers den Herzog von ***. Es fiel ihm sofort ein, daß dieser wiederholt Aglaé mit den Augen verschlungen hatte, und er vermutete, daß sie in ihm eine sehr begreifliche Leidenschaft wachgerufen habe. Seinen Eltern gegenüber ließ er von seiner Entdeckung nichts verlauten: er liebte seine Schwester zärtlich und wünschte nichts sehnlicher, als daß sie eine Partie machte, die ihres Wertes und ihrer Schönheit würdig wäre.

Als nun die jungen Leutchen am anderen Morgen allein waren, sagte Caile zu seiner Schwester:

»Weißt du auch, daß du gestern eine Eroberung gemacht hast?«

»Wie das, mein Bester?«

»Hast du nicht einen Herrn bemerkt, der aus seinem Wagen ausstieg, als er dich sah?«

»Jawohl. Er hat nach mir geschaut. Aber wenn alle, die mich anschauen, in mich verliebt wären …«

»Er weiß, wo wir wohnen.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Er ist uns gefolgt. Er lehnte sich halb aus dem Wagen heraus und sah uns eintreten. … Liebes Schwesterlein, ich würde dir nichts davon gesagt haben, wenn ich nicht einen bestimmten Plan hätte. Und davon möchte ich mit dir sprechen. Du bist jung, hübsch, eines der schönsten Mädchen von Paris. Es ist gut, daß du es einmal bei dieser Gelegenheit erfährst, nicht damit du nun hochmütig wirst, nein, sondern damit du dich in Zukunft dieses Vorzuges bedienst, um eine gute Partie zu machen. Ich wünsche dein Glück mehr, als das meinige. Dieser Herr, ein sehr vornehmer Herr, wird nun wahrscheinlich versuchen, nachdem er gesehen hat, daß unsere gesellschaftliche Stellung der seinigen sehr untergeordnet ist, dich zu verführen, und wird dazu verschiedene Mittel anwenden. Das wird ihm allerdings nicht gelingen, und wenn ich dich nur vor dieser Gefahr bewahren wollte, so würde ich nicht den Mund aufgetan haben. Aber hier handelt es sich um Wichtigeres. Du könntest durch eine Heirat mit ihm dein Glück machen, und das wäre das Ziel meiner Wünsche, denn ich möchte dich gern als Herzogin sehen!«

»Oh! mein lieber Freund, dazu bin ich zu schüchtern. Erwarte darum nicht von mir, daß ich ihm das geringste Entgegenkommen zeige.«

»Darüber würde ich auch nur sehr traurig sein. Nein, ich verlange von dir weiter nichts als daß du mich machen läßt. Du brauchst mir nur bisweilen deine Kleider zu leihen und mich die Anmut und Grazie zu lehren, die dir eigen ist. Das ist alles. Du kannst sicher sein, daß ich dich nicht bloßstellen, sondern im Gegenteil die Ehre meiner Schwester verteidigen werde, wie sie selbst es tun würde.«

»Und was willst du anstellen?«

»Ich weiß es selbst noch nicht. Die Umstände werden das entscheiden. Aber ich rechne auf meine Ähnlichkeit mit dir. Verlaß dich ganz auf meine Vorsicht und Klugheit. Du mußt doch gestehen, daß man mir trotz meiner Jugend keine Dummheiten vorwerfen kann.«

»Hast du mit unseren Eltern darüber gesprochen?«

»Nicht ein Wort. Sie würden sich erschrecken, wozu doch kein Grund vorhanden ist. Sie würden mir vielleicht auch die Hände binden und mir verbieten, in diese Angelegenheit einzugreifen.«

Der junge Caile hatte richtig vermutet. Am nächsten Tage sah er einen Diener ohne Livree vor ihrem Hause herumlungern, der offenbar Aglaé zu sprechen oder ihr einen Brief einzuhändigen versuchen wollte. Er sagte zu seiner Schwester kein Wort davon, da er ihre reine Seele nicht mit den Einzelheiten des Abenteuers beunruhigen wollte. Er empfahl ihr nur dringend, niemandem Gelegenheit zu geben, sich ihr zu nähern. Aglaé war freilich sehr unruhig und wurde noch bestürzter, als ihr Bruder ihre ängstlichen Fragen nur ausweichend beantwortete. Der Diener suchte acht Tage lang vergebens sich ihr zu nähern. Caile wollte erst sehen, ob der Freier sich dadurch entmutigen ließe. Denn dann, das fühlte er, wäre nichts zu erreichen gewesen. Da er aber die hartnäckige Ausdauer des Boten bemerkte, fing er an, auf einen guten Ausgang des Abenteuers zu hoffen.

Am achten Tage sagte er zu seiner Schwester:

»Heute mußt du mich als Mädchen kleiden. Ich will nur versuchen, ob ich imstande sein werde, ein wenig meine Schwester zu spielen.«

Aglaé war dazu mit Vergnügen bereit. Sie ließ sich von ihrer Zofe dabei helfen, die sie halb ins Vertrauen zog, damit sie im Falle einer Indiskretion keinen Schaden anrichten könnte. Caile war reizend als Mädchen und glich seiner Schwester in einem Maße, daß selbst die Eltern getäuscht wurden. Er ging zu ihnen und umarmte sie, ohne in ihnen den kleinsten Zweifel hervorzurufen. Seine Mutter stellte ihm sogar eine intime Frage, die sich auf das Unwohlsein seiner Schwester bezog. Voller Freude ging er wieder zu dieser hinauf und lachte mit ihr herzlich über den unschuldigen Betrug.

Nunmehr seiner Sache sicher, trat er vor das Haustor. Die Gelegenheit war günstig. Der Bote trat sofort an ihn heran, entschuldigte sich tausendmal und übergab ihm mit folgenden Worten einen Brief:

»Mein Fräulein, dieser Bries ist von größter Wichtigkeit. Lesen sie ihn allein, er kommt von einem sehr vornehmen Herrn. Morgen zur selben Stunde werde ich mir Ihre mündliche oder schriftliche Antwort holen. Darauf zog er sich eilends zurück.

Befriedigt von seinem Erfolg, ging Caile auf sein Zimmer, um den Brief zu lesen, den er sich hütete, seiner Schwester zu zeigen. Er lautete:

»Mein Fräulein!

Ich kann Ihnen nur ein Herz anbieten, das mir schon nicht mehr gehört, seit ich Sie gesehen habe, und ein Vermögen, wie Sie es nur immer wünschen können. Setzen sie Ihren Forderungen keine Schranke. Ich werde es mir zur Pflicht machen, sie zu erfüllen, ja Ihren Wünschen zuvorzukommen. Wenn sie der Ansicht sind, daß mein Vorschlag zur Kenntnis Ihrer Eltern gelangen darf, so teilen sie ihnen denselben mit. Ich würde es sogar vorziehen, Sie aus ihren Händen zu empfangen und ihnen für mein Glück verbunden zu sein. Wenn Sie etwa Grund hätten, zu glauben, daß sie sich meinen Absichten, so vorteilhaft diese für sie sind, widersetzen würden, so seien sie versichert, daß ich Sie gegen ihren Zorn zu schützen und Ihnen ihre verlorene Liebe zurückzugewinnen wissen werde, denn sie werden sich meiner Freigebigkeit beugen müssen. Ich bitte Sie um Antwort, die am Tage nach dem Empfang dieses Briefes abgeholt werden wird.

Herzog von ***.«

»P. S. Ihre Schönheit ist eines Thrones würdig. Ich kann Ihnen leider keinen anbieten, aber alles, was mir untertan ist, dazu ich selbst, werden Ihr Reich bilden.«

Obwohl dieser Brief etwas sehr frei gehalten war, gab er Caile doch Anlaß zu den schönsten Hoffnungen und er sah seine Schwester schon eine Heirat eingehen, deren Glanz ihn selber umstrahlen würde. Aber er fühlte, daß es ihm selbst an Erfahrung fehlte, um einen so großen Plan glücklich durchzuführen. Er entschloß sich daher, sich seiner Mutter zu eröffnen und sie seinen Absichten günstig zu stimmen, wobei er sich aber vorsichtshalber von ihr versprechen ließ, dem Vater alles zu verheimlichen, der ein Starrkopf und im Punkte der Tugend sehr empfindlich war. Er suchte sie sofort auf und teilte ihr nach einer kurzen Einleitung seine Absichten mit. Die Mutter hatte Ehrgeiz und betete ihre Kinder geradezu an. Sie umarmte ihren Sohn mit leidenschaftlicher Freude, nannte ihn ihren Trost und ihre Stütze und feierte ihn als den Begründer des Glückes ihrer Tochter. Sie überließ es ihm, die Antwort ganz nach seinem Ermessen einzurichten, und überhaupt so zu handeln, wie er es für gut befände, versprach ihm auch ihre Hilfe, so oft er deren bedürfen sollte. Caile schrieb nun folgende Antwort an den Herzog: »Sie werden meine Überraschung über Ihren Brief begreifen, den ich in meiner Unerfahrenheit annahm, weil ich glaubte, er sei für meine Eltern bestimmt. Nein, ich werde diesen nichts von Ihren Vorschlägen sagen, die ich übrigens kaum verstehe. Mir liegt nichts an einem Vermögen oder einem Thron, aber ich mache Ihnen kein Verbrechen daraus, daß sie mich für liebenswert halten. Das ist immerhin schmeichelhaft für mich, und in diesem Punkte bin ich Ihnen für Ihre Gefühlsäußerung erkenntlich. Sie gehören offenbar zur vornehmen Welt, was mir aber sehr gleichgültig ist. Ich wünschte, Sie ständen weniger hoch, denn nach dem, was ich von Ihnen auf der Promenade gesehen habe, und nach dem Inhalt Ihres Briefes zu urteilen, Scheinen sie mir ein recht liebenswürdiger Herr zu sein.«

»P. S. Schreiben sie mir, bitte, nicht mehr, ich darf anständigerweise Briefe von Ihnen nicht mehr annehmen.«

Diese Antwort war nicht geeignet, einen reichen, mächtigen und verliebten Mann abzuschrecken. Er fuhr fort, den Moment ausspionieren zu lassen, wo man die liebenswürdige Aglaé sprechen konnte, und der junge Caile richtete es so ein, daß es nicht vergebens geschah. Es war Karnevalszeit. Caile bat seine Eltern um Erlaubnis, den Ball im Opernhaus besuchen zu dürfen, und erhielt sie. Natürlich zog er sich dazu ein Ballkostüm seiner Schwester an, seine Mutter begleitete ihn, und ein Verwandter gab ihm den Arm. Aglaé blieb zu Hause, und ihr Bruder traf seine Vorkehrungen, um nötigenfalls feststellen lassen zu können, daß sie das Haus nicht verlassen habe. Er empfahl ihr sogar, ein leichtes Unwohlsein zu heucheln und den Arzt und Chirurgen kommen zu lassen. Diese beiden Idioten ließen sich hinters Licht führen und verordneten Medikamente, die Agile natürlich nicht machen ließ.

Der Liebesbote des Herzogs hatte mit dem Diener der Familie Caile Bekanntschaft gemacht und durch diesen frühzeitig erfahren, daß das junge Mädchen den Ball besuchen würde. Ihre Mutter hatte in seiner Gegenwart laut gesagt, daß sie sie begleiten und ihr Cousin, ein Herr Deslandes, ihr den Arm reichen würde. Auch ihr Maskenkostüm blieb kein Geheimnis, da man den Diener damit beauftragt hatte, die Dominos zu besorgen. Endlich war man noch so vorsichtig gewesen, den Diener glauben zu machen, der junge Herr sei erkrankt.

Gleich beim Betreten des Ballsaales wurde die falsche Aglaé von einer reich kostümierten Maske angesprochen, die sie nicht mehr verließ. Als sich nach mehr als einer Stunde die Gelegenheit bot, sie unter vier Augen zu sprechen, gab er sich ihr zu erkennen.

»Wie? Sie sind es?« rief der junge Caile aus, »nun, ich Schätze Ihre Gefühle für mich, und da die Gelegenheit sich darbietet, haben sie, bitte, die Güte, sich näher zu erklären.«

»Ich bete Sie an, mein liebes Fräulein! Ich bin reich und hoch geboren. Wenn Ihnen das genügt, nur mein Herz anzunehmen, so gehört es Ihnen.«

»Nur Ihr Herz?«

»Ach, warum kann ich nicht hinzufügen, und mich selbst und meinen Rang, dessen sie würdig sind! Aber Sie wissen, daß es unglückliche Sitten und Vorurteile gibt, denen sich zu beugen man gezwungen ist. Aber dagegen biete ich Ihnen ein großes Vermögen an … sprechen sie! Alles, was sie oder Ihre Eltern verlangen …«

»Ich habe sehr strenge Eltern. Ihr Vermögen ist nur beschränkt, aber sie denken edel und werden nie in etwas einwilligen, das eines Edelmannes unwürdig ist.«

»Sie sind die Tochter eines Edelmannes?«

»Ja, mein Herr.«

»Dann sind Sie mir desto teurer und achtungsvoller! Aber ich will Ihnen nicht verhehlen, daß trotzdem die Entfernung, die uns trennt, noch zu groß ist, nun …«

»Ich bin weit davon entfernt, Sie zu einer Ihrer unwürdigen Verbindung drängen zu wollen, aber nun muß ich Sie nach dieser Unterhaltung doch bitten, mir für immer aus dem Wege zu gehen.«

»Sie bringen mich zur Verzweiflung.«

»Ah! Sie werden sich leicht mit Ihrer hohen Stellung zu trösten wissen.«

»Sie verbinden Geist mit Schönheit und schlagen mich desto enger in Ihre Fesseln, wenn sie mir befehlen, auf Sie zu verzichten.«

»Ich will nur noch ein Wort hinzufügen. Von jedem anderen, als von Ihnen, mein Herr, hätte ich eine solche Spende überhaupt nicht geduldet. Aber Ihnen will ich noch einen Brief oder gelegentlich eine Unterhaltung mit mir gestatten. Denn so beleidigend für mich auch die Leidenschaft ist, die ich Ihnen eingeflößt habe, so wäre es doch zu grausam für sie … auch für mich, ganz mit Ihnen zu brechen, ohne Ihnen Zeit zur Überlegung zu lassen. Wenn aber der Brief oder die Unterhaltung von gleicher Art sein sollten, wie unsere heutige Aussprache, dann wird meine Antwort nur in einem Abschied auf ewig bestehen. Ich glaube, Ihnen eine so schonende Haltung bezeigen zu müssen. Es ist nicht die einer Koketten. Sie sind der Erste, der mir seine Liebe gesteht und der erste Mann, der sich mir genähert hat, ohne daß ich darüber böse bin … Warum hat das Schicksal Sie so hoch gestellt! … Doch genug dann!«

»Oh! Schöne Aglaé, Sie bezaubern mich!«

»Wer hat Ihnen meinen Namen genannt?«

»Ich kenne ihn.«

»Nun ich mache Ihnen kein Verbrechen daraus, wenn sie über mich Erkundigungen einziehen und sich für alles interessieren, was mich angeht. Nur um eines bitte ich Sie: begehen sie keine Indiskretionen und ziehen sie nicht die Diener in Ihr Vertrauen. Es ist unfein, seine Leute die Rolle von Spionen spielen zu lassen, und ein Verbrechen, die Diener anderer zu verleiten.«

»Oh! Reizende Aglaé! … Aber sie selbst haben dann ein großes Verbrechen begangen, denn sie haben von meinen Vertrauten gerade den, der mir am allerliebsten ist, zum Verrat verleitet.«

»Wie? Ich?«

»Ich will Sie nicht lange aus die Folter spannen: der Verführte ist mein Herz, es schlägt nur noch für Sie und empört sich gegen mich … Werden sie mir die Freude gewähren, sich mir einen Augenblick ohne Maske zu zeigen?«

»Mit Vergnügen werde ich Ihnen alles gewähren, was mit meiner Ehre vereinbar ist.«

Die falsche Aglaé nahm darauf die Maske ab und zeigte dem Herzog ihr reizendes Gesicht. Die Hitze und die Erregung der Unterhaltung hatten ihr Antlitz mit rosiger Glut übergossen. Der Herzog war geblendet. Caile ließ alle diese Reize nur flüchtig bewundern und setzte die Maske wieder auf, während der Verehrer noch ganz in der ersten Bewunderung befangen war. Dieser Anblick gab der Leidenschaft des Herzogs neue Stärke. Er machte die glänzendsten Anerbietungen und ging endlich so weit, der falschen Aglaé die Heirat zu versprechen, falls er von seiner Familie auch nur eine halbe Einwilligung dazu erhielte. Sie schien damit zufrieden zu sein und wurde fast zärtlich zu ihm, ohne aber aus ihrer Zurückhaltung herauszutreten. Aber ihr Auftreten war von einer Ungezwungenheit, wie sie sonst wohl junge Mädchen im Alter Aglaés kaum an den Tag legen. Die Haltung der Schwester würde bei aller Gleichheit ihrer Absichten wohl eine ganz andere, vielleicht wirksamere gewesen sein. Wie dem auch sein mag, so mißfiel diese Ungezwungenheit dem Herzog keineswegs. Er schloß daraus, daß seine Geliebte geistreich sei, und hoffte mit ihr ebensoviele vergnügte und interessante Stunden zu verleben, wie er sich Genuß von ihrer Liebe versprach, wenn er sein Ziel bei ihr erreichte. Er nahm sogar an, daß ihm dies leichter bei einer Aglaé gelingen würde, wie sie sich ihm gezeigt hatte, als bei einem schüchternen, törichten Mädchen, das nicht einen Augenblick sich ihren eignen Eingebungen überlassen würde.

Was ihn in seinen Hoffnungen bestärkte, war die freundliche Art, wie die falsche Aglaé für den Rest des Abends seine zärtliche Sorge um sie entgegennahm. Sie zeigte ihm ein so weiches Entgegenkommen, daß der Herzog es wagte, sie beim Abschied um ein Stelldichein zu bitten. Es wurde verweigert, aber ohne übergroße Empfindlichkeit und ohne ein strenges Verbot, eine so beleidigende Zumutung je wieder zu erneuern.

Gleich am nächsten Morgen schrieb der Herzog an seine vermeintliche Geliebte:

»Mein Fräulein!

Wenn es für mich ein Glück war, Sie gesprochen zu haben, so ist es jetzt eine wahre Qual für mich, Sie nicht mehr zu sehen. Sie beschäftigen alle meine Gedanken, Sie beunruhigen, Sie entzücken mich. Ihr verführerisches Bild nimmt meine Phantasie gefangen. Anbetenswertes Mädchen! Alles, was ich von Ihnen sah und hörte, entflammt und erschreckt, bezaubert und peinigt mich. Ich bete Sie an und dabei fühle ich, daß Sie mich unglücklich machen werden. Ja, ich fühle es. Sie haben mich gestern ganz gefangen genommen, eine Königin würde mich weniger gefesselt haben, als Sie. Soviel Lieblichkeit und soviel Stolz! Soviel Hingabe und soviel Strenge! Sie vereinigen in sich alle Gegensätze, ausgenommen die, die nicht gefallen würden, weil solche Ihnen nicht eigen sind. Sie ermutigen und stoßen ab, sie zwingen einen, Ihren Geist zu lieben und davor zu erschrecken, man muß Ihre Reize lieben und fürchten. Ich überrasche mich bei dem Wunsch, Sie möchten häßlich sein … Doch nein, und wenn es mir das Leben kosten würde, so würde ich doch nicht dulden, daß ein solches Meisterwerk der Natur, wie Sie, geschädigt würde! Welche verführerische Vollendung! Sie rufen laufend Wünsche wach, wenn man Ihnen aber zu nahe kommt, so stößt man auf so viel Tugend, daß man zu Eis abgekühlt wird. Glück und Liebeswonne scheinen Ihre Lippen zu ihrem Tempel erwählt zu haben, aber man muß Furcht davor haben, sie dort zu genießen: als Venus sie so herrlich schuf, hat sie Ihre Anmut unter den Schutz der Achtung gestellt. Ich begreife mich selbst nicht mehr. Wenn ich bei Ihnen bin, bin ich ein anderer, als ich vorher war. Oh! fürchten sie nichts von mir! Sie können mir vertrauungsvoll das Stelldichein bewilligen, um das ich Sie anflehe! Sie werden keinem verwegenen Liebhaber begegnen, nicht einmal einem verliebten Seladon, nur einem zitternden Sklaven, der seine Hände Ihren Ketten entgegenstrecken wird. Aber allen Ernstes: diese Zusammenkunft ist mir unerläßlich. Ich muß Ihnen tausend Dinge eröffnen, Ihren Rat einholen, Maßregeln ergreifen und Ihnen Vorschläge machen.

Ihr ergebener Herzog ***.«

Darauf erhielt er folgende Antwort:

»Herr Herzog!

Eine Zusammenkunft! Wollen sie mir gefälligst sagen, wie ich Ihnen eine solche bewilligen könnte ? Kann ein Mädchen von meinem Alter und meiner Stellung allein ausgehen? Für was halten sie mich denn eigentlich? Ah! Wollen sie mir, bitte, darüber Ihre tiefsinnigen Gedanken gütigst mitteilen! … Vielleicht sind Sie ein Zauberer, der mich in einen Vogel verwandeln könnte. Mein Körper bliebe dann in Starre zurück, und ich flöge zu meinem Stelldichein. Ich muß wirklich sagen, die Herren Herzöge machen sich ein Sonderbares Bild von den anderen Sterblichen! Halten Sie uns denn für Wilde, die schamlos Sitte und Moral mit Füßen treten? Dann täuschen sie sich, Herr Herzog. Ein Mädchen aus guter Familie kann Ihnen ein Rendezvous nicht bewilligen. Wenn Ihnen durchaus nach einem solchen gelüstet, dann müssen sie sich schon an die kleinen Nähmädchen wenden, und auch da wird es nicht ohne Schwierigkeiten und einem Haufen von Lügen gehen. Ein jeder, Herr Herzog, achtet nämlich, wes Standes er immer ist, auf seinen Ruf, seine Ehre und sucht seiner Persönlichkeit einen gewissen Wert zu verleihen. Machen sie sich klar, Herr Herzog, daß auch ohne Ordensband, ohne Titel und ohne große Reichtümer das kleinste menschliche Wesen sich ganz natürlich in den Mittelpunkt der Welt stellt und alles übrige, selbst die Herzöge, nur insoweit in Betracht zieht, als es selber damit zu tun hat. Das sollten Sie sich in Zukunft stets vor Augen halten, wenn sie wieder mal an jemanden übertriebene Anforderungen stellen. Doch nun will ich näher auf Ihren Brief eingehen.

Auch ich wünsche, wie Sie, eine Unterhaltung herbei, die mir Klarheit verschaffen soll. Wie ich Ihnen gefallen habe, so sind auch Sie mir nicht gleichgültig geblieben. Ich bin aber nicht närrisch genug, um mich selbst zu peinigen. Sie würden mich glücklich machen, vorausgesetzt, daß ich kein zu großes Opfer zu bringen hätte. Verstehen sie mich? Denn wenn das Opfer mir die übrigen Tage meines Lebens vergiften würde, dann würden sie mich ja nicht glücklich machen, und ich auch Sie nicht, was in meinen Augen sogar noch mehr in Betracht zu ziehen ist, denn wie könnte eine Unglückliche Ihnen das Glück verschaffen? Leben Sie daher wohl, Herr Herzog! Das beste ist, das sicherste für uns beide, wie brechen unsere Beziehungen ab. Ich habe die Schrulle, tugendhaft bleiben zu wollen, Sie besitzen das Vorurteil, keine Mißheirat eingehen zu wollen, denn ich glaube doch nicht, daß bei Ihnen die klare Absicht besteht, mich verführen zu wollen. Sie haben wie ich, etwas unternommen, ohne an die Folgen zu denken, hingerissen von einer Macht, die auch ich fühle. Ihr Irrtum ist Ihnen lieb, wie mir der meinige, und beide haben wir Angst davor, das Ende davon zu sehen. Aber der Zauber muß doch einmal gebrochen werden! … Ich fange an, traurig zu werden. Wenn ich bei Beginn meines Schreibens in dieser Stimmung gewesen wäre, so würde ich den Brief nicht fortgesetzt haben. Nun haben sie ihn so wie er ist.

Aglaé Caile de Préhi.«

Hierauf erwiderte der Herzog:

»Mein Fräulein!

Sie sind die Gleiche in Ihren Briefen, wie in Ihrer Unterhaltung, stets entzückend. Sie entwickeln einen Geist, der verführt, überredet und mich überzeugt hat, daß Sie mich lieben. Doch ich bestehe auf einer Zusammenkunft. Wollen sie mir sie nicht heute abend in Ihrem Hause, in Gegenwart Ihrer Frau Mutter bewilligen? Ich bin ganz der Ihre,

Herzog von ***«

Die Antwort lautete:

»Wenn etwas, das Ihnen Freude macht, mit meiner Pflicht vereinbar ist, Herr Herzog, so wird mein Herz es Ihnen sofort bewilligen, und ich habe nur einen Kummer: nicht vorher daran gedacht zu haben. Kommen sie, ich werde Sie mit großer Freude empfangen!

Aglaé.«

Der Herzog machte in der Tat am Abend desselben Tages, an dem diese Briefe gewechselt wurden, Besuch bei seiner Geliebten. Caile änderte für diese Gelegenheit seine Angriffsweise. Er empfahl seiner Schwester, eine glänzende Toilette zu machen und setzte der Mutter seine Taktik auseinander. Aglaé selbst sollte mit dem Herzog sprechen, während er in Hör- und Sehweite bleiben würde, damit ihm nichts von dieser Zusammenkunft entginge, und er danach seine Maßregeln treffen könnte. Er traute dem Gedächtnis seiner Schwester zu wenig, und auch seine Mutter konnte etwas zu berichten vergessen. Dieser Plan wurde ausgeführt. Der Herzog kam gegen sechs Uhr. Die außerordentliche Schönheit der wahren Aglaé blendete ihn. Sie hatte übrigens etwas sanfteres in ihrem Wesen, als ihr Bruder: ihr Blick war schüchterner, der Klang ihrer stimme harmonischer. Der bezauberte Herzog schrieb diese kleine Veränderung der Anwesenheit der Mutter zu. Nach der Begrüßung, und nachdem er den Zweck seines Besuches auseinandergesetzt hatte, wandte er sich an Aglaé und sagte:

»Welch ein bestrickendes Wesen sind Sie doch, mein Fräulein! Auch wenn ich Sie nicht mit den Augen des Verliebten ansehe, finde ich Sie immer anbetungswürdiger, besonders in diesem Augenblicke. Es ist mir unmöglich, den Reiz zu schildern, der von Ihnen ausgeht, so etwas kann man nur fühlen.«

»Ah! Wie gut würde ich ihm antworten, wenn ich da wäre!« sagte der junge Caile ganz leise für sich.

Aglaé errötete nur und beobachtete ein bescheidenes Stillschweigen. Der Herzog selbst fand keine Worte mehr, er war ganz Bewunderung, und ganz unter dem Einfluß des wahren Gegenstandes, den er liebte, empfand er mehr Zärtlichkeit für die Geliebte, als Leidenschaft, mehr innige Liebe, als Gelüste, wie solche ihn in Gegenwart der falschen Aglaé erfaßten. Madame Caile brach zuerst das schweigen und fragte den Herzog nach den Tagesneuigkeiten. Er erwiderte kurz darauf und kam dann wieder auf seine Liebesgefühle zurück.

»Jeder gute Bürger interessiert sich für den Erfolg unserer Waffen. Ich wünschte, die Engländer würden gründlich geschlagen, und ich könnte am Tage der Siegesfeier die Hand Fräulein Aglaés erhalten.«

»Meine Tochter und wir alle, Herr Herzog, sind sehr empfänglich für die Ehre, die Sie uns erweisen, aber wie könnten wir darauf rechnen?«

»Meine Bürgen, verehrte Frau, sind diese zwei schönen Augen, dieses bezaubernde Antlitz und die tausend herrlichen Eigenschaften Ihrer Tochter, die ich schon an ihr kenne. Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß Schwierigkeiten zu überwinden sind, aber wenn Ihre Tochter mir Ihr Vertrauen schenkt, dann werde ich sie beseitigen. Gestatten sie mir, meine Gnädigste, Ihrer Tochter in Ihrer Gegenwart den Hof zu machen. Sie ist das Liebste, das ich auf Erden habe, und ich habe von ihr, ganz abgesehen von meiner Liebe, die höchste Meinung.«

Frau Caile gewährte den Wunsch des Herzogs, der bis zur Stunde des Abendessens dablieb und das Haus seiner Schönen verliebter und besonders zärtlicher liebend denn je verließ. Er war freudetrunken und schrieb noch am selben Abend, bevor er sich niederlegte, folgendes Briefchen, das er ihr am nächsten Morgen übersandte:

»Mein teures Fräulein!

seit ich Sie sah, haben meine Gefühle für sie sich verändert: nein, bisher liebte ich Sie nicht, ich war kalt, ein Stück Eis im Vergleich mit heute. Erst seit zwei Stunden liebe ich Sie auf eine Weise, die Ihrer würdig ist und … meiner. Ich bin in einer Trunkenheit, die köstlich ist. In wie ganz anderem Licht sah ich Sie doch heute! Es ist unbegreiflich! Wie ist doch ein junges Mädchen, wie Sie, unter den Augen der Mutter liebenswert, und wie sehr war ich mein eigner Feind, als ich Ihnen ein Stelldichein an anderem Ort vorschlug! Ich bitte um Antwort, obwohl ich Sie heute abend sehen werde: Ihre Zeilen werden mich bis zu diesem glücklichen Augenblick beschäftigen.

Herzog von ***«

Der junge Caile schrieb darauf sofort folgende Antwort:

»Herr Herzog!

Das ist die richtige Art, wie man Liebe erweckt, und ich habe es nicht anders von Ihnen erwartet. Wenn die tugendhafte Haltung eines jungen Mädchens, die dessen schönster Schmuck ist, Ihnen linkisch vorgekommen wäre, so würde ich mit Ihnen gebrochen haben in der Überzeugung, daß ein Mann, den nur unbesonnene und leichtsinnige weibliche Wesen interessieren, keiner ernstlichen Gefühle fähig ist. Aber Ihr Brief, ich will es nicht verhehlen, hat mir große Freude bereitet! Er drückt Empfindungen aus, wie ich Sie in Ihnen zufinden stets wünsche. Meine Gefühle für sie muß ich mit Gewalt zurückhalten, und ich empfinde es bereits, daß in dem Augenblick, wo Sie mein Vertrauen verdienen werden, jeder Schlag meines Herzens nur Ihnen gelten wird.«

Und der Herzog schrieb:

»In zwei Stunden werde ich Sie sehen, mein Fräulein, muß Ihnen indessen noch vorher sagen, daß ich entzückt bin. Sie sind schön wie die Schönste der drei Grazien, und Sie schreiben, wie nur Psyche schreiben würde.

Herzog von ***«

Der Herzog kam zur gleichen Stunde, wie am Tage vorher und wurde wieder von der wahren Aglaé und ihrer Mutter empfangen. Das junge Mädchen war noch liebenswürdiger zum Herzog, wie tags zuvor, denn ihr Bruder hatte ihr dessen Briefe zum Lesen gegeben, und der Herzog fing an, ihr liebenswert zu erscheinen.

Unter solchem Getändel vergingen acht Tage. Der Herzog, immer mehr Feuer und Flamme für Aglaé, dachte ernstlich an eine Heirat und eröffnete sich einem seiner Freunde, der indessen ein bösartiger und verdorbener Mensch war.

»Das wäre eine törichte Verbindung!« meinte er.

»Aber ich liebe das Mädchen.«

»Dann mußt du eben deine Phantasie zu befriedigen suchen! Aber eine Heirat! Das hieße dich entehren, deine Stellung bei Hof untergraben und den Rest deiner Tage vergiften!«

»Ich könnte es niemals über mich gewinnen, sie zu täuschen.«

»Das sollst du auch gar nicht. Tue alles für sie, aber heirate sie nicht. Ich appelliere an deine Vernunft: Kannst du im Angesicht von ganz Frankreich ein Mädchen heiraten, das so tief unter dir steht? Ich bin wirklich erstaunt, daß du nur einen Augenblick daran denken konntest!«

Solche Worte, oft wiederholt, machten endlich Eindruck auf das Gemüt des Herzogs und er beschloß, alles für das Glück Aglaés zu tun, mit Ausnahme aber des einzigen, was ihr Glück ausgemacht hätte. Doch blieb sein Betragen äußerlich unverändert. Nach dem Rat seines hinterlistigen Freundes sollte er Zeit zu gewinnen suchen und erst dann kühner werden, wenn er des Herzens und Vertrauens seiner Geliebten sicher wäre. Der Intrigant sah das junge Mädchen. Es machte auf ihn einen lebhaften Eindruck, und er schmeichelte sich mit der Hoffnung, daß Aglaé eines Tages ihm zur Beute fallen würde, wenn die Liebe des Herzogs für sie erkaltet wäre.

Sobald nun der Herzog einmal den Verrat beschlossen hatte, zeigte er sich noch liebevoller, als vorher. Weder Aglaé noch ihre Mutter bemerkten eine Änderung in seiner Haltung. Da hatte der junge Caile, der in seiner Männerkleidung den Herzog auf Schritt und Tritt beobachtete, eines Abends das Glück, eine Unterhaltung des Herzogs mit seinem Freunde zu belauschen. Diese fand im Palais Royal statt. Er folgte ihnen unauffällig, und wenn er auch nur Teile ihres Gespräches vernahm, so genügte doch das, was er hörte, um seinen Verdacht wachzurufen, nicht gegen den Herzog, wohl aber gegen dessen Begleiter. Caile teilte seine Befürchtungen der Mutter und Schwester mit, deren Vertrauen zum Herzog bereits so erstarkt war, daß er alle mögliche Mühe hatte, ihnen begreiflich zu machen, daß sie in Zukunft sehr vorsichtig sein müßten. Aglaé war in der Tat schon ernsthaft verliebt in den Herzog, und da ihre ehrgeizigen Bestrebungen mit ihrer Liebe Hand in Hand gingen, so hatte das Gefühl, das der Herzog ihr eingeflößt hatte, doppelte Gewalt.

Eines Tages lud Aglaés Geliebter die Damen ins Theater ein. Man beschäftigte sich zu der Zeit schon mit den Vorbereitungen für die Hochzeit, und der Herzog hatte seiner Zukünftigen bereits die Geschenke übersandt. Frau Caile nahm für sich und ihre Tochter die Einladung an, ohne erst ihren Sohn, der alles mit angehört hatte, um Rat zu fragen. Dieser drang darauf, die Stelle der Schwester einzunehmen. Die Mutter verwarf zuerst seinen Vorschlag, fügte sich aber schließlich seinen dringenden Bitten, während das junge Mädchen sehr traurig darüber war, denn sie hatte sich darauf gefreut, an der Seite ihres Zukünftigen in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Doch auch sie fügte sich schließlich, nachdem man übereingekommen war, daß es das letztemal sein sollte. Caile ging also am Arme des Herzogs ins Theater, während die arme Aglaé sich betrübt auf ihr Zimmer zurückzog. Unterwegs teilte der Herzog den Damen mit, daß einer seiner Freunde sie in ihre Loge geleiten würde, da die Klugheit ihm noch verböte, sich mit ihnen zu zeigen. Frau Caile beglückwünschte sich bei dieser Eröffnung, daß sie ihre Tochter zu Hause gelassen habe. Man traf endlich ein, und der Freund des Herzogs reichte den Damen den Arm, um sie in die Loge zu führen, worin er mit ihnen allein blieb.

Nach der Vorstellung nahm der Herzog, der in einer gegenüberliegenden Loge gewesen war, die Damen in seinen Wagen und schlug ihnen zu ihrer Überraschung vor, selbviert in einem Casino, das er im Faubourg Saint-Honore besitze, zu soupieren. Frau Caile schlug die Einladung ab, aber die falsche Aglaé machte ihr begreiflich, daß das nicht angehe. Wie glücklich war sie, daß sie ihre Tochter nicht bei sich hatte!

Ein köstliches Essen war bereit. Die falsche Aglaé wurde mit größter Achtung behandelt. Der Herzog huldigte ihr wie einer Fürstin. Sein Freund schien sie bisweilen etwas mitleidig zu betrachten. Bald machte sich der Einfluß der falschen Aglaé auf die Sinne des Herzogs bemerkbar, obwohl er selbst erstaunt war, wie kühl er blieb. Nach einem kurzen Zwiegespräch mit seinem gefährlichen Freunde beschloß er aber, unentwegt auf sein Ziel loszugehen, ohne auf sein Herz zu hören, das sich sträubte, ihm auf diesem Wege zu folgen.

Das Souper verlief in heiterer Stimmung. Gegen Ende des Mahles wurde Frau Caile von einem Unwohlsein befallen, das sie zwang, sich niederzulegen. Bald war sie eingeschlafen. Man bat ihre vermeintliche Tochter, in ein anderes Zimmer zu gehen. Caile erhob nur zum Schein einigen Widerspruch und gab dann nach. Als der Herzog mit der falschen Aglaé allein war, warf er sich vor ihr auf die Kniee und richtete die zärtlichsten Worte an sie. Allmählich wurde er feuriger und bedeckte die Hände seiner Schönen mit Küssen. Endlich küßte er sie auf den Mund. Caile verteidigte sich nur schwach. Der Herzog fühlte sich zwar nicht von der Zärtlichkeit und den heißen Gelüsten erfaßt, wie sonst immer in Aglaés Gegenwart, aber seine Phantasie erglühte, und die Furcht, seine Kälte vielleicht später bereuen zu müssen, erfüllte ihn mit derselben Kühnheit, wie die Liebesekstase. Er wurde, wie er es verdiente, von der falschen Aglaé zurückgestoßen. Wütend über seine Niederlage, und da er es nun einmal schon an Zartgefühl hatte fehlen lassen, hielt er sich nicht mehr zurück. Er machte erneute Angriffe und erklärte gebieterisch, er würde sich nur mit einem vollständigen Siege begnügen. »Undankbarer!« rief ihm die falsche Aglaé zu, »aber du kannst mir eher das Leben nehmen. Das also ist deine Ehrsamkeit, dein wahres Bild! Aber warte, du Treuloser, eines Tages wirst du deine Verirrung bereuen, und Tränen in Strömen vergießen, weil du ein unschuldiges Mädchen hintergehen wolltest, das dich liebte!«

»Gib dich mir hin und ich heirate dich, aber noch jetzt, sonst glaube ich, daß du nicht mich, sondern nur meinen Rang liebst.«

»Nein, niemals!«

»Ich sehe, daß du mich nie geliebt hast! Warum weiter Rücksicht nehmen? Du bist nur eine Ehrgeizige, die aus Interesse handelt, danach werde ich dich behandeln … «

»Sie täuschen sich, Herzog. Noch ein Wort, und ich werde Sie erröten machen, Sie beschämen.«

»Halt! Das ist zu viel …«

Bei diesen Worten öffnete er seinem bösartigen Freunde die Tür. Dieser trat ein und sagte zu Aglaé:

»Sie können Ihrem Schicksal nicht entrinnen, meine Kleine! Geben sie nach. Ich will meinen Freund Ihren Netzen entreißen. Meine Freundschaft für ihn macht mich grausam gegen sie. Er soll seine Laune befriedigen. Alle Wege sind uns recht.«

»Ungeheuer!« schleuderte die falsche Aglaé ihm ins Gesicht, »jetzt sehe ich klar. Das niederträchtige Betragen des Herzogs ist Ihr Werk, sein Herz weiß nichts davon. Herzog, weisen sie diesem Schurken die Tür, Sie hören auf, mir hassenswert zu erscheinen, Sie waren nur schwach, und ich liebe Sie, weil Sie nicht so schlecht sind, wie dieses Ungeheuer. Er soll hinaus, dann werden sie mit mir zufrieden sein,«

Auf die Bitte des Herzogs verließ sein Freund das Zimmer, aber der Herzog war auf seiner Hut.

»Fürchten sie nichts von meiner Verzweiflung,« sagte darauf die falsche Aglaé zu ihm, »ich halte Sie edlerer, wenigstens vernünftigerer Gefühle fähig und bitte Sie, ruhig anzuhören, was ich Ihnen zu sagen habe. Für wen halten sie mich?«

»Für ein liebenswertes, reizendes Geschöpf.«

»Ein Mädchen?«

»Natürlich, ein Mädchen!«

»Aglaé Caile de Préhi?«

»Selbstverständlich, aber was sollen diese Fragen?«

»Ich muß Ihnen sagen, daß ich nicht Aglaé, sondern … ihr Bruder bin … Hören sie mich an. Ich werde Ihnen das ganze Abenteuer erklären und Ihnen die nötigen Beweise liefern. Mich haben sie auf dem Opernhausball gesehen. Ich habe Ihre Briefe beantwortet. Ich bin mit meiner Mutter hierher gekommen. Aber in unserem Hause haben sie mit meiner Schwester verkehrt. Das ist ohne Zweifel der Grund für die verschiedenen Gefühle, die Sie empfunden haben. Wenn Aglaé hier gewesen wäre, so würden sie es ihr gegenüber sicherlich nicht an Respekt haben fehlen lassen. Die Liebe, die sie Ihnen eingeflößt hat, ist zu zarter Natur. Ich habe Ähnliches in Ihnen nicht wachrufen können. Ich bin nur ihr schwaches Abbild, und der Einfluß des einen Geschlechts auf das andere fehlt. Ich sehe, daß Sie neugierig sind, die Bewegsgründe meiner Handlungsweise zu kennen. Sehr einfach. Sie müssen wissen, daß ich meiner Schwester sprechend ähnlich sehe, so daß es unmöglich ist, nicht irregeführt zu werden, wenn ich in ihren Kleidern stecke. Ich liebe Aglaé zärtlich. Als ich Ihr Interesse für sie bemerkte, nahm ich mir vor, meine Schwester zu Ihrer Gattin zu machen, ohne daß dabei aber ihr Schamgefühl oder ihre Tugend Gefahr liefe. Ich wollte alle Gefahr auf mich nehmen, während sie rein wie ein neugeborenes Kind bleiben sollte, damit sie, wenn sie sie heirateten, würdig sei, Ihre Frau zu werden, im entgegengesetzten Fall aber kein anderer Gatte ihr eines Tages auch nur den geringsten Vorwurf machen könne. Dabei habe ich Sie aber über die Gefühle meiner Schwester für sie nicht getäuscht: sie liebt Sie, nicht den Herzog in Ihrer Person, sondern den Mann, den liebenswürdigen, zartfühlenden, tugendhaften Menschen. Und ich glaube, Herr Herzog, daß Sie ein solcher sind. Aber da kam Ihr Freund und verspottete Sie wegen Ihrer Absichten, eine Verbindung einzugehen, die Ihrem Range und Vermögen nur Tugend und Schönheit hinzufügen konnte. Ich möchte Sie indessen darauf aufmerksam machen, daß meine Schwester adliger Geburt ist, und daß ihr Blut, wenn wir bis zur Quelle hinaufsteigen, so adlig ist, wie das Ihrige. Und ferner bitte ich Sie, zu bedenken, daß sie bei den Grundsätzen, die meine Eltern ihr eingeimpft haben, und dank den Ratschlägen, die wir ihr erteilen werden, wenn sie Ihre Gattin wird, Sie reicher machen wird, als wenn sie eine große Mitgift bekommen hätte. Sie wird sparen, anstatt zu vergeuden, sie würde ihr ganzes Glück darein setzen, Ihnen zu gefallen, und wenn sie eines Tages ihr gegenüber einige ungerechte Handlungen begehen sollten, so würde sie sich bemühen, einen Schleier darüber zu decken. Nun, Herr Herzog, bitte ich Sie, auf Ihre alten natürlichen Gefühle zurückzukommen. Möge meine Schwester auf ewig in Unkenntnis der häßlichen Szene bleiben, die sich hier abgespielt hat, ebenso wie meine Mutter, die nichts ahnt …«

Bei den letzten Worten warf der Herzog sich in die Arme des jungen Caile und sagte:

»Du entzückst und erstaunst mich! Du zeigst mir den Grund für die Ungleichheit meiner Gefühle und machst mir endlich klar, daß ich deine Schwester vergöttere. Nein, nein, mein lieber Caile, ihr gegenüber hätte ich mich nicht vergangen, wenn sie statt deiner hierher gekommen wäre. In ihrer Gegenwart bin ich ganz Zärtlichkeit, Achtung, Liebe. Deine letzten Worte beruhigen mich, sie darf nie etwas erfahren, was mich in ihren Augen herabsetzen würde. Du aber bist von nun an mein Bruder, mein Freund, und deine Zukunft wird meine Sorge sein … Wie sollen wir aber die veränderte Lage dem Marquis*** klar machen, der da drinnen ist?

»Damit werde ich mich befassen. Schicken sie nur zu mir nach Hause und lassen sie meine Kleider holen. Benachrichtigen sie, bitte, meinen Vater und meine Schwester, die in großer Unruhe sein werden.«

»Ich habe es schon getan, werde aber noch einmal hinschicken.«

»Leihen sie mir einen Degen und teilen sie dann dem Marquis mit, daß Sie Ihren Zweck nicht erreicht haben. Er wird mich dann aufsuchen, Sie werden ihm folgen und wir werden uns an seiner Überraschung weiden oder an seiner Beschämung, wenn er eines solchen Gefühls noch fähig ist. Ich werde so gegen ihn vorgehen, daß er sich hüten wird, zu irgend jemand ein Wort von diesem Abenteuer verlauten zu lassen.«

Der Herzog erteilte sofort seine Befehle. Man holte die Kleider des jungen Caile, der sich im Beisein des Herzogs umzog, dem danach kein Zweifel mehr an seinem Geschlecht übrig blieb. Als die falsche Aglaé nun wieder ihre richtige Gestalt angenommen hatte, stürzte der Herzog, die Hand auf die Stirn gelegt, wie wenn er in heller Verzweiflung wäre, hinaus. Sein Freund kam ihm entgegen: »Was geht denn vor? fragte er, »was hast du gemacht? Einen nächtlichen Streich vollführt?«

»Sieh selbst nach, mein lieber Marquis. Welch eine sonderbare Metamorphose! Der Teufel muß seine Hand dabei im Spiel haben, oder meine Schöne ist zum mindesten eine Hexe, eine Medea. Ich bin unterlegen.«

Der Marquis zuckte die Achseln und äußerte:

»Du hast ein schwaches Herz und keinen Kopf!«

Er betrat das Zimmer, worin Aglaé sich befand. Da er nur einen schönen jungen Mann erblickte, sah er sich nach dem Mädchen um. Der junge Caile ging auf ihn los und sagte zu ihm mit stolzer Miene: »Sie sind ein Verbrecher. Ich verlange Rechenschaft von Ihnen, gleich hier im Hause des Herzogs, das mich nicht an meinem Vorhaben hindern soll.«

Der Marquis war überrascht, als er die vermeintliche Aglaé erkannte, glaubte aber, daß die Schöne unterlegen wäre, und daß man nur Scherz mit ihm treibe. Lachend erwiderte er:

»Sie waren vorhin nicht so furchterregend, doch ich bin froh, daß Sie Vernunft angenommen haben.«

»Hier gibt’s nichts zu lachen,« donnerte Caile in verstellter Wut, die um so besser gespielt war, als sie beinahe echt war, blicken sie hierher.«

»Der Himmel hat, um deine Niederträchtigkeit zu bestrafen und den Herzog zu verhindern, ein Verbrechen zu begehen, das nicht seiner Seele entstammte, denn sie ist zu edel, ein schwaches, furchtsames Mädchen in einen kräftigen jungen Mann verwandelt: Zittere, Verbrecher! (Bei diesen Worten schüttelte er ihn heftig am Arm.) Nimm dich in acht, daß er dich nicht in irgendein ekelhaftes Getier verwandelt, dessen Natur deine entarteten Neigungen bezeichnet!«

Der Marquis war in ein stumpfes Erstaunen verfallen. Er sah einen Jüngling vor sich, er erkannte Aglaés Züge, aber er wußte nicht, daß diese einen Bruder hatte. Er glaubte weder an Metamorphosen noch an die Strafen des Himmels, aber er sah sich einem unentwirrbaren Chaos gegenüber. Er rief nach dem Herzog und fragte ihn:

»Mein Lieber, hast du vielleicht auch mir etwas in mein Essen oder mein Getränk getan, das mir das Gehirn trübt? Bin ich wach? Träume ich? Eines ist sicher: von dem, was ich erlebe, ist nichts natürlich, auch dein Betragen nicht.«

»Im Gegenteil,« erwiderte der Herzog, »nichts ist natürlicher auf der Welt. Wir glaubten, es mit einem Mädchen zu tun zu haben, und wir hatten es mit einem schönen, jungen Manne zu tun. Was meinst du, wie man uns auslachen wird?«

»Das ist unfaßbar! Ich habe immer geglaubt, daß seitdem Nero den Sporus heiratete, die Männer keine Männer mehr heirateten.«

»Das werde ich auch nicht tun.«

»Aber was für einen Zweck hatte denn die ganze Geschichte?«

»Das ist noch ein Geheimnis, mein lieber Marquis; sobald alles aufgeklärt ist, werde ich es dir mitteilen. Einstweilen ist meine Geliebte mein bester Freund geworden. Ich meine, es wäre am einfachsten, wenn er auch dir verzeihen würde.«

»Ich will mich hängen lassen, wenn ich etwas davon verstehe,« sagte der böse Marquis alle Augenblicke. Und er ging sehr unzufrieden hinaus, da er vom Herzog keine Erklärung erhalten konnte.

»Ich werde Ihm eine solche geben,« meinte der Herzog, »aber erst an meinem Hochzeitstage und, indem ich ihm meine Frau und meinen Schwager vorstelle.«

»Schön! Aber wir dürfen ihn nicht einfach so fortgehen lassen. Erlauben sie mir, ihm ein Wort zu sagen.«

Da der Herzog sicher war, daß er irgendwelche unangenehme Folgen verhindern könnte, gab er seine Zustimmung. Caile stürzte dem Marquis nach, packte ihn am Arm und sagte zu ihm:

»Ich warne Sie davor, ein zweites Mal in Ihre alten Schliche zu verfallen oder von dem, was hier vorgegangen ist, ein Wort verlauten zu lassen. Denn dann haben sie es mit mir zu tun, und ich würde nicht eher ruhen, als bis ich Sie unschädlich gemacht hätte. Ich bin ein nicht zu verachtender Gegner und bereit, an Ihnen meine Geschicklichkeit zu probieren.«

»Ich habe keine Furcht vor Ihnen,« erwiderte der Marquis darauf.

»Ich glaube es, doch muß ich Sie um Ihr Ehrenwort bitten.«

»Was soll ich versprechen?«

»Stillschweigen zu bewahren.«

»Fällt mir nicht ein, ich verspreche nichts.«

»Dann verteidigen sie sich, mein Herr!«

»Ich will mein Leben nicht im Kampfe mit einem Abenteurer aufs Spiel setzen.«

»Dieser Abenteurer wird es Ihnen einfach erbarmungslos nehmen, wenn sie es nicht einsetzen wollen … .«

Der Marquis sah sich gezwungen, den Degen zu ziehen. Obwohl der Herzog in der Nähe und bereit war, einzugreifen, kam er doch zu spät, denn Caile führte die ersten Stöße mit solcher Kraft, daß er dem Marquis den Arm durchbohrt hatte, bevor er sie trennen konnte. Mit diesem wohlverdienten Lohn ging der Marquis von dannen.

Nach so heftigen Auftritten hatte ein jeder Ruhe nötig. Alle gingen zu Bett, und Caile, der sich nun um sein Schwesterlein nicht mehr sorgen brauchte, genoß eines süßen Schlafes. Der Herzog aber hatte seinen Entschluß gefaßt und fand sich von einer großen Last befreit. Er liebte Aglaé und war glücklich, sich sagen zu können, daß er niemals ein Unrecht gegen sie begangen habe.

Am nächsten Morgen wachten alle ziemlich Spät auf mit Ausnahme von Frau Caile, die sich lange Zeit auf nichts besinnen und nicht begreifen konnte, wo sie sich befand. Endlich läutete sie und sah anstatt ihrer Zofe einen Lakaien des Herzogs eintreten. Noch war ihr alles unklar, bis der Lakai ihr sagte, sie befände sich in der kleinen Villa des Herzogs. Unruhig verlangte sie darauf, ihre Tochter zu sehen. Man sagte ihr, sie pflege im Nebenzimmer der Ruhe. Die Dame beeilte sich, sich anzukleiden und nach ihrer Tochter zu sehen. Der Anblick ihres in tiefem Schlaf daliegenden Sohnes gab ihr die Ruhe zurück. Sie weckte ihn. Aber der junge Caile war selbst seiner Mutter gegenüber verschwiegen und hielt dem Herzog sein Versprechen. Er zog wieder Mädchenkleider an, und als auch der Herzog bereit war, fuhren alle zusammen nach Hause, wo sie Herrn Caile und Aglaé in größter Unruhe antrafen. Der Herzog verglich mit großer Befriedigung die Züge der Geschwister und konstatierte, daß sie sich sprechend ähnelten. Zugleich empfand er Freude darüber, daß beide ihm verschiedene Gefühle einflößten. Er fand sich von so großer Zärtlichkeit gegen Aglaé ergriffen, daß er fest überzeugt war, er würde es ihr gegenüber sicherlich nicht an Respekt haben fehlen fassen, wenn sie in sein Haus gekommen wäre. Auch zweifelte er nicht daran, daß sie ihn glücklich machen würde. Nachdem er ihr eine x-beliebige Erklärung seines sonderbaren Vorgehens gegeben hatte – er war sicher, nicht Lügen gestraft zu werden –, beklagte er sich bei Aglaé in zärtlichen Worten über den Betrug, den man gegen ihn angewendet habe. Sie entschuldigte sich in reizender Verlegenheit, indem sie die Schuld auf ihren Bruder schob. Dann wurde der Tag für die Hochzeitsfeier bestimmt. Die Heirat sollte noch einige Jahre geheim gehalten werden. Es waren aber alle Vorbereitungen getroffen worden, um die Gültigkeit fest zu sichern.

Am Abend dieses schönen Tages ließ der Herzog den Marquis bitten, in seiner Villa vorzusprechen.

Dort sollte er ihn mit seiner jungen Frau und deren Eltern und Bruder antreffen. Letzterer kleidete sich wieder als Mädchen und zwar genau so wie seine Schwester. Als der Marquis erschien, zog Aglaé sich zurück. Der Herzog wandte sich zum Marquis und sagte zu ihm auf Caile deutend:

»Wir sind einig, dieses reizende Mädchen und ich, nimm an unserer Freude teil, lieber Freund.«

Der Marquis machte eine Bewegung des Erstaunens, glaubte alles zu verstehen, als er sah, wie der Herzog die falsche Aglaé vor ihren Eltern liebkoste, und rief aus:

»Hier ist das reinste Zauberland l Das ist doch der junge Mann, den ich schon einmal hier gesehen habe, ich habe ihn gleich wiedererkannt.«

»Du irrst, es ist ein Mädchen,« entgegnete der Herzog. Zugleich erhob er sich und führte den Marquis einige Schritte beiseite. Sobald der Marquis den Rücken gewandt hatte, wurde Caile durch seine Schwester ersetzt, während der Herzog ganz leise zum Marquis sagte:

»Sie hat die Macht, andere Gestalten anzunehmen.«

Ungeduldig dreht der Marquis sich um und erblickt die wahre Aglaé, deren innere Erregung sich durch das Wogen ihres schönen Busens bemerkbar machte, den ein durchsichtiger Gazeschleier kaum verhüllte. Er blieb wie versteinert stehen, denn er glaubte, immer dieselbe Person vor sich zu haben. Darauf suchte man noch einmal seine Aufmerksamkeit abzulenken, was nur mit Mühe gelang, und nun erschien wieder Caile ohne die siegreichen Reize, die Aglaé charakterisierten.

»Ihr seid alle Taschenspieler, sehr geschickte Taschenspieler,« rief der Marquis bei diesem Anblick aus.

»Und du bist ein eigensinniger Starrkopf!«

»Möchtest du, lieber Herzog, mir nicht des Rätsels Lösung geben?«

»Tue deine Augen auf und glaube dem, was du siehst.«

Eine andere Antwort konnte der Marquis nicht erhalten, und man ließ ihn in Qualen der Ungewißheit von dannen ziehen. Er sah wohl, daß man mit ihm spielte, aber er konnte das Wie nicht begreifen, wofern nicht eine ebenso wie alles andere unwahrscheinliche Ähnlichkeit zwischen Bruder und Schwester bestünde. Man klärte ihn nicht auf, da man das Geheimnis wahren wollte. Eines Tages wird er, wird die Öffentlichkeit es erfahren.

Der Gatte auf Probe.

070

Der Leser wird lachen, wenn er diese Überschrift sieht. Sollte es mir aber gelingen, ihr gerecht zu werden, dann wird mein Ruhm um so größer sein. Ich muß gestehen, daß das Pendant dazu mir schon seit zehn Jahren durch den Kopf geht. Ich fand nämlich in einem Fache eines Bücherschrankes, als ich im Jahre 1770 mit der Herausgabe des Miméographe beschäftigt war, auf einem Notizblatt die Überschrift: Die Gattin auf Probe. Ich bezweifle allerdings, daß ich damit etwas hätte anfangen können, wenn mir der Zufall nicht in Wirklichkeit verschafft hätte, was ich aus meiner Einbildungskraft heraus hatte in Angriff nehmen wollen.

Ich war eines Abends in der Oper, wo ich trotz der herrlichen Musik Glucks schwer litt: man erstickte, denn das Teufelswerk Iphigenie in Tauris hört nicht auf, das Haus zu füllen, so oft es gegeben wird. Die Herren Piccinianer sollten uns doch wahrhaftig etwas Platz lassen, aber nicht um ein Kaiserreich! Alle waren zur Stelle und lagen auf der Lauer, um zu beobachten, ob nicht jemand gähnen würde. Sie verlieren damit ihre Zeit, lassen sich aber nicht entmutigen.

Ich hatte mich schon sehr früh im Parkett eingefunden und suchte meine Gedanken von der beginnenden Erstickung durch eine lebhafte Konversation abzulenken. Ich sprach zuerst von der Freude, die ich empfand, die Engländer gehörig geschlagen zu sehen, dann von Musik, dann von Literatur, und das brachte mich ganz natürlich auf meine Novellen. Ich erwähnte dabei auch als guten Gegenstand für eine solche die Gattin auf Probe, äußerte aber, daß er bei unseren Sitten ein sehr heikler, schwer zu behandelnder Stoff sei.

»Weiß Gott!« bemerkte darauf ein sehr stattlicher Herr, ungefähr Mitte der dreißiger, »ich habe, was sie suchen, nicht gerade genau dasselbe, aber beinahe. Wenn sie sich mit mir im Café de la Régence treffen wollen, dann will ich Ihnen Ihr Werk in großen Strichen andeuten, indem ich Ihnen eine ganz außergewöhnliche Geschichte erzählen werde.«

Ich hütete mich, das Rendezvous zu verfehlen. Mein Mann kam ebenfalls. Wir nahmen das Souper ein, dem Saintfoi einst jenen groben Beinamen gab, der ihm einen Degenstich einbrachte, wir nahmen jeder eine Bavaroise, und dann fing mein Mann seine Erzählung an. Ich erwartete von einer Ehefrau auf Probe zu hören, aber er brachte mir einen Ehemann auf Probe.

Ich unterlasse heute zum ersten Male, mit meiner sehr liebenswürdigen Frau zu soupieren. Wenn sie aber erfahren wird, daß es geschah, um sie zu preisen, so wird sie mich gewiß entschuldigen.

Bis zum Alter von achtundzwanzig hatte ich Angst, nicht vor den Frauen, aber vor der Heirat. Alle Frauen, die ich bis dahin kannte, hatten mir Schrecken eingejagt. Eine Gleichstehende heiraten, dachte ich, hieße, sich eine Herrin einsetzen. Seine Blicke auf eine über einem Stehende zu werfen, schien mir ein sehr schwieriges und sehr Ungewisses Unternehmen zu sein, sollte es einem gelingen, so mußte man sich sicherlich noch drückendere Ketten auferlegen. Und heiratete man eine untergeordnete Frau, dann konnte man sicher sein, nicht geliebt zu werden, und sich anstatt einer liebenswürdigen Gefährtin entweder eine gemeine Augendienerin oder vielleicht sogar eine freche Dirne ohne Schamgefühl zugesellt zu haben … Solche Überlegungen trauriger Art brachten mich von allen Heiratsgedanken ab, und ich war schon entschlossen, ganz auf eine solche zu verzichten, als das Zusammentreffen verschiedener Umstände mich ein Glück finden ließ, auf das ich nicht mehr gehofft hatte.

Ich speiste eines Tages bei einem meiner Freunde, der seit langem mit einer sehr liebenswürdigen Frau verheiratet war, die aber nur für seine Verwandte galt. Gewöhnlich, wenn ich in diesem Hause speiste, wurden die Frauen von meinem Freunde hart mitgenommen, und auch ich schonte sie nur, soweit es die Höflichkeit gegen Fräulein Saint-Loci verlangte, die uns mit engelgleicher Sanftmut zuhörte. Aber an dem Tage, von dem ich spreche, hatte sie eine Mutter mit ihrer sechzehnjährigen Tochter zu Tisch geladen. Bevor die Damen eintrafen, nahm sie mich beiseite und bat mich, bei Anwesenheit ihrer beiden Gäste, die ich nicht kannte, ihr Geschlecht zu schonen. Ich versprach ihr, ihrem Wunsche nachzukommen.

»Herrn d’Altemont«, fügte sie hinzu (d’Altemont war der Name ihres heimlichen Gatten), »kann ich nichts sagen, aber wenn sie ihm nicht sekundieren, werden seine Bemerkungen kaum beachtet werden.«

Die Damen erschienen kurz darauf. Ich war geblendet von der Schönheit des jungen Mädchens und fühlte sofort, daß es seitens des Fräuleins Saint-Loci unnötig gewesen war, mich um Mäßigung zu bitten.

Herr d’Altemont brachte das Gespräch indessen bald auf sein Lieblingsthema, die Unvollkommenheiten der Frauen. Er ließ seinen Gefühlen um so mehr freien Lauf, als ihm von der Mutter des jungen Mädchens auf das lebhafteste widersprochen wurde. Der Streit wurde immer heftiger und Herr d’Altemont triumphierte, als Madame Saint-Eusébe, die Mutter der jungen Schönheit, auf den Gedanken kam, mich um meine Meinung zu bitten. Ich war darüber sehr verlegen. Lächelnd sah Fräulein Saint-Loci mich an und sagte:

»Seien sie wahr! Wollen sie das, so ersuche ich Sie, nicht an die Bitte zu denken, die ich Ihnen vor Tisch stellte.«

»Dann will ich also mit dem ganzen Freimut sprechen, der mir eigen ist. Ich muß Herrn d’Altemont teilweise Recht geben. In unserem Jahrhundert müßte einer ein Engel sein, um mit den Frauen leben zu können, oder die Frauen müßten alle solche Engel sein, wie Fräulein Saint-Loci. Wenn Herr d’Altemont behauptet, daß alle Frauen herrisch und falsch sind, so ist die Behauptung gewiß zu allgemein, und man braucht nicht weit zu gehen, um Ausnahmen zu finden. Ich gestehe indessen ganz offen, daß ich, wenn ich heiraten wollte, erst eine Frau auf Probe zu nehmen wünschte, um, bevor ich mich fest bände, vorher ihre Laune, ihren Charakter und ihre Grundsätze kennen zu lernen. Der Grund dafür ist, daß ich mit meinem Charakter durch die Ehe hervorragend glücklich oder hervorragend unglücklich werden muss. Wenn ich meine Hand zur Ehe reiche, gebe ich mein Herz hin. Ich will in meiner Frau eine Geliebte, eine Freundin, eine Ratgeberin, eine Herrin, eine Dienerin und eine Göttin haben, dagegen will ich ihr ein Vater, ein Liebhaber, ein Freund, ein Gatte, ein Mann sein und bin bereit, ihr in allem zu dienen. Kein Geheimnis darf zwischen uns bestehen, nur würde ich bisweilen meine Unannehmlichkeiten verschweigen. Ich will laut vor ihr denken können, das gleiche verlange ich von ihr. Und nie würde ich mir gegen meine Frau etwas erlauben, was gegen eine andere Frau unhöflich oder grob wäre. Nun wissen sie, warum die Frage einer Heirat für mich so wichtig ist, warum ich nicht geheiratet habe und warum ich mich vielleicht niemals verheiraten werde. Trotzdem bin ich in einer gewissen Verlegenheit, denn ich muß erklären, daß ich meinen Prinzipien gemäß es für jeden Mannes Pflicht halte, die Ehe einzugehen.«

»Ihre Ehrenhaftigkeit, mein Herr,« wandte sich darauf Madame Saint-Eusébe an mich, »ist die Ursache Ihrer Verlegenheit.«

»Ich nehme Ihr Kompliment wörtlich, verehrte Frau, es ist in der Tat so. Ich halte es für die heilige Pflicht des Mannes, sich zu verheiraten und für seine nicht weniger heilige Pflicht, seine Frau glücklich zu machen. Diesem Streben würde ich jeden meiner Augenblicke weihen, und selbst wenn ich nicht glücklich sein würde, würde ich doch suchen, sie glücklich zu machen.«

In diesem Sinne ging die Unterhaltung weiter. Madame Saint-Eusébe war entzückt von meinen Prinzipien und erkundigte sich nach dem Essen leise nach meiner Stellung und meinem Vermögen. Da sie über beides die beste Auskunft erhielt, fand sie es wahrscheinlich wünschenswert, die Bekanntschaft mit mir fortzusetzen, und flüsterte mir bei einer günstigen Gelegenheit ins Ohr:

»Besuchen sie mich. Ich liebe Ihre Philosophie und möchte Sie gern noch weiter über den Stoff sprechen hören, den wir heute behandelt haben.«

Ich war entzückt über die Einladung und folgte ihr zwei Tage später.

»Ich hatte Sie schon gestern erwartet.« Mit diesen Worten begrüßte mich Madame Saint-Eusébe. Ihr Empfang war sehr herzlich, und der ihrer reizenden Tochter Sophie nicht weniger freundlich. Ich fühlte, daß ich im Begriff war, mein Herz zu verlieren und vielleicht alle meine Grundsätze über den Haufen zu werfen. Glücklicherweise wurde Ordnung in die Sache gebracht. Während des Essens – wir waren nur zu dritt, da die Dame Witwe war – kam das Gespräch wieder auf die Frauen. Ich ging noch mehr ins einzelne ein, da ich durch die Abwesenheit d’Altemonts von jedem Zwang befreit war. Ich sprach mit Nachdruck besonders von der Nachsicht, die man sich in der Ehe gegenseitig schuldig sei, hauptsächlich aber der Mann der Frau, da er der stärkere und gewöhnlich auch der besser erleuchtete sei. Dann erklärte ich näher, was ich darunter verstanden wissen wollte, als ich gesagt hatte, meine Frau müßte für mich eine Göttin sein.

»Das soll heißen: um in der Ehe glücklich zu sein, ist der Mann seiner Frau die Freude schuldig, sie zu schmücken, ihre Schönheit zu erhöhen, sie zu ehren, zu preisen, und ihr jedermanns Hochachtung zu verschaffen, indem er ihr selber jede Rücksicht erweist, stets aber natürlich, ohne Künstelei. Die Frau ist dem Gatten das, was dieser aus ihr selber zu machen weiß. Beide Gatten müssen von Achtung zueinander gegenseitig durchdrungen sein, sie sollen sich ihres Wertes wegen anbeten und sich gegenseitig nur von ihrer liebenswürdigsten Seite zeigen, sich gütig, menschlich, edelmütig und liebevoll behandeln, anstatt das gewöhnliche Beispiel der Ehegatten nachzuahmen, die, wenn sie sich einmal gegenseitig ertappt haben, sich verhöhnen und einander in ihren eignen Augen herabsetzen, soviel sie nur können. Sollte mir das Glück widerfahren, einer Frau nach meinem Herzen zu begegnen, so würde ich sie gut vorher studieren, bevor ich sie heiratete, und wenn ich sie dann gut erkannt und achten gelernt hätte, dann würde ich ihr im selben Augenblick mein Herz, meine Treue, meine Hand, meine Achtung, mein Vermögen, mein Glück, ja selbst meine Ehre ausliefern, alles sollte ihr anvertraut werden. Zugleich würde, wie ich neulich sagte, all mein Streben darauf gerichtet sein, ihr zu vergelten, was sie für mich tun wird. Die Gatten unseres Jahrhunderts genügen sich gegenseitig nicht, zweifellos, weil sie sich nicht lieben. Sie haben sich aus Interesse oder Leidenschaft genommen, die sie für Liebe hielten, die aber nur ein blinder oder sinnlicher Trieb war. Sind sie dann enttäuscht, dann bleibt nichts mehr übrig. Die Achtung, das ist die Grundlage einer glücklichen Ehe, sofern sie jedoch von dem Geschmack begleitet wird, der einem Appetit auf Liebe macht. Denn, gestatten sie mir einen Vergleich, die Speisen, die Sie mir haben auftragen lassen, können an sich sehr gesund sein, würden mir aber doch nicht zugesagt haben, wenn ich sie nicht gern äße, und dann würde ich sehr schlecht diniert haben.«

Als ich aufgehört hatte zu sprechen, bemerkte Madame Saint-Eusébe:

»Hören sie. Ich habe den einen Wunsch, Sie ganz genau zu kennen und von Ihnen genau gekannt zu sein. Sobald das der Fall sein wird, will ich Ihnen einen Vorschlag machen, auf den sie vielleicht eingehen werden. Ihre Grundsätze gefallen mir ganz außerordentlich. Kommen sie recht oft zu uns, so oft Sie können, am besten womöglich alle Tage.«

Ich erwiderte, wie es sich gehörte, auf so freundliche Worte, und man sah mich von nun an jeden Tag oder fast jeden Tag bei Madame Saint-Eusébe. Als unsere Beziehungen so intim waren, wie sie es wünschte, sagte sie eines Tages zu mir:

»Nachdem ich Ihre Gefühle nun genau kenne, werde ich in einem Gedanken bestärkt, der mir bereits am ersten Tage unserer Bekanntschaft im Hause d’Altemonts aufgestiegen ist. Ich habe mich entschlossen, Ihnen das Glück meiner Tochter anzuvertrauen, meines höchsten Gutes auf dieser Erde. Was meinen sie dazu?«

»Sie überhäufen mich mit Güte, verehrte Frau, und da Sie so offen mit mir sprechen, will ich Ihnen nicht verschweigen, daß die Gefühle, die Ihre schöne Sophie in mir wachgerufen hat, mich alle Vorsichtsmaßregeln haben vergessen lassen, von denen ich Ihnen bisweilen gesprochen habe.«

»Wenn das der Fall ist, so will ich sie Ihnen ins Gedächtnis zurückrufen. Von heute ab will ich, daß Sie mit Sophie in der größten Intimität leben, daß Sie frei mit ihr von allem sprechen, daß sie weiß, Sie seien für sie bestimmt und daß sie Sie bereits als ihren Gatten betrachtet. Indessen behalte ich mir gewisse Vorsichtsmaßregeln vor, die die Klugheit erfordert. So sollen sie zwei Jahre hindurch miteinander leben. Gefallen sie sich dann gegenseitig, dann soll die Heirat stattfinden. Richten sie sich so ein, daß Sie womöglich Ihre ganze Zeit bei uns zubringen und hier Ihre Geschäfte erledigen können. Das ist für meinen Zweck notwendig. Ich werde Sophie die vollste Freiheit lassen, bei Ihnen einzutreten, Ihre Beschäftigung zu unterbrechen, als ob sie Ihre Frau wäre. Sie dagegen werden sich fest in den Kopf setzen, Sie seien bereits ihr Mann und sich so wenig zurückhalten, wie wenn es wirklich der Fall wäre. Täuschen sie weder mich, noch Sophie, noch sich selbst, das soll heißen: hüten sie sich vor den Gefühlen der Liebe, die Sie blind machen könnten. Meine Tochter gehört Ihnen. Ich habe sie, seitdem sie vernünftig ist, darüber aufgeklärt, daß die Männer nichts weniger als vollkommene Geschöpfe sind. Sie erwartet daher nicht allzuviel von Ihnen; und das ist von großem Wert! Verfolgen sie also Ihren Plan einer Heirat auf Probe und lassen sie Ihren Ideen freien Lauf. Halten sie Ihre Launen nicht zurück und tun Sie sich nicht mehr Zwang an, als sie es tun würden, wenn sie verheiratet wären. Von Ihren Handlungen wird es von nun an abhängen, ob ich in meiner Achtung für sie bestärkt werden werde.«

Diese eigentümliche Sprache, auf die mich aber Madame Saint-Eusébe seit langem vorbereitet hatte, verursachte mir große Freude. Ich dankte ihr herzlichst und nahm mir vor, auf das peinlichste ihre Bedingungen zu erfüllen. Ich ließ mich häuslich bei meiner Geliebten nieder und erledigte daselbst meine Geschäfte. Ich sah jeden Augenblick die schöne Sophie, weil unsere Zimmer nebeneinander lagen und sie häufig bei mir eintrat, kurz, ich lebte mit ihr in der größten Vertraulichkeit.

Im ersten Monat konnte ich kaum einige Erwägungen anstellen, da Sophie mich oft störte, ich aber meinerseits fand, daß sie es nicht oft genug täte. Auch ich ging zu ihr, und da mein Vergnügen, sie zu sehen und zu hören, stets ebenso groß war, wie früher, so war auch meine Laune stets die gleiche, und sie sah mich immer nur in freudiger Stimmung. Ich war eifrig um sie bemüht, stets gefällig, und kam immer unwillkürlich allen ihren Wünschen entgegen. Es war für mich ein größeres Vergnügen, mich ihr angenehm zu erweisen, als von ihr Gunstbeweise entgegenzunehmen. Eine solche Haltung gewann mir ihr Herz, und sie wurde zärtlicher zu mir, so daß der zweite Monat unseres Zusammenlebens noch köstlicher verlief, als der erste. Aber die Freuden der schwachen sterblichen haben ihre Grenzen, wie unsere Organe!

Vom dritten Monat ab fühlte ich, allerdings noch unmerklich, daß Sophie mich ein wenig zu sehr störte. Ich zeigte mich ihr dafür durchaus nicht undankbar, ganz im Gegenteil, aber ich hatte ein Gefühl, ich empfand etwas, was mir in den beiden ersten Monaten fremd gewesen war. Ihre Mutter, die uns genau beobachtete, ohne daß wir es wußten, bemerkte diese leichte Veränderung meines Wesens. Aber sie hatte eine solche vorhergesehen und wußte, daß sie natürlicherweise eintreten mußte. Sie machte mir daher auch kein Verbrechen daraus und begnügte sich damit, ihrer Tochter neue Lehren zu geben, die sich auf den neuen Zustand meines Herzens bezogen. Man hätte meinen sollen, diese gute und weise Mutter suche Krankheiten des Herzens hervorzubringen, um sie dann zu heilen und bis auf ihren Keim auszurotten, so ungefähr wie die Anhänger des Impfens vorzugehen behaupten.

Von ihrer Mutter geleitet, fing Sophie an, mir allmählich mehr und mehr stolz zu zeigen, sie ließ sich begehren, doch so, daß, wenn wir beisammen und in gutem Einvernehmen waren, sie die alte war, wie vorher. Diese Hoffnung frischte wieder für einige Zeit meine Gefühle auf, und so gelangte ich bis zum sechsten Monat, ohne daß die Gewohnheit meine Liebe für Sophie merklich vermindert hätte. Allerdings bestand auch ein großer Unterschied zwischen unserer Probe und der wirklichen Heirat, ich besaß Sophie nicht ganz, und Besitz stumpft schnell ab. Aber ich hatte alles übrige, und das war viel.

Vom achten bis zehnten Monat kam es anders, Sophie flößte mir heftige Gelüste ein, und diese neue Krise bedingte eine beträchtliche Herabsetzung meines Zartgefühls ihr gegenüber. Zuerst war ich glücklich über die reizende und zärtliche Vertraulichkeit, mit der Sophie mich behandelte, dann aber genügte mir das bald nicht mehr, ich liebte sie also weniger! So schloß auch Madame Saint-Eusébe, auch das hatte sie vorausgesehen, es war der natürliche Gang der Dinge. Aber sie hatte beschlossen, mir Sophie erst zu geben, wenn alle diese Krisen vorüber wären, und wenn meine Liebe gereinigt und, nur aus Zärtlichkeit und Achtung bestehend, die physischen Freuden als Ergänzung, nicht als Zweck der Liebe aufzufassen imstande sein würde. »Denn«, so philosophierte sie, »in diesem Fall handelt es sich nicht darum, der Natur zu folgen, sondern im Gegenteil die Natur der Liebe zu verändern, sie künstlich zu bilden und so zu gestalten, wie sie für die unlösbare Ehe notwendig ist, die weit davon entfernt, ein natürlicher Zustand zu sein, im Gegenteil etwas Widernatürliches ist!«

Wie man sieht, hatte ich es mit einer ausgezeichneten Frau zu tun, die ganz dazu geschaffen war, mich mit ihrer Tochter oder durch diese glücklich zu machen. Sophie war nicht von Stein und liebte mich. Ich glühte für sie und war kühn. Vielleicht wäre sie unterlegen, ohne darum in Anbetracht der eigentümlichen Lage, worin wir uns befanden, eines Fehltritts angeklagt werden zu können. Aber ihre Mutter wachte.

Sie ließ sie bis ans Ende ihrer Kraft gehen und kam ihr zur Hilfe, als sie sie bereit sah, nachzugeben. Sie warnte sie und setzte sie davon in Kenntnis, daß sie heimlich Zeuge unserer Unterhaltungen gewesen sei.

Sophie schämte sich, aber ihre Mutter küßte sie und sagte:

»Glaubst du denn, mein liebes Kind, das ich es dir zum Verdienst anrechnen würde, wenn du eine kalte Marmorstatue wärest? Nein, nein, Leben und Wärme stehen unendlich hoch über der Mattheit der Unempfindlichkeit. Ich würde keine gute Meinung von dir bekommen haben, wenn du nicht in Versuchung geraten wärest, deiner Schwäche nachzugeben. Aber, liebe Tochter, du darfst nicht fallen, denn dann würden die Gefühle deines Gatten gewiß erkalten. Doch wird es gut sein, wenn er eines Tages erfährt, daß du ihn zärtlich genug liebtest, um ihm alles zu opfern, und daß ich dich daran verhindert habe. Das soll ihm geoffenbart werden, wenn die Umstände es mit sich bringen werden, und sobald er sich dieses Eingeständnisses würdig gezeigt haben wird. Ich hoffe dies, denn ich glaube, ihn zu kennen.«

Sophie küßte ihre so gute Mutter tausendmal, und innerlich gefestigt durch das Gehörte, war sie gegen mich um so zärtlicher, als sie mich jetzt weniger fürchtete. In der Tat war es ihr jetzt sehr leicht gemacht, selbst einen stürmischen Angriff von mir abzuschlagen, es war ihr zur Unmöglichkeit geworden, mir etwas zu bewilligen, denn ein Mama sieht mich ist eine gute Schutzwaffe für ein junges Mädchen!

Diese Haltung Sophies mußte mir notwendigerweise die Überzeugung von ihrer Liebe zu mir und zugleich die höchste Meinung von der Weisheit und Festigkeit ihrer Grundsätze beibringen. Zärtliche Hochachtung gegen sie folgte auf meine Trunkenheit, und erst von da ab glaubte ich Sophie wahrhaft und in einer ihrer würdigen Weise zu lieben.

Das vertraute Verhältnis, das nunmehr zwischen uns Platz griff, glich jetzt mehr dem zwischen Eheleuten, ohne deshalb aber weniger reizend zu sein. Sophie gestattete sich mir gegenüber größere Freiheiten und betrug sich wie eine wirkliche Ehefrau. Wir waren im Anfang des zweiten Probejahres. Die drei ersten Monate waren entzückend. Ich sagte es Madame Saint-Eusébe und bat sie ernstlich, unseren Versuch abzubrechen.

»Aber er hat ja kaum begonnen,« erwiderte sie, »ihr habt beide einen so glücklichen Charakter, daß ich bis jetzt noch nichts von dem gesehen habe, was ich von Ihnen sehen wollte. Aber da ist noch ein Hebel, den anzuwenden, sowohl die gute Sitte wie das Gesetz mir verbieten, wenn er in Bewegung gesetzt würde, und die Sachlage wäre so, wie sie ist, dann würde ich mich sofort ergeben. Da ich aber dieses Mittel nicht anwenden kann, so muß ich es durch Surrogate ersetzen, und das dauert viel länger. Fassen sie sich also in Geduld, lieber Freund!«

Ihre Worte waren für mich kein Rätsel. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich mir stillschweigend vornahm, dieses Mittel anzuwenden, um meine Wartezeit abzukürzen.

Beim nächsten Beisammensein mit Sophie traf ich meine Vorbereitungen, um meines Sieges gewiß sein zu können. Ich richtete es so ein, daß außer der Mama niemand im Hause war. Diese hatte zweifellos mein Manöver bemerkt. Eine Prüde oder Betschwester hätte drin zweifellos ein unverzeihliches Verbrechen gesehen, aber ein vernünftiger Mensch, ein wahrer Philosoph, weiß zwischen Handlungen zu unterscheiden, die sittlich schlecht sind, wie z. B. die Lust, jemanden zu schädigen, und solchen, die nur sozial schlecht sind, wie die von mir beabsichtigte. Madame Saint-Eusébe wußte, daß Handlungen der ersten Art die Aufführung und die Gefühle beeinflussen und diese wie jene verderben, daß aber die der zweiten nur die Außenseite der Seele berühren, doch ihren Kern nicht angreifen. Daher tun auch die Herren Moralisten, die, um diese bedingungsweise schlechten Handlungen zu verschreien, den Mund so voll nehmen und sie als schlimmer als die wahrhaft lasterhaften hinstellen wollen, nur einen Schlag ins Wasser und überzeugen niemanden, selbst die nicht, die zu denken meinen, wie sie, denn alle Augenblicke straft die Erfahrung die vermeintliche Meinung Lügen. So machen galante Abenteuer, nächtliche Spaziergange, Serenaden, Tanzvergnügungen usw., die alle Landgeistlichen so in Harnisch bringen, nur geringen Eindruck auf junge Leute beiderlei Geschlechtes, und obwohl die Seelenhirten sozial und politisch in gewissem Maße recht haben, bleibt die Natur doch die stärkere und trägt stets den Sieg davon. Doch ich bemerke, daß ich eine Vorlesung halte.

Madame Saint-Eusébe beunruhigte sich nicht über meine Vorbereitungen zum Angriff aus ihre Tochter, und zürnte mir auch nicht deswegen, da sie es ganz natürlich fand. Sie wußte wohl, daß ich nicht imstande war, die Hauptmaßregeln zu treffen, nämlich sie selbst zu entfernen. Aber sie hatte Mitleid mit mir und schien sich in ihrem Zimmer einzuschließen. So drohte mir also von keiner Seite eine Störung.

Die schöne Sophie kommt in ihrer Unschuld wie gewöhnlich zu mir. Sie tritt lächelnd ins Zimmer, geht geradenwegs auf meinen Stuhl los, stützt sich auf die Lehne, nimmt mir die Feder aus der Hand und sagt: »Genug der Arbeit, mein Freund, wir wollen plaudern und spielen.«

Ich drehte mich halb nach ihr um, zog sie an mich und setzte sie auf meinen Schoß. Dann äußerte ich: »Sie hören also nicht auf, mich gerade dann zu stören, wenn ich am meisten beschäftigt bin! Das sollen sie mir bezahlen, mein Fräulein.« Und ich küßte sie zärtlich ein Mal über das andere Mal.

»Zu behaupten,« bemerkte Sophie dazu, »daß Ihre Liebkosungen mir unangenehm sind, wäre eine Lüge, die Sie auch nicht glauben würden. Ich sehe in Ihnen den Gatten, den Mama mir bestimmte, den auch mein Herz erwählt haben würde, aber sie sind manchmal ein wenig zu stürmisch, und ich wünschte, Sie mäßigten sich etwas!«

»Nein, schöne Sophie,« erwiderte ich ihr darauf, indem ich ihr zu Füßen fiel und ihr die Hände küßte, »ich werde heute nicht stürmisch sein, nur zärtlich, aber sehr zärtlich, viel zärtlicher als sonst.«

»So sieht also Ihre Strafe aus, wenn man sie unterbricht? Da habe wirklich ich einen netten Gatten, und ich will, daß er dafür geliebt wird, wie niemals ein Mann geliebt worden ist.« Damit neigte sie sich auf mein Gesicht. Ich raubte ihr einen Kuß, den sie mir mit den Worten wiedergab: »Mein teurer Saint-Preux! wie liebe ich Sie!«

Dann machte sie mir an ihrer Seite Platz auf einem Kanapee und legte mir ihren Arm um den Hals. Feuer floß durch meine Adern, aus meinen Händen sprühten Funken, und mein Mund atmete Flammen. Selbst wenn ich die Tugend eines Engels gehabt hätte, wäre ich bei meiner erregten Leidenschaftlichkeit kühn geworden. Ich wollte es sein. Sophie konnte darüber nicht mehr im Zweifel sein, nachdem mir ein etwas zu freimütiges Verlangen entschlüpft war. Sie stieß mich sanft zurück und sah mich mit einem so majestätischen Blick an, daß ich ihn noch heute zu fühlen glaube. Dann sagte sie:

»Saint-Preux, ich achte Sie zu hoch, um Ihnen nachzugeben. Sie sind trunken und ich verzeihe Ihnen … Ich verzeihe dir, mein teurer Gatte, aber fürchte einen Widerstand, den es dich gereuen würde, verursacht zu haben, ich würde dich nicht schonen. Deine häufigen Angriffe, die ich dir stets verziehen habe, haben mich die Kunst gelehrt, mich zu verteidigen. Aber ich möchte meine Tugend gegen dich, teurer Freund, nicht zu verteidigen haben, mach‘, daß ich dir allein verdanke, sie bewahrt zu sehen. Nein, nein, ich will keine Vorteile über dich haben, ich würde solche verabscheuen, wenn ich sie auf deine Kosten haben würde, oder wenn sie dir beschämend wären. Tugend und Schamhaftigkeit, die menschlichen Attribute meines Geschlechts, würden aufhören, für mich einen Reiz zu haben, wenn ich sie gegen einen Mann zu verteidigen hätte, den ich über alles liebe. Bist du nicht, Saint-Preux, mein Führer, meine Stütze? Ist es nicht auch in deinem, wie in meinem Interesse, mich ohne Makel zu wissen? Verlangst du denn von mir, daß ich mich dir als eine verächtliche Gattin ergebe? Ich würde es vielleicht tun, wenn eine solche dich glücklich machen könnte, aber das ist ja unmöglich. Kommen sie zu sich. Saint-Preux! Lassen sie uns ohne Schuld bleiben und suchen Sie einen Weg, unsere Heirat zu verwirklichen, die schon beschlossen ist, die Mama aber aus bestimmten Gründen noch aufschiebt. Sobald ich Ihre Wünsche erfüllen kann, ohne Sie in der Person Ihrer Gattin zu erniedrigen, ohne Sie selbst schuldig zu machen, werden Sie mich ebenso willfährig finden, wie ich jetzt zurückhaltend bin. Ich habe eine kluge Mutter, die mich indirekt unterrichtet. Die Gespräche, die ich oft mit ihr führe, haben mich veranlaßt, diese Worte an sie zu richten, diktiert hat sie mir sie nicht. Sie lehrt mich auch schon jetzt, wie ich mich später im Haushalt werde zu betragen haben. Sie will, daß ich Sie vergöttere, aber sie will auch, daß ich als Frau zu mancher Zeit noch Mädchen bleibe, daß ich so zurückhaltend bleibe, wie ich es jetzt bin, nachdem ich in gewissen anderen Augenblicken die zärtlichste und hingebendste aller Gemahlinnen gewesen sein werde. Sie will aber nicht, daß nur Laune meine Strenge bestimme und mahnt mich, noch liebevoller abzuweisen, als ich bewilligen würde. Das meint sie, wäre die schwierigste und fast die wichtigste meiner Pflichten.«

Während Sophie so sprach, hatte sie meine beiden Hände ergriffen. Ich befand mich in einer Lage, für die es keinen Ausdruck gibt. Wenn ich meine Sophie jemals angebetet habe, so war es in diesem Augenblick, aber meine Wünsche waren von äußerster Heftigkeit.

»Sophie!« antwortete ich ihr, »Schöne Sophie, alles, was du mir da sagst, ist von der Weisheit selber diktiert, Minerva oder deine Mutter spricht durch deinen Mund, indessen, meine göttliche Frau, ich kann meiner Liebe nicht länger gebieten, mein Leben hängt davon ab, und ich fühle, ich bin am Ende meiner Kraft, wenn du weiter grausam bist. Rette deinen Gatten, Sophie! Sieh‘ meine Überreizung, meine Trunkenheit, mein Liebesschmachten … « Und ich fiel in ihre Arme, die mich fest umschlungen hielten. Frisch belebt durch diese köstliche Berührung, fühlte ich unglaubliche Kraft in mir. Ich trug sie in meinen Armen fort. Das süße Opfer stieß nur einige Seufzer aus, indessen hielten mich doch einige Worte zurück, die sie, schon bereit, zu unterliegen, hervorstammelte:

»Lieber Freund, willst du wirklich der armen Mama diesen Kummer bereiten! … Wenn du wüßtest, wie hoch sie dich achtet! … Von mir will ich nicht sprechen … ich gehöre dir …«

Diese Worte, mit engelhafter Sanftmut hervorgebracht, machten auf mich plötzlich einen gewaltigen Eindruck. Ich hielt an, stürzte Sophie zu Füßen und schrie, mein Gesicht mit beiden Händen bedeckend, laut heraus:

»Nein, nein, innigstgeliebte Sophie, ich werde dein Vertrauen nicht mißbrauchen! Nein, mein himmlisches Mädchen! Hundertmal lieber sterben! … Ich kenne mein Herz und fühle, teure Gemahlin, daß es trotz meiner Kühnheit gegen dich nicht gefehlt hat. Aber gegen deine würdige Mutter sündigen – – lieber sterben!«

Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, als die Tür aufging und Madame Saint-Eusébe eintrat. Ihre Miene war halb ernst, halb zärtlich. Sie streckte ihre Hand der Tochter entgegen, die mich losließ, um sich in ihre Arme zu werfen. Sie liebkoste sie einen Augenblick, ohne das Wort an mich zu richten. Darauf nahmen ihre Züge einen Ausdruck von Würde an, und sie wandte sich an mich:

»Die Prüfung, die ich Ihnen etwa auferlegt habe, mein Herr, entscheidet über Ihr Geschick, wenn sie der letzten Bitte meines Kindes nicht geachtet hätten, so hätte ich mit Ihnen vielleicht für immer gebrochen … Ich wollte vorher wissen, wie Sie in einem solchen Augenblick vorgehen würden. Welche Vorwürfe ich Ihnen auch über Ihre Aufführung gegen Ihre kleine Frau zu machen habe, so macht mich das Ende Ihres Angriffs auf Ihre Tugend alles vergessen. Sie sind ehrenhaft, Saint-Preux, aber sinnlich und leidenschaftlich. Ich habe keineswegs beabsichtigt, meine Tochter einem Marmorblock in die Arme zu werfen, aber ein ehrenhaften Schwiegersohn wollte ich haben. Sie sind ein solcher, das genügt. Nun bleibt nur noch eins zu wissen übrig: nämlich, welche Wirkung wird auf Sie die Erfüllung aller Ihrer Wünsche ausüben? Seit langem habe ich über diesen Punkt nachgedacht. Wenn meine Tochter Ihnen nachgegeben hätte, so würde sie gegen ihre Tugend gesündigt haben. Wenn ich sie … Ihnen aber … überlieferte, dann wäre sie nur gehorsam und dann könnte ich sehen, was sie sind und was sie wert sind … Ich bin mir wohl darüber klar geworden, welch‘ böse Folgen aus einem solchen Schritt hervorgehen könnten, einmal setze ich dadurch in der Tat den Wert meiner Tochter herab und dann könnte ich auch ihrer Sittsamkeit und Schönheit Abbruch tun. Aber alles dieses ist nicht zu vergleichen mit den Nachteilen einer unglücklichen Ehe. Eine gebundene Frau, deren der Mann überdrüssig ist und die dazu verurteilt ist, entweder ein trauriges, ödes Leben zu führen, oder sich verbrecherischer Galanterie in die Arme zu werfen, eine solche Frau ist tausendfach unglücklicher, als meine Tochter es werden könnte, wenn sie, was auch immer geschehen mag, sich dazu entschlösse, auf meinen Plan einzugehen. Wir werden dann sehen, was aus Ihnen, Herr Saint-Preux, werden wird, wenn Sophie ganz Ihr Weib sein wird. Ich werde dann in Ihrem Herzen besser lesen können, als sie selbst, seien sie dessen gewiß. Sie werden dadurch zu nichts verpflichtet. Wenn Ihre kleine Frau aufhört, Ihnen zu gefallen, so ziehen sie sich einfach zurück und von allem, was wir Ihnen dann gegeben haben, würden wir nur dieses bedauern, nämlich daß Sie unsere Achtung nicht mit sich nehmen können.«

Ich war von dieser unerwarteten Sprache wie versteinert.

»Wie! Madame, Sie schlagen mir vor. … Möge der Himmel mich davor bewahren, jemals ein solches Anerbieten anzunehmen!«

»So sind die Männer, meine liebe Sophie, und wohl auch die Frauen: sie wollen wohl mit Gewalt an sich reißen, wenn man ihnen aber freiwillig etwas gibt, dann wollen sie’s nicht mehr!«

»Aber verehrte Frau, die Sittsamkeit, die Tugend …, die Tugend Ihrer göttlichen Tochter steht auf dem Spiel!«

»Sie kennen nun meinen Vorschlag, Herr Saint-Preux, lehnen sie ab oder nehmen sie an, nach Belieben. Ich brauche diesen Versuch, nicht meiner Tochter, Sondern Ihretwegen, und da eure beiderseitigen Interessen unzertrennlich sind, so kann ich nichts davon ablassen, denn ich liebe meine Tochter über alles in der Welt.«

»Mehr als Ehre und Tugend?«

»Gewiß! Meine Ehre und meine Tugend setze ich darin, meine Tochter glücklich zu machen! Weisen sie sie zurück?«

»Ich! Ich sie zurückweisen!? … Teure Sophie, Sie sind meine halbe Seele, ich kann sie ebensowenig verlassen, wie mich selbst! Ich willige in alles ein, Madame, was sie mir auferlegen. Ihr Wille ist mir Gesetzt, denn von Ihnen hängt das Glück meines Lebens ab.«

»Sophie, ich gebe dich deinem Manne. Widerstehe ihm nicht mehr. Von nun an werde ich deine Freiheit nicht mehr beeinträchtigen. Wenn dein Gatte ein schlechter Mensch ist, so kann dem Übel immer noch gesteuert werden. Ich liebe dich so zärtlich, meine Sophie, daß ich dir meine Ehre opfere. Wenn dein Mann unseren Hoffnungen nicht entspricht, dann wird die Welt sagen, die Mutter war eine Elende, die Tochter war noch zu jung, um schuldig sein zu können usw., aller Tadel wird auf mich fallen. Aber ich werde nur meine Pflicht erfüllt haben, indem ich mich für meine Tochter opfere. Liebliche Sophie, die Männer sind Tiger. Dieser da ist einer der sanftesten, suche ihn zu zähmen, unser aller Glück hängt davon ab.«

Damit küßte sie ihre Tochter tränenden Auges, löste sie aus ihren Armen los und legte sie in die meinigen. Darauf zog sie sich zurück.

Wir, Sophie und ich, verweilten zuerst in tiefem Stillschweigen. Meine schöne Geliebte hielt die Augen auf den Boden geheftet, das Gesicht von lieblicher Röte übergössen, und schien meiner Worte zu harren.

»Welch eine Mutter!« rief ich endlich aus, »wie muß ich sie bewundern! Oh, teure Sophie! Nun bin ich der alleinige Beschützer deiner Keuschheit … ! Angebetete! Du sollst sehen, was ich dir bin! Ja, meine Seele zittert, dir einen unzweideutigen Beweis meiner achtungsvollen Gefühle für dich geben zu können … Sophie, meine teure Sophie, du bist mein! Welch ein Schatz gehört mir an … ! Komm in die Arme deines Vaters, meine Tochter, denn Vater werde ich dir sein, bis du meine Frau bist. Habe keine Furcht mehr vor meinen Zärtlichkeiten, die nur noch die eines Vaters sein werden. Oh, Sophie, wie teuer, wie heilig bist du mir … ! Nein, ich werde dir keine Küsse mehr rauben, nicht einmal mehr deine Hand zu küssen wagen. Deine Mutter hat das Geheimnis entdeckt, alle meine Wünsche zum Schweigen zu bringen und dabei noch meine Liebe zu dir zu vermehren … Doch wollen wir uns so stellen, mein Engel, als ob wir von ihrer Erlaubnis Gebrauch machen. Mehr will ich dir nicht sagen, um dein Schamgefühl zu schonen … Es ist das einzige Mittel, unsere Heirat zu beschleunigen. Oh, wäre doch dieser heißersehnte Tag erst gekommen … !«

»Teurer Freund,« wandte sich nun Sophie an mich, »du weißt nicht, wie sehr du mich durch deinen Vorsatz beglückst! Ich gestehe dir offen, daß Mamas Vorschlag mich erschreckt hat, aber du hast mich wieder beruhigt. Geliebter, strafe dich nicht selber Lügen! Da wir zusammenleben müssen, können wir uns jede Minute sehen, gib mir nun diesen Beweis deiner aufrichtigen Liebe zu mir, indem du nichts unternimmst, was mich in deinen Augen für den ganzen Rest meines Lebens herabwürdigen würde.«

Ich fühlte mich durch diese Worte Sophies außer mir vor Zärtlichkeit und über mich selbst erhaben. In würdevollem Tone und die Augen gen Himmel erhoben, entgegnete ich ihr:

»Ich schwöre Ihnen, Sophie, stets Ihrer Tugend zu achten, heute Ihrer Keuschheit und mein ganzes Leben lang, selbst wenn sie meine Frau sind, Ihrer Schamhaftigkeit. Das schwöre ich Ihnen als Mann, nicht als Geliebter. Ich bin Ihr Gatte und weihe Ihnen die Gelübde eines solchen.«

Die liebliche Sophie ergriff meine Hand und drückte einen Kuß darauf. Ich fühlte, wie sie sie mit ihren Tränen benetzte. Mein Herz zitterte vor Freude.

»Sophie, Sophie!« rief ich aus, »mein Engel! Laß es genug sein, ich bin nicht mehr Herr meiner Rührung.« Und ich brach in Tränen aus, ich wäre sonst erstickt vor innerer Erregung. Welch ein Wonnegefühl!

Sophie entzog sich meinen Armen und suchte ihre Mutter auf, die heimliche Zeugin unseres Zwiegesprächs gewesen war. Ich habe seitdem erfahren, daß sie folgendes zu ihrer Tochter sagte:

»Ich habe alles gehört und gesehen. Beglückwünsche mich, Sophie, denn ich glaube, ich habe dein Glück begründet, beglückwünsche deine glückliche Mutter, mein liebes Kind. Ich gestehe, daß ich auf das gefaßt war, war ich gehört habe, aber meine Freude ist deshalb nicht weniger groß. Du wirst wahrhaft geliebt, und die heftigen Auftritte haben nur dazu beigetragen, eure Seelen noch inniger zu vereinigen. Du wirst ihm stets teuer sein, dafür wage ich zu bürgen, denn ich schließe es aus dem Beweise von Edelmut, den er dir eben erst gegeben hat. Und das war der Zweck meines außergewöhnlichen Schrittes, der sicherlich von niemandem gebilligt werden würde, wenn er bekannt würde, da man nicht weiß, wie ich ihn allmählich vorbereitet und herbeigeführt habe, und daß ich ihn erst getan habe, als ich meines Erfolges sicher war. 2

Als ich mich allein sah, sank ich in tiefe Träumerei. Ich brannte darauf, Sophie ganz zu besitzen, sie war mir aber andererseits zu teuer, als daß ich ihr leichtherzig die schönste Blume aus dem Kranze ihrer Schönheit geraubt hätte. Ich bestärkte mich daher in meinem Vorsatz und zügelte meine heftigen Gelüste, die bisweilen so stürmisch wurden, daß ich kaum noch auf die Stimme der Vernunft hörte, und daß die Natur selbst mich anzuflehen schien, mit ihnen gemeinschaftliche Sache zu machen. Aber ich überwand alles, weil ich wahrhaft liebte und hatte die Genugtuung, zu bemerken, daß meine Selbstüberwindung meiner Liebe entsproßte. Wir lebten also weiter in intimstem Verkehr, und ich zeigte mich noch liebevoller gegen Sophie, als vorher, worüber ihre Mutter mir oft ihre innige Freude ausdrückte. Eines Tages sagte sie zu mir:

»Aber das alles ist noch nicht genau das, was ich wünschte. Ich möchte Sie gern in der Meinung sehen, Sie seien durch unlösbare Bande gebunden, während das doch heute nicht der Fall ist, um zu wissen, wie Sie sich damit abfänden, und ob Ihre Haltung dann noch die gleiche bleiben würde.«

»Wie könnte ich das anstellen? Das ist doch unmöglich.«

»Vielleicht. Doch ich brauche diesen Versuch noch, um ganz befriedigt zu sein.«

»Nun, ich bin gern dazu bereit, wenn es mir möglich sein wird, mir selbst so etwas einzureden.«

Es war danach keine Rede mehr von dem Versuch. Aber nach ungefähr einem Monat – es war der zweite nach meiner vollständigen Übersiedelung in die Wohnung der Madame Saint-Eusébe, vorher schlief ich dort nicht – schlug sie mir die Eheschließung vor. Ich ging aufs freudigste darauf ein, mit der Begeisterung eines Liebhabers, der seine Zukünftige anbetet und sicher ist, mit ihr glücklich zu sein, Die Vorbereitungen wurden getroffen. Indessen wünschte Madame Saint-Eusébe weder eine Feierlichkeit noch ein Festmahl, und unsere bevorstehende Vermählung sollte für alle Welt geheim bleiben. Sie wurde endlich am 12. April, einem Montag, um vier Uhr morgens vollzogen. Nur drei Diener, darunter der meinige, wohnten der Zeremonie an, sie hatten aber Befehl, kein Wort davon verlauten zu lassen. Nach Hause zurückgekehrt, sagte ich zu Sophie: »Ich weiß nicht, worauf unsere Mutter hinauswill. Glaubt sie, mich eines Tages glauben machen zu können, daß unsere auf diese Art geschlossene Heirat keine unlösliche sei? Das Aufgebot war erlassen, der Geistliche des Kirchspiels hat uns getraut … Auf alle Fälle sind wir jetzt vereint, meine göttliche Sophie, und nichts mehr kann uns trennen, nur der Tod.«

Ich machte ohne Skrupel von meinen Gattenrechten Gebrauch, und meine Sophie setzte mir keinen Widerstand mehr entgegen. Ein Glück wie das unsrige hatte es bis dahin vielleicht noch nie in der Welt gegeben. Ich besaß meine Sophie, betete sie an und wurde von ihr vergöttert. Die Vollendung ihrer Reize kam der ihres Charakters gleich. Sie besaß keinen Fehler, den man erst nach der Heirat hätte entdecken können, und ihre göttlichen Eigenschaften waren ihr so natürlich eigen, wie das Atmen. Ich gab mich ebenfalls ganz, wie ich war. Nur hielt ich meine maßlose Zärtlichkeit selbst noch nach der Heirat etwas im Zaum, denn sonst wäre die reizende Sophie aus meinen Armen nicht mehr herausgekommen.

So verlebten wir zwei neue Jahre. Madame Saint-Eusébe schien mir die glücklichste der Mütter zu sein. Sie sagte es uns, und ihr gesundes Aussehen, ihre heitere Stimmung bestätigten ihre Worte. Plötzlich trat eine große Änderung in ihrem Wesen ein, sie wurde traurig, melancholisch, träumerisch. Wir drangen in sie, uns den Grund anzuvertrauen – vergebens. Ihre Traurigkeit beeinflußte auch uns, und obwohl unser Glück stets das gleiche war, schienen wir doch kälter geworden zu sein. Dieser äußerliche Anschein betrog sie. Da wir uns in unseren Zärtlichkeitsbezeugungen besonders in ihrer Gegenwart Zwang auferlegten, so war sie sicher, darin ein Schwinden unserer Liebe sehen zu müssen. In diesem Gedanken wandte sie ihr letztes Mittel an. Eines Tages ließ sie mich zu sich rufen und sagte zu mir:

»Ich muß Ihnen eine sonderbare Mitteilung machen. Ich werde für eine Witwe gehalten, aber ich bin es nicht. Mein Mann, mit dem ich mit Ausnahme des ersten Jahres unserer Ehe sehr unglücklich war, hat mich verlassen und ist nach Indien gegangen. Ich wußte, daß er sich dort als unverheiratet ausgegeben hatte, um eine reiche Erbin heiraten zu können. Ich habe andere Prinzipien, wie andere Frauen. Die Sucht, das Vermögen meiner Tochter zu vermehren, wird mich nicht veranlassen können, meinen Gemahl anzugreifen und unschuldige Kinder zugrunde zu richten, als deren Mörderin ich mich ansehen würde, wenn ich so handelte.

Ich will, daß das Verbrechen meines Mannes, der vielleicht entschuldbar ist, denn auch ich kann Unrecht getan haben, ich will, sage ich, daß seine Aufführung auf ewig geheim bleibt. Versprechen sie mir auf Ehrenwort, darüber zu schweigen?«

»Ich schwöre es Ihnen, liebe Mutter!«

»Das ist noch nicht alles. Interessenrücksichten, vielleicht auch Gewissensbisse lassen ihn wünschen, Sophie reich zu verheiraten. Er hat mir geschrieben. Ich habe geantwortet, sie sei schon verheiratet. Er erwiderte, er werde die Heirat für ungültig erklären lassen, seit der Ankunft meines Briefes habe er erfahren, daß ich die Vermählung habe vollziehen lassen, ohne die Verwandten zu befragen und ohne einen von ihnen als Zeugen hinzuzuziehen. Ich bitte Sie, helfen sie mir, jeden Skandal zu vermeiden und dem Wunsche meines Mannes entgegenzukommen. Ihre Gefühle für Ihre Frau sind bereits erkaltet, also … ?«

»Und wenn ich dieses ablehne, liebe Mutter, werden sie mich doch gewiß nicht dazu zwingen wollen?«

»Warum sollten sie sich dessen weigern? Sophie hat schon nicht mehr den Reiz der Neuheit für sie …«

»Oh, Mutter! Wie schlecht lesen sie doch in unseren Herzen, besonders in dem meinigen! Lieber den Tod, als mich von meiner Sophie trennen … ! Und seien Sie dessen gewiß, daß sie ebenso denkt … Unsere vermeintliche Erkaltung ist nichts anderes, als Achtung vor Ihrem Kummer. Ich bete Sophie an, wie am ersten Tage, und bin sicher, von ihr zärtlich geliebt zu werden. Ich hänge an ihr und lasse sie keinen Augenblick mehr allein. Man wird sie mir nur zugleich mit meinem Leben nehmen.«

»Lassen sie sich Zeit, einen Entschluß zu fassen. Fragen sie sich, ob Ihnen nicht eine andere besser gefallen würde, Kinder sind noch nicht da, also …«

»Ich brauche dazu keine Zeit. Ich habe Ihnen gesagt, Mutter, was ich mein ganzes Leben lang denken werde.«

Darauf ließ sie ihre Tochter kommen und hielt ihr dieselbe Ansprache, nur erwähnte sie nichts von der Doppelehe ihres Vaters. Sophie warf sich in meine Arme, und es fehlte nicht viel, so wäre sie in Ohnmacht gefallen. Ihre Mutter, die sie heiß liebte, konnte sie kaum beruhigen. Sie sagte, sie würde in allen Punkten unsere Verteidigung übernehmen, da wir uns liebten, aber unsere Ehe sei ungültig, und wir wären vollkommen freie Herren, uns zu trennen, wenn wir es für angebracht hielten. Sie zeigte uns die Briefe ihres Mannes und die Abschriften ihrer Antworten, kurz, sie gab uns alle möglichen Beweise von dem Dasein und dem Willen des Herrn Saint-Eusébe.

Zehn Jahre lang ließ sie uns in dieser Lage. Jedesmal, wenn wir sie fragten, gab sie uns dieselbe Antwort:

»Ihr seid Herren eurer Entschlüsse und könnt euch trennen, mein Mann hat seine Absicht nicht geändert.«

Die Geburt von vier Kindern, die alle am Leben sind, konnte weder ihre Haltung, noch ihre Sprache ändern.

Im letzten Jahre erhielt sie die Nachricht vom Ableben ihres Mannes. Sie rief uns beide zu sich und sagte:

»Liebe Kinder! Eure Ehe ist endlich unlösbar, und sie ist es in einem Augenblick geworden, wo ich das Glück empfinde, über Ihren Charakter, lieber Schwiegersohn, und über den deinigen, liebe Tochter, vollkommen beruhigt sein zu können. Ich habe nichts im Leben heißer geliebt, als meine Sophie, sie war mein alles, ich hätte ihr alles geopfert, um ihr Glück zu begründen. Meine lieben Kinder, mein Mann ist tot, wir wollen Trauer anlegen, denn er ist der Vater Sophies, übrigens habe ich ihn trotz seinem Unrecht gegen mich nie gehaßt. Wie hätte ich den hassen können, der mich zur Mutter meiner Tochter, meiner Freude, meines Stolzes und meiner Glückseligkeit, gemacht hat? Nie hat eine Mutter eine Tochter gehabt, wie sie, so sanft, so zärtlich, so unterwürfig und so meinem Willen ergeben …«

»Ach, liebe Mutter«, unterbrach Sophie sie bei diesen Worten, »ich habe kein großes Verdienst dabei, ich wußte ja, daß du nur mein Glück wolltest, und das hast du erreicht, liebe Mutter.«

»Ich sagte Ihnen ja, lieber Schwiegersohn, daß es keine bessere Tochter auf der Welt gibt, als die meine, auch keine treuere Gattin und keine liebevollere Mutter. Können sie mich Lügen strafen, Saint-Preux?«

Ich antwortete ihr, indem ich meine Frau und meine Kinder, die bei uns waren, an mein Herz drückte.

»Diese Antwort genügt mir, sie ist die beste Sprache! Ich muß euch noch sagen, daß Sophiens Vater in diesem Briefe hier seine zweite Frau und seine Kinder dem Wohlwollen seiner ersten Frau, ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes, deren Ehe er anerkennt, empfiehlt. Um uns seinen guten Willen zu bezeigen, hinterläßt er uns eine beträchtliche Summe, 600000 Franken, die Hälfte seines persönlichen, von dem seiner Frau unabhängigen, Vermögens. Ich habe sie in meinem und eurem Namen angenommen. Jetzt, wo er nicht mehr ist, wünschte ich seine Witwe und die armen Kinder doch etwas zu trösten, indem wir einen freundlichen, von uns drei unterzeichneten Brief an sie richten, worin wir sie unseres guten Willens versichern.«

»Von Herzen gern«, erwiderte ich. Sophie war auch einverstanden, und der Brief ging am gleichen Tage ab.

»Nun ist alles gut, liebe Kinder,« fuhr Madame Saint-Eusébe fort. »Wenn ich nicht mehr sein werde, so gedenkt meiner bisweilen und sagt euch: Wir hatten eine Mutter, die nur durch unsere Glückseligkeit glücklich war, die sie durch neue, aber wirksame Mittel begründete …«

Wir küßten ihr die Hand und zogen uns voller Rührung zurück.

Vor drei Monaten ist sie gestorben, diese gute, ausgezeichnete Frau. In ihren hinterlassenen Papieren fanden wir ein interessantes Schriftstück, worin sie ihre Ideen über die Ehe und den Mann, wie sie ihn für ihre Tochter wünschte, auseinandersetzt.

Folgenden Zusatz hatte sie beigefügt:

»Ich bin glücklich, es ist mir gelungen, ich habe den Mann gefunden, den ich suchte, und ich habe die Mittel angewandt, wie ich sie in obigem Schriftstück geschildert hatte. Alles geht nach Wunsch. Den 18. September 1779.«

Da haben sie, schloß der Erzähler, meine Geschichte, eine wahre Geschichte, denn ich habe sie selbst erlebt. Sie können davon Gebrauch machen unter der Bedingung, daß Sie anstatt der richtigen Namen andere einsetzen. – Die Namen, die er mir angab, sind die, deren ich mich in meiner Erzählung bedient habe.

  1. Man hat Saint-Preux stets etwas verschwiegen, wovon ich durch Madame Saint-Eusébe selbst Kenntnis erhielt, nämlich daß sie fest entschlossen war, niemals zu dulden, was sie selbst fast befohlen hatte. In diesem Falle würde sie aber die Liebenden nach einem wahrscheinlich sehr heftigen Auftritt mit ihr sofort vereinigt haben.

Die Gattin auf Probe oder die hübsche Haushälterin.

102

Einige Tage nach meiner Begegnung mit dem Herrn, der mir den Stoff für den Gatten auf Probe geliefert hatte, hatte ich endlich Gelegenheit, auch meinen anderen Wunsch erfüllt zu sehen. Ein Herr in schwarzem Anzuge – ein Prokurator beim Parlament – hielt einem unserer gemeinschaftlichen Freunde, einem Advokaten, folgende Rede:

»Ich mich verheiraten? Weiß Gott, nein! Wäre denn so etwas möglich? Denken sie doch nur an den schrecklichen Luxus, den die Frauen treiben! … Man spricht stets von den Prokuratoren, man klagt sie an, sie wären – na, Sie wissen ja, aber bei den unsinnigen Ausgaben, die heutzutage ihre Frauen machen, müßten sie eigentlich ihren Kunden den Hals abschneiden.«

»Sie sind reich,« bemerkte der Advokat, »übrigens sehen sie zu schwarz. Der vermeintliche Luxus besteht nur im guten Geschmack, die Ausgaben dafür sind nicht größere, als unsere Urahnen sie machten. Wenn eine einsichtsvolle Frau Ihren Haushalt leitet, so wird sie Ihnen eine behagliche Sorglosigkeit zu bereiten wissen, die der Balsam des Lebens ist. Meine Frau macht mich glücklich und ist doch in ihrer Kleidung ebenso kokett, wie die elegantesten Damen, Halten sie es denn für rein gar nichts, wenn sie nach Hause kommen und eine reizende Frau, wie die meinige, Ihnen entgegeneilt, die Auge und Herz zugleich entzückt? Ah! Herr P**, Sie haben keine Ahnung von der Ehe! Nehmen sie dazu noch meine Tochter! Erst durch unsere Kinder fangen wir an, zu leben, bis ein Mann Vater wird, existiert er nur halb.«

»Mit schönen Bildern werden sie mich nicht überzeugen können,« erwiderte der Prokurator. »Ich kenne alles, was sie da anführen. Aber wenn ich Ihnen ein Bild von der Hölle in der Ehe vor Augen führen wollte, brauchte ich Ihnen nur alle die vielen Tatschen zu erzählen, deren Zeuge ich war. Ich werde mich nicht verheiraten, es sei denn, ich fände eine Frau wie die Ihre, was mir nicht gut möglich erscheint. Ich ziehe vor, meinen Haushalt von einer hübschen, sanften Haushälterin führen zu lassen, die ich bezahle und für die ich mich weiter nicht interessiere. So habe ich einen Teil der Annehmlichkeiten der Ehe, die mir ein nettes Mädchengesicht verschafft, und habe mit ihren Sorgen nichts zu tun. Ich habe Ehen gesehen, die mich geradezu erschreckt haben! Ich für mein Teil würde nicht die Hälfte der Mühseligkeiten aushalten können, deren Zeuge ich war.«

Da G** dem Prokurator nicht durch Vernunftsgründe beikommen konnte, wollte er es auf eine andere Weise versuchen. Am Tage nach dieser Unterredung überbrachte ein junges zwanzigjähriges Mädchen, die Erzieherin der Kinder eines dem Meister G**, befreundeten, verwitweten Prokurators, Herrn P** ein Schriftstück. Er nahm es persönlich entgegen und war von der Anmut des Mädchens betroffen. Es war eine schöne Brünette mit großen Augen, eleganter Taille, weißen, fleischigen Händchen, von appetitlicher Sauberkeit und sehr geschmackvoll gekleidet, so daß sie das Aussehen einer Dame hatte.

P** unterhielt sich mit ihr, erkundigte sich nach ihrer Tätigkeit im Hause seines Kollegen, kurz, befragte sie über alle Einzelheiten ihres Daseins, soweit die Höflichkeit es erlaubte. Als die schöne Louison fort war, behielt er noch lange ihr Bild vor Augen. Er war ärgerlich, daß er dieses Mädchen nicht vor seinem Kollegen kennen gelernt hatte, und hätte gern Lust gehabt, sie ihm abspenstig zu machen, doch schien ihm das nicht anständig zu sein. Er benutzte die erste sich ihm bietende Gelegenheit, um Herrn B** zu besuchen und dort die hübsche Erzieherin zu sehen. (Es ist nötig, hier anzuführen, daß man sein Kommen schon von der Ecke der Straße an bemerkt hatte.) Als er eintrat, fand er seinen Freund im Streit mit Louison.

»Fassen sie Ihren Entschluß, Fräulein,« sagte ersterer, »der meinige ist gefaßt. Aus Rücksicht für Ihre Familie will ich Sie behalten, bis sie eine andere Stelle gefunden haben, aber von heute ab sind Sie nicht mehr in meinem Dienst … Entschuldigen sie, Herr Kollege, aber ich wollte mit dem Fräulein erst zu Ende kommen, sie ist ein Leichtfuß, ich kann nicht einmal von ihr erreichen, daß sie nicht vom frühen Morgen bis späten Abend singt und lacht, meine Tochter erzieht sie ebenfalls zum Leichtfuß, und das paßt mir nicht. Ich will, daß diese ihrer verstorbenen Mutter gleiche und ernst, fleißig, lieber traurig, als heiter sei.«

»Mir scheint, lieber Kollege, daß Sie unrecht haben.«

»Das ist aber nun einmal so nach meinem Geschmack.«

»Dagegen ist nichts einzuwenden, Sie sind Herr in Ihrem Hause …«

Es war keine Rede mehr davon. Man sprach von Geschäften, und Herr P** ging sehr zufrieden wieder von dannen, nachdem er Louison, die er auf der Treppe traf, zugeflüstert hatte: »Fräulein Louise, ich glaube, ich kann Ihnen nützlich sein. Beschließen sie nichts, bevor sie mich besucht haben.«

»In welcher Stunde, mein Herr?«

»Sobald als möglich, noch heute, ich werde zu Hause bleiben.«

Der Prokurator war ein allgemein geachteter, sehr tüchtiger, reicher, aber dabei ehrlicher Mann. In England hätte man ihm ein Monument zwischen den beiden schon vorhandenen, nämlich dem ehlichen Brückengeldempfänger und dem zartfühlenden Kerkermeister errichten können mit der Inschrift: dem biederen Prokurator; dort würde es sich sehr gut gemacht haben und mit Recht wertgeschätzt worden sein. Seine Freunde achteten ihn hoch, unter ihnen auch Meister G**, der Advokat, der auch der intime Freund B**s war, in dessen Hause Louison wohnte. Mehr will ich vorläufig nicht sagen.

Die hübsche Erzieherin verfehlte nicht, im Laufe des Nachmittags beim Prokurator vorzusprechen. Sie fand ihn allein in seinem Arbeitszimmer.

»Ich bin entzückt, Sie zu sehen,« redete er sie an. »Meister B** scheint da mit Ihnen einen Streit vom Zaun gebrochen zu haben, denn hat man je gehört, daß man einer jungen Gouvernante zürnt und sie fortschickt, weil sie die Kinder zu heiter erzieht? Er hat schon seine Frau mit seinen Grillen und Launen ins Grab gebracht, mit seiner Tochter wird er es wahrscheinlich ebenso machen … Doch zu Ihnen, Fräulein Louison. Wenn sie eine Stelle annehmen wollen, die ebenso gut ist, wie Ihre jetzige, so biete ich Ihnen eine solche als Gouvernante in meinem Hause an. Sie werden einen Dienstboten zur Ausführung Ihrer Befehle zur Verfügung haben und selber nur über das ganze Hauswesen wachen, wie eine Hausherrin. Ihren Befehlen wird gehorcht werden, als ob ich selbst sie erteilt hätte, und über die Küche haben sie allein zu bestimmen. Paßt Ihnen mein Vorschlag? Ich will dazu noch bemerken, daß ich darunter keine geheimen Absichten verberge, denn ich bin ein in jeder Beziehung ehrenwerter Mann. Doch will ich gar nicht verhehlen, daß Sie mir ausnehmend gefallen, aber man wäre ja unglücklich, wenn man gezwungen wäre, sich in seinem Hause nur mit Personen zu umgeben, die einem mißfallen. Sie können darauf rechnen, von meiner Seite mit der gleichen Achtung behandelt zu werden, wie ich sie einer Schwester bezeigen würde, die Ihr Amt einnähme. Als solche sollen sie ganz und gar vorbehaltlos in meinen Hause angesehen werden.«

Louison nahm mit Dank an und versicherte dem Prokurator, daß sie sich, wie groß auch immer seine Güte gegen sie sein werde, nie vergessen, sondern stets daran denken werde, daß er ihr Herr sei.

»Da Sie meinen Vorschlag annehmen,« fuhr der Prokurator fort, »will ich Sie sofort in Besitz Ihres Zimmers setzen. Hier sind die Schlüssel dazu, Sie werden allein darüber verfügen und können Ihre Sachen darin gleich unterbringen lassen. Ich bin anders, als mein Kollege, und freue mich, wenn alles um mich herum heiter, zufrieden und glücklich ist, zudem bin ich gerecht, nicht zu anspruchsvoll, nachsichtig und erlaube jedem, seinen Nutzen zu finden, wenn er nur den meinigen im Auge behält. Ich bitte Sie, die Ausgaben der beiden ersten Wochen bestreiten zu wollen, danach sind Sie dann imstande, mir die Summe zu bestimmen, die Sie jede Woche nötig haben werden, Setzen Sie das Höchste an. Ich werde Ihnen jeden Montag das Geld im voraus geben. Sollte Ihnen ein Überschuß bleiben, so geht mich das nichts an, ebensowenig aber auch werde ich, wenn sie in einer Woche durch Ihre Schuld einmal mehr ausgeben, den Fehlbetrag ergänzen. An Ihnen ist es, sich für solche Fälle etwas zurückzulegen. Ich lasse diese Freiheit gern einem jungen Mädchen, um es daran zu gewöhnen, selbständig zu handeln, und um ihm Sparsamkeit beizubringen. Es kommt ihm dabei auch weniger oft der Gedanke an seine dienende Stellung, und es fühlt sich frei, soweit es eben möglich ist, bei fremden Leuten frei zu sein.«

Louison war von ihrem neuen Herrn entzückt, und war äußerst glücklich in ihrer neuen Stellung, nachdem sie alle Sicherheitsmaßregeln gegen etwaige Überraschungen getroffen hatte.

Auch Meister P** war seinerseits nicht weniger zufrieden. Er hatte zwar noch keinen festen Plan, aber er war entschlossen, seine Tage mit diesem Mädchen zusammen zu beschließen, doch dachte er vorläufig nur so ganz im allgemeinen an diese Aussicht. Alles ging gut. Louison hielt mit der ihr überwiesenen Summe gut Haus und gab vor allem so vorzügliches Essen, daß der Prokurator sie oft fragte, ob sie ihn nicht anführe?

»Im Gegenteil,« war stets die Antwort, »mir bleibt noch Geld übrig, und ich werde Ihnen in einiger Zeit zeigen, was ich mir für meine Ersparnisse anschaffen werde.«

Obwohl der Prokurator in den nächsten Wochen mehr Gäste, als gewöhnlich, mit Absicht zu Tische lud, trat keine Änderung in der Reichhaltigkeit und Güte der Mahlzeiten ein. Erstaunt darüber, nahm er Louison eines Tages beiseite und sagte zu ihr:

»Meine beste Louise, ich mißbrauche ein wenig unsere Abmachungen und will Ihnen gern gestehen, daß ich das seit einigen Wochen mit Absicht getan habe, daher die vielen Einladungen. Ich weiß, was das gekostet haben muß, und werde Ihnen daher für die verflossenen Wochen je ein Drittel der festgesetzten Summe zulegen.«

»So?« erwiderte Louison, »nun, das nehme ich nicht an. Bitte kommen sie und sehen, was ich gerade seit sechs Wochen zurückgelegt habe.«

Sie führte ihn auf ihr Zimmer und zeigte ihm ein schönes Kostüm von dunkelblauem Tuch, mit Rosaseide gefüttert, das wenigstens sechs Louis gekostet haben mußte.

»Das ist nicht möglich«, rief der Prokurator bei diesem Anblick aus.

»Doch, doch. Hier ist mein Wirtschaftsbuch, sehen Sie selbst nach.«

»Dann haben sie sich also die Wochen vorher noch mehr anschaffen können?«

»Nun, ich bin nicht unzufrieden.« Und sie zeigte ihm noch andere Kleider, Morgenröcke und einige Schmucksachen.

»Sie sind ja ein wahrer Schatz, Louise, fahren sie so fort, liebes Kind. Aber ich will nicht, daß ich allein von Ihrem Wirtschaftstalent und Ihrer Sparsamkeit profitiere und wünsche, daß Sie die Zulage annehmen, denn unsere Abmachungen hatten zur Voraussetzung, daß ich Ihnen keine größeren Ausgaben verursachte, als in der ersten Woche.«

Gehorsam gab Louison nach.

Der Prokurator konnte von Zeit zu Zeit nicht unterlassen, über das Verdienst und die Anmut Louisons Erwägungen anzustellen. »Wahrhaftig,« dachte er oft bei sich, »wenn Louison eine Partie wäre, so wäre das die Frau, die ich wählen würde. Aber wo eine solche unter denen finden, die mir zur Wahl stehen?«

Nachdem er eine Zeitlang dies nur gedacht hatte, ging er eines Tages so weit, es zu Meister G** zu sagen.

»Sicherlich«, erwiderte der Advokat, »wäre Louison ein sehr wertvoller Besitz!«

»Ich weiß nur noch Ihre Frau, die ihr an guten Eigenschaften und äußeren Reizen gleichkommt,« fuhr der Prokurator fort.

»Es ist schade, daß sie nur ein Dienstbote ist.«

»Ein Dienstbote? In dieser Eigenschaft ist sie aber nicht bei mir, sie wird selber bedient.«

»Das lobe ich mir! Aber sie bezieht doch nichtsdestoweniger Gehalt und war bei B** im Dienst, der sie entlassen hat.«

»Aus einem lächerlichen Grunde!«

»Ich gebe zu, daß er Louison mehr zur Ehre, als zum Nachteil gereicht, aber schließlich war er doch ihr Herr.«

»Sie werden noch behaupten, daß durch unseres Kollegen Gequatsche Louisons Ehre angegriffen wird!«

»Oh! Das sage ich nicht. Ich bin im Gegenteil ein großer Verehrer des Fräuleins und schätze sie ganz speziell sehr hoch, besonders ihre Talente.«

»Und sie verdient es, sie verdient es, lieber Freund! bestätigte eifrigst der Prokurator.

Nachdem das Eis einmal gebrochen war, geizte P** nicht mehr mit seinen Lobreden über die Haushälterin und brachte sich selbst ins Feuer, indem er sie anderen gegenüber pries. Das Ende vom Liede war, daß er sich sterblich in sie verliebte. Da er aber stets über die Ehe geschimpft hatte, so hatte er noch ein Hindernis mehr zu besiegen, als jeder andere, um seine Haushälterin heiraten zu können. Er wagte es daher anfangs auch nicht, sich bei solchen Gedanken aufzuhalten und dachte, er könne mit Louison irgendein anderes Abkommen treffen. Täglich dachte und träumte er darüber, wenn es sich aber darum handelte, dem liebenswürdigen Mädchen ein solches vorzuschlagen, dann verließ ihn der Mut, denn es kam ihm so vor, als ob Louison an seiner verlegenen Miene seine Absicht erkenne und deshalb bei solchen Gelegenheiten einen Ausdruck von Zurückhaltung und Würde annehme, der ihm imponierte. Nachdem er lange mit sich gekämpft hatte, ohne die nötige Tatkraft zur Ausführung seines Entschlusses zu erlangen, beschloß er, ihr zu schreiben. Eines Abends übergab er dem jungen Mädchen einen Brief, als sie gerade auf ihr Zimmer gehen wollte, und sagte zu ihr:

»Lesen sie das, Fräulein Louison, sie werden daraus meine Gefühle für sie erkennen. Was ich in dem Briefe sage, ist wohl nicht ganz einwandfrei, aber ich bitte Sie, mir Ihre Vorstellungen zu machen, und ich werde darauf vielleicht in einer Weise antworten, die Ihr Zartgefühl befriedigen wird.«

Louison wollte den Brief sofort in seiner Gegenwart lesen, er hinderte sie aber daran und schloß sich wieder in seinem Zimmer ein, als ob er befürchtete, sie könne sofort wiedererscheinen, um ihm Vorwürfe zu machen.

Dieser Brief an Louison lautete:

»Ich will Ihnen nicht länger verhehlen, teure Louison, daß ich Sie liebe. Ein Mädchen von Ihrem Werte kann nicht fähig sein, mit diesem Geständnis Mißbrauch zu treiben. Aber, mein teures Mädchen, obwohl ich Sie zärtlich liebe, dürfen sie nicht darauf rechnen, daß ich Sie heirate, das einzige, was ich Ihnen versprechen kann und gewissenhaft halten werde, ist, daß ich niemals eine andere heiraten werde. Ich will noch weiter gehen. Falls meine Liebe zu Ihnen Ihr Herz rühren würde, und Sie sich entschließen könnten, mir anzugehören, so erkläre ich Ihnen, daß ich Sie zur unumschränkten Herrin meines Hauses einsetze. Endlich – verzeihen sie mir, wenn ich das anführe, aber ich glaube, es tun zu müssen – sollte das Dasein kleiner unschuldiger Wesen es erfordern, daß ich meinen Grundsätzen untreu werde, so schwöre ich Ihnen bei meiner Ehre und werde Ihnen alle Garantien dafür geben, die Sie fordern können, daß ich mit Ihnen eine heimliche, aber bindende Ehe eingehen werde, die um so unanfechtbarer sein wird, als ich Herrn und Frau G**, meine und Ihre guten Freunde, ins Vertrauen ziehen werde. Nun kennen sie meine geheimen Wünsche, liebenswertes Fräulein, ganz und gar. Nur möchte ich Sie dringend noch um eins bitten, nämlich unter allen Umständen in meinem Hause zu bleiben, wenn sie meine Vorschläge auch nicht annehmen würden. Wenn Sie es verlangen, werde ich Ihnen in diesem Falle mein Ehrenwort geben und es halten, niemals wieder den Vorschlag zu erneuern, den ich Ihnen in diesem Briefe mache. Ich habe es getan, weil dieser Gedanke mich seit langem quält und ich vor Ihnen kein Geheimnis haben will. Ich sende Ihnen innige Grüße, liebes Fräulein, und versichere Sie meiner größten Hochachtung, wie sie Ihnen gebührt und wie ich Sie Ihnen unter allen Umständen mein ganzes Leben lang bewahren werde.

Ihr Ihnen sehr ergebener und wohlerwogener Diener

P**«

Louison konnte sich eines Lächelns nicht enthalten, als sie diese Zeilen las, die sie nicht sehr erschreckten. Um sich darüber zu ärgern, hätte sie versucht sein müssen, den Vorschlag anzunehmen. Immerhin war sie aber darüber in Verlegenheit, welche Haltung sie in Zukunft ihrem Herrn gegenüber beobachten sollte. Sie stand am anderen Morgen sehr früh auf, um sich bei Herrn und Frau G** Rat zu holen. Aber ihr Herr war noch früher aufgestanden, und sie stieß auf ihn, als sie gerade aus dem Haus heraustreten wollte. Er bat sie um eine Unterredung und sagte zu ihr:

»Wollen sie mich verlassen, Louison, und mich für einen Schritt bestrafen, der doch in nichts Ihre Lage ändern und Ihnen nur mein Herz eröffnen sollte, das ganz Ihnen gehört?«

»Nein, Herr P**, ich verlasse Sie nicht,« war ihre Antwort. »Ich bin der Ehrenhaftigkeit Ihrer Gefühle für mich versichert und habe von einem achtungswerten Manne, der sie sind, nichts zu befürchten. Ich begnüge mich damit, Ihren Vorschlag rund heraus abzulehnen, versichere Ihnen aber, daß ich keine Sekunde daran gedacht habe, Sie zu verlassen. Dazu hänge ich zu sehr an Ihnen.«

»Oh, Louison!« rief Herr P** gerührt, und die Tränen traten ihm in die Augen, »dieser letzte Zug Ihres Charakters hat noch gefehlt, um mich ganz in Ihre Fesseln zu schlagen …! Gehen sie, liebes Fräulein, ich will Sie nicht länger von Ihren Geschäften abhalten. Seien sie versichert: wenn ich meinen Vorschlag jemals wieder erneuern sollte, so wird es mit der Ihnen gebührenden Achtung und Ehrerbietung geschehen, von der ich niemals abweichen werde.«

Louison ging zu ihren Freunden, Herrn und Frau G**, zeigte ihnen den Brief und beeilte sich, als sie dieselben darüber sehr erstaunt sah, ihnen die Unterhaltung mitzuteilen, die sie soeben mit ihrem Herrn geführt hatte. Das beruhigte sie einigermaßen. Madame G** konnte nicht aufhören, die Haltung zu loben, die Louise bei dieser Gelegenheit beobachtet hatte, und zweifelte nicht daran, daß die Geschichte mit einer Heirat enden würde. Man behielt sich vor, dem Prokurator in diesem Falle ein Geheimnis zu offenbaren, dessen Kenntnis seiner Glückseligkeit die Krone aufsetzen würde.

Man lud ihn zum Diner ein, wie immer mit seiner Haushälterin. Man stellte sich unbekannt mit dem Geschehenen, aber man brachte ihn dahin, Louisons Lob zu singen, und verfehlte nicht, darin einzustimmen. Nach dem Essen verschwanden die Damen für einen Augenblick, um sich etwas mehr über das Vorkommnis auszusprechen, denn am Morgen hatte Louise nur kurze Zeit verweilen können, um jede Überraschung zu vermeiden, und sie hatten sich noch viel zu sagen. Im gleichen Augenblick erschien ein Herr, der Meister G** geschäftlich zu sprechen wünschte, infolgedessen dieser sich in sein Arbeitszimmer zurückziehen mußte. Allein geblieben, fragte der Prokurator sich neugierig, was die Damen wohl so lange beschäftigen könnte, und er konnte dem Drange nicht widerstehen, ein wenig zu horchen. Er schlich sich an die Tür zum Nebenzimmer und legte sein Ohr daran, was ihm erlaubte, folgendes zu vernehmen:

»Eines ist sicher: er liebt dich.«

»Auch ich zweifle nicht daran, seine ganze Aufführung bestätigt es, aber seine Abneigung gegen die Ehe hindert uns vorläufig noch, ihm klaren Wein einzuschenken.«

»Nun, ich denke doch, daß diese Abneigung nicht schlecht nachgelassen hat … ! Höre mich an, meine kleine Kusine, ich bin der Ansicht, daß du, um dein Zartgefühl nicht zu verletzen, ihn zu der heimlichen Eheschließung bringen solltest, bei der wir als Zeugen auftreten würden. Deinen Namen wird er erst bei der Unterzeichnung des Ehekontraktes erfahren. Selbstverständlich werden wir nicht mit den Bedingungen anfangen, die er für die heimliche Eheschließung stellt!«

»Ich denke, liebe Kusine, daß es auf alle Fälle besser wäre, ihm noch nicht zu verraten, wer ich bin, er wird dann später um so freudiger darüber überrascht sein.«

»Wie du willst. Hast du ihn übrigens so liebenswert gefunden, wie du dir vorgestellt hast«

»Noch mehr.«

»Um so besser, meine liebe Delétang! Aber du mußt doch gestehen, daß wir da eine sonderbare List anwenden!«

»Da ich Vitry nie verlassen habe, so kennt mich ja niemand hier; sonst allerdings wäre sie nicht durchführbar gewesen.«

»Der reinste Roman.«

»Das ist richtig, meine liebe G**! … Aber P** ist ein so ehrenwerter Mann, daß ich gern alle Unannehmlichkeiten durchmachen will, die mir daraus entstehen. Ich will ihm seine schlechte Meinung von den Frauen nehmen, die er nur für Verschwenderinnen und leichtsinnige Koketten hält, weil er ohne Zweifel bis jetzt leider nur mit solchen zusammengekommen ist. Sei gewiß, daß ich mich, wenn ich seine Frau werden sollte, nicht ändern werde. Es ist mir in meiner Stellung als Beschließerin oder Haushälterin – irgendeinen Titel muß ich doch führen, da er von dem des Dienstboten nichts hören will – schon zu einer angenehmen Gewohnheit geworden, zu sparen.«

In diesem Augenblick kehrte Meister G** zurück, so daß der Prokurator nichts mehr hören konnte. Auch die Damen traten wieder ein, und bald darauf ging man auseinander. Meister P** kehrte mit seiner hübschen Gouvernante nach Hause zurück.

Welche Veränderung in seinen Ideen bewirkte nicht die Entdeckung, die er gemacht hatte! Louise war die Kusine der Madame G**, und er erinnerte sich, daß diese Kusine die Nichte des Herrn B** war, bei dem sie wohnte, und daß dieser selbst Anlaß zu dem falschen Glauben gegeben hatte, in dem er sich betreffs ihrer Persönlichkeit befand. Louise war eines Tages, an dem er zu seinem Kollegen gegangen war, gerade aus der Provinz eingetroffen, sie trug damals einen nicht eben eleganten, aber sauberen Morgenrock, und da sie in diesem Augenblick das Amt der Haushälterin ausübte, so hatte die junge Tochter B**s sie scherzend ihre Bonne genannt. Er hatte das für Ernst genommen und Meister B** dazu gratuliert, auf eine so hübsche Erzieherin seiner Tochter gestoßen zu sein. Man hatte sich zuerst darüber amüsiert, war aber dann wahrscheinlich, da man ihn in diesem Hause sehr gern hatte, auf den Gedanken geraten, ob man der Nichte nicht zu der guten Partie mit ihm verhelfen könnte. So schloß der Prokurator nach einiger Überlegung, und das gab ihm Anlaß zu einem neuen Plan.

»Louise«, dachte er, »wird sicherlich meine Frau werden, da ich sie nun aber einmal in meinem Hause habe, werde ich mit ihr eine gründliche Probe machen, und dann wollen wir weiter sehen … Sie muß übrigens bei ihrer ganzen Familie gut angeschrieben sein, sonst würden sich nicht alle dazu hergegeben haben, mich zu zu meinem Glück zu hintergehen. Eine so schmeichelhafte Hochachtung werde ich nicht Lügen strafen … Ich werde zusehen und meine Handlungen nach den Umständen richten, aber die Probe wird nicht leicht durchzuführen sein … Ich will ihr alles anvertrauen und sie heimlich überwachen. Die liebenswürdigsten jungen Kollegen werde ich einladen, die schönsten Schreiber werde ich anstellen, und wenn ich mit dem Ergebnis zufrieden bin, dann werde ich meine Louison heiraten. Weiß Gott! Da habe ich gestern eine herrliche Entdeckung gemacht!«

Demgemäß ließ er Louison in seinem Hause alle Freiheit, zu schalten und zu walten wie eine Hausfrau. Sie nahm sich sogar selbst das Haushaltungsgeld. Er verlangte, daß sie seiner Tafel vorstehe, daß sie über alles als Herrin verfüge, und daß sie ihn höchstens um Rat frage. Aber er beobachtete sie von nun an mit noch größerem Interesse, als vor seiner Entdeckung. Damals hatte es sich nur um eine Haushälterin gehandelt, die er jeder Zeit entlassen konnte, jetzt handelte es sich darum, darüber klar zu werden, welches Schicksal ihm das junge Mädchen als Gattin und gleichstehende Gefährtin zu bereiten imstande wäre.

Er machte sich an die fadesten Gecken unter seinen Kollegen heran und lud sie in sein Haus, sah zu, wie sie der schönen Louise den Hof machten, und beobachtete, welchen Einfluß dieses Gebaren auf sie ausübte. Er hatte alle Ursache, damit zufrieden zu sein. seine Schreiber, die geckenhaftesten Schlingel dieser Art, würdigte Louise keines Blickes, sie verachtete sie und begriff nicht, wie ihr Herr, ein vernünftiger Mann, sich gerade mit Leuten aller Art, die das am wenigsten waren, umgeben konnte.

Meister P**, soweit mit seinem Versuche zufrieden, stellte noch eine andere Überlegung an: »Sie liebt mich, das wundert mich nicht, da ich gut zu ihr bin und sie in mir den besten aller Ehemänner sieht. Versuchen wir einmal, griesgrämisch, mürrisch und ungerecht gegen sie zu sein.« Und er fing an, ihr um nichts Vorwürfe zu machen, er heuchelte die schauderhafteste Laune und quälte Louise mit unsinnigen Kaprizen. Das junge Mädchen war über diese plötzliche Veränderung verwundert und betrübt, denn sie liebte ihn. Sie setzte auch Madame G** davon in Kenntnis, die ebenfalls darüber erstaunt war und sich dahin äußerte:

»Dahinter muß etwas stecken, hast du ihm vielleicht ahnungslos Grund zur Eifersucht gegeben? Achte auf dich und sei vorsichtiger, denn je.«

Louise befolgte ihren Rat. Sie blieb stets für sich, ging nur aus, wenn sie Besorgungen zu machen hatte, und blieb nur die unerläßliche Zeit außer Haus. Doch anstatt sich beruhigen, trieb ihr Herr es nur desto schlimmer. Sie wußte nicht mehr, was sie davon denken sollte, als der Zufall sie von ihrer Unruhe darüber befreite. Meister G** besuchte eines Tages seinen Freund P**, wohl ein wenig in der Absicht, ihm den Puls zu fühlen und den Grund für seine Unzufriedenheit herauszubekommen. Kaum hatte dieser ihn erblickt, als er sich nicht mehr halten konnte, auf ihn zueilte, ihn umarmte und zu ihm sagte:

»Ich muß dir gestehen, lieber Freund, daß meine Louison ein Engel ist, darum liebe ich sie auch von ganzem Herzen. Denke dir, seit zwei Monaten prüfe ich ihren Charakter auf die grausamste Weise, sie muß wirklich vollkommen sein, um das alles hinzunehmen. Von heute ab will ich damit aufhören. Ich bin entschlossen, mit diesem Mädchen den Rest meiner Tage zu verleben.«

G** teilte dies seiner Frau mit, die natürlicherweise nichts Eiligeres zu tun hatte, als Louison davon in Kenntnis zu Setzen. Der Prokurator hatte seine alte Haltung gegen diese wieder angenommen und war liebevoll und freundlich zu ihr, wie vorher. Doch lag es noch nicht in seiner Absicht, ihr einen Heiratsvorschlag zu machen, er wollte sie erst noch weiter auf die Probe stellen, was er wahrscheinlich unterlassen hätte, wenn er nicht von vornherein davon überzeugt gewesen wäre, daß jeder Versuch in dieser Richtung zu ihrem Ruhme ausschlagen würde.

Er wußte, daß einer seiner Bekannten, ein junger Advokat, sterblich in Louise verliebt war. Er richtete es daher geschickt so ein, daß dieser mit ihr Zusammenkünfte hatte, von denen er heimlich Zeuge war, was ihm sehr leicht war, da das Haus einen hinteren Ausgang hatte, zu dessen Tor nur er einen Schlüssel besaß. Er bat den jungen Mann in Geschäften zu sich, erschien aber selbst erst eine Stunde später. Infolgedessen konnten die jungen Leute sich sprechen. Beim zweiten Besuche bat der Advokat Louison, ihm Gesellschaft zu leisten, und es dauerte nicht lange, bis er zärtlich in sie drang:

»Seit langem schon, mein Fräulein, drängt es mich, Ihnen etwas zu sagen, das uns beide interessiert, gestatten sie mir, mich Ihnen zu erklären.«

»Ich bitte um Entschuldigung, aber ich habe eine Arbeit zu erledigen, die ich nicht aufschieben kann.«

»Ich will kurz sein: Sie sind anbetungswürdig, Fräulein Louison, ich fühle das, wie keiner, und biete Ihnen alles an, worüber ich verfügen kann.«

»Erlauben sie mir, mich zurückziehen zu dürfen.«

»Nein, schöne Louison, Sie müssen mich hören.«

Und er schloß die Türe ab und nahm den Schlüssel an sich.

»Aber was fällt Ihnen ein, mein Herr?«

»Wenn ich nicht die Absicht hätte, Sie mit Achtung zu behandeln, so würde ich mir diese Freiheit nicht genommen haben.«

»So? Und wenn Herr P** dazu kommt?«

»Was liegt mir daran? Ich liebe Sie und ich wollte, er hörte mich in diesem Augenblick und ärgerte sich darüber, daß er mir das Glück verschafft hat, Sie schätzen zu lernen.«

»Wir sind nicht gleicher Ansicht, Herr Advokat. Ich achte und ehre Herrn P** und bin ihm aus Neigung und Dankbarkeit zugetan. Ich muß Sie also ernstlich bitten, den Schlüssel wieder herauszugeben und mich gehen zu lassen.«

»Nur noch ein Wort, ein einziges.«

»Nein, mein Herr, ich will nichts mehr hören.«

»Ich biete Ihnen … meine Hand an.«

»Ich danke Ihnen für die Ehre, die Sie mir damit erweisen, bin aber nicht in der Lage, sie anzunehmen.«

»Wie? Sie wollen lieber Haushälterin bei P** bleiben, als meine Frau werden?«

»Gewiß, Herr Advokat, ich will Ihnen allerdings gestehen, daß ich nur bei Herrn P** Haushälterin sein will, sollte er meiner nicht mehr bedürfen, dann gehe ich wieder zu meinen Verwandten.«

»Sie hassen mich, schöne Louise, und ich bin in Verzweiflung darüber.«

»Nein, aber ich finde es sehr unhöflich von Ihnen, daß Sie mich hier gegen meinen Willen zurückhalten.«

»P** wird einsichtsvoller sein, als sie selbst, und besser Ihre Interessen wahren. Ich werde mich an ihn wenden, um in Ihren Besitz zu gelangen.«

»Ein solcher Schritt wäre vollkommen unnütz, da ich Ihren Antrag ablehne.«

»Aber es ist nicht möglich, daß Sie die Hand eines Advokaten ausschlagen, der, wie Sie wissen dürften, hervorragend tüchtig ist!«

»Doch, mein Herr, ich tue es.«

»Tun sie es aus Edelsinn, um mir in meiner Laufbahn und der Welt gegenüber nicht zu schaden?«

»Nein, wahrlich nicht! Ich würde keineswegs denken, Ihnen damit Abbruch zu tun!«

»Diesen Stolz liebe ich, mein Fräulein, und schätze Sie deshalb nur um so höher, aber ich biete Ihnen doch einen Ihrer würdigeren Stand, als die Stellung ist, die Sie hier bekleiden.«

»Das will ich nicht prüfen, mein Herr. Doch ich bitte Sie ernstlich, mich jetzt nicht weiter von meiner Arbeit abzuhalten.«

»Sie sind wirklich unbändig! Wie glücklich ist Herr P**, den sie anhören, solange er will.«

»Sie sind nicht sehr zartfühlend, Herr Advokat, nicht einmal höflich.«

»Seien sie mir nicht böse, schöne Louise, aber, wenn Sie die Gewalt meiner innigen Gefühle für sie kennten, würden sie mir verzeihen.«

»Gut, ich will Ihnen verzeihen, wenn sie mich herauslassen.«

»Da haben sie den Schlüssel, aber bleiben sie wenigstens mit mir zusammen, bis Herr P** kommt.«

Louise nahm den Schlüssel und verließ das Zimmer, ohne ihn weiter anzuhören. Er wollte ihr folgen, als gerade der Prokurator zurückkam. Der Advokat hielt es nicht für angebracht, bei ihm um Louise anzuhalten, sei es, daß seine Absichten doch nicht so rein waren, oder daß er sich schämte, einen solchen Schritt um einen Dienstboten zu tun. Er hatte übrigens bei anderen Gelegenheiten ebensowenig Glück bei Louison, obwohl er ein sehr hübscher Mann und ebenso reich war, wie P**.

Der erste Schreiber des Prokurators war ebenfalls ein hübscher Mann, hatte sehr reiche Eltern und begründete Aussicht auf eine günstige Laufbahn. Diesen erkor Herr P** sich zu einem weiteren Versuch, die Beständigkeit von Louisons Gefühlen für ihn auf die Probe zu stellen. Auch dieser hübsche Fant war in sie verliebt. Er sprach zuerst in überlegenem Tone mit ihr, wurde aber bald durch ihre Zurückhaltung und ihr stolzes Wesen zur Vernunft gebracht. Er hatte zuerst geglaubt, sie sei die Geliebte seines Herrn, da er aber sah, daß er sich getäuscht hatte, so versuchte er es, die Liebe des jungen Mädchens zu gewinnen.

Junge eingebildete Männer mit hübschen Gesichtern besitzen dazu bekanntlich ein besonderes Talent! Er begann, ihr den Hof zu machen und spielte den Liebenswürdigen, den Schwerenöter, Gleichgültigen, Beleidigten, Hochmütigen, Unverschämten, Anbeter, Spötter und Liebevollen, kurz, wandte alle die Niedlichkeiten an, die Frauen so leicht den Kopf verdrehen. Er ging noch weiter, er rühmte sich einiger Eroberungen, die er gesucht hatte: das ist das nec plus ultra, drei oder vier entehrte Frauen auf dem Konto eines jungen Mannes bilden einen Reiz, dem die ehrsamste Maid nicht widerstehen kann. Und doch war Louise, die einfache Gouvernante, unempfindlich gegen das alles! Um den Leser zu belustigen, will ich hier eines der Gespräche bringen, die sie miteinander führten, es sind zu nette Sachen darin enthalten, als daß ich mir diese kleine Abschweifung nicht erlauben sollte. Louise war so freundlich, ihm zuzuhören, die tiefe Verachtung, die der liebenswürdige Taugenichts ihr einflößte, schützte sie ja vor jeder Gefahr.

»Es tut mir leid, daß Sie meinetwegen so viel Mühe hatten, mein Herr!«

»Oh, ich wollte Ihnen gern alle Arbeit abnehmen, Fräulein, das würde mir das größte Vergnügen bereiten.«

»Ich weiß, wie galant Sie sind.«

»Das ist man den Frauen schuldig, ein Mann, der sich zu benehmen weiß, wird den Wünschen einer Frau zuvorkommen, und« – dabei sah er in den Spiegel – »wenn man hübsch ist, ist man noch mehr dazu verpflichtet.«

»Da haben sie recht.«

»Ich bin hochentzückt daß Sie meiner Ansicht sind, schöne Louise … « (er greift ihr ans Kinn).

»Lassen sie, bitte, diese Unmanierlichkeiten.«

»Wie? Sie sind darüber böse, Fräulein? Na, das steht Ihnen frei!«

»Ganz und gar frei, und ich benutze meine Freiheit.«

»Werde mich darüber zu trösten wissen.«

»Es wird Ihnen wohl auch nichts anderes übrig bleiben.«

»Ich habe mir offenbar etwas Schreckliches zuschulden kommen lassen und bitte Sie höflichst um Entschuldigung! … Mädchen Ihrer Art lassen einen so etwas wirklich teurer bezahlen, als eine Marquise!«

»Ich halte Sie nicht für berechtigt, solche Vergleiche anzustellen.«

»So? meinen sie, Fräulein? Nun, da täuschen sie sich aber gewaltig. Frau Marquise von … sagte mir eines Tages, als ich sie besuchte, sehr niedliche Dinge, worauf ich mit so viel Geist und Welterfahrung antwortete, daß …«

»Gut, gut, ich glaube Ihnen, halten sie ein.«

»Ich will nur noch bemerken, daß die Marquise an Fräulein Louise nicht heranreicht.«

»Nach Ihren Lobsprüchen über sie zu urteilen, wird das wohl richtig sein.«

»Bei Gott, Sie sind naiv, Fräulein Louison.«

»Nein, aber wahr, wofern sie die Wahrheit sagen.«

»Sie sind nicht wenig eingebildet!«

»Tatsache ist, daß ich mich selbst achte, weil ich Ehrgefühl und Sittsamkeit besitze, mein Bester.«

»Ich habe unrecht, mit Ihnen darüber zu streiten. Sie sind wahrhaftig besser, als alle Frauen, die ich kenne. Aber können sie denn nicht dieses erregte Wesen ablegen, das sie sogleich packt, wenn man sich Ihnen nähert? Das ist wirklich lächerlich! … Ja, schöne Louise, ich fühle, daß ich Sie vergöttere, und bei Gott, es steht bei Ihnen, mich zum Glücklichsten aller Sterblichen zu machen. Dazu brauchten sie mir nur ein wenig Entgegenkommen.«

»Sie vergessen sich. Halten sie anderen solche Reden. Wenn ich Sie heute und einige andere Male anhörte, so geschah das nur, um mich über Ihre Fadheit lustig zu machen. Wenn ich Ihren Worten auch nur den geringsten Wert beilegen würde, so können sie versichert sein, daß ich Ihnen nie Gelegenheit gegeben haben würde, sie an mich zu richten.«

Das Herrchen fühlte sich beschämt, faßte sich aber sogleich und zog sich erhobenen Hauptes, sie spöttisch anblickend und ein Liedchen trällernd, zurück.

Herr P**, der das alles sah, war begeistert von der Aufführung seiner Haushälterin. Am liebsten hätte er sie gleich um ihre Hand gebeten. Aber er hielt sich noch zurück, denn er wollte noch sehen, ob sie nicht, wenn er sich ganz seiner Liebe für sie hingäbe, das ausnutzen würde, um ihn unter ihre Herrschaft zu bringen.

Er folgte also ganz den Eingebungen seiner Gefühle für das reizende Mädchen, er übertrieb noch und schien von einer Leidenschaft ergriffen zu sein, die ihm alle Energie raubte. Er warf ihr zärtliche, schmachtende Blicke zu und, wenn sie mit ihm sprach, antwortete er durch Seufzer, kurz Seladon war ein Grobian im Vergleich zu dem verliebten Prokurator. Alles, was Louise vorschlug, war ihm Gesetz, er widersprach niemals mehr. Einige Zeit hindurch bemerkte Louise diese Veränderung nicht, sie hielt ihren Herrn für krank und verdoppelte ihre Aufmerksamkeiten für ihn, ohne ihn aber den Grund dafür merken zu lassen, aus Furcht, ihn zu erschrecken. Endlich aber sah sie, daß die vermeintliche Krankheit nichts weiter, als gesteigerte Liebe für sie war. Wenn sie allein waren, so näherte er sich ihr, ergriff ihre Hand und drückte einen Kuß darauf. Wenn sie dann rasch ihre Hand zurückzog, dann blickte er sie schmachtend an und beschränkte sich darauf, ein Band oder sonst etwas von ihrer Kleidung zu küssen. Louise ärgerte sich über diese neue Manier ihres Herrn, lieber wäre es ihr vielleicht gewesen, wenn er sich kühner gezeigt hätte. Solche Schmachterei ermüdet, und die Verliebten, die auf diese Weise ein Herz zu rühren versuchen, sind Dummköpfe. Meister P** verfolgte nicht diesen Zweck und spielte nur den Schmachtlappen, um ganz unterwürfig zu erscheinen, und deshalb schoß er über das Ziel hinaus. Weit entfernt, mit dieser Weichherzigkeit ihres Herrn, die sie für echt hielt, Mißbrauch zu treiben, gab sich Louise im Gegenteil alle Mühe, ihn daraus aufzurütteln, und je mehr er sich erniedrigte, desto mehr zeigte sie sich unterwürfig, dabei aber voller Würde.

»Meiner Treu! Sie ist die Vollkommenheit selbst« war die Schlußfolgerung des Prokurators nach diesem neuen Versuche, und er entschloß sich nunmehr, ihr die heimliche Eheschließung vorzuschlagen.

Demgemäß nahm er allmählich wieder seine alte Haltung an und bereitete ihr dadurch viele Freude. Er zeigte sich sogar etwas herrisch, beinahe hart. Eines Abends schien Louison recht ermüdet zu sein und setzte sich in einen Sessel, als sie mit ihm zu sprechen hatte. Hundertmal hatte er ihr früher einen Stuhl angeboten. Diesmal sagte er zu ihr:

»Ich muß Ihnen bemerken, Fräulein, daß man sich in Gegenwart des Herrn solche Freiheiten nur erlauben darf, wenn er es befiehlt!«

»Welch‘ sonderbarer Mann«, sagte Louison sich, als sie wieder draußen war, »und wie ungleicher Laune! Doch habe ich bis jetzt noch nichts an ihm bemerkt, was man nicht aushalten könnte.«

Sie dachte noch darüber nach, als P** ihr läutete.

»Setzen sie sich, Fräulein,« sagte er zu ihr freundlich, »ich habe mit Ihnen Wichtiges zu besprechen. Schließen sie die Tür, damit wir nicht gestört werden. Ich liebe Sie, Louise, das wissen sie. In den drei Jahren, die wir miteinander zusammenleben, habe ich Ihren Charakter studiert, und das Ende davon ist, daß ich mich entschlossen habe, mein ganzes Leben mit Ihnen zusammen zu bleiben. Von den Bedingungen meines Briefes an sie ist keine Rede mehr: Ihr hoher Wert hat meine Ansichten geändert. Ich will daher, daß Sie meine Frau werden, aber nicht vor den Augen der Welt. Wir werden Herrn und Frau G**, den Advokaten F** (den, der in Louise verliebt war), und meinen ersten Schreiber als Zeugen zuziehen. Passen Ihnen diese?«

»Ich habe gegen die Zeugen nichts einzuwenden, Herr P**, der Vorbehalt, den ich mache, betrifft nur meine Person: überlegen sie sich noch einmal, was sie beschlossen haben!«

»Wenn sie nicht ablehnen, so kann mich nichts davon abbringen oder nur die Ausführung verzögern.«

»Dann erlauben sie mir, mich mit Frau G** zu beraten, die über mein Schicksal entscheiden soll, und auch mit einem Oheim, der hier lebt, darüber zu sprechen.«

»Sie antworten mit der Vorsicht, die Ihnen eigen ist, meine teure Louise. Alles, was sie äußern und tun, ist durch Sittsamkeit und gesunde Vernunft diktier … Ich werde Ihnen bestimmte Vorteile gewähren, doch darüber werde ich mit Ihrem Onkel und Herrn G** sprechen. Was meine zukünftige Haltung Ihnen gegenüber betrifft, so wird sie eine solche sein, wie Sie sie an mir kennen gelernt haben, mit Ausnahme der kleinen Ungleichmäßigkeiten, die nicht wieder vorkommen werden … Gehen sie zu Ihrer Freundin und fragen Sie sie um Rat.«

Louise stand auf, verbeugte sich und wollte gehen.

»Sie haben es sehr eilig! Und doch habe ich Ihnen noch tausend Dinge zu sagen. Denn ich möchte doch wissen, was ich Ihnen eigentlich in Ihrem Geiste und besonders in Ihrem Herzen bin?«

»Sie besitzen, Herr P**, meine ganze Hochachtung, ich wüßte niemanden, den ich höher achtete. Im übrigen halte ich Sie für einen sehr liebenswürdigen Mann. Erlassen sie mir, mehr zu sagen. Ich werde mich darüber freimütiger einer Frau gegenüber auslassen können.«

»So gehen sie denn, Fräulein. Mein Entschluß steht fest, ich habe ihn reif werden lassen, und nichts kann ihn umstoßen. Ich folge dabei weniger einem leidenschaftlichen Gefühle, als der Vernunft, und doch liebe ich Sie zärtlich … Mein Fräulein, ich halte Sie nicht mehr zurück.«

Louise beeilte sich, Madame G** diese gute Botschaft mitzuteilen, und beide Sprachen darüber mit Meister B**, Louisons Oheim.

»Was, zum Teufel, meine Nichte und eine heimliche Ehe!« antwortete er.

»Was liegt daran?« meinte Frau G** lachend, »da wir doch Zeugen sind! Es handelt sich um ihr Glück. Auch Herr P** glaubt, auf diesem Wege sein Glück zu begründen, hindern wir ihn also nicht daran. Übrigens weiß er gar nicht, wer seine Haushälterin ist.«

Herr B** ließ sich überreden, und es wurde beschlossen, daß Louise bis zu ihrer Hochzeit bei Madame G** wohnen solle.

Nach zehn Tagen fand die Zeremonie statt. Herr P** hatte die Sache beschleunigt, denn er konnte es in seinem Hause nicht mehr aushalten, seitdem die liebenswürdige Louise nicht mehr da war. Als der Tag gekommen war, gab der zukünftige Ehemann allen seinen Freunden und Bekannten ein großes Diner, ohne ihnen aber die Veranlassung dazu mitzuteilen. Auf der Einladungskarte waren die Gäste gebeten worden, Spätestens um 11 Uhr zu erscheinen aus Gründen, die er ihnen mitteilen werde. Als die Gäste sich einstellten, wurden sie von einem mit diesem Auftrage betrauten Manne in die Kirche gewiesen, wo Meister P** seine Ehe einging. Man beeilte sich, dorthin zu gehen. Nie war eine Überraschung vollkommner, als die des Meisters B**, des Herrn und der Frau G**, die auf eine so feierliche Zeremonie nicht gefaßt waren. Freudige Überraschung malte sich auf allen Gesichtern. Keiner von den Gästen erkannte Louise, die ihr Zukünftiger auf das herrliche geschmückt hatte, aber alle fanden sie göttlich. Im Haufe der Neuvermählten beeilte sich ein jeder, die jungen Eheleute zu beglückwünschen. Madame G**, die in das Geheimnis eingeweiht zu sein schien, wurde mit Fragen nach der Persönlichkeit der Gattin bestürmt.

»Sie ist eine Nichte von Meister B**,« antwortete der Prokurator statt ihrer. »Diese Heirat ist für mich so ehrenvoll, daß ich am liebsten die ganze Welt davon in Kenntnis gesetzt hätte.«

Man beglückwünschte den Onkel. Meister G** und seine Frau waren sprachlos. Schließlich dachten sie, daß Louise alles verraten habe, und machten ihr Vorwürfe. Diese versicherte aber, daß sie sich nicht zu erkennen gegeben habe, was ihr Erstaunen noch vermehrte. Inzwischen hatte man in B**s Nichte die ehemalige Haushälterin erkannt, und nun erfaßte alle eine Verblüffung, die sich nicht beschreiben läßt. Meister B**, der Onkel der Neuvermählten, versprach zum Nachtisch alles aufzuklären, vorher werde er aber kein Wort sagen. Man ging also zu Tisch und speiste mit noch mehr Spannung als Appetit, obwohl letzterer auch nicht schlecht war. Beim Nachtisch nahm B** endlich das Wort:

»Meine Herren und Damen! Die junge Ehefrau ist tatsächlich meine Nichte, Tochter des Herrn Delétang und meiner Schwester. Sie alle kennen das hohe Verdienst ihres Gatten, meines Kollegen P**, sowie dessen Abneigung gegen die Ehe. Als meine Nichte zur Waise geworden und unter meine Vormundschaft gestellt worden war, machten wir, Herr und Frau G**, sowie ich, ein Komplott gegen P**s Freiheit. Die Ausführung unseres Anschlages erleichterte sehr, daß meine Nichte hier niemandem bekannt war, da ihre Mutter nach dem Tode ihres Gatten Vitry nie verließ und in strengster Abgeschlossenheit lebte. Beim Eintreffen Louisons in Paris begünstigte der Zufall unsere Pläne: Herr P** ging an unserem Hause vorüber und Madame G** bemerkte zu mir, auf ihn deutend: »Ich glaube, meine Kusine ist hübsch genug, um diesen Herrn da auf andere Ideen zu bringen.«

Zugleich rief sie Louise herbei und fragte sie:

»Wie findest du den Herrn da?«

»Nicht übel, scheint mir,« war die Antwort.

»Würdest du nichts dagegen haben, wenn wir dich mit ihm zu verheiraten suchen würden?«

»Ich sehe nicht ein, warum Ihr Euch deshalb bemühen wollt, ich habe gar keine Lust, mich zu verheiraten.«

»Aber ich will dir zu einer guten Partie verhelfen. P** ist ein Freund meines Mannes. Aber er schimpft beständig auf die Ehe, und das könnte schließlich auch mir zum Nachteil gereichen. Deshalb will ich ihn bessern, und dazu bist du die Rechte mit deiner guten Erziehung und besonders deinem ausgezeichneten Charakter. Eine andere Frau würde ihn in seinen Ansichten nur bestärken, anstatt ihn von seiner Abneigung zu heilen. Wir werden also sehen, euch Bekanntschaft machen zu lassen.«

Am gleichen Tage pflog G** mit P** eine Unterhaltung über die Ehe und fand ihn dazu weniger geneigt denn je. Wir wollten sehen, welche Wirkung der alleinige Anblick Louisons auf diesen gegen die Liebe so aufsässigen ausüben würde, und man sandte meine Nichte zu ihm mit einem Schriftstück, dessen er bedurfte. Sie war noch in dem einfachen Kostüm, das sie in Vitry trug, und P** hielt sie für die Erzieherin meiner Kinder, aber sie war reizend. Gleich am anderen Morgen kam er selbst, mir ein Schriftstück zu überbringen, das er auch durch einen Schreiber hätte schicken können. Da wir ungefähr wußten, welchen Eindruck meine Nichte auf ihn gemacht hatte und wofür er sie hielt, so machte es Madame G** Spaß, ihn in seinem Irrtum zu belassen. Sie hatte ihn kommen sehen, eilte schnell zu mir herunter und veranlaßte mich, mit Louise einen Streit anzufangen und ihr zu drohen, sie zu entlassen. Ich nahm dazu einen an sich lächerlichen und ungerechten Vorwand. Ich machte meine Sache gut, ohne damals noch die Absichten der Frau G** zu ahnen. Sie wissen, verehrte Freunde, wie schlau und energisch Frauen sein können. Madame G** hatte sich in den Kopf gesetzt, meine Nichte müsse Frau P** werden und sich zu diesem Zweck einen sonderbaren Plan ausgeheckt. Daß P** sich mit einer Haushälterin behelfen wollte, wußte sie, da er es selbst ihrem Manne gesagt hatte. Sie wußte ferner, wie er über Louison dachte, und endlich war sie von den seltenen Vorzügen und der unantastbaren Tugend ihrer Kusine überzeugt. Sie beschloß daher, Fräulein Delétang müsse bei P** Haushälterin werden, als einziges Mittel, sie später zu seiner Frau zu machen. Das schwierige an der Sache war nicht, sie bei unserem Freunde zu placieren, sondern Louise diesem Plane geneigt zu machen. Stundenlang mußte Madame G** ihr predigen, selbst Tränen ließ sie fließen, indem sie ihr vorstellte, Herr P** verderbe durch sein ewiges schimpfen auf die Ehe auch ihren Mann – sie glaubte natürlich kein Wort davon –, und sie sei sicher, ein Mädchen wie sie sei in jeder Beziehung die einzige Frau, die ihn umstimmen könnte … kurz, sie rührte sie mehr, als sie sie überzeugte, und Louise, die Sanftmut selbst, tat aus Gefälligkeit gegen ihre Kusine einen Schritt, der ihr sehr schwer wurde. Ich suchte Streit mit meiner Nichte, erklärte ihr, sie müsse sich eine andere Stelle suchen, und sagte ihr, daß sie sofort aus meinem Dienste entlassen sei. Meister P** verfehlte nicht, ihr sein Haus anzubieten. Madame G** triumphierte und war von da ab ihrer Sache sicher, was ja auch das Resultat heute bestätigt. Ich meine, liebe Freunde: wenn P** nicht meine Nichte als ein so vollkommenes Wesen befunden hätte, wie er es von einer Frau wünschte, so würde er sie nicht geheiratet haben, zumal da er sich im Irrtum über ihre soziale Lage befand. Jetzt hat er das Wort, um uns zu erklären, woher er wußte, daß seine Gattin meine Nichte ist.«

»Ich hatte meinen Entschluß gefaßt, bevor ich es wußte, das ist alles, was ich sagen kann,« erwiderte P**. »Ich habe Louise, die ich unter mir stehend glaubte, allen möglichen Proben unterworfen. Sie ist daraus zu ihrem Ruhme und in einem Glänze hervorgegangen, daß sie meiner beständigen Liebe versichert sein kann. Ich gestehe offen, daß ich mich nie verheiratet haben würde, wenn mir nicht Madame G** die einzige Gelegenheit dazu verschafft hätte, die es mir erlaubte, meine Frau auf Probe zu nehmen. Aber ich bin heute so glücklich darüber, daß ich vor dieser ehrenwerten Versammlung hier feierlich die Erklärung abgebe, daß der beste, zuverlässigste und liebevollste Freund, den ein Mann haben kann, seine Frau ist.«

Die gute Stiefmutter.

134

Ein Mädchen, das einen Witwer mit Kindern heiratet, hat nur ein Mittel, glücklich zu werden, das ist, sich die Liebe derer zu erwerben, die in ihr anfangs nur die Stiefmutter erblickten. Ich will hier das Muster einer solchen schildern. Wie oft hat die Heldin dieser Novelle nicht mein Herz vor Bewunderung, Rührung und Freude höher schlagen lassen!

Ein hübsches Mädchen, das an der Place Cambrai wohnte, war von einem sehr reichen Mann, der vier Kinder hatte, zur Frau verlangt worden, nachdem ihre jüngere Schwester ihn der Kinder wegen abgewiesen hatte. Die jüngere Schwester war die koketteste von beiden und hatte ihn nur aus diesem Grunde abgewiesen, denn der Mann war noch liebenswert. Die ältere, ein bescheidenes und gesetztes Mädchen, dachte anders über diesen Punkt: da sie einen unerschöpflichen Schatz von Güte im Herzen barg, menschlich und gerecht war, so sah sie in den Kindern ihres Gatten nur eine lustige Gesellschaft, deren Freundschaft leicht zu gewinnen war. Sie nahm sich daher vor, sie zu lieben wie Geschwister und sie niemals etwas anderes fühlen zu lassen, als die sanfte Autorität einer älteren Schwester über die jüngeren. Ihre Schwester hatte versucht, sie von der Heirat abzubringen.

»Du wirst schon erfahren,« meinte sie, »was es heißt, Stiefmutter zu sein!«

»Gewiß, du hast nicht unrecht, liebe Schwester, hatte sie ihr erwidert, »die Rolle einer Stiefmutter ist für eine bösartige Frau die gehässigste aller Rollen, aber sei versichert: wenn zwischen der Stiefmutter und den Kindern aus erster Ehe Mißhelligkeiten entstehen, so ist immer diejenige daran schuld, die die Herrschaft in Händen hat. Ich für mein Teil bin vielmehr davon entzückt, daß Herr de la Grange Kinder hat, besonders, wenn mir bestimmt sein sollte, ihm keine zu schenken. Ich werde so zu handeln wissen, daß ich von ihnen bald wie ihre eigne Mutter und vielleicht noch mehr werde geliebt werden.«

»Schöne Vorsätze, die in der Ausführung scheitern werden!«

Hortense ließ die jüngere Lucia sprechen und nahm nichtsdestoweniger die Hand des Herrn de la Grange an, der sich bald, nachdem er Gelegenheit gehabt hatte, sie näher kennen zu lernen, aufrichtig dazu beglückwünschte, von der jüngeren, die ihm gefallen hatte, abgewiesen worden zu sein.

Nach der Hochzeit schickte der Gatte die Kinder zuerst in eine Pension, um seiner jungen Frau nicht gleich zu große Lasten aufzuerlegen.

Hortense legte durchaus keinen Übereifer an den Tag, die Kinder zu sehen, und wartete geduldig, bis ihr Mann zuerst von ihnen sprach. Als davon eines Tages die Rede war, daß er sie besuchen wolle, bat sie darum, ihn begleiten zu dürfen. Da die Kinder noch sehr jung waren, waren sie alle in derselben Pension untergebracht worden. Das älteste war ein Mädchen von sechs Jahren und hieß Viktoria. Als Hortense die armen, fremder Pflege überlassenen Kinder sah, konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten.

»Ach,« äußerte Sie zu ihrem Manne, »wie müssen die Ärmsten doch leiden: die Mutter haben sie verloren und ihren Vater, das einzige Gut, das ihnen noch bleibt, müssen sie entbehren! Überlassen Sie sie mir. Ich werde alles daran setzen, um die Mutter zu vertreten, die sie nicht mehr haben, und stehe dafür ein, daß wir in wenigen Tagen die besten Freunde sein werden.«

Ihr Mann wurde von ihren Worten, besonders aber von ihren Tränen gerührt, bat sie aber, sich noch einige Zeit zu gedulden, bis sie sich in ihre neue Lage hineingefunden hätte.

»Nein«, erwiderte sie, »ich kann nicht warten. Die Kinder sind hier nicht so gut aufgehoben, wie unter meiner Obhut. Gewähren sie mir nur eine Bitte und machen sie mich dadurch glücklich.«

»Und welche?«

»Die Kinder heute zum Abendessen einzuladen.«

»Von Herzen gern, meine Liebe, damit erweisen Sie mir selbst und meinen Kindern einen großen Gefallen.«

Man nahm also die kleinen Mädchen und ihren Bruder mit nach Hause. In der Pension hatte Hortense die Kleinen nicht liebkosen wollen, aus Furcht, man könnte glauben, sie wolle sich für besser ausgeben, als sie in Wirklichkeit wäre, aber zu Hause angelangt, gab sie ihnen, besonders Viktoria, die die vernünftigste war, tausend Beweise ihrer Anhänglichkeit. Im besonderen gab sie Viktoria die zärtlichsten Worte, sie versicherte ihr, sie wolle ihre Freundin und Vertraute sein, und und wenn sie mal, wie alle Kinder es tun, etwas Unrechtes begehe, so werde sie nicht hart zu ihr sein, sondern sie nur sanft zurechtweisen. Ihre Worte begleitete sie mit tausend Liebkosungen und dann sagte sie den Kindern, sie wolle sie gleich für immer dabehalten und sich nicht mehr von ihnen trennen.

»Ich will euch Kindern, meine liebe Viktoria, die Sorgfalt zuwenden, die Kinderpflege erfordert, um euch eure Mama so viel als möglich zu ersetzen, wenn ihr groß sein werdet, werdet ihr euch daran erinnern und mich dann lieben, nicht wahr, mein liebes Töchterchen?«

»Ja, gute Mama, denn sie sind meine Mama, Papa hat es mir gesagt. Sie werden schon sehen, daß auch ich Sie lieb haben werde.«

Hortense ließ darauf die Zimmer und Betten für die Kleinen herrichten und erwartete dann beruhigt die Ereignisse des Abends. Man soupierte, und Hortense sorgte in so zärtlicher Weise für die Kinder, daß ihrem Manne die Tränen in die Augen traten. Er küßte seine Frau und sagte zu ihr:

»Ich habe für mich und meine Kinder einen Schatz gefunden!«

»Ich behalte sie,« antwortete Hortense, »und nie werde ich mich von ihnen trennen. Ich will mir ein Anrecht auf ihre Liebe, auf ihre Dankbarkeit schaffen, und das kann ich nur, indem ich für sie alles tue, was ihre Mutter getan hätte. Gewähren sie mir diese Freude. Da sitzen meine kleinen Freunde, mir die liebste Gesellschaft, der ich keine andere vorziehen möchte. Als ich Sie heiratete, lieber Freund, hatte ich mir bereits meinen Weg vorgezeichnet, nur auf diesem werde ich zum Glück gelangen. Meine Schwester, die keinen Hang für das Leben in sich fühlte, das ich mir bereiten will, ist sich selbst gerecht geworden, indem sie sich Ihrer nicht für würdig hielt, aber ich, ich hoffe, Sie in Ihren Kindern glücklich zu machen und Ihnen jeden Augenblick meine Liebe zu bezeugen, indem ich ihnen Beweise meiner Liebe für sie gebe. Halten sie mich dabei nicht für eigennützig! Ich arbeite zugleich für mich, indem ich für sie und die Kinder arbeite. Dürfen sie gleich von heute abend ab hier bleiben?«

»Sie sollen unbeschränkte Herrin über alles sein. Sie offenbaren mir eine so schöne Seele, daß ich Sie nur bewundern und lieben kann … Meine armen Kinder, ihr habt eine gute Mutter verloren, habt mich daher desto lieber, weil ich sie euch in dieser liebevollen Frau wiedergegeben habe. Kommt her und umarmt sie.« Victoria flog Hortense an den Hals, und Hortense nahm sie alle in ihre Arme, alle die kleinen de la Grange, um ihre Liebkosungen zu empfangen.

Die Kinder blieben also im Hause, und Hortense fand ihre größte Freude daran, sich mit ihnen zu beschäftigen. Besonders Viktoria ließ sie eine beispiellose Pflege und Sorgfalt angedeihen und machte sie in wenigen Jahren so vernünftig, daß sie sich ihrer als Freundin und Helferin bedienen konnte. Sie verschaffte ihr Achtung bei den jüngeren Geschwistern und ließ sie stets die kleinen Bestrafungen festsetzen, wenn diese Fehler begangen hatten, ja oft mußte die Stiefmutter sie um Gnade für die kleinen Missetäter bitten. Andrerseits achtete sie aber darauf, daß Viktoria nicht herrisch und hart wurde. Sie brachte ihr feste Ansichten über die Gründe zu einer Bestrafung bei und zeigte ihr diese im Spiegel des Buches der Weisheit, Dieses alte Buch, das mit den schlecht verstandenen Lehren J. J. Rousseaus im Widerspruch steht, schien ihr den Vorzug zu verdienen. Die Kinder nehmen die Bestrafungen von Viktoria widerstandslos hin, denn diese war von demselben Blut, wie sie. Wenn Viktoria bisweilen von selber Gnade walten lassen wollte, so war sie Herrin darüber, und wenn sie es tat, dann küßte die Stiefmutter sie stets voller Freude. So war die kluge Hortense die Sanftmütigkeit und Nachsicht selbst gegen die Kinder aus erster Ehe, ohne daß ihre Nachsicht sie schädigte. Natürlich ging sie so nur in der ersten Kindheit der Kleinen vor. Als die Kinder größer waren, ließ sie nur Vernunft und Milde walten, Strenge wurde ganz verbannt.

Es würde schwer sein, zu schildern, welch glückliches Leben Hortense führte. Von ihrem Manne angebetet und von den Kindern geliebt, war sie der Gegenstand aller Teilnahme, man setzte alle Hoffnung nur auf sie, man hatte Vertrauen nur zu ihr, an sie wurden alle kleinen Klagen gerichtet, sie schlichtete alle Zwistigkeiten, wenn sie mal kurze Zeit abwesend war, so strahlten aller Gesichter vor Freude, wenn sie wieder heimkehrte. Dann hörte sie gütig alle kleinen Beschwerden an und wußte jedem gerecht zu werden, ohne Unzufriedene zu machen: der Beleidigte erhielt Liebkosungen, dem Schuldigen wurde verziehen, und Hortense versprach statt seiner, daß er es nicht wieder tun werde, worauf er an die Reihe kam, gestreichelt zu werden. Dann nahm sie beide in ihre Arme und ließ sie nicht eher fort, als bis sie wieder gute Freunde waren. Herr de la Grange war bisweilen, wenn er heimlich dieses Vorgehen seiner Frau beobachtete, so außer sich vor Freude, daß er äußerte, die Kinder hätten bei ihrem Unglück noch gewonnen.

Unter diesen Verhältnissen schenkte Hortense ihrem Manne ein Kind, ein Mädchen. Sie ließ es durch den jungen de la Grange und Viktoria über die Taufe halten. Als sie von der Zeremonie zurück waren, sagte sie zu dieser:

»Meine liebe kleine Freundin, nun bist du auch die Mama meiner Tochter. Unsere Anrechte auf das Kind sollen die gleichen sein, und ich verspreche dir, daß du gleich mir seine Herrin sein sollst.«

»Du bist zu gut, liebste Mama.«

»Mein liebes Kind, in drei oder vier Jahren wirst auch du verheiratet sein und Kinder haben, und da will ich, daß du an dem meinigen lernst, wie man sie aufzieht, deine Lehrzeit wird ihm keinen Schaden bringen, denn ich werde dir helfen, gleich von der Wiege an Körper und Seele des Kindes zu pflegen. Sei gewiß, daß ich später unserer Tochter erzählen werde, was sie alles ihrer zweiten Mama verdankt, wie sie sie über die Taufe gehalten und wie sie sie aufgezogen hat. Wie wird es mich freuen, wenn ich eines Tages sehen werde, wie sehr sie dich liebt, meine teure Viktoria! Wir werden die Rollen tauschen, bei der Erziehung deiner Geschwister hast du natürlicherweise viele Entbehrungen erfahren, wofür dich die kleine Hortense Viktoria durch ihre Liebkosungen entschädigen wird. Bist du damit zufrieden, meine kleine Freundin?«

»Oh! Wie du meine Gedanken erraten hast, liebe, liebe Mama! sei beruhigt, du sollst sehen, wie ich die Kleine lieben werde!«

Liebkosungen beendeten diese Herzensergüsse. Die gute Viktoria war, obwohl sie schon elf Jahre alt war, entzückt, daß ihr noch ein Stiefschwesterchen geboren worden war.

Als Hortense wieder hergestellt war, sah man, daß sie ihr eignes Kind nicht mehr liebte, als die Kinder ihres Mannes. Als die kleine Hortense Viktoria anfing, Verstand zu bekommen, brachte sie sie unter die völlige Herrschaft Viktorias und wachte nur darüber, daß die junge Patin mit ihr nicht zu nachsichtig war. Man glaubt nicht, welch günstigen Eindruck diese Handlungsweise auf die Kinder aus erster Ehe ausübte und wie teuer die Stiefmutter ihnen dadurch wurde! Herr de la Grange zeigte sich darüber eines Tages seiner Gemahlin gegenüber sehr erstaunt.

»Ich liebe meine Tochter zärtlich,« war ihre Antwort, »wenn ich Sie als Junggesellen geheiratet hätte, so würde meine Haltung vielleicht ein wenig anders sein, denn ich habe einen ganz ausgesprochenen Hang, Kinder zu verziehen. Aber, mein Herr Gemahl, als ich Ihre Hand annahm, war ich mir voll und ganz meiner Pflichten bewußt, und ich trachte nur danach, sie zu erfüllen. So versage ich mir denn einen Teil des Mutterglückes, um andere wichtigere Freuden zu genießen, nämlich vor allem die, Sie durch die friedliche Eintracht glücklich zu machen, die in Ihrem Hause herrscht. Alles, was ich bisher dazu aufbot, war nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen wird, denn Ihre Kinder werden groß, und da müssen auch die großen Mittel angewandt werden, und ich hoffe, auch in Zukunft nichts außer acht zu lassen. Ich habe eine doppelte Aufgabe übernommen, die der Stiefmutter und der Mutter, die ich beide in Einklang bringen muß. Meine ganze Klugheit muß ich darauf verwenden, sie richtig durchzuführen. Ich betrachte daher Ihre Kinder als die meinen, und mein Herz fühlt sich geschmeichelt, dafür von ihnen geliebt zu werden, ihre Liebe belohnt mich für alle meine vermeintlichen Mühen, die mir nur Freude bereiten … Ah! mein Gemahl, welch ein Ungeheuer wäre ich, wenn ich es durch meine Aufführung dahin gebracht hätte, daß Sie sich gegen ihre Kinder wenden und das die Ärmsten ihrer Mutter bittere Tränen nachweinten und über ihre zweite Ehe unglücklich wären! Solches Bild drängte sich mir wohl auf, als sie mich zur Frau verlangten, und erfüllte mich mit Schaudern! Und erst als ich sicher war, daß so etwas durch mich nicht geschehen könne, erst da willigte ich ein. Ja, eines Tages werden Ihre Kinder mein Andenken segnen und auch das Ihre, dann werden sie auf meinem Grabe die Tränen vergießen, die nur ihre zarte Jugend sie verhindert hat, ihrer guten Mutter zu weihen, Ihrer ersten, würdigen Gemahlin …«

Herr de la Grange unterbrach die Rede seiner Frau, indem er sie an sein Herz drückte.

»Zu Ihren Füßen müßte ich liegen, meine teure Hortense«! rief er aus, »Sie sind ein göttliches Wesen! Ah! eines Tages werde ich selbst Ihre Worte meinen Kindern wiederholen, die Sie dafür anbeten werden.«

»Lieber Gatte,« fuhr Hortense fort, »ich möchte Sie noch um eines bitten: seien sie mäßiger in Ihren Liebkosungen unserer Tochter und bevorzugen sie dafür etwas mehr und gerechterweise Ihren Sohn, wie Sie es dem Erben Ihres Namens schuldig sind. Sie behandeln ihn bisweilen mit ein wenig zu viel Kälte. Das wäre gut, wenn seine Mutter noch lebte, aber vergessen sie nicht, daß er keine Mutter mehr hat und daß zu große Strenge Ihrerseits ihm dieses Unglück wieder schmerzlich vor Augen führen könnte. Denken Sie auch daran, daß alles, was ich für Ihre Kinder tun kann, in deren Augen nicht einen Blick oder eine Gebärde der zärtlich geliebten Mutter aufwiegt. Ich fühle das, seitdem ich selbst Mutter bin. Ich fühle es, es liegt in der Natur, und alle meine Anstrengungen sind dagegen ohnmächtig. Sie sind ihr Vater und müssen sie daher doppelt lieben und ihnen doppelt das zärtliche Gefühl bezeigen, das nur sie allein auf der ganzen Welt ihnen bezeigen können. Meine Tochter ist schon dadurch glücklich, daß sie eine Mutter hat.«

Herr de la Grange ließ seine Frau allein, ohne ihr ein Wort zu erwidern. Tränenden Auges suchte er seine Kinder auf, umarmte sie mehrmals und sagte zu ihnen:

»Meine lieben Kinder, laßt uns Gott danken und zu ihm beten, daß er uns noch lange eure Mutter, meine liebe Frau erhält! Jedesmal, wenn ich von ihr komme, liebe ich euch noch herzlicher. Wenn ihr wüßtet, wie sie eben erst wieder zu mir gesprochen hat, dann würdet ihr die Spuren ihrer Schritte auf dem Boden küssen, den sie betreten hat.«

»Wir vergöttern sie,« erwiderte Viktoria darauf, »und wir alle versuchen, ihr an ihrer Tochter alles Gute zu vergelten, daß sie uns erwiesen hat, aber ich fühle, daß wir noch weit davon entfernt sind! Doch eines Tages wird sie sehen, lieber Papa, und Sie werden es sehen, daß wir sie in unseren Herzen tragen.«

Viktoria lief darauf sofort zu ihrer Mutter ins Zimmer und fragte sie:

»Mama, was hast du denn zum Papa gesagt, daß er jetzt vor Rührung weint, indem er nur dein Lob singt?«

»Daß ihr von mütterlicher Seite Waisen seid und daß er euch daher doppelt innig lieben müsse.«

»Nein, liebe Mama, wir sind keine Waisen mehr. Wir waren es ein Jahr lang. Der Leib unserer guten Mutter ist wohl nicht mehr da, aber ihre Seele ist in die deinige gefahren, und du hast sie uns wiedergegeben.«

»Mein liebes Kind,« erwiderte Hortense darauf freudetrunken, »wie süß sind deine Worte! … Teure Viktoria, daß ist der schönste Augenblick meines Lebens, und ich verdanke ihn dir! … Meine Tochter, meine junge Freundin, meine Gefährtin, meine einzige und geliebte Schwester, alles das bist du mir zugleich!«

»Oh! so gibst du mir meine Mutter wieder, Zug um Zug, Liebe um Liebe! … Oh! Sie sieht dich gewiß von da oben, ihre Seele sieht und segnet dich und spricht zu Gott: »Lieber Gott, du siehst da unten diese gute Stiefmutter meine Kinder lieben, wie ich sie geliebt haben würde. Bewahre ihr in deinem Schoße einen Platz neben mir, aber laß sie noch recht lange am Leben zum Glück meiner teuren Kinder! … Und Gott wird es ihr gewähren, mein liebes, gutes Mütterchen, damit wir unsrerseits dir in deinem schönen und glücklichen Greisenalter dienen können.«

Hortense wollte diese naive, liebliche Sprache der Unschuld nicht unterbrechen. Als Viktoria geendet hatte, schloß sie sie in die Arme und sagte zu ihr, vor Freude fast erstickend: »Ich nehme deine zärtlichen Wünsche an, meine beste Freundin, und der Himmel wird sie erfüllen, weil sie aus reinem, aufrichtigem Herzen kommen. Aber, liebe Tochter, wenn dennoch der Tod … würdest du dann die Mutter meiner Tochter sein?«

»Sei ruhig, liebe Mama, ich werde nicht nötig haben, dir diesen Dienst zu leisten, der meinem Herzen teuer sein würde. Du wirst sie verheiraten, und ich werde dabei als deine Adjutantin mitwirken.«

Herr de la Grange hatte dieses Gespräch zwischen seiner Frau und seiner ältesten Tochter mitangehört. Er strahlte vor Freude im ganzen Gesicht und öffnete ihnen die Arme, indem er sagte:

»Wen soll man mehr bewundern? Ich kann euch in meiner Lobpreisung nicht voneinander trennen, die eine hat die andere herangebildet, ich liebe euch alle beide …« Er umarmte sie und fuhr dann mit Würde fort:

»Meine Tochter, ich fühle mich geehrt, dein Vater zu sein, und ich will dir in diesem Augenblick das schönste Geschenk machen, das ein Vater zu vergeben hat: meinen Segen … Herr Gott im Himmel, segne meine Tochter! Laß sie eines Tages eine treue Geliebte, glückliche Gattin und würdige Mutter sein, wie sie heute eine liebevolle und fromme Tochter ist! Segne sie, großer Gott! und verleihe ihr nur die Freude, mit der sie das Herz ihres Vaters erfüllt hat, dann wird sie glücklich sein!« Und damit zog er sich zurück, um allein seiner köstlichen Rührung wieder Herr zu werden. Solche Szenen wußte Hortense herbeizuführen! Viktoria war damals 15 Jahre alt.

Es kam die Zeit heran, wo Madame de la Grange daran denken mußte, sie eine gute Partie machen zu lassen, vor allem hatte sie dabei stets ihr Glück im Auge. Sie gab Viktoria Ratschläge, wie sie am besten selber ihre Wahl treffen könnte, und sie unterhielten sich über diesen Gegenstand vertraulich wie zwei gute Freundinnen miteinander. Diese Gespräche gefielen Viktoria mit ihrem zartbesaiteten Gemüt. Indessen hatte die Klugheit nichts mit der Wahl zu schaffen, die sie traf und die über das Schicksal des liebenswürdigen Mädchens entschied. (Das Abenteuer ist ziemlich pikantes würde mich aber zu weit von meinem Thema abbringen, wenn ich es an dieser Stelle erzählen würde, ich will es daher als nächste Novelle bringen.)

Nach Viktoria waren die beiden anderen Mädchen zu verheiraten, Rosalie und Felizitas. Hortense befolgte dabei dieselbe Methode, wie bei der Verheiratung ihrer Schwester. Sie waren nicht so hübsch wie Viktoria, aber doch liebenswürdig genug, um ernste leidenschaftliche Gefühle wachzurufen, zudem waren sie reich.

Um ihnen die Wahl zu ermöglichen, ohne ihre Tugend in Gefahr zu bringen, wandte Hortense ein Mittel an, das von einigen scharf bekrittelt, von anderen sehr gelobt wurde. Sie arrangierte in ihrem Hause Kränzchen und andere Vergnügungen für junge Leute. Man tanzte alle damals bekannten Tänze, zu denen ausgezeichnete Musiker aufspielten. In der Musik hatte sie die Mädchen durch vorzügliche Lehrer ausbilden lassen, und bei den Tänzen konnten sie ihre ganze Grazie entfalten. Mit ihrem Bruder zusammen, der einen ausgezeichneten Lehrer abgab, unterrichteten die Mädchen wieder ihre Freunde und Freundinnen in Musik und Tanz. Natürlich wohnte die Stiefmutter stets diesen kleinen Gesellschaften bei. Die kleine Hortense Viktoria hatte keine anderen Lehrer, als ihre Schwestern und ihren Bruder. Man führte auch die hübschesten Ballettpantomimen der Oper auf, ja der junge de Ja Grange, der damals 16 Jahre alt war, komponierte selbst eine solche, die den Titel führte: das Urteil des Paris und sehr genial durchdacht war. Sie wurde zuerst von den vier Schwestern und ihrem Bruder aufgeführt. Felicitas, die größte von ihnen, gab die Juno, Rosalie die Pallas, Viktoria die Venus, sie erhielt diese Rolle, weil diese ein hübsches Gesicht und größere Intelligenz erforderte. Um auch der kleinen Hortense Viktoria eine Rolle zu geben, hatte er eine Iris geschaffen an Stelle des Merkur. Ein anderes schönes junges Mädchen gab die Helena und eine Freundin die Oenone.

Um dergleichen Vergnügungen zu veranstalten, muß man, das weiß ich wohl, die größte Vorsicht obwalten lassen. Hortense besaß alle Eigenschaften dazu und wurde darin von Viktoria unterstützt, die sie in einer Weise erzogen hatte, daß ein Fehltritt zu den Unmöglichkeiten gezählt werden mußte. Sie übte eine geheime Überwachung, von der man nichts merkte, und sah alles besser, als die Stiefmutter, der übrigens nichts wesentliches entging. Diese Erziehungsmethode durch Vergnügen war zugleich ein Mittel, ihren Stieftöchtern die Möglichkeit zu verschaffen, ihre Wahl unter den jungen Leuten zu treffen, die zu den Gesellschaften hinzugezogen wurden. Es war ein wahres Meisterwerk von Weisheit, das sie da geschaffen hatte, denn Madame de la Grange verschaffte den jungen Leuten Vergnügungen, ohne daß deren Charakter dadurch verdorben wurde, da damit zugleich auch ernste Arbeit verbunden war. Der Erfolg war denn auch der, daß nicht nur die Schwestern de la Grange, sondern auch ihr Bruder Partien fanden, die ihnen zusagten. Hortense war gespannt, welche Wahl sie treffen würden. Sie hatte die Kinder so erzogen, daß sie sicher sein konnte, sie würden sie um Rat fragen. Sie hatte ihnen jenes Schamgefühl abgewöhnt, das an sich lobenswert, in diesem Falle ihren Plänen zuwiderlief und nur bewirkt hätte, daß ihre Mädchen nicht gewagt hätten, ihr ihre Neigung für den oder jenen zu gestehen. Die erste Wahl der beiden jüngeren Schwestern fand nicht ihre Billigung. Sobald sie davon erfuhr, nahm sie die Schwestern beiseite und sagte zu ihnen in Gegenwart Viktorias:

»Meine lieben Kinder, ich bemerke, daß Rosalie Herrn d’Orivel und Felicitas Herrn de Saint-Cyr auszeichnet, oder sollte ich mich getäuscht haben?«

»Nein, liebe Mama.«

»Wenn sie euch glücklich machen könnten, so würde ich eure Wahl mit aller Kraft unterstützen, aber darüber müssen wir uns erst klarwerden, meine Freundinnen.

Wir wollen alle vier uns darüber vergewissern. Ihr seid noch sehr jung, und eure älteste Schwester ist noch nicht verheiratet, obwohl sie einen ihrer würdigen Bräutigam hat. Ihr habt also alle Zeit, um alles wohl zu überlegen und diejenigen gründlich kennen zu lernen, die euch liebenswert zu sein scheinen. Wir wollen uns gegenseitig unsere Beobachtungen mitteilen, denn, liebe Kinder, die Sache ist von höchster Bedeutung für euch! Euer ganzes Lebens-Glück oder -Unglück hängt davon ab! Denkt daran, daß Liebe blind macht, das ist eine alte Wahrheit. Rosalie wird besser sehen können, was Herr de Saint-Cyr ist, als Felicitas, und umgekehrt wird Felicitas Herrn d’Orivel besser beurteilen können, als ihre Schwester. Viktoria und ich werden noch unparteiischer sein, besonders ich, bei der das Herz nicht mitspricht und die mehr Erfahrung hat, als ihr. So, Kinder, das ist also unsere nächste Aufgabe. An uns ist es, einen guten, ehrenwerten Mann für euch zu finden, ich betrachte das als meine wichtigste Aufgabe und ihr könnt schon darnach urteilen, von welcher Bedeutung die Sache für euch ist! Prüfen wir eure Freier insgeheim acht Tage lang, dann wollen wir alle vier wieder zusammenkommen, um uns unsere Eindrücke mitzuteilen.«

Damit hob sie diese Sitzung auf, und jede ging wieder ihren Beschäftigungen nach.

Nach Ablauf von acht Tagen verfehlte Hortense nicht, das kleine Kapitel wieder zusammenzuberufen. Sie sprach zuerst, da sie gegen die Liebhaber Verschiedenes vorzubringen hatte, dann Viktoria, endlich die beiden Schwestern. Hortense sagte:

»Meine Töchter, ich bin noch nicht zu einem endgültigen Urteil gekommen, aber ich kann nichts anführen, was mich für sie günstig stimmen könnte. Sie sind leichtsinnig, unbeständig, wenig liebenswürdig zu ihren Gefährten, warme Gefühle haben sie nur für sich selbst, gegen die anderen sind sie von Eis, sie sind Egoisten und Spötter und mokieren sich in undelikater Weise über diejenigen, die es ihnen nicht ebenso gewandt zurückgeben können. Sie sind rechthaberisch, starrköpfig, oberflächliche Beurteiler, teils aus Überhastung, teils aus Laune, obwohl sie intelligent genug erscheinen, um ein richtiges Urteil fällen zu können. Saint-Cyr besitzt mehr Geist als d’Orivel, aber einen boshafteren, er verwendet ihn bisweilen darauf, seinem Freund eine Niederlage beizubringen, der sich dann ihm gegenüber erniedrigt, während er gegen alle anderen unverschämt ist. Beide sind streitsüchtig, in diesem Fehler steht keiner dem anderen nach. Ich weiß, liebe Kinder, daß dergleichen stolze Charaktere im allgemeinen den Frauen gefallen. Auch ich würde nichts dagegen einzuwenden haben, wenn dieser Stolz des Charakters mit Tugenden verbunden wäre. Wenn er aber nur Untugenden zur Grundlage hat, dann wird er zur unerträglichen Plage. Ihr werdet mich nun fragen, warum ich diese jungen Männer, da ich sie doch so genau kannte, in eure Gesellschaft zugelassen habe? Darauf antworte ich, daß ich sie erst kennen gelernt habe, seitdem sie bei uns verkehren, und dann, daß ich nicht glaubte, sie ausschließen zu dürfen ihrer Eltern und des Aufsehens wegen, das ein solcher Schritt verursacht hätte. Nun kennt ihr meine Meinung, teure Töchter, hören wir jetzt eure älteste Schwester, nachher werdet ihr sprechen.«

»Ich, liebe Mama,« hub Viktoria an, »kann nicht ganz so ungünstig über sie urteilen, wie Sie es getan haben.

D’Orivel kokettiert mit Fehlern, die er gar nicht hat, wohl in der Absicht, sich dadurch bei Saint-Cyr einzuschmeicheln. Letzterem schreibe ich große Fähigkeiten und eine außergewöhnliche Klugheit zu. Vielleicht empfindet er nur deshalb Verachtung gegen jedermann, weil er sich selbst allen überlegen fühlt. Schwester Felicitas muß sich prüfen, ob sie sich für schön, klug, talentiert, kurz, hervorragend genug hält, um eines Tages von diesem Manne geachtet zu werden, denn das kann ich ihr versichern, sofern sie ihm nicht über sich eine vorzügliche Meinung beizubringen vermag, wird sie mit ihm die unglücklichste aller Frauen werden. Wenn nun auch Rosalie von d’Orivel nichts Ähnliches zu befürchten hat, so fürchte ich doch andrerseits alles von diesem seinem Streben, schlechter erscheinen zu wollen, als er es in Wirklichkeit ist. Es deutet auf Feigheit, auf Niedrigkeit der Gesinnung und Freude am Laster. Ich würde noch Saint-Cyr mit allen seinen Fehlern ihm vorziehen, man weiß wenigstens, woran man mit diesem entschlossenen Manne ist, während das mit d’Orivel nicht der Fall ist, der keine eignen Gedanken hat. Das ist meine Ansicht, Mama.«

»Ich bin über deinen scharf Blick erstaunt, mein Kind.«

»Ich werde dir nachher etwas im Vertrauen mitteilen, dann wirst du nicht mehr erstaunt sein.«

»Nun ist an dir die Reihe, Rosalie.«

»Was kann ich noch hinzufügen, liebe Mama, da ihr beide mich schon niedergeschmettert habt? Ich habe von alledem, was ihr entdeckt habt, nichts bemerkt. Da ihr es aber besser wissen werdet, so beuge ich mich und kann nur mein Erstaunen darüber ausdrücken! Laßt mich aber wenigstens ein Wort zugunsten dieses armen d’Orivel sagen. Es ist wahr, er kriecht vor Saint-Cyr und kommt erst nach ihm zur Geltung. Ich schrieb das aber auf Rechnung seiner großen Freundschaft für ihn und war bisweilen von den Beweisen von Ergebenheit, die er ihm gab, ganz gerührt. Saint-Cyr ist herrisch, das steht fest, wie oft habe ich aber d’Orivel ihm aus Freundschaft nachgeben sehen, in einem edlen Gefühl ergebener Anhänglichkeit an ihn, nicht aber aus niedriger Kriecherei! Er hat mir sogar des öfteren seine Gründe für solche Haltung mitgeteilt. Ihr sagt ferner, er ahme die Laster seines Freundes nach, das habe ich auch ganz anders aufgefaßt! Ihr erinnert euch, daß er einmal Herrn de Cherbourg gegenüber behauptete, daß schüchterne Liebe eine Dummheit sei und daß ihr darüber empört zu sein schient. Ich sagte es ihm und sah ihn erbleichen. Er erwiderte mir: »Mein Fräulein, Sie wissen an besten zu beurteilen, ob ich wirklich meiner Behauptung gemäß handele, aber Saint-Cyr, mein intimster Freund, wird von allen angegriffen, und da kann ich ihn doch nicht im Stich lassen gerade, wenn er unrecht hat. Verzeihen sie mir diese Inkonsequenz und blicken sie auf meine ehrerbietige Haltung Ihnen gegenüber, können sie dann über meine wahre Meinung noch einen Zweifel hegen?« Überzeugt von seiner Aufrichtigkeit zürnte ich ihm nicht mehr. Das sind meine Beobachtungen, liebe Mama.«

»Sie verdienen die größte Beachtung, liebes Kind«, erwiderte Madame de la Grange, »und lassen mein Endurteil in der Schwebe. Ich billige allerdings trotz dem Geständnis, das er dir gemacht hat, nicht sein Betragen, solche Charaktere liebe ich nicht, wenn er aber wirklich aus Freundschaft so gehandelt hat, nur aus Freundschaft ohne andere Motive, so setzt das seine Schuld um die Hälfte herab … Nun und du, Felicitas, was hast du zur Verteidigung Saint-Cyrs zu sagen?«

»Nichts, Mama, gar nichts! Ich wünsche, daß Sie von selbst Ihr Urteil über ihn zurücknehmen, nachdem Sie ihn werden besser kennen gelernt haben. So oft, liebe Mama, hast du mir gesagt: ›Felicitas, siehst du da diese weibischen Jünglinge, die ihrer Mutter wie Hunde an der Leine folgen? Ich würde dir nie verzeihen, wenn du je einen solchen Idioten lieben würdest.‹ Nun, liebe Mama, ich verabscheue sie auch, und da ist es natürlich, daß Saint-Cyr, der gerade das Gegenteil von ihnen ist, meine Seele entzückt hat, wie es in der Oper heißt. Er ist der Mann, den ich mir erkoren habe. Da ich, selbst ohne sein Wissen, seinem edlen Stolz nicht wehtun will, so enthalte ich mich jedes weiteren Wortes zu seiner Verteidigung.«

»Glaube mir, Felicitas,« bemerkte Madame de la Grange darauf lächelnd, »eure Charakter passen nicht zueinander. Denke nicht mehr an ihn.«

»Und wieso denn?«

»Du bist stolz, er ist es auch, zwei stolze Charaktere passen nicht zueinander. In der Ehe müssen sich die Charaktere von Mann und Frau ineinander einfügen und, um dies zu können, müssen sie verschieden sein, so paßt ein sanftmütiger und ergebener zu einem stolzen und hochmütigen, weil ersterer dem anderen stets nachgeben wird. Zwei erregte und harte Charaktere werden sich gegenseitig erbittern. Sind in der Mechanik jemals zwei Teile, die die Bestimmung haben, ineinander zu arbeiten, einander gleich? Im Gegenteil. Nun, so ist es auch mit den Charakteren, wenn sie zueinander passen sollen: sie müssen, wenn du mir den Ausdruck erlaubst, verschiedenen Geschlechts sein.«

»Oh, Mama,« rief da Felicitas aus, »das ist zutreffend. Schlagend!«

»In der Tat beweisend«, mischte sich Viktoria ein, »und ich bin Mama dankbar, daß sie uns darauf aufmerksam gemacht hat.«

»Ja«, fuhr Felicitas fort, »und ich werde darüber nachdenken, sehen, ob diese Vernunftsgründe nicht ihre schwache Seite haben, vorläufig bin ich davon geblendet, ohne erleuchtet zu sein.«

Der junge de la Grange, der gerade hinzugekommen war und den Schluß gehört hatte, fügte hinzu:

»Ich halte das für einen Sophismus, liebe Mutter, der blendet, aber nicht überzeugt. Darüber sollten wir Papa befragen.«

»Das ist eine sehr vernünftige Ansicht, mein Sohn, wir können ja bei Tisch darüber sprechen.«

Beim Nachtisch warf der junge de la Grange diese Frage auf, ohne seinem Vater zu sagen, daß die Mutter sie angeregt habe. Nach einiger Überlegung äußerte Herr de la Grange sich folgendermaßen: »Ich glaube, mein Sohn, daß du recht hast. Ich bin nur überrascht, daß dir eine so seine Erwägung durch den Kopf gegangen ist, da du doch noch gar keine Erfahrung hast. Auch ich halte es für einen Sophismus wenigstens beim ersten Nachdenken darüber. Jedenfalls liegt etwas sehr Wahres darin, und man kann wohl sagen, daß, wie die Verschiedenheit der Geschlechter physisch eine Notwendigkeit ist, Sie auch moralisch bedingt ist. Doch ich will mich weiter darüber nicht auslassen.«

Die Prüfung der beiden Freier wurde weiter fortgesetzt. Da die jungen Mädchen sicher darüber waren, daß sie vollkommen Herrinnen ihrer Wahl wären, so studierten sie sie mit viel mehr Unparteilichkeit. Die scheinbaren Vorzüge d’Orivels konnten bald einer ernstlichen Prüfung nicht standhalten, und die Selbstsucht, Härte und Gehässigkeit des Charakters Saint-Cyrs wurden endlich auch von Felicitas richtig erkannt. Erst, als die beiden Schwestern sich vollkommen klar waren, sprachen sie mit Hortense darüber. Sie kamen eines Tages zu ihr, küßten sie und sprachen sich folgendermaßen aus:

»Liebe, gute Freundin, du hattest recht und hast uns vor großer Gefahr bewahrt, in die die Liebe uns gebracht hätte. Triff du nun für uns die Wahl, wie du es für Viktoria getan hast. Du hast ihr den gezeigt, den sie lieben sollte, sage es auch uns, gute Mutter, wir werden deines Spruches harren.« »Ich habe keineswegs für Viktoria die Wahl getroffen,« war ihre Antwort, »ich habe Sie nur darauf aufmerksam gemacht, daß sie liebte. Das ist alles, was ich auch für euch tun kann und auch eines Tages für eure kleine Schwester. Paßt auf, ihr lieben Mädchen, und achtet nur des wahren Verdienstes, das stets schüchtern und furchtsam ist, euch aber schließlich doch huldigen wird. Dann werde ich prüfen, ob ihr liebt, und werde es euch sagen.«

Rosalie und Felicitas waren hoch befriedigt von dieser Antwort, und wenn sie vorher ihre Stiefmutter geliebt hatten, so vergötterten sie sie jetzt. Sie folgten ihrem Rate, suchten sich tugendhafte und schüchterne Liebhaber aus, ermutigten sie, liebten sie und wurden heiß wiedergeliebt. Hortense klärte sie darüber auf, und sie sind glücklich geworden.

Der junge de la Grange machte es nicht anders, wie seine Schwestern, er bat seine Stiefmutter sogar, ihm eine Ehehälfte nach seinem Geschmack auszusuchen. »Was ich verlange, ist folgendes,« sagte er zu ihr, »vor allem: Schönheit. Ich bin blond, will daher eine Brünette, sie muß denselben Geschmack und dieselbe Grazie besitzen, wie Viktoria oder sie selbst, desgleichen Ihren oder Viktorias Wuchs, ein angenehmes Organ, ein bestrickendes Lächeln, schüchtern und bescheiden soll sie sein, der Blick eines Mannes muß sie erröten machen, kurz ich verlange, daß sie einen gewissen Reiz und eine gewisse Anmut besitzt, die gefallen und die eine Frau schön erscheinen lassen, ohne daß sie es ist. Dazu muß sie klug, aber nicht gelehrt sein, so daß ich mir ungeniert mal einen Anachronismus in der Geschichte oder einen Schnitzer in der Geographie leisten kann, sie muß einige angenehme Talente ausüben, Musik, Tanz, so wie wir hier. Besonders hätte ich es gern, daß sie furchtsam wäre, daß sie in kein Boot zu steigen wagen würde, ohne sich fest an mich zu drücken, und wenn sie ohne mich allein nach Versailles fahren wollte, am Pont de Seve wieder umkehren würde. Ich liebe diese reizenden Schwächen bei den Frauen und ich fühle, daß ich die meinige darum nur desto mehr lieben würde. Ich wäre entzückt, wenn sie beim Donner in meinen Armen Schutz suchte und mich gegen den lieben Gott selbst um Hilfe bäte. So, liebe Mama, müßte meine Frau aussehen.«

»Die wird in unserem Jahrhundert schwer zu finden sein, mein Sohn. Heutzutage sind alle Frauen Königinnen.«

»Ich kann warten, sollte es auch noch so lange dauern, bis sie mir eine solche heranbilden. Sie stehen an meiner Mutter Stelle, und ich ehre Sie, wie ich diese ehren würde, sie sind mir daher mein Glück schuldig, finden Sie es mir, ich will es aus Ihrer Hand haben.«

»Ich werde mein Möglichstes tun, mein lieber Sohn, aber hilf mir dabei, suche auch du, vielleicht begünstigt dich der Zufall.«

»Gut – aber, wenn die, die mir gefällt, nicht ganz meinen Wünschen entspricht, dann müssen sie sie mir formen.«

»Oh! von Herzen gern, mein lieber Sohn! Ich werde mich dabei ganz deinen Ideen anpassen, Selbst denen, die meiner Anschauungsweise widersprechen.«

»Das weiß ich, beste aller Frauen! Und darum bringe ich Ihnen blindes Vertrauen entgegen. Ach! wenn ich eine finden könnte, wie Sie, dann würde ich auf meine anderen Wünsche nicht mehr hören, die nähme ich! Aber daran ist ja nicht zu denken. Sie sind ein Meisterwerk der Natur, und so will ich wenigstens eine Frau mit Schwächen haben, die mir gefallen.«

Der junge de la Grange fand ungefähr das, was er wollte, und führte seine Geliebte seiner Mutter zu, um sie von dieser noch weiter formen zu lassen. Da sie nicht imstande war, aus ihr ihr Ebenbild zu machen, so bildete sie sie so aus, wie ihr Stiefsohn es gewünscht hatte. Der junge de la Grange ist seit zehn Jahren verheiratet und ein glücklicher Ehemann. Vor acht Jahren sah ich ihn mit seiner Frau im Jardin des Plantes, wie sie zum Labyrinth aufstiegen. Als die Frau auf dem Gipfel war, zitterte sie vor Furcht, hielt ihren Mann umschlungen und ließ ihn erst zwischen den beiden Fliederhecken wieder los. Er mußte darüber glücklich sein, es schien wenigstens so,

Natürlich war eine so gute Stiefmutter erst recht auch eine gute Mutter. Sie tat für das Glück ihrer Tochter das Menschenmöglichste und erzielte den besten Erfolg. Hortense ist jetzt vierzig Jahre alt und immer noch begehrenswert. Alles, was sie umgibt, ist glücklich, besonders aber ihr Mann. Ihre Stiefkinder vergöttern sie und nennen ihren Namen nur mit Rührung. Sie bewahrheitet den Wahlspruch, den ich einst am Wagen einer schönen jungen Frau las: › Deliciae virtutis praemium‹, ›Freuden sind der Tugend Preis‹.

Der hübsche Fuß.

162

Wir kennen aus der vorhergehenden Novelle die reizende Viktoria de la Grange. Sie war sechzehn Jahre alt, als sie eine ebenso sonderbare, wie heftige Leidenschaft in eines jungen Mannes Herzen hervorrief. Ein ihr Unbekannter, der gar nicht zu den Besuchern des Hauses gehörte, verliebte sich in sie, ohne sie zu kennen, fast ohne sie gesehen zu haben. Er hieß de Saintepallaie und war ein junger Gelehrter, der große Kenntnisse besaß und sich schon ausgezeichnet hatte. Obwohl er erst fünfundzwanzig Jahre alt war, lebte er sehr zurückgezogen und allein für sich. Nur abends machte er einen Spaziergang, nachdem er den ganzen Tag studiert hatte. Saintepallaie hatte reine Sitten, gesunde Sinne und besaß ungewöhnliche Energie. Er liebte die Frauen, fürchtete sie aber und mied sie teils aus Gewohnheit, teils aus Vernunftgründen. Und doch gab es vielleicht keinen Menschen auf der Erde, auf den Schönheit einen größeren Eindruck machte, als ihn. Der Anblick einer schönen Frau brachte ihn in Ekstase, aber dann dachte er an die unangenehmen Seiten eines Liebesverhältnisses und hatte die Energie, zu entsagen; zweifellos, weil er noch nicht der Frau begegnet war, die gerade ihn gefangen nehmen sollte.

Saintepallaie hatte einen besonderen Geschmack. Ein schönes Gesicht gefällt jedem, und überall, außer in Spanien, macht eine schöne Büste Eindruck, eine elegante, schlanke Taille und eine hübsche Hand gefielen auch ihm, der Reiz aber, für den er am meisten empfänglich war und der in ihm jenes unwillkürliche Beben hervorrief, das alle Fibern in Bewegung versetzt, war ein schöner Fuß. Nichts ging ihm über den verführerischen Zauber eines solchen, der allerdings die Feinheit und die Vollkommenheit aller anderen Reize anzuzeigen scheint. Übrigens hatten ihn nicht Vernunftsgründe auf diesen Geschmack gebracht, sondern ein gewisser Instinkt, der ihn schon in frühester Jugend dahin geführt hatte. Niemals hatte er, ohne in Zittern zu geraten, einen hübschen Frauenschuh sehen können, und wenn er Frauen begegnete, die nicht hübsch waren, aber elegante, hübsche Fußbekleidung trugen, so waren sie ihm nur aus diesem Grunde interessant.

Eines schönen Sommerabends ging er durch die Rue Dauphine und sah vor dem Tor eines Hauses eine hübsche Händlerin sitzen, die einen niedlichen, kleinen Fuß hatte und dies wußte, denn sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen so da, daß man ihre Füße, die feinen Gelenke und den unteren Teil der zierlichen Waden bewundern konnte. Der Fuß stak in weißen Schuhen und war so klein, so wohlgeformt und appetitlich, daß selbst die Gleichgültigsten nicht ohne Bewunderung vorübergehen konnten. Saintepallaie blieb bei diesem Anblick voller Staunen unbeweglich stehen, doch schämte er sich nach einiger Überlegung und setzte seinen Spaziergang fort. Kaum sechs Häuser weiter kehrte er wieder um und ging vor dem Hause hin und her, solange der hübsche Fuß sich sehen ließ. Die Händlerin ging ins Haus hinein und verschwand, aber Saintepallaie war von dem Anblick so betroffen worden, daß er ihn nicht vergessen konnte. Er kam jeden Abend wieder, bis ein noch reizenderer Gegenstand ihn anzog.

Eines Vormittags spazierte er durch die Rue Saint-Denis, als er einer jungen Dame begegnete, die in die Kirche St. Sépulcre ging und ihm hübsch vorkam. Nachdem er flüchtig ihre verführerischen Gesichtszüge gemustert hatte, warf er einen Blick auf sein Lieblingsorgan, und was sah er? Die Natur hatte Madame Le** in hervorragender Weise begünstigt: in einem zierlichen, silbergestickten Schuh stak ein Füßchen, das einer Puppe zu gehören schien. Die Dame, die ihn besaß, hatte einen leichten, sinnlichen Gang. Saintepallaie war geblendet und folgte entzückt und bezaubert ihren Schritten. Er konnte sich von dem göttlichen Weibe erst losreißen, als sie wieder ihr Haus betrat. Er merkte sich dasselbe und verfehlte nicht, jeden Tag wieder vor demselben auf- und abzugehen, bis er den bestrickenden Fuß erblickte. Davon begeistert, verfaßte er, obwohl er nicht verliebt war, ein Gedicht, das ich mir leider nicht habe verschaffen können, und schickte es der Dame, ohne sich zu nennen. Sie nahm es aber, da es von einem Unbekannten kam, sehr Schlecht auf, was Saintepallaie ein wenig abkühlte.

Ein anderes Mal sah er bei einem Schuster in der Rue des Vieux Augustins einen so wohlgeformten Schuh, dass er neugierig fragte, für wen er gemacht sei. Man nannte ihm die Marquise von M…i. Nun ließ es ihm keine Ruhe, bis er diese Dame gesehen hatte. Er fand sie reizend, aber sie war verheiratet, und Saintepallaies Tugendgefühl widersprach es, sich an eine Person zu fesseln, die er nicht heiraten konnte. Aber den Schuster bat er, ihm das Vergnügen zu machen, die Schuhe der Dame zur Anprobe zu überbringen, sie aber dann unter dem Vorwande einer kleinen Änderung wieder mitzunehmen. Er begleitete den Schuster als dessen Gehilfe, um der Einweihung des hübschen Schuhes sicher zu sein, und ließ sich dann ein gleiches Paar anfertigen, daß er höchst freigebig bezahlte. Diese Reliquie hütete er dann auf das sorgsamste.

Als er eines Abends durch die Rue de l’Arbresec ging, sah er ein hübsches junges Mädchen, ungefähr in der Stellung der Händlerin der Rue Dauphine vor einer Haustür sitzen. Es hatte nur kleine Pantoffeln an, und die reizendsten kleinen Füßchen waren fast ganz sichtbar. Saintepallaie bleibt unbemerkt neben ihr stehen und geht dann nach einigen Minuten weihevoller Betrachtung an ihr vorüber. Plötzlich bemerkt er, daß die schöne Person in lässiger Stellung auf ihrem Stuhle eingeschlafen ist. Da kann er der Versuchung nicht widerstehen, sich des verführerischen Kleinods zu bemächtigen, das sich seinen Blicken darbietet. Geschickt streckt er seine Hand aus, zieht ihr einen Pantoffel aus, steckt seinen Schatz in die Tasche und geht davon. Die Schöne erwacht, sucht den Pantoffel und stößt, als sie ihn nicht findet, einen Schrei der Überraschung und des Schreckens aus, der ihre Mutter herbeiruft.

»Was hast du?«

»Man hat mir meinen Pantoffel gestohlen.«

»Wer?«

»Ich weiß es nicht.«

»Vom Fuß weg?«

»Nun ja doch, Mama.«

»Ei, Solche Unverschämtheit!«

Die Mutter zürnt der Tochter, da sie doch auf jemand böse sein mußte. Ändern Tages ging Saintepallaie wieder an dem Hause vorüber, um die Schöne bei Tageslicht zu sehen, und fand sie entzückend.

»Soll ich sie heiraten?« überlegte er bei sich, »ich meine, ich würde sie glücklich machen, indem ich zugleich mein Glück begründe. Sie scheint mir gut erzogen zu sein, obwohl von einfacher Herkunft, und ist voller Anmut. Das muß überlegt werden …« Das tat er denn auch den ganzen Tag über. Am Abend ging er zur gleichen Stunde wieder in dem Viertel spazieren und näherte sich dem Hause der jugendlichen Schönen. Einen Augenblick später erschien auch sie und nahm ungefähr dieselbe Stellung ein, wie am Abend vorher.

»Stellen sie sich dahin, Julien,« sagte sie dann zu einem der Ladenkommis, »wir wollen sehen, ob er wiederkommt.«

Diese Worte hörte Saintepallaie, der sich im Flur des Nachbarhauses versteckt hielt. Nach einigen Sekunden antwortete Julien:

»Das kann nur ein Nebenbuhler gewesen sein, Fräulein Agathe. Ich finde es begreiflich, daß man Sie liebt, Sie sind so liebenswürdig, daß man gar nicht anders kann, ich fürchte bloß, daß der Bursche, der Ihnen den Pantoffel genommen hat, dazu ermutigt worden ist …«

»Sie sehen Gespenster, Sie sind eifersüchtig. Ich sage Ihnen doch, daß ich ihn nicht kenne und ihn nie gesehen habe! Ich war halb eingeschlafen, fühlte etwas, konnte mir aber nicht denken, daß …«

»Sie hätten sofort schreien sollen!«

»Was wußte ich? Ich dachte zuerst, es wäre der Nachbar.«

»Ah! da haben wir’s!«

»Was wollen sie damit sagen? Wollen sie sich durchaus verhaßt machen, Herr Julien? Versprechen Sie mir, nur mich allein zu lieben!«

»Das habe ich schon hundertmal getan, und was hat’s geholfen? Sie sind so hübsch, daß ich stets in Unruhe bin.«

»Nun wohl, dann will ich Ihnen versichern, daß ich Sie selbst einem Prinzen vorziehen würde. Sind Sie nun zufrieden?«

»Ja, ja, schöne Agathe.«

»Aber ich möchte doch meinen Pantoffel wieder haben und wissen, ob es der Nachbar war …«

»Nein, gewiß nicht, es war ein Unbekannter.«

Als die Unterhaltung bis dahin gelangt war, trat Saintepailaie aus dem Hausflur heraus, näherte sich dem Pärchen und sagte:

»Ich will Ihr Liebesverhältnis nicht stören und Ihnen also mitteilen, daß ich getan habe, was Herrn Julien so eifersüchtig macht. Ich will ihm daher das Kleinod wieder zurückerstatten, schöne Agathe. Seien sie davon überzeugt, daß ich, hätte ich Ihr Liebesverhältnis nicht erfahren, nie auf die Gefühle Verzicht geleistet hätte, die Sie mir eingeflößt haben. Doch nun ziehe ich mich zurück. Sie brauchen nicht mehr eifersüchtig zu sein, Herr Julien; es ist heute das erstemal, daß ich mit dem Fräulein spreche. Ich wünsche Ihnen beiden alles Glück! Adieu.«

Damit ging er, ohne daß die beiden den Mut gehabt hätten, das Wort an ihn zu richten. Nach einigen Minuten ging Julien in den Hausflur. Da er dort niemand fand, schlug er die Tür zu und ging wieder zu seiner Geliebten. Saintepallaie hatte sich im Hausflur versteckt und die Tür wieder aufgemacht, so daß er das Gespräch des Liebespaares belauschen konnte.

»Ein recht liebenswürdiger junger Mann,« meinte Agathe.«

»Das wohl, aber ein wenig zu dreist.«

»Sie werden zufrieden sein, daß es nicht der Nachbar war!«

»Ich meine, mir wär’s lieber, wenn er es doch gewesen wäre … Gebe der Himmel, daß der da nicht wiederkehrt!«

»Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Julien, ich wiederhole es Ihnen, ich würde Sie einem Prinzen vorziehen.«

»Ich vertraue Ihrem Wort, Fräulein, Sie sind mir so teuer, daß ich es nicht überleben würde, wenn ich auf sie verzichten müßte.«

»Er war in dem Hausflur! … Also muß er unser Gespräch belauscht haben, Julien!«

»Er ist ein schlauer Fuchs!«

»Wir wollen vorsichtig sein und lieber leise sprechen.«

»Oh! Ich passe auf, ich lasse den Hausflur nicht aus dem Auge. Von dort aus muß er sie immer belauscht haben.«

In diesem Augenblick wurde er gerufen. Als Saintepallaie sah, daß Agathe allein war, näherte er sich ihr und fragte sie sanft:

»Lieben sie ihn?«

»Ja, mein Herr.«

»Dann werden sie mich nicht widersehen, denn ich achte Ihre Gefühle. Adieu, liebes Fräulein!«

Damit küßte er ihr die Hand und ging. Es spricht vieles dafür, daß er mit ein wenig Hartnäckigkeit den Sieg über Julien davongetragen haben würde, ohne Prinz zu sein: aber er hatte Grundsätze. Er entsagte lieber dem Vergnügen, das schöne Mädchen wiederzusehen, als daß er vielleicht eines Tages den Tod des armen Julien auf dem Gewissen gehabt hätte, der ein braver Junge zu sein schien, und daß er sich hätte vorwerfen müssen, die liebenswürdige Agathe zur Wortbrüchigkeit verleitet zu haben. Er beglückwünschte sich bald, sich aus ein solches Abenteuer nicht eingelassen zu haben, das nur traurige Folgen für ihn hätte haben können.

Als er eines Tages auf dem Boulevard du Temple spazierenging, bemerkte er in einem Garten eine entzückende junge Person: die Feinheit ihrer Züge, die Eleganz ihres Wuchses, die durch ein anliegendes Kostüm noch hervorgehoben wurde, und vor allem die tadellose Form seines Lieblingsreizes erfüllten Saintepallaie mit Bewunderung. Sein Herz war noch mehr getroffen als seine Sinne, er sah die junge Schöne nur verstohlen an und wagte nicht, ihr näherzutreten, aber er konnte sich nicht von ihr losreißen. Nach einigen Gängen in den Alleen des Gartens näherte sie sich der Schranke, die den Garten nach der Straße abschloß. Sie ließ sich nieder und legte ihre Füße auf einen Stuhl, so daß man sie in ihrer ganzen Schönheit bewundern konnte. Welch reizendes Naturspiel diese Füße, wie klein, graziös und elegant das Schuhwerk: ein Aschenbrödelschuh, gestickt und mit Silberschnüren auf den Nähten geschmückt, mit spitzem, ziemlich hohem Absatz, der aber so angebracht war, daß er die Schönheit des Fußes nicht beeinträchtigte, nach vorn zu verengte er sich zu der zierlichsten kleinen Form. Saintepallaie war außer sich, er ging hundertmal vorüber und kehrte hundertmal wieder zurück, um verstohlen einen Blick auf den hübschen Fuß zu werfen, einige Male hob er seine Augen auch höher, um das entzückende Gesicht seiner Besitzerin zu bewundern. Viktoria de la Grange, sie war es, und der Leser kennt sie, begann zu lesen und zwar mit einer Aufmerksamkeit, die Saintepallaie zugute kam. Wenn sie einmal durch eine unwillkürliche Lageveränderung ihren Fuß den gierigen Blicken Saintepallaeis entzog, so schien es ihm, als ob eine Wolke den sonnigen Glanz verdunkelte, der sich seinen Augen bot. So blieb er gefesselt stehen, bis Viktoria von ihrer Stiefmutter, ihrem Bruder und ihren drei Schwestern zu einem Spaziergang auf dem Boulevard aufgefordert wurde. Sie gingen um den Boulevard herum, und Saintepallaie folgte ihnen Schritt auf Schritt. Als sie wieder ins Haus zurückkehrten, da fühlte er, daß er verliebt sei, und die Erregung seines Herzens sagte ihm, daß die Schöne mit dem niedlichen Fuß ihm nicht nur eine flüchtige Neigung, sondern wahre Liebe eingeflößt habe.

Von da ab galten alle anderen Gegenstände seiner Bewunderung ihm nichts mehr, die Schöne vom Boulevard hatte alle verdunkelt … Aber wie konnte er sich Eingang in ihr Haus verschaffen? Er kannte niemand, der mit Herrn de la Grange bekannt war und ihn hätte einführen können. Inzwischen kam er aber alle Tage wieder und hatte oft die Freude, den Gegenstand seiner Begeisterung zu erblicken. Seine Leidenschaft wurde täglich stärker und stieg nach sechs Wochen auf einen Punkt, daß er keine Ruhe mehr hatte. Endlich wurde auch Viktoria auf ihn aufmerksam. Sie sprach darüber mit ihrer Stiefmutter und bemerkte ihr, daß sie ihn nicht übel fände und sich von seinen Huldigungen geschmeichelt fühle. Madame de la Grange schien den Worten ihrer Stieftochter nicht viel Beachtung zu schenken. Sobald sie aber allein war, beauftragte sie einen alten vertrauten Diener, sich nach dem jungen Mann zu erkundigen. Der Diener folgte Saintepallaie auf Schritt und Tritt, sah ihn in sein Haus treten, erkundigte sich nach seinem Namen, Vermögen, Ruf usw. und kehrte wohlunterrichtet zurück, um seiner Herrin Rechenschaft abzulegen.

Anderen Tages erschien Saintepallaie wieder zur gewohnten Stunde. Viktoria war allein im Garten. Sie kam jetzt auch immer regelmäßiger, ohne es vielleicht zu beabsichtigen. Als sie ihn erblickte, näherte sie sich unbefangen dem Gitter und prüfte sein Äußeres, soweit es angängig war. Er schien sie zu interessieren. Die Züge des jungen Mannes, besonders die Augen, erschienen belebt durch den Ausdruck von Bewunderung, mit der er sie anblickte. Viktoria hatte alle Muße, sich davon Rechenschaft zu geben, denn sie konnte ihn ungeniert in den Pausen ansehen, wo er die Augen senkte, um sie auf ihren Füßen ruhen zu lassen. Sie ging darauf zu Madame de la Grange, um sie davon zu benachrichtigen, daß der Unbekannte auf dem Boulevard spazierenginge, und fügte hinzu:

»Aber ich habe eine sonderbare Entdeckung gemacht, Mama, er sieht beständig meine Füße an!«

»Das ist ja eigentümlich! Das muß ich selbst sehen … Sie trat mit ihrer Tochter ans Gitter und hatte Gelegenheit, dieselbe Bemerkung zu machen. Dann promenierten sie im Garten, und Madame de la Grange sagte mit fröhlicher Miene zu ihrer Stieftochter:

»Der junge Mann heißt de Saintepallaie, er ist reich, unabhängig und bekleidet ein ehrenvolles Amt, das er tadellos ausfüllt, er führt einen einwandfreien Lebenswandel, wenn er dich liebt, so wollen wir ruhig abwarten, bis er seinen Besuch macht.«

»Oh, Mama! Sie kennen ihn?«

»Ich weiß von ihm nur, was ich dir eben gesagt habe. Darauf wollen wir uns vorläufig beschränken.«

»Sie haben recht! Es würde sich für mich nicht passen, wenn ich mich mit einem Unbekannten beschäftigte.«

Indessen beachtete Viktoria ihren Bewunderer nach diesem Gespräch etwas aufmerksamer, als vorher, und Madame de la Grange fuhr fort, sie über das Ergebnis ihrer Nachforschungen auf dem laufenden zu halten.

So vergingen drei Monate, als folgendes sich ereignete. Viktoria hatte seit einiger Zeit schon bemerkt, daß ihr Schuster sich in Eleganz und reicher Ausstattung ihres Schuhwerks plötzlich selbst übertraf, und war davon überrascht. Sie hatte ferner bemerkt, daß sie häufiger, als früher, neue Schuhe von ihm geliefert bekam, ohne daß die Rechnung größer wurde. Sie sprach darüber mit ihrer Stiefmutter, die dazu lächelte und bemerkte:

»Dahinter müssen wir kommen …«

Hortense ließ den uns bereits bekannten Schuster in der Rue des Vieux Augustins, der ihr Lieferant war, insgeheim kommen und verlangte von ihm die Wahrheit zu wissen,

»Es ist richtig,« antwortete er, »daß ich Ihnen seit einiger Zeit mehr liefere, als sie bezahlen. Da ist aber ein junger, sehr liebenswürdiger Herr, der mir die Form und Farbe der Schuhe vorschreibt, sie bezahlt und mir versichert, daß er Fräulein de la Grange, die Älteste, zu heiraten hofft.«

»Dann müssen sie aber mit jemand hier im Hause im Einvernehmen sein?«

»Da ich nichts Böses dabei fand, so habe ich Ihre Zofe Margarete dazu überredet, mich etwas verdienen zu lassen, ohne irgend jemanden zu schädigen, indem sie die Schuhe des Fräuleins, die dieses schon getragen hat, gegen neue umtauscht.

»Ohne Belohnung?«

»Gewiß, Madame, ohne irgendwelche Belohnung. Sie gab mir die alten, die ich dem freigebigen Herrn einhändigte. Oh! wenn sie sie bei ihm sehen würden! Er hat alle die getragenen Schuhe des Fräuleins auf Regale gestellt und mit Gaze bedeckt, wie man es mit Uhren tut, um jedes Stäubchen davon abzuhalten, und betrachtet sie mit einer Ehrfurcht, die mich rührt, Madame.«

Hortense, die nun wußte, woran sie war, entließ den Schuster und befahl ihm, weder ihrer Tochter noch der Zofe ein Wort davon zu sagen. Da sie ihm nichts über die Fortsetzung seiner Tätigkeit gesagt hatte, so arbeitete er in gewohnter Weise weiter, ohne von dem Gespräch Saintepallaie etwas zu sagen, da er von diesem Vorwürfe über seine Indiskretion hören zu müssen fürchtete.

Viktoria schloß aber in Zukunft ihre Schuhe so gut ein, daß man ihr die getragenen nicht mehr wegnehmen konnte, wenn sie es auch nicht verhindern konnte, daß ihr immer mehr neue geliefert wurden. Saintepallaie hatte ihr ein Paar anfertigen lassen, die von höchster Eleganz waren, sie waren von rosafarbenem Seidenmoiré, mit grünen Absätzen und Kappen und reicher Stickerei. Viktoria fand sie nach ihrem Geschmack und zog sie an, so daß Saintepallaie am nächsten Tage schon ihre Füßchen darin bewundern konnte. Als er sie aber zurückhaben wollte, wurde ihm mitgeteilt, daß sei nicht mehr möglich, da das Fräulein jetzt die Schuhe einschlösse. Der junge Liebhaber wurde durch solche Hindernisse nur noch mehr entflammt und versprach dem Schuster eine hohe Belohnung, wenn er die Schuhe eintauschen könnte. Aber alles war vergebens, und Margarete verlor ihre Zeit und Mühe. Saintepallaie war ärgerlich über ein solches Mißgeschick, das ihn hinderte, seine Sammlung zu vervollständigen, wußte aber nicht, wie er es anstellen sollte, um sich eines Schatzes zu bemächtigen, dem der Fuß seiner Angebeteten einen so hohen Wert verlieh. Mehrere Tage ging er auf dem Boulevard spazieren, ohne an Viktoria die reizenden Schuhe zu bemerken. Endlich nach vier oder fünf Tagen trug sie sie zum zweiten Male. Diesmal sollte sein Wunsch erfüllt werden. Viktoria nahm ihren Platz am Gitter und setzte den Fuß auf den unteren Querbalken. Es war an einem Septemberabend gegen 7 Uhr und schon etwas dunkel. Saintepallaie nutzte diese Umstände aus: er war hinter einem Baum versteckt, bückte sich, ergriff einen der Schuhe am Absatz und zog ihn ohne Mühe von dem reizenden Fuß, den er schmückte, herunter, indem er dabei ausrief: »Amor! Gestatte du mir diesen Raub!« Viktoria stieß einen leisen Schrei aus. Sie glaubte, ein Gassenjunge spielte ihr diesen Streich, um die Schnalle zu rauben, die sehr schön war. Als sie aber aufgestanden war, bemerkte sie ihren Anbeter, der mit hastigen Schritten davoneilte. Sie war ein wenig ärgerlich über sein unehrerbietiges Gebaren, ohne aber gerade in Zorn zu geraten, und hinkte davon, um gleich ihrer Stiefmutter über den Vorfall zu berichten, die darüber äußerst erstaunt zu sein schien. Inzwischen war aber der alte Diener, der von Madame de la Grange beauftragt worden war, Saintepallaie stets zu beobachten, und der den Raub mit angesehen hatte, dem jungen Manne nachgeeilt, hatte ihn an der Ecke der Rue du Temple eingeholt und ihn zur Rede gestellt:

»Mein Herr, wollen sie mir gefälligst sagen, was Sie mit dem Schuh unseres Fräuleins anfangen wollen ?«

»Oh! mein Lieber, ich werde ihn ihr wiedergeben, aber nur ihr persönlich. Er ist so schön, daß ich vorher ein Modell davon anfertigen lassen will. Sie kennen den Schuster Ihrer Herrin, gehen sie mit mir zu ihm. Der Diener machte Schwierigkeiten, aber Saintepallaie benutzte einen günstigen Augenblick, als gerade viel Wagen vorüberfuhren, um zu verschwinden, nachdem er seine Börse in den Hut des Dieners geworfen hatte.

Am nächsten Tage schrieb er folgenden Brief an Fräulein de la Grange:

»Mein Fräulein,

Meiner gestrigen Kühnheit füge ich heute eine neue hinzu. Aber sie müssen mir beide verzeihen, wenn Sie nicht einen Menschen zur Verzweiflung bringen wollen, der nur lebt, um Sie anzubeten. Der Grund für die beiden Handlungen, derenwegen ich Sie um Verzeihung bitte, ist ein zu ehrenwerter, als daß Sie darüber beleidigt sein könnten. Die Glut meiner Gefühle für Sie nimmt mir die Vernunft, aber die Hochachtung, die damit verbunden ist, und meine tiefe Ergebenheit für Sie müssen mir Ihre Verzeihung gewinnen. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, im Besitz eines ehrlich erworbenen Vermögens und eines ehrenvollen Amtes. Ich bitte Sie um die Erlaubnis, mich Ihnen nähern zu dürfen, damit Sie sich ein Urteil bilden können, ob mein Äußeres Ihnen zusagt. Meine Gefühle für sie, mein verehrtes Fräulein, sind Ihrer würdig. Wenn ich mich Ihnen gegenüber so eigentümlich aufgeführt habe, so müssen Sie dafür den unbeschreiblichen Zauber verantwortlich machen, der von Ihrer Person ausgeht und mich besiegt hat. Wollen sie mir zum Verbrechen anrechnen, wenn ich lebhafter als ein anderer die Wirkung Ihrer Reize empfinde? Ich habe ihnen nicht widerstehen können, und deshalb mußte ich mein Herz erleichtern, das war unbedingt notwendig.

Ich bin, verehrtes Fräulein, in tiefster Ehrerbietung Ihr sehr ergebener Diener

D. L. C. de Saintepallaie.«

Adresse: »An Madame de la Grange, in der Nähe des Boulevard du Temple.«

»P. S.«

»Madame,

»Ich wage es, diesen Brief an sie zu richten, und bitte Sie, mir einige Augenblicke Gehör zu schenken. Sie sind eine liebevolle Mutter, und ich bete Ihre Tochter an. Deshalb verdiene ich wenigstens, von Ihnen gehört zu werden.

Ich bin mit vorzüglicher Hochachtung, Madame, D. L. C. de Saintepallaie.«

Nachdem Hortense diese Zeilen gelesen hatte, händigte sie sofort, ohne erst ihrer Stieftochter davon Mitteilung zu machen, dem Lakeien des Anbeters folgenden Brief mit ihrer Antwort ein:

»Mein Herr,

Ich willige darin ein, Sie zu empfangen. Ich habe Ihnen vorläufig nichts weiter zu sagen, das werden sie begreiflich finden. Ich erwarte Sie also und bin, mein Herr, Ihre ergebenste

Hortense de la Grange
geborene de Fouchi.«

Saintepallaie fand den Ton des Briefchens etwas schroff und wußte nicht, was er davon halten sollte. Doch begab er sich sofort zu Madame de la Grange. Der alte Diener, den er bereits kannte, führte ihn bei ihr ein.

»Ich stehe zu Ihren Diensten, Madame.«

»Gut. Verständigen wir uns miteinander, mein Herr … Es scheint, Sie lieben Fräulein de la Grange?«

»Ich bete sie an, Madame.«

»Das Glück des jungen Mädchens ist, seitdem ich vor zehn Jahren ihren Vater geheiratet habe, meine ständige Aufgabe, sie ist mir so teuer, wie wenn sie mein eigen Fleisch und Blut wäre. Um ihr Glück zu begründen, bin ich auf folgenden Gedanken verfallen: ich lasse in meinem Haufe eine Gesellschaft liebenswürdiger junger Leute zusammenkommen, die sich bei mir in ehrenhafter Weise vergnügen, nur zu dem Zweck, damit Viktoria, ihre Schwestern und auch ihr Bruder eine Wahl fürs Leben treffen können, die ihr Glück auf einer festen Basis begründen soll. Ich sah für Viktoria, bereits eine andere günstige Partie voraus, als sie anfingen, sich in der Umgebung unseres Hauses bemerkbar zu machen durch ein außergewöhnliches Betragen, ich denke, Sie werden den Ausdruck nicht zu hart finden. Der junge Mann, auf den, wie ich dachte, Viktoria ihr Auge werfen würde – denn, mein Herr, sie soll selbst die Wahl treffen, nicht ich – ist reich, liebenswert, sittenrein, sein Charakter, sein Geist, sein Herz, alles ist vorzüglich, besonders seine Denkungsart würde eine Frau glücklich machen können, er ist kein Leichtfuß, den nur die Sinne mit sich fortreißen. Wenn sie nun denken, mein Herr, daß Sie für meine Tochter eine bessere Partie sind, dann erklären sie sich. Ich werde meine Handlungsweise nach dem richten, was sie mir sagen werden, aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß nicht ich es bin, die zu bestimmen hat, sondern daß Sie von Viktoria vorgezogen und wahrhaft geliebt werden müssen, um deren Hand zu erhalten.«

»Ihre Sprache, Madame, so sehr sie auch von der Vernunft eingegeben ist, überrascht mich und schüchtert mich ein! Wie kann ich es wagen, von mir zu behaupten, ich besäße glänzendere Eigenschaften, als der Mann, von dem Sie mir soeben ein so blendendes Porträt gezeichnet haben? Eines aber schwöre ich Ihnen, daß ich bei gleicher Ehrbarkeit, wie der junge Mann, Viktoria millionenmal mehr liebe, als er! Ihr Fräulein Tochter ist in meinen Augen ein himmlisches Geschöpf, das mein ganzes Wesen gefangen genommen hat: Ich bete Sie und alles, was sie umgibt, an, was sie berührt, ist ein Kleinod für mich. Ach, Madame, es gilt mein Leben, daß ich von ihr geliebt werde, ich würde sterben, wenn ich den Gegenstand meiner Liebe und Verehrung in den Armen eines anderen sähe! Wie soll ich Ihnen ausdrücken, welche Gefühle sie mir einflößt! Dazu bin ich außerstande, dazu fehlen mir die Worte! Wenn mir das Glück zuteil werden sollte, sie mir zu erobern, dann wird sie von mir vergöttert werden, wie es nie einer Frau geschah! Meine unauslöschliche Liebe zu ihr würde um meine Gottheit den Zauber verbreiten, den mein Herz empfindet, den ich fühle, ohne Worte dafür zu haben! … Wenn ich nur an sie denke, schwillt meine Seele in köstlichem Entzücken dahin, wenn ich mir vorstelle, daß ich sie gewonnen hätte, daß sie mein wäre, dann gibt mir meine Phantasie, erhitzt durch die Regungen meines Herzens, tausend reizende, köstliche Gedanken ein, die ich ihr sagen möchte. Ein Wort, ein Lächeln von ihr würde mich glücklich machen. Und sollte sie mich hassen – bisweilen denke ich es –, dann würde meine gefühlvolle Seele sie doch noch anbeten, anbeten sogar ihre Ungerechtigkeit und ihre Grausamkeit, und ich würde sie zu rühren und andere Gefühle in ihr zu erwecken wissen. Sollte sie Mißbrauch treiben mit ihrer Gewalt über mich und meine Liebe, so wäre ich darüber doch nicht unglücklich, und sie würde zufrieden mit mir sein! Was würde es mir ausmachen, wenn sie ungerecht zu mir wäre, ich würde sie dennoch vergöttern!«

»Sie sind liebestrunken,« unterbrach ihn Madame de la Grange lächelnd, »ein solcher Zustand flößt nicht viel Vertrauen ein.«

»Verzeihung, Madame, die Ohnmacht, Ihnen meine Gefühle zu schildern, läßt mich so sprechen.«

»Solche zärtlichen Männer werden manchmal die Schlimmsten Tyrannen, Herr de Saintepallaie!«

»Verehrte Frau, alles, was ich Ihnen sagen könnte, um Ihnen zu beweisen, daß ich das nie sein werde, würde Ihnen schwach erscheinen. Ich kann Ihnen nur versichern, daß ich mich hüten werde, ein solcher zu sein! Ich würde mich dadurch nur gehässig machen.«

»Was mich im Interesse Ihrer Zukünftigen, wer sie auch sein mag, beruhigt, ist die Gewißheit, daß ein so verheerendes Feuer nicht lange dauert.«

»Mein ganzes Leben, Madame, werde ich der schönen Viktoria angehören!«

»Wir werden uns wiedersehen, Herr de Saintepallaie, Sie werden jetzt meine Stieftochter begrüßen, aber ich bitte Sie, mäßigen sie Ihre Worte ihr gegenüber, es ist noch nicht an der Zeit, ihr von Liebe zu sprechen.«

»Ich werde Ihnen gehorchen, Madame, so gut ich kann …«

Madame de la Grange ließ Viktoria zu sich bitten. Als sie Saintepallaie sah, errötete sie und stand sprachlos da.

»Mein liebes Kind,« sagte ihre Stiefmutter zu ihr, »der Herr hat an uns beide diesen Brief hier geschrieben. Ich habe ihm darauf geantwortet, und sein Besuch ist die Folge meiner Antwort. Da lies.«

Während Viktoria las, sagte Madame de la Grange zu Saintepallaie:

»Meine Tochter wußte noch nichts von Ihrem Brief. Ich wollte Sie erst kennen lernen, bevor ich ihn ihr zu lesen gab. Sie sehen, wie offen ich handle, in Ihrer Gegenwart liest sie ihn nun. Ich lade Sie zu unseren kleinen Festlichkeiten ein, da können wir uns gegenseitig besser kennen lernen. Bis es so weit ist, soll von nichts anderem die Rede sein. Fräulein de la Grange liest Ihre Erklärung, Sie brauchen sie ihr daher nicht mündlich zu wiederholen. Sie weiß nun, daß Sie sie lieben, jetzt ist es an ihr, Ihr Herz zu prüfen, und an Ihnen, sich so zu zeigen, wie Sie sind. Seien sie versichert, daß ich mein teures Kind zu sehr liebe, um Sie nicht, wenn sie sich verstellen sollten, durch andere ausholen zu lassen … Doch sie ist zu Ende … Verlassen sie uns jetzt und kommen sie heute abend wieder. Ich erwarte Sie heute abend und … alle Tage.«

Saintepallaie sah, daß Madame de la Grange Viktoria die Verlegenheit ersparen wollte, mündlich eine Antwort auf den Brief zu erteilen, und zog sich zurück.

Als er gegangen war, sagte Hortense zu ihrer Tochter:

»Nun also, mein liebes Kind, was meinst du dazu?«

»Ich kenne ihn nur vom sehen, seine Gefühle lehrt mich der Brief, was soll ich tun, Mama?«

»Studiere du seinen Charakter, während ich Erkundigungen einziehen will. Gefällt er dir, dann befrage dein Herz. Bis du dich entschieden hast, will ich dir weiter nichts über seine Leidenschaft, seine besondere Art von Verliebtheit sagen. Dein Herz allein soll deine Wahl leiten … Sollte ich jedoch inzwischen durchaus Schlechtes über ihn erfahren, dann würde ich dich sofort warnen.«

»Oh! Das erwarte ich nicht anders, liebe Mama.«

»Sein Gesicht?«

»Ist sehr schön.«

»Erscheint er dir liebenswert?«

»Gewiss! Ich wünschte … du weißt, liebe Mama, daß ich mit dir stets aufrichtig bin? Ich wünschte also, daß ein Mann, der so verliebt zu sein scheint, verdienen würde, von mir vorgezogen zu werden.«

»Wir wollen sehen, ich werde darüber eines Tages mit dir sprechen. Inzwischen wollen wir ihn prüfen, besonders jetzt, wo wir noch unparteiisch sind, denn wenn wir damit zu lange warten, dann könnte ein kleiner Verräter kommen und uns eine Binde um die Augen legen, und dann sähen wir gar nichts mehr.«

Saintepallaie verfehlte natürlich nicht, am gleichen Abend der Einladung Folge zu leisten. Aber seine Leidenschaft hatte ihn zu sehr gefangen genommen, als daß er sich gut unterhalten hätte. Er machte Madame de la Grange den Hof, während seine Blicke beständig Viktoria verfolgten. Er tanzte mit ihr ein Menuett. Am folgenden Tage ließ er sich eine Rolle im Ballett: Das Urteil des Paris zuerteilen, das gerade einstudiert wurde. Der Proben wegen mußte er von nun an täglich zwei Besuche machen. Viktoria gab die Venus, Saintepallaie den Paris.

Der alte Grundsatz: liebe, wenn du wieder geliebt werden willst, sollte auch in diesem Falle bald zur Wahrheit werden. Saintepallaie liebte mit inniger Begeisterung, und bald fühlte Viktoria, daß ihr Herz auch für ihn schlug, was Madame de la Grange vielleicht noch früher als sie selber bemerkte. Als die ausgezeichnete Frau dessen ganz sicher war, nahm sie ihre Stieftochter beiseite und fragte sie:

»Nun, wie gefällt dir dein sonderbarer Liebhaber?«

»Nicht übel: was hältst du von ihm?«

»Ich finde ihn auch sehr nett.«

»Er ist es auch in der Tat.«

»Meinst du, ihn innig genug zu lieben, um dafür einstehen zu können, daß du ihn ewig lieben wirst?«

»Ich stehe jedenfalls dafür ein, liebe Mama, daß ich ihn allen andern vorziehe.«

»Das ist schon etwas, aber um sich zu verheiraten, um Freiheit und alles, was eine Frau ihrem Mann opfern kann, hinzugeben, dazu ist es nicht genug. Dazu ist eine lebhafte Neigung nötig, die dir den Geliebten als einen Gott erscheinen läßt. Bist du schon so weit?«

»Oh, mein Gott! Nein!«

»Dann wollen wir noch abwarten.«

»Gewiß, das wollen wir.«

»Aber er dringt so in mich.«

»Herr de Saintepallaie drängt dich, Mama?«

»Sehr! … Er hat mich gebeten, deine Gefühle für ihn zu prüfen.«

»Um die Wahrheit zu sagen, Mama, … ich glaube, ich liebe ihn …, aber doch nicht so, wie Sie sagen.«

»Er liebt dich jedenfalls so, wie ich sage, meine liebe, gute Freundin, du wirst glücklich sein, wie ich es stets gewünscht habe, ja, das wirst du, das schließe ich aus seiner ganzen Art zu lieben. Du bist schön, mehr als schön, denn du bist reizend! Aber, liebe Tochter, wieviel schöne Frauen sind nachher nicht vernachlässigt worden! Und warum? Weil sie Automaten geheiratet haben, die weder Schönheit noch Anmut, nicht einmal das Verdienst an ihrer Frau zu schätzen wissen. Bisweilen war es auch ihre eigene Schuld. Aber dein Freier weiß, was du wert bist, und spricht mit Begeisterung von dem geringsten deiner Vorzüge, nichts entgeht ihm, er hat dich ganz studiert, alles erfaßt und ist ganz Bewunderung und Anbetung. Die sonderbare Schwärmerei, du weißt, die ihn dahinführte, deinen Schuster zu bestechen, und ihn die Indiskretion begehen ließ, die seinen Brief verursacht hat, sie deutet auf einen Mann, der äußerst zarte Organe besitzt und eines tiefen, wenngleich heftigen Gefühles fähig ist. Diese Schwärmerei gibt dir das Mittel an die Hand, ihm immer zu gefallen. Wie anders ist dagegen eine Frau daran, die mit einem rohen Patron verheiratet ist, der gegen alles unempfindlich ist? Du glaubst nicht, wie sehr mich gerade dieser eigentümliche Geschmack deines Freiers zu seinen Gunsten eingenommen hat! So sehr, daß ich ihn vom ersten Tage an, wo du mir von ihm sprachst, habe beobachten lassen, weil ich ihn kennen lernen wollte. Verkenne niemals die Macht dieses Vorteils, den du über ihn hast, und pflege deinen Fuß, dessen Schönheit sicherlich Ursache deines Glückes werden wird, mit allen Mitteln, die du mich hast anwenden sehen und die ich euch beigebracht habe, ohne daß ihr den Grund dafür kanntet: ein gut gemachter, gut passender, aber nicht drückender Schuh, im Hause nie Schuhe getragen, nur Pantoffeln, sofortiges Einschreiten gegen den geringsten Druck, der Beobachtung dieser Grundsätze verdankt ihr alle euere vollkommen schönen Füße, als wenn ihr überhaupt stets nur jene hübschen Filzschuhe getragen hättet, die ihr im Winter gegen die Kälte anzieht, denn Kälte entstellt auch die Schönheit des Fußes. Ich würde ohne meinen Gatten, der die Schwärmerei Saintepallaies für einen schönen Fuß teilt, nie den Wert eines solchen Vorteils kennen gelernt haben, mit dem die Natur auch mich begünstigt hat und den ich gegen die Einwirkungen des Alters zu schützen gewußt habe. Also, liebes Kind, ich spreche aus Erfahrung und verbürge dir dein Glück. Ich sehe die zukünftige Haltung deines Freiers im Geiste voraus, teils weil ich Vergleiche angestellt, teils weil ich ihn genau studiert habe. Die Männer, liebes Kind, die diesen Geschmack besitzen, sind indessen äußerst empfindlich im Punkte der Reinlichkeit. Da ihnen nichts gleichgültig ist, so entgeht ihnen keiner unserer geringsten Vorzüge, sie bemerken aber dagegen auch die geringste Nachlässigkeit an unserm Körper und leiden darunter. Um ihnen die Illusion zu belassen, daß eine Frau ein Engel ist, muß diese mit peinlichster Sorgfalt darauf achten, daß ihnen jeder abschreckende Eindruck erspart bleibt: die Reinheit des Schuhwerks muß für sie das Symbol der Reinheit des ganzen Körpers sein. Wenn schon das, was die Erde berührt, so rein ist, denken diese Männer gewöhnlich, wie muß dann der Rest sein? Unser ganzes Wesen muß ein appetitliches Objekt sein, aus dem man auf die Reinheit unserer Seele schließen kann. Ich habe dir über diesen Punkt praktische Lehren erteilt, und ich denke, du verstehst, was ich meine, wir würden uns beide langweilen, wenn ich alles noch einmal wiederholen wollte, ich will mich nur dahin zusammenfassen: eine Frau müßte so viel Waschungen vornehmen, wie der frömmste der Muselmänner …! Doch ich komme auf deinen Freier zurück: ich gebe ihm meine Stimme.«

»Und ich, teure Mama, gebe sie ihm auch. Was sie mir soeben gesagt haben, hat mir meine letzten Bedenken genommen.«

»Du darfst deiner Neigung allein Gehör schenken.«

»Das ist auch der Fall, teure Stiefmutter. Wenn Sie wüßten, wie liebe Sachen er mir täglich zuflüstert! Wie er mir mit einem Wort seine Liebe schildert! Gestern ruhten wir uns nach dem Tanz aus, ich war erhitzt, zog meine Handschuhe aus und gab sie ihm in der Zerstreutheit. Einen Augenblick Später wollte ich sie ihm wieder abnehmen und fühlte dabei seine Hand zittern. – ›Was haben sie?‹ fragte ich ihn. – ›Es ist die Wirkung Ihrer Handschuhe: sie haben in mir das Fieber der Liebe entzündet, berühren sie meine Hand, Angebetete, und Sie werden mein Herz bis in die Fingerspitzen schlagen fühlen.‹«

»Je mehr diese Liebe, mein Kind, geeignet ist, dich glücklich zu machen, desto mehr mußt du alles daran setzen, sie dir zu bewahren: ahme nicht die Frauen nach, die sich damit begnügen, geliebt zu werden, und dabei versäumen, alles zu tun, um noch mehr geliebt zu werden, man muß nie meinen, es sei nun genug, sondern alle seine Kraft auswenden, um ein Herz, das einem schon gehört, noch weiter an sich zu fesseln. Alle unsere Gefühle müssen darauf gerichtet sein: Achtung, Ehrerbietung, Dankbarkeit, Bewunderung, wir müssen Sogar die Alltäglichkeit des Lebens zu unseren Gunsten ausnützen, uns unentbehrlich machen, dem Gatten den Aufenthalt in seinem Hause angenehm, ruhig, so fröhlich wie möglich gestalten, dadurch fesseln wir ihn ans Haus und an uns. Du hast gesehen, liebe Tochter, wie ich es mit deinem Vater gemacht habe. Er liebte mich, als er mich heiratete, Sobald ich aber seine Frau war, wandte ich alle Mittel an, um noch heißer von ihm geliebt zu werden. Ich kannte dich noch nicht, konnte dich daher auch nicht lieben. Das erste aber, was ich tat, um meinen ehrenwerten Mann mir noch mehr zugetan zu machen, war, dich zu lieben und deine Liebe zu gewinnen. Der Erfolg hat alle mein Erwartungen übertroffen, weil ich liebe Kinder antraf, die ihrer Eltern würdig waren, denn auch eure Mutter war ein göttliches Wesen! … Du weinst, teure Viktoria, wie liebe ich deine Empfindsamkeit! Ehre ihr Andenken und laß deine Tränen fließen …«

»Oh, Mama! sie fließen für sie und für dich, euch beiden gilt meine Rührung, und ich segne den Himmel, der mir, nachdem er mir die Mutter genommen hatte, ihr Herz in dir wiedergeschenkt hat! …«

»Ich habe nur eins im Auge gehabt: dein Glück. Doch war auch ein bißchen Egoismus dabei im Spiel, denn von deinem Glück hing auch das meinige ab.«

Nach dieser Unterredung war Madame de la Grange davon überzeugt, daß ihre Stieftochter Saintepallaie hinreichend liebte, um ohne Gefahr seine Frau zu werden. Sie beschäftigte sich von nun an mit den Vorbereitungen zur Hochzeit, wozu ihr Mann ihr alle Freiheit ließ. Er wußte, daß sie davon einen guten Gebrauch machen würde.

Als Saintepallaie am andern Morgen kam, bat ihn Madame de la Grange zu sich, bevor er ihre Stieftochter sah und fragte ihn:

»Haben sie es immer noch so eilig, Viktorias Gatte zu werden? Ja? Nun gut, in sechs Monaten denn!«

»Ach, Madame! so lange noch?«

»Also dann in drei Monaten!«

»Das sind für mich drei Jahrhunderte!«

»Mein letztes Wort: in einem Monat.«

»Ich wage mich nicht mehr zu beklagen. Wenn es aber nach mir ginge, dann morgen oder heute abend.«

»In einem Monat! Und daran knüpfe ich noch eine Bedingung: ich verlange einen Beweis, einen unzweideutigen Beweis, das zarte Eingeständnis Viktorias, daß sie Sie liebt … Sie sehen, daß ich nicht anderen Müttern gleiche, sondern ein eignes System befolge. Ich kenne nur zwei Wege, um meine Kinder zu verheiraten: der eine ist der, den ich befolge, nämlich sie müssen lieben, so lieben, daß über ihre Gefühle kein Zweifel bestehen kann, der andere Weg ist: sie überhaupt nicht zu befragen und nicht zu dulden, daß sie vor der Hochzeit mit ihrem Zukünftigen auch nur ein Wort wechseln, damit sie weder Liebe noch Haß fühlen. In diesem Falle würde ein vernünftiges Mädchen, das durch die Notwendigkeit zur Eingehung einer Ehe gezwungen wird, alles gelassen hinnehmen, wenn es sich auf Schlimmeres gefaßt gemacht hat, und sich glücklich fühlen, wenn es sieht, daß es weniger schlecht daran ist, als es sich vorgestellt hat… Ich scherze nicht, Herr de Saintepallaie, es gibt nur diese zwei Wege. Ich habe den ersteren gewählt und will, daß er bis zum Ende begangen wird. Es ist freilich keine kleine Aufgäbe für sie, mir diesen Beweis zu liefern, und ich bin darüber etwas unruhig!«

»Aber welches Glück auch für mich, wenn ich Ihre Bedingung erfülle!«

»Arbeiten sie mit aller Energie daran.«

Und sie führte ihn durch ihre Wohnung hindurch in die Räume ihrer Stieftochter. Viktoria war abwesend, wie sie wohl wußte. Auf einem Sofa lagen verschiedene Bekleidungsgegenstände, darunter auch ein Paar niedliche Schuhe, die Viktoria angeprobt hatte. Saintepallaie besah sich die hübschen Sachen, sobald er allein war. Madame de la Grange aber holte inzwischen eiligst ihre Stieftochter herbei. Sie wollte ein Experiment machen.

Saintepallaie, allein im Tempel der Schönheit, die er anbetete, ließ seine glühenden Blicke auf allen Gegenständen ruhen, die seiner Göttin dienten. Bald aber bemächtigten sich seine vor Freude zitternden Hände ihrer, und er drückte glühende Küsse auf die Stellen des Kleides, wo es einen Götterbusen oder lilienweiße Schultern und Arme berührt hatte, und auf die niedlichen Schuhe. Das Feuer, das ihn verzehrte, konnte er nicht mehr dämpfen , da rief er begeistert aus:

»Oh, anbetungswertes Mädchen! Alles, was dich berührt, nimmt an dem göttlichen Zauber teil, der dich umgibt!… Leblose Zeugen meiner innigen Liebe, ich beneide euch! Ich wollte, ich könnte eure Form annehmen und euch nur einen kurzen Augenblick vertreten! Ich würde erst zu leben anfangen, könnte ich von diesem kleinen Fuße, dem Inbegriff aller Grazie, getreten werden! …«

Tränen entströmten seinen Augen, und erblieb, die zierlichen Schuhe in den Händen, unbeweglich stehen … »Schöne Viktoria,« fuhr er dann fort, »warum kannst du nicht in mein Inneres schauen und in meiner Seele lesen, wie sehr ich dich liebe, welche Zärtlichkeit ich für dich fühle! … Ja, zarte Gefühle hege ich für dich, keine Gelüste. So heftig meine Wünsche auch sind, so werden sie doch von meiner Zärtlichkeit übertroffen!«

Niederkniend schloß er dann:

»Teures Mädchen, dich bete ich an, ja du bist, das fühle ich, meine Gottheit …! Ihr Gegenstände, die ihr sie verschönt, empfängt meine Huldigung! …« Er erhob sich in einer Art von Verzückung. In diesem Augenblick betrat Madame de la Grange, die wohl ahnen mochte, was sich ereignen würde, mit ihrer Stieftochter das Zimmer, und Saintepallaie stürzte bewegt, außer sich, Viktoria zu Füßen, indem er ausrief:

»Ich liebe Sie, wie noch kein weibliches Wesen geliebt worden ist. Ein Wort aus Ihrem schönen Munde wird mein Geschick entscheiden. Sprechen sie es hier aus, hier vor Ihrer Mutter, die Sie liebt.«

»Ich bin für Ihre zärtlichen Gefühle nicht unempfindlich,« entgegnete darauf Viktoria tief errötend … »Glaube es, liebe Mama, nicht unempfindlich … Oh! mein Gott! …«

Schon hatte er sie in seine Arme geschlossen, auf das Sofa gesetzt, war vor ihr niedergekniet und hatte heiße Küsse auf ihre Füße gedrückt. »Eine Liebe ohne Grenzen«, rief er aus, »betet alles an!«

»In einem Monat, Herr de Saintepallaie, oder in vierzehn Tagen, das verspreche ich Ihnen, können sie sich Viktorias Antwort holen …!«, sagte darauf Madame de la Grange zu ihm, um Viktorien, die von der Freiheit, die ihr Geliebter sich herausgenommen hatte, noch ganz bewegt war, Zeit zu geben, sich zu fassen.

Die Heirat fand 14 Tage später statt. Man konnte sich nichts Reicheres und Koketteres vorstellen, als die Schuhe der Braut: sie waren aus Perlmutter mit einer Blume in Diamanten verziert, die Seiten und Absätze waren in Brillanten gefaßt. Sie hatten 6000 Franken gekostet, nicht eingerechnet die Diamanten der Blumen, die drei oder viermal mehr gekostet hatten. Sie waren ein Geschenk Saintepallaies.

Als er am Abend mit seiner reizenden Frau allein war, kniete er vor ihr hin und zog die schönen Schuhe von ihren niedlichen Füßen herunter, er ersetzte sie durch Pantoffel, die nicht weniger kokett, aber nicht so kostbar waren. Die Schuhe legte er in einem kleinen, durchsichtigen Tempelbau nieder, und zwar in dessen Mitte, einer Rotunde, deren Kuppel auf jonischen Säulen aus Kristall und mit vergoldeten Kapitalen ruhte. Dort bewahrte er sie als das Pfand einer Liebe, die ewig währen sollte. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, und zehnmal haben sie dem Gebrauche gedient, nämlich an jedem Jahrestage der Hochzeit.

Sei es, daß die Verehrung, die Saintepallaie seiner Gemahlin entgegenbringt, seine Liebe lebendig erhält, sei es, daß Viktoria, unterstützt von den weisen Ratschlagen ihrer ausgezeichneten Stiefmutter, über wirksame Mittel verfügt, die anderen Frauen unbekannt sind, oder daß endlich Männer mit Geschmacksneigungen, wie Saintepallaie sie hat, tatsächlich liebevoller und leichter in ihrem Liebesrausche zu erhalten sind, jedenfalls sind die Liebesgefühle dieses leidenschaftlichen Mannes für seine Frau stets die gleichen geblieben. Madame de la Grange ist der Ansicht, daß wohl alles zusammen dazu beiträgt. Der Gatte der schönen Viktoria läßt sich, obwohl er sehr viel zu tun hat und keine seiner Verpflichtungen vernachlässigt, die Toilette seiner Frau angelegen sein: er trifft die Wahl, und Viktoria findet, daß er sie gut trifft. Im ersten Jahre ihrer Ehe hatte der Schuster den Auftrag, jeden Tag ein Paar neue Schuhe zu liefern, deren Farbe und Stickerei Saintepallaie vorschrieb. Er nahm sie auch in Empfang, seine Gattin trug sie einen Tag, dann nahm er sie wieder an sich und schloß sie in Glasschränke ein. Im zweiten Jahre ließ er nur weiße Schuhe anfertigen. Stets waren auf diese Weise seine Gedanken mit seiner Frau und ihrer Anmut beschäftigt. Sie war sein Abgott, seine Göttin, sein Kultus. So verflossen zehn Jahre. Drei liebliche Kinder, die alle die Schönheit der Mutter geerbt haben, konnten ihr nichts von ihrer Schönheit nehmen: innere Befriedigung und das vollkommene Glück, dessen sie genießt, haben ihr die Rosen der Jugend in voller Frische bewahrt.

»Nun also, mein liebes Kind!« sagte Madame de la Grange eines Tages zu ihr, »hatte ich es dir nicht vorhergesagt, daß Ehemänner, die ihre Frauen anbeten, länger zu lieben verstehen, ja sogar auf ewig, wenn man durch Mittel, wie du sie gebrauchst, ein wenig nachhilft?«

»Ja, liebe Mama, du hattest recht. Aber kannst du fühlen, wie überaus glücklich ich bin?«

»Sprich, liebe Tochter, und nachher werde ich dir wahrheitsgetreu sagen, ob ich mir das richtige Bild davon gemacht habe, oder nicht.«

»Liebe Mama, ich glaube, es gibt keine Lage, die der meinigen gleicht: überzeugt, daß alles, was ich trage, meinem Manne gefällt, weil er selber die Wahl trifft, überzeugt, daß die Reize, die mir die Natur geschenkt hat, ihn entzücken, daß all mein Tun, all meine Handlungen ihm gefallen, habe ich seit zehn Jahren nicht ein einziges Mal ein unangenehmes Gefühl gegen ihn empfunden. Welch köstliches Leben, liebe Mama! Mir ist, wie wenn alles, was ihm an mir gefällt, mir ebenso teuer sei wie ihm. Sie würden kaum glauben, wie große Freude mir meine Toilette macht und wie lieb mir die Sorgfalt ist, die ich anwende, um mich zu verschönern! Wie freue ich mich auf den ersten Blick, den er auf mich wirft! Sein Auge mustert mich dann von oben bis unten und nimmt einen Ausdruck von Ekstase an, der mich bezaubert! Dann lobt er alle Einzelheiten und bewundert alle meine Anmut, nichts entgeht ihm, nicht die geringste kleinste Aufmerksamkeit, die ich ihm erweisen wollte. Manchmal ersucht er mich, auf und ab zu gehen, blickt mir freudestrahlend nach und schließt mich in seine Arme. Dann gibt er mir tausend zärtliche Kosenamen und ebensoviel Küsse, die ich ihm, das kann ich Ihnen versichern, Mama, alle wiedergebe. Und dann betrachtet er seine Lieblingsreize! … Du lieber Gott! wie schmeichelhaft ist es doch für eine Frau, wenn sie etwas so in den Himmel heben hört, worauf die anderen Männer fast gar nicht acht geben! Das deutet bei meinem Mann auf eine lebhafte und anbetende Leidenschaftlichkeit, wie sie es manchmal nennen! … Wenn ich wollte, würde er mir die niedrigsten Dienste leisten, aber ich werde mich hüten, so etwas zu verlangen! Ich habe nicht vergessen, was sie mir eines Tages gesagt haben. Ich verlasse mich nicht auf sein Übermaß von Liebe zu mir, sondern behandle den zuvorkommendsten und liebevollsten aller Männer, als ob er das Gegenteil davon wäre. Ich habe Ihre Ratschläge buchstäblich befolgt. Mein Mann weiß noch nicht, daß ich wirklich nur eine arme Sterbliche bin, die sich mit tausend kleinen unangenehmen Sachen abzufinden hat: alles Abstoßende verberge ich vor ihm mit einer Sorgfalt, als ob es sich um Verbrechen handelte. Nur ungern habe ich ihm erlaubt, in meinen Wehen bisweilen nach mir zu sehen, und auch dann habe ich mich noch zusammengenommen, und ein Lächeln begleitete die heftigsten Schmerzen, Dann zerfloß er in Tränen und küßte mir die Hände, worauf ich ihn fortschickte, um ihn erst im Augenblick der höchsten Freude wiederzusehen. Mama, ich habe die Erfahrung nun gemacht: ja, es ist wahr, daß man sich seinen Mann für sich selbst bewahrt, indem man alles aufbietet, um sich seine Liebe zu erhalten, und da die Liebe das höchste Gut ist, so bewahrt man sich das Glück! … Nun, liebe Mama, hast du dir meine Glückseligkeit so vorgestellt?«

»Doch, liebes Kind! … Denn dein Schicksal, das kann ich dir heute sagen, war das meinige. Vergöttert von deinem Vater, habe ich mein Glück darein gesetzt, das seinige zu begründen … .«

»Und zugleich auch unser aller Glück, Mama! .., Oh! Mama, ich fühle es wirklich, daß man bei Männern, die heftige und ganz bestimmte Neigungen haben … wie die meines guten Gatten, viel mehr Hilfsmittel hat, sie an sich zu fesseln! … Mit einiger Sorgfalt kann man sich diesen Zauber bis ins hohe Alter bewahren, er wird auch dann noch ihre Herzen höher schlagen lassen, wenn alle anderen Reize verschwunden sind.«

»Du hast recht, auch ich kann wohl sagen, daß ich darin noch so jung bin, wie vor fünfzehn Jahren.«

»Das sehe ich, Stiefmütterchen, Sie tragen Schuhe, wie ich, ich kann nicht den geringsten Unterschied daran bemerken.«

Saintepallaie unterbrach durch seinen Eintritt das Gespräch, er kam, seine Frau zu umarmen.

»Mama,« rief diese, »wir wollen uns verstecken und einen Versuch machen!« Sie hüllten sich in eine Gardine ein, die bis zum Fußboden herunterreichte und zeigten jede einen Fuß, Viktoria den rechten, ihre Mutter den linken, so daß beide einer Person anzugehören schienen.

»Lieber Freund,« sagte darauf Viktoria, »nun suche deine Frau«.

»Oh! die werde ich schon an dem verführerischen Gegenstand erkennen, den ich bemerke.«

»Nun also?«

»Ich bin in Verlegenheit! Doch ich werde mein Herz befragen, das wird mich besser führen, als die Augen. Er berührte den rechten Fuß und rief aus:

»Das ist mein Weib.«

»Er hat mich erkannt!«

»Ja, das Herz, aber die Augen ließen sich täuschen, liebe Freundin.«

Als sie sich aus der Gardine wieder herausgewickelt hatten, sagte Saintepallaie zu ihnen:

»Darf man wissen, warum ihr so kindliche Spiele treibt?«

»Nein, das ist Frauengeheimnis und bleibt unter uns!«

»Dann werde ich es achten.«

»Immerhin will ich dir eins gestehen: wir haben vorhin von den Mitteln gesprochen, die ich anwenden muß, um dir immer mehr zu gefallen und dich noch glücklicher zu machen, das ist unser Lieblingsgespräch. Ich habe Mama über meine Tätigkeit in diesem Sinne Bericht erstattet, und sie hat mich beglückwünscht weniger wegen des Wertes der Sorgfalt, die ich aber dabei entfalte, als wegen des Wertes, den dein liebenswürdiger Charakter meiner Tätigkeit beilegt. Sie sagte mir auch, daß es ihr mit ihrem Manne geradeso gegangen sei. Darüber haben wir Vergleiche angestellt, du hast uns unterbrochen, und ich wollte einen Versuch machen, der mir durchaus gelungen ist.«

»Ich danke Ihnen, Mama, für die freundlichen Dienste, die Sie uns stets erwiesen haben,« wandte sich darauf Saintepallaie an Madame de la Grange, ihr die Hand küssend, »und ich will Ihr Verdienst und Ihre Tugenden berühmt machen. Ich werde Ihre Geschichte und die unsrige an Herrn Retif de la Bretonne einwenden, die erste soll benannt werden: ›Die gute Stiefmutter‹, und die unsrige: ›Der schöne Fuß‹. Ganz Frankreich soll wissen, daß es auf der Erde eine Hortense und eine Viktoria gibt, die beide anbetungswürdig sind und beide von ihren Männern vergöttert werden!«

Der Unmann.

2-187

Eine liebenswürdige junge Frau war mit zweiundzwanzig Jahren, nach sechsmonatlicher Ehe mit einem Achtzigjährigen, Witwe geworden, sie wurde von den Erben angeklagt, sie habe den Tod ihres alten Verwandten beschleunigt. Diese Anklage war ebenso lächerlich als unanständig: hatte die Schöne wirklich das Ende des alten Herren beschleunigt, so mußte man ihre Reize beschuldigen, die die eingeschlummerten Naturkräfte wieder zu neuem Leben aufgeweckt hatten, der Greis zeigte sich dadurch neu belebt, wie Funken, die noch unter der Asche glimmen, ein wenig aufglühen, um dann schnell und ohne Wiederkehr ganz zu verschwinden. Obwohl man keine Beweise hatte, setzten doch allerlei Ränke es durch, daß die junge Witwe ihrer Erbschaft verlustig erklärt wurde und dadurch wieder in die Armut zurücksank, aus der die Heirat sie gezogen hatte.

Ihr Prozeß hatte einigen Lärm verursacht. Ein junger, nicht sehr reicher Edelmann war dadurch neugierig geworden, Circe de Q**, Marquise de Conighan kennen zu lernen. Er sah sie und fand sie so reizend, daß er beschloß, sich ihr zu nähern. Sie war eine Blondine mit feinen weichen Flachshaaren, deren Farbe fast ans Weiße grenzte, und zwar ungewöhnlich, aber sehr vorteilhaft wirkte, sie hatte lebhafte, bewegliche Augen, und ein Lächeln umspielte ihren Mund, als ob sie eben aufgehört hätte zu weinen. Gerade dieses Lächeln machte sie interessant und unwiderstehlich. Sie war groß und herrlich gewachsen, schlank, ohne mager zu erscheinen, und hatte besonders schöne Arme und Hände, ein nicht sehr feines, aber wohlgeformtes Bein und einen zierlichen kleinen Fuß, – kurz, sie war eine reizende Person, obwohl gewisse Einzelheiten sonderbar anmuteten. Chevalier de Ch** verliebte sich beim ersten Anblick in sie und konnte ihr auch nach der ersten Unterhaltung mit ihr, die ungefähr eine Stunde dauerte, seine Hochachtung nicht versagen. Er hatte sich Zutritt bei ihr unter dem Vorwande verschafft, er wolle ihr seinen Einfluß bei den Mitgliedern des Gerichtshofes zur Verfügung stellen, um das ungerechte Urteil kassieren zu lassen, das sie der Schenkung ihres Gatten für verlustig erklärt hatte.

Am nächsten Tage stellte er sich wieder bei ihr ein. Sie fragte ihn sofort:

»Nun Herr Chevalier, haben Sie jemanden gesehen?«

»Nein, verehrteste Frau, aber wenn Sie nur Vermögensfragen im Auge haben, dann ist es ganz unnötig, daß ich überhaupt jemanden sehe, denn ich biete Ihnen mein ganzes Vermögen an, allerdings nicht meine Hand, denn einer Heirat würden sich zu große Schwierigkeiten entgegenstellen, aber meine Freundschaft wird Ihre Zukunft sicherstellen.«

»Und meine Ehre?«

»Das Urteil könnte immerhin, obwohl es ungerecht ist, doch bestätigt werden. Geben Sie daher lieber diese unangenehme Sache gänzlich auf.«

»Das fällt mir nicht im geringsten ein.«

»Nun, dann müssen wir eben tun, was in unseren Kräften steht.«

In der Tat wurde der Fall nochmals vor das Gericht gebracht, der ungerechte Urteilsspruch kassiert und die Sache an einen höheren Gerichtshof verwiesen. Indessen übten wiederum die Verwandten ihre weitreichende Macht aus, so daß das gleiche Urteil gefällt wurde. Nun blieb der Witwe nichts anderes übrig, als sich darein zu ergeben.

Die junge Witwe war verzweifelt. Sie fand ihren einzigen Trost in der Hingabe des Chevaliers de Ch**. Sie zog sich in eine kleine, nett möblierte Wohnung im Faubourg Saint Honoré zurück, die er ihr zu freier Verfügung als Eigentum überließ. So verdankte sie alles diesem zuvorkommenden Mann, der weit entfernt, nun mit den Rechten, die ihm ihre Abhängigkeit zu gewähren schien, Mißbrauch zu treiben, jetzt erst recht ritterlich gegen sie auftrat. Er übergab der liebenswürdigen Wittib ein Drittel seines ganzen Vermögens in Gestalt einer Rente von sechstausend Franken als feste Schenkung und kam alle Tage zu ihr, um ihr den Hof zu machen und ihr unschuldige, wenn auch oft teure Vergnügungen zu verschaffen, nach denen sie etwa Lust verspürte. Er lud sie zu Ausflügen ein, führte sie auf die Promenade und ins Theater. Für die Spaziergänge wählte die junge Frau meistens die entlegensten Punkte aus und im Theater ging sie in Logen des zweiten Ranges, in deren Hintergrunde sie sich versteckte, um nicht bemerkt zu werden. Zu Hause unterhielten sie sich über interessante Gegenstände, und der Chevalier schien mehr ein liebevoller Verwandter für sie zu sein, der von ihrem Unglück gerührt war, als ein Liebender, der ihre Zuneigung zu gewinnen suchte.

Aber eine solche Haltung war ganz dazu geeignet, ihn in den Augen der Witwe noch liebenswürdiger erscheinen zu lassen. Sie war bald von Achtung und Dankbarkeit gegen ihn durchdrungen, und so konnte es denn nicht ausbleiben, daß sich ihr Herz der Liebe öffnete. Doch schwieg sie, um ihrem Freunde das Vergnügen des Inkognito zu wahren, das er ihr gegenüber beobachtete. Die Gewißheit, ihre Zukunft gesichert zu sehen und von diesem Manne ehrlich geliebt zu werden, gaben ihr ihren ganzen Frohsinn wieder. Sie zeigte sich liebenswürdiger denn je und fand sich sogar mit ihrem Unglück ab, dem sie ja doch zwei große Güter verdankte: einen Freund und einen tugendsamen Geliebten.

Sie beschäftigte sich nur noch damit, Mittel zu finden, ihren Reiz zu erhöhen und ihn ewig wirksam zu gestalten. Sie wurde zärtlicher, vertrauter und freier mit ihm. Da sie sah, daß der Chevalier sich stets der gleichen Zurückhaltung befliß, wagte sie einige unschuldige Liebkosungen, um ihm ihr ganzes Vertrauen zu bezeigen. Der Chevalier schien ihr dafür dankbar zu sein und gestand ihr, daß er sie anbete. Aber wenn seine Worte auch ganz den leidenschaftlichen Charakter wahrer Liebe trugen, so ging seine Haltung über das vertrauliche Verhältnis zwischen Bruder und Schwester nicht hinaus. Die junge Witwe war darüber entzückt und vergötterte ihrerseits den Chevalier, indem sie jede Zurückhaltung beiseite ließ, die sie in diesem Falle für unnötig hielt: sie warf sich ohne Umstände in seine Arme, sie küßte ihn, sie setzte sich bisweilen auf seinen Schoß, sie sprach zu ihm in zärtlichsten Worten. Der Chevalier war darüber außer sich vor Freude und erklärte sich für den glücklichsten aller Sterblichen.

Nachdem das Verhältnis zwischen ihnen in dieser Weise zwei Jahre gedauert hatte, meinte die junge Witwe, daß der Chevalier sie nunmehr heiß genug liebte, um sie zu seinem Weibe zu machen oder ihr wenigstens die Gründe anzuvertrauen, die ihre Verbindung verhinderten. Sie suchte ihn daher zu einer Erklärung zu drängen, was ihr nicht schwer werden konnte, da sie die Hälfte ihrer Zeit in traulichem Verein zubrachten. Als sie sich eines Tages wieder über das Unglück der Marquise unterhielten, sagte diese zu ihm: »Lieber Freund, die schönen Zeiten schwinden, und bald wird einsame Zurückgezogenheit das Los von Leuten sein, die in der Blüte ihrer Jahre nur sich allein leben wollten wie wir.«

»Wir werden uns stets genügen,« war seine Antwort, »denn nie werde ich aufhören, Sie zu lieben.«

»Aber könnten wir denn nicht diese uns drohende Vereinsamung vermeiden, die ich fürchte? Sie lieben mich doch, mein Freund?«

»Ich bete Sie an.«

»Sie wollen Ihre Tage zusammen mit mir zubringen?«

»Die Hoffnung darauf macht mein ganzes Glück aus.«

»Tausend Zufälle können uns trennen!«

»Von meiner Seite droht nur einer: der Tod.«

»Ach, Chevalier! es gibt noch unzählige andere, unvorhergesehene, von denen wir überrascht werden können, und dann werden wir erstaunt sein, nicht daran gedacht zu haben.«

»Fürchten Sie keinen: ich bin mein freier Herr.«

»Aber nicht Herr Ihres Geschicks.«

»Warum quälen Sie sich mit Schimären, angebetetes Weib?«

»Lieber Chevalier, es gäbe ein Mittel, mich ein für allemal zu beruhigen.«

»Ah! und dies wäre?«

»Sie finden es nicht selber?«

»Nein, auf Ehre nicht!«

»Dann zwingen Sie mich also, zuerst zu sprechen?«

»Wenn ich nur im geringsten wüßte, was Sie meinen, würde ich Ihnen gern diese Mühe ersparen, schöne Freundin.«

»Die … Heirat!«

»Ach! schöne Circe! Was sagen Sie da? Wenn das Band der Ehe zu Ihrem Glück notwendig ist …, dann machen Sie mich unglücklich! Denn es ist mir nicht erlaubt, es mir anzulegen.«

»Gehören Sie zum Malteserorden? … In diesem Falle, teurer Freund, kein Wort mehr davon, denn Unmögliches will ich nicht verlangen. Dann bleibt uns nur übrig, das Band der Liebe und Zärtlichkeit, das uns vereinigt, noch enger anzuziehen, da ein anderes zwischen uns unmöglich ist.«

Damit beruhigte die junge Witwe sich. Die beiden schworen sich ewige Zuneigung, die unabhängig von den Sinnen und nur auf die Regungen des Herzens begründet sei. Sie betrachtete sich von nun an als die Schwester des Chevaliers, nahm seinen Ton und seine Manieren an und nannte ihn Bruder. Ihre Liebkosungen wurden noch süßer für ihn, denn die Geliebte war unter der Maske der Schwester desto zärtlicher.

»Wie glücklich bin ich!« dachte der Chevalier, »es gibt auf der ganzen Welt keine zweite Frau wie diese, sie ist ein wahres Wunder. Und sie haben diese Barbaren so ungerecht behandelt!«

Auch er gab sich nun seiner Neigung hin und dachte nicht daran, daß er durch zu lebhafte Liebkosungen die Sinne des geliebten Weibes wachrufen könnte.

»Sie ist eine himmlische Seele, und ich bin sicher: wenn ich sie auf die schlimmste Probe stellen würde, sie würde mich darum nicht weniger lieben!«

Indessen täuschte er sich doch in gewisser Beziehung: die junge Witwe wurde von Wünschen verzehrt, die zu befriedigen sie nicht mehr hoffen konnte, Liebessehnen zeigten ihre Blicke und alle ihre Handlungen trugen den Stempel solcher Sehnsucht. Ihre Küsse wurden zärtlicher, häufiger, und stundenlang fand sie Vergnügen daran, in den Armen des Geliebten zu liegen, und oft die wollüstigsten Stellungen einzunehmen. Die feurigen Liebkosungen des Chevaliers bewiesen ihr, daß er nicht unempfindlich war, aber sofort nach jeder solchen Liebkosung trat er sofort in die Grenzen der strengsten Wohlanständigkeit zurück, und wenn, nach einem Kuß, den der Geliebte ihr raubte, die junge Schöne sich schon trügerischen Hoffnungen hingab, so fand sie danach in ihm nur den zurückhaltenden Bruder wieder, dessen keusche Blicke ihr sagten, daß seine Sinne kalt geblieben seien.

»Er hat Gewissensbedenken,« sagte sie sich dann, »offenbar hat er Gelöbnisse getan, die sein ehrlicher Charakter nicht verletzen will. So ehrenwerte Grundsätze muß ich achten und mich mit dem Glück begnügen, das er mir gewähren darf.«

Sie versuchte nun, sich durch eine platonische Liebe beglückt zu fühlen, und da sie nun von jeher mehr an das Glück ihres Geliebten gedacht hatte als an das ihrige, so kehrte ihr die Ruhe wieder zurück. Ihre Intimität wurde noch größer, beide hatten keine Zurückhaltung mehr voreinander und vertrauten sich gegenseitig ihre innersten Gedanken und Gefühle an. Die liebenswürdige Witwe hatte zu diesem Mittel gegriffen, um sich gegen sich selbst zu schützen, und wandte es anfangs in gutem Glauben an. So diskutierte sie bisweilen mit dem Chevalier über die Nichtigkeit der sinnlichen Genüsse und über das geringe Maß von Glück, das diese den Freuden zweier Herzen, die füreinander schlugen, noch hinzuzufügen vermöchten. Der Chevalier behandelte dieses Thema mit Begeisterung und ließ sich darüber folgendermaßen aus:

»Welches ist der größte Reiz der Liebe? Es ist der Wunsch. Ist dieser fort, dann gibt’s keine Liebe mehr. Ein Mann, der in die Unmöglichkeit versetzt ist, den letzten seiner Wünsche zu befriedigen, würde stets glücklich sein, weil der Durst nach dem Glück ewig der gleiche bliebe, und das Glück von ihm stets mit derselben Glut herbeigesehnt werden würde. Die Geliebte würde in seinen Augen stets den göttlichen Reiz behalten, der dem Genuß vorhergeht. Hat man aber genossen, dann schwindet der Wunsch; die Geliebte verliert an Reiz, der sie vorher verschönte, und da sie mit jedem neuen Genuß etwas mehr davon einbüßt, ohne jemals wieder den Höhepunkt zu erreichen, so wird mit der Zeit der Reiz, und damit Liebe und Glück, auf ewig verschwinden, denn die Liebe ist die reinste Quelle des Glückes.«

»Aber, lieber Freund,« erwiderte darauf die hübsche Witwe, »liegt darin nicht ein wenig Sophismus? Was du da sagst, kann sich doch auch auf alle anderen Wünsche und Bedürfnisse beziehen, und du mußt doch zugeben, daß, wenn nun sie sich alles versagte, zum Beispiel Essen und Trinken …«

»Der Vergleich hinkt,« unterbrach sie der Chevalier, der die Richtigkeit des Einwandes herausfühlte, »die Liebe gleicht nicht … in allem … den gewöhnlichen Bedürfnissen des Leibes. Sie ist ein reines Gefühl, das sozusagen materielle Freuden begleiten können, die aber doch dabei nur Nebensache sind. Damit der Vergleich vollkommen richtig sei, müßte man die Ehe ins Auge fassen, nicht die Liebe.«

»Der Unterschied ist sehr fein, lieber Freund, doch will ich zugeben, daß er richtig ist. Ach, Chevalier, wie glücklich sind doch die …«

»Die in Liebe und Ehe verbunden sind! nicht wahr, Teuerste?«

»Das war mein Gedanke. Aber das trifft leider nicht auf uns zu!«

»Nein, liebste Freundin. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich dich anbete. Du bist mir teurer als mein Leben, aber die bestehenden Hindernisse sind unübersteiglich!«

Die junge Witwe schwieg, nahm sich aber vor, doch hinter sein Geheimnis zu kommen.

Eines Tages sagte sie zum Chevalier:

»Es genügt nicht, lieber Freund, zu meinem Glück, daß du weißt, wie ich heute denke. Ich will, daß du alles wissen sollst, was ich getan, gesagt oder gedacht habe, seitdem ich mich selbst kenne. Du bist mein anderes Ich, und es ist nur recht und billig, daß ich es dir ermögliche, dir ins Gedächtnis zurückrufen zu können, was deine zweite Hälfte erlebt hat.«

Dem Chevalier war es recht, die liebenswürdige Marquise bat um einige Tage Zeit, und nach Ablauf derselben sagte sie endlich zu ihm, als sie von Tisch aufstanden:

»Chevalier, hier ist meine Lebensgeschichte, die ich mit ruhigem Kopfe niedergeschrieben habe. Ich will sie Ihnen dalassen.«

»Ein kostbares Geschenk für mich, Teuerste.«

»Ich will Sie nicht verpflichten, mir ein Gleiches zu machen.«

»Oh, bitte, ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, aber das hier möchte ich gern in Ihrer Gegenwart lesen oder es mir von Ihnen vorlesen lassen.«

»Ich bin für letzteres.«

Sie gingen in ein anderes Zimmer, wo sie nicht gestört werden konnten, und die schöne Witwe begann:

Meine Lebensgeschichte.

»Ich heiße Victoria-Julia Gomand de ***. Meine Eltern von altem Adel, aber arm, ließen sich meine Erziehung sehr am Herzen liegen. Ich erwähne dies nur ganz kurz, weil es angeführt werden muß. Meine Kindheit verbrachte ich im elterlichen Hause und meine erste Jugend im Kloster. Als Kind war ich lebhaft und fröhlich, aber herrisch. Ich zog die Gesellschaft von Knaben dem Umgange mit meinen Gefährtinnen vor, weil die ersteren mir schon den Hof machten. Im Kloster langweilte ich mich. Doch schloß ich mit einem der Mädchen Freundschaft. Allerdings wäre es für mich besser gewesen, wenn ich mich weiter gelangweilt hätte. Clara de Montbrun war eine junge Pensionärin des Klosters, die in dasselbe später einzutreten bestimmt war. Die Eltern hatten sie dazu verdammt, um die anderen Kinder, einen Sohn und die jüngere Schwester, ihr Nesthäkchen, leichter vorwärts bringen zu können. Das Schwesterchen war allerdings reizend. Als Clara sah, daß an ihrem Schicksal nichts zu ändern war, suchte sie den fatalen Augenblick so lange als möglich hinauszuziehen und sich vorher für ihre traurige Zukunft zu entschädigen. Sie hatte die Bekanntschaft verschiedener Männer gemacht, der Ärzte, des Vikars und eines jungen Abbés, eines Verwandten von ihr, den sie sehr gern hatte. Er war der Liebling ihres Herzens. Er lieh ihr Bücher, deren Inhalt das Zügelloseste war, was italienische und französische Phantasie hervorbringen konnte. Sie verschlang diese gefährlichen Werke und lieh sie mir, nachdem ich ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Ich war noch zu unschuldig, um den giftigen Inhalt zu verstehen, aber doch zu neugierig, um nicht mit Vergnügen die Bücher zu lesen. Bald gerieten meine Sinne in die größte Aufregung, doch weigerte ich mich verschiedentlich dem Ansinnen, der etwas zu freien Clara Folge zu geben …

Diese Periode meines Lebens, lieber Chevalier, war sehr stürmisch. Meine Phantasie bewegte sich in rosenfarbenen Schimären. Ich fühlte mein Herz in Zärtlichkeit aufgehen und sah mich selbst als Heldin von tausend Abenteuern. Immer spielte ein schöner junger Mann darin eine Rolle, meistens ein ungezähmter Wüstling, den nichts rührte und den ich dann durch meinen Anblick zu meinen Füßen niederzwang. Dann ließ ich mich rühren, stellte ihn auf die Probe und gestand ihm schließlich meine Liebe. Danach gaben wir uns unserer Zärtlichkeit hin. Er wurde kühner, ich verteidigte mich mutig. Er seufzte, klagte – bleicher wurden seine Wangen, und meine Strenge war daran schuld, daß er dem Grabe zuwankte. Dieses Bild rührte mich und ich gab ein wenig nach, er nutzte die Lage aus, wurde dreister, kühner … und dann verlor sich meine Phantasie in einem Meer von Liebestrunkenheit … Nach meinem Fall sah ich ihn zu meinen Füßen, wie er mich zu beruhigen und zu trösten suchte. Ich verzieh ihm, er trocknete mir die Tränen und unsere Intimität wurde köstlich. Doch habe ich stets beobachtet, daß mich, wenn ich auf diesem Punkt angelangt war, mein eignes Glück zu langweilen anfing, und dann mußte ich mich in eine neue Schimäre hineindenken. Geht es im Leben ebenso? Ich fürchte so nach dem, was Sie mir auseinandergesetzt haben. Wie dem auch sei, meine Phantasie kam nicht zur Ruhe, drehte sich aber stets um denselben Punkt: die Liebe und ihre Trunkenheit. Bisweilen erfaßte mich der Wunsch, Clara möchte dringlicher in ihren Bitten werden, aber dieses Gelüste dauerte nicht an. Sobald die leidenschaftliche Ekstase vorbei war, fand ich meine Widerstandskraft zurück.

Ein anderes Lieblingsbild meiner Einbildungskraft war es, mir vorzustellen, daß ich von einem jungen Manne geliebt würde, daß unsere Eltern uns trennen wollten, daß wir uns ewige Treue schwörten, uns insgeheim sähen, und daß mein Geliebter in einer Nacht von meinen Eltern erwischt würde, die ihn dann als Mörder anklagten. Er wurde ins Gefängnis geworfen, und ich entfloh. Ich warf mich den Richtern zu Füßen und erklärte, daß der Geliebte meinetwegen des Nachts ins Haus gekommen sei, und um die Wahrheit meiner Behauptung zu beweisen, führte ich an, ich sei in der Hoffnung. Dadurch wurden sie gerührt und empfahlen unseren Eltern, uns zusammenzutun.

Solche Phantasien beschäftigten mich Tag und Nacht. Stets gab ich meiner Schwäche nach, und die Sache endete mit einer Heirat. Im Schlafe träumte ich weiter von dem, was mich wachend beschäftigte und die Träume erhitzten mich noch mehr als meine Schimären.

Als ich zwanzig Jahre alt war, sprach man davon, mich zu verheiraten. Meine Eltern verhehlten mir nicht, daß es sich um einen Greis handle, der mich einige Male im Sprechzimmer des Klosters gesehen habe. Ich erinnerte mich seiner und wurde über diese Aussicht von tiefer Traurigkeit erfaßt. Ich klagte Clara mein Leid und schilderte ihr meinen Widerwillen gegen eine Verbindung mit dem alten Manne. Sie brach darüber in Lachen aus und äußerte:

›Aber, liebe Freundin, wie bist du doch naiv! Wollte Gott, man machte mir einen solchen Vorschlag! … Sei vernünftig, und wenn man dich einem Scheusal mit Klauen, Hörnern, einem stinkenden, ekelhaften Wesen ausliefern wollte, dann müßtest du es dennoch nehmen. Man wird sich viel aus einem Ehemann machen! Aber ewig hier in der Hölle zu bleiben, das ist das wahre Unglück! … Heirate, liebe Victoria, und sieh zu, für mich eben so einen Affen zu finden, der mich ohne Mitgift nimmt. Und wenn er noch älter und tausendmal häßlicher ist, dann will ich dennoch in seine Arme fliegen.‹

›Und ihn lieben?‹

›Das gewiß nicht, aber ihn rasend machen, mir gleich, ob er es aushält oder daran stirbt. Nur meine Verachtung will ich ihm schenken, während ein schöner Jüngling alles andere besitzen wird! Folge meinem Rat, liebe Freundin, mach‘ dir meine traurigen Erfahrungen zunutze und heirate. Ich verschmachte hier seit zehn Jahren und bin erst dreiundzwanzig alt. Wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, ich würde mich schon hundert Male dem ersten besten, der mich hätte entführen wollen, an den Hals geworfen haben, trotz den schweren Folgen eines solchen Streiches! Und wenn er mich dann hätte sitzen lassen, so wäre meine Lage immer noch nicht so traurig gewesen, als der Aufenthalt in diesem verfluchten Gefängnis, in das mich verruchte und entartete Eltern geworfen haben, damit ich bei langsamem Feuer verbrenne. Unsere Natur lechzt nach Vergnügen und Freiheit: man gebe mir die Freiheit, das Vergnügen werde ich mir schon zu verschaffen wissen!‘

Noch viele andere Dinge sagte Clara mir und stimmte mich endlich für die Heirat. Ich versprach ihr, ihrer nicht zu vergessen.

So wurde ich denn verheiratet. Ich empfand einen wahren Abscheu vor meinem alten Mann, da ich aber kein Ungeheuer bin, so konnte ich mich dem Gefühle der Dankbarkeit nicht verschließen. Herr de C** bezeigte mir so viele freundliche Rücksichten, daß ich davon gerührt wurde. Aus Dankbarkeit gab ich mich ihm hin und hob ihn auf den Gipfel der Freude. Er wollte … was er nicht konnte. Da mich aber meine glühende Phantasie für seine Liebkosungen empfänglich machte, so verdoppelte er seinen Eifer und verschaffte mir die Illusion …

Indessen hatte ich Clara nicht vergessen. Ich wandte mich ihretwegen an meinen Gatten, erzählte ihm, daß ich eine Freundin im Kloster hätte, die auch gern einen Gatten reiferen Alters haben möchte und bat ihn, sich dafür zu verwenden und meiner lieben Clarissa Befriedigung ihres Wunsches zu verschaffen. Meine Wünsche waren meinem Manne Befehle. Einer seiner Freunde, der sehr reich war, ließ sich von dem Bilde, das ihm mein Mann von seiner Glückseligkeit entwarf, blenden und dazu bestimmen, um die Hand Claras zu bitten, die ihm ihre Familie ohne Schwierigkeit gewährte. Der Greis suchte sie dann auf und war entzückt von ihr. Die Hochzeit fand sofort statt. Aber wie verändert war es nach vierzehn Tagen! … Der arme Mann beklagte sich bitter bei einem Freunde. Ich war zugegen und ließ mich durch so viel Schmerz rühren. Ich konnte mich nicht enthalten, sofort meine Freundin aufzusuchen und ihr Vorwürfe zu machen. Die beiden Ehemänner hatten mein Verschwinden bemerkt und waren mir gefolgt. Sie horchten und konnten daher von der Lektion Kenntnis nehmen, die ich meiner Freundin erteilte. Zuerst antwortete sie mir spöttisch, als sie aber in ihrer Schlauheit merkte, daß wir belauscht wurden, änderte sie ihren Ton und schien Reue zu empfinden. Nur äußerte sie den Wunsch nach mehr Freiheit. In diesem Augenblick kamen die Greise zu uns herein und umarmten uns. Mein Mann besonders strahlte vor Freude.

Nun baten sie uns, doch soviel wie möglich miteinander zu verkehren. Ich war von Herzen gern dazu bereit, aber Clara war, sobald wir wieder allein waren, wie ausgewechselt. Sie erzählte mir von ihrem Verhältnis mit einem jungen Manne und wollte mich dazu verführen, es ihr nachzutun. Sie nannte mir einen sehr liebenswürdigen Kavalier, und mein Hang für die Männer trug den Sieg über meine Pflicht davon. Meine Freundin machte ihm einige Avancen, worauf er nicht einging, mich aber schien er gern zu sehen …«

»Aber,« unterbrach hier der Chevalier die Lektüre, »dieser Kavalier war ja ich!«

»Ganz recht. Und ich muß Ihnen gestehen, lieber Freund, daß ich mich nach Ihrer Liebe sehnte. Die Bücher, Claras Gebaren und mein eignes Herz …

Mein Gatte starb, und Claras Gemahl folgte ihm bald nach. Ihre Aufführung wurde darauf bald so skandalös, daß ich trotz den Lockungen, die sie meiner leicht erregbaren Sinnlichkeit darbot, mit ihr brach. Indessen wurde ihre Aufführung und unsere frühere Freundschaft gerade von meinen Feinden ausgenutzt, um als Beweis gegen mich zu dienen, und falsche Zungen haben mir Verfehlungen aufgehalst, die ganz allein auf Claras Rechnung kamen. Ich weiß nicht, ob Sie ihren schlimmsten Streich kennen, der mir am meisten schadete. Acht Tage vor dem Tode meines Mannes war sie in einem befreundeten Hause und klagte dort über ihr Unglück, die Frau eines ekelhaften alten Mannes, eines Leichnams zu sein. Sie achtete wenig auf ihre Ausdrücke. Einer der Anwesenden äußerte lachend: ›Nun, er steht ja schon am Rande des Grabes.‹ Und die Unbesonnene antwortete:

›Man müßte ihn hineinstoßen!‹

Darauf fragte ein anderer, ob die Dame nicht Frau de C** sei, und sei es nun aus Bosheit oder Unachtsamkeit, die Frage wurde bejaht. So glaubte man denn in der Gesellschaft, ich sei es gewesen, die sich in dieser Weise ausgelassen hätte. Nach dem Tode ihres Mannes fürchtete Clara Unannehmlichkeiten für sich, falls sie sich als Urheberin dieser Äußerung bekannt hätte, und bewahrte deswegen Stillschweigen, obwohl ich sie wiederholt ersuchen ließ, mich rein zu waschen, nicht, indem sie sich selbst anklagte, sondern nur, indem sie versicherte, ich sei nicht in der Gesellschaft gewesen, in welcher der Ausdruck gefallen. Doch sie war darum nicht glücklicher. Wie Sie wissen, verliebte sie sich in einen Wüstling, der sie in kurzer Zeit ruinierte, sie kam so tief herunter, daß sie jetzt ein verrufenes Haus hält. Ihre Aufführung, nicht ihr Unglück, wird mich stets verhindern, sie wieder aufzusuchen.

Nun war ich mir allein überlassen und der Verzweiflung nahe, da ich von seiten meiner Eltern nichts zu hoffen hatte. Doch da sah ich gerade zu dieser Zeit Sie wieder, lieber Freund. Sie wurden mein Trost, meine Stütze … mein Geliebter. Sie ersetzten mir alles, was ich verloren hatte. In Ihrer Person habe ich wieder»gefunden, was die Traumbilder meiner ersten Jugend mir vorspiegelten, und besseres noch. Sie besitzen alle guten Eigenschaften, mit denen ich meine Helden ausrüstete, ohne deren Unvollkommenheiten, Ihre stets gleichbleibende gute Laune, Ihr ehrlicher Charakter, Ihr mir bewiesener Edelmut, alles das trägt dazu bei, Ihnen über mich eine Macht ohne Grenzen zu verleihen. Teurer Geliebter, gebrauche deine Rechte, was könnte ich dir verweigern? Sei aus Edelmut anspruchsvoll und lasse mich nicht allein das Gewicht einer unendlichen Dankbarkeit tragen! Gewähre mir die Freude, mir sagen zu können, daß auch ich etwas für dein Glück getan, dir etwas geopfert habe … Also zögere nicht länger, Geliebter, laß dich durch keine Erwägung zurückhalten, höre im Gegenteil auf die Tausende von Erwägungen, die dich alle darauf führen müssen, Gebrauch zu machen von deinem Eigentum, deiner Freundin, deiner Geliebten, deiner Gemahlin, deiner Schutzbefohlenen … Mein lieber Chevalier, wie viele Titel darf ich Ihnen verleihen! … Sie sind alles für mich. Ich bin keine dieser … Frauen, die das Physische vom Gefühl trennen … Ich will beides … und beides … dem göttlichen Manne verdanken, den ich in meine Arme schließe.«

Als die junge Witwe mit dem Vorlesen fertig war, hatte sie sich wirklich in die Arme des Chevaliers geworfen. Aber obwohl er sie zärtlich an sich drückte und küßte, ging er doch nicht weiter und verstieg sich nicht einmal zu einem Wort, das auf andere Gelüste hätte deuten können.

»Wäre es möglich,« dachte da die junge Witwe, »daß ich ein Weib oder einen Zwitter liebte? Ich möchte wahrhaftig wissen, ob er ein Mann ist! … Ich muß ihn dazu bringen, mir auch seine Lebensgeschichte niederzuschreiben, vielleicht finde ich darin einige Aufklärung.«

Am anderen Morgen sagte sie zum Chevalier:

»Lieber Freund, werden Sie mir nicht auch beichten? Ich habe es bereits getan, und meine innersten Gedanken sind für Sie kein Geheimnis mehr. Ich habe Ihnen freimütig meine Wünsche offenbart, aber seien Sie darüber beruhigt, daß diese stets den Ihrigen untergeordnet sein werden.«

»Das beruhigt mich allerdings,« erwiderte der Chevalier errötend, »aber ich will mich nicht der versprochenen Beichte entziehen und bin im Gegenteil froh, Ihnen mein Herz ausschütten zu können. Doch verlange ich vorher einen Schwur von Ihnen, daß Sie, was ich Ihnen auch eröffnen werde, nicht aufhören werden, mich zu lieben.«

»Ich schwöre es Ihnen. Meine Gefühle für Sie werden sich nie ändern können, denn sie sind aus Achtung und Dankbarkeit hervorgegangen!«

Geschichte des Chevaliers de Ch**.

»Ich bin der Sohn des Herrn de Ch** …«

»Ah! Desto besser,« unterbrach ihn die junge Witwe, »dieses Wort erwartete ich mit Ungeduld!« (das Wort Sohn meinte sie). Der Chevalier verlangte keine Erklärung und fuhr fort:

»In meiner Kindheit erlitt ich einen grausamen Unfall, der eine schmerzhafte Operation notwendig machte … Ein Truthahn – wer sollte so etwas von einem so harmlosen Tier für möglich halten – brachte mich an den Rand des Grabes. Ich wurde gerettet. Ich verdanke mein Leben braven Leuten, denen man mich als Kind anvertraut hatte. Ich habe sie seitdem nicht im Stich gelassen und werde es auch nie tun. Ich habe tüchtige Studien gemacht. Der Eifer, womit ich mich diesen ergab, machte mir meine Lehrer zu Freunden, denn, glücklicher veranlagt als meine Mitschüler, tat ich aus Neigung, was sie nur gezwungen taten und die ihnen verhaßten Arbeiten waren meine größte Freude.

Nachdem ich das Kolleg verlassen hatte, ging ich auf Reisen. Da mich keine Leidenschaft blendete, wurde ich ein guter Beobachter, ich betrieb alle Wissenschaften, machte große Fortschritte, zeichnete mich aus; ganz Europa kennt meinen Namen.«

»Ich weiß es,« unterbrach ihn die hübsche Witwe, »aber wie war es mit der Liebe?«

»Ich habe niemals geliebt. Ihnen war es vorbehalten, Liebesgefühle in mir wachzurufen.«

»Wie? nicht ein ganz klein wenig geliebt? Nicht einmal ein kleines Grisettchen?«

»Nein, ganz und gar keine. Um mich in Glut zu versetzen, waren Ihre Vorzüge notwendig.«

»Schade, da wird Ihre Lebensgeschichte bald zu Ende sein!«

»Sie ist es mit den zwei Worten: ich sah Sie und liebte Sie trotz allen grausamen Hindernissen. Den Rest kennen Sie …«

»Mit Ausnahme von einem Punkt, den zu wissen ich vor Verlangen brenne.«

»Und der wäre?«

»Mich plagen gewisse Zweifel, und seit gestern geht mir der Gedanke nicht aus dem Kopf: Sie könnten ein Weib sein?«

»Ich ein Weib? Nein, meine Teuerste, das bin ich nicht.«

»Und das ist der Punkt, über den ich Klarheit haben möchte. Sie lieben mich also immer noch so heiß wie früher?«

»So heiß wie früher, teuerste Freundin.«

»Sie beruhigen mich … halb. Warum, Geliebter, scheust du denn davor zurück, zu erproben, wie weit meine Zärtlichkeit geht?«

Statt jeder Antwort schloß er sie in seine Arme und ließ ihr die zärtlichsten Liebkosungen zuteil werden.

»Ach, mein Herzensgeliebter, jetzt fühle ich endlich, daß du mich liebst!« …

»Circe! teuerste Circe! Ist deine Liebe zu mir über alles erhaben?«

»Mein Leben, Geliebter, mein Lieben gehört dir! Sprich!«

»Ich verlange nicht dein Leben, nur deine Liebe!«

»Mein ganzes Herz gehört dir!«

»Ich werde es kennen lernen. So vernimm denn Schreckliches: der Truthahn …«

»Nun?«

»Hat mich …«

»Was hat er?«

»Der Macht beraubt … dich zu hindern … spröde zu sein …«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich bin wie die Wächter der Frauen im Serail des Großtürken! Ich bin ein Eunuche! ein Eunuche!«

»Ach, großer Gott im Himmel!« …

Er wirft sich in ihre Arme, sie stößt ihn zurück und stammelt:

»Oh! Lassen Sie mich, lassen Sie mich! Setzen Sie sich dahin. Beruhigen Sie sich … Oh! welch ein Unglück!«

»Das größte von allen!«

»Sie sprechen das Wort aus!« …

»Indessen, seitdem ich Sie kenne, fühle ich es erst recht … Denn worin besteht mein Verdienst, daß ich vernünftig war? Ach, liebe Seele, ich liebe deine Tugend darum um so mehr! … Aber wohin führt uns unser Gespräch? Das Theater fängt gleich an, wollen wir hingehen?«

»Gern.«

Es geht über meine Kräfte, zu schildern, wie nach dem falschen Geständnis die hübsche Witwe, die vorher so liebevoll und dankbar gegen ihren Wohltäter war, diesen jetzt behandelte. Er erschien ihr nun als ein Wesen ohne Existenzberechtigung, wie ihr Hündchen oder ihr Papagei. Sie amüsierte sich bisweilen über ihn, aber bald langweilte er sie. Was ihn dabei am schmerzlichsten traf, waren ihre Manieren, wenn sie mit anderen Männern in der Gesellschaft zusammentraf: für diese hatte Sie ein liebenswürdiges Lächeln, strahlende Blicke, angenehme Worte, während sie ihn nur voller Mitleid ansah. Indessen lebte sie mit ihm weiter zusammen, sie empfing niemand, und ihre Aufführung war so tadellos wie früher. Der arme Chevalier hatte auf so viel Gefälligkeit ihrerseits nach dem, was er von ihr sah und was er von der Denkungsart der Frauen im allgemein wußte, nicht gerechnet. Er machte sich in ihrer Gegenwart ganz klein und wäre lieber vor Schmerz gestorben, als eine Klage laut werden zu lassen.

Aber schließlich konnte er es nicht mehr aushalten und eines Tages, als sie miteinander allein waren, sagte er zu ihr: »Madame, ich sehe, daß Sie mir Ihre schönsten Tage opfern, und kann das nicht mehr mit ansehen. Verlassen Sie einen Unglücklichen, den zwar keine Schuld trifft, der aber doch zu nichts mehr taugt.«

»Ich glaube nicht, Chevalier, Ihnen durch mein Betragen Anlaß zu diesem Vorschläge gegeben zu haben, antwortete sie ihm darauf, »liebe ich einen anderen? Nein. Trotz Ihrem Unglück sind Sie noch immer der einzige Mann, der mir am besten gefällt, und zudem, Chevalier, haben Sie Anrechte auf mich, die mir aber, das versichere ich Ihnen, nicht drückend sind. Im Gegenteil: alles, was ich Ihnen danke, ist mir lieb und wert gerade, weil es von Ihnen kommt.«

»Ach! Madame, aus Ihrer Haltung mir gegenüber in der letzten Zeit konnte ich nicht schließen …«

»Ich mag unrecht gehabt haben, Chevalier. Aber glauben Sie mir, ich werde trotz einer Art von Verachtung, die begreiflicherweise alle Frauen für Männer in gleicher Lage wie der Ihrigen naturgemäß hegen müssen, Sie stets allen anderen vorziehen werde.«

»Würden Sie mich heiraten, Madame?«

»Ohne eine Sekunde zu zaudern, Chevalier.«

»Daran, schöne Circe, erkenne ich meine alte und liebevolle Freundin wieder. Es besteht gegen unsere Heirat kein anderes Hindernis mehr, als was Ihnen bekannt ist.«

»Dann, Chevalier, verfügen Sie über mein Schicksal.«

»Aber Teuerste, bedenken Sie noch eins: ich werde sehr eifersüchtig sein!«

»Darüber sei ruhig, teuerster Freund. Wenn ich gegen meinen ersten greisenhaften Mann meine Pflicht nicht verletzte, der weit unter dir stand, so hast du nicht nötig, mich ungerecht zu verdächtigen. Doch ich verzeihe dir.«

»Und willigst ein, schöne Circe?«

»Von ganzem Herzen, und ich werde niemals Herren empfangen, nur meine Freundinnen. Was dir in meinem Benehmen unangenehm aufgefallen ist, war nur eine natürliche Folge des Vorhergegangenen. Meine zukünftige Haltung wird nur bestimmt werden durch meine Freundschaft für dich, meine Dankbarkeit und meine Einsicht, die ganz zu deinen Gunsten spricht und darum nur um so fester begründet ist.« Und lachend schloß sie:

»Ich werde in Zukunft die Lust, über die Geschichte mit dem Truthahn zu lachen, unterdrücken, denn wahrhaftig, ihre Folgen sind nichts weniger als lustig.«

So war man also wieder einig. Die nächsten Tage schien die hübsche Witwe von selber den Liebkosungen des Chevaliers entgegenzukommen, aber es war doch zu merken, daß sie sich Zwang auferlegte. Herr de Ch** rechnete es ihr trotzdem hoch an, daß sie den guten Willen bezeigte. Darüber verstrichen acht Tage.

Am neunten brachte ein Mann einen Brief. Der Chevalier war gerade nicht zu Hause, und der Bote übergab ihn daher der Witwe. Er bemerkte dazu:

»Ich überbringe dem Herrn Chevalier da traurige Nachrichten von seinem Sohne.«

»Von seinem Sohne! Sie sind im Irrtum, mein Freund.«

»I bewahre, Madame, ich irre mich nicht. Er war so niedlich! Er hat seiner Mutter das Leben gekostet und hat sie nur getötet, um dann später selber zu sterben.«

»Welch sonderbare Nachricht!« dachte Circe bei sich, »ein Sohn! Und der Truthahn? Und seine Versicherung, er habe nie geliebt?… Der Mann muß sich irren!«

»Sagen Sie mir, mein Bester, wie heißt der Chevalier?«

»Na, Chevalier de Ch**, Madame, jedes Kind kennt ihn.«

»Und er hatte eine Frau?«

«Und was für eine schöne Frau, Madame!«

»Mit der er richtig verheiratet war?«

»Und wie verheiratet! Das war sehr komisch! Sie würden sich krank lachen, wenn ich Ihnen die Geschichte erzählen würde! Haha!«

»Nun, dann lassen Sie mal hören!«

»Also, mit Respekt zu melden: der Herr Chevalier kam auf einem Pferd in unser Dorf, wo beide beim Herrn Pfarrer abstiegen, wo eine schöne Nichte war, die, wie gesagt, sehr schön war. Der Herr Chevalier also, ein höflicher Mann, machte ihr Komplimente, und das Fräulein, was ein wenig eitel war, war sehr zufrieden und sagte zu ihrem Onkel, der Herr habe sie sehr lieb, so lieb, daß der Pfarrer erwartete, er wolle sie zur Frau nehmen. Aber, prost Mahlzeit, der Herr Chevalier dachte nicht daran. Und als nun das Abendessen aufgetragen wurde, da wurde gegessen, und dann ging’s ins Bett, und mitten in der Nacht da wurde geschrien: ›Zu Hilfe, Diebe, Feuer!‹ Als der Herr Chevalier das hörte, stand er auf, und da er ein braver Mann ist, sah er zuerst mal nach, ob der Herr Pfarrer und das Fräulein nicht seine Hilfe nötig hätten. Da lief ihm das Fräulein im Hemd entgegen und stürzte in sein Zimmer und schrie :

›Retten Sie mich, Herr Chevalier!‹

Der Herr Chevalier rettete sie und dann wollte er auch den Herrn Pfarrer retten. Aber das Fräulein hielt ihn zurück und sagte, sie würde vor Angst sterben, wenn er sie allein ließe, und sie zitterte am ganzen Körper. Da legte er sie in sein Bett und bat sie, ihn um Gottes willen nach dem Herrn Pfarrer sehen zu lassen. Und sie gab es zu, bat ihn aber, nicht zu lange auszubleiben. Als er dann ins Eßzimmer trat, warfen zwei große Burschen sich auf ihn, setzten ihm ihre Pistolen auf die Brust und schrien: ›Wo ist das Fräulein?‹

›In meinem Bett‹, antwortete er.

›Ah! Verdammt! Wenn sie in Ihrem Bett ist, dann werden Sie sie auf der Stelle heiraten!‹ Dann schleppten sie ihn, den Pfarrer und das Mädchen in die Kirche neben dem Pfarrhaus und zwangen den Pfarrer, ihnen das Benedicat vos zu erteilen. Als das geschehen war, stahlen sie dem Herrn Pfarrer all sein Geld und sagten dann, er könne sich glücklich schätzen, daß sie seine Weiber im Hause nicht geschändet hätten. Die Nichte legte sich wieder ins Bett zum Herrn Chevalier, und damit war alles zu Ende. Am anderen Morgen stand der Herr Chevalier auf, sah die Nichte an, die reizend war, und sagte zu ihr, er verzeihe ihr. Und dann ging er zum Herrn Pfarrer und schloß sich mit ihm eine Stunde lang ein. Was sie da gemacht haben, weiß man nicht. Aber jedenfalls blieb die Nichte beim Onkel und der Herr Chevalier kehrte nach Hause zurück, vorher hatte er aber bei einem Hochzeitsmahl von zwölf Personen gesagt, sie sei seine Frau. Aus dieser Heirat stammt das Kind, das seine Mutter getötet hat, und von dessen Tode ich nun den Herrn Chevalier benachrichtigen will.«

Die junge Witwe zerbrach sich den Kopf über diese Erzählung. Als der Chevalier nach Hause kam, gab sie ihm den Brief und sagte dann zu dem Bauern:

»Sieh dir den Herrn genau an, ist es derselbe?«

»Er ist es, Madame.«

»Sie haben einen Sohn, Herr Chevalier?«

»Ja, liebste Freundin, aber nicht aus einem liederlichen Verhältnis, sondern aus einer heimlichen Ehe.«

»Das wäre also vor dem Unfall mit dem Truthahn gewesen?«

»Nein, Geliebte, das Abenteuer mit dem Truthahn ist ein falsches Gerücht, das über mich umläuft. Ich habe es benutzt, um mich von der Wahrheit einer Behauptung zu überzeugen, die ich oft gehört hatte, und deren Richtigkeit mir durch Sie bestätigt worden ist. Doch haben Sie, die liebenswürdigste und tugendhafteste der Frauen, bald wieder den Weg des Naturtriebes verlassen, um den der zärtlichen Freundschaft wieder zu betreten. Ich hätte diese Probe noch weiter fortsetzen können, dann würde ich aber gegen Sie gesündigt haben. Nun nehmen Sie anstatt eines Schattens einen Gatten hin, der Sie liebt und Ihnen mit allen Mitteln der Natur und der Liebe beweisen wird, wie heiß er Sie liebt!«

»Oh, Chevalier! …« erwiderte darauf die schöne Witwe, rot vor Scham, »wie werden Sie über mich gespottet haben! … Können Sie mir verzeihen?«

»Was denn verzeihen? Daß Sie vernünftig und natürlich handelten?«

»Aber was ist an der unwahrscheinlichen Geschichte, die der Bote erzählt hat?«

»Er hat alle Einzelheiten ausgelassen, die er nicht kennt. Ich habe alles mit angehört. Ich kannte den Pfarrer und seine Nichte schon seit langem und empfand große Zuneigung zu dem jungen Mädchen, das sich in mich verliebt hatte. Ich wußte es und war versucht, sie aus Erkenntlichkeit für ihre Liebe zu mir zu heiraten. Ich ließ mich über meine Absichten einem Schurken gegenüber aus und sprach von der Sache, nicht als ob ich bereits entschlossen wäre, sondern als ob ich sie mir noch überlegte. Dieser Mann, ein Freund des Pfarrers, überredete diesen, mich in eine schiefe Stellung zu bringen, da er meine Denkungsart kannte, war er überzeugt, daß ich dann das Mädchen sicherlich heiraten und ihr dadurch eine Zukunft bereiten würde, die ihre kühnsten Hoffnungen überträfe. Der schwache Mann tat alles, was man ihm einflüsterte, und die Heirat wurde vollzogen, wie der Bauer es erzählt hat. Mit dem Pfarrer setzte ich mich am nächsten Morgen etwas lebhaft auseinander, aber der Nichte sagte ich kein böses Wort, sondern erwies ihr im Gegenteil alle Achtung, die man seiner Frau schuldig ist, denn ich wußte, daß sie nur aus Liebe zu mir so gehandelt hatte. Ich ging noch einen Schritt weiter, indem ich sie in aller Form heiratete, weil ich mich dazu verpflichtet glaubte. Ich wollte es indessen andererseits nicht mit meinem Oheim verderben, der damals noch lebte und dem ich jeden Kummer ersparen wollte. Ich verlangte daher, daß die Heirat geheim bleiben sollte und bestand so energisch auf meinem Willen, daß den anderen jede Lust verging, sich mir mißfällig zu erweisen. Der Himmel hat unsere erzwungene Ehe getrennt, die ich nach dem Tode meines Oheims und, wenn mein Sohn am Leben geblieben wäre, sicherlich öffentlich eingestanden haben würde.«

Diese Erklärung beruhigte die schöne Circe vollends und erhöhte noch ihre Hochachtung vor dem Chevalier, dessen Güte, Ehrlichkeit und edle Gesinnung auch bei dieser Gelegenheit bei weitem alles übertrafen, was man sonst wohl von einem Mann in gleicher Lage hätte erwarten können. Und sonderbar, nachdem sie sich nunmehr über seine traurige Lage keine schlimmen Gedanken mehr zu machen brauchte, da schien es ihr, als ob die Vorzüge, deren der Chevalier doch nicht beraubt war, ihre warmen Gefühle für ihn nicht im geringsten vermehren könnten.

Indessen mißtraute sie doch nach dem, was ihr geschehen war, solchem Platonismus. Im Grunde ihres Herzens fand sie es doch natürlich, daß auch die ehrbarste Frau, die sich von allen Liebesabenteuern fernhält und treu alle ihre Pflichten erfüllt, dennoch eine gewisse Verachtung Männern entgegenbringt, die es nicht vermögen, sie in den Abgrund zu stürzen, vor dem sie Furcht hat. So ist nun einmal das Frauenherz, und vielleicht ist es am besten so!

Acht Tage darauf heiratete der Chevalier seine schöne Witwe. Die Achtung, die Frau de Ch** heute ihrem Gatten bezeigt, beweist zur Genüge das Unsinnige der lächerlichen Gerüchte, die über diesen ehrenwerten Mann im Umlauf waren. Wenn sie bei ihm ist, sieht sie stets so glücklich und zufrieden aus, daß man schon daraus ersehen kann, daß ihr Mann würdig ist, den Namen Mann zu führen. Trotzdem wurde ihre Ehe geheimgehalten. Sie beabsichtigen, sie erst dann öffentlich zu verkünden, wenn ihnen ein Sohn geboren wird, und da dieses noch nicht der Fall ist, so wird ihre Verbindung bis zu diesem glücklichen Zeitpunkte noch in den Schleier des Geheimnisses gehüllt bleiben.